Historische Mitteilungen 27: Krise des Reformationszeitalters / Europa im Blick deutscher Historiker im 19. Jahrhundert 3515111115, 9783515111119

Die HMRG prägt eine große thematische Offenheit, die unter den deutschsprachigen Fachzeitschriften der Geschichtswissens

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
SCHWERPUNKT I: KRISE DES REFORMATIONSZEITALTERS
DIE „KRISE DES REFORMATIONSZEITALTERS“ – ÖKONOMISCH BETRACHTET
HOCHFINANZ, KREDITWESEN UND INTERNATIONALER ZAHLUNGSVERKEHR IM ZEITALTER DER REFORMATION
MONEY MATTERS: DAS GELDWESEN IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN VERTEILUNGSKÄMPFEN UND RESSOURCENKNAPPHEIT (1450–1550)
BANKRUPTCY AND ITS MEANING AS “CRISIS” IN THE AGE OF THE REFORMATION
PROPERTY, THEFT, COVETING AND DEBT IN MARTIN LUTHER’S CATECHISMS
SCHWERPUNKT II: EUROPA IM BLICK DEUTSCHER HISTORIKER IM 19. JAHRHUNDERT
ARNOLD HERRMANN LUDWIG HEEREN (1760–1842)
LEOPOLD VON RANKE
„PREUSSEN, ALLEIN PREUSSEN!“
COMMENTARY: THREE GERMAN HISTORIANS IN THE TWENTY-FIRST CENTURY ON FOUR GERMAN HISTORIANS OF THE NINETEENTH CENTURY
AUFSÄTZE
WAS IST NEU AM „SPATIAL TURN“?
HUMAN RIGHTS LEAGUES AND CIVIL SOCIETY (1898–ca. 1970s)
„DA KÖNNEN SE JANZ BERUHIGT SEIN, DAT IS FÜR NE JUTE ZWECK JEJEBEN WORDEN.“
VOM ZWEITEN KALTEN KRIEG ZUM ENDE DES OST-WEST-KONFLIKTS
L’AFRIQUE ET L’EUROPE
TAGUNGSBERICHT
Europa, das Meer und die Welt. Akteure, Agenten, Abenteurer
REZENSIONEN
Europäische Erinnerungsorte
„Was die Welt im Innersten zusammenhält“
Europe’s 1968
Recommend Papers

Historische Mitteilungen 27: Krise des Reformationszeitalters / Europa im Blick deutscher Historiker im 19. Jahrhundert
 3515111115, 9783515111119

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Historische Mitteilungen Band 27 · 2015 Franz Steiner Verlag

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von jürgen elvert birgit aschmann markus a. denzel jan kusber joachim scholtyseck thomas stamm-kuhlmann

Historische Mitteilungen · Band 27

Historische Mitteilungen Band 27 (2015) Schwerpunkt I: Krise des Reformationszeitalters Schwerpunkt II: Europa im Blick deutscher Historiker im 19. Jahrhundert

Franz Steiner Verlag

Historische Mitteilungen Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Elvert ( federführend) / Prof. Dr. Birgit Aschmann / Prof. Dr. Markus A. Denzel / Prof. Dr. Jan Kusber / Prof. Dr. Joachim Scholtyseck / Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann Wissenschaftlicher beirat Prof. Dr. Winfried Baumgart / Prof. Dr. Ulrich Lappenküper / Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl / Prof. Dr. Bea Lundt / Prof. Dr. Christoph Marx / Prof. Dr. Jutta Nowosadtko / Prof. Dr. Johannes Paulmann / Prof. Dr. Wolfram Pyta / Prof. Dr. Wolfgang Schmale / Prof. Dr. Reinhard Zöllner redaktion Dr. Jens Ruppenthal, Universität zu Köln, Historisches Institut, Gronewaldstr. 2, 50931 Köln, E-Mail: [email protected] www.steiner-verlag.de/HMRG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0936-5796 ISBN 978-3-515-11111-9 (Print) ISBN 978-3-515-11114-0 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS SCHWERPUNKT I: KRISE DES REFORMATIONSZEITALTERS MARKUS DENZEL, PHILIPP ROBINSON RÖSSNER Die „Krise des Reformationszeitalters“ – ökonomisch betrachtet. Eine Hinführung zum Thema ................................................................................ 7 MARKUS DENZEL Hochfinanz, Kreditwesen und internationaler Zahlungsverkehr im Zeitalter der Reformation ..................................................................................... 14 PHILIPP ROBINSON RÖSSNER Money Matters: Das Geldwesen im Spannungsfeld zwischen Verteilungskämpfen und Ressourcenknappheit (1450–1550) ............................... 37 MAX SAFLEY Bankruptcy and Its Meaning as “Crisis” in the Age of the Reformation .............. 70 LEE PALMER WANDEL Property, Theft, Coveting and Debt in Martin Luther’s Catechisms ..................... 94 SCHWERPUNKT II: EUROPA IM BLICK DEUTSCHER HISTORIKER IM 19. JAHRHUNDERT WOLF GRUNER Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842): Deutscher Europahistoriker von Weltruf ............................................................ 109 JÜRGEN ELVERT Leopold von Ranke: Der Historiograph des preußischen Staates als Geschichtsschreiber Europas? ............................................................................ 139 JENS RUPPENTHAL „Preußen, allein Preußen!“ Zum Europabild kleindeutsch-borussischer Historiker am Beispiel Heinrich von Sybels und Heinrich von Treitschkes ...... 146 ROBERT D. BILLINGER, JR. Three German Historians in the Twenty-First Century on Four German Historians of the Nineteenth Century: Gruner, Elvert, and Ruppenthal Concerning Heeren, Ranke, Sybel, and Treitschke ............................................ 157

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Inhaltsverzeichnis

AUFSÄTZE CHRISTOPH NÜBEL Was ist neu am „spatial turn“? Potentiale und Grenzen deutscher geschichtswissenschaftlicher Raumkonzepte vom 19. Jahrhundert bis heute .... 160 WOLFGANG SCHMALE, CHRISTOPHER TREIBLMAYR Human Rights Leagues and Civil Society (1898–ca. 1970s) ............................. 186 HERBERT ELZER „Da können Se janz beruhigt sein, dat is für ne jute Zweck jejeben worden.“ Korruption beim Wiedergutmachungsvertrag vom 10. September 1952 ........... 209 HERMANN WENTKER Vom Zweiten Kalten Krieg zum Ende des Ost-West-Konflikts: Wandel der Weltpolitik und Revolution der Staatenwelt (1979–1991) ............. 244 LUDGER KÜHNHARDT L’Afrique et l’Europe. Relations comparées et processus d’intégration Regionale conjoints ............................................................................................. 273 TAGUNGSBERICHT SVEN WUNDERLICH Europa, das Meer und die Welt. Agenten, Akteure, Abenteurer Berlin, 7.–8. November 2014 .............................................................................. 289 REZENSIONEN ALEXANDER KRAUS Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte .............................................................................. 295 BENJAMIN HASSELHORN Jörg Zedler (Hg.), „Was die Welt im Innersten zusammenhält“. Gesellschaftlich-staatliche Kohäsionskräfte im 19. und 20. Jahrhundert ........... 300 MICHAEL FRÖHLICH Robert Gildea/James Mark/Anette Warring (eds.), Europe’s 1968. Voices of Revolt ......................................................................... 304

SCHWERPUNKT I: KRISE DES REFORMATIONSZEITALTERS

DIE „KRISE DES REFORMATIONSZEITALTERS“ – ÖKONOMISCH BETRACHTET Eine Hinführung zum Thema Markus A. Denzel und Philipp R. Rössner Der Begriff der Krise „indiziert Unsicherheit, Leiden und Prüfung und verweist auf eine unbekannte Zukunft, deren Voraussetzungen sich nicht hinreichend klären lassen.“1 Und ferner: „Es liegt im Wesen einer Krise, daß eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen.“2 Wirtschaftsgeschichtlich ließe sich der Begriff konkretisieren als Phase des Umbruchs in einem Konjunkturzyklus, mit der typischerweise daran anschließenden Depressionsphase. Diese ist oft verbunden mit einer Welle von Konkursen, Unternehmenszusammenbrüchen, Verlust der Erwerbsmöglichkeiten und Verarmung und Radikalisierung weiter Kreise der Bevölkerung.3 Auch die insbesondere von der älteren strukturgeschichtlichen For1 2 3

Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, 203. Ders., Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 7. Aufl. Frankfurt am Main 1992, 105. Zur ‚Krisenhaftigkeit‘ des frühen 16. Jhs. gibt es die folgenden wichtigen Aufsätze: Franz Irsigler, Zu den wirtschaftlichen Ursachen des Bauernkriegs von 1525/26, in: Kurt Löcher (Hrsg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Vorträge zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 1983, 95–120, hier insb. 110f., 114f., sowie Ekkehard Westermann, Der Mansfelder Kupferschieferbergbau und Thüringer Saigerhandel im Rahmen der mitteldeutschen Montanwirtschaft 1450–1620, in: Werner Kroker / Ekkehard Westermann (Hrsg.), Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, Wege und Aufgaben der Forschung, Bochum 1984, 145–147; v.a. aber Ders., Das „Leipziger Monopolprojekt“ als Symptom der mitteleuropäischen Wirtschaftskrise um 1527/28, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 58 (1971), 1–23, und Ders., Zur weiteren Erforschung kommerzialisierter Agrargesellschaften Mitteleuropas und ihrer Konflikte im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, in: Studia Historiae Oeconomicae, XV (1980), 161–178, wo auf krisenhafte Erscheinungen im Geldwesen und der Wirtschaft im ersten Drittel des 16. Jhs. eingegangen wird. Zu kulturellen Implikationen bzw. der Endzeitstimmung um 1500, vgl. Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten

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Markus A. Denzel und Philipp Robinson Rössner

schung betonten Konjunkturverläufe der longue durée – von der „spätmittelalterlichen Depression“ (1370–1470)“, der darauf folgenden „Preisrevolution des 16. Jhs.“ (1470/1530–1620), der „Krise des 17. Jhs.“ (1600/1620–1740) und „Aufschwungphase des 18. Jhs. (ab 1740)“ usw. weisen just am Punkt des jeweiligen Umschwungs von Langzyklus zu Langzyklus die für Krisenzeiten typischen „Unentschlossenheiten“ auf. Einige sozioökonomische Indikatoren um 1500 etwa weisen noch wichtige Charakteristika der spätmittelalterlichen Depressionsphase (1370–c.1470) auf; andere wiederum deuten bereits „nach vorne“, sind also eher typisch für die wirtschaftliche Expansionsphase der so bezeichneten „Preisrevolution“ nach 1530. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und die damit einhergehenden gewissermaßen widersprüchlichen Signale (etwa: Preisverfall beim Getreide in Zeiten des Bevölkerungsaufschwungs, 1500–1525) signalisieren den Akteuren, daß mit ihrer physisch-materiellen Umwelt buchstäblich „etwas nicht stimmt“ bzw. nicht mehr im Einklang mit ihren gedanklichen „Modellen“ (politischer, ökonomischer, gesellschaftspolitischer Natur usw.) und ihrer ge-

astrologischer Flugschriften 1488–1528, Tübingen 1990. Zum Antiklerikalismus der Zeit etwa P. A. Dykema / Heiko A. Oberman (Hrsg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden 1993; H.–J. Goertz, Antiklerikalismus und Reformation. Ein sozialgeschichtliches Erklärungsmodell, in: Ders. (Hrsg.), Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995, 7–20, 120–122; Ders., Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987; Robert W. Scribner, Anticlericalism and the Reformation in Germany, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements, London 1987, 243–256; G. Strauss, Manifestations of Discontent in Germany on the Eve of the Reformation, Bloomington / London 1971. Zum Problem von Definition und Inhalt einer Krise aus historischer Sicht etwa Heinz Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Heidelberg 1998, 13–34; und zur Volksfrömmigkeit und der Frage nach der ‚Ablasskrise‘ (oder nicht!) um 1500 vgl. Bernd Moeller, Die letzten Ablaßkampagnen: Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie; Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987, Göttingen 1989, 539–567. Aus ökonomischer bzw. stärker wirtschaftshistorischer Sicht: Wilhelm Abel, Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft, Stuttgart / New York 1980, und als generelles langfristiges Agrarkonjunktur- und Agrarkrisenmodell, Ders., Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert [Berlin 1935] Hamburg / Berlin, 3. Aufl. 1978. Zu Finanzkrisen vgl. Charles P. Kindleberger, Economic and Financial Crises and Transformations in Sixteenth-century Europe (Essays in International Finance, Nr. 208, June 1998), Princeton 1998; Ders., Manias, Panics, and Crashes: A History of Financial Crises, 5. Aufl. (Nachdruck) Basingstoke 2009 Bernhard Schäfers, Art. „Krise“, in: Johannes Kopp / Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, 10. Aufl. Wiesbaden 2010, 149–151, hier: 149; Karl Erich Born, Art. „Wirtschaftskrisen“, in: Willi Albers (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 9: Wirtschaft und Politik bis Zölle, Nachtrag, Stuttgart et al. 1982, 130–141. Zu Finanzmarktkrisen aus historischer Sicht etwa Carmen M. Reinhart / Kenneth S. Rogoff, This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009, dt. Ausgabe: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, München 2010.

„Krise des Reformationszeitalters“: Eine Hinführung zum Thema

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wohnheitsmäßigen Erfahrung ist.4 Ressourcenkonflikte sind an der Tagesordnung. Und tatsächlich häufen sich in der krisenhaften Umbruchzeit um 1500 auch die Zahl der Aufstände und Revolten im bäuerlichen wie städtischen Umfeld.5 Die Spannungsfelder des gesellschaftlichen Systems werden intensiviert. Die vielleicht beste im gegenwärtigen Kontext verwendbare Definition von Krise hat Genicot vorgelegt: Krise sei „not regression, absence of creative thought, lack of initiative and audacity, but essentially a break in equilibrium.“6 Oder auch: „Unsicherheit in ihrer radikalen Form wird mit dem Verlust an Regelvertrauen gleichgesetzt; der Verlust an Regelvertrauen wiederum kennzeichnet Krisen […].“7 Gleichgewichtsstörungen und Multipolarität der Diskurse, Biographien und Rahmenbedingungen sind an der Tagesordnung. Krisen sind aber gleichzeitig häufig Zeiten überdurchschnittlicher geistiger Kreativität und diskursiver Produktivität der Akteure, nämlich in der Entwicklung von coping strategies im Umgang mit Krisen bzw., modern gesprochen, Resilienzmanagement. Denn: dass Krisen stets der Anbeginn von etwas Neuem sind, hat bereits Schumpeter in seiner Theorie der Konjunktur und des Unternehmers („schöpferische Zerstörung“) dargelegt.8 Diese Einsicht lässt sich auch auf eine größere bzw. MakroPerspektive übertragen; sie ist mitnichten nur dem erfolgreichen entrepreneur zu eigen. Daß sich eine solche Krise im Reich um 1500 ergab, belegt Philipp R. Rössner in seiner 2011 in Leipzig eingereichten Habilitationsschrift unter den Schlüsselbegriffen „Deflation – Devaluation – Rebellion“, in welcher er vornehmlich auf die monetären Aspekte dieser Wirtschaftskrise und ihre sozialen Folgen

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Diesbezüglich hat der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Douglass C. North ein kognitiv-psychologisches Modell des wirtschaftlichen Wandels in langfristiger historischer Perspektive entwickelt, vgl. Douglass C. North, Understanding the Process of Economic Change, Princeton / Oxford 2005, Neuaufl. 2010, welches die hier behandelte Problematik und Zeit zwar nicht explizit aufgreift, doch ein faszinierendes generelles Modell formuliert, wie die Anpassungsprozesse zwischen „mentaler“ Strukturierung der Menschen (Erklärungshypothesen für die Entwicklung der ökonomischen Realität) und realem ökonomischen Wandel verlaufen können. Luthers neue Lehre vom Ablaß und die lutherische Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsethik stellen ein Beispiel für diesen Zusammenhang dar, also der Entwicklung einer neuen Interpretation der Schriften angesichts geänderter realer politischer und ökonomischer Umstände um 1500, vgl. Philipp Robinosn Rössner, Luther – Ein tüchtiger Ökonom? Über die monetären Ursprünge der Deutschen Reformation’, Zeitschrift für Historische Forschung, 1/2015, 1–38. Peter Bierbrauer, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Peter Blickle et al. (Hrsg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 1–68. L. Genicot, Crisis: From the Middle Ages to Modern Times, in: M. M. Postan (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 1: The Agrarian Life of the Middle Ages, 2. Aufl. Cambridge 1966, 660–741, hier: 660. Kurt Imhof, Die Ästhetik der Unsicherheit. Eine Annäherung an das verständnisorientierte Handeln, in: Andreas Ernst et al. (Hrsg.), Kontinuität und Krise. Sozialer Wandel als Lernprozess. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz, Zürich 1994, 417–434, hier: 417. Joseph Alois Schumpeter, Konjunkturzyklen, Göttingen 2008 [1961].

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Markus A. Denzel und Philipp Robinson Rössner

fokussiert.9 Die hierin aufgestellten Thesen beleben derzeit die Debatte um eine „Krise der Reformation“ neu und verweisen insbesondere auf deren ökonomischen Kern.10 Rössners Schrift liefert auch für die folgenden Beiträge die Parameter, an denen sich die Diskussion einer derartigen „Krise der Reformation“ abarbeitet. 1517 veröffentlichte ein Wittenberger Mönch 95 Thesen zum Ablasswesen. Ursprünglich verfasst mit dem Motiv, eine innerkirchliche Disputation über durchaus übliche, gleichwohl aber zweifelhafte Praktiken des Heilserwerbs zu entfachen, sorgten diese Thesen für die Spaltung der Christenheit in dem Teil der Welt, welcher in den darauf folgenden fünf Jahrhunderten zum reichsten, mächtigsten und am weitesten entwickelten Teil der Welt avancieren wird (Max Weber). Die vergleichsweise breit gefächerte Reformationsforschung des 20. Jahrhunderts hat immer weitere Dimensionen in ihre Erklärungsmodelle inkorporiert, sowohl diachron, als auch querschnittsartig, d.h. über die einzelnen Ebenen und Subsektoren des Systems Gesellschaft hinweg. Der Subsektor ‚Wirtschaft‘, nach der wegweisenden Studie von Gustav Aubin von 192911 ernsthaft erforscht nur im Rahmen einer von der Sowjetunion ferngelenkten Heuristik, hat mit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ jedoch an Deutungshoheit angebüßt. Und doch liegen im ökonomischen Sektor zentrale Erklärungselemente der Reformation verborgen, welche in dieser Form entweder unter heuristisch zweifelhaften Prämissen (Marxismus) formuliert oder schlichtweg von der Forschung übergangen wurden. Diese Aspekte gilt es näher zu beleuchten. Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts sanken die Preise: für Getreide, Lebensmittel, aber auch Gewerbeprodukte und Löhne. Sie sanken, obwohl die Bevölkerung stieg und sich der Nahrungsspielraum spürbar verengte. Die traditionelle Forschung verortet den Zeitraum um 1500 jedoch bereits im heuristischen Zyklus der ‚Preisrevolution‘ (ca. 1530–1620).12 Sie verwendet zumeist ein neomalthusianisches Modell, welches auf steigenden Bevölkerungszahlen, steigenden Preisen und einem kontrahierenden Ressourcenspielraum basiert. Diese Erklärungshypothese wurde als Grundraster in die Handbücher übernommen. Luthers Äußerungen zum ‚Wucher‘ und verwandten Phänomenen wurden oftmals mit 9

Philipp R. Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation, Stuttgart 2012. 10 Vgl. einschlägige Rezensionen etwa von Christopher Close in: The American Historical Review 118/5, 2013, 1589f.; oder von Rainer S. Elkar, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 100/2, 2013, 215–217. 11 Gustav Aubin, Der Einfluß der Reformation in der Geschichte der deutschen Wirtschaft, Halle/Saale 1929. 12 Vgl. Dietrich Saalfeld, Die Wandlungen der Preis- und Lohnstruktur während des 16. Jahrhunderts in Deutschland, in: Wolfram Fischer (Hrsg.), Beiträge zu Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 16. und 19. Jahrhundert, Berlin 1971, 9–28; Bernd Sprenger, Münzverschlechterung, Geldmengenwachstum und Bevölkerungsvermehrung als Einflußgrößen der sogenannten Preisrevolution im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert in Deutschland, in: Karl Heinrich Kaufhold / Friedrich Riemann (Hrsg.), Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag, Göttingen 1984, 127–144.

„Krise des Reformationszeitalters“: Eine Hinführung zum Thema

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hohen Getreidepreisen der Zeit in Verbindung gebracht, obwohl die Zeit, in welcher Luther die Grundpfeiler seiner Lehre schuf, eben kein hohes Preisniveau kannte, sondern ganz im Gegenteil von einem Deflationszyklus geprägt war, welcher stark depressive Charakterzüge trug. Die traditionelle Sichtweise verdunkelt also vermutlich mehr als sie erhellt. Die eigentliche ‚Preisrevolution‘ und die nachgeordneten ökonomischen und sozialen Phänomene finden sich erst im Zeitraum nach c. 1540, wie neuere Studien (John Munro) belegen, also nicht in der eigentlich formativen Kernphase der Reformation. Da es seit 1470 bereits eine inflationäre Phase gegeben hatte, welche aber erst in den 1540er Jahren dann ihren endgültigen Verlauf nahm, sah sich die Forschung vielfach veranlaßt, die Jahrzehnte dazwischen (etwa 1470–1530) nicht gesondert zu betrachten und sie wahlweise entweder der ‚spätmittelalterlichen Agrarkrise‘ oder der frühneuzeitlichen ‚Preisrevolution‘ zuzuordnen.13 Gerade in dieser ‚unentschiedenen‘ Zeit häufen sich nun krisenhafte Phänomene in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Religion. In der Umbruchzeit um 1500 wurden – verglichen mit dem langfristigen Zeitraum (1400–1600) – so viele Münzschätze vergraben wie nie. Geld wurde gehortet. Besonders viele Investitionen blieben aus. Der Konsum brach ein. Eine Zahl namhafter Unternehm(ung)en ging bankrott, etwa im zentraleuropäischen Bergbau 1527/28 oder im Falle der Augsburger Höchstetter (1529)14. Um 1513 gab es an vielen Orten in Zentraleuropa Handels- und Absatzstockungen. Diese deflationäre Depression – um eine Metapher der unlängst (2008/09) wieder aktuell gewordenen Problematik zu gebrauchen – ist die Krise der Reformation. Mit ihr einher gingen andere pathologische Elemente. Mit erschreckender Regelmäßigkeit zog die sogenannte „Pestilentz“ durch das Land.15 Kriege waren an der Tagesordnung. Praktisch jedes Jahr ergab sich in einem Teil Europas ein größerer Konflikt. Die sog. „Türkengefahr“ war nicht nur im Diskurs allgegenwärtig, sondern spätestens mit der Eroberung Ofens (Buda) 1541 manifest.16 Im Gefolge dieser Eroberungszüge verlagerten beispielsweise die Fugger nach der

13 Vgl. Wilhelm Abel, Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft, Stuttgart / New York 1980; Renate Pieper, Die Preisrevolution in Spanien (1500–1640). Neuere Forschungsergebnisse, Stuttgart 1985; Hans-Jürgen Gerhard, Ursachen und Folgen der Wandlungen im Währungssystem des Deutschen Reiches 1500–1625. Eine Studie zu den Hintergründen der sogenannten Preisrevolution, in: Eckart Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Referate der 14. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 9. bis 13. April 1991 in Dortmund, Stuttgart 1993, 69– 84. 14 Thomas M. Safley, Bankruptcy: Family and Finance in Early Modern Augsburg, in: Journal of European Economic History 29, 2000, 43–76. 15 Für diese und weitere detaillierte Krisenbelege des frühen 16. Jahrhunderts vgl. Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 97–235. 16 Vgl. Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf / Zürich 2004, Kap. 6–8.

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Markus A. Denzel und Philipp Robinson Rössner

Schlacht von Mohács 1526 den Schwerpunkt ihrer europaweiten Geschäftstätigkeit von Ostmittel- nach Südwesteuropa.17 Die Krise zog weitere Kreise. Schon 1458 hatten sich die Bauern im innerösterreichischen Bauernaufstand erhoben; 1503 sind im Alpenraum Aufstände bekannt, welche sich 1514 im Badener Armen Konrad fortsetzten und letztendlich 1524–26 im Großen Deutschen Bauernkrieg kulminierten.18 Der Kampf um die Ressourcen wurde auf mehreren Ebenen ausgefochten: angefangen mit der Reallokation der Zehnten, der Pfarrerswahl durch die Gemeinde, der Abstellung des Ablasswesens bis hin zur bäuerlichen Allmendenutzung oder dem schichtenspezifisch differenzierten Münzgeldgebrauch. Aber diese Krise hatte, wie es der Morphologie des Krisenmodells und der Realität der meisten (Wirtschafts-)Krisen eigentümlich ist, und wie bereits weiter oben angedeutet wurde, auch durchaus ihre anderen, ‚positiven‘ Gesichtszüge. Denn: Auf der anderen Seite bildete sich eine kleine Zahl großer Handelsunternehmen, die riesige Vermögen anhäuften, Warenströme global vernetzten, Buchführungstechniken perfektionierten und Monopole und Kartelle errichteten – oder dieses zumindest versuchten.19 Die Portugiesen erschlossen ab 1498 die Route um das Kap der Guten Hoffnung und eröffneten damit das Zeitalter von sich immer mehr intensivierenden internationalen und interkontinentalen Handelsbeziehungen, indem sie die europäischen Silbermengen und Zahlungsströme erstmals globalen Kontingenzen von Angebot und Nachfrage, Spekulations- und Arbitragemöglichkeiten unterordneten.20 Fürsten verschlechterten die umlaufenden Münzgelder.21 Es entstanden die ersten vergleichsweise modern anmutenden volkswirtschaftstheoretischen Schriften, die der Währungsabwertung zur Stimulation heimischer Exporte das Wort redeten und die Münzverschlechterung pointiert auf ihre sozioökonomischen Auswirkungen im Innern wie im Außenwirtschaftsbereich analysierten. Sie präformulierten damit zentrale Prämissen und Axiome der modernen Außenwirtschafts- und Wechselkurstheorie. Sie flankierten argumentativ die seit der Wende zum 14. Jahrhundert nach und nach aufgebrochene Zinsund Wucherlehre der Scholastik22, welche als zentrale Axiomatik am Gebot der

17 Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel, Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548, Stuttgart 2011. 18 Für eine zahlenmäßige Darstellung siehe Bierbrauer, Bäuerliche Revolten; ferner Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, München ²2010, 7–35; ders., Die Revolution von 1525, München 42004. 19 Vgl. Westermann, Das „Leipziger Monopolprojekt“. 20 Vgl. Kevin H. O’Rourke / Jeffrey G. Williamson, Did Vasco da Gama Matter for European Markets?, in: The Economic History Review, New Ser. 62/3, 2009, 655–684; Mark Häberlein, Asiatische Gewürze auf europäischen Märkten: Handelsaktivitäten und Geschäftspraktiken der Augsburger Welser-Gesellschaft von 1498 bis 1580, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 14, 2014, 41–62. 21 Philipp Robinson Rössner, Monetary Instability, Lack of Integration and the Curse of a Commodity Money Standard. The German Lands, c.1400–1900 A.D., in: Credit and Capital Markets 47/2, 2014, 297–340. 22 Hierzu der Beitrag von Markus A. Denzel in diesem Band.

„Krise des Reformationszeitalters“: Eine Hinführung zum Thema

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Nichtveränderbarkeit des Münzwerts (Silber- oder Goldfeingewicht) festgehalten hatte.23 Der Buchdruck und das wachsende Schrifttum, insbesondere der Flugschriften, erlaubten erstmals in der Geschichte Europas eine raumgreifende Permeation und Rezeption dieser Problematiken durch umfassende Kreise der Bevölkerung, die weit über das akademisch-klösterliche Umfeld hinausging. Aus der Krise erwuchs das Potenzial der kreativen Neuschöpfung von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Religion. Krise führte – zwangsläufig? – auch zur Innovation. Diese strukturellen und dynamischen Elemente einer (Patho)Genese der Frühen Neuzeit werden in einigen zentralen Facetten in den folgenden Beiträgen ausgeleuchtet, und es wird zugleich abgeklärt, für welche gesellschaftlichen Schichten und Sektoren der Wirtschaft sich die so bezeichnete „Krise der Reformation“ tatsächlich als eine Krise im negativen Sinne des Wortes entpuppte und für welche diese Epoche nicht vielmehr eine Zeit enormen kommerziellen und allgemein ökonomischen Aufbruchs gewesen ist. Daß beide Einschätzungen unbeschadet nebeneinander stehen und existieren können, tut der Tatsache einer Umbruchssituation in diesen Jahrzehnten keinen Abbruch, sondern verweist zum einen auf die der Definition und Begrifflichkeit von ‚Krise‘ eigentümlichen Wesenszüge (siehe oben) – Krise ist per definitionem immer beides: Chance und Risiko, Entwicklung und Untergang zugleich. Es gibt Krisengewinnler und Krisenverlierer; in Krisen verschwinden bestimmte Elemente, um neueren, innovativen Verfahren, Praktiken und Diskursen Platz zu machen. Zum anderen ergibt sich gleichsam das erwartbare Spannungsfeld im geschichtswissenschaftlichen Diskurs, das durch die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven zu diesen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen erzeugt wird. Eines aber ist festzuhalten: Der in etwa zeitgleich mit der Reformation im Heiligen Römischen Reich einsetzende Umbruchsprozeß war – ökonomisch gesehen – Teil der säkularen Schwerpunktverlagerung der europäischen Wirtschaft vom Mittelmeerraum an den Atlantik im „langen 16. Jahrhundert“, an deren Ende in den 1620er Jahren die seit Jahrhunderten bestehende italienisch-mediterrane Dominanz von der letztlich bis in die Gegenwart andauernden ökonomischen Vorherrschaft der nordwesteuropäischen Handels- und Wirtschaftsmächte in Europa abgelöst war. Prof. Dr. Markus A. Denzel, Leipzig/Bozen PD Dr. Philipp Robinson Rössner, Manchester/Leipzig

23 Zu diesen Münzschriften und ihrer Einordnung in volkswirtschaftstheoretische Zusammenhänge zuletzt Bertram Schefold, Wirtschaft und Geld im Zeitalter der Reformation, in: Ders. (Hrsg.), Vademecum zu drei klassischen Schriften frühneuzeitlicher Münzpolitik, Düsseldorf 2000, 5–58.

HOCHFINANZ, KREDITWESEN UND INTERNATIONALER ZAHLUNGSVERKEHR IM ZEITALTER DER REFORMATION* Markus A. Denzel Einleitung Daß das Zeitalter der Reformation nicht nur in religiöser und kirchlicher, sondern gerade auch in ökonomischer Hinsicht von Krisen oder mindestens krisenhaften Erscheinungen geprägt war, ist spätestens seit den Forschungen Wilhelm Abels zu Löhnen und Preisen im säkularen Überblick wirtschaftshistorisches Gemeingut.1 In den letzten Jahren hat Philipp R. Rössner diese wirtschaftlichen Einbrüche – die Handels- und Absatzkrise, die zumindest partiell auch mit einer Krise des Bergbaus einherging (1527/28) – mit guten Argumenten vorrangig als Deflationskrise charakterisiert und nicht zuletzt durch den Mangel an gutem Geld erklärt.2 Der Mangel an gutem, umlaufendem (kurantem) Geld konnte in den vorherigen Jahrhunderten aber auch durchaus innovative Wirkungen zeitigen, wie Wolfgang von Stromer anhand der Wechselstuben im spätmittelalterlichen Oberdeutschland nachgewiesen hat.3 So stellt sich die Frage, ob die Deflationskrise im beginnenden 16. Jahrhundert über die von Rössner detailliert erörterten negativen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft des Heiligen Römischen Reiches hinaus ebenfalls positive Wirkungen hervorbrachte, wie etwa eine Ausweitung des Kreditwesens. Und ein weiterer Perspektivwechsel gegenüber der derzeit eher negativen Einschätzung der Reformationszeit innerhalb der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung erscheint angebracht: Welche Bedeutung hatte die Deflationskrise der Re*

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Dr. Mechthild Isenmann, Leipzig, gilt mein herzlicher Dank für die kritische Durchsicht dieses Beitrage Bei der Beschaffung der erforderlichen Literatur war Katharina Schlüter M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an meinem Leipziger Lehrstuhl eine wie immer unverzichtbare Unterstützung. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin / Hamburg 1935; ders., Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg / Berlin 1966. Philipp R. Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation, Stuttgart 2012. Wolfgang von Stromer, Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben als Banken in Oberdeutschland, den Rheinlanden und den mitteleuropäischen Montanzentren im Spätmittelalter, in: Bankhistorisches Archiv, 1979, 3–33; ders., Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben als Banken im internationalen Vergleich, in: Anna Vannini Marx (a cura di), Credito, banche e investimenti, secoli XIII–XX. Atti della „Quarta Settimana di Studi“, Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“ (Prato), Firenze 1985, 229–254.

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formationszeit für die Hochfinanz, die ja gerade in diesen Jahrzehnten im Heiligen Römischen Reich durch berühmte Namen wie Fugger und Welser so geprägt wurde, daß Richard Ehrenberg die gesamte Ära als „Zeitalter der Fugger“ beschrieben hatte4 – eine freilich eher einseitige Einschätzung, der die aktuelle Wirtschaftsgeschichtsschreibung aufgrund der zunehmenden Aufarbeitung auch der anderen ‚großen‘ Handelsgesellschaften der Zeit nicht mehr folgen mag.5 Allerdings verknüpft sich mit dem Ehrenbergschen Diktum immer noch ein gewisser Glanz, der die international, ja teilweise schon interkontinental agierenden und – von Einzelfällen abgesehen6 – erfolgreichen Unternehmungen und Unternehmer – vom ‚Regierer‘ über den Hauptbuchhalter bis zu den Faktoren und Handelsdienern – umgibt und der so gar nicht in das krisenhafte Erscheinungsbild einer Deflation passen will. Beides ist unbestritten und durch intensive Quellenuntersuchungen mehr als gut belegt: Die Deflation und ihre Folgen einerseits und die glänzenden, geschäftlichen Erfolge der oberdeutschen Familiengesellschaften andererseits, die denen ihrer italienischen ‚Vorläufer‘ und Zeitgenossen in nichts nachstanden, ja sie sogar vielfach übertrafen. In diesem Sinne wird im Folgenden auch weiterhin von einem „Zeitalter der Fugger und der Welser“ gesprochen. In folgenden Beitrag soll die Krise der Reformation und ihre Folgen von eben dieser anderen Perspektive her beleuchtet werden, von der der Hochfinanz, d.h. der großen Familiengesellschaften und der international agierenden KaufmannsBankiers, gleichsam von den Fuggern und Welsern als pars pro toto einer innovativen Unternehmerschaft7, die sich den enormen ökonomischen und politischgesellschaftlichen Veränderungen ihrer Zeit – der Ausdehnung des internationalen Handels und der Veränderung der Handelswege, der einsetzenden konfessionellen Spaltung Europas, der Gefahr sozialer Unruhen, dem Vordringen des Osmanischen Reiches, um nur einige zu nennen – stellen und ihre Unternehmungen dagegen resilient machen mußte.8 War (und ist) ein solches Resilienzmanagement

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Richard Ehrenberg, Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert, Jena 1896 [³1922]. Franz Mathis, Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, München 1992; Erich Landsteiner, Kein Zeitalter der Fugger. Zentraleuropa 1450–1620, in: Friedrich Edelmayer u.a. (Hrsg.), Globalgeschichte 1450–1620. Anfänge und Perspektiven, Wien 2002, 95–123. Thomas M. Safley, Bankruptcy: Family and Finance in Early Modern Augsburg, in: Journal of European Economic History 29, 2000, 43–76; der (ed.), The History of Bankruptcy. Economic, Social and Cultural Implications in Early Modern Europe, Milton Park (Oxon) / New York 2013. Vgl. Mark Häberlein, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006; ders. / Peter Geffcken (Hrsg.), Rechnungsfragmente der Augsburger Welsergesellschaft (1496–1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft, Stuttgart 2014. Andreas Wieland / Carl Marcus Wallenburg, The Influence of Relational Competencies on Supply Chain Resilience: A Relational View, in: International Journal of Physical Distribution & Logistics Management 43/4, 2013, 300–320 („the ability of a [system] to cope with change“). Als Dimensionen von resilience werden in diesem Beitrag die reaktiv zu verstehende agility und die proaktiv zu verstehende robustness genannt.

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eine vorrangig unternehmensinterne Angelegenheit,9 die übrigens für die Familiengesellschaften des 16. Jahrhunderts noch einer eingehenden Untersuchung bedarf, so ist die innovative Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein entscheidendes unternehmensexternes Element, das erheblich zu einem erfolgreichen Resilienzmanagement beitragen kann. Was brachte also das späte 15. und das 16. Jahrhundert entscheidend Neues auf dem Finanzsektor? Aus dem Blickwinkel der oberdeutschen Familienunternehmen10 – und um die soll es im Folgenden gehen – waren es insbesondere zwei Aspekte, die die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens seit dem späten 15. Jahrhundert verbesserten: zum einen die Expansion des Kreditwesens durch die Ausdehnung des bargeldlosen Zahlungsverkehrssystems über immer weitere Teile Europas und zum anderen die Beendigung der seit dem 12. Jahrhundert andauernden Wucherdebatte. Erstere erweiterte nicht nur den geographischen Rayon der Kredit- und Zahlungsverkehrsbeziehungen gerade für die Oberdeutschen beträchtlich, sondern trug auch erheblich zu einer Ausweitung der Kreditvolumina und damit zu einer Vergrößerung des Buchgeldbestandes bei, gerade um die Auswirkungen der Deflationskrise wenn nicht überwinden, so doch immerhin umgehen zu können. Letzteres befreite die Kaufmanns-Bankiers vor dem DamoklesSchwert der seelischen Pein, für ihre Geschäfte als Wucherer verdammt zu werden und ewige Höllenstrafen gewärtigen zu müssen11, und ermöglichte damit mental die Expansion von Kreditgeschäften und Zahlungsverkehr, ja des Finanzsektors insgesamt. Beide Aspekte zusammengenommen waren für die Entwicklung der „Finantz“ im Oberdeutschland des langen 16. Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung, gerade wenn man die zeitgleich oder nur wenig später ablaufenden, innovativen Prozesse in Nordwesteuropa mit der Herausbildung des Börsen- und des öffentlichen Bankwesens, von Indossament und Diskont in Betracht zieht.12 Diese beiden Aspekte im Zusammenhang mit der Deflationskrise der Reformation näher zu beleuchten, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Da dabei schon von der Sache her die Perspektive der Hochfinanz gewählt werden muß, denn nur diese agierte im internationalen Kreditgeschäft und auf der Grundlage des bargeldlosen Wechselsystems, ist vorab zu klären, wer oder was unter ‚Hoch9

Vgl. Yossi Sheffi, The Resilient Enterprise. Overcoming Vulnerability for Competitive Advantage, Cambridge (Mass.) / London 2005, ²2007. 10 Vgl. Markus A. Denzel, The Merchant Family in the “Oberdeutsche Hochfinanz” from the Middle Ages up to the 18th Century, in: Simonetta Cavaciocchi (a cura di), La Famiglia nell’economia europea secc. XIII–XVIII / The Economic Role of the Family in the European Economy from the 13th to the 18th Century. Atti della „Quarantesima Settimana di Studi“, 6– 10 aprile 2008, Firenze 2009, 365–388. 11 Vgl. Jacques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Stuttgart 1988. 12 Vgl. hierzu Markus A. Denzel, Monetary and Financial Innovations in Flanders, Antwerp, London and Hamburg: Fifteenth to Eighteenth Century, in: Peter Bernholz / Rudolf Vaubel (eds.), Explaining Monetary and Financial Innovation. A Historical Analysis, Heidelberg / New York 2014, 253–282.

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finanz‘ im gegebenen Raum – dem Reich bzw. speziell Oberdeutschland – in der behandelten Zeit zu verstehen ist. 1. Die Hochfinanz des Reiches im „Zeitalter der Fugger und der Welser“ Wenn in der Zeit der Reformation von ‚Hochfinanz‘ die Rede ist, dann sind damit die aus der toskanisch-italienischen Tradition hervorgegangenen KaufmannsBankiers gemeint, die internationalen Großhandel mit bankmäßigen Dienstleistungen, teilweise auch Transport- und Versicherungsgeschäften zu verbinden wußten und nicht zuletzt zu den maßgeblichen Kreditgebern der politischen und kirchlichen Elite ihrer jeweiligen Zeit und Wirtschaftsraumes wurden. Es ist das große Verdienst Wolfgang von Stromers, den vorrangig auf das Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezogenen Begriff der „Hochfinanz“ – la Haute Banque Parisienne13 – auch für die Wirtschaftsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert mit Leben gefüllt zu haben: „An der historischen Realität dieser Personenschicht und an ihrem großen unternehmerischen wie politischen Wirken für die weitgespannte Epoche von den Staufern bis zum Zeitalter der Fugger kann nunmehr kein Zweifel mehr bestehen.“14 Neben seine „Oberdeutsche Hochfinanz“ ist inzwischen auch eine „Hansische Hochfinanz“15 und eine „Hochfinanz zwischen Maas und Rhein“16 getreten, was belegt, daß die Existenz einer solchen ökonomisch potenten und daher auch politisch einflußreichen Gruppe nicht auf einen Wirtschaftsraum – etwa die Toskana und Oberitalien – beschränkt, sondern vielmehr ein seit dem Zeitalter der Kreuzzüge wieder gesamteuropäisch war – ‚wieder‘ deshalb, da auch schon im Imperium Romanum derartige Gruppen nachzuweisen sind.17 13 Maurice Lévy-Leboyer, Les banques européennes et l’industrialisation internationale dans la première moitié du XIXe siècle, Paris 1964; Betrand Gille, La banque et le crédit en France de 1815 à 1848, Paris 1959. 14 Wolfgang von Stromer, Hochfinanz, Wirtschaft und Politik im Mittelalter, in: Friedhelm Burgard / Alfred Haverkamp / Franz Irsigler / Winfried Reichert (Hrsg.), Hochfinanz im Westen des Reiches 1150–1500, Trier 1996, 1–16, hier: 14. 15 Natalie Fryde / Wolfgang von Stromer, Hochfinanz, Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Kreuzzüge, in: Wolfgang von Stromer (Hrsg.), Venedig und die Weltwirtschaft um 1200, Stuttgart 1999, 21–52, hier: 28. Vgl. auch Inge-Maren Peters, Hansekaufleute als Gläubiger der englischen Krone (1294–1350), Köln / Wien 1978. Auf die Hansische Hochfinanz wird im Folgenden nicht näher eingegangen. 16 Burgard / Haverkamp / Irsigler / Reichert (Hrsg.), Hochfinanz im Westen des Reiches. 17 Hans-Joachim Drexhage / Heinrich C. Konen / Kai Ruffing, Die Wirtschaft des Römischen Reiches, Berlin 2002, 149–155; Ulrich Fellmeth, Pecunia non olet. Die Wirtschaft der antiken Welt, Darmstadt 2008; Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2005; vgl. auch Andreas Fleckner, Antike Kapitalvereinigungen. Ein Beitrag zu den konzeptionellen und historischen Grundlagen der Aktiengesellschaft, Köln 2010. – Im Übrigen kennen auch andere Kulturkreise, wie der islamische Wirtschaftsraum oder die asiatischen Großreiche, das Phänomen einer derartigen mit der Politik verflochtenen ‚Hochfinanz‘ in sehr frühen Jahrhunderten; u.a. Maurice Lombard, Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschich-

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Diese regionalen, spätestens im 16. Jahrhundert dann internationalen Hochfinanz(en) unterschieden sich von anderen Kreditgebern des 12. und der folgenden Jahrhunderte – den Lombarden, den Kawerschen und vor allem den Juden18 – nicht so sehr im Umfang der getätigten Kreditgeschäfte19, sondern nach ihrem sozialen Rang20 und insbesondere in der Art ihrer Durchführung: Die KaufmannsBankiers der Hochfinanz nutzten für ihre Kreditgeschäfte das bedeutendste internationale, bargeldlose Zahlungsmedium der Zeit, den Wechsel, auf dessen Grundlage sie über die weit gespannten Filialnetze ihrer Familiengesellschaften, ihre Geschäftspartner und -freunde sowie deren Filialen und Partner in immer weiteren Teilen Europas Liquidität in zunehmend größerer Höhe bereitstellen konnten. Daß seit dem beginnenden 14. Jahrhundert die Verwendung des geographische Distanz überwindenden und zugleich einen Währungsumtausch vornehmenden Wechsel auch innerhalb der Kirche zunehmend als Umgehungsstrategie des kanonischen Zins- und Wucherverbots akzeptiert wurde, war dabei ein entscheidendes Moment: Denn die der Hochfinanz angehörenden Wechselhändler, die Geschäfte nur unter ihresgleichen erledigten, da sie nur innerhalb ihrer eng begrenzten Gruppe das für die Abwicklung von Wechseltransaktionen unabdingbar notwendige Vertrauen schenkten und genossen, wurden auf diese Weise gleichermaßen zu ‚christlichen Bankiers‘ aufgewertet, die Papst und Kurie, Königen und Kaiser – zumindest nominell – nach dem Naturgesetz wie nach den Vorschriften der Kirche dienten, während Lombarden, Kawerschen und Juden mehr und mehr in die Ecke unmoralischer, schändlicher, wider die Vorschriften Gottes und der Kirche handelnder Wucherer gedrängt wurden,. Umgekehrt wurde die Teilhabe eines Kreditgebers am internationalen System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs zu te, 8.–11. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1992, 206–218; Subhi Y. Labib, Handelsgeschichte Ägyptens im Spätmittelalter (1171–1517), Wiesbaden 1965, passim; Peter Feldbauer, Die islamische Welt 600–1250. Ein Frühfall von Unterentwicklung? Wien 1995, Kap. 5, passim. 18 Vgl. Martin Körner, Kawerschen, Lombarden und die Anfänge des Kreditwesens in Luzern, in: Uwe Bestmann / Franz Irsigler / Jürgen Schneider (Hrsg.), Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, Bd. I, Trier 1987, 245–268, hier: 246; Renato Bordone, Una famiglia di „Lombardi“ nella Germania Renana alla seconda metà del trecento: gli Asinari di Asti, in: Burgard / Haverkamp / Irsigler / Reichert (Hrsg.), Hochfinanz im Westen des Reiches 1150–1500, 17–48; Gerhard Mentgen, Herausragende jüdische Finanziers im mittelalterlichen Straßburg, in: ebd., 75–100, hier: 79f., 89–99; Franz-Josef Ziwes, Zum jüdischen Kapitalmarkt im spätmittelalterlichen Koblenz, in: ebd., 49–74. 19 Anhand des Geldmarktes von Brügge hatte Raymond de Roover klar zwischen den Kaufmanns-Bankiers – der Hochfinanz – einerseits und verschiedenen Geldverleihern, Wechslern, Pfandleihern, Lombarden, Kawerschen etc. „im Hinblick auf den sozialen Status sowohl der Protagonisten als auch ihrer Klientel sowie die Art und das Volumen der Geschäfte“ differenziert, wovon die neuere Forschung zunehmend abgerückt ist; Reichert, Juden und Lombarden, vollständiger Titel 276; Raymond de Roover, Money, Banking and Credit in Medieval Bruge Italian Merchant-Bankers, Lombards and Money-Changer A Study in the Origins of Banking, Cambridge (Mass.) 1948. 20 Für Wolfgang von Stromer ist der Kaufmanns-Bankier „der Fernhandel und WechselArbitrage treibende Großkaufmann, der einer gehobeneren sozialen Schicht angehörte als die campsores und usurarii“; Wolfgang von Stromer, Oberdeutsche Hochfinanz 1350–1450, Wiesbaden 1970, Teil II, 452 Anm. 21.

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dem maßgeblichen Kriterium, ob man als Regierender einen Kredit moralisch gerechtfertigt in Anspruch nehmen durfte oder nicht; daß es schon allein aus praktischen Gründen sinnvoll und naheliegend war, einen in Wechseldingen etablierten Kreditgeber zu wählen, um dessen internationale Netzwerkstrukturen nutzen zu können, ist davon freilich unbenommen. Und dies waren eben die Angehörigen der Hochfinanz. War das Wechselgeschäft gleichsam zum ‚Markenzeichen‘ der italienischen21, bald auch der nordwesteuropäischen, spätestens seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert dann der oberdeutschen Hochfinanz geworden, so ergaben sich dadurch geradezu unendliche Möglichkeiten der Kreditierung und der Bereitstellung von Liquidität, wo immer sie der herrschaftliche Geschäftspartner zur Verfügung haben wollte. Die immer stärkere überregional-internationale Ausdehnung und Verflechtung derartiger Finanztransaktionen setzte allerdings auch eine immer größere Zahl an Partnern an den beteiligten Orten voraus, wie im übrigen auch die Expansion der Geschäftsvolumina seit dem 12. Jahrhundert Konsortien von Kaufleuten bzw. Gesellschaften verlangten, die sich für diese eine Großunternehmung zusammenschlossen, da sie alleine finanziell nicht in der Lage gewesen wären, die erforderliche Summe aufzubringen oder auch nur sie über weite geographische Entfernungen hinweg zu transferieren: „Große, Länder übergreifende Geldtransaktionen, wie die Finanzierung der Kreuzzüge, die Lösegeldabwicklung von Richard Löwenherz bedurften unvermeidlich der Kooperation der großen Geldleute, seien sie Ministeriale der Reichsfinanzverwaltung, oder Kaufleute der großen Metropolen.“22 Hinzu kamen Königswahlen23, der Kauf von Territorien bzw. Ablösezahlungen bei deren Übernahme24, große und repräsentative Bauvorhaben, spektakuläre Heiratsvorhaben, die Entdeckungsreisen der Portugiesen seit dem ausgehenden 14. und die der Kastilier seit dem späten 15. Jahrhundert im atlantischen Raum und nicht zuletzt die immer höheren Ansprüche an eine repräsentative Hofhaltung.25 Mit steigenden finanziellen Ansprüchen der Kreditnehmer 21 Vgl. Marco Veronesi, Heinrich von Luxemburg und die italienische Hochfinanz: Mittelalterlicher Staatskredit, der Prager Groschen und das florentinische Handelshaus der Macci, in: Ellen Widder (Hrsg.), unter Mitarbeit von Wolfgang Krauth, Vom luxemburgischen Grafen zum europäischen Herrscher. Neue Forschungen zu Heinrich VII., Luxemburg 2008, 185– 223. 22 Fryde / von Stromer, Hochfinanz, Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Kreuzzüge, 51. 23 Vgl. Hugo Stehkämper, Geld bei deutschen Königswahlen des 13. Jahrhunderts, in: Jürgen Schneider u.a. (Hrsg.), Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Bd. I, Stuttgart 1978, 83–135. Daß eine Königswahl aus der Perspektive der Hochfinanz nicht „zu den ganz großen Finanzgeschäften“ zählte (ebd., 111), kann nach den dabei bewegten Summen wie auch den weiteren Ausführungen sowie vor allem den bei Wolfgang von Stromer verfügbaren Belegen (s.u.) inzwischen wohl bezweifelt werden. 24 Ein Beispiel: Karl IV. „erpreßte“ zum Erwerb der vordem wittelsbachischen Mark Brandenburg 1373 von den oberdeutschen Städten insgesamt mehr als 140.000 Gulden; von Stromer, Oberdeutsche Hochfinanz, Teil I, 158 sowie 399f. 25 Vgl. Werner Paravicini, The Court of the Dukes of Burgundy. A Model for Europe?, in: Ronald G. Asch / Adolf Birke (eds.), Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age, c. 1450–1650, Oxford 1991, 69–102; der (ed.), La cour de Bourgogne et l’Europe. Le rayonnement et les limites d’un modèle culturel, Ostfildern 2012.

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waren einzelne Handelsherren oder Gesellschaften – anders als etwa noch im 12. Jahrhundert26 – kaum mehr in der Lage oder auch nur willens, längerfristig als (fast) alleinige Kreditgeber eines weltlichen oder geistlichen Herrschers tätig zu werden. Taten sie es dennoch, war dies mit hohen Risiken für ihre langfristige Solvenz verbunden: Die Luccheser Riccardi scheiterten als ‚Bankers of the Crown‘ Eduards I. von England (1272–1307)27 ebenso wie die Florentiner Peruzzi unter seinem Enkel Eduard III. (1327–1377)28, die Bonsignori als päpstliche Bankiers (1332–1340)29 und letztlich auch Jacques Cœur aus Bourges (1395–1456), der Argentier Karls VII. von Frankreich (1438–1451).30 Daher wurden kreditierende Konsortien immer wichtiger, einflußreicher und vorteilhafter, da sich das Risiko, das jedem Kreditgeschäft innewohnt, besser auf die verschiedenen Krediteure verteilen ließ, so daß beim teilweisen oder gänzlichen Ausfall einer Rückzahlung nicht gleich der Bankrott der eigenen Unternehmung zu erwarten war, wie dies etwa dem der Hochfinanz des Ostseeraums angehörenden Handels- und Bankhaus der Loytz (Loitz) in Stettin passierte, das sich in den 1550er und 1560er Jahren in mehreren, umfangreichen Kreditvergaben an Adelige, Fürsten und Könige des hansischen Wirtschaftsraumes engagierte und das über nicht zurückgezahlte Darlehen an die polnische Krone in den 1570er Jahren faillierte,31 um nur 26 Bis in das 12. Jahrhundert war zumeist – um nicht zu sagen: regelmäßig – ein Geldgeber für einen weltlichen oder geistlichen Fürsten ausreichend gewesen; Fryde / von Stromer, Hochfinanz, Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Kreuzzüge, 26; Hilary Jenkinson / M.T. Stead, William Cade, a Financier of the Twelth Century (1166), in: English Historical Review 28, 1913, 209–227; Sonja Zöller, Gerhard Unmaze von Köln. Ein Financier der Reichspolitik im 12. Jahrhundert, in: Burgard / Haverkamp / Irsigler / Reichert (Hrsg.), Hochfinanz im Westen des Reiches 1150–1500, 101–119. 27 Richard W. Kaeuper, Bankers of the Crown. The Riccardi of Lucca and Edward I., Princeton 1973, 75–134, 209–252. 28 Armando Sapori, La crisi delle compagnie mercantili dei Bardi et dei Peruzzi, Firenze 1926; Edwin Hunt, The Medieval Super-Companies: A Study of the the Peruzzi Company of Florence, Cambridge 1997, 212–229. 29 Gabriella Piccinni, Sede pontificia contro Bonsignori di Siena. Inchiesta intorno ad un fallimento bancario (1344), in: Antonio Rigon / Francesco Veronese (a cura di), L’età dei processi. Inchieste e condanne tra politica e ideologia nel ‘300. Atti del convegno di studi svoltosi in occasione della IX edizione del Premio internazionale Ascoli Piceno (30 novembre – 1 dicembre 2007), Roma 2009, 213–246; dies., Il sistema senese del credito nella fase di smobilitazione dei suoi banchi internazionali. Politiche comunali, spesa pubblica, propaganda contro l’usura (1332–1340), in: dies. (a cura di), Fedeltà ghibellina affari guelfi. Saggi e riletture intorno alla storia di Siena fra Due e Trecento, Pisa 2008, 209–289. Den Hinweis auf diese Literatur verdanke ich meinem lieben Kollegen Eberhard Isenmann, Köln. 30 Die Vermischung von eigenen Geschäften mit denen des königlichen Haushaltes und vor allem die übergroße Verschuldung des Königs ihm gegenüber lieferten den Anlaß für seinen politischen Sturz und die Einziehung seines Vermögens, zu diesem Zeitpunkt wohl das größte in ganz Frankreich; Michel Mollat, Der königliche Kaufmann: Jacques Cœur oder der Geist des Unternehmertums, München 1991; Jacques Heers, Jacques Cœur 1400–1456, Paris 1997, ²2008. Vgl. auch Peter Moraw, Deutsches Königtum und bürgerliche Geldwirtschaft um 1400, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55/3, 1969, 289–328, 325. 31 Heidelore Böcker, Das Handelshaus Loitz. Urteil der Zeitgenossen – Stand der Forschung – Ergänzungen, in: Detlef Kattinger / Horst Wernicke (Hrsg.) unter Mitwirkung v. Ralf-Gunnar

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ein Beispiel zu nennen. Gerade für das deutsche Spätmittelalter kann festgehalten werden, daß „kaum eine Gesellschaft mit Darlehen an den König so einseitig belastet worden ist, daß sie bei verzögerter Rückzahlung in ernsthafte Schwierigkeiten gekommen wäre. Nüchtern rechnender Geschäftssinn hat da vorgebaut und sich immer wieder mit Pfändern gesichert.“32 Paradebeispiel hierfür ist das Nürnberger Kaufleutekonsortium – unter anderem der Valzner, Stromer, Rummel, Harsdörffer, Pfinzing und Haller –, das den „Staatsstreich“ Ruprechts von der Pfalz (1400–1410) gegen seinen Vorgänger Wenzel (1376–1400) wie auch Ruprechts Italienzug (1401/02) durch Warenlieferungen, Wechsel- und Geldkredite (mit)finanzierte: „Wesentlich ist, daß keine Einzelperson oder Gesellschaft einen größeren Anteil als ein Fünftel der Gesamtsumme aufbrachte, daß sich keiner der großen Kreditgeber über den von seinen Firmeninteressen gezogenen Rahmen hinweggesetzt hat.“33 Diese Haltung der Hochfinanz scheint – im Reich wie in anderen Ländern – tendenziell bis in das 16. Jahrhundert gleich geblieben zu sein, auch wenn sich die Gewichte der an einem solchen Konsortium beteiligten Kreditgeber bisweilen unterschiedlich verteilen konnten: Die Königs- bzw. Kaiserwahl Karls V. 1519 – das vielleicht beste Beispiel für diese Epoche – wurde von einem Konsortium finanziert, in welchem die Fugger ein deutliches Übergewicht besaßen, aber dies war aus der Perspektive des Augsburger Handelshauses wohl eher die Ausnahme als die Regel und der schon jahrzehntelangen Verbindung – seit dem als „Anlehen“ bezeichneten Großkredit von 1488 – zum Haus Habsburg geschuldet.34 Denn nimmt man die Kreditvergaben für die spanische Krone von 1521 bis zum Werlich, Akteure und Gegner der Hanse – Zur Prosopographie der Hansezeit (Hansische Studien IX), Weimar 1998, 203–218; Hubertus Neuschäffer, Die Familie Loitz im 15. und 16. Jahrhundert, in: Pommern 23/2, 1985, 1–4; Edward Rymar, Rycerskie (?) pochodzenie szczecińskiego i gdańskiego rodu kupiecko-bankierskiego Loitzów, in: Studia z dziejów średniowiecza 10, 2004, 173–204; Zygmunt Boras, Loitzowie – kupcy szczecińscy, in: Pawel Bartnik (Hrsg.), Pomorze Zachodnie w tysiącleciu, Szczecin 2000, 109–120; Antoni Giza, O pożyczce szczecińskiej rodziny Loitzów, in: Kronika Szczecina 12, 1992/93, 150–152. – Für diesen Hinweis danke ich Herrn Dr. Werner Scheltjens, Akademischer Assistent an meinem Leipziger Lehrstuhl. 32 Moraw, Deutsches Königtum und bürgerliche Geldwirtschaft, hier 311. 33 Ebd., 324 sowie 307–309, 325, 327. Vgl. auch Wolfgang von Stromer, Das Zusammenspiel Oberdeutscher und Florentiner Geldleute bei der Finanzierung von König Ruprechts Italienzug 1401/02, in: Hermann Kellenbenz (Hrsg.), Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert. Bericht über die 3. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mannheim am 9. und 10. April 1969, Stuttgart 1971, 50–86; und ders., Oberdeutsche Hochfinanz, Bd. I, 203–218; zu den diesbezüglichen Wechselgeschäften ebd., 211. 34 Mark Häberlein, Jakob Fugger und die Kaiserwahl Karls V. 1519, in: Johannes Burkhardt (Hrsg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn, Augsburg 2008, 65–81; ders., Die Fugger’sche Anleihe von 1488. Handelskapital, fürstliche Privilegien und der Aufstieg des süddeutschen Kaufmannsbankiers, in: Dieter Lindenlaub / Carsten Burhop / Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Schlüsselereignisse der deutschen Bankengeschichte, Stuttgart 2013, 17–25.

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Ende der Regierungszeit Karls V./I. (1555) in den Blick, so zeigt sich, daß die Fugger in der longue durée nur knapp 20%, die Welser weitere 15% der gesamten Darlehenssumme von immerhin 28,15 Millionen Dukaten kreditierten, die verschiedenen genuesischen Handelshäuser knapp 35% und die Antwerpener gut 10%, während 18% von spanischen Kaufmanns-Bankiers kamen.35 Befand sich also die europäische Hochfinanz oder zumindest die des Reiches in den Jahren um die Reformation in einer Krise? Wohl kaum, auch wenn in den einzelnen Unternehmen oder Gesellschaften geradezu selbstverständlich geschäftliche Mißerfolge, strategische Fehlentscheidungen, Verluste oder gar Bankrotte eintreten konnten,36 wie dies eben in der Handels- und Bankierswelt zu allen Zeiten gang und gäbe war und in den 1520er Jahren besonders spektakulär die Augsburger Höchstetter traf (1529). In der Literatur wird diesbezüglich häufig auf die Monopoldiskussion der 1530er Jahre und die daraus resultierende Reichsmonopolgesetzgebung als Symptom einer derartigen Krise verwiesen.37 Doch so bedeutend die Eingriffe in bestehende Marktformen und die Konsequenzen für die Preisbildung einiger besonders betroffener Güter auch gewesen sein mögen, führte dies nicht zur einer Krise der (oberdeutschen) Hochfinanz allgemein,38 sondern förderte allenfalls deren (partiellen) Rückzug aus dem Warenhandel – wie etwa dem der Fugger aus dem Pfeffer-Geschäft39 – und ihre noch stärkere Hinwendung zum reinen Geld-, Wechsel- und Kreditgeschäft, so daß dadurch die Ausprägung von Kaufmanns-Bankiers als Hochfinanz im Ergebnis eher gefestigt als geschwächt wurde. Auch die deflationäre Depression war der Hochfinanz tendenziell nicht ab-, sondern im Gegenteil eher zuträglich, verschärften doch der Mangel an guten (kuranten) Münzen und steigende Preise die Nachfrage nach Krediten, die zu gewähren die Hochfinanz durchaus willens war – doch selbstverständlich nur den Angehörigen der ökonomisch und politisch potenten Schichten. Auf diese Weise vermochten die Fugger, die Welser, die Behaim und Imhoff und zahlreiche andere

35 Häberlein, Die Fugger, 77. 36 Vgl. Safley, Bankruptcy: Family and Finance in Early Modern Augsburg, 53–72; ders. (Hrsg.), The History of Bankruptcy. 37 Fritz Blaich, Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V. Ihre ordnungspolitische Problematik, Stuttgart 1967; vgl. auch Joseph Höffner, Wirtschaftsethik und Monopole im 15. und 16. Jahrhundert, Jena 1941 (Darmstadt ²1969). 38 Diese hätte – ähnlich wie der Zusammenbruch großer oberdeutscher Handelshäuser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – außerdem kaum Auswirkungen auf die gesamte oberdeutsche Wirtschaft gehabt, was nach Friedrich Lütge auf den geringen Verflechtungsgrad zwischen diesen Handelshäusern und der Gesamtwirtschaft zurückzuführen ist; Friedrich Lütge, Die wirtschaftliche Lage Deutschlands vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, in: Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Abhandlungen von Friedrich Lütge, Stuttgart 1963, 336–395, hier: 357; Mathis, Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, 81. 39 Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel, Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548, Stuttgart 2011, passim.

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gerade in dieser Depressionsphase ihr Engagement auf den internationalen Kreditmärkten zu erweitern.40 Erst ab den 1540er Jahren wird dann „der mühelos fließende Silberstrom“41 aus den Vizekönigreichen Neu-Spanien (Mexiko) und Peru die europäische Hochfinanz verführen, dem spanischen König Geld in der Erwartung zu leihen, dieses mit gutem Zinssatz aus den jährlichen Steuer-, Pacht- und Renteneinnahmen bzw. später bei der Ankunft der Silberflotte aus der Neuen Welt zurückzuerhalten – mit ungeahnten Folgen für das Finanzgebaren der spanischen Krone und für die kreditierenden Hochfinanziers selbst: Die immer höheren Kreditsummen, die die Krone forderte, und die immer höheren Spekulationserwartungen der Financiers führten einerseits zu immer schneller aufeinander folgenden Staatsbankrotten in Spanien und andererseits zum Zusammenbruch ganzer Konsortien von Bankiers, doch erst in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.42 Diese tatsächliche Krise der – vorrangig italienischen und spanischen – Hochfinanz während der Regierungszeit Philipps II. und seiner Nachfolger läßt sich aber schwerlich mehr mit den krisenhaften Erscheinungen vor und während der Reformation in Zusammenhang bringen. 2. Die Expansion von Kreditwesen und internationalem Zahlungsverkehr im „Weltreich“ Karls V. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß das Kreditbedürfnis im Gefolge der deflationären Depression gestiegen ist, so führte dies zu einer Intensivierung wie auch der geographischen Ausweitung des auf dem Zahlungsmedium Wechsel basierenden internationalen bargeldlosen Zahlungsverkehrssystems. Dieses dehnte sich im 16. Jahrhundert von einem auf den – insbesondere westlichen – Mittelmeerraum und Nordwesteuropa beschränkten Netzwerk an Wechselmärkten auf die Iberische Halbinsel, wo Lissabon und Sevilla zu den Ausgangs- und Zielhäfen der europäischen Expansion nach Übersee wurden, aber auch auf das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hin aus, wo vor allem die oberdeutschen Geldmärkte Augsburg und Nürnberg sowie die Messen in Frankfurt am Main im Laufe der Jahrzehnte immer enger an dieses System angeschlossen wurden.

40 Hierzu insbesondere der jüngste Beitrag von Mechthild Isenmann, Statistische Analyse des „Handlungs- und Bilanzbuchs“ Paulus Behaims (1519–1568). Finanzgeschäfte und Klientel eines Nürnberger Financiers, in: Annales Mercaturae 1, 2015 (im Druck). 41 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 3 vols., Paris 41979; dt.: Das Mittelmeer im Zeitalter Philipps II., Frankfurt am Main 1990, 2. Bd., 238. 42 Ebd., 237; Michael North, Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1994, 86f.; Claudio Marsilio, The Genoese and Portuguese Financial Operator’s Control of the Spanish Silver Market (1627–1657), in: Journal of European Economic History 41/3, 2012, 69–89.

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Die Wechselmärkte der Iberischen Halbinsel wurden dabei insbesondere über die Kastilischen Messen in Medina del Campo, Medina del Rioseco und Villalón an das internationale bargeldlose Zahlungsverkehrssystem angeschlossen. Diese waren selbst Teil des westeuropäischen Messesystems, in welchem die Termine der Kastilischen Messen, der Messen von Lyon und der Brabanter Messen in Antwerpen und Bergen-op-Zoom sowie ab 1534 auch mit denen von Besançon (ital. Bisenzone) so aufeinander abgestimmt waren, daß bargeldlose Zahlungen per Wechsel in einem „système de correspondance“43 von einer Messe zur nächsten transferiert werden konnten. Darüber hinaus wurden aber auch Verbindungen zu den wichtigsten Wechselmärkten der Hochfinanz in Italien gehalten. Internationale Reputation als ‚Wechselmessen‘ hatten die Messen Ende des 15. Jahrhunderts durch die offizielle Verleihung des Titels feria de pagos von Seiten der Katholischen Könige erlangt. „Diese Anerkennung hob die kastilischen Messen auf das Niveau der großen europäischen Handelsmessen, in deren Netz sie definitiv aufgenommen wurden.“44 Die Kastilischen Messen waren dabei für die spanische Krone – ähnlich wie die Lyoner für die französische – der zentrale Geldmarkt für die Beschaffung und die Bezahlung von Krediten, wie sie ja seit 1525 auch die offiziellen Abrechnungszeiten und -orte der spanischen Kronfinanzen geworden waren, denn die Steuerpächter der königlichen Finanzverwaltung leisteten ihre Pacht an den Zahltagen der Messen, wodurch sie die Möglichkeit erhielten, zugleich Warengeschäfte dort zu tätigen und mit dem Erlös ihre Schuld an die Krone zu begleichen. Dadurch gerieten die Messen sowohl in Abhängigkeit von den Edelmetallieferungen aus den spanischen Überseebesitzungen als auch von der – zugleich daraus resultierenden – jeweiligen Situation der Kronfinanzen.45 Doch erhielten die Kastilischen Messen gerade daraus, wie auch aus den neu hereinkommenden überseeischen Waren, einen starken Impuls, und der Umfang der Transaktionen nahm zu. Mit dem auf den Messen erlösten oder kreditierten Summen kauften dann die finanziell potenteren Kaufleute Wechselbriefe für die flandrischen Messen, mit denen die Handelsbeziehungen seit dem Regierungsantritt Karls I. (V.) (in Spanien 1516, im Reich 1519) aufgrund der politischen Verbindung sehr intensiv geworden waren. Jeder Kredit wurde daher etwa drei bis vier

43 Henri Lapeyre, Une famille de marchands: les Ruiz, Paris 1953, 285. Auch Renate Pieper, Die Preisrevolution in Spanien (1500–1640). Neuere Forschungsergebnisse, Wiesbaden 1985, 29. 44 Helma Houtman-de Smedt / Herman Van der Wee, Die Entstehung des modernen Geld- und Finanzwesens Europas in der Neuzeit, in: Hans Pohl (Hrsg.), Europäische Bankengeschichte, Frankfurt am Main 1993, 73–173, hier: 100. Vgl. auch Valentín Vázquez de Prada, Die kastilischen Messen im 16. Jahrhundert, in: Hans Pohl (Hrsg.) unter Mitarb. v. Monika Pohle, Frankfurt im Messenetz Europas – Erträge der Forschung (Brücke zwischen den Völkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe, 3 Bde., hrsg. v. R. Koch, Bd. I), Frankfurt/Main 1991, 113–131, hier: 116. 45 Pieper, Preisrevolution, 29. – Bereits 1523 waren die Kastilischen Messen das Zahlungsziel für die Rückzahlung von Krediten, die Anton Fugger Karl I. (V.) für seine Wahl zum Deutschen König bereitgestellt hatte; Hermann Kellenbenz, Die Fugger in Spanien und Portugal, 3 Bde., München 1990, Bd. I, 68.

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Monate später fällig46. „Dies war der Grund für die Verbindung der Kastilischen Messen mit den flämischen und gleichzeitig der Grund für die Verbindung von Handelsgeschäften mit Bankgeschäften mittels des Wechselbriefverkehrs.“47 In gleicher Weise geschah dies auch mit den Messen von Lyon, wodurch der Kontakt zu den italienischen Kaufleuten nicht nur aufrechterhalten wurde, sondern sogar noch intensiviert werden konnte. Darüber hinaus begannen in Konkurrenz zu den vom französischen König aus dem Hause Valois kontrollierten Messen von Lyon genuesische Bankiers, die seinem Konkurrenten um die Hegemonie in Europa, dem Habsburger Karl V., verbunden waren, in den 1530er Jahren, eigenständige Wechselmessen der italienischen Hochfinanz zu etablieren, zumal ihnen seit den 1520er Jahren auf Betreiben der toskanischen Kaufleute mehrmals der Zugang zu den Lyoner Messen durch Franz I. von Frankreich (1515–1547) verboten worden war. Dieser Druck sollte dazu beitragen, das immer stärker werdende genuesische Kreditpotential exklusiv an das französische Königtum zu binden bzw. – aus toskanischer Sicht – unliebsame Konkurrenten von den Messen fernzuhalten. Zwar blieben die erst kürzlich etablierten Messen von Besançon – oder Bisenzone-Messen –vorerst ohne größere Bedeutung, als die Genuesen 1541 wieder in Lyon zugelassen wurden, doch sollte die neue Messe in der habsburgischen Freigrafschaft Burgund erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert durch die Zunahme des amerikanischen Silbers und durch die Notwendigkeit, von Lyon auf einen nahen Platz Wechsel ziehen zu können, um die von Seiten der Kirche verbotenen dépôts de foire en foire zu vermeiden und die Fiktion der distantia loci aufrechtzuerhalten, größere Bedeutung erlangen. Allerdings – und das ist im Zusammenhang dieser Ausführungen ein entscheidendes Moment – wurden die Bisenzone-Messen von Anfang an nicht mehr von den Bedürfnissen des Warenhandels, sondern von denen des Geld- und Wechselhandels und damit der Hochfinanz dominiert: Sie wurden zu ausschließlichen Wechselmessen, zu „foire[s] des changes par définition.“48 Diese Wechselmessen, deren wichtigste Innovation eine stabile Meßwährung nach Lyoner Vorbild war49, sollten im späten 16. und beginnenden 17. Jahrhundert zum „Zentrum der Finanzspekulationen der christlichen Welt“ und „Weltschauplatz des Bankwesens“ werden, wo sich die Spitze der internationalen Hochfinanz – etwa 30 bis

46 Vázquez de Prada, Die kastilischen Messen, 117–119; ders., Cambistas, mercaderes y teologos en Castilla, a mediados del siglo XVI, in: Banchi pubblici, banchi privati e monti di pietà nell’Europa preindustriale. Amministrazione, tecniche operative e ruoli economici, Genova 1991, Bd. II, 1135–1155, hier: 1150–1155; Pieper, Preisrevolution, 29; Ramon Carande, Carlos V y sus banqueros, la vida económica de España en una fase de su hegemonía, 1516– 1556, Madrid 1943 (ND. Barcelona 1977), Bd. 1, 331f.; Emiliano Fernandez de Pinedo, Crédit et banque dans la Castille aux XVIe et XVIIe siècles, in: Banchi pubblici, banchi privati e monti di pietà, vol. II, 1035–1050, hier: 1040. 47 Vázquez de Prada, Die kastilischen Messen, 119. 48 José Gentil da Silva, Banque et crédit en Italie au XVIIe siècle, Paris 1969, 12. 49 Giuseppe Felloni, Un système monétaire de marc dans les foires de change génoises, XVIe– XVIIIe siècles, in: John Day (ed.), Études d’histoire monétaire, Lille 1984, 249–260.

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100 Banchieri di conto – „zu Herren des Finanz- und Geldmarktes machen“ konnten.50 Auch Oberdeutschland wurde im 16. Jahrhundert zunehmend an das internationale bargeldlose Zahlungsverkehrssystem angeschlossen, denn „Deutschland östlich des Rheins war ausgespart aus dem System, womit die oberitalienischen Banken die Mittelmeerwelt und Westeuropa im Spätmittelalter dicht überzogen hatten.“51 Bargeldloser Zahlungsverkehr wurde auch um die Mitte des 15. Jahrhunderts von Zentraleuropa aus noch im Regelfall über Venedig im Süden52, über die Messen zu Genf und vor allem über Brügge im Nordwesten abgewickelt.53 Die oberdeutschen Kaufleute mußten sich also an einem geeigneten Finanzplatz gegebenenfalls mit Hilfe eines Faktors oder Korrespondenten in das Zahlungsverkehrssystem der italienischen Kaufmanns-Bankiers ‚eintakten‘.54 Wichtige Katalysatoren für diese Entwicklung waren einerseits der kuriale Zahlungsverkehr55 und kirchliche Großereignisse wie etwa Konzilien, die beide bargeldlose Zahlungen im Dienste der Kurie unabdingbar erforderlich machten und somit die schiere Notwendigkeit zu Wechselgeschäften schufen; andererseits waren es Messen, die als Zentren des Informationsaustausches und des Ausgangs von Lernprozessen56 dienten, und sich herausbildende geschäftliche und persönliche Beziehungen zwischen oberdeutschen und italienischen Handelshäusern57, die dann die grundlegende Vertrauensbasis für die Abwicklung von bargeldlosen Zahlungsverkehrsoperationen bereiteten; schließlich – von eher begrenztem Einfluß – kam der Aufbau von Korrespondentennetzen durch mit bargeldlosen Zahlungsverkehrsoperationen befaßte italienische Handelshäuser hinzu.

50 Pierre Racine, Messen in Italien im 16. Jahrhundert: Die Wechselmessen von Piacenza, in: Pohl (Hrsg.), Frankfurt im Messenetz Europas, Bd. I, 155–170, hier: 156, 160f., 168f.; Giulio Mandich, Delle fiere genovesi di cambi particolarmente studiate come mercati periodici del credito, in: Rivista di storia economica 4, 1939, 257–276. 51 von Stromer, Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben [1979], 3; ders., Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben [1985], 229. Vgl. auch Raymond de Roover, The Rise and Decline of the Medici-Bank 1397–1494, Cambridge (Mass.) 1963, 64, 196. 52 Philippe Braunstein, Erscheinungsformen einer Kollektividentität: Die Bewohner des Fondaco dei Tedeschi in Venedig (12.–17. Jahrhundert), in: Bestmann / Irsigler / Schneider (Hrsg.), Hochfinanz – Wirtschaftsräume – Innovationen. , Bd. I, 411–420. Vgl. auch von Stromer, Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben als Banken in Oberdeutschland, 13. 53 Aloys Schulte, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft 1380–1530, Stuttgart 1923, 393–396. 54 Arnold Esch, Bankiers der Kirche im großen Schisma, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 46, 1966, 277–398, hier: 377; vgl. auch ders., Das Archiv eines Lucchesischen Kaufmanns an der Kurie 1376–1387, Berlin 1975, 134. 55 Vgl. Arnold Esch, Überweisungen an die Apostolische Kammer aus den Diözesen des Reiches unter Einschaltung italienischer und deutscher Kaufleute und Bankier Regesten der vatikanischen Archivalien 1431–1475, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 78, 1998, 262–387. 56 Vgl. Michael Rothmann, Die Frankfurter Messen im Mittelalter, Stuttgart 1998, 479–487. 57 Vgl. Philippe Braunstein, Relations d’affaires entre Nurembergeois et Vénétiens à la fin du XIVe siècle, in: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire 1964, 227–269, hier: 243–253.

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Erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts entwickelten sich verhältnismäßig dauerhafte und enge bargeldlose Zahlungsverkehrsbeziehungen zwischen verschiedenen deutschen Wechselmärkten – vor allem den Frankfurter Messen58, Köln59, Nürnberg60, Augsburg61 sowie später auch Hamburg62 – und solchen außerhalb des Heiligen Römischen Reiches – insbesondere Antwerpen, den Messen von Lyon, Venedig und Rom. Sogar noch im Kaufmannsnotizbuch des europaweit agierenden Handelshauses Fugger, das in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kompiliert und 1548 abgeschlossen worden ist, konzentriert sich die Erläuterung von Wechseltransaktionen weit mehr auf Beispiele zwischen den Wechselmärkten an der Atlantikküste oder in Italien als auf solche zwischen dem Hauptsitz der Firma in Augsburg und den Filialen im Reich.63 Die bargeldlosen Zahlungsverkehrstransaktionen deutscher Kaufleute im 16. Jahrhundert waren in der Regel noch einseitig, d.h. man zog auf einen ausländischen Partner; sehr selten nur wurde jedoch auf einen deutschen Kaufmann gezogen. Dies legen auch die verfügbaren Kursnotierungen der Zeit nahe, die in der Regel von deutschen Finanzplätzen auf ausländische – vor allem italienische und niederländische –, kaum aber in umgekehrter Richtung überliefert sind. Antwerpen beispielsweise begann seine Kursnotierungen (der zentrale Indikator für die Aufnahme regelmäßigen bargeldlosen Zahlungsverkehrs mittels Wechsel) – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – auf Frankfurt am Main, Hamburg und Köln erst in den 1580er Jahren, 58 Nils Brübach, Die Reichsmessen von Frankfurt/Main, Leipzig und Braunschweig (14.–18. Jahrhundert), Stuttgart 1993; Hermann Kellenbenz, Private und öffentliche Banken in Deutschland um die Wende zum 17. Jahrhundert, in: Banchi pubblici, banchi privati e monti di pietà nell’Europa preindustriale. 1991, Bd. I, 613–647, hier: 616, 641; José Gentil da Silva, Stratégie des affaires à Lisbonne entre 1595 et 1607, Paris 1956, 65. 59 Vgl. Hermann Kellenbenz, Wirtschaftsgeschichte Kölns im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in: Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Köln 1975, Bd. 1, 321–427, hier 405. 60 Hermann Kellenbenz, Die Münzen und die internationale Bank Ende des 15. bis Anfang des 17. Jahrhunderts (Das oberdeutsche Beispiel), in: Vera Barbagli Bagnoli (a cura di), La moneta nell’Economia europea, secoli XIII–XVIII. Atti della „Settima settimana di studio“, 11–17 aprile 1975, Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“ (Prato), Firenze 1981, 651–680, hier: 671; Rolf Walter, Nürnberg in der Weltwirtschaft des 16. Jahrhundert Einige Anmerkungen, Feststellungen und Hypothesen, in: Pirckheimer-Jahrbuch 7 (Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa), 1992, 145–169, hier 155f. 61 Pierre Jeannin, Change, crédit et circulation monétaire à Augsbourg au milieu du 16e siècle, [Paris] 2001, 27–35, 145–148. Vgl. auch Friedrich Blendinger (Hrsg.) unter Mitarbeit von Elfriede Blendinger, Zwei Augsburger Unterkaufbücher aus den Jahren 1551 bis 1558. Älteste Aufzeichnungen zur Vor- und Frühgeschichte der Augsburger Börse, Stuttgart 1994, 590– 604. 62 Richard Ehrenberg, Hamburg und England im Zeitalter der Königin Elisabeth, Jena 1896, 67. Vgl. auch Michael North, Geldumlauf und Wirtschaftskonjunktur im südlichen Ostseeraum an der Wende zur Neuzeit (1440–1570). Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte am Beispiel des Grossen Lübecker Münzschatzes, Sigmaringen 1990 133, 162, 167. 63 Markus A. Denzel, Eine Handelspraktik aus dem Hause Fugger (erste Hälfte des 16. Jahrhunderts). Ein Werkstattbericht, in: Jean Claude Hocquet / Harald Witthöft (Hrsg.), Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert / Merchant’s Books and Mercantile Pratiche from the Late Middle Ages to the Beginning of the 20th Century, Stuttgart 2002, 125–152, hier 144.

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ähnlich auch die Lyoner Messen auf Köln (seit 1584) und die Bisenzone-Messen auf Köln und Frankfurt am Main.64 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete allenfalls Venedig, das seine wichtigsten oberdeutschen Handelspartner Nürnberg und Augsburg, vielleicht auch die Frankfurter Messen spätestens um die Mitte des 16. Jahrhunderts regelmäßig notierte.65 Damit wurden die wichtigsten Geld- und Wechselmärkte des Reiches im Verlaufe des 16. Jahrhunderts immer enger an das internationale System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs angebunden, wenn auch vorerst noch nicht vollständig in dieses integriert. Nichtsdestoweniger hatten sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Intensität und die Qualität der Beziehungen zwischen den Kaufmanns-Bankiers vor allem Oberdeutschlands und des Rheinlandes einerseits und denen Italiens und Westeuropas andererseits erheblich verstärkt. 3. Das Ende der Wucherdebatte Über Jahrhunderte hinweg hatte das kanonische Zins- oder Wucherverbot wie ein Damoklesschwert über Geldverleihern wie Kreditnehmern gleichermaßen geschwebt. Seit dem 12. Jahrhundert, d.h. seit dem III. und IV. Laterankonzil, war die kirchliche Gesetzgebung deutlich verschärft worden; zugleich hatte sich aber auch, bedingt durch die Kreuzzüge und das zunehmende Engagement der Kurie in der gesamten Lateinischen Christenheit, der Kreditbedarf der Kirche und ihrer Amtsträger bis hinauf zum Papst deutlich erhöht, so daß sich eine immer größere Spannung zwischen theologischem Anspruch und ökonomischer Alltagspraxis entwickelte. Die Geld verleihenden Kaufleute des 12. Jahrhunderts ‚erfanden‘ verschiedene Strategien, um das Verbot der Zinsnahme bei Kreditvergaben zu umgehen, und nicht zuletzt wurden die Vorläufer des Wechsels entwickelt, um mit derartigen Kreditpapieren einen unerlaubten Zins im Wechselkurs, d.h. der Relation zwischen der Währung des Kreditgebers und der des Kreditnehmers, verstecken zu können. Damit gelang es den Kaufmanns-Bankiers, sich mittels des Transfer- und Kreditinstruments Wechsel der Kurie und ihren steigenden Anforderungen nach einem europaweit sicheren und reibungslosen Zahlungsverkehr geradezu unentbehrlich zu machen. Da auf diese Weise auch die Kurie selbst in den Verdacht, wucherisch tätig zu sein, geriet, lag es nahe, Kleriker und Kaufleute gleichermaßen von dem Odium des Wuchers zu befreien. Während das 13. Jahrhundert noch von großer Unsicherheit geprägt war,66 welche Meinung man gegenüber dem neuen Zahlungsmedium Wechsel kirchlicherseits einnehmen sollte, so orientierten sich die Theologen des 14. Jahrhunderts an der unabdingbaren praktischen Notwendigkeit des bargeldlosen Zahlungsverkehrs für das Wirtschaftsleben insgesamt und die ökonomische wie poli64 Markus A. Denzel (Hrsg.), Währungen der Welt IX: Europäische Wechselkurse vor 1620, Stuttgart 1995, 121, 55, 97f., 102f. 65 Vgl. Kellenbenz, Die Münzen und die internationale Bank, 669, 675. 66 Hans-Jörg Gilomen, Art. „Wucher“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IX: Werla bis Zypresse. Anhang; Register, 1999, Sp. 341–345, hier: Sp. 345.

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tische Tätigkeit der Kurie im Besonderen. Maßgeblich wurde – die intensive Diskussion vor allem seit Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) hier abkürzend – die Argumentation des Franziskanergenerals Alexander Bonini, genannt Lombardus (ca. 1268–1314) in seinem auf einer Rede von 1307 basierenden Tractatus de usuris67, daß „es für einen Wechselhändler durchaus gerechtfertigt sein konnte, eine grössere Rückzahlung zu fordern, als den Gegenwert der bei Vertragsabschluss übertragenen Summe. Dieser Feststellung liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Nachfrage nach Geld im Laufe der Zeit variieren kann und dadurch Veränderungen des ‚Wertes‘ hervorzurufen vermag.“68 Somit erfolge ein Verkauf unter Ungewißheit (venditio sub dubio), der in Verbindung mit dem scholastischen Zeitargument eine höhere Preisforderung erlaube, wenn eine berechtigte Ungewißheit über den künftigen Preis der Ware bestehe. Damit liege ein damnum emergens bzw. ein lucrum cessans vor. Alexander Lombardus betonte zugleich das Recht auf Wertgleichheit der getauschten Münzen wohinter die erstmalige Erkenntnis steckte, daß für Geld ein Markt bestehen kann, was zugleich die Abkehr von der traditionellen scholastischen Lehre eines ausschließlich äußeren Wertes des Geldes bedeutete.69 Übertragen auf das eigentliche Wechselgeschäft bedeutete dies, daß zwei Elemente für ein erlaubtes Wechselgeschäft grundlegend wurden, 1. die permutatio pecuniae absentis cum praesenti und 2. die distantia oder differentia loci, d.h. die sich im Wechselkurs manifestierende Währungsumwechslung aufgrund der zugrundeliegenden Münzverschiedenheit und die Ortsverschiedenheit der Parteien. War eines der beiden Elemente – insbesondere die Ortsverschiedenheit – nicht gegeben, so verbot sich die Wechseltransaktion, denn die beteiligten Kaufleute hätten sich zweifelsfrei des Wuchers schuldig gemacht. Durch die – wenn auch nur fiktive – Notwendigkeit des Geldtransports und des Geldumtauschs hatte die „Arbeit“ des Kaufmanns entlohnt zu werden, und der im Wechselkurs bzw. in einer Provision versteckte Gewinn erschien kirchenrechtlich als einigermaßen gerechtfertigt.70 Im Ergebnis bezeichnete Alexander Lombardus cambium nicht mehr als mutuum, sondern als permutatio pecuniae, die somit nicht (mehr) dem Odium des Wuchers anheimfiel – eine Auffassung, die nach und nach von allen späteren führenden Theologen akzeptiert wurde.71 67 Dieser „widerspiegelt bereits eine sich allmählich zu ändern beginnende Einstellung gegenüber den Wechslern“; Christian Braun, Vom Wucherverbot zur Zinsanalyse 1150–1700, Winterthur [1994], 98. Vgl. auch John T. Noonan Jr., The Scholastic Analysis of Usury, Cambridge (Mass.) 1957, 183. 68 Braun, Vom Wucherverbot, 98f. Vgl. auch Noonan Jr., The Scholastic Analysis, 183f. 69 Braun, Vom Wucherverbot, 99; Wilheilm Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze der canonistischen Lehre, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 1, 1863, 26–48, 154–181, 310–367, 537–576, 679–730, hier: 171; Jochen Schumann, Zur Geschichte christlicher und islamischer Zinsverbote, in: Harald Hagemann (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXI: Ökonomie und Religion, Berlin 2007, 149–205, hier: 165. 70 Braun, Vom Wucherverbot, 104f. Anm. 28; Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze, 170. 71 Raymond de Roover, The cambium maritimum Contract According to the Genoese Notarial Records of the Twelth and Thirteenth Centuries, in: David Herlihy / Robert Lopez / Vsevolod Slessarev (eds.), Economy, Society, and Government in Medieval Italy. Essays in Memory of

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Einige Beispiele mögen diese Veränderung der theologischen Einschätzung verdeutlichen:72 Bernardino von Siena (1380–1444) etwa kam in Neuauslegung der Wucherlehre von Petrus Johannis Olivi (1247/48–1296) zu dem Schluß: „Usura solum in mutuo cadit.“73 Laurentius de Ridolfis bestätigte in seinem Traktat über den Wucher 1403 Alexander Lombardus durch seine Feststellung, daß der Wert von Geld je nach Zeit und Ort verschieden sein könne.74 Überhaupt keine Bedenken mehr gegen das Wechselgeschäft hegte Alexander Tartagnus aus Imola (1422/23–1477), einer der führenden Juristen des 15. Jahrhunderts, der als Universitätslehrer in Ferrara, Bologna und Pavia wirkte und in seinen Ansichten Baldus de Ubaldis (†1400) folgte: Zum einen bestehe eine Gefahr für den Wechselnehmer durch die Währungs- bzw. Kursschwankungen und zum anderen sei ein Aufgeld ratione laborum et operarum gerechtfertigt.75 Jacob de Vio aus Gaeta bzw. Thomas Kardinal Cajetan (1469–1534), Generaloberer der Dominikaner seit 1508, schließlich rechtfertigte in De cambiis 1499 das Wechselgeschäft, da es eine wichtige Unterstützung des lebensnotwendigen Händlers darstelle. „Cajetan wollte den Wechsel denn auch nicht als Instrument zur Umgehung des Wucherverbots und damit als Deckmantel für wucherische Darlehen verstanden wissen, sondern stellte ihn dar als eine dem Gemeinwohl dienende, wirtschaftliche und politische Notwendigkeit.“76 Nichtsdestoweniger zog sich die Diskussion um Fragen des Wuchers und um die theologisch-kanonistische Rechtfertigung von bargeldlosen Zahlungsmedien noch bis weit in das 16. Jahrhundert hinein: Denn während der ‚normale‘, d.h. auf Orts- und Währungsverschiedenheit basierende Wechsel (cambium per litteras) seit dem 14. Jahrhundert auch in Theologen-Kreisen zunehmende Akzeptanz fand,77 blieben zwei Arten von ‚Wechseln‘ weiterhin strikt verboten: Zum einen blieb der trockene Wechsel (cambium siccum), d.h. der Wechsel ohne Währungs-

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Robert L. Reynolds, Kent (Ohio) 1969, 15–33, hier: 28f.; Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze, 172. Vgl. auch Alonzo M. Hamelin, Un traité de morale économique au XIVe siècle: Le tractatus de Usuris de Maître Alexandre d’Alexandrie, Louvain 1962, 179– 185; Raymond de Roover, Les doctrines économiques des scholastiques: à propos du traité sur l’usure d’Alexandre Lombard, in: Revue d’histoire ecclésiastique 59, 1964, 854–866, hier: 858–860; ders., The Scholastics, Usury, and Foreign Exchange, in: Business History Review 41, 1967, 257–271. Weitere Beispiele siehe bei Noonan Jr., The Scholastic Analysis, 184–190. Bernardino da Siena, Quadragesimale de Evangelio Aeterno, sermon 36, art. 1, cap. 1 und art. 2, cap. 1, zit. nach: Federico Arcelli, A Banking Enterprise at the Papal Court: The Company of Antonio della Casa and Jacopo di Michele di Corso Donati (1438–1440), in: Journal of European Economic History 25, 1996, 9–32, hier: 23. Braun, Vom Wucherverbot, 103. Hermann Lange, Das kanonische Zinsverbot in den Consilien des Alexander Tartagnus, in: Marcus Lutter / Helmut Kollhosser / Winfried Trusen (Hrsg.), Recht und Wirtschaft in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Johannes Bärmann zum 70. Geburtstag, München 1975, 99–112, hier: 112. Ob man zur gleichen Einschätzung wie der genannte Verf. kommt, Alexander habe auf diese Weise „die Liberalisierung des Geldverkehrs vorangetrieben wie wohl kein zweiter“ (ebd.), muß hier offen bleiben. Braun, Vom Wucherverbot, 104. Vgl. Noonan Jr., The Scholastic Analysis, 193.

Hochfinanz, Kreditwesen und internationaler Zahlungsverkehr

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umtausch und ohne Ortsverschiedenheit der beiden Zahlungen, unzulässig.78 Denn der vermutlich schon auf das späte 12. Jahrhundert zurückgehende cambium siccum „diente in allererster Linie als Deckmantel für profitbringende Darlehen und entwickelte sich bald zu einem der beliebtesten Kniffe zur Umgehung des Wucherverbots.“ Durch die Integration der Zinsen in den Kurs ergab sich immer ein positives Ergebnis für den Remittenten, dieses war aber je nach den Kursschwankungen variabel; auch ein Verlust war nie völlig auszuschließen.79 Zum anderen bestritten die Theologen Platzwechseln (cambia platearum) die Bezeichnung als cambium reale oder cambium verum, da ihnen die Ortsverschiedenheit und damit die Notwendigkeit des Geldtransports fehlen. Auch die Möglichkeit, ein Wechselgeschäft zwischen zwei verschiedenen Orten, aber ohne den Umtausch von Währungen abzuwickeln, war theologisch höchst umstritten: Solche Inlandswechsel begannen vor allem in Spanien nach dem Einsetzen der großen Silberlieferungen aus Amerika seit den späten 1540er Jahren eine bedeutende Rolle zu spielen – und die Theologen zu beschäftigen: Denn aufgrund der Ankunft des amerikanischen Silbers in Sevilla einerseits und der Abrechnung der Kronfinanzen auf den Kastilischen Messen andererseits war der gegenseitige Wechselverkehr zwischen den Messen und dem Hafen am Guadalquivir so umfangreich geworden, daß derartige Wechsel mit einem 5– 6%igen Aufgeld gehandelt wurden. Die Möglichkeit, durch innerspanische Wechselgeschäfte Arbitragegewinne zu erzielen, rief heftige Reaktionen maßgeblicher Theologen der Zeit hervor: Vor allem Francisco de Vitoria (1483–1546) entwickelte die Theorie des lucrum cessans, und nach Cristóbal de Villalón galt der Wechsel von Messe zu Messe als „commerce ‚infernal‘“ und wurde allgemein als reiner Kredit gegen Zinsen angesehen. Durch zwei Pragmaticás vom 6. November 1551 und vom 6. November 1552 wurde daher der Inlandswechsel zwischen den Messen und Sevilla verboten, nachdem bereits 1545 und 1546 keine derartigen Wechsel hatten gehandelt werden dürfen. Insgesamt verloren die Messen dadurch einen wesentlichen Teil ihres bisherigen Aufgabenkomplexes, den der Flottenausrüstung für Übersee, der auf diese Weise finanziert worden war. Da sich auch die Cortés von Madrid (1528) und Toledo (1538) gegen die zu hohen Arbitragegewinne ausgesprochen hatten, durften auch Wechsel von Kastilien mit Aragón und Valencia trotz unterschiedlicher Währungen nur auf der Parität gehandelt werden.80 Durch Königliche Verordnungen vom 28. Juli 1571 bzw. vom 78 Gilomen, Art. „Wucher“, Sp. 345; Rolf Sprandel, Art. „Zin IV. Kirchengeschichtlich“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36: Wiedergeburt – Zypern, 2004, 681–687, hier: 683; Gilomen, Wucher und Wirtschaft, 294f.; Braun, Vom Wucherverbot, 103; Noonan Jr., The Scholastic Analysis, 186; Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze, 171. Vgl. auch Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, 392; Jelle C. Riemersma, Usury Restrictions in a Mercantile Economy, in: Canadian Journal of Economics and Political Sciences / Revue canadienne d’Économique et de Sciences politiques 18/1, 1952, 17–26, hier: 19. 79 Braun, Vom Wucherverbot, 102. 80 Lapeyre, Ruiz, 315–318; Houtman-de Smedt / Van der Wee, Geld- und Finanzwesen Europas, 101f.

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Markus Denzel

7. Dezember 1578 wurde Wechselverkehr mit Aufgeld von Medina del Campo aus überhaupt nur noch mit anderen Messen erlaubt. Allerdings wurden alle diese Einschränkungen des Wechselgeschäft schlicht umgangen: Sevilla, Valencia, Saragossa und Madrid wurden bis einschließlich 1582 nämlich nicht mit einem Kurs notiert (gültig war die Parität), sondern nur mit jeweils wechselnden Zahlungsterminen angegeben, d.h. man ‚versteckte‘ mögliche Kursgewinne in der Terminfestsetzung. Erst mit der Neuordnung der Kastilischen Messen durch die Königliche Verordnung vom 7. Juli 1583 wurden die Beschränkungen des Wechselverkehrs weitgehend aufgehoben, so daß auch die spanischen Plätze wieder mit einer Kursangabe, d.h. in der Regel mit Aufgeld, notiert werden konnten.81 Diese Auseinandersetzung um die Verwendung von Wechseln, bei welchen zwar ein Geldtransfer zwischen zwei verschiedenen Orten, nicht aber ein Geldumtausch zwischen zwei Währungen stattfand, zeigt, daß auch im 16. Jahrhundert in der Kirche wie in der Politik weiterhin eine hohe Sensibilität bezüglich des Zahlungsmedium Wechsel existierte und die Diskussion um die Rechtmäßigkeit der daraus resultierenden Zahlungen noch nicht abgeebbt war. So wurde das Verbot der Platzwechsel noch 1560 von Pius IV. (1559–1565), um die Mißbräuche der römischen Wechselhändler gegen Geistliche abzustellen, in der päpstlich ratifizierten Wechselordnung von Bologna von 1569 festgeschrieben, und derartige Wechsel wie auch Trockenwechsel (s.u.) in der Bulle In eam Pius’ V. (1566– 1572) vom 28. Januar 1571 nochmals verdammt, auch wenn sich die Kaufleute zu dieser Zeit nicht mehr an die päpstlichen Vorschriften hielten und die Bulle somit weitgehend wirkungslos blieb. Regelkonforme Wechsel hingegen wurden in der Constitution Pius’ V. von 1570 als legitim und keinesfalls wucherisch angesehen, gerechtfertigt durch die Arbeit und Gefahr bei der Ausstellung, dem Transport und der Einlösung des Wechsels, wobei erneut besonders auf den (fiktiven) Transport des Geldes zur Überwindung der Ortsverschiedenheit rekurriert wurde.82 Bemerkenswert, wenn auch in der bisherigen Forschung bislang in keiner Weise hinreichend gewürdigt, ist bei den verschiedenen Erlassen Pius’ V., daß er für den fingierten Transport des Wechsels einen gerechten Preis forderte. Die Theorie vom pretium iustum83 sollte demnach auch auf den Preis der Wechsel, den Wechselkurs, angewandt werden. Hieraus ergab sich folgende Konsequenz: Um der Forderung, daß der Wechselkurs einem pretium iustum entsprechen soll, 81 Vgl. Denzel, Währungen der Welt IX, 63. 82 Carl Samuel Grünhut, Wechselrecht, Bd. 1, Leipzig 1897, Bd. 1, 27, 35f., 49–51; Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze, 171; Max Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Begründung der heutigen Zinsgesetze (1654). Aus handschriftlichen und gedruckten Quellen, Halle 1865, 429–431, 437; Noonan Jr., The Scholastic Analysis, 333. 83 John W. Baldwin, The Medieval Theories of the Just Price. Romanists, Canonists, and Theologians in the Twelfth and Thirteenth Centuries, Philadelphia 1959; Wilhelm Trusen, Handel und Reichtum: Humanistische Auffassungen auf dem Hintergrund vorangehender Lehren in Recht und Ethik, in: Heinrich Lutz (Hrsg.), Humanismus und Ökonomie, Weilheim 1983, 87–103; ders., Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Spätmittelalter, in: Franz Mayer (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Göttingen 1967, 247–263.

Hochfinanz, Kreditwesen und internationaler Zahlungsverkehr

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gerecht zu werden, schien es „am natürlichsten …, dass von der Obrigkeit oder vom Vorstande der Kaufmannschaft der gesetzmäßige unabänderliche Preis der Wechsel bestimmt werde.“ Die Wechsel erhielten somit einen öffentlichen Wert, vergleichbar dem von geschlagenen Münzen, und wie die Bestimmung des Geldpreises, den der Fürst festlege, sei auch die des Wechsels „nicht Sache der Privatwillkür“.84 Durch die öffentliche Festlegung des Wechselkurses – sei es durch die Obrigkeit oder die mit ihr mehr oder minder eng verwobene Kaufmannschaft – sollte somit gewährleistet werden, daß der Wechselkurs für alle beteiligten Parteien gerecht sei. Und diese öffentliche Festlegung geschah in der Form früher Preiskuranten oder Wechselkurszettel, die John J. McCusker als den Beginn des Wirtschaftsjournalismus betrachtet.85 So verwundert es nicht, daß die ältesten (Wechsel-)Preiskuranten gerade in den Jahrzehnten nach den Erlassen Pius’ V. auftauchen: Sie tragen der päpstlichen Forderung nach einer öffentlichen, weil „gerechten“ Preisfestsetzung für Wechselkurse Rechnung und beseitigen damit den letzten Hauch von Wucher, der das Wechselgeschäft seit dem 12./13. Jahrhundert umgeben hatte. Und auch die Grundeinstellung der Kaufmanns-Bankiers gegenüber dem moralisch anrüchigen Wucher hatte sich über die Jahrhunderte hin verändert: Noch im frühen 15. Jahrhundert habe sich, so Federico Arcelli einerseits, die Angst der Kaufmanns-Bankiers, als Wucherer zu gelten, auch und gerade in ihren Rechnungsbüchern niedergeschlagen.86 Andererseits hatten sich seit dem 14., vor allem im 15. und im 16. Jahrhundert „moralischer Appell und kaufmännische Berufspraxis … weit auseinandergelebt.“87 Der einstmals so gefürchtete Wucher war zur Grundlage für Spöttereien geworden. So schrieb beispielsweise der Hauptbuchhalter der Fugger, Matthäus Schwarz, in seinem Lehrbuch der Buchhaltung: „Interesse ist höflich gewuchert, Financzen ist höflich gestolen.“88 Und schon 84 Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze, 173. Vgl. Neumann, Geschichte des Wuchers, 434. 85 John J. McCusker / Cora Gravesteijn, The Beginnings of Commercial and Financial Journalism. The Commodity Price Currents, Exchange Rate Currents, and Money Currents of Early Modern Europe, Amsterdam 1991; vgl. auch John J. McCusker, The Italian Business Press in Early Modern Europe, in: Simonetta Cavaciocchi (a cura di), Produzione e commercio della carta e del libro, secc. XIII–XVIII, Prato 1992, 797–841 (repr. in: John J. McCusker [ed.], Essays in the Economic History of the Atlantic World, London / New York 1997, 117–144); ders., The Role of Antwerp in the Emergence of Commercial and Financial Newspapers in Early Modern Europe, in: La ville et la transmission des valeurs culturelles au bas Moyen Âge et aux Temps Modernes / Die Städte und die Übertragung von kulturellen Werten im Spätmittelalter und in die Neuzeit / Cities and the Transmission of Cultural Values in the Late Middle Ages and Early Modern Period. Actes / Abhandlungen / Records, Bruxelles 1996, 303–332; ders., Information and Transaction Costs in Early Modern Europe, in: Rainer Gömmel / Markus A. Denzel (Hrsg.), Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2002, 69–83. 86 Arcelli, A Banking Enterprise, 23. 87 Gilomen, Wucher und Wirtschaft, 288. 88 Alfred Weitnauer, Venezianischer Handel der Fugger. Nach der Musterbuchhaltung des Matthäus Schwarz, München / Leipzig 1931, 180. Vgl. Gilomen, Wucher und Wirtschaft, 299.

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Markus Denzel

Benvenuto de Rambaldis da Imola (†1387/88 in Ferrara), Freund von Boccaccio und Petrarca, hatte in seinem Kommentar zur Göttlichen Komödie von Dante, nach welcher die Wucherer im siebten und damit untersten Kreis der Hölle schmoren sollten, geschrieben: „Qui facit usuram, vadit ad infernum; qui non facit, vergit ad inopiam.“89 Dagegen erscheint der gegen „Wucher“ wetternde Luther90 in dieser Hinsicht geradezu als rückwärtsgewandt, ja als ein moralisierendes Relikt aus einer längst vergangenen Epoche. Die schrittweise theologische und kirchenrechtliche Anerkennung des Wechsels als erlaubtes Zahlungsmittel trug damit der ökonomischen Realität Rechnung und erlaubte auch der Kurie selbst dessen Gebrauch ohne moralische Skrupel. Mit den sich herausbildenden verschiedenen Arten eines Wechsel freilich tat sich die Kurie auch nach den theologischen ‚Unbedenklichkeitserklärungen‘ des 15. und frühen 16. Jahrhunderts schwer: Erstmals durch die Wechselordnung von Bologna von 1569 war im übrigen auch der Rückwechsel (Ricorsa) – obschon seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch – von päpstlicher Seite gestattet worden, was allerdings in den folgenden Jahrzehnten nicht unbestritten blieb. 1627 wurde von Urban VIII. (1623–1644) der Ricorsa-Wechsel letztmals verworfen, 1631 dann schlußendlich wieder zugelassen. Die cambia sicca hingegen verbot noch Benedikt XIV. (1740–1758) 1747.91 Das kirchliche Zinsverbot ist im übrigen bis heute niemals formell aufgehoben worden.92 Resümee Aus der Perspektive der Hochfinanz, der Kreditwirtschaft und des internationalen, bargeldlosen Zahlungsverkehrs wird man von einer Krise des Reformationszeitalters kaum sprechen können, mag diese Charakteristik aus dem Blickwinkel anderer ökonomischer Phänomene und anderer gesellschaftlicher Gruppen und Schichten auch noch so gerechtfertigt erscheinen. Die verschiedenen krisenhaften Erscheinungen, allen voran die Deflation und der Mangel an gutem Geld, aber auch die bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert aufgrund des Bevölkerungswachstums einsetzenden Preiserhöhungen beschleunigten vielmehr die Expansion der Kreditwirtschaft und machten Kredite auf allen Ebenen der Wirtschaft und der Gesellschaft wie auch in anderen Zeiten eines „bullion famine“ (John Munro) um so erforderlicher.93 Diese immer weitere Ausbreitung kreditwirtschaftlicher Erfordernisse hatte den bargeldlosen Zahlungsverkehr – nicht zuletzt im Dienst für die 89 Benvenuti de Rambaldis de Imola Comentum super Dantis Aldigherij comoediam, nunc primum integre in lucem editum curante Jacobo Philippo Lacaita, T. 1, Firenze 1888, 579; zit. nach: Gilomen, Wucher und Wirtschaft, 265. 90 Philipp R. Rössner, Martin Luther on Commerce and Usury, London / New York 2015. 91 Neumann, Geschichte des Wuchers, 430f. Anm. 4. 92 Gilomen, Wucher und Wirtschaft, 300. 93 Vgl. John Munro, Bullionism and the Bill of Exchange in England, 1272–1663: A Study in Monetary Management and Popular Prejudice, in: [Fredi Chiappelli (ed.)], The Dawn of Modern Banking, New Haven / London 1979, 169–239.

Hochfinanz, Kreditwesen und internationaler Zahlungsverkehr

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Kurie – bereits seit dem 14. Jahrhundert deutlich anschwellen lassen, und der Kurie selbst mußte daran gelegen sein, theologisch zu klären, ob hier ein wucherisches Instrument vorliegt oder nicht. Der sich aus verschiedenen Vorformen herausbildende ‚klassische‘ Wechsel wurde dabei seit Alexander Lombardus zunehmend als nicht-wucherisch akzeptiert, in diesem Sinne um 1570 letztlich durch den Papst anerkannt, auch wenn die Wirklichkeit der Kaufleute schon längst über moralische Skrupel den Wechsel betreffend hinweg gegangen war. Diese ‚Liberalisierung‘, ja die letztlich durch die oberste Lehrinstanz der Lateinischen Christenheit offiziell erlaubte Umgehung des Zinsverbots ging parallel mit einer erneuten Ausdehnung der Kreditwirtschaft innerhalb des christlichen Europa einher, die einerseits in engem Zusammenhang mit der Europäischen Expansion nach Übersee stand, andererseits gerade durch die Deflationskrise des beginnenden 16. Jahrhunderts gefördert wurde: Der bargeldlose Zahlungsverkehr mit Wechseln, dem ja immer ein Kreditelement innewohnen konnte, wurde schon allein deswegen im Handels- und Wirtschaftsgeschehen immer wichtiger, weil die Menge an vorhandenem Münzgeld bzw. Edelmetall für die Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung und der Gesamtheit der wirtschaftlichen Belange schlicht nicht ausreichend war, zumal der Edelmetallabfluß aus Europa nach Asien – etwa für die Gewürzeinkäufe der Portugiesen in Indien – in dieser Zeit deutlich zunahm. Und dieser Mangel an Edelmetall wurde auch nur wenig gemildert, als seit der Mitte des Jahrhunderts Edelmetall aus Lateinamerika in bislang nicht gekannten Mengen nach Europa zu strömen begann, da dieses nur in beschränktem Maße überhaupt in den europäischen Zahlungs- und Geldverkehr gelangte. Der Wechsel wurde damit als Zahlungs- und Kreditinstrument aus dieser schieren Notwendigkeit zum „Papiergeld der Kaufleute“, die – unabhängig von allen Obrigkeiten – dessen Umlaufmenge in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Bedürfnissen selbst und selbstverantwortlich bestimmen konnten. Befreit vom Odium des Wuchers, vermochte der Wechsel, dann seit dem 17. Jahrhundert zunehmend unter Zuhilfenahme von Indossament und Diskont börsenmäßig gehandelt, zum Medium eines immer weitere geographische Räume und immer weitere Bereiche der Wirtschaft umfassenden Zahlungsverkehrs werden, das die Liquiditätsengpässe innerhalb Europas – seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auch unter den Europäern außerhalb Europas – trotz (langsam) zunehmender Wirtschaftsleistung und trotz Bevölkerungswachstum geradezu problemlos überwand. Das 16. Jahrhundert war im Rahmen dieser säkularen Entwicklung aufgrund der Europäischen Expansion, der Ausdehnung und Intensivierung der internationalen Handelsbeziehungen (Kommerzialisierung), der Modernisierung kommerzieller Institutionen und ihrer zunehmenden rechtlichen Absicherung94 eine ‚Schlüsselperiode‘, und zwar insbesondere für den atlantischen, aber auch für den (ober)deutschen Raum. Ob nun der Begriff eines „Zeitalters der Fugger und der Welser“ angebracht erscheint oder nicht – die meisten Unternehmungen der oberdeutschen Hochfinanz durchschritten in den Jahren der Reformation keine umfas94 Vgl. Wolfgang Forster, Konkurs als Verfahren: Francisco Salgado de Somoza in der Geschichte des Insolvenzrechts, Köln / Weimar / Wien 2009.

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sende Krise, sondern agierten erfolgreich im internationalen Handels- und Finanzgeschäft. Daß eine auch die Hochfinanz betreffende Krise allerdings nicht allzu lange auf sich warten ließ, zeigt die Zunahme der krisenhaften Erscheinungen – vor allem die massive Geldentwertung – in den letzten Jahrzehnten des 16. und den ersten des 17. Jahrhunderts, die im Ergebnis zu einer langfristigen Umwälzung innerhalb der Hochfinanz des oberdeutschen Raumes führen sollten. Prof. Dr. Markus A. Denzel, Leipzig/Bozen

MONEY MATTERS: DAS GELDWESEN IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN VERTEILUNGSKÄMPFEN UND * RESSOURCENKNAPPHEIT (1450–1550) Philipp Robinson Rössner In dankbarer Erinnerung an Prof. Dr. Ekkehard Westermann (1940–2015) I. In der Lutherzeit fielen drei Entwicklungen zusammen, die bis in die jüngere Zeit immer wieder als „Geißeln“ der Menschheit identifiziert werden: Deflation (heute eine der schlimmsten Sorgen europäischer Wirtschafts- und Währungshüter), Münzverschlechterung und Devaluation. Letztere wurde von Oresmius und Nicolaus Copernicus (1473–1543) als schlimmstmögliches Übel für Wirtschaft und Gesellschaft neben Krieg, Pest und Hunger gebrandmarkt. Und die zahlreichen Bauernunruhen des Spätmittelalters, die in der „Revolution von 1525“ (P. Blickle) gipfelten, waren ebenfalls charakteristisch für das Zeitalter der Reformation (und seine unmittelbare Vorgeschichte). Im Durchschnitt der Jahre zwischen c. 1450 und 1550 waren sowohl die Zahl der belegten Aufstände, als auch die Entwertungsraten der regionalen Pfennigwährungen – das Geld des „Gemeinen Mannes“ – signifikant über ihrem langfristigen Durchschnitt1; die ersten drei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts Jhs. waren weiterhin durch niedrige Getreidepreise geprägt. Gewerbelöhne und Realeinkommen sanken ebenfalls während der ersten beiden Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts.2 Im modernen ökonomischen Duktus könnte man hier von einer „Depression“ sprechen, obgleich Funktionsweise und Struktur der vormodernen Agrarökonomien sich nur bedingt für eine Analyse mithilfe der   * 1

2

Ich danke sehr herzlich Markus A. Denzel für weiterführende Hinweise und Herrn cand. phil. Stefan Lehm für ein sehr effektives Lektorat des Textes. Alle verbleibenden Irrtümer gehen zu meinen Lasten. Bauernaufstände: Peter Bierbrauer, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Peter Blickle et al. (Hrsg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 1–68; restliche Daten vgl. Tabelle 1. Zur Rechengeldentwertung grundständig: Rainer Metz, Geld, Währung und Preisentwicklung: Der Niederrheinraum im europäischen Vergleich, 1350–1800, Frankfurt a. M. 1990. Ulrich Pfister, Realeinkommen, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Band 10: Physiologie – Religiöses Epos. Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 666–673.

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Philipp Robinson Rössner

modernen Konjunkturtheorie und des Volkswirtschaftlichen Rechnungswesens eignen.3 Die ökonomische Expansion im Zeitalter der „Preisrevolution“ begann in den deutschen Landen später als etwa im nordwestlichen Europa, nämlich erst gegen Ende der 1530er Jahre.4 Viele ökonomische Konjunkturdaten, einschließlich der jüngst geschätzten deutschen „Reallöhne“ wiesen zwischen 1500 und 1530 nach unten.5 John Munro u.a. haben auf die kausale Verbindung dieser ökonomischen Entwicklung, hauptsächlich hinsichtlich der langfristigen Preiskonjunkturen, mit der Silberproduktion und der Geldversorgung Mitteleuropas hingewiesen und damit eine gemäßigt monetaristische Argumentationsweise verfolgt, welche das ältere neo-malthusianische Interpretament (das von Geldneutralität ausgeht und Verschiebungen im Preisgefüge auf die Verschiebungen in Nahrungsspielraum und dem relativen Leistungsgefüge in der Gesamtwirtschaft zurückführt) etwas modifiziert hat.6 Zweifelsohne wirkte sich die Silberknappheit in den deutschen Teilen Mitteleuropas in Richtung einer sinkenden Pro-Kopf-Wirtschaftstätigkeit aus („Krise der Reformation“).7

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4 5

6 7

Markus A. Denzel, Konjunkturen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: G. Schulz / C. Buchheim / G. Fouquet / R. Gömmel / F.-W. Henning / K. H. Kaufhold / H. Pohl (Hrsg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven, 2. Aufl. Stuttgart 2005, 191–215. John Munro, The Monetary Origins of the ‘Price Revolution’, in: Dennis O. Flynn / Arturo Giráldez / Richard von Glahn (Hrsg.), Global Connections and Monetary History, 1470– 1800, Aldershot / Burlington 2003, 1–34. Reallöhne zuletzt: Pfister, Realeinkommen, hier: Sp. 669. Für alle weiteren Angaben, vgl. Tab. 1 und eine ausführliche Diskussion weiterer empirischer Befunde in Philipp Robinson Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation, Stuttgart 2012, Kap. II, insb. 166–204. Vgl. Munro, Monetary Origins, und Nicholas J. Mayhew, Prices in England, 1170–1750, in: Past and Present (2013) 219 (1), 3–39. Vgl. Anm. 5.

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Money Matters: Das Geldwesen

1

2

3

4

Preisniveau (6 süddt. Städte)

Reallohnniveau

Vergrabene Münzschätze (Hortung)

Silbergehalt der regionalen Pfennigwährungen (arithm. Mittel)

1500

100

100

100

100

1505

95

105

1510

57

100

1515

80

86

1520

78

82

1525

72

77

1530

186

82

1535

102

86

1540

191

82

1545

172

77

1550

179

73

5 Roggenpreisniveau, süddeutsche Städte (Augsburg, Nürnberg, Frankfurt, München, Würzburg)

6

100

100

100 65

93

91 35

93 73

87 77

93 86

Silberproduktion Tirol und Sachsen

68 43

65

66

83 82

121

69

78

85

76

68

66

81

77

Quellen: Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. II. Tabelle 1: Die Entwicklung der deutschen Wirtschaft, 1500–1550 (Index 1500 = 100)

Diese „Krise der Reformation“ ist aus monetärer und wirtschaftshistorischer Sicht an anderer Stelle umfassend analysiert worden8, ebenso wie die Tatsache, dass das Geld hier im Zentrum der wirtschaftlichen (Fehl-)Entwicklung, aber kurioserweise auch der religiösen Umdeutungen von 1517, gestanden hat.9 Geld ist nämlich nicht nur in der (Wirtschafts-)Geschichte der Reformation alles andere als „neutral“ gewesen (wie viele moderne Ökonomen und Anhänger der sog. ChicagoSchule oft behauptet haben); es hat aber auch – und dies soll die gegenwärtige Studie zeigen – auf mehr Ebenen „gewirkt“ als gemeinhin angenommen. Nicht nur die absolute Geldmenge an sich beeinflusste die Wirtschaftstätigkeit („Sozialprodukt“), sondern auch ihre Komposition: Hieraus ergaben sich auch unterschiedliche Verteilungseffekte hinsichtlich des Sozialprodukts. Der Anteil schlechter gegenüber guter, alter gegenüber neuer, fremder gegenüber einheimischer Münze ergab für bestimmte Kreise der Bevölkerung die Chancen der Ausnutzung von Arbitragegewinnen und Renteneinkommen, welche andere Beteiligte als ungerecht und Zumutung empfanden. Diese Ressourcenkonflikte über die Ware Geld lassen sich anhand der frühen Reformationszeit exemplarisch hervorragend nachvollziehen. Wenn das Diktum der Numismatiker stimmt – an der Geschichte des Geldes spiegele sich gleichzeitig auch die gesamte Gesellschaft und   8 9

Ebd. Philipp Robinson Rössner, Martin Luther on Commerce and Usury, London / New York 2015; Ders., Luther – Ein tüchtiger Ökonom? Über die monetären Ursprünge der Deutschen Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 1/2015 (im Erscheinen).

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Philipp Robinson Rössner

Kultur der Menschen ihrer Zeit – so trifft dies vor allem auch auf die Reformationszeit zu. Das heißt in anderen Worten, es lassen sich aus der Analyse der Geldlandschaft während der Reformationszeit nicht nur grundständige Schlüsse über die Wirkungsmechanismen und Dynamiken des Geldwesens an sich ziehen, sondern auch gesellschaftliche, politische, kulturelle und ökonomische Dynamiken und Entwicklungen der Zeit im Allgemeinen. Hier geht es um Geld als Ressource – eine wirtschaftlich-monetäre, politische, soziale und auch kulturelle Ressource. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird das Fallbeispiel der Leipziger Münzordnung von 1500 exemplarisch bzw. als empirische Grundlage für die weitergehende theoretische Analyse des Geldwesens um 1500 stehen; andere Quellen, Münzordnungen der Zeit in anderen Räumen böten sich an. Die Auswahl bzw. Eingrenzung erfolgt allein aus Gründen der guten Überlieferung im mitteldeutschen Raum und der Expertise des Autors (II). Sodann ist zu fragen, welche Quellen es für die Analyse gibt; welche Quellen von der traditionellen Geld- und Währungsgeschichte genutzt wurden und wie der Einbezug weiterer oder „Spiegelquellen“ ein gewissermaßen traditional-quellenpositivistisches Bild von der vorindustriellen Währungslandschaft zu modifizieren geeignet ist (III). Dann ist die Frage von Relevanz, wie diese Quellen zum Sprechen gebracht werden können. Den Anfang bildet die Kultur des Geldes (IV). Sodann geht es um die Sprache, Metaphorik und das Analyseinstrumentarium der monetär-ökonomischen oder geldtheoretischen Modelle – die besonders in der ökonomischen Literatur zumeist standardmäßig gewählte „Brille“ (V). Darauf aufbauend möchte der Beitrag die Spezifik des Warengeldcharakters in Mittelalter und Früher Neuzeit herausstellen, wobei wir zwangsläufig in einen weiteren wichtigen Bereich der sozialwissenschaftlichen Forschung kommen, nämlich der Globalisierung als einer Form des Ressourcenkonflikts um diese gesellschaftlich wie ökonomisch so eminent wichtige Ware Geld (VI). Dann muss man weitergehen und nach einer Politik oder politischen Soziologie des Geldes fragen (VII), bevor man seine sozialen Spannungsfelder und Wirkungskreise analysiert (VIII). Ohne die Kenntnis bzw. analytische Einbeziehung dieser diversen Geld-„felder“ lässt sich kein ausgewogenes Bild hinsichtlich der vielfältigen Dynamik der vormodernen Währungslandschaft treffen. Ein Schluss wird durch weiterführende Forschungsmöglichkeiten abgerundet (IX). II. Im Jahr 1500 erließen die sächsischen Herrscher eine Münzordnung – die Leipziger Münzordnung, welche außerhalb der numismatischen Fachkreise weitgehend unbekannt ist. Und doch genießt gerade diese Münzordnung eine nicht zu vernachlässigende historische Bedeutung.10 Zum einen fundierte sie ein den wetti  10 Philipp Robinson Rössner, Die (proto)globalen Spannungsfelder und Verflechtungen mitteldeutscher Münz- und Währungspolitik um 1500. Das Beispiel der sächsischen Talerprägung,  

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nischen Herrschern typisches Verständnis von Währungspolitik, welches in seinen Grundprämissen durchaus moderne Züge aufwies (siehe unten) und hinsichtlich der Wertigkeit der Münzen und dem ökonomisch-sozialen Stabilitätsziel weitestgehend alleine in der Währungslandschaft der Zeit stand. Zum anderen gilt 1500 als Geburtsstunde des „Talers“; also einer dem Rheinischen Goldgulden in der Kaufkraft ebenbürtigen Silbermünze – ein Anbrechen des „Zeitalters des Silbers“ in Europa. Vorläufer dieser „Taler“ hatte es seit einer entsprechenden Prägung in Tirol 1484/6 in mehreren Teilen des Reiches gegeben. Mengenmäßig und von der Konsequenz her stellt aber der sächsische Guldengroschen (Groschen so ein gulden gilt, später als Taler bezeichnet, nach der Münze im böhmischen Jàchymov/Joachimsthal) den eigentlichen Beginn dieses neuen Währungsparadigmas dar.11 Zum dritten erfolgte auch die wettinische Währungspolitik in einem Spannungsfeld zwischen Silberabstrom und Silbergeldnachfrage im Reich im Zeitalter der frühneuzeitlichen Globalisierung von Silberströmen, welche, oft den betriebswirtschaftlichen Logiken der die mitteleuropäische Silberströme und Silberbergbau kontrollierenden Großkaufleute und Konsortien Oberdeutschlands unterworfen, große Mengen Silbers aus Mitteldeutschland direkt in den atlantischen und pazifischen Handelsraum schleusten.12 Münzordnungen wie die genannte von Leipzig aus dem Jahre 1500 wurden in häufiger Abfolge, bisweilen mehrmals jährlich, erlassen; die herrschaftlichen Kanzleiakten der Obrigkeiten – um 1500 zählte man im Reich mehrere münzberechtigte „Staaten“ und c. 500 einzelne Münzstätten – sind voll von ihnen. Sie stellten das Rahmenwerk der (intendierten) obrigkeitlichen Normierung bestimmter Aspekte des marktwirtschaftlichen Austauschs dar (Geld- und Währungsordnung); werden von manchen Historikern sogar in den Handlungsraum der Guten Policey gerechnet.13 Prima facie ist die Leipziger Ordnung von 1500 also eine unter vermutlich hunderten ähnlicher in anderen Territorien des Reiches erlassenen Ordnungen und Edikte gewesen. Doch mit der Leipziger Münzordnung von 1500 schufen die sächsischen Kurfürsten und Herzöge die Grundlage für eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Institution. Modern gesprochen kreierten sie damit eine solide oder Hartwährung, basierend auf dem Silbergulden oder Guldengroschen oder Groschen so einen gulden gilt, zu 21 Zinsgroschen. Die Zinsgroschen und Silbergulden stellten die offiziell für alle Geschäfte mit rechtserheblichem Charakter – insbesondere aber die Steuern- und Abgabezahlung –   in: Martina Schattkowsky (Hrsg.), Das Erzgebirge im 16. Jahrhundert: Gestaltwandel einer Kulturlandschaft im Reformationszeitalter, Leipzig 2013, 103–158. 11 Rössner, Die (Proto)globalen Spannungsfelder; Ders., Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. III. Eine ältere Studie ist Howard A. Minners, The Origin of the Silver Taler, in: Herbert A. Cahn / Georges le Rider (Hrsg.), Proceedings of the 8th International Congress of Numismatics, New York-Washington, September 1973 = Actes du 8ème Congrès International de Numismatique, New York / Washington 1976, 605–629. 12 Umfassend analysiert in Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. II. 13 Siehe die in Anm. 19 aufgeführten Studien und Repertorien zu den frühneuzeitlichen Policeyordnungen.

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anzunehmenden Kurantgroschen im wettinischen Einflussbereich dar (der damals weit über die wettinischen Kernlande hinausreichte). Mit einem Silberfeingehalt von 27,4 g Ag stellt dieser Taler das erste Fallbeispiel einer hinsichtlich ihrer Wertigkeit und Kaufkraft am Rheinischen und Ungarischen Goldgulden orientierten Großsilbermünze im mitteldeutschen Raum dar. Eines der Hauptziele der sächsischen Talerprägung war die Errichtung einer vom Feingehalt hochwertigen und langfristig stabilen Währung oder Kurantmünze zur Stabilisierung von Wirtschaftsleben und Fernhandel in Sachsen. Der Versuch geschah in einem wirtschaftlichen und politischen Umfeld, das jedoch von monetärer Kontraktion, Münzverschlechterungen, dem massiven Vordringen von Scheidemünzen und anderen münzpolitischen Manipulationen geprägt und, folgt man gewissen zeitgenössischen Quellen um 1470–1530, zunehmend behindert wurde. Denn trotz der explizit formulierten Hartgeldpolitik der sächsischen Herrscher gelang es durch diese Normierungsvorgaben nicht, den Zielkurs des Guldens langfristig bei 21 Zinsgroschen nach der Leipziger Münzordnung von 1500 zu halten. Beschwerden hinsichtlich eines Abgehens vom offiziellen Sortenkurs des Guldens gegen seine tiefer gelegenen Nominalstufen sind quellenmäßig bereits um 1503, spätestens aber 1511 zu hören. Es wäre kaum überraschend, wenn man Belege für Kursschwankungen bereits im Jahr 1500, also im Jahr der Münzreform, fände. 1526 etwa beklagte sich Jakob Welser d. Ä. bei Graf Albrecht von Mansfeld, er habe sich zur Bezahlung einer Summe von 499 fl. Rh. in Gold sächsischer Silbergulden (eytl gutten taler go bezalt) bedienen müssen – an Goldes statt, diese aber umb zwienundzwainzig sylbergo und syben in acht pfenyng, in der eyl aufwexlen miessen. Bereits um 1506 wurden in Sachsen für den Rheinischen Goldgulden teilweise bis zu 23 Schneeberger Groschen genommen. Wir finden diese auch in einem im August 1507 abgeschlossenen Vertrag des Thile (Till) Rincke mit Hans Luder, dem Vater Martin Luthers. Um 1530 berichten Flugschriften von einem Sortenkurs (im Zahlungsverkehr Sachsens) des Guldengroschens von 22 bis 23 Groschen. Erst 1542 wurde der Gulden offiziell auf 24 Groschen per Münzordnung aufgewertet.14 Es ist offenkundig, dass es innerhalb der funktional abgestimmten Währungssysteme, also zwischen Gulden, Groschen und dann den Pfennigen, stets variable Austauschraten oder Wechselkurse gab – und zwar nicht nur im Zeitverlauf, sondern auch zur selben Zeit an verschiedenen Orten und verschiedenen Transaktionsarten. Stets hinkte die staatliche Währungsgesetzgebung den gegebenen Verhältnissen hinterher. Wie sind nun diese doch nicht ganz unerheblichen Sortenkursschwankungen zu erklären: im Zeitverlauf, aber auch gleichzeitig wenngleich an vielen Orten? Und was waren ihre ökonomischen Folgekosten? Dies soll im Rest der Studie näher anhand ausgewählter Beispiele verdeutlicht werden.

  14 Detaillierte tabellarische Belege schwankender Münzwechselkurse in: Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. III, passim.

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III. Geld fristet, zumindest in den meisten historischen Studien, ein Schattendasein. Es ist zunächst einfach einmal „da“. Es wird – im Wortsinne – der Analyse einfach vorausgesetzt.15 Als Wertmesser taucht es vor allem bei den Wirtschaftshistorikern auf; etwa in den quantitativ angelegten komparativen Studien zu Reallöhnen, Einkommen und Analysen europäischer bis hin zu globalen Wirtschaftsdivergenzen, die oftmals auf dem gemeinsamen Nenner „Gramm Silber“ basieren und damit implizieren, Silber als Ware und potenzieller Geldstoff habe sich einer global vergleichbaren Wertschätzung erfreut, welche es erlaube, in jeweils verschiedenen Währungen ausgedrückte globale Preis- und Lohnreihen jeweils miteinander zu vergleichen.16 Die Annahme ist, dass Geld immer und für alle Menschen ein einheitliches Tausch-, Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel dargestellt habe; es quasi überall und immer dasselbe gegolten habe, in demjenigen zeitlichen Rhythmus und räumlichen Rahmen, den die normative Ordnung der fürstlichen Kanzleiüberlieferung vorgab – Münzedikte, Valvationstabellen, Tarifierungen etc., welche quellenmäßig fast in Überfülle vorliegen; und zwar für die meisten der Territorien im Reich zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert. (Hinzu kommt die Überlieferung der nach 1512 gebildeten Reichskreise, welche eine kreiseinheitliche Währungspolitik betreiben sollten; ein Problem, welches auf einem ganz anderen Blatt steht17). Es folgt die Annahme, dass man moderne Kon  15 Gutes Beispiel pars pro toto die Aussage in Karl Vocelka, Geschichte der Neuzeit. 1500– 1918, Wien / Köln / Weimar 2010, 80: „Am Beginn der Neuzeit herrschte in den europäischen Ländern bereits überall die Geldwirtschaft, die sich – nach Vorläufern in der Antike – seit dem Mittelalter und dem Aufblühen der Städte durchgesetzt hatte. […] Noch lange in der Frühen Neuzeit waren die Münzen aus Edelmetallen (Gold und Silber) geprägt, nur die Scheidemünzen waren aus Kupfer. Der Edelmetallwert und der Nominalwert der Münze waren identisch, sodass es auch keinen Unterschied machte, mit welcher Währung man zahlte.“ Doch herrschte um 1500 überall die Geldwirtschaft? Ganz sicher nicht. Saisonal und regional gab es Cluster, an denen sich Transaktionen häuften, die nicht nur in Geld gebucht, sondern auch mit Bargeld abgewickelt wurden (zwei grundverschiedene Szenarien, von denen das eine nicht zwangsläufig das andere bedingen musste, siehe Kapitel IV). Nach Stadt und Land differenzierten sich Rhythmen und Kompositionen der Transaktionskassen der Akteure im Wirtschaftsprozess. Geldgebrauch und Transaktionskassen waren nicht nur schichtenspezifisch stark differenziert, sondern auch hinsichtlich der in den gegenwärtigen Geschichtswissenschaften so populären Ordnungsmuster „Raum“ und „Zeit“ deutlich geschieden. Diese Passage verbatim in Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 6. 16 Etwa Robert C. Allen, Progress and Poverty in Early Modern Europe, in: Economic History Review, Second Series, LVI (2003), 403–443; Ders., The Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History, XXXVIII (2001), S. 411–447 und Şevket Pamuk / Jan Luiten Van Zanden, Living Standards, in: Stephen Broadberry / Kevin H. O’Rourke (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 1: 1700–1870, Cambridge et al. 2010, 217–234. 17 Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium: die Herrschaft über die Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise (Tagung der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft und der For 

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zeptionen von Geld auch auf die weit zurückliegenden Zeitschichten in der Geschichte anwenden könne. Partiell reflektiert diese Vorstellung über Geld das Diktum einer berühmten „Schule“ der Volkswirtschaftstheorie von Chicago, nämlich die Annahme, Geld sei „neutral“, übe an sich also über seine Funktion als Wertmesser hinaus keine Veränderung auf die Wirtschaftstätigkeit aus. Kritik taucht kaum auf. Man wird nachgerade in dem Glauben belassen, Geld sei ein Explanans, also ein nachgeordnetes, ein Hilfsmittel historischer Erkenntnis – etwa zur Umrechnung des Wochenlohns eines sächsischen Häuers um 1500 hinsichtlich seiner Kaufkraft in Gramm Silber usw.; ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Geld vielleicht zunächst als Explanandum einzustufen ist, also als etwas, das erst einmal von Grund auf erklärt werden muss – als grundlegend kulturell, ökonomisch, soziologisch, politisch etc. konnotiertes und vielfach mitbedingtes Phänomen, bevor man es als Erklärungs- und Hilfsmittel, etwa für die Berechnung und Rekonstruktion von Marktbeziehungen etc., also für die weitergehende historische Analyse einsetzen kann.18 So gibt es bis heute etwa die weit verbreitete, in ihren Grundfesten jedoch irrtümliche Ansicht, der Taler – das seit dem Ausgang des 15. Jh. immer weitere Verbreitung findende funktionale Äquivalent zum Goldgulden Rheinischer Prägung – habe ab 1500 21 Groschen und erst seit den 1540er Jahren 24 Groschen gegolten – in den Gebieten wo TalerGroschen-Umlaufwährungen die Norm darstellten. Und dass die seit 1500 durch die Leipziger Münzordnung vorgegebene Ordnung des abgestuften Geldwesens Sachsens tatsächlich eine normierende Funktion besessen habe (siehe oben). Diese Sichtweise entspricht also zunächst einer dem modernen volkswirtschaftlichen Geldverständnis entlehnten Sichtweise auf das Geld, wo es vollumfänglich seine Funktion als Zahlungs-, Rechen- und Wertaufbewahrungsmittel wahrnimmt. Sie ist nicht ganz falsch. Denn die in den staatlichen Überlieferungen   schungsstelle Augsburg der Kommission für Bayerische Landesgeschichte in Kooperation mit dem Institut für Europäische Kulturgeschichte (Universität Augsburg) und dem Stadtarchiv Augsburg in Irsee vom 5. bis 7. März 1998), Stuttgart 2000; darin insb. die Einleitung (Wolfgang Wüst und Johannes Burckhardt); Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Regionen in der frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit: ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 17), Berlin 1994; Michael North, Das Reich als Wirtschaftsraum, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806 – Altes Reich und neue Staaten, 1495 bis 1806. Essays, Dresden 2006,159–170 und Ders., Geld- und Ordnungspolitik im Alten Reich, in: Anja Amend-Traut / Albrecht Cordes / Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution, Berlin / Boston 2013, 93–102; hier: S. 94–96. Ein neuer kritischer Überblick ist in Philipp Robinson Rössner, Monetary Instability, Lack of Integration and the Curse of a Commodity Money Standard. The German Lands, c.1400–1900 A.D., in: Credit and Capital Markets, 47/2 (2014), 297–340 zu finden. 18 Hier ist insbesondere auf zwei neuere Studien hinzuweisen: Jotham Parsons, Making Money in Sixteenth-century France: Currency, Culture, and the State, New York 2014, und Mark Peacock, Introducing Money, London / New York 2013. Vgl. auch die Überlegungen in Rössner, Monetary Instability.

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zu findenden Währungsordnungen, welche die Sortenkurse der Umlaufwährungen zu fixieren trachteten, gaben hier tatsächlich eine Normierung vor, deren Einhaltung in Praxi jedoch auf einem ganz anderen Blatt stand. Hieraus sind die zahlreichen Münzkonflikte und sozialen Unruhen der Zeit teilweise zu erklären (vgl. Abschnitt VIII). Münzordnungen werden in neueren Übersichtswerken sogar zu dem Repertorium vormoderner staatlicher Normierungsversuche im Rahmen der Guten Policey gezählt (obgleich sie älter als jene sind und von ihrer Systematik, Anspruch und Funktionalität her etwas ganz anderes darstellten).19 Diese Normen wurden im täglichen Zahlungsverkehr durchaus missachtet; nämlich dann, wenn sich die finanz- und geldmarkttechnischen Parameter (Silberpreis) nicht im Einklang mit den Vorgaben der Währungspolitik, den individuellen Interessen der Münzherren und der fiskalpolitischen Vorstellungen der „Obrigkeit“ (vorgegeben durch die Münzfüße und das Realgewicht der umlaufenden Münzen) befanden. Geldtarifierung, insbesondere die Wertsetzung einzelner Münznominale gegeneinander war in den Zeiten ohne zentralstaatliche Vereinheitlichung des Geldes, ohne Zentralbank und moderne geldpolitische Souveränität der staatlichen Autoritäten, grundsätzlich ein Spiel der freien Märkte, ebenso wie die Menge des umlaufenden Geldes und seine Komposition (Kleingeld, Mittelgeld, Hohe Münze oder fremdes vs. einheitliches Geld). Über Preis, Menge und Komposition des umlaufenden Geldes bestimmten die Marktteilnehmer – nicht aber die Obrigkeit (heute ist zumindest vom geld- und wirtschaftstheoretischen Standpunkt und Anspruch der Zentralbanken das Gegenteil der Fall, aber selbst letztere haben lediglich eine beschränkte Einflussmöglichkeit auf Geldmenge und Wechselkurse). Und solange die umlaufenden Münzwährungen auf dem Prinzip der Wertdeckung durch Edelmetall basierten – wie in Europa bis teilweise nach 1900 der Fall, war kein Fürst, Staat oder sonstiger Münzherr in der Lage, die per Gesetz, Erlass, Edikt etc. obrigkeitlich normierten Münzwechselkurse gemäß dem heutigen Verständnis von Währung festzusetzen und (bei Verletzungen der Norm) zu sanktionieren. Die münzgeschichtlich und numismatisch relevante Quellenüberlieferung lieferte in der Vergangenheit den Historikern damit viele Gründe, einem solchen „Modernismus“ im Geldverständnis und in der Interpretation von Geld und Währung in der Geschichte zu frönen. Sie lieferte damit auch einen sehr eigentümlichen Erzählrahmen für die ältere Geld- und Währungsgeschichtsschreibung des Reiches, welche man deshalb als „quellenpositivistisch“ bezeichnen könnte. Man übernahm aus dem von den einschlägigen Quellen diktierten Überlieferungs  19 Philipp Robinson Rössner, Freie Märkte? Zur Konzeption von Konnektivität, Wettbewerb und Markt im vorklassischen Wirtschaftsdenken und die Lektionen aus der Geschichte, in: Historische Zeitschrift (im Ersch., 2016). Vgl. etwa Achim Landwehr, Policey im Alltag: die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a. M. 2000; Thomas Simon, „Gute Policey“: Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004 sowie die jeweils detaillierten und mit umfangreichen quellenkritischen Einleitungen versehenen Übersichten frühneuzeitlicher Policeyordnungen in: Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, hg. von K. Härter und M. Stolleis, Bde 1–9, Frankfurt am Main 1996ff.

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rhythmus das Ordnungsraster, d.h. schöpfte aus Landtags- und Kreistagsakten, v.a. aber denjenigen Quellen welche die obrigkeitlichen Normierungsversuche reflektieren, also die in regelmäßigen Abständen erlassenen Münzordnungen und anverwandte Edikte; Valvations- und Probierakten usw.20 Bisweilen hat diese Aktenlage eine Homogenität und Stabilität im Geldwesen suggeriert, die sich als illusorisch erweist, je tiefer man in die Gegenüberlieferung bzw. die Spiegelquellen eintaucht. Während das Problem der Rechengeld- und Kleingeldentwertung lange bekannt und durch entsprechende Zahlenreihen hinreichend empirisch abgesichert ist21, hat sich die Forschung den weiteren ökonomischen, kulturellen und sozialen Dimensionen des Problems weniger gewidmet – v.a. dem Aspekt, dass Kursschwankungen im Münzwert sich nicht nur intertemporal ergaben, sondern ganz unabhängig von der Währungsgesetzgebung in individuellen Transaktionen Wechselkurse immer wieder neu-verhandelt wurden. Beschwerden über eine mangelnde Stabilität des Edelmetallgehaltes der Kleingelder sind bereits während des gesamten 15. Jahrhunderts, also noch vor der Reichsreform, umfassend belegt. Sie beherrschten die gesellschaftlichen Diskurse in prominenten Utopien, Globalsatiren und Gesellschaftsentwürfen der Reformationszeit und ihrer Vorgeschichte. Man denke an die Reformatio Sigismundi (1439), den Oberrheinischer Revolutionär (um 1509), Sebastian Brants Narrenschiff (1494), aber auch die im Rahmen der Unruhen von 1524–6 entstandenen Utopien und Reformschriften wie Michael Gaismayrs Landesordnung (1526) und die Heilbronner Reichsreform, welche das zersplitterte Münzwesen aufgriffen und als zentralen Pfeiler einer politischgesellschaftlichen Rekonfiguration des Reiches begriffen. Solche Beschwerden sind in der Währungslandschaft nicht nur des Reiches, sondern vieler anderer europäischer Staaten, und bis weit in die Neuzeit (nach 1800) zu finden. Sie stellen also keinen der Reformationszeit oder dem Reich eigentümlichen Topos dar (doch fehlt es an komparativen Studien diesbezüglich ganz). Doch verknüpften sie sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts mit den anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Bruchzonen und Friktionen.22 Die Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen und Rahmenbedingungen schlechten Geldes ergibt sich aus einer grundsätzlich anderen, re-fokussierten Lesart der traditionell zu diesem Zwecke zur Verfügung stehenden schriftlichen Quellen. Daher ist es unabdingbar, vor dem weiteren Gang der Analyse die folgenden vier grundsätzlichen Quellengattungen kurz zu diskutieren.   20 Vgl. die relevanten währungshistorischen Abschnitte in Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383–1806), Stuttgart 1998, oder Thomas Christmann, Das Bemühen von Kaiser und Reich um die Vereinheitlichung des Münzwesens. Zugleich ein Beitrag zum Rechtssetzungsverfahren im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden, Berlin 1988. 21 Metz, Geld, Währung und Preisentwicklung; Thomas J. Sargent / François R. Velde, The Big Problem of Small Change, Princeton 2003; Rössner, Monetary Instability. 22 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. IV.

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i. Fürstliche (Münzstände), später (1512) Reichs- und Kreisüberlieferung. Dieser Quellenkorpus stellt von seiner Überlieferungsmenge (Aktenüberlieferung der Reichskreise; Kanzleiüberlieferung der in diese Konglomerate eingekreisten Fürsten und Stände) und Relevanz sicher den Ausgangspunkt für die Auswertung dar. Er bot das Fundament klassischer quellenpositivistischer Untersuchungen zur Reichsgeschichte, oftmals aus rechts- und verfassungshistorischer Sicht.23 Ausgewertet wurden relevante Edikte (Münzedikte), Valvationstabellen mit Kurslisten und Münzbildern, Probationsakten, Gutachten der im Vorfeld der Entscheidungen beteiligten Fachleute (Münzmeister, Münzwardeine). Konsultiert man nun die ii. Spiegelquellen von (i), so findet man – wie am konkreten Beispiel zur Reformation zu zeigen sein wird – dass die Wirklichkeit stark von der in den normativen – und oft in schnell aufeinanderfolgender Serie erlassenen – Quellen vorgegebenen Ordnung differierte, und zwar buchstäblich permanent. Hierunter fallen insbesondere Quellen aus der privaten Überlieferung, etwa Korrespondenz und Buchführung von Kaufleuten, Rechnungsbücher und dergleichen, welche detaillierten Aufschluss über die in den tatsächlichen Transaktionen verwendeten Münztypen und Sorten geben; aber auch Münzschätze (welche Aufschluss über die Komposition der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zirkulierenden Münzgeldmenge geben24). Hier findet man transaktionsspezifische Münzwechselkurse, welche häufig von der durch die Obrigkeit vorgegebenen Ordnung abwichen. Diese Problematik fokussierte sich, ohne sich auf sie zu beschränken, die umlaufenden Kleingeldwährungen. Diese entwerteten im Zeitverlauf viel stärker als die guten oder hohen Münzen25, was die Variabilität in den Kursen für die einzelnen Sorten teilweise stark erhöhte. iii. Publizistische Quellen sind dort relevant, wo es v.a. um die Einschätzung und Bewertung von Geldschöpfung, Geldangebot, Geldnachfrage und Geldnutzung im gesellschaftlich-kulturellen Diskurs geht. Die Kipper- und Wipperinflation von 1619–23 etwa hat zu einem reichen Erbe satirisch-politischer Druckschriften und Flugblätter, v.a. Karikaturen geführt.26 Derartige Zeugnisse vermit  23 Dotzauer, Reichskreise; Christmann, Bemühen. 24 Beispielhaft: Michael North, Geldumlauf und Wirtschaftskonjunktur im südlichen Ostseeraum an der Wende zur Neuzeit (1440–1570). Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte am Beispiel des Großen Lübecker Münzschatzes, der norddeutschen Münzfunde und der schriftlichen Überlieferung, Sigmaringen 1990. 25 Sargent / Velde, Big Problem; Bernd Sprenger, Preisindizes unter Berücksichtigung verschiedener Münzsorten als Bezugsgrößen für das 16. und 17. Jahrhundert – dargestellt anhand von Getreidepreisen in Frankfurt/Main, in: Scripta Mercaturae, 1 (1977), 57–69; Ders., Münzverschlechterung, Geldmengenwachstum und Bevölkerungsvermehrung als Einflußgrößen der sogenannten Preisrevolution im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert in Deutschland, in: Karl Heinrich Kaufhold / Friedrich Riemann (Hrsg.), Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte. Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag, Göttingen 1984, 127–144. 26 Fritz Redlich, Die deutsche Inflation des frühen 17. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Literatur: Die Kipper und Wipper, Köln et al. 1972. Ulrich Rosseaux, Die Kipper und Wipper  

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teln als kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen Einblicke in die Wahrnehmung und Orientierung der historischen Akteure hinsichtlich der zirkulierenden Münztypen und ihrer Wertigkeit.27 iv. Gravamina. Diese Quellengattung, zumeist der Natur der Sache innerhalb von Konfliktfeldern und Spannungssituation erhoben, liefern wichtige Ergänzungen und Korrektiva insbesondere der unter (i) und (iii) genannten Quellen. Sie wurden von der „klassischen“ geldhistorischen und numismatischen Forschung nicht beachtet. Diese Quellen gehören gewissermaßen zum ständischen Repertoire, zum politischen Kommunikationsprozess der Zeit; zur Schaffung von Öffentlichkeit.28 Oftmals stellen sie die letzte Stufe eines Verhandlungsprozesses dar, welcher zumindest in seinen Anfängen gewalt- und vielleicht sogar konfliktfrei gelöst werden sollte, sich jedoch aufgrund der in der Folgezeit geänderten Rahmenbedingungen zu einem offenen Bruch gewandelt hatte.29 Die in solchen Gravamina genannten Beschwerden genießen gerade deshalb hohe Faktizität und Relevanz – sie sind also weniger „Diskurs“ als akkurate Beschreibung der die Gesellschaft durchziehenden Spannungsfelder (vgl. Abschnitt VIII). IV. Ganz kurz ist auf die Kultur des Geldes als bestimmender Faktor, auch bei des Geldes Preisbildung, und ihre Mitursache an den, aus einer fragmentierten und unstabilen Währungslandschaft resultierenden, Ressourcenkonflikten einzugehen, die in den folgenden Abschnitten genauer umrissen werden. Hier befindet sich die Forschung noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen; es gibt keine für den gegenwärtigen Untersuchungsbereich heranzuziehenden Vorstudien.30 Doch laufen in der Kultur die Fäden gleichermaßen zusammen.  

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als publizistisches Ereignis (1620–1626), Berlin 2001. Neuerdings Martha White Paas / John Roger Paas / George C. Schofield, Kipper Und Wipper Inflation, 1619–23 – An Economic History with Contemporary German Broadsheets, New Haven 2012, insb. 1–17. Wolfgang E. J. Weber, Describere sine lacrumis vix liceat. Die Reichskreise in der Reichspublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Hartmann (Hsrg.), Regionen in der frühen Neuzeit., 39–70. Zuletzt Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, 200f. Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Früh-neuzeitforschung, in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005, 17–52. Für Frankreich im späteren 16. Jahrhundert existiert die bereits genannte neuere Studie von Parsons, Making Money in Sixteenth-Century France, welche neben den monetären Aspekten auch den kulturellen Implikationen von Geld und Geldgebrauch Platz gibt. Für das 17. Jahrhundert im englischen Kontext – allerdings für ganz andere Sachverhalte als die hier behandelten – wäre auf Deborah M. Valenze, The Social Life of Money in the English Past, Cambridge / New York 2006, hinzuweisen sowie – bezogen auf allgemeinere epistemologische Fragestellungen einschließlich der Semiotik des Geldes – Carl Wennerlind, Money Talks, but

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Seit Jahrhunderten gibt es „böses“ Geld – Geldstücke, welche von den Zeitgenossen als solche bezeichnet wurden; Münzen denen irgendwie der Charakter des Boshaften zugeschrieben worden ist. Geld stinkt natürlich; und es ist ein Leichtes, populärwissenschaftliche soziologische, philosophische und kulturanthropologische Studien zu finden, welche die dunkle Seite des Geldes beleuchten. In der Sagenwelt ist es meistens der Teufel am Kreuzweg, der jenem, welcher ihm seine Seele um Mitternacht verschreibt, den Weg zu einem unerschöpflichen (Münz-)Schatz weist. Hier aber geht es um vergleichsweise handfestere Dinge. Denn auf der anderen Seite werden manche Münzen von den Zeitgenossen im 15., 16. und 17. Jahrhundert immer wieder als böse bezeichnet, ganz konkret. Dabei bedeutete – und dies ist wichtig – „böse“ im mittelhochdeutschen der Zeit dreierlei. Einmal metaphysisch böse, im Sinne des biblischen Feindes, dem Teufel. „Böse“ bedeutete aber auch im Sinne von konkret Unheil oder Nachteile spendend. Eine dritte Bedeutung ist vergleichsweise unbekannt, jedoch vielleicht im hier verfolgten Aufriss am interessantesten: „Böse“ kann (muss aber nicht) um 1500 auch ganz einfach „buchungsmäßig abzuschreiben“ meinen, also einen wirtschaftlichen Verlust. Diesbezügliche Einträge sind in vielen Kaufmannsunterlagen, aber auch im agrarischen Umfeld, zu finden, etwa im Sächsischen gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als es um „böse“ Scheunen und Ställe gilt.31 Interessant bleibt die Mehrdeutigkeit des Wortes und damit auch die verschiedenen Facetten und Interpretationsmöglichkeiten des Geldes um 1500. Die Mehrdeutigkeit von „böse“ – im Sinne von Metaphysik, Soteriologie und Ökonomie (Abschreibung; Diskontierung) – tritt nirgendwo klarer zu Tage als in den Gravamina und Diskursen über bose muntz im Gefolge der spätmittelalterlichen Bauernunruhen in den schweizerischen und deutschen Landen zwischen 1465 und 1525. Die unter V und VI ausführlicher zu diskutierende Silberknappheit um 1500 wurde auch im satirischen und religiösen Diskurs der frühen Reformation thematisiert.32 Der Silberabfluss für unnützen Tand, u.a. in den Asienhandel, wurde von Zeitgenossen wie Ulrich von Hutten um 1520 pointiert kommentiert. Martin Luthers Lehre vom Ablass begründete sich auf der grundsätzlichen Neubeurteilung des Geldes im soteriologischen Prozess der Heilsgewinnung. Die Ablassproble  What is it Saying? The Semiotics of Money and Social Control, in: Journal of Economic Issues, 35 (2001), 557–74. Ich bin Carl Wennerlind herzlich für diesen Hinweis und die Bereitstellung dieses Artikels als .pdf dankbar. 31 Frank Göttmann / Andreas Nutz (Hrsg.), Die Firma Felix und Jakob Grimmel zu Konstanz und Memmingen. Quellen und Materialien zu einer oberdeutschen Handelsgesellschaft aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (=Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. XX), Stuttgart 1999, 35, 41–56 (Liquidationsbilanz). Vgl. auch urkundliche Nachweise in Walter Möllenberg, Urkundenbuch zur Geschichte des Mansfeldischen Saigerhandels im 16. Jahrhundert, Halle / Saale 1915, S. 37, 43 (Gutachten der Grafen Mansfeld um 1524). Rechenzettel des Seiffard von Lüttichau abgedruckt in: Günther Franz (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter, Berlin 1967, 228 für die Selbstschätzung des kursächsischen Adeligen Seiffard von Lüttichau zu Kmehlen 1474. 32 Vgl. dazu genauer die Hinweise in Rössner, Luther – ein tüchtiger Ökonom?

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matik war bereits im 13. und 14. Jahrhundert immer wieder in die Kritik geraten; in Jan Hus‘ Dogmatik nahm sie eine ebenso zentrale Rolle ein wie bei Luther. (Und die beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, das Zeitalter von Hus, waren ebenso von einer monetären Krise geprägt wie die des 16. Jahrhunderts!). Während die meisten akademischen Theologen sehr klar zwischen den zeitlichen Sündenstrafen und den Ablässen unterschieden, welche nicht die Sündenstrafen an sich, wohl aber die Bußleistungen, reduzierten; welche zudem nicht monetär fixiert und überdies nach „Sozialtarif“ gestaffelt waren (B. Moeller), hatte sich spätestens mit dem Jubilarablass von 1475 im öffentlichen Diskurs zumindest die Meinung herausgebildet, dass genau das Gegenteil der Fall sei. Die Verkündigung der Ablasskampagne von 1475 galt sowohl für bereits Verstorbene als auch für durch den Pönitenten in der Zukunft zu begehende Sünden; 1516 warben Albrecht von Brandenburg und seine Ablasskrämer unter Johann Tetzel im Mitteldeutschen mit dem Slogan Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt. Bernd Moeller und andere haben festgestellt, dass diese besondere Version des Ablasshandels – aus heutiger Sicht professionell aufgezogen, mit aufwändiger Werbekampagne, die sich u.a. der neuen Printmedien bediente – um 1500 nicht Kennzeichen einer Krise, sondern vielmehr eines Booms, eines letzten Aufblühens der Volksfrömmigkeit gewesen seien.33 Keinesfalls war die spätmittelalterliche Kirche in einer „Krise“, als Luther die Perversionen des Ablasswesens aufnahm (man bedenke: Luther lehnte zunächst nicht den Ablass an sich ab, sondern nur das Ablasswesen, also die zeitgenössische Praxis, wie sie um 1500 geübt wurde). Erlösung, Heil und Seelenreinigung waren – in Luthers Sicht – auf unerhörte Art an eine monetäre Komponente, den cash nexus, geknüpft. Das Ablasswesen sei abzustellen, die Klöster aufzulösen und die ansonsten in die klösterlichkirchlichen Wirtschaften und den Unterhalt der Mönche fließenden Geldsummen, der Gaben in die Opferstöcke, der Wallfahrten etc. direkt an die Bedürftigen auszugeben, also direkt in den jeweiligen Wirtschafts- und Sozialkreislauf einzuspeisen. In diesem Sinne war Luther kein Revolutionär, weder im religiösen noch sozialen Sinne, noch sah er sich als Neuerer der Kirche. Eine Kirchenspaltung und „europäische Reformation“ hat er wohl nicht im Sinne gehabt – die moderne Forschung nimmt immer mehr Abstand von der Reformation 1517 als weltpolitisch und historisch bedeutsamen Großereignis. Doch erwies Luther sich – ganz abseits solch unhaltbarer Mythen wie des Weber’schen Interpretaments der „protestantischen Ethik“ und der Genese des modernen „Kapitalismus“ (jener war bereits lange vor Luther da gewesen, s.o.) – als einer der wirkmächtigsten ökonomischen Stimmen gegen die Geldhortung und die Verschwendung in Bereiche, wo sie   33 Bernd Möller, Die letzten Ablaßkampagnen: Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie; Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987, Göttingen 1989, 539–567.

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nicht hingehörten: Altar- und Votivkerzen, Seelgerät, Monstranzen, Zeremoniell der „Alten“ Kirche usw. Luthers Kritik am Ablasswesen griff tatsächlich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Zeit, insbesondere die monetäre Knappheitssituation, auf und verteufelte die bis dato geübte Praxis, wo trotz aller regionalen wohltätigen Spenden und Almosen durch die Klöster und Kirchen doch recht viel Geld in der Manumortia (der Toten Hand) versackte, als Gold- und Silbermonstranz in den Kirchenschätzen etwa; nicht zuletzt aber im unseligen Abstrom an die Kurie in Rom. Dieser Geldabstrom war ein zentrales Element der wirtschaftlichen und monetären „Krise der Reformation“. V. Sodann haben viele historische Untersuchungen – nicht zuletzt weil sich abseits der Numismatik häufig Ökonomen mit historischen Entwicklungen im Geldwesen befasst haben (alte Daten mit neuen Methoden ausgewertet, bezogen auf moderne, aktuelle Fragestellungen und „Sehepunkte“34) – einen der Geldtheorie entlehnten Interpretationsrahmen und geldtheoretischen Fokus gewählt. Geld ist nicht zuletzt (aber auch nicht ausschließlich) ein ökonomisches Medium, selbst wenn die moderne Soziologie, Kulturtheorie und Wirtschaftsanthropologie rituell das Gegenteil behaupten35; es diente wie heute auch (jedoch in unterschiedlicher Form) als Zahlungs-, Tausch-, Rechnungs- und Wertaufbewahrungsmittel. Geld ist bis ins späte 19. Jahrhundert hinein ferner eine Ware gewesen. Geld kostet. Bis noch um 1900 wurden zumindest höherwertige Nominalstufen aus Edelmetall geprägt; die Kaufkraft der Münzen leitete sich aus dem in ihnen gebundenen Metallwert ab („Metallistischer“ oder Warengeldstandard36). Bei den Scheidemünzen, d.h. den Pfennig- und Groschengeldern aber wich man seit dem Mittelalter zunehmend, und phasenweise akut und eklatant, von diesem Geldverständnis ab und produzierte was die Literatur als „Scheidemünze“ und der zeitgenössische Diskurs oft als „böse“ Münze kannte: teilweise erheblich verschlechterte Münzen mit wenig oder gar keinem enthaltenen Edelmetall. Und genau in diesem Bereich kam es zu den charakteristischen sozialen und ökonomischen Problemen; nämlich wenn sich Umlaufbereiche unterschiedlicher Nominalstufen oder „Tauschsphären“ (Kleingeld, Mittelgeld, hohe Münze) vermischten (s.u. Abschnitt VIII). Erst im 20. Jahrhundert setzte sich das fiduziäre (oder nominalistische bzw. chartalistische)   34 Sargent / Velde, Big Problem of Small Change, passim. 35 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, München / Leipzig 1922; zuletzt Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2012. Eine gelungene aktuelle Einführung in die wirtschaftsanthropologischen Debatten bietet C. M. Hann / Keith Hart, Economic Anthropology: History, Ethnography, Critique, Cambridge, MA 2011. 36 Schumpeter spricht von Metallismus vs. Nominalismus/Chartalismus: vgl. die entsprechenden Stellen in Joseph A. Schumpeter, History of Economic Analysis, New York 1954; Angela Redish, Bimetallism. An Economic and Historical Analysis, Cambridge et al. 2000.

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Geldverständnis auch im praktischen Gebrauch durch (in der Theorie war dieses Geldverständnis lange bekannt), in welchem alle umlaufenden Zahlungsmittel, also auch die hohen oder hochwertigen Münzen, lediglich ein Wertversprechen darstellen, aber keinen, bzw. keinen über die vernachlässigbaren Materialkosten hinausgehenden intrinsischen Wert an sich haben.37 Heute leitet sich die Kaufkraft des Geldes nicht (mehr) aus seinem Stoffwert her, sondern einem relativ abstrakten Wertversprechen der Zentralbanken, die bestimmte Inflationstargets haben und (normalerweise) Währungsstabilität als höchstes Gut wirtschaftlicher und sozialer Stabilität verfolgen oder dies zumindest den Wählern bzw. politischen Subjekten versprechen.38 Um 1500 aber leiteten die Menschen die Kaufkraft des Geldes, und somit seine Fähigkeit, Inflationssicherheit zu garantieren – einer der Gründe, warum man von einer Edelmetalldeckung ausging – von seinem Marktwert ab; also dem Wert, den es auf dem Finanz- und Metallmarkt in alternativen Verwendungsformen eingebracht hätte, abzüglich eines kleinen Betrages, der die Kosten der Münzprägung, genannt brassage und die ökonomische Rente des Staates umfasste, welche ihm in seiner Eigenschaft als Münzregalinhaber zufloss – die Seigniorage.39 In der Sprache der Ökonomen lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ein simples Angebot-Nachfragemodell formulieren. Die Angebotskurve für Geld sei vollkommen unelastisch, was nichts anderes heißt, als dass   37 Vgl. vorige Anmerkung. Detailliert Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion. 38 Man sagt dem gegenwärtigen Präsidenten der EZB, Mario Draghi sogar eine extreme Fixierung auf monetäre Stabilität nach, dem andere Politikziele, wie Vollbeschäftigung und Wachstum, untergeordnet seien. 39 Zur Geldgeschichte allgemein: Michael North, Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1994) Ders., Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute, München 2009; Bernd Sprenger, Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn / München / Wien / Zürich 1991, Herbert Rittmann, Deutsche Geldgeschichte 1484–1914, München 1975; Arthur Suhle, Deutsche Münz- und Geldgeschichte von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, 8. Aufl., Berlin 1975; Hans-Jürgen Gerhard, Miszelle: Neuere deutsche Forschungen zur Geldund Währungsgeschichte der Frühen Neuzeit. Fragen – Ansätze – Erkenntnisse, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, LXXXIII (1996), 216–230; Ders., Ein schöner Garten ohne Zaun. Die währungspolitische Situation des Deutschen Reiches um 1600, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, LXXXI (1994), 156–177; Ders., Ursachen und Folgen der Wandlungen im Währungssystem des Deutschen Reiches 1500–1625. Eine Studie zu den Hintergründen der sogenannten Preisrevolution, in: Eckart Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, 69–84; Ferdinand Friedensburg, Münzkunde und Geldgeschichte der Einzelstaaten des Mittelalters und der Neueren Zeit, München / Berlin 1926; A. Luschin v. Ebengreuth, Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittelalters und der Neueren Zeit, 2. Aufl., München / Berlin 1926; Friedrich Freiherr von Schrötter, Das Münzwesen des Deutschen Reichs von 1500 bis 1566, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, XXXV (1911) und XXXVI (1912), neu abgedruckt in: Friedrich von Schrötter, Aufsätze zur deutschen Münzund Geldgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts (1902–1938), Hrsg. Bernd Kluge, Leipzig 1991, 3–76.

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aufgrund gegebener (und im jeweiligen Betrachtungszeitraum somit konstanter) technologischer Bedingungen im Bergbau die Fördermenge an Silber nicht auf Schwankungen in der Nachfrage reagiert. Die Menschen nehmen zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort, wo geschürft oder verhüttet wird, so viel Silber aus dem Berg wie sie aufgrund der ihnen gerade zur Verfügung stehenden technischen und intellektuellen Mittel (Know-how) nur können. Bergbau auf Silber ist für alle Beteiligten, vom einfachen Häuer bis hin zum Finanzier, welcher ggf. die Rechte am Silbererz gepachtet hat, ein gewinnorientiertes Privatgeschäft.40 Die Nachfrage nach Geld verläuft hingegen wie eine standardmäßige Nachfragekurve in den VWL-Lehrbüchern nach rechts unten geneigt: sie ist elastisch. Steigt der Preis des Geldes, wird weniger davon nachgefragt; sinkt er, wird mehr nachgefragt. Der Marktpreis für Geld, und damit gemäß dem herrschenden Geldverständnis des Metallismus oder Warengeldstandards auch das allgemeine Preisniveau für Silber, ergibt sich im Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage.41 Die Inelastizität der Geldangebotskurve (approximiert durch die Silberproduktionskurven) impliziert, dass vergleichsweise bescheidene Änderungen in der Nachfrage nach Geld, etwa hervorgerufen durch einen Bevölkerungsanstieg (oder ein Sinken der Bevölkerungszahl bzw. Wirtschaftssubjekte) relativ signifikante bzw. spürbarere Veränderungen im Silberpreis nach sich ziehen, als wenn beide Kurven elastisch wären. Da die umlaufenden Münzwährungen der Zeit um 1500 vorrangig auf Silber beruhten – praktisch alle Münzen, vom Kleingeld bis zu den Silbertalern enthielten Silber – resultierte ein Anstieg im Silberpreis in einem fallenden Preisniveau für alle anderen (in Silbergeld bezahlten) Waren und Dienstleistungen im Wirtschaftsprozess (Deflation). Umgekehrt reflektierte ein Fall im Silberpreis eine Inflation im Preisniveau für alle anderen Güter außer Silber/Geld.42 Diese Definitionen sind zunächst nichts anderes als tautologisch und wenig aussagekräftig für sich. Sie helfen aber, das Zeitalter der frühen Reformation ökonomisch zu verstehen, wenn man sie mit Leben, Inhalt, also empirischem Datenmaterial aus der Zeit, füllt. Der Silberpreis ist um 1500 (und langfristig zwischen 1470 und 1620) in den deutschen Landen tatsächlich mehr oder weniger stetig angestiegen (nur innerhalb kurzer Zeitfolgen ergab sich manchmal eine Senkung, etwa in den 1480er Jahren)43, was zu einem gewichtigen Maße aus den sich erge  40 Zum erzgebirgischen Silberbergbau der Zeit vgl. Adolf Laube, Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau von 1470 bis 1546, Berlin 1974 und Uwe Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (1456–1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten, Stuttgart 2006. Neuerdings in der Gesamtschau Angelika Westermann, Die vorderösterreichischen Montanregionen in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009. 41 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. I (Modell) und II (monetäre Zusammenhänge) mit weiterführender Literatur. 42 Ibid., Kap. I. 43 Ekkehard Westermann, Die Nürnberger Welser und der mitteldeutsche Saigerhandel des 16. Jahrhunderts in seinen europäischen Verflechtungen, in: Mark Häberlein / Johannes Burkhardt (Hrsg.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Berlin 2002, 240–264, Graphik.

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benden Knappheitsverhältnissen der Zeit zu erklären ist. Zwar sprudelten die mitteleuropäischen Silberquellen noch teilweise sehr ergiebig; bis in die 1490er Jahre am Falkenstein in Tirol und im Erzgebirge; dann im Böhmischen Joachimsthal und nach 1540 nochmals im sächsischen Erzbergbau. Dies führte nur temporär zu einem Fall im Silberpreis, der sich in der kurzfristigen Revaluation, also der Erhöhung im Silbergehalt vieler Pfennig- und Groschenwährungen im Reich in den 1480er Jahren niederschlug.44 Die Silberförderung im sächsischen Erzgebirge stieg alleine zwischen 1470 und 1475 von knapp 7 t auf fast 19 t Rohsilber (also um 170 Prozent). Sie fiel wieder auf 12 t (1480) und ein dürftiges Niveau von einer Tonne jährlich (im Durchschnitt) in den 1490er Jahren. In Fünfjahresdurchschnitten gemessen, reduzierte sich das Produktionspotenzial des sächsischen Silberbergbaus zwischen 1470 und 1500 demnach um mehr als die Hälfte. Erst nach 1535 wurde eine neue Spitzenphase mit knapp 19 t pro Jahr wieder erreicht.45 Temporären Ausgleich lieferten die seit der beginnenden Krise um 1480 gleichsam wie Pilze aus dem Boden schießenden Neugründungen der Saigerhütten am Thüringer Wald. Das Produktionspotenzial der Saigerhütten belief sich zu ihrer Hochzeit 1525/30 auf etwa 5 t pro Jahr; lag also weit unter den vormals im erzgebirgischen Bergbau erzielten Spitzenwerten. Die Saigerindustrie konnte die kontrahierenden Produktionsmengen im Silberbergbau im Erzgebirge und Tirol während der Krise von c. 1490–1530 nicht ausgleichen.46 Doch stiegen auch die Bevölkerung und die Silberexporte von Europa in andere Weltregionen an. Die Bevölkerung im Reich wuchs – soweit die punktuellen und teilweise unsicheren Schätzungen diese Aussage überhaupt zulassen – seit 1470 wieder mehr oder weniger stetig an. Die resultierende Steigerung in der Gesamtwirtschaftsleistung (selbst bei stagnierendem Pro-Kopf-Einkommen) steigerte die Nachfrage nach Geld und Silber als Zahlungsmittel. Nach konservativen Schätzungen wurden jedoch mindestens drei Viertel der jährlichen Silberproduktion (Neuförderung) aus den mitteldeutschen und mitteleuropäischen Silberrevieren exportiert.47 Pro Kopf der Bevölkerung wird sich spätestens nach 1500, im ersten Drittel des 16. Jahrhundert, also ein sinkendes Angebot an Silber pro Kopf der Bevölkerung ergeben haben.48 Wenn aber die Nachfrage nach Silber oder Geld schneller wächst als das Angebot, muss im Rahmen des hier angenommenen Modells auch der Preis des Silbers und des Geldes steigen. In einer Zeit, in welcher die umlaufenden Goldwährungen vorrangig aus Silber bestehen – und zwar vom Taler bis hinunter zum Heller (Goldmünzen wurden nach 1500 immer weniger im Reich geprägt) – werden   44 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 328–9. 45 Munro, Monetary Origins, Tabellenteil; E. Westermann, Zur Silber- und Kupferproduktion Mitteleuropas vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert, in: Der Anschnitt, 5–6 (1986), 187– 211. 46 Munro, Monetary Origins, Tabellen. 47 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 301–310. 48 Ibid., Kap. II, insb. 251–310.

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die umlaufenden Geldstücke tendenziell eine wachsende Menge an Gütern kaufen, wenn der Preis des in ihnen enthaltenden und ihre Kaufkraft abbildenden Edelmetalls (Silber) steigt. Die Kaufkraft des Geldes erhöht sich. Ökonomen sprechen von Deflation, also vom Sinken des allgemeinen Preisniveaus. Wir kennen das Preisniveau moderner Prägung um 1500 selbstverständlich nicht, da uns weder in breitem Maße empirisch verlässliche Konsumgüterpreise noch die Präferenzen, Konsumstruktur und Warenkörbe der Menschen der Zeit bekannt sind, welche es erlauben würden, mit modernen Methoden eine Preisniveauberechnung aus gesamtwirtschaftlicher Hinsicht zu wagen.49 Nehmen wir aber Getreidepreise als Proxy für das unbekannte Preisniveau – als Hauptnahrungsmittel in einer Zeit, in welcher etwa 80 bis 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft tätig und auch die Mehrzahl der verfügbaren Einkommen sowohl im Agrarsektor generiert als auch für Nahrungsmittel (einschl. Feuerholz) ausgegeben wurden, ist diese Annahme durchaus sinnvoll – so bestätigt der für die größeren Städte Süd- und Mitteldeutschland vorliegende Befund der Getreidepreisreihen den Tatbestand einer allgemeinen Deflation.50 Hüten sollte man sich vor der Übertragung eines modernen Konjunkturbegriffs auf die vorindustrielle Zeit51; auch war der Anteil der „marktwirtschaftlichen“ Transaktionen an der Gesamtwirtschaftsleistung sicher niedriger als in den Jahrhunderten nach 1800, als sich die industrialisierten und zunehmend arbeitsteilig integrierten Verkehrswirtschaften moderner Prägung herausbildeten. Doch selbst in der vorindustriellen Agrarwirtschaft gab es, wie neuere Forschungen zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Agrargesellschaften westlich der Elbe herausgearbeitet haben, „viel Markt“ (und vielleicht mehr Markt als der kulturalistische Dekonstruktivismus der jüngeren Zeit dies bisweilen suggeriert haben).52 Alle überlieferten deutschen Roggen- und Weizenpreisreihen aus dem städtischen Umfeld weisen die ersten drei Jahrzehnte bis in die Zeit nach dem Bauernkrieg als deflationär aus; unterbrochen nur durch die schlechten Ernten, regional variierend, um 1514/17. Die Zeit vor dem Bauern  49 Versuche aber gibt es, siehe etwa Ulrich Pfister, German Economic Growth, 1500–1850, Contribution to the XVth World Economic History Congress, Utrecht, August 3–7 (2009), Panel E4: „Reconstructing the National Income of Europe before 1850: Estimates and Implications for Long Run Growth and Development“ (paper abgerufen von www.wehc2009.org im Juli 2009). 50 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, S. 235–251. 51 Denzel, Konjunkturen. 52 Neuerdings etwa die Beiträge in Frank Konersmann / Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hrsg.), Bauern als Händler: ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten (15.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2011; Rolf Kießling, Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 59/2 (2011), 14–36 und das Editorial dieses Themenhefts. Ferner Markus Cerman, Villagers and Lords in Eastern Europe, 1300–1800, Houndmills / New York 2012. Martha C. Howell, Commerce before Capitalism in Europe 1300–1600, Cambridge et al. 2010 und Francesco Boldizzoni, The Poverty of Clio: Resurrecting Economic History, Princeton, NJ 2011 sind etwas skeptischer und argumentieren für eine starke kulturelle Überformung marktwirtschaftlichen Handelns in der vorindustriellen Zeit.

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krieg war eine Periode niedriger Getreidepreise (und somit Erlöse).53 Nichts anderes prädiziert also unser sehr simples Angebot-Nachfrage-Modell. VI. Doch muss man über die hypothetischen Überlegungen monetärer Modelle hinausgeben. Sie verraten häufig mehr über die Wissenschaftsphilosophie bzw. den epistemologischen Standpunkt ihrer Erfinder, die „Moden“ im Fach und den allgemeinen akademischen „Diskurs“ als über die maßgeblichen wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken der von jenen Historikern und Ökonomen untersuchten historischen Zeiträume. Man darf fragen: Welche Konsequenzen hatte die geschilderte deflationäre Tendenz im (Getreide-)Preisniveau? Und welche Faktoren sind eigentlich preisbestimmend beim Geld gewesen? Die beiden Problemkomplexe sind miteinander verknüpft. Hier erschließt sich ein weiteres Interaktionsfeld: der Handel mit Geld. Wenn Geld nicht gleich Geld ist, sondern eine Doppelfunktion ausübt, nämlich einerseits als (1) Geld (numeraire für die Wirtschaft und Tauschbeziehungen der Wirtschaftssubjekte) und andererseits als (2) Ware sui generis fungiert (Silber hat viele unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten und Märkte; Geld ist nur eine davon), dann wird es eine Vielzahl an Personen und Institutionen geben, die um diese Ressource konkurrieren. Hier kommt zunächst die frühe oder Proto-Globalisierung um 1500 ins Spiel. Es gilt das Reich im Spätmittelalter zu Recht als sprudelnde Silberquelle (vgl. Abschnitt V). Der Silberboom des ausgehenden 15. Jahrhunderts ist sprichwörtlich gewesen. Nach 1470 wurden im sächsischen Erzgebirge, am Falkenstein in Tirol und an diversen anderen kleineren Orten wieder Silberminen aufgeschlossen. Nach den 1480er Jahren, vor allem aber nach 1500, kamen die heiß laufenden Saigerhütten am Thüringer Wald hinzu. Hier übernahmen finanzschwere Nürnberger und Augsburger Kaufleute ein technisch aufwändiges und kostenintensives Verfahren, welches dem silberhaltigen Kupferschiefer aus dem Mansfelder Revier das Silber entzog und weit über die Landesgrenzen hinaus quer über Europa und außereuropäische Regionen verteilte. Man könnte meinen – und einige Forscher haben diese Meinung vertreten54, dass dies zu einer ausgesprochen guten Versorgung mit Silber geführt habe. Doch ist dies nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil: praktisch stieg überall im Reich zwischen 1470 und 1530 der Silberpreis an, basierend (1) auf den durch E. Westermann erhobenen Daten für die Metallmärkte Nürnberg, Frankfurt und Augsburg (s.o.), gleichwie (2) gemäß der aufgrund der Getreidepreisbewegungen feststellbaren allgemeinen Deflation nach 1500. Beide   53 Walter Bauernfeind, Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Preisentwicklung und Agrarkonjunktur am Nürnberger Getreidemarkt von 1339 bis 1670, Univ. Diss. Bayreuth 1992, Nürnberg 1993. 54 Z.B. Michael North, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit, München 2000, 27.

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Preistypen sind Silberpreise – der eine (1) basierend auf Geldeinheiten pro Gewichtseinheit Silber; letzterer (2) auf Geldeinheiten in Einheiten von Getreide und anderen Gütern, welche mit einer Einheit Silber (lies „Silbergeld“) erworben werden können. Hätte Silber aber nicht angesichts solch reichlich sprudelnder Quellen im Preise sinken müssen? Nach 1500 und noch bis in die 1530er Jahre finden wir einen ausgeprägten Deflationszyklus im Reich, der depressive Züge trägt: Viele andere Wirtschaftsindikatoren zentraler Bedeutung – etwa Ausgaben im Baugewerbe, Reallöhne u.v.m. – weisen für die Zeit nach unten (vgl. Abschnitt I, Tabelle 1 und Diskussion). Es ist aus einer Vielzahl von Umständen als unwahrscheinlich anzusehen, dass das seit den 1470er Jahren so reichhaltig sprudelnde Silber in ausreichendem Maße auf den Märkten in Mitteldeutschland/Mitteleuropa angekommen ist.55 Denn wir wissen, dass im selben Zeitverlauf die Bevölkerung – und somit wahrscheinlich auch die gesamtwirtschaftliche Aktivität (oder das Nationaleinkommen bzw. Sozialprodukt an sich) wuchs. Wohin floss das Geld – das Silber – also? Wer profitierte von dem Silberboom? Wer konnte sich die Zugriffsrechte auf diese wichtige Ware im Wirtschaftsprozess sichern? Sehr viel Silber wurde gleichsam direkt aus dem Berg exportiert; um 1510 besonders nach Antwerpen in Flandern und Lissabon in Portugal. Hier diente es zum großen Teil der Finanzierung des im Aufbau begriffenen Stützpunktesystems der Portugiesen an den Küsten des Indischen Ozeans. Die Crème de la Crème der oberdeutschen Kaufmannschaft aus Augsburg und Nürnberg gaben sich in Lissabon die Klinke in die Hand, wenn es darum ging, Silber in die portugiesische Münzstätte, der Casa da Moeda in Lissabon zu liefern.56 Alle Kaufleute, die sich am Gewürzhandel mit Asien beteiligten, mussten das Silber zuvor in portugiesische Währung umprägen lassen und bei der Lissaboner Münzstätte als solches deklarieren, bevor es auf die nach Indien und andere Teile des asiatischen Stützpunktereiches der Portugiesen gehenden Schiffe verbracht wurde. Wertet man die Silberlisten aus, welche die portugiesischen Könige erstellen ließen, hinsichtlich der von fremden Kaufleuten eingelieferten und in portugiesische Währung umgeprägten fremden Silbermengen um 1517–24 (für diese Jahre liegt eine Überlieferung vor57), so wird man schnell fündig. In stark verballhornter Form tauchen hier die einschlägigen Nürnberger und Augsburger Großkaufleute und ihrer Agenten, wie etwa die Imhof, die in Lissabon als Em Curia fungieren, oder die Vöhlin aus Augsburg, aus denen man in der Übersetzung in das Portugiesische der Zeit den Nahmen Bicudo (eigentlich im modernen Portugiesisch: eine Schwarzfinkenart, für VögeleinVöhlin) gemacht hat. Unter anderem finanzierte dieses Silber aus dem zentraleuropäischen Bergbau die Welle der portugiesischen Expansion zwischen 1480 und 1520 und schuf so herrliche Bauten wie den Torre de Belém in Lissabon.   55 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. II. 56 Ebd., 271–290, insb. Tab. 4 (281–284). 57 Die Rechnungsbücher der Casa da Moeda in Lissabon, ausgewertet und diskutiert in ibid.

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Die Logik der ersten oder „proto“-Globalisierung (Fäßler) um 1500 erschließt sich aus den Finanzströmen und Konstellation auf den Geld- und Finanzmärkten der Zeit. Das Silber suchte sich seinen Weg dorthin, wo es am meisten wert war. Sowohl um 1500 als auch um 1600 war Silber in Indien anderthalb mal so viel wert wie in Nordwesteuropa (gemessen an der Gold-Silber-Ratio, soweit für so disparate Erdteile und angesichts der fragmentarischen Überlieferung überhaupt bekannt). Wenn es dann in China ankam, war es auf den doppelten Preis gestiegen.58 Die Menge an Silber, welche man für eine Einheit Gold in China zu zahlen bereit war, betrug die Hälfte des nordwesteuropäischen Durchschnitts. Allein die Verschiffung von Silber von Europa nach Asien erbrachte also demjenigen, der diese Verschiffung abwickelte und über das Silber verfügen konnte, einen Arbitragegewinn, der durch die interkontinentalen Preisdifferenziale abgebildet wurde. Zudem konnte man im Indischen Ozean und Teilen Südostasiens die vielbegehrten Gewürze kaufen, die in Europa dann mit einem großzügigen Preisaufschlag und einer dementsprechenden Gewinnspanne weiterverkauft wurden. Es war also nur logisch – im ökonomischen Sinne – Silber nach Osten zu exportieren. Viele Kaufleute, insbesondere Augsburger und Nürnberger Herkunft hatten sich demgemäß seit dem frühen 15. Jahrhundert bereits Zugriffsrechte auf die zentraleuropäischen Silbervorkommen gesichert. Die Augsburger Fugger und Welser (und viele andere) taten dies im Gegenzug für großzügige und risikoreiche Anleihen an die habsburgischen Kaiser Maximilian II und Karl V, welche in ihrer Eigenschaft als Erzherzöge Österreichs Regalherren und damit Inhaber auf die Vorrechte des Bergbaus in Tirol waren. Das Bergregal in Tirol belief sich auf das Vorrecht, Silber unter Marktwert anzukaufen; dieses Recht gab der Kaiser in die Hände der oberdeutschen Handelsherren.59 Da die Habsburger notorisch verschuldet (aber auch notorische Fallierer) waren60, gelangte seit dem 15. Jahrhundert kein Silber mehr direkt in ihre Hände, sondern war teilweise auf mehrere Jahre an die Nürnberger und Augsburger Großfirmen überschrieben. Diese exportierten einen Großteil außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – und zwar mindestens 70% nach konservativen Schätzungen im Zeitraum zwischen c.1490 und 1530.61 Dieses Silber – und damit auch Geld – aber fehlte im Reich.

  58 Dennis O. Flynn / Arturo Giráldez, Conceptualizing Global Economic History: The Role of Silver, in: Rainer Gömmel / Markus A. Denzel (Hrsg.), Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2002, 101–114. 59 Einschlägig Angelika Wiesflecker, Die „oberösterreichischen“ Kammerraitbücher zu Innsbruck 1493–1519. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Finanz- und Kulturgeschichte der oberösterreichischen Ländergruppe, Graz 1987. Rechtliche Aspekte neuerdings diskutiert in A. Westermann, Die vorderösterreichischen Montanregionen. 60 Mauricio Drelichman / Hans-Joachim Voth, Lending to the Borrower from Hell: Debt, Taxes, and Default in the Age of Philip II, Princeton, NJ 2014. 61 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. II.

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VII. Kurz nur ist ein weiteres Spannungsfeld zu berühren. Aus Mangel einer besseren Begrifflichkeit könnte man hier von einer „Politik“ des Geldes sprechen (obgleich Begriffe wie „Politik“ etc. bisweilen die Existenz oder Nähe moderner „Staaten“ und „Staatlichkeit“ suggerieren, welche es um 1500 in dieser Form selbstverständlich nicht gegeben hat). Es geht hier gleichermaßen um den Konflikt zwischen mindestens drei Interessengruppen: (1) den münzbetriebswirtschaftlichen Standpunkten der gewinnorientierten Münzmeister (welche als privatwirtschaftliche Unternehmer das Geld „machten“); (2) dem fiskalischen Standpunkt des Münzherren und der Obrigkeit als Bezieher von Seigniorage (Münzgewinn; Regalabgabe, einer Art Steuer, falls der Münzgewinn bewusst, etwa durch übermäßige Münzverschlechterung, als Quelle von fürstlichen oder „Staats“-einnahmen genutzt wurde: inflation tax), sowie (3) dem gesamtwirtschaftlichen Stabilitätsziel der Preisniveaustabilität. In einer Zeit, in welcher viele Einkommen, Abgaben, Renten und Preise für Grundnahrungsmittel fixiert und damit (in der Sprache der modernen Ökonomie) „sticky“ waren, die Mehrheit der Transaktionen aber nach einer dem Warengeldstandard gehorchenden Geldtheorie abgewickelt wurden, führte Münzverschlechterung zu Einkommenseinbußen und Vermögenstransfers. Schlechtes Geld begünstigte Inflation, da insbesondere der Nutzen aus der Wertaufbewahrungsfunktion für schlechte Kleinmünze niedrig war und Kleingeld bzw. schlechte Münzen typischerweise eine höhere Umlaufsgeschwindigkeit hatte als „gutes Geld“ und damit schneller zirkulieren konnte – und damit im Zeitverlauf auch schneller gegenüber dem allgemeinen Warenangebot abwertete als „gute“ bzw. „hohe“ Münze.62 Aber aus ähnlichen Gründen fürchtete man in der vorindustriellen Zeit die Deflation (daran hat sich bis heute kaum etwas geändert). Da die Münzherren oftmals Geheimabsprachen mit dem Münzmeister trafen63, insbesondere wenn es um eine geplante Verschlechterung (Herabsetzen im Edelmetallgehalt) des umlaufenden Münzgeldes ging – also gemeinsam eine Koalition gegen das Publikum eingingen – fielen die unter (1) und (2) genannten Interessen oftmals zusammen; verstießen dann aber gegen das unter (3) gefasste Stabilitätsgebot. Münzen zu verschlechtern konnte zumindest vorübergehend die Staatskasse aufbessern, indem der Münzherr die zusätzliche Menge an Silber einbehielt, die eigentlich in die Münzen gehört hätte, aber die wahren Silberfeingehalte der neuen Münzen nicht öffentlich machte. Das dadurch „gewonnene“ (d.h. entgegen der   62 Sprenger; Preisindizes, und Ders., Münzverschlechterung. Zur Umlaufsgeschwindigkeit Rössner, Monetary Instability; John H. Munro, Deflation and the Petty Coinage Problem in the Late-Medieval Economy: The Case of Flanders, 1334–l484, in: Explorations in Economic History XXV, 4 (1988), 387–423. 63 Wilhelm Pückert, Das Münzwesen Sachsens 1518–1545 nach handschriftlichen Quellen. Erste Abtheilung: die Zeit von 1518–1525 umfassend, Leipzig 1862, 15; für Frankreich im 14. Jahrhundert etwa Nathan Sussman, Debasements, Royal Revenues, and Inflation in France During the Hundred Years’ War, 1415–1422, in: The Journal of Economic History, 53.1 (1993), 44–70.

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Proklamation über den Münzwert einbehaltene) Silber teilte er sich mit dem Münzmeister, i.d.R. einem Unternehmer, welcher aufgrund seiner Kapitalkraft und des ihm zur Verfügung stehenden chemisch-metallurgischen und finanzmarkttechnischen Wissens in dem Prozess der Geldschöpfung eine Schlüsselrolle einnahm.64 Solange, bis das Publikum den Münzbetrug entdeckte, konnte die Münze (Münzstätte) laufen und diente – zumindest im Spätmittelalter – als eine der wichtigsten Quellen für Steuern und Staatsfinanzen. Ökonomen sprechen dann von einer Inflationssteuer. In späteren Jahrhunderten nahmen die Raten der Geldverschlechterung tendenziell ab65, nicht aber die potenzielle Bereitschaft der Münzherren und Staaten, sich an der Münze zu bereichern bzw. Fiskaleinnahmen aus jener zu generieren. Noch Friedrich der Große von Preußen wusste sich während des Siebenjährigen Krieges (1756–63) nicht anders zu helfen, als durch Münzverschlechterung die steigenden Kosten der Militärkampagnen zu stemmen. Auf der anderen Seite konnten es die Münzherren auch nicht zu weit treiben. Einige Staaten, insbesondere Sachsen, entwickelten sogar bereits vor 1500 in seinen Grundlinien ein recht modern anmutendes Währungsverständnis, welches den Stabilitätszielen heutiger Prägung recht nahe kam. Um 1490 prägten die Wettiner (Friedrich der Weise und Georg der Bärtige) mehrere Münzrunden ohne Schlagschatz – sicher ein Signal an Wirtschaft und Zahlungsverkehr in den sächsischen Landen, dass sich die Obrigkeit hier zu einer stabilen „Hartwährung“ kommittierte (die sächsischen Kurfürsten und Herzöge übten das Münzregal bis auf wenige Jahre ausnahmslos in Gemeinschaft aus, ebenso wie die Verwaltung des Bergregals). Dieser Schritt war Teil einer mehrstufigen Währungsreform und Umstellung von einer Gold- auf eine Silberwährung seit den 1490er Jahren, welche ihren krönenden Abschluss in der Einführung des Silberguldens/Talers 1500 mit o.g. Leipziger Münzordnung fand.66 Eine stabile Währung garantierte wirtschaftlich stabile Handels- und Geschäftsbeziehungen, aber auch sozialen Frieden. Diese Ansichten finden sich sehr klar z.B. in den Urkunden und Akten der sächsischen Kurfürsten und Herzöge um 1500 formuliert. Eines der Ziele der Talerprägung mit der Leipziger Münzordnung von 1500 war expressis verbis die Herstellung stabiler und verlässlicher institutioneller Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Handel. Hier haben wir es mit einem bis heute wirksamen Problemkomplex zu tun, nämlich dem klassischen Gleichgewichts- und Stabilitätsziel. Schafft der Staat bzw. im Mittelalter die Obrigkeit67, hier die Balance zwischen Bereicherung (bzw. Aufbesserung der fürstli  64 Empirisch für Frankreich im 14. Jh. Sussman, Debasements, Royal Revenues, and Inflation. 65 Rössner, Monetary Instability; weitere Zahlen in Metz, Geld, Währung und Preisentwicklung; Sargent / Velde, Big Problem. 66 Rössner, Die (proto)globalen Spannungsfelder; Ders., Deflation – Devaluation – Rebellion; Pückert, Münzwesen Sachsens ist immer noch exzellent, wie auch Woldemar Goerlitz (Bearb.), Staat und Stände unter den Herzögen Albrecht und Georg 1485–1539, Berlin 1928. 67 Grundlegend etwa Jan Glete, War and the State in Early Modern Europe: Spain, the Dutch Republic, and Sweden as Fiscal-Military States, 1500–1660, London / New York 2002; für eine komparative globale Übersicht Bartolomé Yun Casalilla / Patrick O’Brien (Hrsg.), The  

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chen Finanzen) durch Münzgewinn und einer wirtschaftlich ausgewogenen Entwicklung, dazu gehören auch Währungsstabilität und Inflationssicherheit, zu halten? Denn es war nun einmal eine lange gehegte Gewohnheit der Staaten und Obrigkeiten, insbesondere im Mittelalter, durch Geldverschlechterung einen Steuergewinn einzufahren und so gleichermaßen Einkommen und Vermögen von den Untertanen zum Staat umzuverteilen. Gleichzeitig ist evident, dass schlechte oder instabile Währungsverhältnisse die Eigentumsordnung (property rights) der Menschen gefährden.68 Keiner möchte schlechtes Geld annehmen, geschweige denn es lange behalten. Schlechte unterwertige Münzen eignen sich nicht für Vermögensbildung. Sie schaffen kein Vertrauen im Handel, Zahlungsverkehr und Austausch. Die sächsischen Herrscher waren – aufgrund der in Sachsen besonders reich fließenden Silberquellen – eher geneigt, langfristig eine hochwertige und stabile Währung zu prägen, was sich auch in den zeitgenössischen währungs- und volkswirtschaftlichen Diskursen widerspiegelte, etwa in den drei anonymen Flugschriften des „Albertiners“ und „Ernestiners“ 1530–1.69 Münzpolitik ist um 1500 also gleichsam Währungs-, Stabilitäts- und Herrschaftspolitik zugleich gewesen. Und je nachdem, welcher dieser Aspekte in der Bestimmung der Zielvorgaben dominierte, ergab sich eine mehr oder weniger stabile Währung. Zuvörderst aber stand bei der Geld- oder Münzpolitik im Reformationszeitalter die profitorientierte Betriebswirtschaft. Es gab im Reich um 1500 gut 500 Münzstätten unabhängiger Fürsten, Städte und Stände, welche ein Münzrecht ausübten oder es zumindest der Theorie nach besaßen.70 Alle dieser Münzen und ihre Herren mussten gegen eine stetige Aufwertung des Silbers kämpfen, hervorgerufen durch die Silberknappheit (vgl. Abschnitt VI). Was machten diese Fürsten? Urteile sind schon aufgrund der Fülle an Obrigkeiten und Münzherren, zudem aufgrund eines Mangels an einschlägigen diesbezüglichen Studien, zwangsläufig pauschalisierend.71 Hier liegt eines der großen Desiderate der Währungsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (vgl. Abschnitt IX). Es liegt zumindest auf der Hand, dass die Münzherren auf eine Steigerung  

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Rise of Fiscal States: A Global History, 1500–1914, New York 2012. Ferner Martin L. van Crefeld, The Rise and Decline of the State, Cambridge 2000 und Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1989, und die Einleitung in Ders. (Hrsg.), 1350–1750. Weltreiche und Weltmeere, in Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Geschichte der Welt, München 2014. Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. V. Wilhelm Roscher, Geschichte der Nationaloekonomik in Deutschland, München 1874; Bertram Schefold, Wirtschaft und Geld im Zeitalter der Reformation, in: Ders. (Hrsg.), Vademecum zu drei klassischen Schriften frühneuzeitlicher Münzpolitik, Düsseldorf 2000, 5– 58; Gustav (von) Schmoller, Zur Geschichte der national-ökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformations-Periode, in: Zeitschrift für Gesamte Staatswissenschaft, 16 (1860), 461–716. Eckart Schremmer, Über „stabiles Geld“. Eine wirtschaftshistorische Sicht, in: Ders. (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, 9–44. Detailliert: Rössner, Monetary Instability.

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des Silberpreises mit einer Verringerung des Feingehalts reagieren sollten, damit das Geld überhaupt zirkulierte und nicht eingeschmolzen wurde.72 Die Kaufkraft der umlaufenden Silbermünzen ergab sich aus dem in ihnen enthaltenen Materialwert. Stieg das Silber im Preis, waren alte Münzen überbewertet. Sie waren nun mehr wert als ihr Nennwert. Es wäre ökonomisch irrational gewesen, sie als Geld im Zahlungsverkehr zu verwenden. Sie wurden nunmehr zur Ware Silber, nicht mehr im Zahlungsverkehr verwendet; demonetisiert, gehortet, eingeschmolzen oder exportiert. Oder sie wurden erneut in die Münze geliefert, wenn der Münzherr und sein Münzmeister einen entsprechend attraktiven, neu nach oben angepassten Münzfuß boten. Denn stieg der Silberpreis, während der Münzfuß unverändert blieb, wäre niemand mehr gekommen, um Silber in die Münze zu liefern, solange der Münzfuß unter dem Marktpreis für Silber verblieb. Münzherren mussten fast zwangsläufig auf ein Steigen im Silberpreis (Deflation im allgemeinen Preisniveau) mit einer Heraufsetzung des Münzfußes (Geldverschlechterung) reagieren.73 Doch diese über Jahrhunderte geübte Praxis öffnete dem Missbrauch Tür und Tor, und zwar auf vielen Ebenen. Pfennige und Groschen, Batzen und Kreuzer, das Kleingeld also, wurde – so die stellenweise fragmentarische Überlieferung diesen Pauschalbefund zulässt – ungleich stärker und häufiger im Feingehalt reduziert als die guten Großmünzen.74 Bei Pfennigen, Groschen und Hellern fielen die Münzkosten deutlich schwerer ins Gewicht als bei den hochwertigen Silbergulden.75 Stieg der Silberpreis zu weit an, dann konnte es durchaus vorkommen, dass sich die Prägung solchen Kleingeldes für den Münzherren oder Münzpächter, der in der Münze auf eigene Rechnung arbeitete, ansonsten nicht mehr lohnte. Den Münzherren und Münzmeistern der Zeit war bisweilen wenig an einer stabilitätspolitischen Grundideologie gelegen; insbesondere jenen, die über kein eigenes Bergsilber verfügten. In diesen Gebieten war Silber teurer als in den Bergwerksgebieten; die Münzfüße entsprechend höher. Doch es dauerte nicht lange, bis das Publikum erkannte, dass die neuen Münzen weniger Silber enthielten als zuvor. Dann setzten sie diese Münzen im Preis herab; tarifierten sie also gemäß ihrem neuen Silbergehalt gegenüber denjenigen wertstabileren Münzen, welche im Zeitverlauf weniger Silber bzw. Edelmetall verloren (Silberund Goldgulden).76 Somit kam es zu einer stetigen Aufwertung des guten hoch  72 Eckart Schremmer / Jochen Streb, Revolution oder Evolution? Der Übergang von den feudalen Münzgeldsystemen zu den Papiergeldsystemen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 86 (1999), 457–476; Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. III. 73 John H. Munro, Art. „Münzkosten“, in: Michael North (Hrsg.), Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, 263. 74 Grundständig: Metz, Geld, Währung und Preisentwicklung. Hinsichtlich des unterschiedlichen Preises dieser Münzen vgl. Sprenger, Preisindizes und Ders., Münzverschlechterung 75 Pückert, Münzwesen Sachsens. 76 Für die Jahrzehnte um 1500 in Sachsen detailliert: Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 321–330.

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wertigen Guldengeldes im Vergleich zu den Mittel- (Groschen) und Kleingeldern (Pfennige, Heller usw.). Die sozialen Kosten dieses Geldsystems waren enorm. VIII. Befragt man die Datenbanken der Numismatiker bezüglich von Münzfunden, die z. B. sächsische Groschen enthalten und etwa um 1500 herum vergraben wurden, so streuen diese Funde weit über das ganze Reich. Sie streuen freilich entlang der bekannten Haupthandelsrouten. Münzen flossen dorthin, wo sie gebraucht wurden, oder wo sie dem Nutzer einen Gewinn erbrachten. Wer hätte in einer Zeit ohne unsere heutige Vorstellung von Grenzen und Staatlichkeit, ohne Schengen und Grenzkontrollen, kontrollieren oder steuern können, wann sich wo ein Sack böhmischer Pfennige auf den Weg an den Niederrhein machte?77 Wenn es dort einen klugen Geldwechsler gab, der diese Münzen annahm und geschickt weiter versilbern konnte, dann half auch die stringenteste Währungsgesetzgebung nichts (doch wurden inkriminierte Geldwechsler und Falschmünzer, wo man ihrer habhaft werden konnte, durchwegs strengstens verfolgt78). Und so vermischten sich die Münzen immer und immer wieder neu. Die fürstlichen Kanzleiakten der Reformationszeit stecken voller Verbote, Normierungen, Tarifierungen und Valvationen. Pergamentseite um Pergamentseite geht es hier, in nahezu gleichbleibendem Wortlaut, Jahr für Jahr um Tarifierungen oder Verrufungen von fremden, schlechten und alten Münzen. Für Historiker gibt es keinen besseren Beweis für die Unwirksamkeit dieser Verordnungen: ihre ständige Wiederholung. Die Zeitgenossen hielten sich nicht daran. Warum auch, wenn Geld – gutes Kleingeld – knapp war? Man nahm zunächst, was man kriegen konnte. Harte Münze war in Zeiten von Geldknappheit und Kreditklemme immer besser angesehen als Kredit auf dem Papier (bzw. Pergament). Und so erfolgte eine zunehmende, wenngleich schleichende Erosion der Transaktionskassen der allgemeinen Bevölkerung; zumindest derjenigen Bevölkerungskreise, welche mehrheitlich Kleingeld wie Pfennige und Groschen zur Hand nahmen. Man muss hier – wie bei einer allgemeinen Untersuchung des Geldes und seiner historischen Funktion nicht nur im Wirtschafts- und Preisgefüge, sondern insbesondere seiner Sozialgeschichte – nach sozialen Gruppen und Einkommensklassen bzw. unterschiedlichen „Nutzerkreisen“ und „Tauschsphären“ differenzieren, vgl. Tab. 2 und 3.79 Denn Kleingeld war damals etwas ganz anderes als heute.   77 Philipp Robinson Rössner, Kein Geld für alle – Austauschsphären um 1500, Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Vorträge zur Geldgeschichte im Geldmuseum 2011, Frankfurt a. M. 2012, 5–28. 78 Mark Häberlein, Wirtschaftskriminalität und städtische Ordnungspolitik in der Frühen Neuzeit. Augsburger Kaufleute als Münzhändler und Falschmünzer, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, LXI (1998), 699–740. 79 Detailliert: Philipp Robinson Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. IV.

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Nominale / monetary zone Kleinmünzen

2a

Mittelmünzen (I)

2b

Mittelmünzen (II)

3a

Großmünzen (I): Gold

Vor 1480/1500

Nach 1480/1500

Heller, Pfennig (d), Zweier Halbgroschen, Schilling, Kreuzer Groschen, Plappart

Dreier, Halbbatzen, Zehner Batzen, Sechskreuzer, Zehnkreuzer, Zwölfkreuzer

Goldgulden (Rheinisch, Ungarisch etc.)

Guldengroschen/Silbergulden, und Fraktionen (1/4, 1/2, 1/3 Taler) Quelle für die Nominalstufen: Joachim Schüttenhelm, Zur Münzprägung und Silberversorgung süddeutscher Münzstätten im frühen 16. Jahrhundert, in: Werner Kroker / Ekkehard Westermann (Hrsg.), Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, Wege und Aufgaben der Forschung, Bochum 1984, S. 159–169. 3b

Großmünzen (II): Silber

Tabelle 2: Geldstufen und Tauschsphären Berufsgruppe Monetäres Jahreseinkommen Schneider-, Müllergesellen, um 1500 2,3–8,3 fl Rh Dienstboten, Gesinde (weibl., 1507–1517) 3–5 fl Rh Hausknechte, Hauslehrer (1507–1517) 5–8 fl Rh Tagelöhner ungelernt, Bauhütten 12–23,5 fl Rh Zimmermeister 20–48 fl Rh Zimmergesellenlöhne, um 1467 27 fl Rh Steinmetzmaurergesellen 27–37 fl Rh Fuhrmann, um 1500 28,2–37,5 fl Rh Bäcker-, Metzgermeister, um 1500 30–40 fl Rh Höchstbezahlter Meister (Baugewerbe, 1. Drittel 16. Jh.) 30–51 fl Rh Gehobenes Einkommen, Stadtbürger 45–50 fl Rh Zusammengestellt nach Dirlmeier, Lebensbedingungen, S. 67–238. Tabelle 3: Beispiele für Jahreseinkommen in Geld, Oberdeutschland (Städte), um 1500

Man darf die heutige Vorstellung von Kleingeld – Pfennige, Cents etc. – nicht auf die Währungswelt und das Verständnis im 16. Jahrhundert übertragen. Das Kleingeld des 16. Jahrhunderts, also Heller, Pfennige, Groschen, Batzen usw. – war das Geld des „kleinen Mannes“; während – anders als heute – die hohen Stufen (Gulden, Floren, Taler etc.) im alltäglichen Leben der unteren und Mittelschichten insbesondere auf dem Dorfe kaum auftraten geschweige denn regelmäßig verwendet wurden. Hieraus resultierten denn auch die gravierenden sozialen Probleme als Konsequenzen schlechten Kleingelds. Ein städtischer Handwerksmeister etwa verdiente um 1500 gut und gerne das Zwanzigfache im Jahr wie ein einfacher Gesell, je nachdem, wie hoch die Lohnsätze waren, und welcher Teil überhaupt in Geld ausbezahlt wurde. Vielerorts wurden Löhne nur zum Teil in Geld ausbezahlt; den Rest nahmen Kost, Logis,

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Kleidung und andere nicht-monetär vergoltene Güterleistungen ein. Auffallend sind die niedrigen Geldsätze insbesondere bei den unterbezahlten unterständischen Schichten der Gesellschaft. Bei diesen Berufsgruppen nahmen nichtmonetäre Entlohnungskomponenten einen signifikanten Anteil des gesamten „Lohnpakets“ ein; viele Mitglieder insb. der bäuerlichen Gesellschaft kamen nicht im selben Rahmen – und damit auch nicht mit denselben Münzen in Berührung wie Kreise der arbeitsteilig weiter ausdifferenzierten Stadtgesellschaften oder der wohlhabenderen Einkommens- und Sozialgruppen der Bevölkerung. Das Kleingeld um 1500 war, anders als „Kleingeld“ heute, nicht Kleingeld, sondern das Haupttransaktionsmedium der ärmeren Schichten (und damit Mehrheit) der Bevölkerung – weshalb die Bezeichnung „Kleingeld“ für das Pfennig- und Groschensegment der Reformationszeit eklatant irreführend und strenggenommen ahistorisch ist. Ganz im Gegenteil: Die Kaufkraft kleiner Münzen um 1500 war, von ihrem Nominalwert gesehen, enorm. Auch verdeutlichen die o.g. beiden Tabellen, dass das durchschnittliche Gütervolumen, welches in Münzgeld abgegolten worden ist, grundständig anders als heute, schichtenspezifisch und einkommens- bzw. vermögenstechnisch stärker segmentiert gewesen ist. Der „Gemeine Mann“ der Reformationszeit war geradezu auf Pfennige, Batzen, Kreuzer, Heller und Groschen angewiesen. Kaum wird er aus dem Zwang der bescheidenen Transaktionskasse herausgekommen sein. Gold- und Silbergulden überstiegen von ihrer Wertigkeit und Kaufkraft her die durch den niedriger kalibrierten Rhythmus und Frequenz der Zahlungsströme gegebene Nachfrage nach Transaktionskasse der unterbäuerlichen Schichten auf dem Land (und der städtischen Unterschichten). Für weite Kreise der Bevölkerung hatten Taler und Guldenmünzen keine alltägliche Relevanz im Bargeldverkehr. Probleme ergaben sich aber dort, wo Tauschsphären sich vermischten und rivalisierende „Geldtheorien“ miteinander konkurrierten. So beschreibt eine Beschwerdeschrift aus dem Jahr 1511 im Alpenraum – welche hier ein gleichermaßen repräsentatives wie willkürliches Beispiel einer Fülle weiterer gut belegbarer Beispiele darstellt, welche sich weder nach Region noch Zeitraum noch behandelter Thematik besonders eingrenzen lassen80: Noch eins. Ob wir di steur, davon vor meldung beschicht, des wir doch nit glauben, geben müssen, so wellen vitztumb noch die pfleger chain geduld mit uns haben, schreyen, nur gut gelt und chain anders. So isst die munss ersaigert, chain gelt bei dem gemainen armen mann, was der löst aus seinen pfenwerten, ist die bezalung vierer und haller und kain ander münss. Wir müssen durch aufwexl und mit grossem schaden ander münß aufbringen, wir haben auch disen handl steur der münß halben an u.g.h. von Polhaim und vitztomb langen lassen, aber nichtz noch begebung der steur erlangen mugen.

Dieser Befund lässt sich nahezu beliebig replizieren.81 Man findet ähnlich lautende Beschwerdeschriften in fast allen bekannten Bauernaufständen des Spätmittel  80 Mit umfassenderen Beispielen und Quellenbelegen: Philipp Robinson Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, Kap. IV 81 Siehe vorherige Anm.

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alters und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein. Schlechtes Geld war einer der Hauptgründe, neben einem umfangreichen Katalog anderer Beschwerden, für die als misslich empfundene Wirtschaftslage der bäuerlichen Bevölkerung am Vorabend des Bauernkriegs.82 Dieser Befund aber läuft vielem zuwider, was gemeinhin aus den allgemeineren Darstellungen zur Geldgeschichte, der allgemeinen Geschichte oder der Wirtschaftsgeschichte bekannt ist. Dort heißt es stets – sinngemäß –, dass der Gulden 21 Groschen und 252 Pfennige wert gewesen sei, oder 24 Weißpfennige am Oberrhein, etc. – also der Sachlage aus der Sicht der offiziellen Edikte und Ordnungen entsprechend. Nichts aber wäre der währungstechnischen und sozialen Realität der Zeit ferner gewesen. Unter den bereits geschilderten Parametern eines freien Marktes für Geldsorten und Münzwechselkurse konnte es keine fixierten Kurse geben, egal wie oft ein bestimmter Münzherr oder andere staatliche Autorität eine diesbezügliche normative Ordnung, etwa in Form eines Münzedikts, formulierte. Martin Luther und Cyriakus Spangenberg und der zeitgenössische Diskurs bezeichneten die hier skizzierten Praktiken der Neuverhandlungen von Münzwechselkursen, welche eigentlich normativ fixiert waren, doch trotzdem eine alltägliche Praxis und offensichtlich soziale Benachteiligung vieler Akteure darstellten, als eine Ausprägung des Wuchers: Münzwucher.83 Sie schuf zunächst soziale Kosten, aber erhöhte auch das, was Ökonomen als gesamtwirtschaftliche Transaktionskosten bezeichnen. Denn die Menschen mussten Kosten und Mühen auf sich nehmen, um Münzwerte verlässlich zu bestimmen. Dann mussten sie immer und immer wieder darum feilschen. Unterschiedliche Kurse spiegelten oft auch unterschiedliche gesellschaftliche und individuelle Machtpositionen wider. Wie etwa der Vogt, welcher für seinen Landesherrn die Steuer eintreibt und die Untertanen – Kraft des ihm verliehenen Amtes und Macht – dazu zwingt, schlechte Münzen in einem für sie nachteiligen Kurs einzuwechseln. Nur wer gutes Geld hat, ist komplett frei von den sozialen (Wucher) und ökonomischen Folgekosten (Transaktionskosten, Rentenabschöpfung), welche schlechtes Geld in sich birgt. Noch Johann Wolfgang Goethe bestand in seiner Eigenschaft als fürstlicher „Beamter“ des sächsisch-weimarischen Herrschers seit den späteren den 1770er Jahren darauf, dass die Amtsleute bei der Steuereinnahme die (von eben jenen Fürsten selber in Umlauf gebrachte) Kleinmünze verweigern oder alternativ ein Agio auf in Kleingeld gezahlte Steuern verlangen sollten.84

  82 Ebd. 83 Martin Luther: „Nu ist an allen zweyffel niemant, der do wolt, das yhm rocken auff korn, boeße muntze auff gutte, poße wahr auff gute wahr gelyhen wurd. It is klar, das solche leyher widder die naturhandelnn, todlich sunden, wucherer seyn und ungleych handelln mit yhrem nehstenn“. Martin Luther, Gesammelte Werke (WA), VI, Weimar 1888, 48–9. 84 Mdl. Auskunft von Bertram Schefold (Frankfurt a. M.).

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IX. Man muss also das Geldverständnis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit grundlegend anders denken. Gesellschaften und Ökonomien mit Warengeldstandard (Metallismus) bringen eine Reihe sozioökonomischer Probleme mit sich, die weit über die heute bekannten Zielkonflikte und Modellkonstellationen der modernen Politik und Theorie des Geldes hinausgehen. Was also, wenn nicht die Geldmenge an sich, sondern zunächst ihre Komposition das eigentliche Problem darstellte? Im Klein- und Mittelgeldbereich waren die Menschen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, zumindest wenn wir den diskursiven Quellen der Zeit Glauben schenken, häufiger als vermutet am Feilschen und ständigen NeuVerhandeln an sich gesetzter, d.h. von der normativen Ordnung als fix angesetzter Münzwechselkurse.85 Minderwertiges Geld wurde qua Erlass oft verboten (Verrufung) oder unterwertig in Kurs gesetzt (Tarifierung) – dort wo der Gesetzgeber die Zügel in der Hand hielt oder das zumindest versuchte. Trotzdem gab es eine Unzahl von Unschärfen im System. Münzen kamen ins Land und gingen wieder; nicht immer war Klarheit oder Rechtssicherheit gegeben. Bereits spätmittelalterliche Gutachtensammlungen von Juristen sind voll von dieser Problematik.86 Wir wissen von geschickten Kaufleuten und Währungsspekulanten, die aus den Brandenburger Landen Märkische Groschen auf die Leipziger Messen brachten, welche schlechter als die sächsischen und doch zunächst (noch) im Kurs gleichwertig waren (die Wettiner ließen sich regelmäßig von informierten Akteuren, meist Kaufleute – oftmals sogar dieselben, welche für die als Übel empfundenen Währungsspekulationen verantwortlich zeichneten, Gutachten über die jeweils aktuell zirkulierenden Geldsorten liefern).87 Diese Märkischen Groschen gaben die Kaufleute auf der Messe zum Nennwert aus; kauften Waren, die sie im Gegenzug dann wieder verkauften – von den Abnehmern dieser Waren aber bedungen sie sich ein Aufgeld i.H. v. einem Groschen pro Gulden aus: eine Art Risikoprämie – auf genau das schlechte Geld, welches sie zunächst selber in Sachsen eingeschleust hatten.88 Welche der hier umrissenen Erzählebenen und Analysefelder über das Geld – das monetär-ökonomische Modell; die währungspolitische und finanzsoziologische Beleuchtung, die soziale Frage ungleicher Münzkosten gleichermaßen als soziologisches (Münzwucher) aber auch transaktionskostentheoretisch wirksames Problem (schlechtes Geld erhöht die „Betriebskosten“ des Wirtschaftssystems); oder aber die kulturelle – ist nun die zielführende? Der vergleichsweise triviale,   85 Philipp Robinson Rössner, , Kap. IV. 86 Sargent / Velde, Big Problem of Small Change. 87 Nominal waren Märkische Groschen oft auf 8 d (Pfennige) geschlagen, also als 2/3Groschen. Nach 1511 stellten sie laut Pückert einen „bequemen Ersatz“ für die immer seltener werdenden sächsischen Halbgroschen dar, da sie diesen hinsichtlich ihres Feingehalts in etwa entsprachen. Pückert, Münzwesen Sachsens, 22. 88 Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion, 472–476.

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aber im Lichte der bislang fehlenden Forschung diesbezüglich wichtige Befund lautet: alle. Viel zu lange haben sich die Ökonomen und Geldhistoriker auf moderne Modelle bzgl. der Analyse der historischen Geldlandschaften Europas seit dem Mittelalter berufen89, dabei aber die weiteren sozialen, politischen und kulturellen Erzählebenen ausgeklammert. Dabei wurde vielfach ignoriert, dass moderne Modelle hier aber entweder nicht passen oder nur einen kleinen Bruchteil der historischen Realität empirisch erfassen. Die modernen Geschichtswissenschaften auf der anderen Seite, allen voran die Historiker der Reformationszeit, haben mit fast schon an Starrsinn grenzender Konsequenz das Geld einfach aus der Analyse herausgelassen. Kulturwissenschaftlich orientierte Studien haben einen monetärökonomischen Referenzrahmen oft geflissentlich als nicht dem Wesen des Geldes primär eigentümlich und damit auch als nicht für eine sinnstiftende Analyse desselben verwendbar ignoriert.90 Kultiviert man das Geld aber als ausschließlich ökonomisch oder kulturell relevantes bzw. aufgeladenes Untersuchungsobjekt, so begibt man sich, bezogen auf die historischen Dynamiken der Geldlandschaften „Alteuropas“, jedweden ernsthaften Erkenntniszugewinns. Man verkennt aber auch mutatis mutandis die ökonomischen und monetären Ursprünge der Reformation von 1517 (die sicher nicht alleine oder primär maßgeblich für die Entfaltung dieses religiösen Prozesses gewesen sind; doch hat diese nahezu komplette Ignoranz zu einer epistemologisch sehr beschränkten Narrative über Martin Luther und die Reformation in Deutschland geführt). Die Numismatik auf der anderen Seite ist als ehemalige Königin der Historischen Hilfswissenschaften eine der exaktesten Disziplinen schlechthin gewesen, hat aber durch eine wiederum nahezu konsequente Ausblendung grundsätzlicher ökonomischer Modelle und auch eine mangelhafte Überprüfung der unter (III) diskutierten Spiegelquellen aus sozialgeschichtlicher Perspektive einen gewissen Quellenpositivismus gefördert, der Eingang auch in viele rechtshistorische Studien zum Geld- und Währungswesen des „Alten Reiches“ gefunden hat.91 Doch helfen uns im quellenpositivistischen wie physischen Sinne „robuste“ Daten (Münzen) nicht weiter, wenn es um die Analyse der vielfältigen sozialen Dynamiken, der ökonomischen Interaktionsgeflechte und der sozialen wie ökonomischen Ungleichgewichte im Geldgebrauch der Zeit geht. Bezieht man die globale Wirtschaftsgeschichte mit ein, dann wird deutlich, dass sowohl die Bestimmungsgründe als auch die Folgen der als Beispiel gewählten sächsischen Münzpolitik um 1500 in weltwirtschaftliche Zusammenhänge fest eingebunden und ohne ein Wissen um diese Dynamiken nicht zu verstehen sind. Die politische Soziologie des Geldes und die Finanzsoziologie informieren uns über die Spannungsfelder und Kämpfe um die Ressource Geld auf der „innenpolitischen“ Ebene der einzelnen münzprägenden Staaten. Die sozialen Konflikte um Münzwechselkurse sind wichtig: Sie stellen eine gewichtige und bis kürzlich   89 Sargent / Velde; Big Problem of Small Change; Schremmer / Streb, Revolution oder Evolution. 90 Simmel, Philosophie; zuletzt Braun, Preis des Geldes. 91 Z.B. Christmann, Bemühen; Dotzauer, Reichskreise.

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gänzlich unberücksichtigte Komponente der Beschwerdelage des „Gemeinen Mannes“ am Vorabend des Bauernkrieges von 1524/5 und seiner spätmittelalterlichen Vorläufer dar. Es ist der Geldgeschichte also endlich wieder ihr zentraler Platz in der Geschichte der Reformation von 1517, wie auch der allgemeinen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit zuzuweisen. Ebenso muss sie aber auch aus den Klauen der modernen Volkswirtschafts- und Geldtheorie entrissen werden. PD Dr. Philipp Robinson Rössner, Manchester/Leipzig

BANKRUPTCY AND ITS MEANING AS “CRISIS” IN THE AGE OF THE REFORMATION Thomas Max Safley Sometime in 1528, the firm “Ambrosius und Hanns die Gebrüder Höchstetter und Mitgesellschafter” collapsed in bankruptcy. Reacting to widespread rumors of its insolvency, creditors began a classic run on the bank. Some seized its assets, wherever they lay, in acts of private execution. Others crowded forward and demanded immediate payment of the debts owed them in fear that the firm no longer possessed sufficient capital to cover its obligations. Realizing that the failure of his business was all but inevitable, the principal of the company, Ambrosius Höchstetter the Elder, began to secure his family against its worst consequence, “parking” capital in the hands of various associates through a series of Scheinkäufe (apparent sales) that would allow its retrieval at a future date, negotiating with his creditors in the hopes of reaching a mutual settlement and maneuvering for time to secure such assets as he could. He met many of his obligations, but many more creditors received little or nothing. Ultimately, they secured the imprisonment of the bankrupts and the confiscation of their property. What had been one of the great merchant dynasties of South German capitalism faded into obscurity. Is this evidence of a “crisis”? According to the Oxford English Dictionary, the word first emerged in the English language during the sixteenth century in specific reference to medical pathology to describe the “point in the progress of a disease when an important development or change takes place which is decisive of recovery or death.” Accordingly, a crisis is a “turning-point of a disease for better or worse” of “any marked or sudden variation occurring in the progress of a disease and to the phenomena accompanying it.”1 By the seventeenth century, “crisis” had acquired a figurative meaning and a general application as a “vitally important or decisive stage in the progress of anything; a turning-point; also, a state of affairs in which a decisive change for better or worse is imminent.” With specific regard to economic life, it described especially “times of difficulty, insecurity, and suspense.” Yet, the formal definition begs a number of questions. Why do crises occur? What characterizes crises or distinguishes them from other forms of change? And,   1

“crisis, n.” OED Online. September 2014. Oxford University Press. http://www.oed.com/ view/Entry/44539?redirectedFrom=crisis (accessed October 14, 2014).

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what outcomes do they have? Systems theorists usually attribute to any crisis multiple causes that are so numerous, complicated or obscure that rational, informed action to alleviate the situation is difficult to impossible.2 These causes result in situations with several identifying characteristics that include: (1) unexpected events that create (2) uncertainty and (3) threaten important goals of a complex system, whether those of an individual, group or society. Generally speaking, the system continues to function, but does so poorly. Crisis distinguishes itself thus from collapses, in which the system breaks down and ceases to function at all. Finally, some theorists assert further that crisis also involves transformation, that is, a situation in which a system must be changed in order to avoid failure.3 Crisis exists thus distinct from collapse, but can end in it. While it remains part of the formal definition, the possibility that crisis can result in improvement of a given situation has largely passed out of the colloquial understanding of the term. Nowadays, a crisis is generally understood to be an unstable and dangerous state of affairs that occurs abruptly and affects negatively an individual, group or society. In economic discourse, for example, crisis usually derives from the boom and bust patterns within market economies and involves sudden, radical declines in profits, creating economic uncertainty and requiring corrective measures of one sort or another. Financial crisis, an often-studied subset of economic crisis, involves a situation in which financial assets, rather than produced goods or services, suddenly and unexpectedly lose a large part of their nominal value. Although of a different scale, individual crisis occurs nonetheless similarly, when events of an unusual and unexpected nature trigger extreme or dangerous circumstances that effect not only an individual but also close associates, be they persons or organizations, and require decisive actions to resolve. Crises can be psychological or physical, moral or material. In whatever form, they compromise the ability of the individual to continue day-to-day. The negative attributes of crisis certainly dominate the historical literature. Observers and scholars have identified the Reformation with crisis since the sixteenth century itself.4 For Evangelicals, their break with the authority of Rome constituted a response to nothing less than a profound degeneration—both material and moral—in the established, Christian Church. For Romanists, the rise of an evangelical Christianity comprised crisis, an unparalleled threat to the continuity and unity of true Christian worship. To this day, scholars utilize these tropes, per  2 3 4

M. W. Seeger / T. L. Sellnow / R. R. Ulmer, Communication, Organization and Crisis, in: Communication Yearbook 21 (1990), 231–75. Steven J. Venette, Risk Communication in a High Reliability Organization: APHIS PPQ/s Inclusion of Risk in Decision-Making, PhD dissertation, North Dakota State University 2003. Contemporary sources that range from the gravamina of secular officials to the pamphlets of ecclesiastical leaders uniformly adopt the vocabulary and tone of crisis. They cast opponents as “Antichrist” and predicted Armageddon. It is probably no exaggeration to assert that no history since the sixteenth century has failed to take these sentiments at face value and grant them universal acceptance.

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petuating the association of reform with crisis.5 Those who study the secular history of the era have likewise found what they hold to be evidence of crisis.6 Marxists since Frederick Engels have interpret the Reformation as a proto-bourgeois revolution, the expression of a crisis in production that was doomed to failure in an economy and society that had not yet fully escaped their agricultural base.7 More contemporary social and economic historians, not untouched by Marxist suppositions, see the appeal of Evangelical Christianity in a variety of often contradictory, but usually negative material causes: at turns the frustration that arises from an expanding economy, the benefits of which are not equally shared; or the desperation that results from a contracting economy, the costs of which are similarly unequally shared.8 The literature on the Peasants’ Revolt of 1525 is a case in point.9 Some historians of a later period have interpreted the Reformation as a contributing factor to a widespread political, social and economic decline, the “general crisis” of the seventeenth century.10 One might summarize this range of   5

To take but two interestingly parallel examples, Amintore Fanfani and Brad Gregory published remarkably similar assessments of the Reformation, albeit some 70 years apart. Both held the rise of Evangelical religion to have been a crisis of millenarian proportion, one that fractured of religious and secular consensus that had upheld for more than a millennium a shared intellectual, social and moral life and, by so doing, to have made possible the emergence of a capitalist economy and society with all their attendant ills. See Amintore Fanfani, Catholicism, Protestantism, and Capitalism, Norfolk 2003; Brad Gregory, The Unintended Reformation: How a Religious Revolution Secularized Society, Cambridge, MA 2012. 6 See, for example, Geoffrey Parker, Global Crisis: War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century, New Haven 2013. This volume is the most recent contribution to a debate that began within the 1950s. See Hugh R. Trevor-Roper, The General Crisis of the Seventeenth Century, in: Past & Present 16 (1959), 31–64. 7 Again, the list of possible contributors to this tradition is long. Among the more prominent Marxist interpreters of the Reformation are Gerhard Brendler, Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1961; M. M. Smirin, Die Volksreformation des Thomas Müntzer und der Grosse Bauernkrieg, Berlin 1952; Max Steinmetz, Der deutsche Bauernkrieg und Thomas Müntzer, Leipzig 1976; idem., Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Leipzig 1985. 8 See, for example, the seminal works of Thomas A. Brady Jr., Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg, 1520–1555, Leiden 1978; idem, Turning Swiss: Cities and Empire, 1450–1550, Cambridge 1985. 9 Given the attention among Marxist historians, it has proven nearly impossible to separate the Peasants’ Revolt from materialist explanations. See, for example, Peter Blickle, The Revolution of 1525: The German Peasants’ War from a New Perspective, Baltimore 1981; idem., Communal Reformation: The Quest for Salvation in the Sixteenth Century, Atlantic Highlands, NJ 1992; idem, From the Communal Reformation to the Revolution of the Common Man, Leiden 1998; Tom Scott, Freiburg and the Breisgau: Town-Country Relations in the Age of Reformation and Peasants’ War, Oxford 1986; idem, Town, Country and Regions in Reformation Germany, Leiden 2005. 10 See the major statements: Hugh R. Trevor-Roper, The General Crisis of the Seventeenth Century: Religion, the Reformation and Social Change, New York 1968; idem, The General Crisis of the Seventeenth Century: Discussion of H. R. Trevor-Roper: The General Crisis of  

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opinion by concluding that historians almost universally associate the Reformation with a cultural and social upheaval, but that its status as a crisis depends on their frame of reference. Therein lies the difficulty of the term. As a description, crisis can be difficult to apply universally. What a single individual, group or community experiences as a “crisis” may not seem so to others. The prosperity of the Dutch Republic in its golden age, limits the validity of “general crisis,” applied tout simple to the seventeenth century, the suffering of other regions notwithstanding. Whether the economy expanded or contracted in the sixteenth century, those who profited from it would be less likely to have described it in terms of “crisis” than would those whose standard of living suffered. And, of course, Evangelicals and Romanists saw religious reform in very different terms, each striving to identify the other with “crisis.” This essay argues that notions of crisis have limited utility for historians, precisely because of the problems posed by frame of reference. The Höchstetter case is an apt example. It was certainly notorious, but was it a crisis? According to the chronicler, Clemens Sender, “Ambrosi Hochsteter ist ain feiner, herlicher, langer, groser, starcker mann gewessen, aines fürstlichen ansechens, auch gross trauens und glaubens geacht gewessen der auch mit trau und glauben mit kinigen und kaiser, fürsten und herrn und allen menigklichen gehandlot hat bis auff das jar [of his bankruptcy, tms].”11 Yet, Höchstetter’s business methods were rumored to be less fine and lordly. Sender notes: “und ist ain gutter crist gewessen und gantz wider die Lutherei, aber mit seiner kauffmannschatz hat er offt den gemeinen nutz und armen mann truckt, nit allein mit grosser namhaffter gut und war sunder auch mit schlechter, klainer war…und hat offt ain gantze war mit ainander auffkaufft, theurer, dann es wert ist gewessen, damit er die andern kauffleut nach gefallen truck, die soliches nit vermigt haben.”12 The exterior appearance of the man masked a contradictory inner reality, a kind of moral crisis that could not remain forever hidden, that reflected a larger, social crisis. Sender’s chronicle reveals the larger crisis – material as well as moral – in the Höchstetter affair. Ambrosius the Elder was a monopolist who attempted to manipulate markets on a grand scale. Around 1523, he began to purchase reserves of mercury, a commodity increasingly valued for its uses in pharmacology, manufacturing and mining, and attempted to gain control of its most important sources. Ambrosi Hechsteter hat in allen kingkreichen und landen das quecksilber aiffkaufft, theurer dann der gemein kauff was, um 8 fl. (florin or Rhenish gulden, tms) damit er durch dise listigkait die andern kauffleut truckte. da er nun das quecksilber gar in sein hand het pracht,

  the Seventeenth Century, Kendal 1959–60; Geoffrey Parker & Lesley M. Smith (eds.), The General Crisis of the Seventeenth Century, Boston 1978. 11 Clemens Sender, Die Chronik von Clemens Sender von den ältesten Zeiten der Stadt bis zum Jahre 1536, Die Chroniken der Schwäischen Städte, Vol. VII, Leipzig 1894, 219. 12 Ibid., 220.

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Thomas Max Safley gab er ain zentner um 14 fl. da gab aber got zu, dass der kaiser in Hyspania und der kinig in Unger quecksilber in groser menge fanden, und der Hechsteter het um zwei hunderttausent fl quecksilber auffkaufft; daran must er den drittail verlieren.13

When he failed in 1527 to gain control of the great mercury mine at Almadén, south of Madrid in Castilla-La Mancha, Europe’s other major source of mercury, his attempt at monopoly failed, and his firm suffered losses estimated at more than 100,000 Gulden, an astronomical sum by the measure of the day. Misfortune and mismanagement compounded the crisis. At about the same point in time, a ship carrying a cargo of spices, likely pepper and sugar, sank at sea. English authorities seized another Höchstetter cargo, this one of grain bound from Antwerp in exchange for raw wool. Highwaymen plundered several wagons loaded with goods purchased in the Netherlands for transport to Augsburg. Ambrosius might have survived all these losses, according to Sender, “wa seine aigen sün und sines bruders sun hetten sich rechtgeschaffen gehalten und zimlich zu dem iren gesechen14.” Son Joachim and son-in-law Hans Franz Paumgartner managed in one night of gambling to lose the famous sum of 30,000 Gulden. Son Ambrosius the Younger and nephew Joseph “haben auch übel haus gehept, aber doch nit also übel wie die andern zwen.”15 The situation proved insuperable. The household, the carefully constructed combination of home and enterprise, family and firm, that was a social institution of early modern Europe, began to dissolve. To this point, the Höchstetter bankruptcy appears to have been a classic crisis, albeit on a local scale. Its causes – the failed gambit to corner the market in mercury, the cargoes lost to random shipwreck, customs officials and highway robbers and even the profligacy of some of the partners – were multiple and unexpected. No evidence exists to attribute this failure to larger, systematic economic problems of any sort. Indeed, the late 1520s appear to have been successful years for the Augsburg mercantile and financial community in general. For the Höchstetters and their creditors, however, the sudden series of misfortunes created uncertainties the compounded the crisis. Word began to circulate that the Höchstetters were insolvent; exactly when and how remain unclear. Certainly, the business correspondence of the Tuchers of Nuremberg and the Fuggers of Augsburg make reference to suspicions of illiquidity as early as 1527.16 Sender, once again, sketches the consequences in believable detail: “Jr vil der glaubiger, da sie venomen haben den schaden, der dem Hechsteter jst zugestanden, und wie die jungen so verthan seien, haben sie ur gelt au der gesellschaft begert und sind bezalt worden, dass er in ain jar hat abgelest bis in viermal hundert tausent fl, wiewol sein wil nit darbei jst gewessen, die   13 14 15 16

Ibid., 220. Ibid., 221. Ibid. Stadtarchiv Augsburg, Höchstetter-Selekt I, fol. 26 ff. See also Ernst Kern, Studien zur Geschichte des Augsburger Kaufmannshauses der Höchstetter, Berlin 1935, 30 ff.

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glaubiger aber hand kurtzab nit lenger wellen verziechen.”17 In many of these cases, Ambrosius the Elder arranged favorable partner agreements, alienating or “parking” capital with certain associates, thus transferring it to them should he fail to pay his debts, assuring its return should he pay his debts, but in any event preserving it from a court-ordered redistribution of his property. Such settlements, however valuable, did not satisfy all creditors. Sender relates, “Welche glaubiger aber sind hinlessig gewessen, deren ob 300 sind, die sind in nott komen und stat inen ir bezallung, hauptgut und nutzung, noch aus und werden nimermer bezalt.”18 Fearing their loans would be lost, this group, which probably numbers considerably less than 300,19 demanded the immediate imprisonment of the leading partners and full repayment of their debts. Divided against themselves, the creditors would swing between more or less conciliatory attitudes toward the bankrupts, thus delaying settlement and broadening the crisis. The city council of Augsburg, where the case was initially heard, refused to jail the Höchstetter partners, claiming “es wer wider iren alten prauch und wider ir statbuch,”20 but it required that they swear not to leave the city until they had settled with their creditors. The deliberate pace of the proceeding corresponded to customary usage and statutory law in the city, but it did nothing to ease the crisis that was slowly reaching beyond the Höchstetters to include their associates. Again, rumor played a role in promoting panic and forcing events. Word spread that Ambrosius the Elder had “die bösten klainetter, so er gehept hat, in ballen eingeschlagen und ain fremd zaichen an die ballen gemancht und verordnet, sie aus Augsburg hinwegk zu fieren, wie dann beschehen ist.”21 Reacting, the creditors compelled the council to make an immediate inventory of all the remaining properties in all the Höchstetters’ residences, especially the dwelling of the senior partner, Ambrosius the Elder. This was done “aber es ist nichtz richtigs da gefunden worden, und ist darvor ain voll haus mit aller zier wie ain fürstenhaus gewessen.”22 To make matters worse, it came to light that two of the partners, Ambrosius the Elder’s son Joachim Höchstetter and son-in-law Hans Franz Paumgartner, “hetten sich haimlich darvon gemacht, als die sag was, mit vill   17 Sender, Die Chronik von Clemens Sender, 221. 18 Ibid. 19 Attempts to collate on the basis of legal records the number of creditors and the value of their demands have yielded a variety of results, all well short of the 300 unsatisfied creditors alleged by Sender. One counting yielded 93 creditors with unpaid loans in excess of 290,000 fl. See Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt Strafamt 47, Stadtgerichtsbuch, 1531, fol. 59r-65v. Ulrich Klinkert drew together a wider range of materials to arrive at a total of 193. See Ulrich Klinkert, “Die Augsburger Handelsgesellschaft der Höchstetter Zusammenbruch 1529, Gläubiger und soziale Verflechtung (unpublished Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, Universität Augsburg, 1983). 20 Sender, Die Chronik von Clemens Sender, 222. 21 Ibid. 22 Ibid.

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guts.”23 Rumor placed Joachim with over 10,000 Gulden in the company of the King of Denmark, while Hans Franz Paumgartner was thought to have disappeared with as much as 70,000 Gulden in company assets. Responding to outraged creditors, the council seized the three remaining partners, Ambrosius the Elder, his son Ambrosius the Younger and his nephew Joseph, and imprisoned them in a room (ain stuben) in the Rathaus under the watchful eyes of ten soldiers “die haben ir miessen hütten, darmit sie nit darvon fliechen, oder etzwar zu inen gang on aines rats wissen….” It was not a hard confinement, however: “…ire eefrauen und knecht hat man zu inen laussen gan. essen und trincken und alle notturfft hat man inen aus iren häusern gantz gnug zutragen.” Nor was it a good point of departure for negotiation. These began on 29 September 1529 and proved long, bitter and, ultimately, fruitless. As noted, some of the creditors were prepared to be generous, accepting a small percentage of the amounts owed them, but a large number insisted on full repayment. The bankrupts refused full payment as impossible, but they were prepared “…nach ordnung des rechtens inen gnug thon und wolten ir girtel von irem leib abgirten und mit geschworem aid von allem irem hab und gut gan.”24 The cessation of all property failed to satisfy the creditors, not because the rate of repayment would have been too small, but rather because of the financial situation of the Höchstetter wives. ire frauen namen aus ir heiratgut, morgengab, widerlegung und verweissen, und wolten an solicher schuld für ire man den glaubigern nichts geben. Ab solicher freihait der frauen hat der adel der glaubiger ain groβ missfallen, dass sie ire eemann nit wolten helfen ledig machen von der gefencknus und vonden glaubigern, so sie doch, mit der glaubiger gut auffenthalten, vil pomp, hoffart und hoffes getriben; und darzu, wann sie vil mit der glaubiger gelt gewunen hetten, hetten es die glaubiger nit geerbt, sunder die frauen mit iren kinden, darum sollen sie jtz auch billich am shaden anligen.25

The creditors objected to the legal principle of the weibliche Freiheit that preserved a wife’s property from liability for the obligations of her bankrupt husband. With this capital, which the creditors considered “glaubiger gut” and “glaubiger gelt” and, as such, part of any debt settlement, the bankrupts’ wives and heirs would live in arrogance and luxury. Mediation proved unequal to the task of overcoming the creditors’ distrust of the Höchstetters and their difference among themselves. King Ferdinand appointed commissioners to mediate between the Höchstetters and their creditors with the result that the parties reached a proposed settlement in 1530 that would have guaranteed all creditors partial payment and granted the bankrupts their freedom. The insistence on full payment by more than half the creditors once again prevented ratification of the settlement, which prevented payment to any and kept the   23 Ibid. 24 Ibid., 223. 25 Ibid.

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bankrupts in prison. Their determination reached the highest levels. According to Sender: …da kaiser Carel gen Augspurg auff den reichstag ist komen, da sind die glaubiger, die den vertrag mit den Hechstetern haben angenomen, für kai. mt. komen und haben begert, dass sein mt. den andern glaubigern, welche den vertrag nit haben wellen annemen, verschaff, den vertrag anzunemen. Da hat der kaiser allen glaubigern auff den 15. tag julii, vor seinen räten zu erscheinen, ain rechtag angesetzt. da nun der ain tail den vertrag nit wolt annemen, nach gnugsamer verhör, hat sien mt. Über disen handel bischoff Christoffen [von Stadion, tms] von Augspurg zu ainem richter und comissarien verordnet und an seinr mt. stadt gesetzt.26

The emperor and his commissioners enjoyed no more success than those of the king. Those creditors who supported the settlement proposed by Ferdinand’s commissioners had sued those opposed to it in the hope of compelling them to accept the arrangement. The judges had denied the suit, arguing “diser tail nit sol bezwungen werden, den vertrag anzunemen, es sei dann ir gutter will darbei.” Appealed to the emperor, the verdict was upheld. In an attempt to create unity among the creditors, Bishop Christoff “hat aber versucht, ob er sie [the creditors, tms] gütigklich verrichten möcht, und da mallzeit was, da lud der bischoff die glaubiger alle gen hoff zu dem mittagmall und sagt, dass er nach dem tisch dise sach mit urtail und recht enden und aussprechen werde.”27 All to no avail. As tensions increased, the city council of Augsburg pressured the bankrupts. It ordered them transferred from a room in the Rathaus to a room in the home of Ambrosius the Elder “und haben in diser stuben sie all trei sich ires gemachs zu ainander miessen der natur began, und hat die stub fast übel gestunken.”28 The entire house was sealed and guarded to prevent flight. Further attempts to reach a settlement failed, the Höchstetters claiming that they had received the privilege (privilegium) from Emperor and King to have this matter decided before the Imperial Chamber Court (Reichskammergericht) and “niertens anderst recht zu geben und zu nemen.”29 This attempt to abrogate the city’s jurisdiction yielded a sharp response: On 23 September 1531, the three imprisoned members of the firm were laid in irons in the Debtors’ Tower (Schuldturm). In March 1532, when the case was already being argued before the Reichskammergericht in Speyer, the city council resolved to sell all properties of the Höchstetters and to invest the proceeds with the City. From returns to this fund, the Höchstetter wives might be supported and the creditors eventually paid. It proved a vain hope. The Höchstetter case continued before the Reichskammergericht for years; the bankruptcy was never entirely settled. After repeated intercession by the emperor and the king, Ambrosius the Younger and Josef Höchstetter were released in 1544. They lived as broken men: Ambrosius the Younger retired to his mortgaged estate and never recovered; Joseph settled in Venice, where he eked out a living as a   26 27 28 29

Ibid., 234. Ibid., 235. Ibid., 235–6. Ibid., 236.

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commission agent for various German merchants until his death in 1565. Ambrosius the Elder never again saw the light of day: “Darnach am herbst [1534, tms] ist der alt Ambrosi Hechsteter in dem Stiblin in den eissen gestorben und hat solich gross scheden an den fiessen gehapt, daβ er also fast gestuncken hat, dass nemants hat kunden bei im pleiben, auch er selbs disen gestanck mit groser beschwernus hat leiden miessen….”30 To what extent does the fate of the Höchstetter firm and family signal a crisis? For the imprisoned bankrupts the question is moot. Ambrosius the Elder was dead. Ambrosius the Younger never reentered business, whether of his own volition or through his peers’ exclusion cannot be determined. Of his seven children, only one ever married, according to surviving documentation. The fates of the others remain unknown. His cousin, Joseph, worked far from the place of his disgrace. He married twice, but had no heirs. For the absconded partners, the matter is more complicated. Of Hans Franz Paumgartner we know nothing. Joachim Höchstetter used commercial connections as well as ties to German émigré miners and managers to become a leading financial counselor to King Christian of Denmark and to enter the tin-mining industry of England. His eldest son, David, migrated to England, where he found his fortune as head of the Company of Mines Royal. The second son, Joachim the Younger, remained in Augsburg, where he eventually established himself as a moderately successful businessman, serving as partner in a series of trading companies, the last of which, “Joachim Höchstetter, Friedrich Rentz und Gesellschaft,” went bankrupt in 1586. Despite this dreary end, he reestablished the family’s presence among one of the city’s elite corporation, the Mehrer der Gesellschaft. One generation later, in the 1570s, the family stepped further out of the shadows of its failure. Johannes Baptista Höchstetter was a grand-nephew of Ambrosius the Elder. He entered business as a textile wholesaler, dealing in woolens for the most part, and, like other members of his family, was a member of the Mehrer der Gesellschaft. His prominence in its financial community may be measured to some extent by the breadth of his credit relations and the fact that he served as curator bonorum in a number of bankruptcies, including that of the Hans Paul Herwart in 1576, of which more later. The family’s fortunes appear to have been rebuilt, albeit on a less grand scale. The Höchstetters thus did not irrevocably lose social capital, nor were their financial and industrial assets absolutely destroyed. Ambrosius the Elder had “parked” capital beyond the reach of his creditors in anticipation of his bankruptcy, transferring properties to business associates for a nominal price—a loan, in effect—with the assurance of being able to reacquire it for the same amount of money at some future point. The Fugger Company assumed thus control of the Höchstetter’s silver mining and metal refining properties. Hans Paumgartner and his sons, to whom attention will turn next, acquired at a fire-sale price the   30 Ibid., 237.

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Höchstetter mercury reserves. Wolfgang Vittl, an employee of the Höchstetter for twenty years used the 20,000 Gulden in textiles that Ambrosius Höchstetter the Elder placed temporarily in his hands to open a glassworks in Hall, Tyrol around 1531. After his death, Emperor Ferdinand, who had promoted Höchstetter interests in the 1520s, ordered the glassworks sold to Sebastian Höchstetter the Younger, a member of the Imperial Council and a cadet branch of the family, for a token price of 253 Gulden, roughly one percent of its original value. He would raise the glassworks to the premier manufactory of Tyrol, making glass that competed with that of Murano to the south. Around 1531, when the bankrupts entered prison and the so-called “Monopoly Controversy” was at its height, the great jurist and humanist, Conrad Peutinger, who had grown up with Ambrosius the Elder as his mother’s brother and his father’s ward, wrote with a clear eye to his friend’s fate: Gott möge einen jeden von solchen Unheil behüten. Aber das ist nichts Neues, sondern von jehen ist es so, nicht nur in Geschäften, sondern auch gelichsam in allen anderen Handlungen: der eine wird reich, der andere gerät in offenbare Not; dem einen lächelt das Glück, dem anderen gönnt es nichts. Nicht wir alle werden unter der Konstellation des Reichtums geboren. Rotat omne fatum. Aber daraus erfolgt nicht, dass deshalb keine großen Geschäften unternommen werden dürfen, noch dass die großen Gesellschaften beseitigt werden sollten.31

“Rotat omne fatum.” With a somewhat longer view, he might perhaps have added, no fate—no “crisis”—is final. Yet, all of this begs the question of a broader significance. The Höchstetter crisis—crisis it was for the bankrupts and their families—created ripples that are as unmistakable as they are immeasurable throughout the Augsburg financial community and among the Habsburg clients. The desperation of so many creditors to achieve full repayment speaks to the degree of leverage within that community. One major bankruptcy could—and very likely did—cause other bankruptcies in its wake. The repeated intervention of princes speaks to the degree to which a crisis of private capital could have ramifications for state finance. Historians and economists traditionally reserve the term of wide-reaching situation that grip entire markets or regions. Though its exact dimensions remain obscure, the Höchstetter bankruptcy seems to fill the bill. One of the families—colleagues and competitors—that profited from the crisis that swept the Höchstetter was that of Hans Paumgartner the Younger. Like the Höchstetters, the Paumgartners belonged to the highest economic and political circles in Europe. They were successful merchants in Nuremberg, when bankruptcy forced them to shift operations to Augsburg. Historians have had to reconstruct the Paumgartners’ business activities, not from the narrative reconstructions of contemporary chronicles, like that of Clem  31 Quoted in H. Lutz, Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie, Augsburg 1958, 140. See also, Klinkert, “Die Augsburger Handelsgesellschaft der Höchstetter Zusammenbruch 1529”, 10.

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ens Sender, nor from the collective registers of account books, but from the individual documents that chance to survive in dispersed archives. These transactions, contracts and letters extended across the German-speaking world and involved merchants and aristocrats alike; research has yet to unlock the extent or value of their dealings in Iberia, Italy, France and the Netherlands, to say nothing of the wider world. Incomplete as this ersatz narrative is, it suggests a well-established business, offering commercial, manufacturing and financial services to select companies and clients. The patriarch of what would become the Augsburg line founded a family firm that engaged in textile and spice trading, but he quickly began to concentrate his interests in mining and finance, especially in Habsburg territories. Under the leadership of his son, Hans the Younger, the family reached the pinnacle of success, concentrating more and more on mining and metallurgy in Tyrol and becoming one of the most important mine operator (Gewerke) in the region. Its engagements extended beyond Tyrol to Idria, on the basis of the mercury reserves purchased from the failing Höchstetter concern in 1528. In 1539, Hans the Younger received exclusive rights to buy all mercury and cinnabar produced at Idria, thus stepping into the monopoly agreement previously held by the Höchstetter.32 As this industry was intimately connected to state finance, he also served as lender and advisor to the Habsburg dynasty. Commercial success and political power made Hans the Younger one of the richest men in the Empire and in Europe. His lifestyle reflected his wealth. Over the course of his career, he accumulated rural estates and became a patron of the arts and letters. Consistent with aristocratic ambition, he created an entailed estate (fidei commissus) that prevented alienation of the family’s landed estates.33 All such properties could be inherited only in the male line of the family; female descendants would have to accept monetary legacies that would serve as their dowries. In 1537, Hans the Younger was elevated into the Freiherrnstand, a noble status that would mean more to his four sons than did their father’s commercial engagements. Hans the Third, the eldest and the chosen successor to the family business, died before his father. Anton, the second, was the black sheep of the family, a wastrel and womanizer, whom his father disinherited. The two remaining sons, Hans Georg and David, inherited their father’s estates and businesses. Perhaps unsurprisingly, given the aristocratic marriages their father arranged, the landed estates he amassed and the imperial offices and titles he received, they were less interested in business. Hans Georg and David married into the landed nobility and pursued a rentier existence as diplomats and courtiers.   32 Helfrid Valentinitsch, Das landesfürstliche Quecksilberbergwerk Idria, 1575-1659. Produktion – Technik – rechtliche und soziale Verhältnisse – Betriebsbedarf – Quecksilberhandel, Graz 1981, 290. 33 Bayrisches Hauptstaatsarchiv München, Repertorium 3360, fol. 34-41.

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As soon as their father died, in 1548, they began to sell off the family’s commercial interests, in violation of their father’s will. These included their most profitable enterprise, their mercury trade, which they had begun to acquire in 1528 from the Höchstetters and sold in 1548 to the Herwart brothers, Hans Paul and Hans Heinrich, another family of Augsburg merchants who had long been their competitors in business. Between 1549 and 1553, they concluded and alienated most of their other commercial assets, many to the brothers Herwart. These sales constituted a step-by-step process of divestiture that initiated a decline in fortunes, a crisis that would end in the extinction the male line of the Augsburg family. The sons lacked their father’s commitment to business, to be sure, but they also lacked his acumen. Take, for example, their diminishing involvement in mining and metallurgy. In 1553, they had to admit to the Tyrolean regional government that they had misplaced the contracts that allowed them to mine and refine silver in its territory. In response, the government demanded that they make an accounting of their activities, because it “glaubwürdig erahren hatte, dass sie einen ansehnlichen Verlust mit mehreren andern ihren brieflichen Gerechtigkeiten zuihrem merklichen Nachteil genommen haben.”34 That same year, he and his brothers did a general accounting and dissolved the family firm. Nor were their financial activities more solid. David loaned money to the tune of roughly 164,000 Gulden to the notorious Protestant, Jakob Herbrot. Herbrot’s default prevented David from satisfying 43 other creditors, to whom he owed more than 675,000 Gulden. The imbalance suggests a failure to diversify, a dependency on credit and an insufficiency lack of income.35 He was depositor or partner to no one. Hans Georg remained somewhat more engaged in business but demonstrates the same tendency to borrow rather than lend.36 The brothers seem to have pursued a rentier existence, funded by credit rather than earnings. Even as they abandoned their father’s commercial interests, Hans Georg and David retained his political commitments and connections. Loyal supporters of imperial policy, they rose steadily in the Emperor’s favor. David established himself as a successful diplomat and as a useful financier, and Ferdinand I elevated him into the Imperial Estates (Stände des Reiches). His experience and facility were, indeed, valuable. The Habsburgs borrowed no less than 38,000 Gulden from David alone. Nor were they the only ones. David provided loans, estimated at more than 129,000 Gulden, to other courtiers and borrowed as well to cover the costs of the court’s extravagant life. Karg interpreted such behavior as weakness of character, which may well have played a role: Das ständige Leben am Hofe war für einen Mann von David Paumgartners Charakter sehr gefährlich. Er war nicht stark genug, den tausendfachen Verlockungen und Versuchungen, die

  34 Wilhelm Krag, Die Paumgartner von Nürnberg und Augsburg. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des XV. und XVI. Jahrhunderts, München 1919, 108. 35 Wolfgang Reinhard (ed.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620, Berlin 1996, 20–21. 36 Reinhard, Augsburger Eliten, 28–30.

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Thomas Max Safley hier an ihn herantraten, zu widerstehen. Rasch verschlang das üppige Leben Paumgartners Vermögen.37

David’s political ambitions and courtly relations impelled him into dangerous financial maneuvers. He turned to his brother. Acting as guarantor, Hans Georg borrowed ever larger sums from Augsburg merchants on behalf of his brother. David’s indebtedness was fueled, not only by his own profligacy, but also by a worsening financial situation on the continent as a whole. The late 1550s and early 1560s witnessed state bankruptcies in France and Spain that tightened credit across the continent. It is no coincidence that the Augsburg chronicler, Paul Hektor Mair counted 26 bankruptcies, all of which involved merchants of European-wide engagement and repute, between 1545 and 1575.38 By 1561, the Paumgartner name appeared explicitly in contemporary reflections on the looming financial crisis. The King of Spain futilely sought lenders to help him avoid insolvency, “[a]ber dieweil die zwey Geschlechter Fugger und Baumpartner izo mit sich genug zu tun haben, dann inen ain gewaltige Summa Gelds abkundigt ist.”39 David was likely hounded by creditors, who were hounded by theirs in turn. In direct violation of his father’s entail (fidei commissus), he mortgaged family estates to secure further loans, including 120,000 Gulden from Markgraf Georg Friedrich of Brandenburg. When he defaulted on this obligation in 1563 and again in 1565, his insolvency became common knowledge. His indebtedness had grown to staggering proportions. The Augsburg chronicler Paul Hektor Mair noted, “Es soll auch Herr Davidt Paumgartner zu Paumgarten und Hohenschwangau verdorben und ob 300,000 Gulden schuldig sein.”40 The sum was much higher, in   37 Krag, Die Paumgartner von Nürnberg und Augsburg, p. 110. 38 Universitätsbibliothek Heidelberg, Pal. Germ. 100. Paul Hektor Mair, Augsburger Chronik, fol. 357 ff. http://digi.up.uni-heidelberg.de/diglit/cpg100/0004. For other attempts at an accounting that depart from Mair, see, Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998, 397–99; Reinhard Hildebrandt, The Effects of Empire: Changes in the European Economy after Charles V, in: Ian Blanchard et al. (eds.), Industry and Finance in Early Modern History: Essays Presented to George Hammersley on the Occasion of his 74th Birthday, Stuttgart 1992, 61; Erich Maschke, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters, in: Erich Maschke (ed.), Städte und Menschen: Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959–1977, Wiesbaden 1980, 84; Franz Mathis, Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, Munich 1992, 37–8; Eckart Schremmer, Die Wirtschaftsmetropole Augsburg, in: Max Spindler et al. (eds.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Munich 1970, III/2, p. 1094; Gerhard Seibold, Die Manlich. Geschichte einer Augsburger Kaufmannsfamilie, Sigmaringen 1995, 146; Jakob Strieder, Der Zusammenbruch des süd- und mitteleuropäischen Frühkapitalismus, in: Heinz-Friedrich Deininger (ed.), Das Reiche Augsburg. Ausgewählte Aufsätze Jakob Strieders zur Augsburger und süddeutschen Wirtschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, Munich 1938, 46; Wolfgang Zorn, Augsburg. Geschichte einer europäischen Stadt, 3rd ed., Augsburg 1994, 236. 39 A. Kluckhohn, Briefe Friedrichs des Frommen, Kurfürsten von der Pfalz, Braunschweig 1868, 211, n 1. Also cited in Karg, Die Paumgartner von Nürnberg und Augsburg, 111. 40 Mair, Augsburger Chronik, fol. 357 ff.

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fact. A survey of surviving documents sets it at more than 640,000 Gulden, a total liability that would have made the Höchstetters gasp. When the Augsburg notable, Jakob Herbrot the Younger, to whom David had loaned huge sums, defaulted in 1563, David’s desperate financial structure collapsed. His creditors demanded payment and seized his property. In lieu of payment, creditors seized David’s various estates. Soon only one, minor property remained, which his wife held in usage, not ownership. Stripped of his property and desperate to restore his fortunes, David descended into alchemy, conspiracy and, finally, treason. Party to a revolt of Imperial knights, led by Wilhelm von Grumbach, he was placed under the Imperial ban in 1566, caught at the siege of Gotha and beheaded in 1567. His failure had hardly less drastic consequences for his brother, Hans Georg. He had remained in Augsburg and in business, as his father would have wished, but the surviving record suggests less than whole-hearted commitment. There is little indication of a continuing engagement in commerce or manufacturing. He seems largely to have trafficked in bills of exchange and lived from the income of his estates. Certainly, he provided services to his brother, borrowing and securing credit in his name. He futilely protested David’s mortgaging of the family’s estates, realizing that his brother’s “mismanagement and profligacy” could lead the entire family to disaster, but he nonetheless agreed to aid him in his search for funds and, so, linked their financial fortunes. When David’s insolvency became insurmountable in 1563, that linkage took effect. The creditors demanded payment from Hans Georg, because he had guaranteed his brother’s debts. He refused to honor his commitment as guarantor, claiming that he was not responsible for his brother’s careless behavior, and he remained on his estates outside the city limits of Augsburg to avoid prosecution. When he entered the city on 5 March 1565 to attend the wedding of Sidonia Isabella Fugger, the daughter of Georg II and niece of Hans Jakob Fugger, with whom Hans Georg had business dealings, he was imprisoned. Paul Hektor Mair, whose chronicle provides so much valuable information on the mid-century financial crisis that swept the Augsburg merchant association (Kaufleuteschaft), provides details about Hans Georg’s fate that in many respects resembles that of Ambrosius Höchstetter the Elder. At the behest of his creditors, who feared he might flee, Hans Georg was “in seinem haus im hoff in ainem stüblin und kemerlin an ainander darinnen verwart 20 wuchen mit 10 mannen aus der tag- und nachtwacht, so in tag und nacht verhiet haben und er hat inen müssen essen und trinken auf sein costen geben und jedem alle wuchen ain guldein in müssen darzu geben.”41 The city council transferred Hans Georg in August 1565 to a chamber in the Rathaus, where his guard was reduced to four men, two of whom stayed with him day and night and two of whom stood outside the door.   41 Paul Hektor Mair, Augsburger Chronik, fol. 246–7. Also quoted in Karl Otto Müller, Quellen zur Handelsgeschichte der Paumgartner von Augsburg (1480–1570), Wiesbaden 1955, 60– 61.

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The guards ate and drank with him, all provisions being prepared at his own and expense, and never left him for a moment. In addition, he paid the guards one shilling per week. The close watch indicates real fear that he might yet try to escape his creditors. The ensuing negotiations proved arduous, extending into 1566. Because the Imperial Diet (Reichstag) had assembled in Augsburg, “[d]a kunt man der stuben nit emberen, da hat ain ersamer rat in auf den 24. tag September bei der Nacht wiserumb hinauf auf das Beckenhauss in der Grossvaterstuben hereingelegt und in lassen mit den 4 widerumb verwaren lassen wie vor.” This situation proved embarrassing for the council. Hans Georg’s wife appealed directly to the Emperor, Maximilian II, who “befiehlt dem Bürgermeister und Rat zu Augsburg auf Ansuchen der Frau Anna Paumgartner geb. von Kainach, ihren Gemahl Hans Jörg P. aus seinem Gefängnis sofort zu entlassen, er sei nicht durch eigenens Verschulden, sondern durch Gutherzigkeit und Bürgschaft für seinen Bruder David Paumgartner in die merkliche Schuldenlast geraten.”42 In response, the council: …rechtfertigt sich gegenüber dem Kaiser warum Hans Jörg Paumgartner gefänglich eingezogen sei. Dies sei auf Veranlasung der Gläubiger seines Bruders David P. geschehen, für den sich Hans Jörg P. verbürgt habe, auch sein Bruder Anton habe dies verlangt, da er sich geweigert habe, ihm die 1800 fl. Leibgeding und das Interesse davon, wozu er nach dem Vertrag verpflichtet sei, und 5000 fl. Kapitel zu zahlen. Hans Jörg Paumgartner habe sich auch ungebührlich geen den Rat der Stadt und den Stadtpfleger Heinrich Rehlinger ausgesprochen.43

The creditors remained unyielding: No release from prison until payment was reasonably guaranteed. Hans Georg refused to liquefy his estates to settle his obligations, attempting thus to preserve his aristocratic heritage and fortune. Like Ambrosius Höchstetter the Elder, he refused to negotiate; like Ambrosius Höchstetter, he languished in prison. Tentative settlements in 1566 and 1568 failed,44 because Hans Georg defaulted on the first payments. Only, when he finally agreed, under extreme compulsion, to part with family property was a final agreement read in the city council of Augsburg on 7 January 1570.45 It settled the bankruptcy: Und im 1570 Jahr auf 3. May am Samstag hat man in sein kemmerlin und sein Schreibern, under den armen herab für ain Rat hinein gefürt, so krankh und verschwolen is er an seinem schenckel und Bauch gewest, er hat auch kain hosen und wames kinden anhaben. Da hat er sein Burckhrecht aufgeben wie er sich dann zuvor mit seinen glebigern vertragen und verglichen hat. Und denselben abent hat man in zwischen 8 und 9 hor in ainem wegelin in Hauptmann Vogels haus in dem Kollergesslin gelegen, gefürt und alda haben in noch 4 miessen verwaren.46

  42 43 44 45 46

Müller, Quellen zur Handelsgeschichte der Paumgartner, 224. Ibid., 61. Ibid., 247–9. Ibid., 249–50. Ibid., 60–1.

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Too sick after his long imprisonment to care for himself, he died on 29 June. Here was a collapse, far more final than that of the Höchstetters. Within two decades, the Paumgartners had disappeared from the European economic and political scenes, where they had once been powerful players. Their Augsburg leaders had fallen, one executed as a result of a failed political conspiracy, the other undone by failed financial transactions. Their father’s carefully constructed ambitions, both commercial and political, had been destroyed utterly. The Augsburg line of the family ceased to exist for lack of male issue. Their business interests and landed estates rested in other hands. Yet, was it a crisis? Viewed from the perspective of posterity, it cannot be described as sudden or unexpected, though it can be said to have created uncertainty, threatened goals and caused transformation. The family ceased to exist; its skill and status were lost. For those immediately affected, the bankruptcy marked the conclusion of a very real and rending crisis. The same may be said for the creditors, whose material success may well have been threatened by the Paumgartners’ default. At precisely this point, the frame of reference begins to shift. The Paumgartner crisis fades into the larger, financial crisis of mid-century and, in so doing, loses its crisis-like quality. Economic historians traditionally favor this larger scale and tend to reserve terms like “crisis” for a development with systemic consequences. The Paumgartner default was insignificant in such monetary and macroeconomic terms, compared to the state bankruptcies that beset Spain and France.47 Moreover, it was but one of many—and by no means the largest— private bankruptcies that beset capital markets at the time. Indeed, their assets were not lost to the economy as a whole. Apart from their social capital, the Paumgartners’ fixed and financial assets flowed into other hand and, presumably, found other uses. The brothers Paumgartner sold their commercial assets, especially their silver and mercury mines and refineries, to another set of brothers, Hans Paul and Hans Heinrich Herwart, who turned them into a very profitable enterprise. At the close of the nineteenth century, the great historian of Upper German capitalism, Richard Ehrenberg, summarized the history of the Herwart family and firm: “Die Augsburger Herwart sind eines der interessantesten oberdeutschen Geschlechter, was um so mehr bedauern lässt, dass wir über ihren Handel wo wenig unterrichtet sind.”48 Over a century later, they remain something of a mystery, relative to their peers in the Augsburger Kaufleuteschaft. Chronicles do not preserve accounts—and judgments—of their activities, unlike Sender on the Höchstetters or Mair on the Paumgartners. Only fragments of their quotidian   47 For a recent account, see Hans-Joachim Voth and Mauricio Drelichman, Lending to the Borrower from Hell: Debt, Taxes, and Default in the Age of Philip II, Princeton, 2014. 48 Richard Ehrenberg, Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Kreditverkehr im 16. Jahrhundert, Hildesheim 1990, I, 218.

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business records survive. They seldom engaged or became engaged in litigation. Even the 1576 bankruptcy of Hans Paul left no traces in civil or imperial courts. The family’s history can be reconstructed only in general terms.49 The Herwarts became active in commerce in the late-fourteenth century. The range of their interests reflects the standard palette of the early modern, Upper German merchant-entrepreneur that we have seen with the Höchstetters and Paumgartners. Originally engaged in textile manufacturing and sales, they expanded into mining and finance, where they seem to have achieved their greatest power and prosperity. Along the way, they accumulated landed estates and noble titles, eventually shifting from the markets to the courts of Europe, especially Bavaria and France. In a sense, Hans Paul and Hans Heinrich were heirs to the business proficiency, accumulated by their fathers, uncles and grandfathers over time in the rough-andtumble of commodity and money markets. Unlike their contemporaries, David and Hans Georg Paumgartner, they not only inherited the family business but also displayed a sharp-eyed business acumen. According to the few surviving documents, they acted as money exchangers.50 Their business consisted in discounting and expediting bills of exchange from Augsburg to all the most important financial centers of sixteenth-century Europe, including Antwerp, Lyon and Venice. They appear to have been specialists. In 1548, however, they also became substantially engaged in mining. On 26 April, they signed and sealed a contract with King Ferdinand to assume the Paumgartner monopoly control of the sale of mercury and cinnabar, the same monopoly right that the Paumgartners had acquired from the Höchstetters.51 The Herwarts managed to profit, by adopting a more conservative business strategy and exploiting more favorable market conditions. The profitability of mercury— imperial counsellors called it “ain so unzimblich und zu grossen Gewinn”52—now tempted Emperor Ferdinand to get into the business himself. Advisors urged him to cut out the middlemen and sell directly to the King of Spain, Europe’s greatest consumer and Ferdinand’s nephew. The Herwarts paid 24 Gulden per hundredweight of mercury at the mine in Jdrai, but they received 55 Gulden per hundredweight on the market at Antwerp; Philip was prepared to pay 90 Gulden in cash for the same amount in Seville, and merchants in Mexico offered as much as 460 Gulden. The situation hardly speaks of crisis. Yet, it all came undone. The price of mercury had resulted from its scarcity. A catastrophic fire in the mines at Almadén had forced them to cease production   49 Ehrenberg, Das Zeitalter der Fugger, I, 218–20. See also Paul von Stetten d. J., Geschichte der adelichen Geschlechter in der freyen Reichs-Stadt Augsburg: sowohl in Ansehung ihres besondern Standes als auch in Ansehung einer jeden einzlen Familie, Augsburg 1762, 101–7. 50 See Reinhard, Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts, 279–84. 51 Österreiches Staatsarchiv Wien, Finanz- und Hofkammerarchiv, Innerösterreiches Mizelle und Briefe, 134/2. 52 Österreiches Staatsarchiv Wien, Finanz- und Hofcammerarchiv, Innerösterreichische Mizelle und Briefe, 134/2. Hofcammer Guetbedunnckhen, s.d., 1561.

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from 1550 until 1563. Idria had become thus the only European source of highgrade mercury for the entire tenure of the Herwarts. Long a boutique metal, produced to meet the limited demands of goldsmiths, physicians and alchemist, mercury had grown by the middle of the sixteenth century into a strategic commodity used to treat syphilis, produce mirrors and, most importantly, refine silver. As a result, prices rose quickly in all the major markets, and the Herwarts were ideally situated to profit. In an attempt to seize some of these profits for himself, Ferdinand, to whom most of the mines in central and southern Europe belonged, placed steady pressure on the brothers to pay a higher unit cost at the mine. The brothers resisted, insisting upon the precise terms of their contractual agreements and warning against the loss of their services, “…das sy allain die Ursach, das die Queckhsilber durch jren Vleiss und Gluckh Eur Ro. Kay. Mt. den Gwerckhen und jnen zu Guetem in ain solche Staigerung und Wirdigkhait gebracht….”53 Finally compelled to agree, Ferdinand entered into a new five-year contract with them in 1562 that increased the price they would pay, but promised them complete freedom to dispose of the mercury as they wished.54 The ever-needy Emperor was so cash-strapped, however, that he sought to renegotiate an even higher price less than a year later, in 1564.55 The Herwarts refused, noting “…das die Gewerckhen jnen noch ob 2,000 Centner am jungsten Kauff zu liefern shuldig weren, zu dem so hetten sy auch zu Antorff, Venedig und Lion ain statliche Summa Queckhsilber ligen, so noch unvertriben, derhalben dann noch vil zu frue, ainen newen Kauff nachzutrachten.” If the Emperor exercised his authority to try to force a new contract, “…sy den angebotnen newen Kauff nit allain nit annemen noch E. Ro. Kay. Mt. verhindern wollen, sich derhalben mit andern zu vergleichen, sonder das sy auch darzue E. Ro. Kay Mt. jr Gerechtigkhait ganzlich zu ubergeben, sich gehorsamlich und guetwillig angeboten haben.” By 1565, though still in desultory negotiation with the Habsburgs, the Herwart brothers had abandoned the mercury business. One might wonder why they exited the market, given the extraordinary profits they had long earned and stood still to earn, even under less favorable terms. The report of Georg Jlsung makes clear that a crisis was building in the mercury mar  53 Österreiches Staatsarchiv Wien, Finanz- und Hofcammerarchiv, Innerösterreichische Mizelle und Briefe, 134/2. Georgen Jlsungs Landvogts Relation, Bericht und Guetebedunckhen aller Handlung, so er von wegen des Queckhsilberkauffs mit den Herwarten zu Augspurg gepflegen, 26 Aprillis 1562. 54 Österreiches Staatsarchiv Wien, Finanz- und Hofcammerarchiv, Innerösterreichische Mizelle und Briefe, 134/3. Verzaichnus und Abredt, was massen die lang schwebendt Jrrung zwischen der Ro. Kay. Mt. unnserm allergenedigisten Herrren und Herrn Hanns Pauls und Hanns Hainrichen den Herwarten Gebruedern des Queckhsilber und Zinober Kauffs halben jn Jdria durch seiner Ro. Kay. Mt. Rat und Landvogt in Schwaben, Georgen Jlsung den 26. Tag Mai Anno 62 bis auf seiner Ro. Kay. Mt. Ratification verglichen und ain newe Kauffshanndlung beschlossen worden jst, wie volgt. 55 Österreiches Staatsarchiv Wien, Finanz- und Hofcammerarchiv, Innerösterreichische Mizelle und Briefe, 134/3. Brief des Georg Jlsung an Kaiser Ferdinand, May 22 1564.

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ket. Business intelligence had circulated in the mercantile community since 1562 that the Fugger company was about to reopen the mines at Almadén. This occurred in 1563 and reached such a level “das sy [die Herren Fugger, tms] nit allain Jndien sonder die anndere umbligende Landt als Franckhreich, Niderlandt und Engelandt mit Queckhsilber und Zinober genuegsamlich providieren khunden, dernalben dann der Koenig von Spanien verpoten, bey Verlierung Leyb und Guets khain frembdes Queckhsilber in Spanien zu fueren, dasselb auch taglich in Niderlandt auch thuen mocht, also das hinfuro khain Contrabande mer gebraucht werden kindt, und die Jdrianische Queckhsilber gar steckhen bleiben, und dardurch wider auf den alten Preiss khomen muessten….” The existing glut on the market that had prevented the Herwarts from selling their reserves was about to become much worse. Prices were going to fall. Still, as Ferdinand and his counselors reasoned, other merchants might yet enter the business, attracted to a trade that remained profitable, if less spectacularly so. In this they miscalculated. Jlsung had long negotiated with various Augsburg merchant-financiers eventually to take over the Herwarts’ mercury trade. Aware of developments at the Almadén mine and their impact on mercury prices, all now demurred. Melchior Manlich, for example, one of the cities wealthiest and most experienced mining entrepreneurs, not only refused to go into business, but baldly mocked the idea: “…es hat sich auch beruerter Manlich so gar lustiger erzaigt, das jch verhofft hab, den Cenntner gar auf 100 Taller zu bringen, also das jch mich seinethalben genzlich darauf verlassen und mich ausser solcher seiner lauttern Vertrosstung in khain Handlung eingelassen noch solches E. Ro. Kay. Mt. angezaigt haben wolt….” Quite apart from softening prices, the costs of market entry had also to be considered. These monopoly purchase agreements involved advanced payments. Merchants paid for their mercury, then waited for delivery. In essence, they loaned money to the mine operators. This meant that the merchant had to have capital reserves to bridge the sometimes lengthy period between purchase and sale. Or he had to have access to credit. Such things were hard to find in 1563. As noted, the credit markets of Augsburg experienced a series of massive bankruptcies that year. The Manlich themselves had taken heavy losses. Jlsung reported his conversation with Melchior Manlich: Darauf er mir angezaigt, wie die so mit jme in diser grossen Handlung haben anligen wollen, dermassen abwegig gemacht worden sein sollen, das sy sich dismals neben jme verner nit einlassen wollen. Ueber das, so hat sich Christoff Manlich sein Vetter seither Pancarotta gespilt und nit allain die Manlichischen Erben, sonder jn selbst auch dermassen verruefft gemacht, das er, wie geren er gleich wollte, dismals zu khainem Gelt kommen kindt, noch sich ainer so grossen Handlung bis die Leuff etwas stiller werden, underfachen dorff, sonder all seine Wahren zu Gelt machen muess, damit er das Gelt so jme taglich abgekundt wirdt, bezallen und Traw und Glauben erhalten mog.

This was the same crisis that brought David and Hans Georg Paumgartner’s mismanagement to its final crisis and consequences. Markus Ulstett and Brothers, Paul Kramer, Bernhard and Philipp Meuting, Jakob Herbrot, with whom David Paumgartner was critically involved, and Hans Jakob Fugger all ceased payments.

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As noted, it was a catastrophe for Augsburg commerce and finance. The causes of so many failures are complex, depending on the specific capabilities, commitments and circumstances of the individual merchants and their companies. A common factor was the great state bankruptcies of France in 1557 and Spain in 1560. Merchants who had loaned money to these princes found themselves unable to collect, which affected their ability to pay their own creditors. As a result, to return to the observations of our imperial official, “…dan nit woll zu glauben, wie sich die Handlungen alhie under den Kauffleuthen so gar geshwindt under ainest verendert, also das weder Vater noch Sohn noch Bruedr und Vettern ainander mehr trawen noch ainer Gedult mit den andern haben wollen, derhalben jch dann nach Gelegenhait jetziger shweren Leuff wenig Hoffnung….” And yet, “Jch stell aber in khainen Zwayfel, so diser jetzt furgegangnen Pancarotten vergessen wurdet und der Manlich wider zu Gelt khomen khan, oder Beschaidt von seinen Leuthen erlangt, jch well als dann die Weg finden, wo jch shon die gemelten Queckhsilber, gleich nit so hoch als jch verhofft, hinbringen kindt, das jch dannocht ain nutzliche und guete Handlung treffen moeg.” The current crisis would pass; a change in the market would bring a change of fortune. For all their caution, even the Herwarts did not escape completely. A single document, a cessio bonorum, contracted by Hans Paul Herwart and his creditors on 3 January 1576, signals his bankruptcy.56 It reiterates an earlier, no longer extant, agreement of 15 August 1574, in which “…herrn Hainrichen Rehlingeren zu Radau, gewesen stattpflegern zu Augspurg seliger gedechtnus, herrn Hannss Hainrichen und Herrn Hans Jacoben den Herwarten gebrüdern, herrn Stephan Endortfern, herrn Johann Baptista Hochstetern, Hansen Waiblingern, und deren jedem besonder, ansechenliche summen gelts schuldig worden, wellice sy verschinen vierundsibenzigisten jars auf sein herrn Hannss Paulus Herwarts freundlich bitt lenger bey im ligen zu lassen bewilligt, daher er inen dann umb soliche ire schulden und derenhalb verschribnen interesse alle seine in und auβerhalb der statt Augspurg habende liegende güeter, keins uberal davon aussgenomen, mit allen derselben renten, zinsen, nuzungen, gülten, ein und zugehörungen, darzu alle schulden und zins, so man ime vermug seiner schuldbücher, und sonst zuthuen, sambt andern in hernachbenanter seiner verschreibung ferner angezaigten stücken, haab und guetern, rechten und gerechtigkeiten, zu irn rechten warn wesenlichen underpfanden eingesetzt und verschriben, mit dem fernern versprechen und zusagen, was er uber kurz oder lange zeit an seinen schulden einbringne oder sonst mit ir der glaubiger vorwissen verkauffen und zu gelt machen kunde, das solches alles allain zu abzalung der schulden, so ime alberait abgekundt seien oder noch ankhundt warden mechten, und dann obvermelten seinen glaubigern inn abschlag irer schuld und einem jeden pro rata angelegt, entricht und bezalt warden soll, damit zy obvermeltere irer schuld inner drey oder zum lengsten vier jarn genzlich entricht und bezalt warde….” Unlike Ambrosius   56 Hans-Wolfgang Herwarth von Bittenfeld, Fünf Herwarthische Urkunden, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben, 9 (1882), 117–157.

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Höchstetter the Elder and Hans Georg Paumgartner, Hans Paul Herwart negotiated. In addition to this inner circle of six principle creditors, a larger group of at least thirty common creditors (gemainen glaubigern), which included such eminent figures as the brothers Marx and Hanns Fugger and Freiherr Karl Welser, also claimed debts owed them. To all these, Hans Paul Herwart promised within three or four years’ time “…denselben jez alssβbald und was in kunfftig von ime herren Hanns Paulus Herwart oder seinen haab und guetern einbrach wurd, ansteen und vergnuegt sein wellen.” His wife’s property, that which she brought to their marriage in the form of dowry or received during their marriage as inheritance from her family, stood apart from this agreement, protected from the demands of her husband’s creditors by the so-called weibliche Freiheit. Likewise reserved for her was the estate at Hohenburg with its furnishings, so that the family would not suffer homelessness. All other properties, real and moveable, went to the creditors. These included the houses and gardens in Augsburg, the estate at Hainhoven, the factory in Antwerp, the content of cellar Nr. 36 at the Fondaco dei Tedeschi in Venice, the debts owed him by Melchior Manlich the Elder, all commodities, cash and accounts receivable in France and all cash and capital in Augsburg. The creditors would aggregate their demands into a single lump sum, a principle that would collect interest at five percent per annum beginning on 1 February 1576 until final payment. Any remaining capital would revert to the bankrupt. “Es soll und will auch herr Hannss Paulus Herwart yeder zeit fur sich selbst und sonderlich wann er desshalben ersuecht wurdet, sovil ime immer muglich sein kann, mit rath und that die sach dahin richten und befurdern helffen, damit alle schulden bald und mit wenigsten costen eingebracht, auch alles annders zu abzalung der creditorn mit erstem nuzlich verendert und zu gelt gemacht werde, inmassen er dann versprochen und zugesagt hat, an dem allem seines tails keinen fleis, mue oder arbait zu sparen,nicht weniger als ob es alles ainig und allain in seinem nuz und im zu guetem gehandelt wurde.” The cessio bonorum does not record the total amount of Hans Paul’s indebtedness or how much he owed to each creditor. The fragmentary evidence suggests nonetheless that it was substantial. With the signing of the contract, “…soll aller unwell, so sich zwischen herrn Hanns Paulus Herwart und allen seinen glaubigern in diser ganzen handlung zugetragen hat, allerdings aufgehebt, todt und ab sein.” No further record of conflict exists. It seems unlikely that any arose. After the settlement, Hans Paul surrendered his citizenship in Augsburg and moved to his estate, Hohenburg, in Upper Bavaria. His descendants, including his son, the noted polymath Hans Georg (1553–1622), would become counselors of state in Bavaria, where they survive to this day. Yet, the crisis was real. The loss of monopoly control of the mercury market, the softening of prices for the commodity, the collapse of financial markets across Europe all signaled an at least partially unexpected development that created high levels of uncertainty, threatened individual and corporate goals and transformed the circumstances of doing business. Different, in this case, was the response. Rather than hold stubbornly, even irrationally, to long-cherished ways and means, as the Höchstetters and Paumgartners appear to have done, the Herwarts negotiated

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changing circumstances coolly and effectively. They exited a market that seemed no longer profitable, and they settled their obligations without apparent loss of freedom or status. With their fortunes secured—politically, socially and economically speaking—one might say that here is an instance in which “crisis” resulted in transformation and improvement. Where does all of this leave bankruptcy? It does not always rise to the level of crisis. That of the Herwarts seems minor in comparison to those of the Höchstetters and Paumgartners. Hans Paul experienced fame and fortune reduced, perhaps, but hardly ruined. Ambrosius Höchstetter died in debtor’s prison, and his family required generations to recapture even a pale reflection of their former stature. The Paumgartner brothers and their families ceased quite simply to exist. For them, at least, bankruptcy seems to have signaled a crisis that resulted in collapse. Yet, such generalizations and comparisons obscure far more than they reveal. Each crisis is unique. Were we to review three hundred instead of three, the result would remain unchanged. They all vary in detail, in their causes, courses and consequences. The Höchstetters could be described as the victims of misfortune; they could neither foresee nor prevent the failure of their monopoly strategy or the losses on highway and at gaming table. The Paumgartners succumbed to their own mismanagement; they recklessly alienated assets and accumulated debts. And, of course, the Höchstetters and Paumgartners refused to negotiate. Not so the Herwarts. Their exit from the mercury trade and Hans Paul’s bankruptcy less than a decade later may well have resulted from the contraction of capital markets that prevented the Herwarts from selling their mercury and threatened their financial interests. Yet, they appear to have managed their “crisis” more successfully, in terms of the personal or familial consequences, than the other three. This essay refers several times to “frame of reference.” Derived from physics, the term indicates a coordinate system, used to represent and measure the properties of objects, such as their position and orientation, at different moments of time. It also refers to the relationship between the object or phenomenon observed and the observer, who is assumed to be likewise in motion, with the result that the relationship between them is understood to be contingent upon their locations at distinct points in time and space. Crucial to physical science, the relativity of the relationship between the observer and the observed, between the historian or the historical source and the event in the past, creates a different set of problems. In the case of crises past or present, it signals a lack of analytic rigor. For whom is an event a crisis? By what measure is an event a crisis? Political theorists commonly refer to political crises as events that engage the attention and energy of political agents or policy makers. Beyond this sphere, the crisis may escape notice. The same applies to economists and economic crises. At their most severe, crises may have far reaching results, but there are also always groups who benefit. Thus, the notion of “crisis” applies only in a specifically defined, not generally understood, context or circumstance. Historians should take note.

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The Reformation is a case in point. The historical event resulted from a crisis of conscience—the failure of Christian religious practices to reflect the example and teaching of Jesus of Nazareth—felt by many. It caused a crisis—the rapid spread of non-Christian, sinful behavior and teaching among those who professed faith in that same Jesus of Nazareth—for many others, however. For still others, the crisis was less one of faith than one of practice or policy, the failure of church governance or the collapse of social order, for example. To apply the term generally is to privilege one set of voices over another, one frame of reference over another, an act that requires at the very least a careful, explicit justification. The state bankruptcies of Spain and France in the mid-sixteenth century derived in part from confessional and dynastic policies that over-taxed state treasuries. Once again, these were crises for the particular states and their partners, but not necessarily for all. Nor did they all experience it in the same manner or to the same degree. The crisis was felt beyond Madrid or Paris in the financial centers of Europe, some more than others. In Augsburg, it contributed to a series of bankruptcies and a tightening of credit that spelled crisis for some firms, such as the Manlich, and created opportunity for others, such as the Herwart. Beyond these exalted circles, the “crisis” may have been felt little or not at all. Those individual bankruptcies, whether or not related to larger developments in capital markets, were truly critical only for the bankrupts, their families and their creditors. Even at this level, however, too much depends on the specificities of the case. The Höchstetter bankrupcty appears to have caused widespread financial unease; its lack of resolution likely spelled crisis for many other families and firms. The Paumgartners’ collapse appears to have had consequences that were more social than strictly economic. Hans Paul Herwart’s insolvency seems far removed from either case; the notion of a “crisis” hardly applies. And, in any case, as Georg Jlsung reminded his prince, the consequences of such “crises” were ephemeral: “Jch stell aber in khainen Zwayfel, so diser jetzt furgegangnen Pancarotten vergessen wurdet und der Manlich wider zu Gelt khomen khan, oder Beschaidt von seinen Leuthen erlangt, jch well als dann die Weg finden, wo jch shon die gemelten Queckhsilber, gleich nit so hoch als jch verhofft, hinbringen kindt, das jch dannocht ain nutzliche und guete Handlung treffen moeg.” Mercury runs through these three stories, these three “crises,” like a common thread. It is a fascinating, even seductive, commodity, the only liquid metal. Mined in very few places in the world, it was rare and, therefore, precious. It could exist in all forms, becoming a solid when mixed with other substances and evaporating into gas when heated. Rare and precious, fluid and changeable, seductive and dangerous, mercury offers thus an apt symbol for capital and capitalism in the early modern period. Capital, too, is a fluid entity. It changes form, moves from place to place, but it is rarely lost or destroyed in its entirety. Rather, as the study of bankruptcy demonstrates, it flows from place to place, hand to hand. Obligations, properties and goods are surrendered in payment of debts. Businesses are taken over by new proprietors, but production, exchange and consumption do not cease. Status and honor may suffer, but they also recover. Viewed thus as an

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exogenous event, as economists and economic historians usually view their subject, bankruptcy hardly constitutes a “crisis” at all. Observers and scholars too often evoke notions of “crisis,” whether explicitly or implicitly, for political purposes. Karl Marx could not fail to recognize that capital “is destructive towards all of this, and constantly revolutionizes it, tearing down all the barriers which hem in the development of the forces of production.”57 It moves thus the course of history forward. On the other side of the barricade, Joseph Schumpeter called particular attention to “creative destruction,” his vision of capital “incessantly revolutionizes the economic structure from within, incessantly destroying the old one, incessantly creating a new one.”58 Though it undermines social relations and moral values, the benefits of increased prosperity nonetheless outweigh the costs in human suffering. Clemens Sender, civic chronicler, Benedictine monk and catchpenny moralist, could not resist making a homily of Ambrosius Höchstetter. His opportunistic business practices led him to “crisis”; his “crisis” should teach us to do better. Latter-day critics have found other homiletic opportunities. Wilhelm Krag upheld this tradition, when he wrote of David Paumgartner’s faible for courtly power and extravagance. Had he avoided profligacy, maintained his father’s frugality, he might have avoided “crisis”; we should learn from his example. Only Hans Paul Herwart escaped this kind of instrumentalism. The relative quality of “crisis” and its ideological utility should serve as a warning to scholars. If we are to pay more than lip-service to agency in the past, if we wish to clothe homo economicus in flesh and blood, then we should use such rubrics with real caution. Failure to do so, failure to comprehend the human comedy and tragedy in economic life, spells real crisis. Prof. Dr. Thomas Max Safley, Philadelphia, PA

  57 Karl Marx, Grundrisse, New York 1993, IV, 409–410. 58 Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942, 83.

PROPERTY, THEFT, COVETING AND DEBT IN MARTIN LUTHER’S CATECHISMS Lee Palmer Wandel Diese predigt ist dazu geordnet und angefangen, das es sey ein unterricht fur die kinder und einfeltigen. Darümb sie auch von alters her auff Griegisch heisset Catechismus, das ist ein kinderlere, so ein yglicher Christ zur not wissen sol, also das wer solchs nicht weis, nicht kuende unter die Christen gezelet und zu keinem Sacrament zugelassen werden. Gleich wie man einen handwercks man, der seines handwercks recht und gebrauch nicht weis, aus wirffet und fur untuechtig helt. Derhalben sol man iunge leute die stuecke, so ynn den Catechismum odder kinder predigt gehoeren, wol und fertig lernen lassen und mit vleis darynne uben und treiben.1

In 1529, Martin Luther published two catechisms, The German Catechism, or what became known as The Large Catechism, and the Enchiridion in Latin or The Small Catechism in German, the titles reflecting the relative sizes and detail of the two works.2 Both had their origins in sermons, most immediately three series of sermons he had preached the preceding year, but also more fundamentally: catechetical instruction, since its beginnings in the third century, had been oral.3 Ambrose had preached catechetical sermons.4 Aquinas had preached catechetical sermons.5 When Luther published what became known as his catechisms, he himself called them sermons. The modern sense, that a “catechism” is a printed object, has its origins in the sixteenth century, when dozens of preachers, Evangelical and Catholic, took up the recent technology of print to build Churches comprising persons who were, by the end of the century, scattered around the world.6 By the end of the century, that 1 2 3 4 5 6

Vorrhede, “Deudsch Catechismus. (Der Große Katechismus). 1529.” D. Martin Luthers Werke, Vol. 30, 1 (Weimar, 1910) [Hereafter WA 30,1], 129. The following draws, in part, on my forthcoming study of sixteenth-century catechisms. On Luther’s catechisms, see foremost Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, 5 vols., Göttingen 1990–94. Christoph Weismann, Eine kleine Biblia: Die Katechismen von Luther und Brenz, Einführung und Texte, Stuttgart 1985, pp. 13–18. Bonaventura Parodi, La catechesis di Sant’ Ambrogio: Studia di pedagogia pastorale, Genoa 1957. The Catechetical Instructions of Saint Thomas Aquinas, trans. Joseph B. Collins, Baltimore 1939 @ The Catholic Primer); Nicholas Ayo, C.S.C., Introduction, translator, and editor, The Sermon-Conferences of St. Thomas Aquinas on the Apostles’ Creed, Notre Dame 1988. For general histories of catechesis, see Peter Göbl, Geschichte der Katechese im Abendlande vom Verfalle des Katechumenats bis zum Ende des Mittelalters, Kempten 1880; A. Läpple, Kleine Geschichte der Katechese, Munich 1981; Robert Ulrich, A History of Religious Edu-

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scattering meant that the codex might be the sole object where a person would find “what every Christian needed to know,” as Luther wrote, in order to be counted a Christian and admitted to the sacraments. The codex, as the modern American translation now has it, “contained” what a person needed to know to be a “Christian.”7 Learning the codex became, in the sixteenth century, essential to being a member of a Church, a formally constituted and doctrinally differentiated transregional community. Luther was not the first or even the first Evangelical to publish a catechism.8 But like other authors of catechisms that formed and informed Churches, Peter Canisius,9 John Calvin,10 and the authors of the Heidelberg Catechism,11 Luther recognized that a printed object could travel where sermons might not be possible or permitted. The codex could form communities the members of which were dispersed, scattered across the face of the earth. It could travel away from schools and the physical location of churches – the traditional sites of catechesis. It could cation: Documents and Interpretations from the Judeo-Christian Tradition, New York 1968. A number of reference works provide a synopsis of the history; the most helpful of those is The New Schaff Herzog Encyclopedia of Religious Knowledge, vol. II, 440–42: http:// www.ccel.org/ccel/schaff/encyc02/Page_440.html (last accesssed 19.2.2015, 8.41 p.m.). 7 Martin Luther, “The Large Catechism,” in Robert Kolb and Timothy Wengert (eds.), The Book of Concord: The Confessions of the Evangelical Lutheran Church, Minneapolis 2000, 383. 8 Ferdinand Cohrs, Die Evangelischen Katechismusversuche vor Luthers Enchiridion, 5 vols., Berlin 1900–7. 9 On Peter Canisius’s catechisms, see Friedrich Streicher, S.J., S. Petri Canisii Doctoris Ecclesiae Catechismi Latini et Germanici, Part. 1: Catechismi Latini, Prolegemenon VIII, Rome 1933, and Part 2: Catechismi Germanici, Prolegemenon II, Rome 1936; Hubert Filser and Stephan Leimgruber (ed. and comment), Petrus Canisius Der Große Katechismus: Summa doctrinae christianae (1555), Regensburg 2003; Paul Begheyn, S.J., Petrus Canisius en zijn catechismus: De geschiedenis van een bestseller, Museum Het Valkhof, Nijmegen 2005. 10 On John Calvin’s Catechisms, see Olivier Fatio (ed.), Confessions et catéchismes de la foi réformée, Geneva 1986, 26–28; Matthias Freudenberg, “Catechisms,” trans. Judith J. Guder, in: Herman J. Selderhuis (ed.), The Calvin Handbook, Grand Rapids 2009, 206–14; Paul Jacobs, Theologie Reformierter Bekenntnisschriften in Grundzügen, Neukirchen 1959, 24–36; Rodolphe Peter, Jean Calvin Deux Congrégations et Exposition du Catéchisme [Cahiers de la Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 38], Paris 1964, xxv–xxvii; Jean-Pierre Pin, Pour une analyse textuelle du catechism (1542) de Jean Calvin, in: W. H. Neuser (ed.), Calvinus Ecclesiae Doctor, Kampen 1978, 159–70. 11 On the historical background of the Heidelberg Catechism and its relationship to Luther’s catechisms, see Lyle D. Bierma (ed.), An Introduction to the Heidelberg Catechism: Sources, History, and Theology, Grand Rapids 2005, Part 1: Essays on the Heidelberg Catechism, Philadelphia 1963; J.F.G. Goeters, Entstehung und Frühgeschichte des Katechismus, in: Lothar Coenen (ed.), Handbuch zum Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1963, 3–23; Walter Hollweg, Neue Untersuchungen zur Geschiche und Lehre des Heidelberger Katechismus [Beiträge zur Geschichte der Reformierten Kirche 13], Neukirchen 1961; A. Lang, Der Heidelberger Katechismus und vier verwandte Katechismen [Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 3], Leipzig 1907, Introduction; Joachim Staedtke, Entstehung und Bedeutung des Heidelberger Katechismus, in: Walter Herrenblick and Udo Smidt (eds.), Warum wirst du ein Christ genannt?, Neukirchen-Vluyn 1963, 11–23.

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travel, as he wrote explicitly, into the home, become embedded in the rhythms of domestic time and in the patterns and connotations of speech within the home. It could be that which children, spouses, and servants heard before going to bed and it could teach them to affiliate words at the very center of domestic life – property, bread, debt – with Christian texts. It could bind the worlds of hearth and altar in new and powerful ways. All sixteenth-century catechisms were intended to become embodied, to dissolve the material distinction between codex and person. Luther’s catechisms sought something more. They expressly sought to teach the inseparability of the world of things, of stuff, of property, from Christian life. It was not simply that catechesis could take place within the domestic sphere – in a space not consecrated to worship or dedicated to instruction. Catechesis was to teach each person to see that the mundane, in all its materiality – shoes and furniture, clothing and housing – and in all its transactions, was both divine in origin and governed by Christian ethics and doctrine. There was no place, the catechumen was to learn, that was not governed by Christian teaching. One of the ways catechisms sought to teach different understandings of “Christianity” was the choice of texts contained in the codex. Luther’s catechisms contained the Ten Commandments, the Apostles’ Creed, the Lord’s Prayer (but not the Ave Maria), narratives drawn from the Gospels for the two sacraments of baptism and the Lord’s Supper, and often, an admonition to confess. Another way was the setting of those texts in a particular order. Catholic catechumens, for example, normally learned the Apostles’ Creed first, as did catechumens of the Genevan Catechism. Catechumens of Luther’s catechisms, however, learned the Ten Commandments first, for reasons that Luther explained12: Solchs (sage ich nu) ist nutz und not dem iungen volck ymmer furzuhalten, vermanen und erynnern, auff das sie nicht allein wie das viech mit schlegen und zwang sondern ynn Gottes furcht und ehre auffgezogen werden. Denn wo man solchs bedencket und zuhertzen nympt, das es nicht menschen tand sondern der hohen Maiestet gepot sind, der mit solchem ernst drueber helt, zuernet und straffet die sie verachten, und widderuemb so uberschwenglich vergilt denen die sie halten, daselbs wird sichs selbs reitzen und treiben gerne Gottes willen zuthuen. Daruemb ist nicht umbsonst ym Alten Testament gepoten, das man sole die zehen gepot schreiben an alle wend und ecken, ia an die kleider, nicht das mans allein lasse da geschrieben stehen und schawtrage, wie die Jueden theten, sondern das mans on unterlas fur au12 In their spatialization of texts, Luther’s catechisms teach Luther’s understanding of Christian history, the movement from Old Testament to the New, and of human salvation, from Law to Grace. See Timothy J. Wengert, Martin Luther’s Catechisms: Forming the Faith, Minneapolis 2009, pp. 4–9. Albrecht Peters characterizes scholarship on the ordering of Luther’s catechisms as divided between those arguing an “inner progression of thought” – primarily Gerhard von Zezschwitz and Theodosius Harnack – and those arguing “loosely connected blocks,” Albrecht Peters, Commentary on Luther’s Catechisms: Ten Commandments, Saint Louis 2009, 41. Peters himself argues: “Luther neither offers a systematic ordo salutis (Moses—Christ—Spirit) nor did he place the individual chief parts side by side in an isolated manner. Rather, the reformer by means of that triad opens for us the eschatological path of Christendom and the individual believer, from our being creatures to the final completion.” (p. 50).

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gen und ynn stettem gedechtnis habe, ynn alle unserm thuen und wesen treiben, Und ein yglicher lasse es sein tegliche ubung sein ynn allerley fellen, gescheffte und hendeln, als stunde es an allen orten geschrieben, wo er hyn sihet, ia wo er gehet odder stehet. So wuerde man beide fur sich daheym ynn seinem haus und gegen nachbarn ursach gnug finden die zehen gepot zutreiben, das niemand weit darnach lauffen duerffte.13

In Luther’s catechisms and those modeled on his, such as those of Johannes Spangenberg and Lucas Lossius, catechesis,14 the process of becoming a “Christian” who would be recognized as such and be admitted to the sacrament of the Lord’s Supper, began with God’s commandments. That process was first to inculcate God’s commands, “to keep them incessantly before our eyes and constantly in our memory and to practice them in all our works and days.” As The German Catechism taught, the Ten Commandments were to become a praxis: what a Christian did every day of her or his life. I. The Ten Commandments Luther kept the traditional numbering and divisions of the Mosaic text15: Die Zehen gepot Gottes. Das Erste: Du solt kein andere Goetter haben neben mir. Das Ander: Du solt den namen Gottes nicht vergeblich fueren. Das Dritte: Du solt den feyertag heiligen. Das Vierde: Du solt vater und mutter ehren. Das Fuenfte: Du solt nicht toedten. Das Sechste: Du solt nicht ehebrechen. Das Siebende: Du solt nicht stelen. Das Achte: Du solt kein falsch zeugnis reden widder deinen nehisten. Das Neunde: Du solt nicht begeren deines nehisten haus. Das Zehend: Du solt nicht begeren seines weibs, knecht, magd, viech odder was sein ist.16

13 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus), 1529.” WA 30,1, 181–2. 14 See, for example, Johannes Spangenberg, Der Gros // Catechismus // und Kinder Lere / // d. Mart. Luth. // Fur die jungen Christen / jnn Fra=//gestuecke verfasset (Wittenberg: Georg Rhaw, 1541); Lucas Lossius, Catechismus, // HOC EST, CHRISTIANAE // Doctrinæ Methodus. // ITEM, // OBIECTIONES IN // EVNDEM, VNA CVM VERIS // & breuibus earum Solutionibus, ordine // certo & perspicuo insertae, Frankfurt: Christianus Egenolphus, 1553. 15 On the Ten Commandments in Luther’s catechisms, see especially Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen: Die Zehn Gebote, Göttingen 1990. On Luther and the Old Testament more generally, see Heinrich Bornkamm, Luther und das Alte Testament, Tübingen 1948. 16 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus), 1529.” WA 30,1, 130.

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Luther did not keep what had become the traditional framing of the Ten Commandments. With the rise of the mendicant orders and penitential theology, the Ten Commandments had become a template for confession, a list for determining what in one’s conduct had been a transgression, needed to be confessed.17 For Luther, the Ten Commandments leret wol, was wir thuen sollen, [Der Glaube] aber sagt, was uns Gott thue und gebe. Die zehen gepot sind auch sonst ynn aller menschen hertzen geschrieben, den glauben aber kan keine menchliche klugheit begreiffen und mus allein vom heiligen geist geleret werden. Daruemb machete ihene lere noch keinen Christen, denn es bleibt noch ymmer Gottes zorn und ungnade uber uns, weil wirs nicht halten koennen was Got von uns fodert.18

No person could keep the Ten Commandments; the faith that fostered the desire to keep them was a gift of divine grace. In the The Small Catechism, catechesis of each of the commandments began “We are to love and fear God” [Wir sollen Gott furchten und lieben]. A Christian’s actions and thoughts, in following each, were to be motivated by love and fear of God, the knowledge of God’s justice and mercy intertwined.19 In The German Catechism, the catechesis of the Ten Commandments was longer and more detailed than any of the other four parts of the catechism: the Creed, the Lord’s Prayer, Baptism, or the Lord’s Supper. Catechesis in both The German Catechism and the Small Catechism moved from one commandment to the next, explicating each. In The German Catechism, Luther also taught the catechumen that division of the commandments which Augustine had articulated: Bis her haben wir die ersten drey gepot gelernet, die da gegen Gott gerichtet sind: Zum ersten, das man yhm von gantzen hertzen vertrawe, furchte, und liebe ynn alle unserm leben. Zum andern, das man seines heiligen namens nicht misbrauche zur luegen noch einigem boesen stuecke, sondern zu Gottes lob, nutz und selickeit des nehisten und seiner selbs. Zum dritten, das man an der feyer and ruge Gottes wort mit fleis handle und treibe, auff das alle unser thuen und leben darnach gehe. Folgen nu die andern siebene gegen unserm nehisten gestellet, unter welchen das erste und hohiste ist: DU solt dein vater und mutter ehren.20

17 See, for example, Marquard von Lindau, O.F.M., Das Buch der zehn Gebote, Venice 1483, ed., with Introduction and Glossary, Jacobus Willem van Maren, Amsterdam 1984; Marquard von Lindau, Die zehe Gebot, Strasbourg 1516 and 1520: Ein katechetischer Traktat, ed. with notes, Jacobus Willem van Maren, Amsterdam 1980; Henricus de Frimaria, De decem preceptis, ed. Bertrand-G. Guyot, O.P., Pisa 2005; Andrew Chertsey, Jhesus. // The floure of the commaundementes of god with many exam=//ples and auctorytees… London: Wynkyn de Worde, 1510. According to Bert Roest, Die zehe Gebot’s “main source was the De Decem Preceptis by the Augustinian Hermit Heinrich von Friemar,” Franciscan Literature of Religious Instruction before the Council of Trent, Leiden 2004, 248. 18 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 192. 19 Cf. Lee Palmer Wandel, Love and Fear in Reformation Catechisms, in: Saeculum 11/1 (2011), 57–72. 20 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, p. 146.

Property, Theft, Coveting and Debt in Martin Luther’s Catechisms

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In Luther’s catechesis of the Ten Commandments, the prohibitions of theft and coveting fell under the category of relations to one’s “neighbor.” As had been explicit in his sermons on usury,21 humankind’s relationship to things was subsumed beneath the command to love ones’ neighbor. In the structure of Lutheran catechisms, two relationships – to God, absolutely and definitively, and then to one’s neighbor – the one preeminent, the other subservient to it, governed humankind’s relations to the world: economic, social, and political. Three Commandments of the seven concerning relations with one’s neighbor explicitly treated property: the Seventh, Ninth, and Tenth. In all, property was a part of the relationship to one’s neighbor. As the catechumen learned, love of neighbor encompassed one’s neighbor's property. Ia. The Seventh Commandment Du solt nicht stelen. Was ist das? Antwort. Wir sollen Gott fuerchten und lieben, das wir unsers nehisten gellt odder gut nicht nemen noch mit falscher wahr odder handel an uns bringen, sondern yhm sein gut unnd narung helffen bessern und behueten.22

In the Small Catechism, the transgression of the Seventh Commandment resided not in taking something that one did not own rightfully, but taking it from one’s neighbor. The commandment presented the relationship with one’s neighbor as mediated through things. It encompassed both theft and practices that were legal, but, the catechisms taught, not moral. The German Catechism began its catechesis of the Seventh Commandment differently: DU solt nicht stelen. Nach deiner person und ehlichem gemahl ist zeitlich gut das nehiste, das wil Gott auch verwaret haben, und gepoten, das niemand dem nehisten das seine abbreche noch verkuertze. Denn stelen heisset nicht anders den eins andern gut mit unrecht zu sich bringen, damit kuertzlich begriffen ist allerley vorteil mit des nehisten nachteil ynn allerley hendeln. …Denn es sol (wie itzt gesagt) nicht allein gestolen heissen, das man kasten und taschen reumet, sondern umb sich greiffen auff den marckt, yn alle kreme, scherren, wein und byr keller, werckstete und kuertzlich, wo man hantieret, gelt und wahre oder arbeit nimpt und gibt.23

21 See, for example, Eyn Sermon von dem Wucher (Wittenberg, 1519). 22 “Der Kleine Katechismus. 1529.” WA 30,1, 286, 288. As the Weimar edition makes explicit by setting four separate texts side-by-side on the pages, The Small Catechism varied considerably and significantly in its teaching of specific parts of the texts, even as all the editions preserved Luther’s overall structure. 23 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 163–4.

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The German Catechism then listed examples: the servants who, through laziness, “permit damage to be done,” the artisans and day laborers who overcharge “and yet are careless and unreliable in their work,” who are worse than “sneak thieves,” “For these are my neighbors, my good friends, my own servants – from whom I expect good.” 24 So, too, “at the market and in everyday business the same fraud prevails in full power and force.” “Stealing” encompasses fraudulent practices: “defective merchandise, false weights and measures, and counterfeit coins…deception and sharp practices and crafty dealings”; “one swindles another in trade and deliberately fleeces, skins, and torments him.” Das sey gnug davon gesagt, was stelen heisse, das mans nicht so enge spanne sondern gehen lasse, so weit als wir mit dem nehisten zuthuen haben, Und Kurtz ynn ein Summa wie ynn den vorigen zufassen, ist dadurch verpoten erstlich: dem nehisten schaden und unrecht zuthuen (wie mancherley weise zurdencken sind habe und gut abzubrechen, verhindern und furzuhalten) auch solchs nicht bewilligen noch gestadten, sondern wehren, verkomen, Und widderuemb gepoten: sein gut fordern, bessern und wo er not leidet, helffen, mitteilen, furstrecken beide freunden und feinden.25

Like the Enchiridion, The German Catechism subsumed the prohibition of theft to love of neighbor, but it expanded the notion of “stealing” to encompass far more – all economic activity, whether the labor of servants and artisans or financial or commercial transactions. Ib. The Ninth and Tenth Commandments In Luther’s Small Catechism, “coveting” encompassed acts: Das Neunde. Du solt nicht begeren deines nehisten haus. Was ist das? Antwort. Wir sollen Gott fuerchten und lieben, das wir unserm nehisten nicht mit list nach seinem erbe odder hause stehen und mit eym schein des rechtes an uns bringen etc. Sondern yhm dasselbige zu behalten forderlich und dienstlich sein. Das Zehende. Du solt nicht begeren deines nehisten weib, knecht, magd, vihe odder was sein ist. Was ist das? Antwort. Wir sollen Gott fuerchten und lieben, das wir unserm nehisten nicht sein weib, gesynd odder vihe abspannen, abdringen odder abwendig machen, sondern die selbigen anhalten, das sie bleiben und thun was sie schueldig sind.26

24 “The Large Catechism (1529),” in The Book of Concord (2000), 416. 25 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 168. 26 “Der Kleine Katechismus. 1529.” WA 30,1, pp. 288, 290.

Property, Theft, Coveting and Debt in Martin Luther’s Catechisms

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Those acts fell within the definition of “theft” that The German Catechism taught. In the Small Catechism, “covet” connoted tricking, enticing away, stealing—the antithesis of helping one’s neighbors to keep what is theirs. The German Catechism taught the two Commandments together. Catechesis began by distinguishing the last two from all the preceding: Diese zwey gepot sind fast den Jueden sonderlich gegeben, wiewol sie uns dennoch auch zum teil betreffen. Denn sie legen sie nicht aus von unkeuscheit noch diebstal, weil davon droben gnug verpoten ist, Hieltens auch dafur, sie hetten yhene alle gehalten, wenn sie eusserlich die werck gethan odder nicht gethan hetten. Daruemb hat Gott diese zwey hynzugesetzt, das mans auch halte fur sunde, und verpoten des nehisten weib oder gut begeren und keinerley weise darnach zustehen…27

It taught that human nature necessitated these two Commandments: Denn die natur so geschickt ist, das niemand dem andern soviel als yhm selbs goennet, und ein yglicher soviel er ymer kan zu sich bringet, ein ander bleibe wo er kan. Und woellen noch dazu from sein, koennen uns auffs feinste schmucken und den schalck bergen, suchen und dichten so behende fuendlin und schwinde griffe (wie man itzt teglich auffs beste erdencket) als aus dem rechten gezogen, thuren uns darauff kecklich beruffen und trotzten und woellen solchs nicht schalkeit sondern geschiedikeit und fursichtigkeit genennet haben.28

The German Catechism distinguished the Tenth Commandment further: Daruemb ist dis letzte gepot nicht fur die boese buben fur der welt, sondern eben fur die fromsten gestellet, die da wollen gelobt sein, redliche und auffrichtige leute heissen, als die widder die vorige gepot nichts verschulden, wie furnemlich die Jueden sein wolten und noch viel grosser Junckern, Herrn und Fuersten. Denn der ander gemeine hauffe gehoeret noch weit herunter yn das siedende gepot, als sie nicht viel darnach fragen, wie sie das yhre mit ehren und recht gewinnen.29

As with the earlier Commandments, The German Catechism summarized the last two, which had become one in catechesis: Also lassen wir diese gepot bleiben ynn dem gemeinen verstand, das erstlich gepoten sey, das man des nehisten schaden nicht begere, auch nicht dazu helffe noch ursach gebe, sondern yhm goenne und lasse was er hat, dazu foddere und erhalte was yhm zu nutz und dienst geschehen mag, wie wir wolten uns gethan haben. Also das es sonderlich widder die abgunst und den liedigen geitz gestellet sey, auff das Gott die ursach und wurtzel aus dem wege reueme, daher alles entspringet dadurch man dem nehisten schaden thuet.30

Covetousness, the focus of the Ninth and Tenth Commandments, was not simply essential to human beings. It was precisely “the cause and root” of all injuries to neighbor, to others.

27 28 29 30

“Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 174–5. Ibid. WA 30,1, 176. Ibid. WA 30,1, 176. Ibid. WA 30,1, 178.

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II. The Creed If the commandments, as The German Catechism taught, “accuse us and show just how upright we really are in God’s sight,” the Creed, it taught, uns fuerlegt alles, was wir von Gott gewarten und empfahen mussen, und (auffs kuertze zureden) yhn gantz und gar erkennen leret. Welchs eben dazu dienen sol, das wir dasselbige thuen koennen, so wir lauts der zehen gepot thuen sollen. Denn sie sind (wie droben gesagt) so hoch gestellet, dass aller menschen vermuegen viel zu gering und schwach ist die selbigen zuhalten.31

Luther broke with medieval teaching of the Creed32 – twelve articles, each one apostle’s contribution – and divided the Creed into three articles, in order to teach his understanding of the three persons of the Trinity: God the Creator, God the Redeemer, and God Who Makes Holy. Catechesis of the first article taught that all comes from God, here in the The Small Catechism: Der erste Artikel von der Schepffung Ich gleube an Gott den Vater almechtigen Schepffer hymels und der erden. Was ist das? Antwort. Ich gleube, das mich Got geschaffen hat sampt allen creaturn, mir leib unnd seel, augen, orn unnd alle gelieder, vernunfft und alle synne gegeben hat und noch erhelt, dazu kleider und schuch, essen und trincken, haus und hoffe, weib und kind, acker, vihe und alle gueter, mit aller notturfft und narung dis leibs und lebens reichlich unnd teglich versorget, widder alle ferlickeit beschirmet und fuer allem ubel behuet und bewaret, und das alles aus lauter Veterlicher, Goettlicher guete und barmhertzickeit on alle mein verdienst und wirdickeit, des alles ich yhm zu dancken und zu loben und dafuer zu dienen und gehorsam zu sein schueldig bin, Das ist gewislich war.33

The German Catechism also taught “everything we possess, and everything in heaven and on earth besides, is daily given, sustained, and protected by God.”34 Luther’s emphasis on the material – shoes and property – distinguishes his catechesis of the Creed from all other sixteenth-century catechisms. While Peter Canisius, John Calvin, and dozens of local preachers also taught God the Creator, they did not seek to stipulate at such length what “Creation” encompassed nor did they bring so many of the things of daily life into catechesis of the first article. 31 Ibid. WA 30,1, p. 182. 32 On the Apostles’ Creed, see Ferdinand Kattenbusch, Das Apostolische Symbol: Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche, Vol. I, Hildesheim, 1962 (original: Leipzig 1894); Friedrich Wiegand, Die Stellung des apostolischen Symbols im kirchlichen Leben des Mittelalters I. Symbol und Katechumenat [Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 4.2], Leipzig 1899; J.N.D. Kelly, Early Christian Creeds, 3rd ed., London 1972; Liuwe H. Westra, The Apostles’ Creed: Origin, History, and Some Early Commentaries, Turnhout 2002; Markus Vinzent, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung, Göttingen 2006. 33 “Der Kleine Katechismus. 1529.” WA 30,1, 292, 294. 34 “The Large Catechism (1529),” in The Book of Concord (2000), 433.

Property, Theft, Coveting and Debt in Martin Luther’s Catechisms

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III. The Lord’s Prayer As with the Ten Commandments, Luther had preached sermons on the Lord’s Prayer a decade earlier, in Lent 1517, which were themselves subsequently published in a number of versions.35 With the Lord’s Prayer, however, Luther’s teaching changed. While he had preached the Gospel source of the Lord’s Prayer before 1520, The German Catechism taught Ehe wir aber das Vater unser nacheinander verkeleren, ist wol am noetigsten vorhyn die leute zuvermanen und reitzen zum gebete, wie auch Christus und die Aposteln than haben. Und sol nemlich das erste sein, das man wise, wie wir umb Gottes gepots willen schueldig sind zubeten. Denn so haben wir gehoert ym Andern gepot: Du solt Gottes namen nicht unnuetzlich fueren, das daryn gefoddert werde den heilgen namen preisen, ynn aller not anruffen odder beten. Denn anruffen ist nichts anders den beten. Also das es streng und ernstlich geboten ist, so hoch als alle andere, kein andern Gott haben, nicht toedten, nicht stelen, etc.36

Luther connected the words Christ taught his apostles to pray to the Second Commandment – at once teaching that the Commandment was not only a prohibition, but also an exhortation to a specific behavior, prayer, and also teaching a distinctive definition of prayer as “calling upon” God. Vater unser der du bist ym himel, Geheiliget werde dein name, Zukome dein reich, Dein wille geschehe als ym himmel auch auff erden, Unser teglich brod gib uns heute, Und verlasse uns unsere schuld als wir verlassen unsern schueldigern, Und fuere uns nicht yn versuchung, sondern erloese uns vom ubel.37

Luther was not the first to translate the ancient Latin words into colloquial German, but he was acutely sensitive to the choices of translation.38 His attention to specific words is all the more striking, since he seems to have translated not one of the two scriptural sources for the Prayer (Matthew 6: 9–13, in the Sermon on the Mount, “Pray then in this way,” or, as in Luke 11:2b–4, in response to his dis-

35 On the sermons and their publication, see the Introduction to “An Exposition of the Lord’s Prayer for Simple Laymen, 1519,” trans. Martin H. Bertam, Martin O. Dietrich, ed., Luther’s Works vol. 42: Devotional Writings I, Philadelphia 1969, 17–8. On the Lord’s Prayer, see Adalbert Hamman, O.F.M., ed. and trans., Le Pater expliqué par les Pères, Paris 1962; Klaus Bernhard Schurr, Hören und handeln: Lateinische Auslegungen des Vaterunsers in der Alten Kirche bis zum 5. Jahrhundert, Freiburg 1985; Nicholas Ayo, C.S.C., The Lord’s Prayer: A Survey Theological and Literary, Notre Dame 1992. On the Lord’s Prayer in the Mass, see Ingemar Furberg, Das Pater Noster in der Messe, Lund 1968; Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia: Eine genetische Erklärung der Römischen Messe, Bonn 2003 (original: Freiburg, 1962), Vol. II, 343–63. 36 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 193. 37 Ibid. WA 30,1, 131. On the variations in Luther’s German version of the Lord’s Prayer, see Albrecht Peters, Commentary on Luther’s Catechisms: Lord’s Prayer, trans. Daniel Thies, Saint Louis 2011, 4–6. 38 See, for example, catechesis of the first petition, “Geheiliget werde dein name,” “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 198–9.

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ciples’ request, “Lord, teach us to pray”39), but the Latin text of the Prayer said in the Mass: Pater noster, qui es in coelis. Sanctificetur nomen tuum. Adveniat regnum tuum. Fiat voluntas tus, sicut in coelo et in terra. Panem nostrum quotidianum da nobis hodie, et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo.40

Luther made choices in translating particularly important for economic relations. We may compare this, for instance, with the German of the Heidelberg Catechism: Unser Vater der du bist in himmeln. Geheiliget werde dein Name. Dein Reich komme. Dein wil geschehe / auff erden wie im himmel. Unser teglich brod gib uns heut. Und vergib uns unser schult / als auch wir vergeben unsern schuldigern. Und füre uns nicht in versuchung / sonder erloese uns vonm boesen. Denn dein ist das reich / und die herzligkeit in ewigkeit / Amen.41

In the catechisms, Luther chose not to break the Prayer into discrete sentences, even as he also chose to teach Augustine’s division of the Prayer into seven petitions.42 His catechisms taught catechumens to attend to the words and to attach to the words of the Prayer the stuff of daily life. While his catechisms and the Heidelberg Catechism chose to translate “debita” as “Schuld,” Luther chose a different verb, verlasse instead of vergib, which recast just what “debt” encompassed, 39 The New Oxford Annotated Bible, Michael D. Coogan, ed. (Oxford, 2001). For an introduction to the scholarship on the relationship of the two versions, see James H. Charlesworth, A Caveat on Textual Transmission and the Meaning of the Abba: A Study of the Lord’s Prayer, in: James H. Charlesworth (ed.), The Lord’s Prayer and Other Prayer Texts from the GrecoRoman Era, Valley Forge 1994, 1–14; and Mark Harding, The Lord’s Prayer and Other Prayer Texts from the Greco-Roman Era: A Bibliography, ibid., esp. 186–201. For a close textual study of the two versions, see Frederic Henry Chase, The Lord’s Prayer in the Early Church (reprint Piscataway, NJ, 2004 (1891). D. Paul Fiebig argues for close textual affinities between Jewish prayer at the time of Jesus and the Lord’s Prayer, Das Vaterunser: Ursprung, Sinn und Bedeutung des christlichen Hauptgebetes, Gütersloh 1927, 28–58. 40 Nicholas Ayo, C.S.C., The Lord’s Prayer: A Survey Theological and Literary, Notre Dame 1992, p. 216. 41 Catechismus // Oder // Christlicher Underricht / wie der in Kirchen und Schu=//len der Churfürstlichen // Pfaltz getrieben // wirdt (Heidelberg: Johannes Mayer, 1563), p. 79. 42 His teaching of the individual petitions also changed from the earlier sermons, “An Exposition of the Lord’s Prayer,” 22–81.

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just as his catechisms taught catechumens to associate with “bread” far more than any loaf of flour and water. IIIa. The Fourth Petition Die Vierde bitte. Unser teglich brod gib uns heute. Was ist das? Antwort. Gott gibt teglich brod auch wol on unser bitte allen boesen menschen, Aber wir bitten ynn diesem gebet, das er uns erkennen lasse, und mit dancksagung empfahen, Unser teglich brod. Was heist den teglich brod? Antwort. Alles was zur leibs narung und notdurfft gehoert, als essen, trincken, kleider, schuch, haus, hoff, acker, vihe, gelt, gut, frum gemahl, frume kinder, frum gesynde, frume und trewe oeber herren, gut regiment, gut wetter, friede, gesundheit, zucht, ehre, gute freunde, getrewe nachbarn unnd des gleichen.43

Each time a Christian prayed the Lord’s Prayer – alone or with the family, in church, at worship – the word “bread” was to resonate, to bring the most mundane of things, shoes, and all one’s relationships, within the scope of divine gifts. Nothing in the world of human lives – food, housing, relations, property, livestock, weather – lay outside of God’s beneficence. The entirety of the mundane was encompassed in Creation and God’s care of humankind. IIIb. The Fifth Petition Luther chose to translate “debita” as “schuld,” as did the Heidelberg Catechism, but “demitte” as “verlasse,” not, as in the Heidelberg Catechism, “vergeben,” which has come into modern practice as “forgive us.” His choice of “verlasse” brought connotations to “schuld.” As The German Catechism taught: Daruemb ist nu solchs zeichen bey diesem gebete mit angehefftet, das wenn wir bitten, uns der verheissung erynnern und also dencken: Lieber vater, daruemb kome und bitte ich, das du mir vergebest, nicht das ich mit wercken gnugtheun odder verdienen koenne, sondern weil du es verheissen hast und das siegel dran gehengt, das so gewis sein solle, als habe ich ein Absolutio, von dir selbs gesprochen.44

“Schuld” involved, first, a long-standing relationship. One person in that relationship – we cannot call the Christian a partner, but perhaps a signatory on a contract, a promise – has accrued over years a “debt.” The debt cannot be paid through works; no works are sufficient to pay the debt. The debt will be “re43 “Der Kleine Katechismus. 1529.” WA 30,1, 302, 304. 44 “Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529.” WA 30,1, 208.

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leased” or even “abandoned” because of a promise: the debtor can do nothing to alleviate the debt, the creditor has promised to let the debt go in advance of the debt. In catechisms which carried woodcuts, the woodcut accompanying catechesis of what Luther taught as the fifth petition of the Prayer depicted financial transactions: the counting table and coins.

Figure 1: Deudsch Catechismus (Georg Rhau, 1531), XCVIr–XCVII, Staats- und Stadtbibliothek Augsburg.

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In choosing “schuld,” Luther linked the world of finance, of counting houses and coins, to an economy of souls, loss and redemption of persons. The woodcut visualized that “debt” was both coin and sin; the catechism taught that there was one world, not two; commerce and Christianity belonged to the same divinely created and governed world. The Christian’s debt to God was the model within which to consider a neighbor’s debt. Not only had God given humankind every thing – shoes and house, cattle and property – but God had abandoned or released not a trespass, not a single crime, but a debt, something owed. Debt, as catechesis of the Lord’s Prayer taught, was the relation of humankind to God. Der funffte bitte. Und verlasse uns unser schulde, als wir verlassen unsern schuldigern. Was ist das? Antwort. Wir bitten ynn diesem gebet, das der Vater ym hymel nicht ansehen wolt unser sunde und umb der selbigen willen solche bitte nicht versagen, denn wir sind der keines werd, das wir bitten, habens auch nicht verdienet, sondern er wolts uns alles aus gnaden geben, denn wir teglich viel sundigen und wol eitel straffe verdienen, So wollen wir zwarten widderuemb auch hertzlich vergeben und gerne wol thun, die sich an uns versundigen.45

The catechumen of The Small Catechism learned to exchange “debt” and “sin,” the one becoming the other, both essential to the human condition. Equally, the catechumen learned that forgiving debt was the analogue of human redemption. IIIc. The Seventh Petition Die siebend bitte. Sondern erloese uns von dem ubel. Was ist das? Antwort. Wir bitten ynn diesem gebet als ynn der summa, das uns der Vater ym hymel von allerley ubel leibs und seele, guts und ehre erloese unnd zu letzt, wenn unser stuendlin koempt, ein seliges ende beschere und mit gnaden von diesem iamertal zu sich neme ynn hymel.46

Luther’s catechisms use the German word, “erlöß.” Luther used this same verb to name what Christ’s sacrificial death did for humankind: “redeem,” by this word, connecting the Lord’s Prayer to the Apostles’ Creed and specifically, the second article as Luther’s catechisms taught, on Redemption. Alone among the catechisms, Luther included property and reputation or honor, “ehre,” as something to which evil could be done. Both the Genevan and Heidelberg Catechisms taught the catechumen to conceive of “evil” as something psychological or spiritual, a sin, which might come from “the flesh,” but involved mind and soul. Luther’s catechisms separated “temptation,” the sixth petition, from “evil,” the seventh, and construed “evil” as something that could be done to property, to things out45 “Der Kleine Katechismus. 1529.” WA 30,1, 304, 306. 46 Ibid. WA 30,1, 306, 308.

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side the human body, and “ehre,” a word that named a complex social interaction. For the catechumen of Luther’s catechisms, “evil” was not strictly or narrowly psychological, but could encompass physical, material harm. Conclusion Sixteenth-century pastors recognized that their catechisms, materialized in the codex, could accompany Christians as they fled persecution, sought communities that practiced what they held “true Christianity” to be, or even remained at home and sought to live a Christian life. That life, catechumens of Luther’s catechisms learned, encompassed all human relations – spousal, familial, neighborly, political, and economic. It encompassed all things: shoes, houses, coins, property of all kinds. There was no division, the world of matter from the world of spirit; every thing, every relation, every word was to be understood as located within God’s world. God had given humankind every thing necessary, every relation, and those words that Christians were not simply to speak, but to embody themselves. Catechisms were to teach the catechumen to see the world, all its things and relations, as divine in origin and divinely governed. “Theft” was not narrow in scope, but the expression of humankind’s essential envy of others’ possessions. As taught in Luther’s catechesis of the Ten Commandments, it was not a legal category, but a psychological one: any desire to take from another what was his or her property. It was the failure to respect the divine distribution of goods, the failure to respect one’s neighbors’ possession. It was, the catechumen learned, not “petty,” but an elemental transgression of two principles, which the catechisms bound together: love of neighbor and respect of property. “Debt,” too, acquired different meaning in catechesis. The transactions of the counting house were not simply under God’s eye. They were themselves an iteration of the essential relation between humankind and God. Debt was the archetype for humankind’s relation to God. The release of debt was itself the model of divine grace. Every Christian was a debtor before God. Every Christian could not but seek to model divine grace in economic relations, as an acknowledgement of that Christian’s own essential condition, the absolute dependency on grace for redemption. More than any other catechism in the sixteenth century, Luther’s bound property and financial transactions within the scope of divine agency and governance. As the catechumen learned, property was not separable from love of neighbor; one’s own property was all divinely given. And debt, which Luther attacked so bitterly in sermons on usury, was the defining model for the Christian’s relation to God – and the world. The failure to forgive one’s debtors was the failure to discern the import of redemption. Prof. Dr. Lee Palmer Wandel, Madison, WI

SCHWERPUNKT II: EUROPA IM BLICK DEUTSCHER HISTORIKER IM 19. JAHRHUNDERT

ARNOLD HERRMANN LUDWIG HEEREN (1760–1842) Deutscher Europahistoriker von Weltruf* Wolf D. Gruner 1. Allgemeine Vorüberlegungen und Biographica Arnold Hermann Ludwig Heeren, um eingangs kurz einige biographische Angaben zu machen, wurde 1760 in Arbergen bei Bremen geboren, wo sein Vater Pastor war. Im ersten Band seiner Historischen Schriften schildert er in einem Brief an einen Freund mit biographischen Nachrichten sein familiäres und soziales Umfeld, seine Erfahrungen in einer Handels- und Seestadt, seine Jugend und sein Studium und welche akademischen Lehrer ihn nachhaltig beeinflussten und auch richtungweisend für sein Leben und seine Forschungsinteressen werden sollten.1 Heeren zeigte sich dankbar für zwei Vorteile in seinem Leben seit seiner Geburt, nämlich, daß mir eine Gesundheit gewährt wurde, die bis jetzt zum 61ten Jahre kaum ein paarmal durch bald vorübergehende Krankheiten unterbrochen ward

und, dass er durch seine Geburt

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1

Der Verfasser dankt dem DAAD ganz herzlich, dass er durch seine finanzielle Unterstützung der Reise die Teilnahme an der Jahreskonferenz der German Studies Association in Louisville / Kentucky 2011 möglich gemacht hat. Dank gilt auch den Mitarbeitern der Sondersammlung der Universitätsbibliothek Rostock, die mir bei der Benutzung der umfangreichen Historischen Werke Heerens sehr entgegen kamen. Mein Dank gilt auch meinem langjährigen Freund und Kollegen Prof. Dr. Robert D. Billinger, Wingate University, für die technische Unterstützung bei der Anmeldung unserer Sektion sowie für die Übernahme der Rolle des Kommentators. Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Vorrede nebst Schreiben an einen Freund mit biographischen Nachrichten über den Verfasser, in: Historische Werke. Erster Theil: Vermischte Historische Schriften. Göttingen 1821, V–LXXVIII.

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Wolf D. Gruner zu jener glücklichen Mittelclasse gehörte, die, gleich weit von der Dürftigkeit und dem Ueberflusse entfernt, den Druck des Mangels nicht kennen lernt.2

Beide Eltern stammten aus Bremen. Väterlicherseits kam seine Familie aus dem Bremer Kaufmannsstand. Sein Großvater und Vater waren Pastoren. Seine Mutter entstammte einer wohlhabenden Bremer Kaufmannsfamilie. Nach einem seine weitere Entwicklung prägenden Privatunterricht besuchte er die Bremer Domschule. In seiner Schulzeit entwickelte er früh einen Sinn für Geschichte und das Leben in einer freyen Handelsstadt, die eben damals im vollen Aufblühen war beeinflusste seinen Geist und seine ganze Denkungsart.3 Für seinen späteren pragmatischen methodischen Ansatz und seine historischen Interessen sollten das Leben und die Sozialisation in einer Handels- und Hafenstadt bedeutsam werden, wie er selbst berichtete: Es war die Zeit des Amerikanischen Krieges, während dessen der bisher nur beschränkte Handel meiner Vaterstadt anfing, sich zum Welthandel zu erheben. Ich sah das alles nicht blos aus der Ferne, sondern in der Nähe; in dem Kreise meiner nächsten Umgebungen (…) Die Unternehmungen nach Amerika, nach Westindien, bald auch nach Ostindien, wurden die täglichen Gespräche. Ohne es mir einfallen zu lassen, daß ich je über den Handel schreiben würde, fasste ich doch einen hohen Begriff davon; und erhielt manche anschauliche Kenntnisse. Dazu kamen die bürgerlichen Verhältnisse. Sprach man auch noch nicht von Freyheit und Gleichheit, so hatte man sie doch, so weit man sie haben wollte. Man bekommt von einem freyen Gemeinwesen keinen anschaulichen Begriff, wenn man nicht darin gelebt hat; und wie hätten jene Jugendeindrücke wieder verschwinden, jene Bilder wieder verlöschen können?4

Zum Studium ging er an die Georg-August Universität in Göttingen, wo er seit 1779 Theologie, alte Sprachen und Literatur sowie Geschichte und Philosophie studierte. Auf Umwegen sollte er später zur Geschichte gelangen, denn am Anfang seines Studiums stand die klassische Philologie für die ihn sein späterer Schwiegervater Christian Gottlob Heyne begeisterte. Ihm widmete Heeren eine umfangreiche Schrift.5 Großen Einfluss auf ihn hatte auch sein Göttinger Lehrer, der Philosoph Ludwig Timotheus von Spittler.6 1784 wurde Heeren Privatdozent, 1787 Außerordentlicher Professor für Philosophie. Seit 1801 lehrte er dort als Ordentlicher Professor für Geschichte. Seine Vorlesungen zur Philosophie, Geschichte und Literatur hatten prägenden Einfluss auf zahlreiche Schüler, die später als politische Entscheidungsträger und Diplomaten in ihren Staaten tätig werden oder in die akademische Laufbahn gehen sollten. Zu ihnen gehörten unter ande2 3 4 5

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Ebd., XII. Ebd., XIX. Ebd. Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Christian Gottlob Heyne, biographisch dargestellt, in: Historische Werke, Biographische und Litterarische Denkschriften. Mit einem Kupfer. Göttingen 1823, (I), 1–392 Beilagen 393–394, Gedichte, 395–409, Verzeichnis von Heyne’s Schriften, 410–429. Ders., Andenken an Deutsche Historiker aus den letzten funfzig Jahren, in: Historische Werke. Biographische und Litterarische Denkschriften, 430–544 (Spittler, 515–534; Johann von Müller, 469–483; August Ludwig von Schlözer, 498–514; Georg Friedrich von Martens, 535–544).

Arnold Herrmann Ludwig Heeren

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rem Heinrich von Gagern, aber auch Bismarck, der während seiner Göttinger Zeit regelmäßig Heerens Vorlesungen besuchte. Arnold Hermann Ludwig Heeren war einer der wichtigsten deutschen Historiker der Transformationsperiode vom 18. zum 19. Jahrhundert mit internationalem Renommee. Eine Gesamtausgabe seiner historischen Werke lag bereits in den frühen 1820er Jahren vor. Als Grund nannte Heeren in seiner Vorrede zum ersten Band seiner Werke: Wenn es dem Verfasser noch vergönnt ist, bey seinen Lebzeiten eine Sammlung seiner sämmtlichen historischen Schriften zu veranstalten, so verdankt er dieses der nachsichtvollen Annahme, die sie bisher bey dem Publicum gefunden haben.7

Heeren war sich aber auch seiner Aufgabe als Gelehrter und Schriftsteller bewusst, wenn er anmerkte: Der Wunsch seinen dereinstigen litterarischen Nachlaß – vorausgesetzt, daß es wirklich ein Nachlaß wird – der Welt in der ihm möglichsten Vollendung zu übergeben, ist ein zu natürlicher Wunsch des Schriftstellers, als daß er irgendeiner Missdeutung ausgesetzt seyn könnte. Er darf aber auch zugleich hoffen, den Wünschen seiner Leser entgegen zu kommen, die ein solches Unternehmen lieber durch ihn selbst, als dereinst, wenn er nicht mehr seyn wird, durch Andere veranstaltet sehen werden.8

Seine Hauptwerke und wichtige Aufsätze waren weit über Europa hinaus bekannt, beispielsweise auch in den USA. Sie wurden unter anderem mit zahlreichen Auflagen auch in das Englische, Französische und Niederländische übersetzt. Die amerikanische Übersetzung besorgte der Historiker, Verfassungsexperte, Politiker und amerikanische Diplomat George Bancroft, der Gründer der Marineakademie der USA in Annapolis und der American Geographical Society.9 Er hatte 1818 bei Heeren studiert und wurde 1820 in Göttingen promoviert.10 7 8 9

Ders., Vorrede (Vermische Historische Schriften I, V). Ebd. Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Historische Werke. 15 Bde. Göttingen 1821–1826. Vgl. auch: Ders., Kleine Historische Schriften. 2 Bde. Göttingen 1803–1805. Ders., Handbuch der alten Erdbeschreibung, 1. Theil: Europa. Nürnberg 1800. Vgl. auch Ders., A Manual of Ancient History. Particularly with Regard to the Constitutions, the Commerce, and the Colonies of the States of Antiquity. London 31840 (auch Niederländisch Rotterdam 1824–1827 und Französisch 1824, 1827, 1839). Ders., Ancient Greece. Translated by George Bancroft. Boston 21842. Ders., Ancient Greece, from the German by Arnold H.L. Heeren, by George Bancroft. Also three Historical Treatises, by the same Author. I: Political consequences of the Reformation, II: The rise, progress and practical influence of political theories, III: The rise and growth of the continental interests of Great Britain. London 1866 (1847). Ders., History of the Political System of Europe, and its Colonies, from the Discovery of America to the Independence of the American Continent. Northampton / Mass. 1829. Ders., Manuel historique du système politique des États de l’Europe et leurs colonies depuis la découverte des deux Indes. Traduit de l’Allemand , sur la troisième édition. Paris 1821. Ders., Mélanges historiques et politiques. Paris 1817. Ders., Cours d’histoire moderne. Neuchatel 1836. Als Heeren in Deutschland längst vergessen war, erschienen seine verschiedenen Arbeiten dennoch bis in die 1870er Jahre: 1857 eine englische Fassung über das europäische Staatensystem auf der Basis der fünften Auflage: A Manual of the History of the Political System of Europe and its Colonies, from its Formation at the Close of the Fiftheenth Century, to its Re-

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Wolf D. Gruner

Als akademischer Lehrer an der Universität Göttingen und als Autor wurde er zu einem der bekanntesten und bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. Er regte an und prägte mit seinen klar strukturierten Vorlesungen, Schriften und Überlegungen zahlreiche politische Entscheidungsträger. Seinen Niederschlag fand dieses beispielsweise auf den Pariser Friedenskonferenzen 1814 und auf dem Wiener Kongress 1814/15 in deren Europa- und nationalpolitischen Grundhaltungen. Je nachdem, ob die Delegierten in Göttingen bei Heeren oder in Jena bei Fichte studiert hatten waren sie stärker europäisch oder national orientiert. Heeren gehörte zu den Mitbegründern der Handels- und Kolonialgeschichte. Er wurde, als er sich der neueren Geschichte zuwandte, zum Historiograph des europäischen Staatensystems.11 Heeren wurde berühmt, davon wird noch die Rede sein, als Verfechter für eine stabile, dauerhafte Friedensordnung und die hierzu erforderlichen transnationalen Bedingungen. Er bezog in seine faktengesättigten Darstellungen weit über die Politikgeschichte hinausgreifende Faktoren mit ein. Ihn interessierten Handels- und Kolonialinteressen und ihre Auswirkungen auf die europäischen Staaten, kulturelle, sprachliche,12 religiöse,13 klimatische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, aber auch Statistiken. Zu Fragen der Statistik hielt er auch Vorlesungen. Manche Erkenntnisse zur Geschichte seiner Zeit hatte er aus dem Studium der Geschichte der Antike, der Griechen und Römer, der Philosophie und den literarischen und geographischen Schriften des Altertums gezogen.14 In seinen Arbeiten finden sich Überlegungen zur Frage der staatlichen Souveränität, zur Behandlung besiegter Nationen15 sowie zur Neutralität. Heeren bezog in seine Darstellungen außereuropäische Gebiete und ihre Entwicklung mit ein, so die Amerikas und beide „Indien“. Dies fand auch im Titel seiner Pilotstu-

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establishment upon the Fall of Napoleon, translated from the fifth German Edition. London 1834, 1857, 1864, 1873. Vgl. Dewolfe Howe, Mark A. (Hg.), The Life and Letters of George Bancroft. 2 Bde. Whitefish MT 1908 (Reprint 2004). George Bancroft, History of the United States. 10 Bde. Boston 1834–1874 (deutsch: 6 Bde. Leipzig 1847–1875). Ders., Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems und seiner Colonieen. Göttingen 2 Bde. 51830 (Göttingen 1809, Göttingen 21811, Göttingen 31819, 2 Bde. Göttingen 41822). Ders., Entwicklung der politischen Folgen der Reformation für Europa. Ein vorläufiger Versuch zu der Beantwortung einer, von dem Französischen National-Institut aufgegebenen, Preisfrage. Geschrieben im Jahre 1802, in: Historische Werke, Erster Theil. Göttingen 1821, 1–112. Zu religiösen Fragen nimmt Heeren auch wiederholt in seinem Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems Stellung (wie Anm. 9). Ders., Ueber den Einfluß der Normannen auf die Französische Sprache und Litteratur. Geschrieben im Jahr 1789, in: Historische Werke, Zweiter Theil. Göttingen 1821, 349–380. Die Rolle und Bedeutung von Sprache scheint in seinen Arbeiten immer wieder auf, u.a. auch im Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems (wie Anm. 9). Ders., Geschichte des Studiums der classischen Literatur seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften. Göttingen 1801. Für 1791 liegen Entwürfe für Vorlesungen zur alten Geschichte in Verbindung mit alter Geographie vor. Er äußerte sich auch zu den Geographen und Kartographen Ptolemäus und Strabo. Ders., Ueber die Mittel zur Erhaltung der Nationalität besiegter Völker. Geschrieben im Frühjahr 1810, in: Historische Werke, Zweiter Theil. Göttingen 1821, 1–32.

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die über dreihundert Jahre europäisches Staatensystem ihren Niederschlag. Die in zahlreichen Auflagen erschiene Studie nannte Heeren Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonieen, von seiner Bildung seit der Entdeckung beider Indien bis zu seiner Wiederherstellung nach dem Fall des Französischen Kaiserthrons, und der Freiwerdung von Amerika.16 Seine Überlegungen zur Weltpolitik und zur europäischen Politik, die er stets ganzheitlich betrachtete, kamen dem „Zeitgeist“ am Ende der langen Kriegsperiode zwischen der Französischen Revolution von 1789 und der europäischen Neuordnung von 1814/15 entgegen. Von dem Centralstaat Europas, von Deutschland“, so schrieb er, muß die Uebersicht der Einzelnen ausgehen. Daß an sein Schicksal das Schicksal Europas geknüpft sey, hat die neueste Geschichte zu laut gepredigt, als dass es noch eines Beweises bedürfte.17

Heeren hatte Sorge, dass das wiederhergestellte europäische Staatensystem bei einem zu starkem Zentrum destabilisiert oder erneut zerstört werden könnte. Daher lehnte er für den Zentralstaat von Europa, die zu schaffende Nachfolgeorganisation für das Alte Reich, eine unitarische Organisationsform entschieden ab, denn nicht von der Umformung zu Einem Staat – (sie wäre das Grab deutscher Cultur und Europäischer Freiheit;) nur von einer Verbindung des bestehenden deutschen Staaten konnte die Rede seyn. So ward schon in dem ersten Pariser Frieden die Idee ausgesprochen; und man versuchte auf dem Wiener Congreß, wie weit sie auszuführen war.18

2. Die Wahrnehmung von Arnold Herrmann Ludwig Heeren in der Historiographie Es lässt sich über Heeren als Historiker zu Recht feststellen, wie es Hellmut Seier formulierte, dass er Weltruf besaß.19 Dies galt insbesondere für die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Heeren war es wichtig, dass er sein akademisches und interessiertes Publikum erreichte. Dass er in dieser Beziehung erfolgreich war, zeigen die zahlreichen Auflagen seiner Werke. Zu Hilfe kamen ihm dabei seine eingängige und einfache Sprache, aber auch sein akademischer Werdegang und seine wissenschaftliche Sozialisation in Göttingen sowie sein Blickwinkel auf die Geschichte. So hatte sich, wie Hellmut Seier in seiner Charakteristik Heerens überpointiert feststellte,

16 Ders., Europäisches Staatensystem. Benutzt wurde vor allem die 4. Auflage von 1822. Dies gilt auch für weitere Zitate aus dem Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems. 17 Ders., Europäisches Staatensystem, Theil II, 413–414. (Hervorhebung im Original). 18 Ebd., 414. 19 So Hellmut Seier, Heeren und England, in: Lothar Kettenacker / Manfred Schlenke / Hellmut Seier (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke. München 1981, 48–78, 48.

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Wolf D. Gruner sein unspekulativer, schlichter, betont empirischer und ideologieskeptischer Ansatz ausgebildet, eine ihm eigentümliche und für ihn charakteristische Verfahrensweise und Fragestellung, der die Seewege und Wüstenstraßen wichtiger waren als die Staatsideen und die mehr Eignung hatte, zur Kolonialpolitik und zu Export-Import-Interessen als zu Dynastien und Kriegen den Zugang zu erschließen.20

Als seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert für Heeren vor allem die neuere Geschichte zum „Kernthema“ seiner Arbeiten und Interessen wurde, blieben Fragen der Kolonien, des Handels und des Verkehrs für ihn zwar ein gewichtiges Thema, doch verdeutlichen vor allem seine Studien zum europäischen Staatensystem, dass er erfolgreich auch staatsrechtliche, verfassungsrechtliche, dynastische und militärische Fragen in seine Darstellung und Analyse einbezog. Heeren wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem späten Vormärz, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis weit in die Gegenwart lange Zeit vergessen, verspottet oder negiert. Seine Vorstellungen und sein ganzheitlicher europäisch-globaler Ansatz passten nicht in das zeitgenössische Bild eines zu schaffenden mächtigen deutschen Nationalstaates und der deutschen Mission Preußens,21 wie ihn Heinrich von Treitschke22 und Heinrich von Sybel und andere propagierten.23 War er in den Jahren nach den Napoleonischen Kriegen und der Neuordnung des europäischen Staatensystems noch ein beliebter und gefeierter Autor, so verblasste sein Stern bald als sich der „Zeitgeist“ wandelte. Heeren musste sich gegen die Kritik von Barthold Georg Niebuhr, Friedrich Christoph Schlosser,24 Georg Gottfried Gervinus25 und August Wilhelm von Schlegel26 wehren und den Spott eines Heinrich Heine27 ertragen. Für die Romantiker, für den vormärzlichen Liberalismus und das Junge Deutschland war er antiquiert. Gervinus, ein Schüler Schlossers, und 1837 einer der „Göttinger Sieben“, versuchte in seinen Arbeiten über die Geschichte der Literatur, wohl als erster einen engen Zusammenhang zwischen der deutschen Literatur, der nationalen Entwicklung, der „Kulturzustände“ und dem politischen Leben herzustellen.28 Er 20 Seier, Heeren und England. 48. 21 Vgl. Wolf D. Gruner, Preußen in Europa 1701–1860/71, in: Jürgen Luh / Vinzenz Czech / Bert Becker (Hgg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701–2001. Groningen 2003, 429– 460, bes. 429–434, Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Hohenzollern. Berlin 2011, 11–12 und passim. 22 Vgl. z.B. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. 5 Bde. Leipzig 1879–1889. Vgl. zur Reichshistoriographie auch den Beitrag von Jens Ruppenthal in diesem Band. 23 Vgl. z.B. Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. 7 Bde. Leipzig 1889–1894 (Reprint: Leipzig Meersburg 3 Bde. 1930). 24 Vgl. Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Meine Antwort auf die Schmähungen des Geheimes Hofraths und Professors Schlosser in Heidelberg. Göttingen 1831. 25 Georg Gottfried Gervinus, Historische Schriften. Karlsruhe 1838, VII, 1–134. 26 Vgl. Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Etwas über meine Studien zum alten Indien. Antwort an A. W. v. Schlegel. Göttingen 1827. 27 Heinrich Heine, Werke. Leipzig 1912, Bd. IV., 187–188. Vgl. auch SEIER, Heeren und England, 49. 28 Vgl. Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen. 5 Bde. Leipzig 1835–1842.

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sah es für den Historiker als eine nationale und liberale Aufgabe an, das politische Bewusstsein der Deutschen anzuregen.29 Der „Geschichtschreiber“ hatte eine politische Aufgabe zu erfüllen und sich in die Politik einzumischen, was er durch Publikationen und Flugschriften in Auseinandersetzungen mit Heeren und anderen, aber auch mit dem politischen Tagesgeschehen tat. Aus diesem Selbstverständnis heraus schrieb er auch seine Geschichte des 19. Jahrhunderts, die auf heftige Kritik stieß.30 Aus der Rückschau der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Gervinus attestiert, dass er mit seinen Arbeiten bahnbrechend gewirkt und zur Erweckung des nationalen Bewußtseins ungemein viel beigetragen, obwohl ihm noch nicht das urkundliche Material in genügender Weise zur Verfügung stand. Daß er seinen doktrinären Liberalismus zu sehr zur Schau trug und die geschichtlichen Thatsachen mit zu vielen Reflexionen begleitete, wird seinen späteren politi[schen] Schriften fast allgemein zum Vorwurf gemacht. 31

In der an der Gründung des preußischen Reiches deutscher Nation (Treitschke) interessierten Reichshistoriographie war der „nationale Geschichtsschreiber“ gefragt. Das nationale Selbstverständnis lehnte den vaterlandslosen Kosmopolitismus eines Friedrich Christoph Schlosser ebenso ab wie die Bildung des 18. Jahrh[underts], die dieser vertrat.32 An Gervinus wird bemängelt, auch wenn ihm die deutsche Bildung viel verdankt, und er wesentlich mit dazu beigetragen [hat]unserer Geschichtschreibung im ganzen und großen die Richtung auf die unmittelbaren Interessen der Nation zu geben, die unerläßlich ist, wenn sie, wie es soll, in dem Bewußtsein der Nation wurzeln und von ihm getragen sein will,33

dass sein Zugriff zu theoretisch und politisch-ideologisch orientiert gewesen sei und er mit seiner subjectiv-reflectirten Stellung (…)in der Bearbeitung des Materials niemals die Grundsätze der methodischen Quellenforschung und Quellenkritik, die als eine der wichtigsten Schöpfungen der neueren deutschen Wissenschaft zu betrachten sind, sich anzueignen passend fand, weil sie ihm für die Zwecke, die er seiner Geschichtschreibung stellte, überflüssig schienen.34

Die vormärzlichen Kritiker Heerens passten methodisch und in ihrer Geschichtsschreibung ebenfalls nicht mehr in eine am Nationalstaat, nicht an Europa und 29 Vgl. Georg Gottfried Gervinus, Grundzüge der Historik. Leipzig 1837. 30 Vgl. Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen. 8 Bde. Leipzig 1855–1866. 31 F.A. Brockhaus, Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte völlig neu bearbeitete Ausgabe. Revidierte Jubiläums-Ausgabe. 17 Bde. Leipzig Berlin Wien 1898, Bd. 7, 882–883 (Gervinus), 883. 32 F.A. Brockhaus, Supplement zur elften Auflage des Conversations-Lexikon. Encyklopädische Darstellung der neuesten Zeit nebst Ergänzung früherer Artikel. Bd. 1. Leipzig 1872, 782– 784 (Gervinus), 783. 33 Ebd. 34 Ebd. Vgl. auch zur neueren Bewertung: Charles E. McClelland, History in the Service of Politics: a reassessment of G.G. Gervinus. in: CEH 4/1971, 371–389 und Jonathan F. Wagner, Georg Gottfried Gervinus: the tribulations of a liberal federalist, in: CEH 4/1971, 354– 370.

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einer Universalgeschichte orientierte Nationalgeschichte. Die Romantik, liberale Vorstellungen von der Verfasstheit von Staat und Gesellschaft und eine methodisch breit aufgestellte, am Weltstaatensystem interessierte, pragmatische Perspektive des in den Hintergrund tretenden „Geschichtserzähler“ erreichten die Zeitgenossen und die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Reichsgründungszeit nicht mehr. Parallel zum Prozess der zunehmenden Internationalisierung in fast allen Bereichen u.a. von Wirtschaft, Handel, Verkehr, der Konvertierbarkeit von Währungen, internationaler Rechtsangleichung und Urheberrecht, verlief eine Renationalisierung in Politik und Kultur, verbunden mit einer kulturellen nationalen Arroganz. Diese zeigte sich vor allem nach der gescheiterten Nationalstaatsgründung von 1848/49. Es finden sich Aussagen wie in Kunst und Wissenschaft seien die Deutschen die erste Macht, denn wir Deutsche sind die Träger der menschlichen Cultur (…) Wir Deutschen sind die erste aller Nationen. Wir sind es durch unsere geistige Kraft, durch unser Wissen, unser Können.35

Für die deutsche Nationalbewegung, die Heeren durchaus positiv wahrnahm, war das Ziel kein Deutscher Bund, sondern ein mächtiges deutsches Reich als Nationalstaat. Aus der Sicht des Realisten und Pragmatikers Heeren ließ sich ein starkes Deutsches Reich in einer sich entwickelnden friedlichen europäischinternationalen Ordnung nach den Napoleonischen Kriegen und auch später aufgrund der geographischen Lage des europäischen Zentralstaates nicht verwirklichen. Mit seinem universalen Horizont und epochenübergreifend vergleichenden Blick, dessen Gegenstand fast stets Europa als ganzes und seine weltweite Ausstrahlung waren und kaum je eine Nation allein oder gar ein ihr entwachsender Teilstaat,36

fiel er noch stärker als andere aus der Zeit. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand das antike und neuzeitliche Europa mit seinen Ausstrahlungen in die Weltpolitik und den sich daraus ergebenden Entwicklungen und Rückwirkungen. Eine Reduktion von Geschichte auf eine Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Liberalismus oder auf die einzelne Nationalgeschichte entsprach nicht seinem Zugriff zu historischen Problemen und Fragen. Heeren passte daher nicht in eine an der Whighistoriographie37 oder der Reichshistoriographie und ihrer nationalstaatlichen historischen Legitimierung orientierte Darstellung von Geschichte. Die 35 [Anonymus, wohl Enno Klopp], Die deutsche Nation und der rechte deutsche Kaiser. Freiburg i.Br. 1862, 4,7. Vgl. auch Wolf D. Gruner, L’Image de l’autre: Das Deutschlandbild als zentrales Element der europäischen Dimension der deutschen Frage in Geschichte und Gegenwart, in: Günter Trautmann (Hg.), Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn. Darmstadt 1991, 29–59. 36 Seier, Heeren und England, 49. 37 Vgl. hierzu Wolf D. Gruner, Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert. 2 Bde. München 1979, Bd. 1, Kapitel 1, 6–36 sowie Herbert Butterfield, The Whig-Interpretation of History. Harmondsworth 1971 (1931). Manfred Messerschmidt, Deutschland in englischer Sicht. Die Wandlungen des Deutschlandbildes in der englischen Geschichtsschreibung. Düsseldorf 1955. Charles McClelland, The German Historians and England. A Study in nineteenth-century Views. Cambridge 1971.

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Reichshistoriographie lehnte eine Geschichtsschreibung, die Deutschland aus einer europäischen Perspektive betrachtete und dabei auch die Rolle und Stellung Deutschlands in der europäischen Ordnung und die Problematik der deutschen Frage in die Darstellung und Analyse einbezog, entschieden und aggressiv ab.38 Im Ausland wurde Heeren nach wie vor gelesen und rezipiert. In der Allgemeinen Deutschen Biographie findet sich ein kurzer Eintrag über Heeren39 und auch in der Neuen Deutschen Biographie erhielt er einen knappen Beitrag.40 Die meisten Beiträge im 20. Jahrhundert sind Dissertationen, so von Irene Kahn,41 Wilhelm Lütge,42 H.J. Schild43 und Otto Blispinghoff.44 Nützliche Untersuchungen sind vor

38 Die Verknüpfung der europäischen und deutschen Rolle des Deutschen Bundes und der Bedeutung der politisch-sozialen und verfassungsmäßigen Ordnung des deutschen Mitteleuropa, der deutschen Frage, hatte Heeren in seiner Schrift zur Eröffnung der Bundesversammlung 1816 aufgegriffen (Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem europäischen Staatensystem; bey Eröffnung des Bundestags dargestellt. Göttingen 1816). Der Verfasser hat seit den späten 1960er Jahren auf diese Schrift und ihre Bedeutung immer wieder hingewiesen: Vgl. u.a. Vgl. z.B. Wolf D. Gruner, Die Würzburger Konferenzen der Mittelstaaten in den Jahren 1859–1861 und die Bestrebungen zur Reform des Deutschen Bundes, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte (in der Folge ZBLG) 36/1973, 181–253. Ders., Die Interaktion von britischer Deutschland- und Europapolitik zur Zeit des Wiener Kongreßes und in der Anfangsphase des Deutschen Bundes, in: Ortwin Kuhn (Hg.), Großbritannien und Deutschland. Festschrift für John W.P. Bourke. München 1974, 93–138. Ders., Tendenzen der britischen Süddeutschlandpolitik im Vormärz. Überlegungen zu einem Memorandum des britischen Geschäftsträgers in Frankfurt aus dem Jahre 1827, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 18/1975, 75–98.Ders., Europäischer Friede als nationales Interesse. Die Rolle des Deutschen Bundes in der britischen Politik 1814–1832, in: Bohemia Jahrbuch 18/1977, 96–228. Ders., ‚British Interest‘ und Friedenssicherung. Zur Interaktion von britischer Innen- und Außenpolitik im frühen 19. Jahrhundert, in: HZ 224/1977, 92–104. Ders., Die belgisch-luxemburgische Frage im Spannungsfeld europäischer Politik 1830–1839. Überlegungen zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Bestimmungsfaktoren und Interessen des Deutschen Bundes, Großbritanniens und Frankreichs, in: Francia 5/1977 (1978), 299–398. Ders., Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert (wie Anm. 24) und Ders., Der Deutsche Bund als ‚Centralstaat von Europa’, in: Lothar Kettenacker / Manfred Schlenke / Hellmut Seier (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, 79–102 sowie zuletzt: Ders., Der Deutsche Bund 1815–1866. München 2012 und Ders., Der Wiener Kongress 1814/15 und Europa, Stuttgart 2014. 39 Franz Xaver von Wegele, Heeren, Arnold (Hermann Ludwig), in: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 11, Leipzig 1880, 244–246. 40 Irene Crusius, Heeren, Arnold Hermann Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8. Berlin 1969, 195–196. 41 Irene Kahn, Der Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren. Ein Beitrag zur Geschichte der Göttinger Schule. Phil. Diss. Basel 1939. 42 Wilhelm Lütge, A.H.L. Heeren als Historiker: Insbesondere sein Verhältnis zur modernen Geschichtsschreibung. Phil. Diss. Leipzig 1925 sowie DERS., Heereniana, in: Archiv für Kulturgeschichte 17/1927, 286–297. 43 H.J. Schild, Untersuchungen zur Heerens Geschichtsauffassung. Phil. Diss. Göttingen 1954. Vgl. generell zur Geschichtswissenschaft in Göttingen: Hartmut Boockmann / Hermann Wellenreuther (Hgg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Göttingen 1987.

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allem die Arbeiten von Kahn, Lütge und Schild. Veränderungen im Geschichtsbild nach den Erfahrungen zweier Weltkriege hatten zunächst keine Auswirkungen auf eine am Nationalstaat und der Nationalgeschichte ausgerichtete Geschichtsschreibung, nicht allein in Deutschland. Als der deutsche Sozialhistoriker Hans Ulrich Wehler zu Beginn der 1970er Jahre eine Reihe über deutsche Historiker initiierte,45 war Heeren zunächst nicht vorgesehen.46 Er wurde dann aber doch noch berücksichtigt. Es musste erst auf die Bedeutung Heerens für die Geschichte der internationalen Geschichtswissenschaft aufmerksam gemacht werden.47 Gleiches galt für ältere und jüngere Darstellungen zur deutschen Geschichtsschreibung, beispielsweise für George Iggers,48 für Joachim Streisand49 und für George Peabody Gooch.50 Die Liste ließe sich problemlos noch weiter fortsetzen. Seit den 1970er Jahren tauchte Heeren langsam aus der historischen Versenkung auf. Hans Boldt behandelte ihn in seiner Habilitationsschrift über die Staatslehre im Vormärz, insbesondere mit Blick auf das monarchische Prinzip.51 Neue Impulse für die Heerenforschung gingen zu Beginn der 1980er Jahre von dem Marburger Historiker Hellmut Seier aus, der einen Beitrag zu Heeren und England vorlegte und den Nachlass und studentische Vorlesungsmitschriften auswertete sowie eine Würdigung Heerens als Historiker vorlegte.52 Seier bedauerte auch, dass bisher keine wissenschaftliche Biographie zu Heeren vorliege. Dies ist sicherlich ein schwieriges Unterfangen angesichts der Komplexität und Breite des Heerenschen Werkes von der Antike bis in das 19. Jahrhundert. Seiers Anregung wurde von Christoph Becker-Schaum in seiner Dissertation aufgegriffen,53 auch wenn eine Gesamtbiographie nach wie vor ein Desiderat bleibt. Becker-Schaum war es auch, der im Rahmen der vom Institut für 44 Otto Bisplinghoff, Die Bedeutung des Historikers Arnold Hermann Ludwig Heeren. Ein Beitrag zur Geschichtswissenschaft. Phil. Diss. Münster 1923. 45 Vgl. Hans Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Göttingen 1973ff. 46 Vgl. Hellmut Seier, Heeren und England, 71 (wie Anm. 19). 47 Vgl. Hellmut Seier, Arnold Hermann Ludwig Heeren, in: Hans Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 9, Göttingen 1982, 61–80. 48 George Gerson Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (Orig.: The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present. Middeltown /CT 1968). München 1971. 49 Joachim Streisand (Hg.), Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft. Bd.1: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben. Berlin 1969. 50 George Peabody Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1964. 51 Vgl. Hans Boldt, Staatslehre im Vormärz. Düsseldorf 1970. 52 Vgl. Seier, Heeren und England (wie Anm. 19) sowie DERS., Arnold Hermann Ludwig Heeren (wie Anm. 47). 53 Christoph Becker-Schaum, Arnold Herrmann Ludwig Heeren. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen Aufklärung und Historismus. Frankfurt a. M. Berlin Bern New York Wien 1994. Der Arbeit ist ein „Editorischer Anhang“ beigefügt (301–452), der Vorlesungsmanuskripte, Kollegmitschriften und ausgewählte Briefe enthält, die einen wichtigen Einblick in die Arbeit und das Denken des Historikers Heeren vermitteln.

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Europäische Geschichte in Mainz durchgeführten Ringvorlesungen zu den Europahistorikern54 sich zu Heeren äußern konnte.55 Ich selbst bin auf die Arbeiten Heerens im Rahmen meiner Forschungen zum Deutschen Bund und zur Geschichte und Entwicklung der bayerischen Militärverfassung56 seit Ende der 1960er Jahre sowie, intensiver, im Zusammenhang mit meinen Arbeiten zum Deutschen Bund, zu den deutsch-britischen Beziehungen sowie zu Forschungen über die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert gestoßen.57 Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv fand ich in diesem Zusammenhang in den Gesandtschaftsberichten aus Frankfurt Heerens anregende Schrift von 1816 zum Deutschen Bund und seiner Rolle im europäischen Staatensystem.58 Er stellte in seinen Überlegungen zur Rolle Deutschlands in der künftigen europäischen Staatenordnung – und dies ist in die Gegenwart ein Hauptelement von deutscher Geschichte im europäischen Rahmen – dass es das Wesen des Staatensystems sei, dass, trotz unterschiedlicher Größe, seine Mitglieder als frey und unabhängig von einander betrachten, und diese Freyheit und Unabhängigkeit aufrecht erhalten wollen. Aufgrund seiner geographischen Lage in der Mitte Europas und mit Grenzen zu nahezu allen europäischen Hauptmächten muss er die europäischen Entwicklungen im Blick haben. Aber auch für die anderen Mitglieder der europäischen Staatengesellschaft kann die Organisationsform des Zentralstaates von Europa nicht gleichgültig sein. Ein starker, mächtiger Staat im Herzen Europas könnte ein Sicherheitsrisiko für das Gesamtsystem werden, denn würde ein solcher Staat lange der Versuchung widerstehen können, die Vorherrschaft in Europa sich anzueignen, wozu seine Lage und seine Macht ihn zu berechtigen schienen? (…) Die Entstehung einer einzigen und unumschränkten Monarchie in Deutschland würde binnen kurzem das Grab der Freyheit von Europa.59

In veränderter Form wurde sie dann in Heerens Historischen Werken 1821 gedruckt. Einige Passagen aus der Originalfassung wurden massiv abgeschwächt bzw. ausgelassen.60 54 Vgl. Heinz Duchhardt / Małgorzata Morawiec / Wolfgang Schmale / Winfried Schulze (Hgg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. 3 Bde. Göttingen 2006–2007. 55 Christoph Becker-Schaum, Arnold Herrmann Ludwig Heeren (1760–1842), in: Duchhardt / Morawiec / Schmale / Schulze, Europa-Historiker 3, 63–88. 56 Vgl. Wolf D. Gruner, Das bayerische Heer 1825 bis 1864. Eine kritische Analyse der bewaffneten Macht Bayerns vom Regierungsantritt Ludwigs I. bis zum Vorabend des deutschen Krieges. Boppard a.Rh. 1972. 57 S.o. Anm. 38. 58 Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem europäischen Staatensystem (wie Anm. 25). 59 Ebd., 10–12. 60 Heeren, Historische Schriften II. Göttingen 1821, 423–452, Nachschrift 452–457. Es fehlt die Passage: „die Entstehung einer unumschränkten Monarchie in Deutschland würde binnen kurzem das Grab der Freyheit von Europa“(431). Das vollständige Zitat aus dem Essay Heerens von 1816 wurde mehrfach von meinen Publikationen in andere Darstellungen übernommen, entweder ohne Quellenangabe oder mit dem falschen Quellennachweise aus den Historischen Werken in dem die Formulierung vom „Grab der Freyheit von Europa“ weggelassen wurde, vgl. z.B. Michael Stürmer, Die Reichsgründung. Deutscher Nationalstaat und

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Aus Heerens breitem Ansatz ergaben sich für mich Einsichten und Folgerungen für die Bewertung der europäischen Neuordnung nach den Napoleonischen Kriegen, für das sich globalisierende internationale System seit 1800, für den Charakter der Transformationsperiode vom 18. zum 19. Jahrhundert, für die Charakterisierung von Einheitsstaat und Föderativordnung für das Staatensystem und seine Mitglieder, für die Einschätzung des Deutschen Bundes sowie für die Bedeutung und Rolle des deutschen Mitteleuropa für die europäische Ordnung. Sie entsprachen nicht der Sichtweise der Reichshistoriographie eines Treitschke und Sybel, entsprangen sie doch einer vergleichenden europäischen Perspektive und nicht einem am deutschen Nationalstaat ausgerichteten Denken. Bei Heeren finden sich grundlegende Überlegungen zu deutschen Frage und ihrer Einordnung in den Gang der europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und somit auch zum Weg Deutschlands in der europäischen Geschichte.61 Nachfolgend werden exemplarisch verschiedene Aspekte zum Geschichtsverständnis, zur Geschichte des europäischen Staatensystems und zum Deutschen Bund als neues Band für die deutsche Nation herausgegriffen. 3. Arnold Herrmann Ludwig Heerens Geschichtsverständnis – seiner Zeit voraus Heeren hat sich in Einzelbeiträgen über Johann von Müller, August Ludwig von Schlözer und Johann Christoph Gatterer zur Geschichte und zur Aufgabe und Rolle des Historikers geäußert.62 Über Gatterer merkte er an, dass sich dessen Verdienste als Historiker unparteiisch würdigen lassen. Er besaß in einem ausgezeichneten Grade alle Eigenschaften, welche den großen Geschichtforscher bilden: Scharfsinn, Fleiß, Hülfskenntnisse jeder Art, und eine Wahrheitsliebe, welche sich so leicht durch nichts bestechen ließ; die des Geschichtschreibers nur insofern, als sie dem Verfasser von Lehrbüchern unentbehrlich sind. Aber auf dem Platze wo er stand waren gerade auch diese ihm am nothwendigsten; und wie viel ihm die wissenschaftliche Behandlung der Weltgeschichte verdankt, ist (…) klar. Dieser, so wie ihren sämmtlichen Hülfswissenschaften, in Deutschland ihre Form gegeben zu haben, kann europäisches Gleichgewicht im Zeitalter Bismarcks. München 1984, 7, der das Zitat mit allen Auslassungen(!) ohne Nachweis übernimmt. Auf die Übernahme des obigen Ursprungszitates von 1816 aus meinen Arbeiten verweist im Vorwort dagegen Hans-Peter Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtversessenheit zur Machtvergessenheit. Stuttgart 1985. 61 Vgl. u.a. Gruner, Struktur des europäischen Friedens (wie Anm. 28). Ders., Die deutsche Frage. Ein Problem der europäischen Geschichte seit 1800. München 1985. Ders., Die deutsche Frage in Europa 1800–1990. München 1993. Ders., Deutschland in Europa 1750–2007. Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland. Cluj Napoca 2009. 62 Johann Christoph Gatterer (Hg.), Allgemeine Historische Bibliothek von Mitgliedern des Königlichen Instituts der Historischen Wissenschaften zu Göttingen. 6 Bde. Halle 1767– 1771. Ders., Abriss der Universalhistorie nach ihrem gesammten Umfange von Erschaffung der Erde bis auf unsere Zeiten ersten Hälfte nebst einer vorläufigen Einleitung von der Historie überhaupt und der Universalhistorie inbesonderheit wie auch von den bis gehörigen Schriftstellern. Göttingen 1765.

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Niemand ihm absprechen; mit der Form aber auch zugleich den Umfang, den sie als allgemeine Geschichte haben soll.63

Heeren bemängelt aber an Gatterer, dass er nicht alles in sich vereinigte, was zum großen Geschichtforscher, Geschichtschreiber und Lehrer gehört. In Gatterer war viel vereinigt; ein günstiges Geschick wollte, dass das was ihm abging größtentheils durch andere seiner Zeitgenossen und Collegen ersetzt werden sollte.64

Im Vergleich mit Gatterer hob er Johann von Müller hervor: Unter den Deutschen Geschichtschreibern ist keiner, dem die öffentliche Stimme bisher einen höhern Platz angewiesen hätte; ungeachtet man nicht von ihm sagen kann, daß er jemals der Lieblingsschriftsteller der Nation gewesen sey.65

Über Ludwig August von Schlözer schreibt er: Unter den Deutschen Historikern ist keiner, der auf sein Zeitalter so stark eingewirkt hätte als Schlözer; das Einwirken anderer beschränkte sich auf die Litteratur; das seinige griff tief ins thätige Leben ein. Daher darf man ihn nicht mit demselben Maaßstabe messen, mit dem sonst die Kritik das blos schriftstellerische Verdienst zu messen pflegt. Das Eigenthümliche der Studien von Schlözer lag darin, daß sie (…) eine praktische Richtung hatten. Was Staaten sind und sey [s]ollen, nicht blos im Allgemeinen, sondern in ihren einzelnen Verhältnissen und Beziehungen, dieß waren die Untersuchungen, welche ihn den größten Theil seines Lebens beschäftigten; und wie wichtig auch in seinen Augen die Fragen über die Verfassung der Staaten waren; so erschienen ihm doch die, welche sich auf ihre Verwaltung bezogen, noch einladender und wichtiger. Diese Tendenz zu dem unmittelbar Praktischen war es, welche seinen Schriften den Eingang bei den Geschäftsmännern verschaffte; und dadurch ihn über die gewöhnliche Sphäre der Schriftstellerwelt weit erhob.66

Neben Schlözers früh entwickeltem Geist des Widerspruchs und der Opposition zur historisch-politischen Litteratur seiner Zeit67 trat sein Interesse an Statistik: Am stärksten ist Schlözer’s Einwirkung auf die Statistik geworden (...) Indeß machte diese Wissenschaft nicht einen Hauptgegenstand seiner Lehrvorträge aus; sondern wir besitzen von ihm noch eine, wenn auch nicht vollendete, Theorie derselben. Sie ist aus seiner letzten Periode; also gewiß aus dem Zeitraum, wo er seine Begriffe von ihr schon abgeschlossen hatte.68

Schlözers Einfluss auf die Statistik war praktischer Art. Sie hat aber zugleich von Einer Seite betrachtet zur Ausartung der Wissenschaft geführt; von einer andern aber ihr unermesslichen Gewinn gebracht. Seine Behandlung hat zur Ausartung der Wissenschaft geführt durch das übertriebene Gewicht, welches er auf die materiellen Staatskräfte legte. Er ging von dem Grundsatze aus, die Bevölkerung sey die Grundkraft des Staats; und maaß diese nur nach der Quantität, ohne auf die Qualität zu sehen. Daß aber hunderte fleißige, unterrichtete, wohlhabende und tapfere Männer dem Staat mehr 63 Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Historische Werke. Biographische und litterarische Denkschriften. Göttingen 1823, Andenken an Deutsche Historiker aus den letzten funfzig Jahren, Vorwort, 468. 64 Ebd. 65 Ebd., 469. 66 Ebd., 498–499. 67 Ebd., 500. 68 Ebd., 507–508.

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Wolf D. Gruner werth sind, als tausend Faulenzer, Unwissende und feige Memmen, bleibt doch eine unumstößliche Wahrheit. Denn was ist aller materielle Reichthum, wenn er nicht durch den geistigen, die Talente und Einsichten, benutzt wird? Auf jene einseitige Ansicht führte aber das Tabellenwesen; von dem Schlözer ein so übertriebener Freund war; und das durch ihn so sehr befördert worden ist.69

Heeren kritisiert zwar Schlözers einseitigen Ansatz, sieht aber den Wert von Statistiken für den Historiker und zieht sie für seine eigenen Arbeiten mit heran, aber breiter angelegt. Statistiken seien nützlich unter der doppelten Voraussetzung, daß sie wahr sind (…) und daß sie sich auf das beschränken, was sich in Tabellen bringen läßt. Dieß kann aber nur das Materielle seyn; und der gewaltige und so schädlich gewordene Irrthum lag darin, daß man glaubte, nach diesen die Kräfte des Staats messen zu können. So gaben also Seelenzahl, Einkünfte und Quadratmeilen, dieses Maaß; zu welchen Folgen aber dieses geführt hat, hat die neueste Geschichte nur zu deutlich gelehrt.70

Die Einflüsse seines anregenden Göttinger Umfeldes auf den Philosophen, Philologen und Historiker, haben dessen wissenschaftliche Arbeit nachhaltig geprägt. Er hat viele Anregungen aufgesaugt und in eine spezifische, komplexe Form umgesetzt. Er stellte sich häufig die Frage, was denn die Geschichtschreibekunst so sehr erschwert? Die Antwort auf diese schwierige Frage lag für Heeren großentheils schon in der Entwicklung des Begriffs der Geschichte selbst. Sie ist die Erzählung vergangener Begebenheiten in ihrem Zusammenhange. Die Weltgeschichte in ihrem ganzen Umfange, was ist sie anders als ein fortlaufendes Gewebe von Ursachen und Wirkungen, wo die Wirkungen wieder die Ursachen neuer Wirkungen werden? Die Entwicklung dieses unermesslichen Gewebes, sey es im Ganzen, sey es in einzelnen Theilen, ist die Aufgabe für den Geschichtschreiber. So tritt sofort der Unterschied zwischen dem Geschichtschreiber, und dem bloßen Geschichtforscher hervor. Das Ziel des letztern ist die Erforschung einzelner Thatsachen, das Ziel des erstern die Darlegung des Zusammenhangs, in dem diese Thatsachen als Ursachen und Wirkungen unter einander stehen, in einer würdigen, den Gegenständen angemessenen Erzählung. Die Erforschung des Zusammenhangs der Begebenheiten setzt also die Enthüllung der Ursachen voraus, durch welche die Begebenheiten in die Wirklichkeit traten. Wie schwer, ja! wie unmöglich vielleicht, die Auflösung dieser Aufgabe ist, wird aber erst deutlich, wenn wir die Natur dieser Ursachen weiter entwickeln. Sie sind theils äußere, theils innere. Inwiefern das Zusammenwirken äußerer Ursachen eine Begebenheit in die Wirklichkeit rief, lässt sich vielleicht zeigen; allein ist dieses auch bei den innern möglich? Diese inneren Ursachen liegen in dem Gemüth und in dem Charakter der handelnden Personen; es sind die innern Beweggründe, welche sie zum Handeln trieben. Ihre volle Darlegung würde also eine vollständige Kenntniß der handelnden Personen erfordern. Wer getraut es sich diese von seinen Zeitgenossen, ja! selbst von seinen Bekannten sich beizulegen? Der Geschichtschreiber aber hat gewöhnlich von Personen zu reden, die längst nicht mehr sind; die er selber nur aus Nachrichten kennt, welche ihrer Natur nach unvollkommen bleiben müssen.71

Für den Historiker werde bei seiner Beschäftigung mit der Vergangenheit deutlich, dass in seinen Forschungen eine Vollständigkeit der Ereignisse und Zusam69 Ebd., 508–509 (Hervorhebungen im Original). 70 Ebd., 509 (Hervorhebungen im Original). 71 Ebd., 434–435 (Hervorhebungen im Original).

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menhänge unerreichbar sei. Sein Ziel müsse sein, sich seinem Forschungsgegenstand so weit als möglich anzunähern, und dass eben dieses Annähern Geschichte schreiben heißt. Zwischen dem bloßen Erforscher von Thatsachen also, und dem Geschichtschreiber in diesem höhern Sinn ist noch eine weite Kluft befestigt. Nicht der Fleiß, nicht die Beurtheilungskraft allein sind es, die den letztern bilden; es gehört dazu ein nicht gewöhnliches Maaß fast aller Seelenkräfte; und das, was die Hauptsache ist, ein gewisses richtiges Verhältniß, in welchem diese Kräfte gegeneinander stehen. Der Geschichtschreiber, der diesen Namen verdient, ist nicht bloßer Wiedererzähler von dem was ihm erzählt ist; er ist eben so wenig Dichter; aber er steht zwischen den beiden in der Mitte; und bedarf in einem gewissen Grade das Talent des letztern und des erstern.72

Ein weiteres Kriterium war aus Heerens Sicht für den Historiker neben Urteilskraft und Scharfsinn grundlegend. Er bedarf zudem nicht weniger einer anderen Geisteskraft, die in der engsten Verbindung mit seiner moralischen Natur steht, des Gemüths. Ohne Gemüth hat es nie einen großen Geschichtschreiber gegeben, und wird es nie einen geben. Unter dem Gemüth verstehen wir das lebendige Gefühl für alles Menschliche; mag es die Menschheit im Ganzen, oder im Einzelnen betreffen. Aus diesem Gefühl geht die Theilnahme für dieses Menschliche hervor; in ihr äußert es sich durch das Mitgefühl für Alles die menschliche Natur veredelnde, das Gute sowohl, als das Große (…) Der Geschichtschreiber, welchen Stoff er sich auch zu behandeln wählt, behandelt menschliche Angelegenheiten und Verhältnisse; was ist er ohne jenes Gefühl für das Menschliche? Denn aus diesem Gefühl geht die Theilnahme an seinem Stoff hervor; und ohne die Theilnahme bleibt sein Werk, und wäre es noch so gelehrt und noch so richtig und noch so schön geschrieben, ein todtes Werk. Diese Theilnahme an seinem Stoff ist es, welche wir die Begeisterung des Historikers nennen.73

Diese Äußerungen Heerens zu seinem Geschichtsverständnis zeigen, welche Fähigkeiten aus seiner Sicht für den Historiker von zentraler Bedeutung sind. Für ihn müssen Geschichtsschreibung und historische Forschung der Wahrheit verpflichtet sein. Sie dürfen nicht ideologisch und parteilich sein. Sie müssen größere Zusammenhänge in ihren Ursachen und Wirkungen aufzeigen. Ihre Perspektiven müssen über den je nationalen Rahmen hinausgreifen. Wichtig war für ihn aber auch, dass der Historiker drei Aufgaben miteinander erfolgreich verknüpfen musste, die des für ein breites Wissenschafts- und Laienpublikum schreibenden Historikers und Schriftstellers, die des Geschichtsforschers sowie des akademischen Lehrers. Eines seiner Ziele war es daher in seiner Göttinger Zeit wissenschaftlicher Schriftsteller zu werden. Er wollte wissenschaftlichen und literarischen Erfolg. Er wusste genau zu unterscheiden, welches Publikum er erreichen wollte, ob als akademischer Lehre, als wissenschaftlicher Autor für die Fachwissenschaft oder als Schriftsteller für das gebildete Publikum.74

Es ist nachvollziehbar, warum Heerens Werk früh in die vormärzliche Kritik geriet und warum die ideologische und um historische Legitimation der Reichsgründung bemühte Geschichtsschreibung seine Perspektiven und komplexen Zugänge 72 Ebd., 436 (Hervorhebungen im Original). 73 Ebd., 437–438 (Hervorhebungen im Original). 74 Becker-Schaum, Heeren, 70.

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zur Geschichte ablehnten und möglicherweise auch überfordert waren. Heeren ließ sich keiner Schule zuordnen und lehnte dieses auch ab. Er lässt sich weder der Romantik noch der Spätaufklärung zuordnen. Aufgrund seiner Lebens- und Professorenzeit wurde er zum Bindeglied zwischen Aufklärung und Historismus.75 Die weltgeschichtliche, die vergleichende und europäische Perspektive seiner Werke entsprachen nicht dem Streben nach dem Nationalstaat, zumal sich die Nationalbewegung und die politischen Eliten nicht mehr an Europa und vergleichenden Betrachtungen orientierten, sondern am nationalen Staat als dem einzig sinnvollen Zusammenschluss von Großgruppen. Bei Heeren wird auch deutlich, und das fasziniert den Historiker der europäischen Geschichte und moderner internationaler Beziehungen, die mehr als die Zusammensetzung von politischer und einzelstaatlicher Geschichte sind, dass er Kriterien für die Arbeit des Historikers hervorhebt, die lange Zeit vernachlässigt wurden. Hierzu gehören Entwicklungskomplexe, die er in seiner eigenen Lebenszeit erlebte. Für seine eigenen Analysen zieht Heeren neben politischen Ereignissen auch die äußeren und inneren Rahmenbedingungen, die Rolle von Persönlichkeiten, den Einfluss von zeitgenössischen Ideen, die kulturelle Entwicklung, die Rolle der Religion, die materiellen Ressourcen von Staaten, das Bevölkerungspotential, die Statistiken als Erklärungsfaktoren für bestimmte Entwicklungen und Prozesse, die wirtschaftlichen Entwicklungen, die je nationalen Interessen, die Verbindung von politischer Geschichte, Handelsgeschichte und Geographie sowie die Stellung und Rolle von Staaten im europäischen Staatensystem heran. Damit ist sein Ansatz vergleichend an den langfristigen europäischen Entwicklungen orientiert und interessiert. Heeren bezieht ganz selbstverständlich die außereuropäische Welt und die Wechselwirkung zwischen dem europäischen Export von Menschen, Kulturgütern, gesellschaftlichen Konventionen und Verhaltensmustern, von Waffensystemen, Vorstellungen von Religion und Konfessionen, von Pflanzen und Tieren,76 von Krankheiten, Lebens- und Verhaltensformen und den Rückwirkungen der außereuropäischen Welt auf die europäischen Staaten und Nationen aus seinem Verständnis von Weltgeschichte mit in seine Darstellung und Analyse ein. So verweist Heeren beispielsweise auf das innere Wachsthum des Kolonialsystems und die zunehmende Bedeutung für die europäischen Staaten: Die Colonialproducte, besonders die Westindischen, erhielten in Europa einen Absatz, der jede Erwartung übertraf; der Reiz zum Anbau stieg also in gleichem Grade; und indem der große Welthandel sich von selber an sie knüpfte, sah mehr wie Ein Staat in ihnen die Grundlage seines Handels, und selbst seiner politischen Größe (…) Bey dieser erhöhten Wichtigkeit der Colonien wurde daher ihr Einfluß auf die Politik auch immer größer. Von den Ansprüchen des ausschließenden Handels giengen die Mutterstaaten zwar im Ganzen nicht ab; aber theils connivirten sie gern bey dem Contrebandehandel, den ihre Colonien mit denen der 75 Vgl. Ders., Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen Aufklärung und Historismus (wie Anm.40). 76 In den 1980er Jahren wurde erstmals in wissenschaftlichen Studien auf die Umweltfolgen der europäischen Expansion aufmerksam gemacht: Vgl. hierzu den Klassiker von Alfred W. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900–1900. New Edition. Cambridge 22004 (1986 ).

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Fremden trieben; theils brachte es auch das Bedürfnis mit sich, daß sie in Rücksicht der Ausfuhr größere Freyheiten verstatten mußten.77

Heeren befasste sich auch mit den Auswirkungen der Napoleonischen Zeit auf die europäische und außereuropäische Ordnung und die Versuche Napoleons sein Empire zum Hegemon in Europa zu machen und eine Universalmonarchie in Europa zu errichten. Damit deuten sich bereits die Übergänge von einem europazentrierten internationalen System zu einem zunehmend globalen an. In diesem Zusammenhang spielt nicht allein der amerikanisch-britische Krieg zwischen 1812 und 1814 seine Bedeutung,78 sondern auch die Auswirkungen auf die außereuropäische Welt insgesamt und gleichermaßen auf Europa. Heeren verweist auf die unterschiedlichen Rückwirkungen: Welche Rückwirkungen die großen Staatsumwälzungen Europas auf die Colonien haben würden, war fast unmöglich zu bestimmen, da diese gar nicht blos von der Verbreitung der Grundsätze abhiengen. Wie verschieden mußte aber auch wieder die Wirkung der letzten nach den verschiedenen Verhältnissen der Classen der Gesellschaft in den Colonialländern seyn! Wie ganz anders in Nordamerica, in Ostindien, in Westindien! Man nehme hinzu die ungewissen Veränderungen in dem Gange des Handels. Und doch war der große Welthandel, und mit ihm das Schicksal von mehr als Einem Hauptstaat Europas, jetzt an sie geknüpft!79

Heeren verwies aber auch auf die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Ereignisse in Europa auf das Kolonialsystem: Die großen Erschütterungen und Staatsumwälzungen in Europa mußten in diesem Zeitraum, [d.h. zwischen 1804 und 1818,] einen immer mehr unmittelbaren Einfluß auf die Colonien erhalten, je weniger es ausführbar war, das Project der Universalmonarchie auch auf sie auszudehnen. Zu nichts anderem konnte dieses führen, als zu ihrer Unabhängigkeit, in so fern ihre Natur, und die Brittische Seeherrschaft diese gestatteten. Eine neue Ordnung der Dinge begann in America; die Flamme der Revolutionen schlug aus der alten Welt in die neue hinüber; und erregte dort keinen geringen Brand. Ostindien war seiner Natur und seinen politischen Verhältnissen nach davor gesichert; aber auch hier bereiteten sich nicht geringe Veränderungen andrer Art; so auch für Africa. Selbst der fünfte Welttheil [d..h. Australien], sein Continent wie seine Inseln, wurden immer mehr europäisirt.80

Die moderne Europaforschung sowie die globalgeschichtlich ausgerichtete Geschichte sowie die der modernen internationalen Beziehungen sollten Heeren endlich wiederentdecken und entsprechend würdigen, denn viele seiner Überlegungen entsprechen einem übergreifenden modernen struktur- und kulturgeschichtlichen Ansatz.

77 Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien, von seiner Bildung seit der Entdeckung beyder Indien bis zu seiner Wiederherstellung, nach dem Fall des Französischen Kayserthrons. Göttingen 31819, 350– 351 (Hervorhebungen im Original). 78 Ebd., 617–621 und 792–798. 79 Ebd., 616–617. 80 Ebd., 791–792.

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4. Europa, das Europäische Staatensystem und der Deutsche Bund Neben Heerens Hauptwerk über die Ideen, die Politik und den Verkehr und den Handel der alten Völker,81 ist vor allem sein Handbuch über die Geschichte des europäischen Staatensystems richtungweisend.82 In seiner Vorrede zu den beiden ersten Auflagen des Handbuchs des europäischen Staatensystems merkte Heeren, den Gesamtrahmen von der Antike bis in die Neuzeit spannend, an, dass unter den großen Erscheinungen, welche uns die Weltgeschichte aufstellt, ist die des Europäischen Staatensystems oder Staatenvereins in den letzten drey Jahrhunderten bisher die größte, und zugleich für uns die wichtigste. Die Staatensysteme, welche sich in Griechenland im Alterthum, in Italien im Mittelalter bildeten, stehen an Macht und Umfang hinter diesem zu weit zurück.83

Heeren definierte und charakterisierte auch, was er als grundlegend für eine Geschichte des europäischen Staatensystems erachtete. Unter einem Staatensystem verstehe er einen Verein sich begrenzender, durch Sitten, Religion und Cultur sich ähnlicher, und unter einander durch wechselseitiges Interesse verflochtener, Staaten.84

Beim allgemeinen Charakter des Staatensystems von Europa, zeigt es sich leicht, daß dieser in seiner inneren Freyheit, oder der wechselseitigen Unabhängigkeit seiner Glieder, wie ungleich sich auch diese an Macht seyn mochten, zu suchen sey. Dadurch unterschied es sich von der entgegengesetzten Classe von Staatensystemen, derjenigen mit einem anerkannten Principat. Der Geschichtforscher, der den Wechsel der Verhältnisse zwischen diesen Staaten darstellen will darstellen will, wird sie also als eine Gesellschaft unabhängiger Personen ansehen müssen, die unter einander in vielfacher Beziehung standen. Ein neuerer Sprachgebrauch will zwar, daß man die Staaten nicht als solche, sondern als Maschinen betrachten soll; (eine Vorstellungsart, welche in Europa schon die Verschiedenheit der Verfassungen widerlegt:) wenn es aber nicht einmal möglich ist, ein Heer zu einer bloßen Maschine zu machen, (sonst würde keines fliehen); wie wäre es mit der bürgerlichen Gesellschaft möglich?85

Eine sinnvolle Darstellung der Geschichte des Staatensystems ist nur möglich, wenn das Feld der Untersuchungen notwendig sehr erweitert werde. Beispielsweise müssen die inneren und äußeren Verhältnisse, die Ideen in der Gesellschaft, die Maximen des Handelns und der Wandel in der Politik und Gesellschaft und der

81 Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt, in: Historische Werke Theil 10: Asiatische Völker 1, Theil 11: Asiatische Völker 2, Theil 12: Asiatische Völker 3, Theil 13: Afrikanische Völker, Theil 14: Aegypter, Theil 15: Griechen. Göttingen 41826. 82 Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems 2 Theile (benutzt wurde vor allem die 4. Auflage 1822). 83 Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems (31819), Vorrede, III. 84 Ebd., IV. 85 Ebd., IV–V.

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Charakter jedes einzelnen Mitglieds des Systems analysiert werden. Heeren wies darauf hin, dass die Uebel, welche den Fall des Europäischen Staatensystems herbeyführten, giengen also, so wie sein Gutes, meist eben daraus hervor, daß es ein System war. Die Ursachen, welche die Catastrophe vorbereiteten, darzulegen, musste allerdings im Plan des V[er]f[assers] liegen; er bleibt aber darum noch sehr weit von der Anmaßung entfernt, gezeigt haben zu wollen, daß es gerade so habe kommen müssen. Das vollständige Gewebe der Geschichte durchblickt nur das Auge des Ewigen. Aber auch der bescheidne Forscher wird in der hier dargestellten Vergangenheit neben der Auflösung des Bestandenen vielleicht auch zugleich die Aussicht zu einer größern und herrlichern Zukunft entdecken, wenn er statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte, durch die Verbreitung Europäischer Cultur über ferne Welttheile und die aufblühenden Anpflanzungen der Europäer jenseits des Oceans, die Elemente zu einem freyern und größern, sich bereits mit Macht erhebenden, Weltstaatensystem erblickt; der Stoff für den Geschichtschreiber kommender Geschlechter!86

Bedingt durch seine Einbeziehung der außereuropäischen Welt sah Heeren, anders als manche Zeitgenossen, bereits ein sich ausbildendes Weltstaatensystem. In späteren Auflagen thematisierte Heeren das Problem des Zeitzeugen: Daß es eine Unmöglichkeit sey, die Geschichte seiner Zeit eben so befriedigend als die der Vergangenheit zu schreiben, hat er während der Arbeit auf das lebhafteste gefühlt; denn welcher Leser brächte zu jener nicht seine Ansichten, seine Meinungen, und seine Gefühle mit? Und welcher Schriftsteller könnte diesen Allen Genüge leisten? Der Verf.[asser] mußte sich damit begnügen, die Begebenheiten, die er darzustellen hatte, nach den politischen Grundsätzen darzustellen, welche er als unveränderlich betrachtet; und welche von der ersten bis zu letzten Seite seines Werks vorherrschend sind. Dieß ist die P a r t e i l o s i g k e i t, nach der er strebt, und keine andre.87

Aus der Perspektive und den Erfahrungen der Jahre nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und der Wiederherstellung und Neuordnung des europäischen Staatensystems mahnt der Zeitgenosse Heeren: Mögen die ernsten Lehren der letzten Vergangenheit nicht verloren für die Zukunft bleiben! Möge kein Gewalthaber es wieder versuchen wollen Europa in Fesseln zu schlagen! Mögen die Völker sich würdig zeigen der wiedererrungenen Freiheit, und die Fürsten nicht sofort an ihr irre werden, wenn sie wahrnehmen müssen, daß ihr Gebrauch – nie ganz ohne Mißbrauch ist.88

Für Heeren war die Hauptidee, daß das Europäische Staatensystem auf seiner Freyheit ruht. In seiner Einführung zu seinem Handbuch, das die Geschichte des europäischen Staatensystems von der Überseeexpansion und der Reformation im 16. Jahrhundert bis in die formative Phase der europäischen Ordnung nach den 86 Ebd., XI–XII (Hervorhebungen im Original). Vorrede geschrieben Göttingen 5. Febr. 1809. 87 Heeren, Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien, von seiner Bildung seit der Entdeckung beider Indien bis zu seiner Wiederherstellung nach dem Fall des Französischen Kaiserthrons, und der Freiwerdung von Amerika in zwei Theilen, vierte verbesserte und fortgesetzte, Ausgabe Göttingen 41822, Vorrede, (Nachschrift zur dritten und vierten Auflage. Göttingen 10. April 1819 u. 1822), XVII–XVIII. Hervorhebung im Original und sperr „Parteilosigkeit“ (WDG). 88 Ebd., XVIII.

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Napoleonischen Kriegen behandelt, verweist er auf den allgemeine Charakter und die Hauptideen der europäischen Staatenordnung und listet siebzehn Einflussfaktoren auf.89 Wichtig ist ihm, darauf verweist er gleich bei seinem ersten Punkt, dass die Geschichte des Europäischen Staatensystems (…) keineswegs die Geschichte der einzelnen Staaten [sei]. Sie ist vielmehr die Geschichte ihrer Verhältnisse gegen einander; besonders der Hauptstaaten, in so fern sie sich aus dem Wesen der einzelnen; der Persönlichkeit der Gewalthaber; und den herrschenden Ideen der Zeit entwickelten. Allgemeine Bedingung des Wechsels dieser Verhältnisse, und daher allgemeiner Character dieses Staatensystems, war aber seine innere Freiheit, d.h. die Selbständigkeit und wechselseitige Unabhängigkeit seiner Glieder.90

Hauptaufgabe des Geschichtsschreibers sei es daher, die inneren und äußeren Entwicklungen und Veränderungen im Staatensystem darzustellen und zu analysieren, aber auch die Einflüsse der außereuropäischen Welt auf Europa einzubeziehen. Das Handbuch zum europäischen Staatensystem ist klar und systematisch aufgebaut und in Zeitabschnitte untergliedert. Den einzelnen Hauptabschnitten wird eine kommentierte Literatur- und Quellensammlung vorangestellt. Der Geschichte des Kolonialwesens sind jeweils eigene Kapitel gewidmet,91 gehe doch aus einem beschränkten Europäischen Kolonialsystem ein Weltstaatensystem hervor.92 Eingehend befasste sich Heeren mit der Wiederherstellung des europäischen Staatensystems, denn die Wiederherstellung des zertrümmerten Europäischen Staatensystems war die größte, aber wenn sie gelang, auch die ruhmvollste, Unternehmung, welche die Politik bisher auszuführen hatte.93

Die Neuordnung von 1814/15 bewertete Heeren als Ergebnis des Willens der Akteure – der Herrscher, der Staatsmänner und Minister. Dies sicherte wenigstens vor der Gefahr, ein Luftgebäude aufgeführt zu sehen, das nur in der Theorie vorhanden gewesen wäre.94 Als Ursache für die pragmatische, friedenssichernde Neuordnung des europäischen Staatensystems sah Heeren die Erfahrungen der langen Kriegsperiode, ein neues Denken und den tief greifenden, nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens beeinflussenden Transformationsprozess: Wenn aber die Mächtigen, und selbst die mächtigsten der Erde, doch immer unter dem Einflusse der herrschenden Ideen des Zeitalters stehen, so hat sich dieses wohl nicht leicht jemals mehr bestätigt als hier. Daß Fürsten und Völker nicht dazu da sind, sich einander zu bekriegen, wenn nicht die Noth sie dazu zwingt; daß die Staaten, ein freies Staatensystem bildend, ihre Unabhängigkeit wechselseitig zu respektiren haben; daß die Verfassungen geregelt wer89 Vgl. Heeren, Europäisches Staatensystem (31819), 6–18. 90 Ebd., 6. 91 Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Europäisches Staatensystem (41822), Zweiter Theil., 376– 408. 92 Ebd., 408. 93 Ebd., 409. 94 Ebd.

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den müssen durch bestimmte Gesetze; daß den Völkern durch ihre Bevollmächtigten ein gewisser Antheil an der Gesetzgebung, besonders den Abgaben-Gesetzen, eingeräumt werden müsse; daß Sklaverei und Leibeigenschaft Uebel seyen, die man abzuschaffen habe; daß der Mittheilung der Gedanken durch Schrift und Druck ihre gesetzliche Freyheit zu lassen sey; endlich und vor allem, daß zwischen Religion, Politik und Moral, ein Band vorhanden sey, dass möglichst befestigt werden müsse; – dieß waren Grundsätze, die zum Theil grundsätzlich ausgesprochen, zum Theil stillschweigend anerkannt wurden. Auch der Einfluß den die Formen des geselligen Lebens auf politische Verhandlungen haben, äußerte sich auf die höchst wohlthätige Weise. Man hört nichts von jenem Rangstreit, der ein Jahrhundert früher zu Utrecht den Fortgang so lange hemmte; und täglich sah man die mächtigsten Monarchen in bürgerlicher Kleidung in der Mitte der Bürger wandeln.95

Die von Heeren hier vorgetragenen Überlegungen und wichtigen Einflussfaktoren für eine stabile Friedensordnung muten aus heutiger Sicht recht modern an. Folgt man Heerens Gedanken, dann bestätigen sie die Ergebnisse neuerer Forschungen über die europäische Neuordnung auf dem Wiener Kongress, der als Schnittstelle im europäischen Transformationsprozess vom Alten Europa zum Europa der Moderne gesehen wird.96 Zentral und von grundlegender Bedeutung war für Heeren aus einer europäischen Perspektive auch die Organisationsform für die Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das 1806 de facto und politisch beendet wurde. Heeren merkte zur Nachfolgeorganisation und zur Geographie an: Von dem Centralstaat Europas, von Deutschland, muß die Uebersicht der Einzelnen ausgehen. Daß an sein Schicksal das Schicksal Europas geknüpft sey, hat die neueste Geschichte zu laut gepredigt, als daß es noch eines Beweises bedürfte. Aber welch’ einen Anblick zur Zeit seiner Befreiung bot Deutschland dar! Schon fast ein Jahrzehnd hatte es aufgehört ein Staat zu seyn. Nach allen Seiten waren seine Grenzen geschmälert. Das linke Rheinufer, Holstein, die Illyrischen Provinzen waren abgerissen. In seinem Innern der Besitzstand fast allenthalben verändert und ungewiß (…) Was gehörte dazu in dieses Chaos Ordnung zu bringen?97

In der Endphase der Napoleonischen Kriege war klar, dass es notwendig sein würde die Deutschen Staaten zu einer politischen Einheit zu verbinden, so weit dieß möglich war (…); wenn sie bestehen sollten. Laut forderte dieß auch die öffentliche Stimme: noch nie war 95 Ebd., 409–410. 96 Vgl. Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15. Schnittstelle im Transformationsprozess vom Alten Europa zum Europa der Moderne, in: Winfried Eberhard / Christian Lübke (Hgg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume. Leipzig 2009, 655–679 sowie die englische Fassung: Ders. The Congress of Vienna 1814/15. Intersection in the Process of Transformation from the Europe of the Old Regime to the Europe of Modernity, in: Winfried Eberhard / Christian Lübke (Hgg.), The Plurality of Europe. Identities and Spaces. Leipzig 2010, 611–634. Ders., Der Wiener Kongress 1814/15 – Seine Rolle im europäischen Transformationsprozess vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Michaela Bachem-Rehm / Claudia Hiepel / Henning Türk (Hgg.), Teilungen überwinden. Europäische und internationale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2014, 253–272. Vgl. auch: Ders., Der Wiener Kongress und Europa: Wandel und Neuordnung im Zeichen der Transformation 1750–1830 (wie Anm. 38). 97 Heeren, Europäisches Staatensystem (41822) II, 413–414.

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Wolf D. Gruner so der Deutsche Nationalgeist geweckt. Aber wie weit war es möglich? Nicht von der Umformung zu Einem Staat – (sie wäre das Grab deutscher Cultur und Europäischer Freiheit;) nur von einer Verbindung der bestehenden Deutschen Staaten konnte die Rede seyn.98

Bereits im Pariser Frieden von 1814 war festgelegt worden, dass die deutschen Staaten durch ein föderatives Band („lien fédératif“) verbunden werden sollten. Eine Föderativordnung der deutschen Staaten als Band der deutschen Nation war die Vorgabe, kein starker deutscher Nationalstaat. Auf dem Wiener Kongress wurden verschiedene Konzepte diskutiert. Diese gingen von einem reformierten, handlungsfähigen deutschen Reich mit einem Kaiser an der Spitze über eine scheinföderative Doppelhegemonie (Kondominium) Österreichs und Preußens über die deutschen Staaten bis zu einer lockeren, staatenbündischen Lösung für das deutsche Mitteleuropa.99 Ein starker deutscher Nationalstaat mit einem Habsburger Kaiser könnte eine stabile europäische Nachkriegsordnung gefährden und lag weder im Interesse der Mehrzahl der deutschen Staaten noch ihres europäischen Umfeldes würde doch auf diese Weise die Napoleonische Hegemonie über Europa durch eine österreichische abgelöst. Ein Kondominium der deutschen Großmächte mit dem Norden als preußischer und dem Süden als österreichischer Einflusszone lag nicht im europäischen Interesse und im Interesse des „Dritten Deutschland“, der rein deutschen Staaten, die die napoleonische Flurbereinigung überlebt hatten. Als Nachfolgeorganisation für das Alte Reich kam daher nur eine staatenbündische Regelung in Frage. Unter dem Druck der Ereignisse nach der Rückkehr Napoleons und der Wiederaufnahme des Krieges, wurde schließlich am 8. Juni 1815 die Bundesakte für den Deutschen Bund unterzeichnet und damit der Deutsche Bund als Nachfolger des Alten Reiches gegründet.100 Die Bundesakte wurde zum Grundgesetz für den Deutschen Bund, die Bundesversammlung – der „Bundestag“ – unter dem Präsidium Österreichs zu Organ des Bundes.101 Aufgrund seiner zentralen geographischen Lage in Europa sollte der Deutsche Bund nach den Willen der Schöpfer der Wiener Ordnung zwei Funktionen erfüllen, die in der Präambel festgeschrieben wurden: Die souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands, den gemeinsamen Wunsch hegend, den 6. Artikel des Pariser Friedens vom 30. Mai 1814 in Erfüllung zu setzen, und von den Vortheilen überzeugt, welche aus ihrer festen und dauerhaften Verbindung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands und die Ruhe und das Gleichgewicht Europa’s hervorgehen, sind übereingekommen, sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen.102

98 Ebd., 414. 99 Vgl. hierzu u.a. Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007, 115–137. 100 Vgl. hierzu Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866. Band der Nation im deutschen Mitteleuropa (wie Anm. 38). 101 Zur Struktur und den Organen des Deutschen Bundes: Vgl. Organigramm, Ebd. 102 Philipp Anton Guido von Meyer, Corpus Iuris Confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes. 3 Bde. Frankfurt a.M. 3 1859–1869, Bd. 2: Die Deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815, 1–7,1.

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Der Deutsche Bund war unauflöslich. Als dauerndes Band sollte er die deutschen Staaten umschlingen. Wie konnte sich der Deutsche Bund als Band der Nation entwickeln und von der Nation angenommen werden? Das neue nationale Band der Deutschen: Ein dauerndes Band sollte also die Deutschen Staaten umschlingen. Ward es viel loser geknüpft als die Nation es erwartete, als selbst einige der mächtigsten Theilnehmer es gewollt hatten, so war es doch ein Band; und wenigstens die Hoffnung blieb, dass die Zeit es fester schürzen werde, wenn das Bedürfniß sich fühlbarer macht.103

Der Deutsche Bund war in das in Wien geschaffene europäische Sicherheitssystem eingebunden und erhielt als deutsche und europäisch-internationale Institution eine zentrale Rolle für die Wahrung des europäischen Gleichgewichtes und des Friedens von Europa. In einem Privatbrief an das Foreign Office in London verwies der britische Gesandte beim Deutschen Bund 1817 auf die dem Deutschen Bund zugewiesene Aufgabe als Schlussstein des europäischen Friedens. Dort hieß es: The Confederation promises to arrive at a freedom of action, and a consistency which I at least did not expect, and in that case it will develop such a force as to be by far the most powerful body in Europe and so situated as to interpose between all the great Powers and to become the chief guarantee of the Peace of the Continent. You will be surprised at the amount of its force when it becomes to be stated.104

Der Deutsche Bund wurde sicherlich nicht so mächtig wie Frederick Lamb es in seinem Brief erwartet hatte. Er erfüllte jedoch als mitteleuropäische Föderativordnung über mehr als eine Generation seine doppelte Friedenssicherungsaufgabe für Europa und für die deutschen Staaten ausfüllen. Dieses Funktion schuf wichtige Voraussetzungen für den Weg der europäischen Staatenwelt von Alten Europa zum Europa der Moderne und Modernität ohne großen Krieg, für die wirtschaftliche Entwicklung Europas sowie für die Festigung der Rolle Europas als „Königskontinent“ und den ersten Globalisierungsschub. Wie musste das politisch-soziale System des Deutschen Bundes mit Blick auf Europa aussehen? Heeren stellte nüchtern mit Blick auf die Neuordnung des mitteleuropäischen Raumes fest, dass was unter bestehenden Umständen und Verhältnissen möglich war, – es mußte auch hier die Richtschnur bleiben.105 Er machte sich Gedanken, wie eine entwicklungsfähige Föderativordnung ausgestaltet werden könnte. In diesem Zusammenhang diskutierte er auch das Modell einer Unionsregierung wie in den USA. Dieses Modell werde jedoch nicht ohne einen Thronverzicht der Fürsten möglich sein. Wie konnte das Verhältnis der Nation zur Nachfolgeorganisation des Alten Reiches sich gestalten? Die Stimme der Nation [… müsse] ihn halten und heben: die Cabinette vermögen es nicht allein, auch wenn sie es wollen, wenn die öffentliche Stimme und die Theilnahme des Volks sie 103 Heeren, Europäisches Staatensystem (21822) II, 415. 104 Vgl. British National Archives London (Public Record Office) Foreign Office 30/10 LambHamilton (private) Frankfurt a.M. 5.3.1817. 105 Heeren, Europäisches Staatensystem (41822) II, 418.

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Wolf D. Gruner nicht unterstützt. Der Friedensstaat von Europa zu seyn, ist eine hohe Bestimmung; kann es eine ruhmvollere geben, wenn er sie erfüllt?106

Heeren als Anhänger und publizistischer Verfechter einer europäischen Gleichgewichtsordnung, zeigte sich mit den Ergebnissen der Friedensordnung und des wieder errichteten europäischen Staatensystems zufrieden und kommentierte: So schloß sich, auf die würdigste Weise, das große, dreihundertjährige Drama der Geschichte des Europäischen Staatensystems mit seiner Wiederherstellung. Möge die Zukunft den erhabenen Gesinnungen der Monarchen entsprechen! Mögen die Gewölke verziehen, die im Westen wie im Osten unsers Welttheils schon wieder aufgestiegen sind! Die Weltgeschichte indeß, kennt keinen letzten Act; und den Gebäuden der Politik ward nie gänzliche Vollendung und Unveränderlichkeit zu Theil: Denn was wir als Menschen bauen bleibt nie fehlerfrei.107

Heeren blieb, trotz der Spannungen im Europäischen Konzert in der Dekade nach dem Wiener Kongress, optimistisch mit Blick auf die Zukunft. Wichtig war ihm dabei auch, dass das Herzstück der europäischen Ordnung, als solchen sah er den Deutschen Bund, sich positiv im Rahmen des europäisch-internationalen Systems weiterentwickelte. Er hatte zur Eröffnung des Frankfurter Bundestages des Deutschen Bundes 1816 auf das Grundproblem des „Centralstaates“ von Europa, als Stabilisator der Friedensordnung oder als Sicherheitsrisiko für das Europäische Staatensystem zu werden hingewiesen.108 Charakteristisch für eine Gleichgewichtsordnung sei: Das Wesen dieses Systems oder Inbegriffs unter einander verschlungener Staaten besteht darin, dass es ein freyes System, d.i. ein Inbegriff der Staaten ist, die sich bey aller äußern und innern Ungleichheit dennoch wechselseitig als frey und unabhängig von einander betrachten, und diese Freyheit und Unabhängigkeit aufrecht erhalten wollen. Dieß ist es, was die Kunstsprache der Politik sonst das System des Gleichgewichts nannte; dessen wahrer Werth sogleich in die Augen fällt, wenn man das Wesen desselben aufgefaßt hat.109

Niemand wolle die jüngsten Erfahrungen mit dem entgegengesetzten System dem eines vorherrschenden Staats, oder, wie man es sonst nannte, einer Universalmonarchie wiederholen.110 Mit Blick auf den Deutschen Bund meinte er, ein deutscher Bundesstaat stehe nur in so fern in Uebereinstimmung mit dem Wesen des allgemeinen Staatensystems von Europa, als er die Freyheit desselben aufrechterhalten hilft. Der Deutsche Bundesstaat macht geographisch den Mittelpunct dieses Systems aus. Er berührt, ganz oder beynahe, die Hauptstaaten des Westens und Ostens; und nicht leicht kann auf der einen oder andern Seite unseres Welttheils sich etwas ereignen, was ihm gleichgültig bleiben könnte. Aber in Wahrheit, auch

106 Heeren, Europäisches Staatensystem (31819), 833. 107 Heeren, Europäisches Staatensystem (41822), 451–452. 108 A(rnold) H(errmann) L(udwig) Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem Europäischen Staatensystem; bey Eröffnung des Bundestages dargestellt. 109 Ebd., 10 (Hervorhebungen im Original). 110 Ebd.

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den fremden Mächten kann es nicht gleichgültig seyn, wie der Centralstaat von Europa geformt ist!111

Der Deutsche Bund müsse als Bundesstaat fortentwickelt werden. Die Vorteile einer Föderativordnung lägen auf der Hand. Ein Bund oder Bundesstaat (…) bildet also wieder den Mittelpunct des Europäischen Staatensystems; und damit ist seine Freyheit (…) nicht bloß ausgesprochen, sondern auch begründet. Ein Bundesstaat kann seiner Natur nach schon nicht leicht erobernder Staat seyn wollen, weil er kein Interesse dabey hat. Welche Vortheile zöge er aus den Eroberungen; und wem sollten sie zu Gute kommen? Für die Vortheile eines einzelnen seiner Glieder werden die andern nicht kämpfen; und Eroberungen für das Ganze wären nur in so fern gedenkbar, als man etwa einen fremden Staat zwingen wollte, dem Bundesstaat beyzutreten; ein Fall, der hier so außerhalb der Gränzen der Wahrscheinlichkeit liegt, daß es unnütz seyn würde sich dabei zu verweilen. Aber gesetzt auch er wollte erobern, so fehlen ihm die Mittel dazu. Es liegt aus leicht einzusehenden Gründen, in dem Character eines Bundesstaates, daß, wie stark er auch zur Vertheidigung seyn mag, er doch schwach zum Angriff ist; vor allem wo er, wie hier, auf beyden Seiten von mächtigen Monarchien eingeschlossen wird. Mit Recht werden wir also den Deutschen Bundesstaat den Friedensstaat von Europa nennen können.112

Heeren sah allerdings auch die potentiellen Gefahren, die mit einem starken deutschen Zentralstaates für Europa verbunden wären: Wäre dieser Staat eine große Monarchie mit strenger politischer Einheit; ausgerüstet mit allen den materiellen Staatskräften, die Deutschland besitzt – welcher sichere Ruhestand wäre für sie möglich? (…) Ja! Würde ein solcher Staat lange der Versuchung widerstehen können, die Vorherrschaft in Europa sich zuzueignen, wozu seine Lage und seine Macht ihn zu berechtigen schienen? Es ist leicht dieß einzusehen; wer die Geschichte kennt wird es nicht bezweifeln: die Entstehung einer einzigen und unumschränkten Monarchie in Deutschland würde binnen kurzem das Grab der Freyheit von Europa.113

Aus Sicht Heerens war aus deutschem und europäischem Interesse ein Bundesstaat die angemessene Organisationsform, denn dieser wäre ein Friedenstaat in einem viel höhern Sinn. Sein Frieden ist der Frieden, der aus dem Rechtszustande hervorgeht; er dauert mit diesem und hört auf mit diesem. 114

Heeren weist mit Blick auf das europäische Staatensystem auf einen weiteren Aspekt hin, nämlich, die Frage ob ein Deutscher Bund neutral sein könne? Der Deutsche Bund sei nicht „Friedensstaat“ in dem Sinne,

111 Ebd., 11. 112 Ebd., 13–14. 113 Ebd., 11–12. In der im Herbst geschriebenen 1817 neuen Fassung, gedruckt bei Heeren, Vermischte Historische Schriften II, S. 423–452, ist diese Passage weg gelassen bzw. abgeschwächt: „Wäre es auch nicht für sich allein mächtig genug zum Erobern, was bedürfte es mehr als seiner Allianz mit einer Hauptmacht im Westen – um dem Osten, mit einer Hauptmacht im Osten, um dem Westen gefährlich zu werden? Um bei jedem ausbrechenden Kriege den Weg nach Moskau oder nach Paris sich zu eröffnen? Ja! würde ein solcher Staat lange der Versuchung widerstehen können, die Vorherrschaft in Europa sich anzueignen, wozu seine Lage und seine Macht ihn zu berechtigen schienen?“ (430–431). 114 Heeren, Der Deutsche Bund (1816), 14–15.

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Wolf D. Gruner daß eine ewige Neutralität, wie man sie der Schweiz bewilligt hat, unsre Sache wäre. Wir kommen mit diesem Bundesstaat in Manchem, nicht in Allem überein; unsere Rolle ist eine andre, wie die seinige. Er kann, zieht er es vor, allenfalls sich isolirt zurückziehen; das können wir nicht; er durfte sich Neutralität bewilligen lassen, das dürfen wir nicht. Wir liegen sofort darnieder, wenn wir nicht ganz auf eigenen Füßen stehen.115

Mit der Neutralitätsproblematik greift Heeren einen Punkt auf, der im Zusammenhang mit Deutschland immer wieder diskutiert wurde, insbesondere in den 1960er und frühen 1980er Jahren als ein neutralisierter Deutscher Bund als Lösung für die Regelung der deutschen Frage in der Politik und in der Friedensbewegung diskutiert wurde. Sein Argument von damals, dass ein deutscher Staat schon allein wegen seiner geographischen Lage und Größe nicht neutral sein könne, war wohl begründet.116 Heeren hatte aus der Sicht des Zeitgenossen und Wissenschaftlers, der sich vergleichend mit der Geschichte des Staatensystems und der Geschichte ihrer Verhältnisse gegeneinander mit der Nachkriegsordnung befasst, die kein erneutes Hegemonialsystem hervorbringen dürfe und neben den deutschen Funktionen des Bundes auch auf seine europäischen hingewiesen. Er dürfe nicht eine „ewige Neutralität“ wie die Schweiz verfolgen. In seinem Interesse müsse es auch liegen, für den rechtmäßigen Besitzstand nicht allein seiner Mitglieder, sondern auch des rechtmäßigen Besitzstandes der Staaten von Europa einzutreten. Das Princip des rechtmäßigen Besitzstandes müsse bewahrt werden, da der Sturz der Dynastien zu Revolutionen führt. Ohne die Bewahrung des Legitimitätsprinzips sei die Sicherheit Deutschlands und Europas gefährdet. Heeren stellte sich also gegen revolutionären Umsturz und befürwortete friedliche Fortschritte und Veränderungen. Am Beispiel einer Fortentwicklung des Deutschen Bundes zu einem echten Bundesstaat hatte er dieses erörtert. Als Zeitgenosse verband er mit dem neuen Band für die deutsche Nation auch Erwartungen. Seine Äußerungen machten ein Selbstverständnis für die Bedeutung Deutschlands in Europa und auch für das der deutschen Nation deutlich. Mit der Bundesgründung trete Deutschland als Gesammtmacht ein in die Reihe der Mächte, der deutsche Staatenbund als der Beschützer des Rechts, als der Erhalter des Friedens in diesem höhern Sinne! So nehme er sofort den Platz unter ihnen ein, der ihm gebührt! Nicht darauf macht er Ansprüche, einen ewigen Frieden in Europa gründen zu wollen; nur denen muß er furchtbar seyn, die diesen Frieden brechen wollen (…) So erscheine er als ein neuer Grundpfeiler der wiederhergestellten Ordnung, welche die alliirten Mächte durch den Pariser Tractat gegründet haben; als Glied ihres Vereins.117

Der Deutsche Bund sollte keine passive, vielmehr eine thätige Rolle auf dem Schauplatz der Politik übernehmen und auch als Mittler fungieren. Aufgrund seiner Lage mitten in Europa und seiner Größe sei er ein natürlicher Zentralpunkt in 115 Ebd., 14 (Hervorhebungen im Original). 116 Vgl. hierzu u.a. Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund – Modell für eine Zwischenlösung?, in: Ders., Deutschland mitten in Europa. Hamburg 1992, 45–69, mit entsprechenden Beispielen zu der damaligen Diskussion. Vgl. auch Gruner, Deutschland in Europa 1750–2007, 360– 366. 117 Heeren, Deutscher Bund, 16–17 (Hervorhebungen im Original).

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Europa. Unter der Perspektive des doppelten Völkerrechtssubjekts, d.h. der Bund als Subjekt des Völkerrechtes besitzt das aktive und passive Gesandtschaftsrecht, böte es sich an die Freie Bundeshauptstadt Frankfurt am Main zum Ort der gemeinschaftlichen Verhandlungen in Europa zu machen, denn Europa, jetzt mehr wie je zu Einem Staatensystem verschlungen, bedarf eines Centralpunctes der gemeinschaftlichen Verhandlungen. (…) In einem freyen Staatensystem, wie das von Europa, kann der Platz der gemeinschaftlichen Verhandlungen auch nur in einem freyen Staate, oder einer freyen Stadt seyn.118

Die deutsche Bundeshauptstadt liege auch in der Mitte zwischen Lissabon und Peterburg, zwischen Stockholm und Neapel. Ihre freye Verfassung läßt den Bevollmächtigten der Höfe auch eine freye Wirksamkeit.119

Diese hochfliegenden Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Konferenzen der Großmächte zur Regelung europäischer Fragen tagten in der Zeit des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 in der Regel in London, wie bei der belgischluxemburgischen Frage oder wie nach dem Krimkrieg in Paris. Die Konferenzorte unterstrichen auch die Bedeutung, den Stellenwert und die Wirkungsmöglichkeiten der jeweiligen Großmächte. Auch der Deutsche Bund selbst, so schreibt Heeren 1821, war mit der falschen Vorstellung behaftet, die sich das große Publikum von der Natur des Bundes, und des ihn vertretenden Bundestags machte. Statt den Bund für das anzusehen, was er ist, wofür er sich selber gleich bei der Eröffnung des Bundestags erklärte, für einen Staatenverein, wollte man das in ihm sehen, was er nicht ist, und der Natur der bestehenden Verhältnisse noch nicht seyn oder werden kann, einen Staat; wozu die Vergleichung, die man zwischen ihm und Nordamerika, zwischen dem Congreß, der nach eigener Vollmacht, und dem Bundestag, der nach den Instruktionen seiner Committenten handelt, stillschweigend anstellte (statt dass man sie etwa mit der Schweiz, und der Schweizer Tagsatzung hätte anstellen sollen), beitragen mochte.120

Heeren beurteilte die Fortschritte und Defizite aus der Sicht des Jahres 1821. Der Hauptzweck des Bundes, einen festen Rechtszustand im Innern und Sicherheit nach außen herzustellen, ist trotz mancher „Mängel“ auf einem guten Weg. Er betonte aber auch, dass jeder Bund nur dann erst seine wahre Festigkeit erhält, wenn er die Feuerprobe der gemeinschaftlichen Gefahr und Hülfe bestanden hat. Wir wollen eine solche für den Deutschen Bund nicht herbei wünschen; die Erfahrung, daß wir einander bedürfen, und nur vereint stark sind, ist indeß noch zu frisch, als daß wir nicht bloß hoffen dürfen, dass er sie bestehen werde.121

Im Rückblick auf die fünf Jahre seit der Eröffnung des Bundestages in Frankfurt sei so weit die Deutsche Geschichte reicht, binnen fünf Jahren so viel Heilsames, theils geschehen, theils vorbereitet worden.122 Als europäischer Friedensstaat und 118 119 120 121 122

Ebd., 31. Ebd. Heeren, Deutscher Bund (1821), Nachschrift, 453 (Hervorhebungen im Original). Ebd., 457. Ebd.

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„Centralstaat“ der europäischen Ordnung werde der Bund den ihm zugewiesenen Platz unter den Mächten Europas einnehmen und seine deutschen und europäischen Aufgaben erfüllen. Diese Einschätzung war durchaus richtig und der Deutsche Bund wies in seiner Grundordnung Möglichkeiten für eine Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat auf. Die Militärverfassung war ein erster Schritt, die dem Bund auch bundesstaatliche Elemente zuwies. In seiner Geschichte hat der Deutsche Bund, wie neuere Forschungen verdeutlichen, einen wichtigen Beitrag zur inneren Nationsbildung geleistet, der bislang verdrängt oder nicht gesehen wurde.123 5. Schlussbetrachtung Arnold Herrmann Ludwig Heeren lässt sich in kein Korsett stecken. Er war weder ein Romantiker, noch ein Konservativer, noch ein Liberaler. Er hatte als Spätaufklärer zwischen Aufklärung und Historismus von allem etwas. In seiner Hochzeit war er als Wissenschaftler, Schriftsteller und akademischer Lehrer weit über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus durch seine Schriften bekannt. Heeren war ein deutscher Historiker von Weltruf, auch wenn dieser im Vormärz schnell in seinem Heimatland verblasste. Es wäre höchste Zeit, dass eine wissenschaftliche Biographie Heeren in seiner Zeit und in seinem Umfeld würdigen würde. Sicherlich hat Christoph Becker-Schaum einen gewichtigen Beitrag zu Heeren als Mensch und Wissenschaftler geleistet und es ist auch klar, dass eine Heerenbiographie sehr schwer wegen der Komplexität und Vielfalt seiner Studien zu schreiben sein wird; dennoch bleibt eine Biographie des großen deutschen und europäischen Historikers ein Forschungsdesiderat. Durch eine eingehende Beschäftigung mit dem Werk Heerens, der für seine Analysen verschiedene Einflussfaktoren einbezog und neben anderen Grundsätzen wie die Verpflichtung zur Wahrheit und die Ideologiefreiheit in der historischen Darstellung, vor allem die Unparteilichkeit für unumgänglich hielt, werden sich neue Perspektiven für die historische Europaforschung ergeben. Die Zeit ist reif die vielfach noch immer dominierende Reichshistoriographie zu überwinden und zu erkennen, dass die deutsche Geschichte nicht auf die Reichsgründung von 1870/71 reduziert werden darf. Es ist Zeit anzuerkennen, wie es James Sheehan formuliert hat, that the present period has a legitimacy of its own, a legitimacy which comes not from its relationship to the old Reich, but from its place within a broader and deeper historical tradition. The German present is not a postscript to the imperial past; it is a new chapter in a much older history.124

Heeren ist methodisch und auch von der Perspektive her ungemein anregend. Sein Versuch einer entideologisierten Geschichtsschreibung – trotz des Wissens um die 123 Vgl. hierzu Gruner, Deutscher Bund sowie Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866. München 2006 und Ders., Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866. Göttingen 2005. 124 James J. Sheehan, What is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History, in: JMH 53/1981, 1–23, 23.

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Problematik der Zeitgenossen- und Zeitzeugenschaft – eröffnet neue Chancen. Im Fall der deutschen Geschichte den Weg zu einer Föderalisierung der aus zahlreichen Geschichtslandschaften sich zusammensetzenden deutschen Geschichte. Im Falle der europäischen Geschichte eröffnen sich Möglichkeiten für einen strukturgeschichtlichen Zugriff auf eine europäische Gesamtgeschichte. Heeren bietet mit den von ihm herangezogenen komplexen Faktoren, wie Handels- und Kolonialgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte, um nur einige zu nennen, Wege einer europäischen Geschichte jenseits der Nationalgeschichten, aber auch zu einer Globalgeschichte.125 Der Begriff des Weltstaatensystems taucht in seinen Arbeiten immer wieder an prominenter Stelle auf. Arnold Herrmann Ludwig Heeren leistet mit seinen Arbeiten zum europäischen Staatensystem neue Zugänge zu den internationalen Beziehungen, die über die politischen Beziehungen zwischen Staaten hinausgreifen. Vor allem aber vermittelt uns Heeren Anregungen – und seine Studien zum Deutschen Bund sind hierfür ein gutes Beispiel – die Geschichte des deutschen Mitteleuropa künftig als Geschichte Deutschlands in Europa zu sehen und zu bewerten, denn deutsche Geschichte war und ist stets auch europäische Geschichte und europäische Geschichte ist immer auch zugleich deutsche Geschichte. Die Geographie Deutschlands in Europa machte es, darauf hat Heeren vielfach verwiesen, zum Schlussstein der jeder europäischen Ordnung. Die politische Organisationsform Deutschlands zwischen starkem, zentralisierten Staat, Föderativordnung und schwachem europäischen Zentrum ist und war der Kern der deutschen Frage oder des deutschen Problems, wie es die Umwelt Deutschlands in Geschichte und Gegenwart immer wieder sieht.126 Die Euro-Krise und die deutsche Politik haben der deutschen Frage in Bildern, Karikaturen und Publikationen wieder auf die Tagesordnung und die Tagespolitik gespült.127 Timothy Garton Ash brachte jüngst die ‚neue deutsche Frage‘ auf den Punkt, wenn er formulierte: 125 Leider findet eine Rezeption Heerens in der deutschen Geschichtswissenschaft bislang nur marginal statt. Seier musste Anfang der 1980er massiv auf seine Bedeutung hinweisen ehe er einen Beitrag im Band 9 von Wehlers Deutschen Historiker schreiben durfte. In den OnlineLexika zu deutschen Historikern taucht er nicht auf (vgl. z.B. Historicum.net). 126 Vgl. hierzu u.a. ausführlicher Wolf D. Gruner, Deutschland in Europa 1750–2007. Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland (wie Anm.61). 127 Seit dem Beginn der weltweiten Finanzkrise und der Eurokrise 2008/09 und der Probleme einiger Staaten in der Eurozone, wie Griechenland, kehrte die deutsche Frage in Demonstrationen, in Karikaturen und in den Printmedien, aber auch in historischen Darstellungen, wieder. Vgl. Wolf D. Gruner, The German Role in Europe, in the European Union and the Euro Crisis (mit Karikaturen), in: Robert Boyer / Ivan T. Berend / Kumiko Haba (Hgg.), The Euro Crisis and European Political Economy. France, Germany and Central Europe. Tokyo 2013, 85–94, 194–200. Vgl. auch u.a. seit 2010: The Euro Crisis. The German Problem, in: The Economist 19.11.2011, Philip Stephens, Germany should face the German Question, in: Financial Times 18.4.2013, Christian Calliess / Henrik Enderlein / Joschka Fischer / Ulrike Guérot / Jürgen Habermas, Europe and the ‘New German question’, in: Eurozine 26.8.2011, The German Problem, in: The New Statesman 14.3.2013 sowie Timothy Garton Ash, The New German Question, in: The New York Review of Books August 15, 2013 und auf den Spuren von A.J.P. Taylor, The Course of German History. London 1945ff. der junge britische

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Wolf D. Gruner There is a new German question. It is this. Can Europe’s most powerful country lead the way in building both a sustainable, internationally competitive eurozone and a strong, internationally credible European Union? Germany’s difficulties in responding convincingly to this challenge are partly the result of earlier German questions and the solutions found to them. Yesterday’s answers have both sown the seeds of today’s questions.128

Die Erfahrungen der deutschen Geschichte seit den Mahnungen von Heeren, dass Deutschland als Zentralstaat von Europa ein Friedensstaat sein müsse und dass es nicht darum gehen könne ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland zu schaffen.129 Prof. Dr. Wolf D. Gruner, Rostock

Historiker Brendan Simms, Cracked Heart of the old world, in: New Statesman 14.3.2013. Ders., Europe. The Struggle for Supremacy. From 1453 to the Present. New York Milton Keynes 2013. 128 Garton Ash, New German question, 1 (wie Anm. 127). Vgl. auch Michael Mertes, Ein ‚deutsches Europa‘. Nachruf auf ein Schreckgespenst, in: Internationale Politik 9/2002, 19–24. 129 Vgl. hierzu die Überlegungen bei: Gruner, Deutschland in Europa 1750–2007. Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland, 381–457 (wie Anm. 61).

LEOPOLD VON RANKE Der Historiograph des preussischen Staates als Geschichtsschreiber Europas? Jürgen Elvert Leopold von Rankes hatte seine Vorstellung von der Raison der Geschichtswissenschaft bereits 1824 in der Vorrede zu seiner „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“ auf den Punkt gebracht: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Dieses kurze Zitat hat seither und bis heute Generationen von Historikern beeinflusst und viele auch zum Widerspruch gereizt. Auf der einen Seite steht Rankes Postulat gewissermaßen am Anfang des insbesondere für die deutsche Geschichtswissenschaft der nachfolgenden Generationen typischen Historismus. Dieser Denkschule ging es bekanntlich im Wesentlichen darum, die Geschichte vom für die Historiographie des 18. Jahrhunderts so typischen philosophischmetaphysischen Ballast zu befreien und sie möglichst objektiv und empirisch gesichert zu betreiben. Freilich rieb sich z. B. mit Johann Gustav Droysen einer der bekanntesten Vertreter des Historismus an der geradezu „eunuchischen Objektivität“ seines akademischen Lehrers.1 Droysen hatte 1827 Rankes Vorlesung über „Die Entwicklung der Literatur seit den Anfängen des 18. Jahrhunderts“ gehört und zählt damit zu den ganz frühen Ranke-Schülern.2 Anders als Ranke wollte Droysen „nicht mehr, aber auch nicht weniger […] als die relative Wahrheit meines Standpunktes, wie ihn mein Vaterland, meine politische, meine religiöse Überzeugung, mein ernstliches Studium mir zu erreichen gewährt hat“.3 Damit ging es ihm wie Sybel, Treitschke und vielen anderen dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts verpflichteten deutschen Historikern also neben der reinen historischen Erkenntnis auch um die Herstellung einer Beziehung von Quelle und Standpunkt des Quelleninterpreten. Für Ranke hingegen war der Idealzustandes der Quelleninterpretation dann erreicht, wenn es dem Historiker ge  1

2 3

Alexander Demandt, Ranke unter den Weltweisen, in: Vorträge anlässlich der 200. Wiederkehr des Geburtstages Leopold von Rankes am 14. Dezember 1995, gehalten an der Humboldt-Universität Berlin, http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/demandt-alexander/PDF/Dema ndt.pdf (Abruf 12.9.2011), 15. Nach: Gunter Berg, Leopold von Ranke als akademischer Lehrer, Göttingen 1968, 225. Ebd.

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lang, sein ‚Selbst‘ auszulöschen und die Vergangenheit ausschließlich über die Quellen sprechen zu lassen, wohl wissend, dass er diesen Idealzustand niemals erreichen würde. Doch erklärt dieser Anspruch Rankes Quellenobsession, die sein wissenschaftliches Arbeiten bis an sein Lebensende prägte? So berichtet beispielsweise Rankes Sohn Friduhelm von einer Reise, die beide im Jahre 1865, also im 70. Lebensjahr Leopolds, nach Frankreich und England führte: „Mit großer Spannung hatte er [Leopold] [dem] folgenden Tag entgegengesehen; er war außerordentlich froh, als er in dem Archive des [französischen] Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten nicht bloß Zulaß, sondern auch das freundlichste Entgegenkommen fand […] Er sah sich noch in mehreren Archiven um und fand hier für uns reichliche Beschäftigung, namentlich in dem Kriegsministerium, wo ich täglich Vor- und Nachmittags Abschriften anfertigte, die später zum Teil in den Analecten der englischen Geschichte gedruckt wurden.“4 Quellen lieferten Ranke das Material, aus dem er seine geschichtswissenschaftlichen Arbeiten formte. Diese lagen seiner eigenen Einschätzung zufolge im Grenzbereich zwischen reiner Wissenschaft und Literatur; Geschichte und Kunst waren seines Erachtens „im Begriff, aber nicht in der Ausübung verschieden“, Kunst und Wissenschaft mussten also eine Einheit bilden. In seinem Tagebuch findet sich die Begründung für diesen Anspruch: „Weil Wissenschaft erkundet, was je geschehen ist, Kunst aber das Geschehene gestaltet und gegenwärtig vor das Auge führt“.5 In seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1836 wurde er noch konkreter: „Die Historik bezieht sich ganz auf die Literatur: Denn ihre Aufgabe geht dahin, wie die Begebenheiten geschehen sind, wie die Menschen beschaffen waren, von Neuem vor Augen zu stellen und das Andenken daran für alle Zeiten zu bewahren“.6 Vor dem Hintergrund dieses Anspruchs hat Hayden White Ranke in seinen geschichtstheoretischen Überlegungen zum Gegenstand des „linguistic“ oder „narrative“ turn gemacht. White zufolge passen Historiker ihre Darstellungen in die vier Archetypen des Erzählens ein. Ranke steht bei White für die Komödie, Jakob Burckhardt für die Satire, Jules Michelet für die Romanze und Alexis de Tocqueville für die Tragödie.7   4 5 6 7

Peter von Blanckenburg (Bearb.), Erinnerungen an Leopold von Ranke von seinem Sohn Friduhelm von Ranke, Rudolstadt, Oktober 1902, Berlin 1996 (Privatdruck). Leopold von Ranke, Tagebücher, Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, Bd. I, hg. von W.P. Fuchs, München/Wien 1964, 101, 103. Leopold von Ranke, Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik (1836), hier zitiert aus Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, 56. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt 1991. Zitiert nach: Wolfgang Hardtwig, Die Geschichtserfahrung der Moderne und die Ästhetisierung der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in: Vorträge anlässlich der 200. Wiederkehr des Geburtstages Leopold von Rankes am 14. Dezember 1995, gehalten an der Humboldt-Universität Berlin, http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/demandt-alexander/ PDF/Demandt.pdf (Abruf 13.9.2011), 33.

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Demnach basieren Tragödie und Komödie auf der Grundannahme, dass es den Menschen zumindest teilweise möglich sei, aus dem ihnen auferlegten Zustand von Entfremdung herauszufinden. Die Tragödie führt vor, dass sich am Ende der erzählten Geschichte die anfangs schon angelegte Gespaltenheit noch einmal in katastrophaler Weise steigert. Die Komödie hingegen lebt von der Hoffnung zumindest auf gelegentliche Versöhnungen. So verhält es sich in der Tat in Rankes Geschichten: Die Gesellschaft durchlebt Zerreißproben zwischen Kräften, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen und bekämpfen; am Ende aber gleichen sie sich doch aus – jedenfalls solange, wie kein neuer Konflikt auftaucht.8 Auch wenn man sich trefflich darüber streiten mag, ob eine solche literaturwissenschaftliche Kategorisierung des geschichtswissenschaftlichen Erzählens überhaupt sinnvoll ist, besitzt sie gerade vor dem Hintergrund der Suche nach Gründen für Rankes historiographischen Ansatz durchaus Erklärungspotential. Zunächst sei betont, dass Leopold von Ranke keineswegs ein unpolitischer Mensch war, wie es das Verdikt Droysens vielleicht suggerieren könnte. Auch war er keineswegs humorlos, zudem ein liebender Ehemann und Vater. Sein umfangreiches Oeuvre ist das Ergebnis einer bemerkenswerten Arbeitsdisziplin. „Von den 16 Stunden des Tages [waren] elf oder zwölf der geistigen Arbeit gewidmet“, so die Erinnerung seines Sohnes.9 Diese Disziplin war auch den Zeitgenossen wohlbekannt, Heinrich Heine nannte ihn deshalb einmal einen „puce travailleuse“, damit wohl in erster Linie auf seine geringe Körpergröße und seine Arbeitsdisziplin anspielend, denn verglichen mit Heines Urteilen über andere zeitgenössische Historiker fiel sein Urteil über Ranke geradezu wohlwollend aus.10 Andererseits teilte Heine Rankes Sicht auf den deutschen Nationalismus keinesfalls. Schließlich stand letzterer der deutschen Nationalbewegung, der so viele seiner Zunftgenossen größte Sympathien entgegenbrachten, lange Zeit äußerst kritisch gegenüber und wollte sich auch nach 1871 nicht recht mit der kleindeutschen Lösung anfreunden. „Durch und durch Preuße und Protestant“11 war er ein regelmäßiger Leser der Kreuz-Zeitung, die er seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe bezog, weil sie seinem politischen Standpunkt am nächsten kam.12 Deutschland: Das war für ihn wie zuvor für Friedrich Schiller in erster Linie eine Kulturnation, die „Wiener Ordnung“ des deutschen Bundes von 1815 entsprach seinem Verständnis vom Verhältnis der deutschen Staaten untereinander – Staaten als „Gedanken Gottes“ also, und damit Teil einer auf dem Prinzip des Gleichgewichts ruhenden Ordnung, die nicht angetastet werden durfte. Doch trotz dieser persönlichen Ablehnung des Nationalismus durch Leopold von Ranke als Homo politicus fand der Historiker Ranke in seinen entspre  8 Ebd., 34. 9 Blanckenburg, Erinnerungen, 7. 10 Heinrich Heine, Gedanken und Überlegungen (Elibron Classics), Port Chester, N.Y, 2001, 229. 11 Blanckenburg, Erinnerungen, 11. 12 Ebd., 25f.

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chenden Arbeiten kaum Anlass zum Tadel an den europäischen Nationalbewegungen. In seinem wohl politischsten Aufsatz „Die großen Mächte“ von 1833 lesen wir in Bezug auf die Ursachen der Französischen Revolution: „Wie übertrieben das nun auch lautet, so kann man doch das Gefühl nicht tadeln, das dieser Unzufriedenheit zugrunde lag. Das Nationalbewußtsein eines großen Volkes fordert eine angemessene Stellung in Europa. Die auswärtigen Verhältnisse bilden ein Reich nicht der Konvenienz, sondern der wesentlichen Macht, und das Ansehen eines Staates wird immer dem Grade entsprechen, auf welchem die Entwickelung seiner inneren Kräfte steht. Eine jede Nation wird es empfinden, wenn sie sich nicht an der ihr gebührenden Stelle erblickt, wie viel mehr die französische, die so oft den sonderbaren Anspruch erhoben hat, vorzugsweise die große Nation zu sein!“13 Keine Kritik an der Revolution, insbesondere an ihren Auswirkungen auf die deutsche Geschichte! Statt dessen Verständnis: „Sind wir nun von einer geistigen Gewalt angegriffen, so müssen wir ihr geistige Kräfte entgegensetzen. Dem Übergewichte, das eine andere Nation über uns zu bekommen droht, können wir nur durch die Entwickelung unsrer eigenen Nationalität begegnen. Ich meine nicht einer erdachten, chimärischen, sondern der wesentlichen, vorhandenen, in dem Staate ausgesprochenen Nationalität.[…] Es verhält sich damit, wenn ich mich nicht täusche, wie mit der Literatur. Nicht damals hat man von einer Weltliteratur geredet, als die französische Europa beherrschte; erst seitdem ist diese Idee gefaßt, ausgesprochen und verbreitet worden, seit die meisten Hauptvölker von Europa ihre eigene Literatur selbständig und oft genug im Gegensatz miteinander entwickelt haben. […] Es würde nur eine leidige Langeweile geben, wenn die verschiedenen Literaturen ihre Eigentümlichkeit vermischen, verschmelzen sollten. Nein! die Verbindung aller beruht auf der Selbständigkeit einer jeden. Auf das lebendigste und immerfort können sie einander berühren, ohne daß doch eine die andere übermeistere und in ihrem Wesen beeinträchtige. Nicht anders verhält es sich mit den Staaten, den Nationen. Entschiedenes positives Vorwalten einer einzigen würde den andern zum Verderben gereichen. Eine Vermischung aller würde das Wesen einer jeden vernichten. Aus Sonderung und reiner Ausbildung wird die wahre Harmonie hervorgehen.“14 Aus heutiger Sicht könnte man sagen, dass Leopold von Ranke damit das heutige Motto der Europäischen Union „In Vielfalt vereint“ vorweggenommen habe. Doch das ist natürlich ein Anachronismus, denn in Rankes Diktum spiegelt sich zuallererst sein Verständnis vom Wesen der Geschichte, das sich Anfang der 1830er Jahre herausgebildet hatte – mit einer Einschränkung, sei hier ausdrücklich hinzugefügt. Denn „Die großen Mächte“ war als Beitrag in der „Historisch-politischen Zeitschrift“ erschienen, die 1833 auf Betreiben der preußischen Regierung   13 Aus: Ranke, Die großen Mächte, Kapitel 6 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-gro-3017/6, Abruf 5.3.2015) 14 Aus: Ranke, Die großen Mächte, Kapitel 7 (Schlusswort) (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-gro-3017/7, Abruf 5.3.2015).

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gegründet worden war, um ihr als Sprachrohr bei den Vermittlungsversuchen zwischen Monarchie und den liberalen Reformkräften der Zeit zu dienen.15 Ranke hatte deshalb gerne die Herausgabe der Zeitschrift übernommen, jedoch bald erkennen müssen, dass es ihm nicht gelang, die Zielsetzung der preußischen Regierung überzeugend zu vermitteln. Die Zeitschrift selber wurde bereits 1836 wieder eingestellt, ihr ehemaliger Herausgeber bezog sich in seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1836 „Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik“ ausdrücklich auf seinen Misserfolg, wenn er konstatierte „So weit ist die Historie davon, dass sie die Politik verbesserte, dass sie vielmehr gewöhnlich von ihr verderbt wird“16. Am Rande hinzugefügt sei hier allerdings, dass der Einfluss der Politik der beruflichen Karriere Rankes durchaus förderlich war, schließlich war er 1834 mithilfe eines finanziellen Zuschusses des Auswärtigen Amtes und ohne Befragung der Fakultät auf seinen Lehrstuhl berufen worden. Freilich hatte das preußische Außenministerium ein dezidiertes Eigeninteresse an der Förderung Rankes, eben weil ein zentraler Gegenstand seiner Untersuchungen das außenpolitische Verhältnis der europäischen Mächte zueinander war.17 Die Suche nach Rankes Geschichtsverständnis führt uns zurück bis ins Jahr 1817. In diesem Jahr wurde er mit einer philologischen Arbeit über Thukydides promoviert, nahm aber auch lebhaften Anteil am Wartburgfest, auf dem die Burschenschaftler sowohl der Lutherschen Reformation als auch der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft gedachten und die nationale Einigung Deutschlands forderten. Vor diesem Hintergrund hatte Ranke den Plan einer deutschen Geschichte der Reformationszeit entwickelt, ohne freilich eine genauere Vorstellung davon zu haben, wie diese konzipiert werden konnte. In jahrelanger Auseinandersetzung mit den einschlägigen historiographischen Studien veränderte und erweiterte er seinen ursprünglichen Plan laufend, aus der ursprünglich angestrebten nationalpädagogischen deutschen Geschichte wurde so eine übergreifende abendländische Geschichtsbetrachtung, in der Europa den Raum bildete, in dem die europäischen Nationen miteinander leben konnten, ohne dass eine davon eine hegemoniale Stellung erlangen konnte.18 Das Ergebnis dieses gedanklichen Reifungsprozesses präsentierte Ranke in seinem Erstlingswerk über die „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“ von 1824. Das Buch fand die einhellige Zustimmung der führenden Gelehrten der Zeit. Ranke wurde als ein „Wiederhersteller der Historie“ gefeiert und bald auf eine außerordentliche Professur für Geschichte an die Berliner Universität berufen. In den nächsten beiden Jahren entstand seine Arbeit über die „Fürsten und Völker von Südeuropa“. Es folgte eine mehrjährige, vom preußischen Kultusministerium finanzierte Forschungsreise, auf der Ranke seine Studien in öster  15 Ernst Schulin, Leopold von Ranke (1795-1886), in: Heinz Duchhardt u.a. (Hg.), EuropaHistoriker. Ein biographisches Handbuch, Bd. 1, Göttingen 2006, 136. 16 Ebd. 17 Ebd., 136f. 18 Ebd., 132f.

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reichischen und italienischen Archiven fortsetzte. Das dabei ausgewertete Quellenmaterial bot nicht nur die Grundlage zu einem seiner Hauptwerke, „Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert“ (1834), in diesen Jahren wurde er sich auch der Bedeutung des kritischen Quellenstudiums für die Geschichtsforschung an sich bewusst – davon zeugen seine beiden Vorlesungen, die er nach der Rückkehr von der Forschungsreise im Sommersemester 1831 und Wintersemester 1831/32 hielt. In ihnen ging es um die „Neuere Geschichte seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts mit Vorausschickung einiger öffentlicher Vorlesungen über die Idee und das Studium der allgemeinen Historie“ (SS 31) bzw. „Über das Studium der Geschichte“ und die „Neuere Geschichte vom Anfang des 16. Jahrhunderts“ (WS 31/32). Diese knappe Skizze von Rankes persönlicher und beruflicher Prägung gibt, denke ich, Aufschluss über seine Sicht auf die Geschichte. Die nationale Geschichte allein genügte ihm nicht, er verstand sie als das Ergebnis der Beziehungen der europäischen Mächte zueinander. Und wenn er in seinen „Großen Mächten“ das Balanceprinzip zur Grundlage des europäischen Staatensystems erklärte, so bekannte er sich in die Tradition des aufgeklärten politischen Denkens des 18. Jahrhunderts. Zahlreiche „Klassiker“ haben deutlich erkennbare Spuren hinterlassen. So zum Beispiel David Hume, der in seinem Essay „On the balance of power“ (1752) den Versuch unternommen hatte, dem Gleichgewichtsprinzip historische Dignität zu verleihen. Wie Ranke hatte auch Hume die Antike zum Vorbild genommen und daraus gefolgert, dass Großreichsbildungen der menschlichen Natur an sich widersprachen. Wir stoßen ferner auf Jean Jacques Rousseau, der zeitgleich mit Hume festgestellt hatte, dass das „vielgerühmte Gleichgewicht“ von niemandem geschaffen, sondern einfach da sei und nur sich selbst brauche, um sich zu erhalten. Wenn man es auch nur vorübergehend in einem Punkt verletzte, würde es sich alsbald in einem anderen wiederherstellen. Auch Herders geschichtsphilosophischer Ansatz erzeugt ein Echo, war er doch von einem Zustand von Harmonie und Gleichgewicht als Meilenstein auf dem Weg der Menschheit zur wahren Humanität ausgegangen. Und für Kant hatte das Konzept eines universalen Gleichgewichts der politischen Welt die mögliche und moralisch notwendige Vorstellung eines „ewigen Friedens“ dargestellt. Dass dieser Frieden letztlich ein europäischer Frieden sein würde, lag in der Logik seiner Gedankenführung. So gesehen, stand Leopold von Ranke fest in der Tradition der Friedensutopien des 18. Jahrhunderts, die die europäischen Staaten trotz der blutigen Kriege, die sie untereinander führten, als Mitglieder einer Völkergemeinschaft verstand. Und insofern ist es sicherlich zutreffend, wenn Wolfgang Hardtwig anlässlich des 200. Geburtstages Rankes feststellt, dass Leopold von Ranke „als Fundament seines Geschichtsbilds das Modell Europas als Einheit in der Vielheit [entworfen hat], das bis heute normative Kraft“19 besitzt. Andererseits sollte man   19 Hardtwig, Geschichtserfahrung, 44.

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aber nicht außer Acht lassen, dass sich insbesondere im 20. Jahrhundert die Vorstellungen von den Segnungen des Gleichgewichts der Kräfte in Europa als eine unerreichbare Utopie herausgestellt haben. Prof. Dr. Jürgen Elvert, Aarhus/Köln

„PREUSSEN, ALLEIN PREUSSEN!“ Zum Europabild kleindeutsch-borussischer Historiker am Beispiel Heinrich von Sybels und Heinrich von Treitschkes Jens Ruppenthal Einleitung „Preußen, allein Preußen!“ – Im Rahmen einer Gruppe von Beiträgen, die sich mit Europa als Gegenstand in den Arbeiten deutscher Historiker im 19. Jahrhundert befassen, könnte ein Aufsatz mit dieser Überschrift darauf hindeuten, dass gerade Europa in den befragten Quellen durch Abwesenheit glänzt. Bei diesen Quellen handelt es sich um zentrale Schriften der beiden Historiker – und Politiker – Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke aus dem Zeitraum von etwa 1850 bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871. Tatsächlich ist es so, dass der Begriff „Europa“ in diesen Texten vergleichsweise selten auftaucht, und wenn doch, dann entweder als Sammelbezeichnung für die einzelnen Staaten des Kontinents oder in einem rein geografischen Sinn. Es mag zunächst nicht überraschen, dass ausgerechnet bei den so genannten kleindeutschborussischen Historikern Europa nur eine geringe Rolle neben dem Nationalstaat spielte. Auf der anderen Seite ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch im 19. Jahrhundert viel von Europa als historische oder handelnde Einheit geschrieben und gesprochen wurde. Darüber, gerade mit Rücksicht auf Preußen, hat insbesondere Wolf Gruner1 zahlreiche Beiträge verfasst. Im Folgenden soll dargelegt werden, wie präsent Europa in den Schriften Heinrich von Sybels und Heinrich von Treitschkes ist, welche Gestalt Europa in ihnen annimmt und welche Funktion die Erwähnung von Europa in diesen Schriften besitzt. Zweifellos kann diese kleine Untersuchung dabei nur an der Oberfläche eines ganzen Themenkomplexes kratzen.

1

Vgl. exemplarisch Wolf D. Gruner, Leitbild Europa? Europaperzeptionen und Europapläne des 19. Jahrhunderts zwischen Utopie, Pragmatismus, Realismus und Machtinteressen, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit (HMRG Beihefte, Bd. 74), Stuttgart 2009, 89–118.

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Europavorstellungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Wie bei den meisten Fragestellungen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts ist von der politischen Situation nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress auszugehen. Was von den europäischen Staatsmännern als „Wiener System“ geplant worden war, funktionierte im weiteren Verlauf eben nicht systemisch, d.h. ein Zusammenwirken mit dem Ziel, das große Ganze zu stabilisieren, fand nicht statt. Dieses System besaß in räumlicher Ausdehnung zweifellos europäische Dimensionen, doch waren die auf das System einwirkenden Kräfte weiter bestimmt von jenen partikularen Interessen, welche bereits die Staatenwelt des 18. Jahrhunderts geprägt hatten.2 Daran änderten auch viele Ideen und Pläne zur Betonung europäischer Gemeinsamkeiten, wie sie etwa Giuseppe Mazzini oder Victor Hugo vertraten, wenig.3 Vielmehr dominierte eine „zunehmend stärker ausprägende nationale Struktur der Politik in Europa“4 die zwischenstaatlichen Beziehungen. Diese steigende Bedeutung des Nationalstaats in Europa war dabei auch auf das Engagement von Historikern zurückzuführen.5 Besonderen Einfluss besaßen die – wissenschaftlichen wie politischen – Publikationen preußischer Historiker der Generation nach Leopold von Ranke. Als „dominierende Gruppe“6, wie Thomas Nipperdey schrieb, erwiesen sich dabei ihre kleindeutsch orientierten Vertreter. Mit Johann Gustav Droysen als zentralem Impulsgeber plädierten sie für ein politisch geeintes Deutschland unter preußischer Führung bei Ausschluss Österreichs.7 Dieses geeinte Deutschland sollte ein starker, liberaler säkularer Staat sein, dafür antirevolutionär, antidemokratisch und antikatholisch. Mit dieser Forderung befanden sie sich in einer, so Nipperdey, „Spannung zwischen politischem Engagement und methodisch kritischer […] Forschung“8, die einen großen Einfluss der Geschichtswissenschaft auf die Politik bewirkten.

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Jürgen Elvert, Europäische Leitbilder der Neuzeit, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit (HMRG Beihefte, Bd. 74), Stuttgart 2009, 81–88, hier 83f. Vgl. Gruner, Leitbild Europa? Ebd., 93. Elvert, Europäische Leitbilder der Neuzeit, 84. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, 518. Zu dieser „Gruppe“ vgl. auch Utz Haltern, Geschichte und Bürgertum. Droysen – Sybel – Treitschke, in: Historische Zeitschrift 259 (1994), 59–107. Zu Einordnung und Wirkung der kleindeutsch-borussischen Vertreter im Vergleich zu anderen deutschen Historikern vgl. besonders Hans-Christof Kraus, Die Spätzeit des Alten Reiches im Blick der deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Matthias Asche/Thomas Nicklas/Matthias Stickler (Hg.), Was vom Alten Reiche blieb … Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, München 2011, 33–62. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 519.

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Heinrich von Sybel Neben Droysen entfaltete Heinrich von Sybel die wohl breiteste Wirkung sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft, und dies nicht nur angesichts eines umfangreichen eigenen historiografischen Schaffens, sondern auch aufgrund der 1859 unter seiner Leitung gegründeten und bis heute einflussreichsten Zeitschrift des Faches in Deutschland, der Historischen Zeitschrift (HZ). Heinrich von Sybel wurde 1817 in Düsseldorf geboren.9 Nach Studium – u.a. bei Leopold von Ranke – und Promotion in Berlin habilitierte er 1840 in Bonn über die Geschichte des Ersten Kreuzzuges und lehrte später in Marburg, München, Bonn und Berlin. In Berlin wurde er 1875 zum Direktor der Preußischen Staatsarchive ernannt und verantwortete in dieser Funktion die Herausgabe diverser Editionen, u.a. der Acta Borussica. Sein politisches Wirken äußerte sich nicht nur publizistisch, sondern u.a. auch in seiner Eigenschaft als Mitglied des Frankfurter Vorparlaments 1848 und später des Preußischen Abgeordnetenhauses. Er starb 1895 in Marburg. Georg Iggers sah Heinrich von Sybel als den neben Droysen profiliertesten Vertreter der „preußischen Schule“ des Historismus und somit auf dem „Gipfel des historischen Optimismus“.10 In Iggers’ Urteil fußte Sybels Verständnis von Geschichte auf der Annahme einer grundsätzlich positiven Entwicklung der Menschheit über die Zeit sowie der Fähigkeit der Historiker, hierüber gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen. Als Ergebnis der historischen Entwicklung sah Sybel die Freiheit des Einzelnen, wobei sich diese nur unter der ordnenden Macht des Staates entfalten könne.11 Sybel erhob ein staatlich geeintes Deutschland12 zum Ideal der politischen Entwicklung, während Europa eine Ordnung aus souveränen Nationalstaaten bilden sollte. Aufschlussreich ist hierzu sein Hauptwerk, die „Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795“, die er in fünf Bänden zwischen 1853 und 1879 veröffentlichte und verschiedentlich erweiterte und aktualisierte. Was Sybel in diesem Werk entfaltete, war Historiografie als „liberal-konservative Synthese“13 mit dem 9

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Zur Biografie Sybels s. Hellmut Seier, Heinrich von Sybel, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker II, Göttingen 1971, 24–38; Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817-1861) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 16), Göttingen 1978; Paul Bailleu, „Sybel, Heinrich von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908), 645–667 [Onlinefassung], URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118620223.html?anchor=adb [12. 8.2011]. Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, durchges. und erw. Ausg. der 3. Aufl. von 1976, Wien/Köln/Weimar 1997, 120–162. Ebd., 153f. Patrick Bahners, Akademischer Rausch und politische Ernüchterung. Heinrich von Sybel als Geschichtsschreiber der deutschen Revolution, in: ders./Gerd Roellecke (Hg.), 1848 – Die Erfahrung der Freiheit (Motive – Texte – Materialien, Bd. 83), Heidelberg 1998, 163–187. Seier, Heinrich von Sybel, 34. Für Überblick und Einordnung der „Geschichte der Revolutionszeit“ vgl. Torsten Kohlen, Heinrich von Sybel – Die Revolution innerhalb der europäi-

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Ziel einer Kritik der Revolution. Sybel zeichnete die Französische Revolution als notwendigen Umsturz „der alten Ordnungen“, der jedoch von „einem tiefen Bestande alter Sittenlosigkeit“ geprägt gewesen sei und zu „Habgier und Selbstsucht, […] Gewaltthätigkeit und Rohheit“ geführt habe.14 Die Revolution war danach ein katastrophaler Bruch im allgemeinen historischen Fortschritt der europäischen Staaten vom Feudalismus zur Freiheit.15 Neben den Ereignissen in Frankreich nannte Sybel die polnischen Teilungen und „die Auflösung des deutschen Reiches durch den ersten Krieg gegen Frankreich“ als thematische „Hauptgruppen“ seiner Untersuchung.16 Obgleich Volker Dotterweich im Anschluss an G. P. Gooch darauf hingewiesen hat, dass es Sybel nicht gelungen sei, die europäische Wirkung der Revolution überzeugend und umfassend darzulegen,17 zeigt sich in der „Geschichte der Revolutionszeit“ Sybels Vorstellung von Europa als Kontinent, dessen Geschichte von den Wechselwirkungen zwischen seinen Staaten sowie den Wechselwirkungen zwischen dem innen- und außenpolitischen Geschehen dieser Staaten beeinflusst war. In einem Aufsatz mit dem Titel „Polens Untergang und der Revolutionskrieg“ in der HZ von 1866 unterstrich er die Zusammenhänge insbesondere zwischen der französischen, österreichischen und polnischen Geschichte unter Verwendung erstmals zugänglicher Aktenbestände in Wien. Aus ihnen bezog Sybel Hinweise – beispielsweise im Kontext der machtpolitischen Vorstellungen Kaiser Leopolds II. – auf ein Europa, in dem eine Spannung aus Gleichgewichtsdenken und Vormachtstreben bestand.18 Diese Spannung blieb auch nach dem Wiener Kongress bestimmend für Europas politische Landschaft. Es kann daher wenig überraschen, wenn Sybel von „Europa“ als Begriff für ein zusammenhängendes oder irgendwie einheitliches Ganzes nur selten Gebrauch machte, etwa wenn er vom „Gesammtzustand Europas“19 und von den „Aussichten für Europa“20 im Zuge des ersten Koalitionskrieges schrieb oder davon, dass vielleicht „Europa

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schen Geschichte, in: Erich Pelzer (Hg.), Revolution und Klio. Die Hauptwerke zur Französischen Revolution, Göttingen 2004, 233–253; Klaus Malettke, Heinrich von Sybel und seine „Geschichte der Revolutionszeit 1789-1800“, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 40 (1990), 169–191. Heinrich von Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795, 2. Band, 3. Aufl., Düsseldorf 1866, 8f. Dotterweich, Heinrich von Sybel, 207. Heinrich von Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795, 1. Band, 3. Aufl., Düsseldorf 1865, IV. Dotterweich, Heinrich von Sybel, 198f. Heinrich von Sybel, Polens Untergang und der Revolutionskrieg, in: Historische Zeitschrift 23 (1866), 66–154, hier 77. Heinrich von Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795, 3. Band, 3. Aufl., Düsseldorf 1866, 488. Heinrich von Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1795 bis 1800, 1. Band, Düsseldorf 1870, 638f.

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eine Weile geschwiegen“21 hätte, wenn Napoleons „Herrschaft in milde Formen gekleidet“ gewesen wäre. Diese Vorstellungen finden sich auch in Schriften, die Sybel im unmittelbaren Umfeld der Reichseinigung verfasste. In einem Aufsatz, der zuerst in der englischen „Fortnightly Review“ vom 1. Januar 1871 erschien, äußerte sich Sybel über „Das neue deutsche Reich“.22 Auf die ihm gestellte Frage, „welche Vortheile die europäische Civilisation von der Hebung Deutschlands und dem relativen Sinken Frankreichs zu erwarten habe“,23 antwortete Sybel, „daß die Gründung des deutschen Reiches […] keine Gefahr für den Fortschritt der europäischen Civilisation“24 bedeute. Negativen Einfluss auf „den Gang der europäischen Cultur“25 wollte er vielmehr im Falle eines französischen Sieges erkennen, der ein „Sieg der klerikalen Tendenzen durch halb Europa gewesen“26 wäre. Gemäß seiner Überzeugung vom kontinuierlichen Fortschritt der Geschichte stellte Sybel den deutschen Sieg über Frankreich und die Reichsgründung als notwendigen Schritt in einer grundsätzlich positiven historischen Entwicklung dar. Demnach erscheint Frankreichs Einfluss hierauf in Sybels Ausführungen als destruktiv und die Politik Napoleons III. als Wiederkehr der Schrecken der Französischen Revolution. Sybel unterstrich hier seine kleindeutsche, dezidiert antikatholische und antidemokratische Haltung. Zugleich bleiben die Wendungen von der europäischen Zivilisation und der europäischen Kultur bloße Oberbegriffe; einmal mehr erscheint Europa nicht als Einheit, sondern bleibt eine Frage der „bestehenden Verfassungen“ und „bestehenden Besitzverhältnisse“.27 Insgesamt verteidigte Sybel in diesem Aufsatz – wie in einigen weiteren, zeitnah in London und Paris erschienenen Schriften – gegenüber dem europäischen Ausland die deutschen Einheitsbestrebungen.28 Ein Jahr später gab er sich in einem Vortrag im Bonner Bildungsverein zum Thema „Was wir von Frankreich lernen können“29 moderater, wenngleich er keinen Zweifel an der politischen und moralischen Überlegenheit Deutschlands gegenüber Frankreich ließ. Sybel sah in Frankreich „Revolutionslust“ und „wilde Leidenschaft der falschen Gleichheit“ am Werk.30 In Deutschland dagegen ermögliche „echte Gleichheit […] einem Jeden nach dem Maaße seiner Leistung […] Freiheit und Aufschwung“.31 Es könne jedoch „im menschlichen Verkehr, in Ackerbau und Industrie, in Wissenschaft und Kunst von den starken Seiten der 21 Heinrich von Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1795 bis 1800, 2. Band, Stuttgart 1879, 701. 22 Heinrich von Sybel, Das neue deutsche Reich, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874, 304–330. 23 Ebd., 305. 24 Ebd., 329. 25 Ebd., 305. 26 Ebd., 306. 27 Ebd., 307. 28 Haltern, Geschichte und Bürgertum, 82. 29 Heinrich von Sybel, Was wir von Frankreich lernen können, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874, 331–347. 30 Ebd., 345. 31 Ebd.

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Franzosen lernen“.32 Hier bemühte sich Sybel um eine wohlwollende Darstellung Frankreichs, das neben Deutschland grundsätzlich die gleiche Wertschätzung als Staat in Europa verdiene. Die Gegenüberstellung beider Nationen zeigt, wie der liberal-protestantische Staat auch in Sybels politischem Denken bestimmend blieb. Heinrich von Treitschke Im Anschluss an Johann Gustav Droysen und Heinrich von Sybel gilt zumeist Heinrich von Treitschke als einer der führenden Köpfe unter den kleindeutschborussischen Historikern. Wollte man einen auffälligen Unterschied zwischen Treitschke und Sybel benennen, so ließe sich sagen, dass Treitschkes publizistische Tätigkeit zwischen den Feldern von Politik und Geschichtswissenschaft häufiger in Richtung Politik ausschlug. Treitschke kam 1834 in Dresden zur Welt und studierte – u.a. bei Friedrich Christoph Dahlmann – in Bonn, Leipzig, Tübingen und Freiburg Geschichte, Staatswissenschaften und Nationalökonomie.33 Einige Zeit nach der 1858 erfolgten Habilitation wurde er zuerst außerordentlicher Professor für Staatswissenschaften in Freiburg, erhielt 1866 eine Professur für Geschichte und Politik in Kiel und nur ein Jahr später in Heidelberg, bis er 1873 in Berlin den Lehrstuhl von Leopold von Ranke übernahm. Seine aktive Tätigkeit als Politiker übte er zunächst als nationalliberaler und später parteiloser Reichstagsabgeordneter von 1871 bis 1884 aus. Im Gegensatz zu Heinrich von Sybels „Geschichte der Revolutionszeit“ entstand Treitschkes historiografisches Hauptwerk „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“34 erst nach der Reichsgründung. Im hier relevanten Untersuchungszeitraum zeichnete er sich dagegen durch das Verfassen zahlreicher Aufsätze aus, die in der literarischen Form des Essays zwar historische Themen aufgriffen, sich jedoch stets am aktuellen politischen Geschehen aus einer preußisch-liberalen Warte orientierten.35 Viele der für Treitschkes Europaverständnis wichtigen Schriften sind in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienen. In einem dort 1861 erstmals abgedruckten Essay mit dem Titel „Freiheit“ zu John Stuart Mills „On Liberty“ konstatierte Treitschke – ähnlich Sybel in seiner Revolutionsgeschichte – grundlegende politische und gesellschaftliche Veränderungen in Europa.36 Pessi32 Ebd., 347. 33 Zur Biografie Treitschkes s. Georg Iggers, Heinrich von Treitschke, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker II, Göttingen 1971, 66–80; Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998; Herman von Petersdorff, „Treitschke, Heinrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 55 (1910), 263–326 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118623761.html?anchor=adb [12.8.2011] 34 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5 Bände, Leipzig 1879– 1894. 35 Iggers, Heinrich von Treitschke, 67. 36 Heinrich von Treitschke, Freiheit, in: Preußische Jahrbücher 7 (1861), 381–403.

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mistischer als Sybel prognostizierte Treitschke für Europas Zukunft einen bestimmenden Einfluss des Mittelstands, der „nicht frei von einer gewissen Vorliebe für das Mittelmäßige“37 sei. Deutschland freilich habe diesen Einfluss durch das „Wiedererstarken des germanischen Geistes“38 nicht zu befürchten. Deutlicher noch als Sybel vertrat Treitschke ein unter preußischer Führung geeintes Deutschland als Idealbild eines starken liberalen Staates. Wolf Gruner schreibt über Treitschkes Selbstverortung in diesem Idealbild zusammenfassend: „Absicht und Ziel Treitschkes […] war es, eine preußisch-deutsche Tradition zu erfinden und darzustellen“.39 Treitschke beklagte zwar den späten Beginn des deutschen Einigungsprozesses im Vergleich zu anderen Staaten Europas,40 noch zur Mitte des Jahrhunderts sei „Deutschland […] lediglich ein geographischer Begriff“.41 Aber einmal angetrieben, die staatliche Einigung zu vollziehen, werde sich Deutschland einreihen in die europäische Staatenwelt, wie Treitschke 1865 in seinem später mehrfach aufgelegten Essay „Bundesstaat und Einheitsstaat“ postulierte. Politik von europäischem Format garantiere dabei nur Preußen an der Spitze: „Endlich, es ist unmöglich, daß Deutschlands Interessen in Europa durch Preußen nicht vertreten werden, sobald Preußens europäische Politik nicht in baarem Nichtsthun oder in selbstmörderischem Gebahren besteht.“42 Dabei sei die Leistung Preußens und seiner Staatsmänner im europäischen Vergleich der „Einheitsbestrebungen zertheilter Völker“, wie Treitschke den zweiten Band seiner „Historischen und politischen Aufsätze“ betitelte, höher zu bewerten als zum Beispiel das Wirken des Piemontesers Cavour im italienischen Risorgimento.43 Vielfach schrieb er von nationalen Mentalitäten und Charakteren, definierte also nationale Identitäten anhand von Stereotypen und grenzte so Deutschland auch auf emotionaler Ebene von anderen Nationen ab.44 Zugleich betrieb er – zutiefst antikatholisch und antihabsburgisch gestimmt – schärfer noch als Droysen und Sybel 37 Ebd., 385. 38 Ebd., 400. 39 Wolf D. Gruner, Preußen in Europa 1701-1860/1871, in: Jürgen Luh/Vinzenz Czech/Bert Becker (Hg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701-2001 (Baltic Studies 8), Groningen 2003, 429–460, hier 431. 40 Heinrich von Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat, in: Historische und politische Aufsätze, 2. Band: Die Einheitsbestrebungen zertheilter Völker, 5. Aufl., Leipzig 1886, 77–241, hier 99. Vgl. dazu Haltern: Geschichte und Bürgertum, 94f.; Hans-Jürgen Lüsebrink, Nationalistische Publizistik und „tatbegründende“ Wissenschaft – zum Werk Heinrich von Treitschkes, in: Michael Grunewald (Hg.), Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960), Bern 2003, 601–678, hier 665. 41 Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat, 96. 42 Ebd., 211f. 43 Heinrich von Treitschke, Cavour, in: Historische und politische Aufsätze, 2. Band: Die Einheitsbestrebungen zertheilter Völker, 5. Aufl., Leipzig 1886, 243–402, hier 401. 44 Thomas Gerhards, „… nirgends giebt es so wenig Chauvinismus wie bei uns.“ Das Bild der deutschen Nation in Heinrich von Treitschkes Publizistik und Historiographie (1870–1896), in: Thomas Beckers/Thomas Gerhards/Christoph Roolf (Hg.), Zur Erkenntnis der die Gegenwart prägenden Faktoren der Vergangenheit: Projekte zur deutschen und europäischen Geschichte in Düsseldorfer Magister- und Examensarbeiten, Neuried 2011, 89–110.

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die Abgrenzung Preußens vom Alten Reich, das er rückblickend als einen extremen Anachronismus darstellte.45 Mit der Tendenz zur Bildung geeinter Staaten prognostizierte Treitschke gleichzeitig das Verschwinden kleiner Staaten von der europäischen Landkarte und beurteilte diesen Vorgang als notwendig im Sinne des historischen Fortschritts.46 Insgesamt erscheint wie bei Sybel Europa bzw. der „Welttheil“ selten als echte Einheit. Europa setzte sich auch in der Treitschkeschen Wahrnehmung aus seinen souverän agierenden Einzelstaaten zusammen, deren Betrachtung bei ihm letztlich stets der Legitimierung des deutschen Einheitsstrebens diente.47 Eine begriffliche oder inhaltliche Auseinandersetzung mit einem gemeinsamen „europäischen Handeln“ unterließ Treitschke. Ein Blick auf seine Studien zum deutsch-französischen Verhältnis verdeutlicht seine Vorstellung von Europa als Weltteil aus Einzelstaaten. In seiner Beschäftigung mit dem Bonapartismus, einer Reihe von fünf längeren Aufsätzen, die zwischen 1865 und 1868 in den Preußischen Jahrbüchern erschienen,48 stellte er Napoleons Eroberungspolitik als gescheiterten Versuch einer Vereinigung Europas unter französischem Primat dar: „Die eigenthümliche Gesittung Frankreichs wie jedes anderen Landes mußte verschwinden in einer neuen weltbürgerlichen Cultur des Abendlandes, wenn erst das große ‚Föderativsystem‘ sich vollendete, wenn in Paris die europäische Akademie erstand […], wenn an der Seine ein europäischer Cassationshof die Händel des Welttheils schlichtete.“49

Treitschke attestierte den napoleonischen Plänen weniger die Fähigkeit zur Befriedung des Kontinents als vielmehr das Potenzial, „unrettbar die köstlichsten Früchte der Geschichte [zu] zerstören“, nämlich „jene reiche Mannichfaltigkeit nationaler Bildungen […], worauf die Ueberlegenheit der Cultur Europas beruht.“50 So beschrieb Treitschke Europa als Nebeneinander einzelner Staaten von unterschiedlicher nationaler Prägung. Dagegen schienen ihm die Bestrebungen des revolutionären Frankreich anachronistisch – ein Urteil, das er auch gegenüber der Politik Napoleons III. aufrecht erhielt. In den finalen Abschnitten der EssaySerie kam Treitschke zu dem Schluss:

45 Kraus, Die Spätzeit des Alten Reiches, 46. 46 Walter Bußmann, Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Heft 3/4), Göttingen 1952, 246f. 47 Iggers, Heinrich von Treitschke, 70. 48 Heinrich von Treitschke, Der Bonapartismus I, in: Preußische Jahrbücher 16 (1865), 197– 252; ders., Der Bonapartismus II, in: Preußische Jahrbücher 20 (1867), 357–397; ders., Der Bonapartismus III, in: Preußische Jahrbücher 21 (1868), 40–102; ders., Der Bonapartismus IV, in: Preußische Jahrbücher 21 (1868), 491–536; ders., Der Bonapartismus V, in: Preußische Jahrbücher 22 (1868), 1–99. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Essay und den Reaktionen darauf findet sich bei Langer, Heinrich von Treitschke, 209–246. 49 Treitschke, Bonapartismus I, 229. 50 Ebd., 230.

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Jens Ruppenthal „Die französische Nation ist nicht mehr in der Lage sich als die unbestritten erste Macht des Festlandes zu gebährden, sie muß sich wohl oder übel in den Zustand eines ernsthaft gemeinten europäischen Gleichgewichts finden.“51

Mit Heinrich von Sybel teilte Treitschke die Einschätzung, dass die Beseitigung feudaler Strukturen durch die Französische Revolution ein notwendiger Vorgang im Rahmen des geschichtlichen Fortschritts gewesen sei. Treitschke lobte Sybels einschlägiges Werk als wissenschaftliche Stellungnahme wider den revolutionären Geist.52 Vor diesem Hintergrund beklagte er zugleich, dass Frankreich trotz seines vermeintlich notorisch kriegerischen Temperaments von den übrigen Staaten Europas mit Samthandschuhen angefasst werde, während das Deutsche Reich den „Haß des Auslands“ zu ertragen habe: „Ich wüßte nicht, wann jemals die öffentliche Meinung Europas eine so verstockte Ungerechtigkeit gezeigt hätte“53, schrieb Treitschke und rätselte: „Warum fällt den Fremden so schwer, das Recht der deutschen Einheitsbewegung zu verstehen, während sie doch die minder reine und minder großartige Revolution der Italiener mit Jubel aufnahmen?“54 Um die Anerkennung des geeinten Deutschland in Europa zu erreichen und eine „von unseren bösen Nachbarn ersehnte europäische Coalition“55 zu verhindern, beschrieb Treitschke den neuen deutschen Nationalstaat als ebenso legitimen wie grundsätzlich friedlich gesinnten Bestandteil des Staatensystems. Sybel fragte in seiner abwägend formulierten Auseinandersetzung mit dem deutsch-französischen Gegensatz nach dem Krieg von 1870/71, was „wir von Frankreich lernen können“. Treitschke hatte in seiner Neubestimmung des deutsch-französischen Verhältnisses noch vor dem Ende des Krieges wissen wollen: „Was fordern wir von Frankreich?“56 Während Sybel sich wenig später zumindest im Einzelnen offen für französische Einflüsse gab, betonte Treitschke die Unterschiede zwischen beiden Staaten. Ausgehend von der Forderung: „heraus mit Elsaß und Lothringen!“, dem „Feldgeschrei der Nation“, wie er schrieb, zeichnete er ein geradezu statisches Nebeneinander beider Völker ohne jede „Vermischung“.57 Erneut warnte Treitschke vor dem „Einspruch Europas“, vor der öffentlichen Meinung der Nachbarstaaten, in der die deutschen Ansprüche an Frankreich keine Zustimmung fanden.58 Vielmehr verhindere „die Angst Europas vor jeder starken Aenderung“ einen „gründlichen Umbau des Staatensystems“.59

51 Treitschke, Bonapartismus V, 42. 52 Heinrich von Treitschke, Parteien und Fractionen I, in: Preußische Jahrbücher 27 (1871), 175–208, hier 178f. 53 Ebd., 182. 54 Ebd., 183. Vgl. hierzu auch Bußmann, Treitschke, 351–354. 55 Heinrich von Treitschke, Parteien und Fractionen I, in: Preußische Jahrbücher 27 (1871), 187. Vgl. hierzu Langer, Heinrich von Treitschke, 248–250. 56 Heinrich von Treitschke, Was fordern wir von Frankreich? In: Preußische Jahrbücher 26 (1870), 367–409. 57 Ebd., 376. 58 Ebd., 380. 59 Ebd.

„Preußen, allein Preußen!“

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Treitschkes Blick auf Europa fand seine Entsprechung in den Inhalten der Preußischen Jahrbücher. Im Unterschied zu der von Sybel fast zeitgleich gegründeten Historischen Zeitschrift, die aufgrund ihrer thematisch wie methodisch großen Bandbreite – obgleich erkennbar „Sprachrohr der kleindeutschen Schule“ (Faulenbach) – früh zum zentralen Fachorgan der deutschen Geschichtswissenschaft wurde,60 fungierten die Preußischen Jahrbücher als rechtsliberales „Sprachrohr“ und publizistisches Bindeglied zwischen Wissenschaft und Politik.61 Das Sachregister zu den ersten 25 Jahrgängen war in 14 Kapitel gegliedert, unter denen die Rubrik „Geschichte und Politik“ die meisten Einträge aufwies. Sie war wiederum unterteilt in die Abschnitte A bis U, wobei A für Allgemeines, B für Afrika und C für Asien stand, während die Buchstaben D bis T europäische Nationalstaaten in alphabetischer Reihung von Belgien bis Spanien und das abschließende U die Vereinigten Staaten von Amerika anführten. Deutschland unter F war zusätzlich gegliedert von „a) Das gesammte Deutschland betreffend“ bis „n) Württemberg“.62 Einerseits vorgegeben durch die zahlenmäßige Verteilung der in den Beiträgen behandelten Themen, andererseits bedingt durch das Ausbleiben von Untersuchungen, die „Europa“ zum Gegenstand gehabt hätten, spiegelten die Preußischen Jahrbücher die mit der nationalstaatlichen Ordnung Europas korrespondierenden Interessensschwerpunkte und Zielsetzungen ihrer kleindeutschborussischen Autoren. Auffällig an der Rubrizierung der preußischen Jahrbücher ist die separate Nennung der Vereinigten Staaten, wo ansonsten nur europäische Einzelstaaten genannt werden, während das Osmanische Reich keine eigene Rubrik besitzt. Für die Staaten von Belgien bis Spanien gab es zudem – neben den Kontinentalbe60 Heinrich von Sybel, Vorwort, in: Historische Zeitschrift 1 (1859), III–V. Zur HZ außerdem Bernd Faulenbach, Die Historische Zeitschrift. Zur Frage geschichtswissenschaftlicher Kontinuität zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, in: Tijdschrift voor Geschiedenies 99 (1986), 517–529, wörtliches Zitat hier 517; Martin Nissen, Wissenschaft für gebildete Kreise. Zum Entstehungskontext der Historischen Zeitschrift, in: Sigrid Stöckel / Wibke Liesner / Gerlind Rüve (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 5), Stuttgart 2009, 25–44; Winfried Schulze, Zur Geschichte der Fachzeitschriften. Von der „Historischen Zeitschrift“ zu den „zeitenblicken“, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 2 vom 22.10.2003, URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/ 2003/02/ schulze.html [14.8.2011]; Jürgen Müller, „Die Zeitschrift soll vor Allem eine wissenschaftliche sein“. Zur Gründung der Historischen Zeitschrift durch Heinrich von Sybel, in: Dieter Hein/Klaus Hildebrand/Andreas Schulz (Hg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, 53–63. 61 Sebastian Haas, Das Sprachrohr der Altliberalen. Die Preußischen Jahrbücher während der Neuen Ära in Preußen (1858–1862), München 2009, 3. Ulrich Wyrwa, Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) 9, 781–792. Zur Wirkungsgeschichte der Schriften Treitschkes bis in die Gegenwart s. Thomas Gerhards, Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert (Ottovon-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe, Bd. 18), Paderborn 2013. 62 Register zu den Preußischen Jahrbüchern. Erster bis fünfundzwanzigster Band, Berlin 1872.

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Jens Ruppenthal

zeichnungen Afrika und Asien – keine Überschrift „Europa“. So entsprach die Gliederung der Zeitschrift nicht nur dem an einzelnen Nationalstaaten orientierten Europaverständnis preußischer Historiker, sie bestätigte indirekt auch eine Sonderstellung der USA. Fazit Abschließend sei geradewegs auf die Zielsetzung dieses Beitrags zurückgekommen: Wie präsent ist Europa in den Schriften Heinrich von Sybels und Heinrich von Treitschkes, welche Gestalt nimmt Europa in ihnen an? Es drängt sich die lapidare Erkenntnis auf, dass diese Präsenz erwartungsgemäß unprominent ist. Für Sybel wie für Treitschke war Europa die Summe seiner Einzelstaaten. Im Unterschied etwa zu Arnold Hermann Ludwig Heeren bildete das europäische Staatensystem in ihren Studien keinen eigenständigen Untersuchungsgegenstand, ebenso wenig sahen sie das Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarn konsequent in einem gesamteuropäischen Kontext. Auch Heerens Bemühen um historiografische Unparteilichkeit teilten Sybel und Treitschke nicht. Stattdessen bildete die Orientierung an den gegenwärtigen politischen Ereignissen, verbunden mit der eigenen politischen Positionierung, eine Konstante in ihren Arbeiten, die sich somit auch vom universalhistorischen Denken eines Leopold von Ranke deutlich abgrenzten. Wie bestimmend gerade für Treitschke das Thema der nationalen Einigung war, zeigt sich vielleicht am pointiertesten in eben jener Antwort von 1870 auf die Frage, wer nach dem Krieg gegen Frankreich im Stande sei, Elsaß und Lothringen in den deutschen Nationalstaat zu integrieren, nämlich: „Preußen, allein Preußen!“63 Dr. Jens Ruppenthal, Köln

63 Treitschke, Was fordern wir von Frankreich? 398.

COMMENTARY: THREE GERMAN HISTORIANS IN THE TWENTY-FIRST CENTURY ON FOUR GERMAN HISTORIANS OF THE NINETEENTH CENTURY Gruner, Elvert, and Ruppenthal Concerning Heeren, Ranke, Sybel, and Treitschke Robert D. Billinger If one thinks of German historians in the nineteenth century mostly KleindeutschPrussian historians like Sybel and Treitschke come to mind. They were the historians of German history who most strongly influenced and still influence public opinion at home and abroad. In our panel today we have heard from Jens Ruppenthal regarding the perceptions of Europe in the works of Sybel and Treitschke. It is hardly surprising that almost no word concerning Europe appears from these two. “Prussia, Prussia alone” is the well-chosen and appropriate title of Ruppenthal’s contribution. Their chief themes were political and nationalistic and concerned a German nation led by Prussia in the struggle against revolutionary, if not clerically-misled, France. Europe was only a culturally and nationalistically fragmented battleground and not a common homeland characterized by unity amid diversity. Poor Mr. Ruppenthal! He had to serve as the advance guard of the program for the other contributions that are to save us from the soon to demonstrated too narrow thinking and historical writing of his historians. Happily Ranke and Heeren came into view to save us from mistaken historical ways of thinking. The order of the presentations on our panel is entirely achronological, but well-laid out pedagogically. This order is to teach us step by step how we are to reconsider our historical thinking today. Kleindeutsch-Prussian perceptions and national state thinking are to be avoided. Ranke’s earlier warnings against the dangers for history when historians become the tools of politics are to be laid upon our hearts. And, finally, we like Arnold Hermann Ludwig Heeren are to think of European history, of European balance of power and peace and security, and of structures and relations, and not just celebrate Europe’s too often selfish nationalities. We no longer live in the nineteenth century, no longer in a world marked by Kleindeutsch-Prussia world politics. Germany now lives, at least since 1990, in the middle of Europe. German historians enjoy EU grants, have EU-supported teaching chairs, and speak of Germany in Europe and of Germany as the keystone of European worth, responsibility, and security. More progressive than many of

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Robert D. Billinger

their colleagues in America, German historians today turn from German national history and seek to understand and to teach about the German cultural nation as a part of Europe. Germany must again, as in Vormärz and in the German Confederation, serve as the most peaceful state and the central state of Europe. Historians like Arnold Hermann Ludwig Heeren and Leopold von Ranke are again subjects for research and honored models. Professors Gruner and Elvert present these models to us. Ranke and Heeren were German historians, who in their writing and teaching in the first half of the nineteenth century, still saw history from a European perspective before Germany was swept-away through Kleindeutsch-Prussian historians, journalists, and politicians to become a nationalistic state and a danger to all of Europe. According to Professor Gruner, Arnold Hermann Ludwig Heeren was a “German European historian with a worldwide reputation,” even if he is now almost forgotten in Germany and Europe. Professor Elvert asserts that Leopold von Ranke is still important to remember as “the Prussian state historian who was the historian of Europe.” Naturally Ranke still always appears, at least in stylized form, as the founder of German historicism and of the dictum “just show it as it really was.” But he had other characteristics and insights that can enlighten us. Professor Gruner, who has long argued for Germany within Europe and who is known as an historian of the German Confederation, admits that he is an admirer of Arnold Herman Ludwig Heeren. Like Heeren, Gruner is interested in the structures and conjunctures behind the superficial events of political history, especially the implications of “cultural, linguistic, religious, climatic, economic, and social developments.” Gruner also reminds us that in 1816 Heeren celebrated the opening of the new German Federal Diet in Frankfurt and asserted that the German federal state “was in agreement with the existence of a general state system of Europe only insofar as it helped preserve freedom. The German Federation makes for the central point of this system.” That is what Gruner asserts through his many publications concerning the German Confederation. Whoever reads Gruner’s twenty-five page manuscript for his paper today, or even listens to a part of it, realizes his passionate adherence to the principles of Professor Heeren: among others the absolute necessity of “structural historical approach to European total history,” as well as an understanding of the German Confederation as a good example and guide for a better German central Europe in the heart of a peaceful total Europe. Professor Gruner recommends a new biographical study of his mentor, Arnold Heeren. Perhaps it is he who should take up that task and the honor associated with it. It is certain at least that Gruner thinks that Heeren can serve as the appropriate model for a new generation of historians in Germany. In comparison to the passionate contribution by Professor Gruner that by Professor Elvert stands like the work of Leopold von Ranke: clear, impartial, and focused strictly on “as it actually was.” In eight clear pages, he presents “The Historian of the Prussian State as the Historian of Europe.” Ranke, “le puc travailleuse” [the worker bee] in Heinrich Heine’s view because of his “obsession with sources” and industriousness, is praised by Elvert although he was a “Prussian through and through and a Protestant,” though a product of the eighteenth

Three German Historians in the Twenty-First Century

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century. Because of that Ranke saw Germany as primarily a cultural nation and the Vienna settlement of 1815 as untouchable and a part of the European system of balance. Also, according to Elvert, despite Ranke’s contributions to the Historisch-politische Zeitschrift, which was published with the support of the Prussian government as its mouthpiece in the attempts at negotiation between the monarchy and liberal reforming forces of the period, Ranke historical objectivity remained. Thus, Ranke warned “history, far from improving politics, is much more generally spoiled by them.” Though his career was advanced by the Prussian foreign ministry, Ranke remained, Elvert asserts, first and foremost in the tradition of the balance of power principles of the eighteenth century and a European, a Prussian in the old style only secondarily. Elvert’s perception of Ranke is, like Gruner’s of Heeren, strongly structured by his own century and interests. What, really, should one expect? Elvert and Gruner, as German historians in the twenty-first century, are European historians who by chance grew up in Germany. Both want to revise Germany’s so-called Sonderweg [Special Path], celebrate other German heroes, and bring to mind the options from another and too often forgotten cultural nation. Elvert wishes to see Ranke primarily as a European and, if possible, as a guide to the present motto of the European Union: “United in diversity.” Professor Elvert recommends Ranke as in the tradition of the enlightened political thinking of the eighteenth century, in which the principle of balance seemed to be the basis of the European state system. Still, with the hindsight of the twenty-first century, he asserts that although Ranke was anchored securely in the tradition of the peaceful utopias of the eighteenth century, “one should not forget that, especially in the twentieth century, the ideas concerning the blessing of a balance of power in Europe turned out to be an unattainable utopia.” We should celebrate the insights and suggestions of Professors Gruner and Elvert. If today our students still want to hear more about Bismarck and Hitler, want to study national states, and value power politics, we should preserve the memories of the European inclinations, search for objectivity, and structural understanding of Europeans like Heeren and Ranke. History can still give us good council…although we too often again and again senselessly choose new mistakes instead of older ones. I thank you for your attention and heartily thank the three presenting historians from Germany for their well-written and interesting presentations. Prof. Dr. Robert D. Billinger, Jr., Wingate/NC

AUFSÄTZE

WAS IST NEU AM „SPATIAL TURN“? Potentiale und Grenzen deutscher geschichtswissenschaftlicher Raumkonzepte vom 19. Jahrhundert bis heute Christoph Nübel In der jüngeren Debatte um historische Räume wurde kaum über die Raumkonzepte der Geschichtswissenschaften selber gesprochen. Das Fach verfügt seit dem 19. Jahrhundert über ein breites Instrumentarium an Methoden und Ansätzen, die jedoch einem Wandel unterworfen waren und zuweilen in Vergessenheit gerieten. Das erklärt die unterschiedlichen Urteile, die über die historiographische Raumforschung gefällt wurden. Franz Irsigler gelangte 1987 zu dem Befund, dass die „Erforschung von historischen Räumen“ schon „seit den späten 50er Jahren in der deutschen und der internationalen Forschung einen außerordentlichen Aufschwung genommen hat.“ Damit pflichtete er Reinhart Koselleck bei, der die Geschichte von „Raum-Vorstellungen“ als „gut untersucht“ bezeichnete.1 Jürgen Osterhammel beobachtete dagegen erst Ende der 1990er Jahre eine „Wiederkehr des Raumes.“ Andere Stimmen meinen, dass die Raumdiskussion in den Geschichtswissenschaften bis heute nur bedingt Widerhall gefunden habe. Christoph Dipper und Lutz Raphael zufolge ist „echte Befassung mit der Kategorie ‚Raum‘ (…) die ganz große Ausnahme.“ Noch 2011 forderten sie, die anhaltende „Ortlosigkeit der Geschichtsschreibung“ endlich „zu überwinden.“ Im selben Jahr meinte allerdings wiederum Tobias Riedl, der „Raum“ sei in der Historiographie „nie wirklich tot“ gewesen.2

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Franz Irsigler, Raumkonzepte der historischen Forschung, in: Alfred Heit (Hg.), Zwischen Gallia und Germania, Frankreich und Deutschland. Konstanz und Wandel raumbestimmender Kräfte, Trier 1987, 11–27, 12; Reinhart Koselleck, Raum und Geschichte (1986), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, 78–96, 82. – Ich danke Marc Buggeln und Susanne Schmidt für Anregungen und Kritik. Jürgen Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL 43/1998, 374–397; Christof Dipper / Lutz Raphael, „Raum“ in der Europäischen Geschichte. Einleitung, in: JMEH 9/2011, 27–41, 28, 40; Tobias Riedl, Mode oder Methode? Der spatial turn im Spannungsfeld einer zeitgemäßen Geschichtswissenschaft, in:

Was ist neu am „spatial turn“?

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Solche unterschiedlichen Einschätzungen sind Folge der Ambivalenz der historischen Grundkategorie Raum.3 Der Raum ist zu einem Label geworden, mit dem mittlerweile ganz unterschiedliche historiographische Zugriffsweisen und Untersuchungsgegenstände bezeichnet werden. Die „Pluralisierung des Raumbegriffs“4 hat die historische Raumforschung zu einem unübersichtlichen Feld gemacht. Dieser Beitrag will die Raumbegriffe und Raumkonzepte der deutschen Historiographie ordnen und damit herausfinden, welches der äußerst disparaten Urteile über den Raum zutreffend ist. Zugleich sollen die heuristischen Potentiale historiographischer Raumkonzepte diskutiert werden. In der gegenwärtigen Forschung ist die Annahme verbreitet, dass die Raumbegriffe, die sich seit dem 19. Jahrhundert im Fach ausgeprägt haben, wenig hilfreich seien. Susanne Rau, die im ersten Einführungswerk zum Thema wichtige Zugriffe für eine historiographische Raumforschung erläutert, erweckt den Eindruck, dass man weiterführende Raumkonzepte in den Geschichtswissenschaften erst „etablieren“ müsse. Sie betont völlig zu Recht, dass die Raumforschung ein interdisziplinäres Projekt ist. Deshalb geht sie nur knapp auf die Entwicklung des Raumbegriffs der Historiker ein.5 Wir wissen allerdings immer noch zu wenig darüber, wie sich die Historiker dem Raum genähert haben. Dabei entwickelten sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder Ansätze, die durchaus weiterführend waren, jedoch offenbar in Vergessenheit gerieten. Ernst Bernheim, der 1889 das erste moderne geschichtswissenschaftliche Lehrbuch vorlegte, hatte beispielsweise mehr zum Raum zu sagen, als Rau und zuvor bereits Reinhart Koselleck vermerkten.6 Der jüngst geäußerte Befund, dass „genuin geschichtswissenschaftliche Raumkonzepte kaum zur Verfügung stehen“7, muss also zunächst genauer überprüft werden. Bislang liegt keine Untersuchung vor, die sich mit dem Raum in der Historiographie jenseits der 1920er bis 1940er Jahre befasst, einer Zeit, in der historiographische Raumkonzepte stark politisiert waren.

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Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hgg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn, Frankfurt a.M. 2011, 25–37, 28. Siehe als Übersicht Alexander Mejstrik, Welchen Raum braucht Geschichte? Vorstellungen von Räumlichkeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 17/2006, 9–64, 10f. Marcus Sandl, Geschichtswissenschaft, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, 159–174, 162, ebenso Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012, 148 (Beitrag Regine Buschauer). Deswegen plädiert Susanne Rau für einen „bewussten Umgang“ mit Raumbegriffen, Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt a.M. – New York 2013, 52. Ebd., 12, 27–39, 71–121. Rau argumentiert weiterhin, dass die „kritischen Ansätze aus den Sozialwissenschaften“ von der Historiographie „noch nicht vollständig übernommen“ worden seien. „Hier gibt es also noch immer etwas nachzuholen.“ Ebd., 121; ähnlich Sandl, Geschichtswissenschaft, 160. Allerdings wendet Rau zu Recht ein, dass „die Geschichtswissenschaft (…) stärker die historischen Konzepte berücksichtigen“ solle, weil man die Zugänge anderer Disziplinen nicht unmittelbar auf das Fach übertragen könne, Rau, Räume, 193f. Ebd., 28; Koselleck, Raum und Geschichte, 81f. Sandl, Geschichtswissenschaft, 163.

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Christoph Nübel

Der Blick in die Geschichte des Faches soll nicht dazu dienen, die Konturen der Geschichtswissenschaften gegenüber anderen Disziplinen durch die Betonung ihrer eigenen Stärken zu schärfen.8 Vielmehr sollen Potentiale und Grenzen historiographischer Raumkonzepte bestimmt werden. Auf diese Weise lässt sich zeigen, mit welchen Raumbegriffen die Historiographie seit dem 19. Jahrhundert operierte, welchen Stellenwert sie ihnen zumaß und warum sie sich etablieren konnten oder aus den Augen verloren wurden. Es war vor allem die Idee eines physisch-geographischen Raums, die das Fach seit dem 19. Jahrhundert prägte und die in der Forschung immer wieder Konjunktur hatte. Raum wurde dabei als Teil der Erdoberfläche verstanden, auf der Subjekte und Objekte verortet werden konnten. Hier suchten Gesellschaften ihr Auskommen, wobei sie sich an Natur und Klima anpassen mussten. Dieses Raumkonzept hat mittlerweile wegen der prägenden Kraft, die Diskurstheorie und Konstruktivismus in der gegenwärtigen Raumforschung ausüben, an Akzeptanz verloren. Die auch im Zuge des „spatial turn“ eingeführten Raumbegriffe gehen davon aus, dass Räume gemacht werden und ihnen relationale und dynamische Eigenschaften innewohnen. Vertreter dieser Richtung argwöhnen, dass das Konzept eines physisch-geographischen Raumes den Raum auf seine „territoriale Komponente“ reduziere und es damit gar zu materialistischen „Re-Essentialisierungen“ komme.9 Das ist nicht von der Hand zu weisen. Letztlich setzt sich hier die Kontroverse darüber fort, was als historische Realität zu betrachten und wie sie zu untersuchen sei. Während einige Historiker darauf beharren, die Wirklichkeit erforschen zu können, weisen andere auf die sprachlichen und perspektivischen Schranken dieses Vorhabens hin.10 Diese Auseinandersetzung kreist zumindest in den deutschen Geschichtswissenschaften um das Problem der Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Vermittlung. Sie soll hier weitergedacht und für das Feld der historischen Raumforschung fruchtbar ge8

So die Warnung von Thomas Welskopp, Die Theoriefähigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Renate Mayntz (Hg.), Akteure – Mechanismen – Modelle. Zur Theoriefähigkeit makrosozialer Analysen, Frankfurt a.M. – New York 2002, 61–90, 72. 9 Rau, Räume, 10f. Das Aufkommen eines „Neo-Positivismus“ befürchten Alexander C. T. Geppert / Uffa Jensen / Jörg Weinhold, Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840–1930, in: dies. (Hgg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, 15–49, 18; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, 11–13. Grundsätzlich Roland Lippuner / Julia Lossau, In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften, in: Georg Mein / Markus Rieger-Ladich (Hgg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld 2004, 47– 63. 10 Hans-Jürgen Goertz, Abschied von „historischer Wirklichkeit“. Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft, in: Jens Schröter / Antje Eddelbüttel (Hgg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin – New York 2004, 1–18; ders., Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001; Otto Gerhard Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in: Rechtshistorisches Journal 18/1999, 511–525. Dagegen Richard Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a.M. – New York 1998.

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macht werden. Sicher tauchen immer wieder Vorstellungen von einem räumlichen Determinismus oder von klar abgrenzbaren und statischen Räumen auf, beides Konzepte, die letztlich in eine Sackgasse führen. Zugleich aber wandelt sich das Verständnis davon, was wir über die Vergangenheit wissen können. Dem Konstruktivismus werden Defizite bescheinigt, immer mehr Arbeiten versuchen, die Trennung von Materialität und Repräsentation aufzuheben.11 Sie folgen der Erkenntnis, dass die konstruktivistisch inspirierte Forschung die Welt keineswegs in Diskursen auflösen will, sondern von einer ontologischen Realität ausgeht, der man sich allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen annähern kann.12 In diesem Zuge steht zu erwarten, dass auch das seit dem 19. Jahrhundert etablierte und zumeist materielle Raumverständnis der Geschichtswissenschaften, das in einem ersten Schritt zu untersuchen ist, wieder neue Relevanz erlangt. Anschließend wird erörtert, welche Raumbegriffe heute in der Forschung kursieren und welche Schwerpunkte sie setzen. Dabei werden die alten und neuen Ansätze auf ihren Erkenntnisgewinn überprüft und zusammengeführt. Nur wenn das heuristische Potential der jüngeren Konzeptionen neue Erkenntnisse zutage fördert ließe sich sagen, dass ihnen weit mehr als bislang Beachtung geschenkt werden müsste, denn dann könnten sie einen Beitrag dazu leisten, die Vergangenheit besser zu verstehen. Mit einem methodischen Vorschlag sollen schließlich empirische Lücken und erkenntnistheoretische Probleme der Raumforschung aufgehoben werden, um das Konzept eines physisch-geographischen Raumes mit den neuen Raumbegriffen zusammenzuführen. 1. Raum in den Geschichtswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Für diesen Überblick wurde eine Reihe von Einführungen in die Geschichtswissenschaften ausgewertet, da diese Synthesen das Selbstverständnis des Faches widerspiegeln. Sie bewegten sich im geschichtswissenschaftlichen Mainstream 11 Dieser Trend lässt sich in der Philosophie, der Körper- und Sozialgeschichte beobachten, wobei die amerikanische und britische Forschung hier bereits weitergehende Impulse gesetzt haben. Siehe Kathleen Canning, Problematische Dichotomien, in: Historische Anthropologie 10/2002, 163–182; Patrick Joyce, What is the Social in Social History?, in: Past and Present 206/2010, 213–248, 231–236; als Übersicht Peter Novick, That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession, Cambridge 1988; Paul Boghossian, Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism, Oxford 2006; zum Neuen Realismus in der Philosophie Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013. Aus einer alltagsweltlichen Perspektive fordert auch Rau, Materialität und Repräsentation zu berücksichtigen, Rau, Räume, 53f. Den Versuch, Diskurse im physischen Raum zu verorten, unternimmt Sybille Bauriedl, Räume lesen lernen: Methoden zur Raumanalyse in der Diskursforschung, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 22/2008, 278–312. 12 Goertz, Abschied von „historischer Wirklichkeit“, 10–12; Arne Jarrick, Halbwegs zwischen Materialismus und Konstruktivismus. Über Mentalitäten und soziale Konstruktionen innerhalb der Geschichtsforschung, in: Axel Lubinski / Thomas Rudert / Martina Schattkowski (Hgg.), Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, 41–50, 44.

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und wollten diesen mitbestimmen. Sie fassten Ansätze zusammen, verwiesen auf Wege der Forschung und prägten als Nachschlagewerke Generationen von Geschichtslehrern und -studenten. Aus diesen Gründen sind die hier vertretenen Raumbegriffe für erste Erkundungen des geschichtswissenschaftlichen Raumbegriffes geeignet. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein waren die deutsche Geschichtswissenschaften insbesondere von der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und der aus Frankreich herüberdrängenden positivistischen Soziologie Durkheim‘scher Schule geprägt. Das Vordringen dieser Disziplinen zwang dazu, den Gegenstand und die Methode der Geschichtswissenschaften präzise zu bestimmen. In dieser Zeit entstand Ernst Bernheims vielbeachtetes „Lehrbuch der Historischen Methode“ (1889), das auch spätere Einführungswerke prägte. Für die „Einteilung“ des „geschichtlichen Stoffes“ setzte Bernheim ganz auf die Zeit, die allein „Ereignisse“ und damit „Veränderungen“ bedinge. Demgegenüber musste der Raum, den Bernheim „dem Zeitlichen unterordnet“, als statische Entität erscheinen. Ihm komme ein geringerer Erklärungswert zu, da der Wandel als vornehmster Gegenstand der Geschichtswissenschaften vor allem in der Zeit sichtbar werde.13 Gleichwohl trug Bernheim der Bedeutung des Raumes in zweierlei Hinsicht Rechnung. Zum einen ordneten Raum und Zeit die historischen „Thatsachen“, weil beide den „innere[n] Zusammenhang der Begebenheiten (…) zur Erscheinung“ brächten. Bernheim entwarf deshalb „vier Ordnungsprinzipien“, mit denen die Verschränkungen deutlich werden: „das chronologische, das topische, das synchronistische und (…) das syntopische.“ Geschichte lässt sich demnach nach der Zeit, nach Orten, aber auch zeitgleich an verschiedenen Orten oder ortsgleich in verschiedenen Zeiten betrachten und aufgliedern.14 Zum anderen waren die Wechselwirkungen von „Natur“ und „Menschen“ bedeutsam, die Bernheim unter Verweis auf Friedrich Ratzel und dessen Denken in politischen Raumeinheiten und Naturräumen abhandelte.15 Letztlich beobachtete er eine Verschiebung des Raumes in den Zuständigkeitsbereich der Geographie. „Niemandem dürfte es wohl heutzutage einfallen, in einem Handbuch der Geschichtswissenschaft einen Abriss der Geographie zu geben, wie im vorigen Jahrhundert üblich war.“ Die Geographie habe sich aufgrund ihrer „naturwissenschaftlichen Anschauungsweise“ von den Geschichtswissenschaften entfernt. Bernheim beklagte, dass die Geographie von den Historikern als eigene Disziplin betrachtet und deshalb „neuerdings sehr stiefmütterlich behandelt“ werde. Damit leisteten sie der Achtlosigkeit gegenüber historischen Räumen weiter Vorschub.16

13 Ernst Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 1889, 37. Bernheims Werk erlebte 1908 die 6. erweiterte Auflage und wurde 1914 (München) und 1970 (New York) nachgedruckt. 14 Ebd., 382f. 15 Ebd., 443–445. 16 Ebd., 197f. Das bestätigt die Vermutung von Alfred Heit, der die Trennung von Zeit und Raum auf Profilierungsversuche der Geschichtswissenschaften zurückführt, Alfred Heit, Raum – zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs, in: Georg Jenal (Hg.),

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Historiker wie Rudolf Kötzschke und Karl Lamprecht erkoren den von Bernheim vorsichtig kritisierten Positivismus zur Abwehrstrategie, um den Primat des Faches vor allem gegenüber den Naturwissenschaften zu verteidigen. In seinem Beitrag zum „Grundriß der Geschichtswissenschaft“ von 1906 befasste sich Kötzschke mit Landeskunde und historischer Geographie. Beide sollten die „Erdoberfläche und ihre Teile als Wohn- und Wirkungsraum des Menschen im Ablauf geschichtlicher Entwickelung“ untersuchen. Damit machte der Autor den physisch-geographischen Raum und dessen „natürliche Beschaffenheit“ zum Forschungsgegenstand.17 Während Kötzschke den einzigen substanziellen Beitrag zum Raum im „Grundriß“ lieferte und deshalb die Bedeutung räumlicher Fragen hervorhob, rückte der zu dieser Zeit heftig umstrittene Lamprecht 1912 den Raum gegenüber der Zeit wieder ins zweite Glied. Letztere sei „noch lehrreicher“ als der Raum, weil sie eine der „echtesten menschlichen Eigenschaften“ sei. Lamprechts Raumbegriff unterschied sich nicht wesentlich von dem seines Schülers und Leipziger Assistenten Kötzschke, der ebenfalls „Klima, Bodenkonfiguration“ und die „besondere Art der geographischen Lage“ als „Bedingungen des geschichtlichen Lebens“ untersuchte.18 Ganz anders jedoch gewichtete Lamprecht den Einfluss des Naturraumes. Dieser wirke auf den „Charakter der nationalen Entwicklung“ ein. Die Vielfalt der Landschaften hätten „den Charakter der griechischen Geschichte in der Richtung starker Individualisierung wesentlich bestimmt“, wodurch der „rapide Verlauf der griechischen Geschichte“ erklärbar sei. Nach dieser Lesart war die Entwicklung menschlicher Gesellschaften vom Raum geprägt. Diesen Raumdeterminismus hatte zuvor Bernheim scharf zurückgewiesen.19 Hier lässt sich dem von Georg von Below in anderem Zusammenhang geäußerten Vorwurf, Lamprecht hänge einer simplifizierenden „materialistischen (…) Geschichtsbetrachtung“ an, durchaus zustimmen.20 Nach dem Ersten Weltkrieg widmeten die Geschichtswissenschaften räumlichen Fragen große Aufmerksamkeit. Die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf Raumkonzepte sind noch nicht hinreichend untersucht. Es kann aber ers-

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Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit, München 1993, 369–390, 384f. Rudolf Kötzschke, Quellen und Grundbegriffe der historischen Geographie Deutschlands und seiner Nachbarländer, in: Grundriß der Geschichtswissenschaft Bd. I, 1, Leipzig u. a. 1906, 397–449, 400. Zur immer noch gegebenen Anschlussfähigkeit Kötzschkes in der historischen Geographie Klaus Fehn, Historische Geographie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek ³2007, 447–460, 448. Karl Lamprecht, Einführung in das historische Denken, Leipzig 1912, 155f. Zur Verbindung Lamprechts mit Kötzschke und zum prägenden Einfluss Ratzels Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life, (1856–1915), Atlantic Highlands/NJ 1993, 289–292. Lamprecht, Einführung, 155f. Bernheim hielt dagegen fest: Der „gemässigt sonnige Himmel, die reiche Küstenentwickelung, die glückliche Lage der jonischen Halbinsel boten ihre Gunst den Griechen des Altertums ebenso wie denen der späteren Zeit, jedoch mit welch verschiedenen Wirkungen“, Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode, 446. So Below in einer Rezension von Lamprechts Deutscher Geschichte, Historische Zeitschrift 71/1893, zit. nach Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, 211 (Auslassung ebd.).

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tens festgehalten werden, dass der Stellungskrieg das Verhältnis der historischen Subjekte und ihrer Umwelt neu konturierte. Der Krieg aktualisierte die Frage, ob der Mensch mit seinen Kulturleistungen den Raum oder umgekehrt die Raumbedingungen den Menschen beherrsche.21 So wie der Grabenkampf auf Mikroebene eine neue Raumordnung schuf, katapultierte der Krieg zweitens die Geopolitik endgültig auf die politische Agenda. Die Staatsgründungen, Grenzfragen und Bevölkerungsverschiebungen nach 1918 trugen drittens dazu bei, dass der Raumbegriff in den Geschichtswissenschaften neu justiert wurde und die Historiker nach Grenzen und Raumeinheiten suchen ließ.22 Wilhelm Bauer wertete 1928 in seinem Einführungswerk „Klima, Boden und Raumgestaltung“ zur „Voraussetzungen für die Eigenart geschichtlichen Geschehens“ auf. Der Raum war damit der historischen Entwicklung vorgelagert, ohne dass der Primat der Zeit damit abgelöst wurde.23 Drei Jahre später arbeitete Erich Keyser die neue Bedeutsamkeit des Raumes deutlicher heraus. Er betonte, dass man „erst neuerdings“ wieder dahin gekommen sei, „die Gesamtheit des Geschehens einer räumlichen, wie einer zeitlichen Ordnung zu unterwerfen.“ In Keysers Einführung zeigten sich Parallelen zu den oben skizzierten Entwicklungen im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Der Autor schlug vor, für eine „Raumgeschichte“ den „Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Erdoberfläche“ nachzugehen sowie die „Geopolitik“ in der Tradition Carl Ritters, Ratzels und Karl Haushofers zu untersuchen. Weiterhin seien „Räume“ in „Einheiten“ zu zerlegen und „im einzelnen begrifflich zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen.“24 Vor allem dieser Vorschlag verdeutlichte Keysers Anliegen. Er wollte die Landesgeschichte zu einem wichtigen Ideengeber der Geschichtswissenschaften erheben und sie für die nationalpolitische Aufgabe wappnen, deutsche Gebietsansprüche zu verteidigen. Die politischen Grenzen, die zuvor den Gegenstand der Landesgeschichte – die „räumliche und sachliche Einheit“ eines „Territoriums“ – klar umrissen hatten, waren durch die Bestimmungen der Versailler Vertrages verschoben worden, das Reich hatte ganze Provinzen verloren. Die Frage, welchen Räumen sich die Geschichtswissenschaften fortan zuwenden sollten, verlangte nach neuen Antwor21 Dazu Christoph Nübel, Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2014. Das ist in einem anderen thematischen und zeitlichen Kontext auch Thema bei David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007. 22 Aus der Fülle der mittlerweile vorliegenden Literatur sei für diesen Zusammenhang nur verwiesen auf: Karl Ditt, Zwischen Raum und Rasse. Die „moderne Landesgeschichte“ während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142/2006, 415–448; Jureit, Das Ordnen von Räumen; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993. Als Übersicht über die Forschung der 1990er Jahre Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes. 23 Wilhelm Bauer, Einführung in das Studium der Geschichte, Tübingen ²1928 (1. Aufl. 1921), 43. Im Register finden sich zahlreiche Einträge zur Zeit, aber keine zum Raum. 24 Erich Keyser, Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgaben, München – Berlin 1931, 81f. Der Bedeutung des Raums entsprechend folgt auf das Kapitel „Zeitgeschichte“ (62–80) ein Abschnitt zur „Raumgeschichte“ (81–114).

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ten. Keyser führte den Gedanken Bauers, der von den räumlichen Voraussetzungen der Geschichte gesprochen hatte, in grundsätzlicher Weise fort: In der Historiographie gehe es um die „Ermittlung jener historischen Individualität, jener geschichtlichen Lebenseinheit, die erst jenem Erdraum ihr Gepräge aufgedrückt hat.“25 Nicht Geographie oder Politik seien für die Beschaffenheit eines Raumes bestimmend, sondern die Menschen, die ihn bewohnten. Indem er seine „Raumgeschichte“ mit der Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte verband, versetzte er sie in die Lage, die deutsche Prägung eines Landes herauszuarbeiten. Die damit skizzierte Landesgeschichte „auf erweiterter Grundlage“ sollte schließlich, so Keysers Vision, sich „räumlich nicht mit dem Deutschen Reich oder dem Deutschen Bund decken“, sondern zu einer „wahre Geschichte Deutschlands, des ‚deutschen Landes’“ werden. „Diese Geschichte Deutschlands wird (…) von starker raumgebundener Auffassung getragen sein.“26 In der Zeit des Nationalsozialismus blieben die in den Raumbegriffen der 1920er Jahre angelegten Tendenzen nicht nur wirksam, sondern erhielten durch NS-Ideologie und Kriegführung eine besondere Aktualität. So rückte die von Historikern wie Keyser oder Hermann Aubin eingeforderte „Raumgeschichte“ mit starker landesgeschichtlicher und zudem geopolitischer Aufladung in das Zentrum des Fachdiskurses, wie der Fall der besonders protegierten Ostforschung zeigt. Nur ein knappes Beispiel aus der Geschichte der „Grenzlanduniversität“ Kiel: Während der nationalsozialistische Historiker Carl Petersen bereits im Wintersemester 1935/36 den „Trieb zur Verwirklichung des mitteleuropäischen Raumes durch deutsche Volkskraft“ hervorhob, bestimmte der Dekan der Philosophischen Fakultät 1939 die „aktuellen Fragen des nordischen Raums“ zum Gegenstand der Kieler Geschichtswissenschaft.27 Das Ende des Nationalsozialismus überstanden die Geschichtswissenschaften trotz der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) mit einigen Kontinuitäten, wie sich im Kontext räumlicher Themenstellungen und ihrer Verfechter zeigen lässt. Allerdings war der Versuch, das Fach auf eine räumliche Grundlage zu stellen, zunächst zur Erfolglosigkeit verdammt.28 Demgemäß konzentrierte sich Paul Kirn in seiner „Einführung in die Geschichtswissenschaft“ (1947) ganz auf historische Methoden, Erkenntnis und Quellen, die Historische Geographie fand 25 Ebd., 97f. Auch Bauer hatte – in einem weitaus kürzeren Abschnitt – gefordert, dass „nicht politische Gesichtspunkte“ für die Bestimmung eines Raumes „den Ausschlag geben, sondern die durch die räumliche Begrenzung bedingte Eigenentwicklung“, Bauer, Einführung, 120. 26 Keyser, Die Geschichtswissenschaft, 107f. 27 Christoph Cornelißen, Das Kieler Historische Seminar in den NS-Jahren, in: ders. / Carsten Mish (Hgg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, 229–252, 240, 244. Siehe weiterhin Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, als Überblick Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. – New York 1992; zum Raum insbesondere Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a.M. ²2007, 52–59. 28 Das lässt sich an der Biographie Aubins für die Ostforschung und Landesgeschichte zeigen, siehe Irsigler, Raumkonzepte, allgemein Mühle, Für Volk und deutschen Osten.

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allein im Kontext der Kartenkunde Erwähnung. Für die Gliederung des historischen Stoffes spielte der Raum keine Rolle mehr.29 Möglicherweise ist dies ein Beispiel für das Bestreben vieler Historiker, sich nach den ideologischen Ausfällen der Vorjahre in die Bastion wissenschaftlichen Arbeitens zurückzuziehen. Kirn jedenfalls war in den 1930er Jahren durchaus mit Untersuchungen zum Raum hervorgetreten, was eine umfassendere Behandlung räumlicher Fragen in seiner Einführung nahegelegt hätte.30 Im „Werkzeug des Historikers“ (1958/1960) Ahasver von Brandts war der Raum später eine Ordnung des „geographische[n] Nebeneinander[s] auf dieser Welt.“ Seit Lamprecht prägten die Geschichtswissenschaften die Historische Geographie, diese habe sich aufgrund ihrer Methoden allerdings zur „selbständigste[n] unter allen Hilfswissenschaften“ entwickelt.31 Brandt unterstrich diese Eigenständigkeit, indem er die grundlegenden räumlichen Untersuchungsschritte an die Historische Geographie band und auf die Bedeutung geographischer Beschreibungen und Namenskunde sowie Kartographie verwies. Theodor Schieder beobachtete 1965, dass der Raum in den deutschen Geschichtswissenschaften eher gestreift denn gründlich untersucht würde. Zwei Jahre zuvor hatte Oskar Köhler noch auf die Gefahren der deutschen Tradition der Raumforschung hingewiesen, die auf dem Weg zu einer politischen Geschichtswissenschaft verhängnisvolle Auswirkungen gehabt hätten. Ohne auf die Brisanz der deutschen Traditionen in der historischen Raumforschung einzugehen, vermerkte Schieder mit einer gewissen Überraschung, dass die „speziellen Probleme“ der „räumlich-geographischen Grundlagen der Geschichte“ – anders als in Frankreich – trotz eines Ritter und Ratzel weitgehend vernachlässigt würden.32 Wohl deshalb widmete er sich im Band „Geschichte als Wissenschaft“ den Fragen des Raumes in sehr grundlegender Form. Für Schieder war Raum ein „geographischer Begriff“, dessen historiographische Relevanz er auf drei Ebenen nachzeichnete: Erstens als menschliche Lebens- und Umwelt33 und zweitens als Teil des politischen Feldes. „Jeder Staat ist Raumherrschaft“ und „Gebietsherrschaft“, das ist ein von Schieder mit zahlreichen Beispielen untermauerter Gedanke, den er mit der „Raumlosigkeit der kommunistischen Bewegung“ kontrastierte. Eine Kontinuität der Gedanken Ratzels und Carl Schmitts war in Schieders Ausführungen erkennbar, die Fragen der Beherrschung von „Land und Meer“, der geographischen „Lage“ von Staaten sowie der Landnahme berührten.34 Drittens schließlich ver29 Paul Kirn, Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 1947, 42–44, 85–88, nur implizit ebd., 94f. 30 Ders., Politische Geschichte der deutschen Grenzen, Leipzig 1934 (2. Aufl. 1938). 31 Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, ²1960 (1. Aufl. 1958), 25–27. 32 Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 1965, 216f. Infolgedessen konnte er auch auf Werke Karl Haushofers und Carl Schmitts als weiterführende Forschungsliteratur verweisen. Oskar Köhler, Raum und Geschichte, in: Saeculum 14/1963, 383–428 wurde von Schieder erwähnt, dessen Kritik an der Raumforschung aber nicht diskutiert. 33 Schieder, Geschichte als Wissenschaft, 62f. 34 Ebd., 65, 63, 69f.

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handelte Schiede die Historizität des Raumes. Als „historische Schicht“ wirkten vergangene Herrschaften im Raum fort, was sich in Bauten, Sprache, Ortsnamen und Grenzenverläufen zeige.35 Dezidiert wandte sich Schieder in seiner Einführung gegen einen Raumdeterminismus. „Niemand wird die heutige Lage Berlins als geographisch bedingt ansehen. Sie ist rein politisch bedingt.“ Vor allem diese „historische[n] Lageveränderungen“ seien ein bevorzugtes Forschungsfeld des Historikers. In diesem Zuge deutete Schieder auch an, dass Gesellschaften Räume machten. Es gebe keine Naturgrenzen, die sich in politischen Grenzen ausbildeten – er nannte den Rhein oder die Alpen als Beispiele. Vielmehr seien es politische Beweggründe und damit die von Menschen gestaltete Geschichte, die Grenzverläufe bestimme.36 Inzwischen erlebte die Wirtschafts- und Sozialgeschichte einen Aufschwung. Als Historische Sozialwissenschaft Bielefelder Prägung bestimmte sie die Entwicklung des Faches in den nächsten Jahrzehnten. Durch ihren Fokus auf die Formation von Strukturen in ihrem zeitlichen Verlauf gerieten Räume aus dem Blick, wie sich beispielhaft in der „Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ aus der Feder Wolfgang Zorns (1972) zeigte. Hatte der Autor sich in seinem Werk auch mit dem Raum befasst, berücksichtigte er den Raum hier lediglich im Zusammenhang mit der Historischen Geographie sowie insbesondere in der „Raumwirtschaftstheorie“, also Infrastrukturen und Siedlungsverteilungen.37 Umfassender zielten Egon Boshof, Kurt Düwell und Hans Kloft in ihren „Grundlagen des Studiums der Geschichte“ (1973/1979) auf den Raum. Ganz in der Tradition Bernheims verbanden sie die Zeit mit Dynamik und Entwicklung, während sie den physisch-geographischen Raum als statisch auffassten. Das erklärt die entschiedene Vorrangstellung der Zeit in diesem Werk. Die in früheren Einführungen umfassend diskutierten Wechselwirkungen von Raum und Gesellschaft wurden nicht erwähnt. Über die Thesen Ratzels und die Geopolitik ist nur zu lesen, dass sie im Nationalsozialismus „ideologische Verengung erfahren“ hätten.38 Das war eine Absage an Konzeptionen des Raums, die die Geschichtswissenschaften mehr als ein halbes Jahrhundert lang maßgeblich geprägt hatten und über deren Ende sich Schieder nur wenige Jahre zuvor noch verwundert zeigte.

35 Ebd., 70. Die sich hier aufdrängende Frage, inwiefern sich Schieders politisches Engagement im Nationalsozialismus, vor allem im Kontext der Ostsiedlung, auf seine Raumkonzepte auswirkte, kann hier nicht beantwortet werden, vgl. aber zu Schieder die unterschiedlichen Urteile in Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen ²2002; Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. 36 Ebd., 70, Zitat 62. 37 Wolfgang Zorn, Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Probleme und Methoden, München 1972, 35, 71. Zum Primat der Strukturen als „Grundlagen der Geschichtswissenschaft“ ebd., 16–20. Siehe dazu Geppert / Jensen / Weinhold, Verräumlichung, 25f. 38 Egon Boshof / Kurt Düwell / Hans Kloft, Grundlagen des Studiums der Geschichte. Eine Einführung, Köln – Wien ²1979 (1. Aufl. 1973), 3, 276–278.

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Ernst Opgenoorth und Günther Schulz kamen 2001 ganz ohne Hinweis auf Ratzel aus, betonten aber im Zusammenhang mit der „bedeutende[n] Hilfswissenschaft“ Historische Geographie: „Alle geschichtlichen Begebenheiten tragen sich im Raume zu.“ Die Geographie sorge für eine „räumliche Begrenzung“ der geschichtlichen Gegenstände.39 So wurde Raum auch im von Michael Maurer herausgegebenen „Aufriß der historischen Wissenschaften“ aus demselben Jahr verstanden.40 In den weiteren Betrachtungen von Opgenoorth und Schulz stand die Landschaftskunde im Mittelpunkt. Sie zeige, wie „Raum das Handeln des Menschen bestimmt“, zugleich halte sie aber auch Beispiele für das „Einwirken des Menschen auf den Raum“ bereit.41 In einem knappen Abschnitt, der sich Grenzen als Untersuchungsgegenstand widmete, verdeutlichten die Autoren, dass „Gemeinschaften“ sich sowohl „im Bewusstsein“ als auch „regional gegeneinander“ abgrenzten. Diesen Ausführungen lag ein erweiterter Raumbegriff zugrunde, der auch gedachte Grenzziehungen jenseits ihrer physischen Ausprägungen einbezog. Er fand sich jedoch nicht auf die Kartographie als historiographisches Forschungsfeld übertragen, über das die Autoren nur festhielten, dass sich damit historische „Tatsachen“ bestimmen ließen.42 Die Ausführungen zur Zeitlichkeit in Geschichtsbildern und zur Einteilung des geschichtlichen Stoffes im ersten Teil des Buches blieben ohne räumliches Äquivalent.43 Damit spiegelte das Werk den Primat der Zeit in den Geschichtswissenschaften, eine Tendenz, die sich auch in neuesten Einführungen erhalten hat.44 Die große Ausnahme war der von Hans-Jürgen Goertz herausgegebene „Grundkurs“ (1998/2007), dessen Beiträge in Nachbar- und Spezialdisziplinen sowie in Konzeptionen der Geschichtswissenschaften einführten und diese in Verbindung mit räumlichen Fragen diskutierten. Klaus Fehn musste allerdings für die Historische Geographie vermerken, dass die geographischen „Vorstellungen“ der Historiker „unzureichend“ seien.45 Abseits dieser Zugriffe blieben indes Ein-

39 Ernst Opgenoorth / Günther Schulz, Einführung in das Studium der neueren Geschichte, Paderborn 62001 (1. Aufl. 1969), 199, 38f. 40 In der Einführung hieß es: „Menschliches Leben vollzieht sich global in definierten Räumen; Kulturen und Staaten lassen sich abgrenzend erkennen.“, Michael Maurer (Hg.), Aufriß der historischen Wissenschaften, 7 Bde., Bd. 2: Räume, Stuttgart 2001, 9. Die Autoren des Bandes zeichneten, diesem Programm folgend, die Geschichte geographisch definierter Räume nach, ohne den Raumbegriff näher zu bestimmen. 41 Opgenoorth / Schulz, Einführung, 199f. 42 Ebd., 200f. 43 Ebd., 31–39. Zum Raum siehe nur die erwähnten knappen Bemerkungen ebd., 38f. 44 Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn u. a. 2009. Auch hier verzeichnet das Register nur Einträge zur Zeit, Fernand Braudel findet allein im Kontext seiner longue durée Erwähnung. 45 Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek ³2007, Beiträge Klaus Fehn (Historische Geographie), Ernst Hinrichs (Landes- und Regionalgeschichte), Albrecht Lehmann (Volkskunde), Jürgen Osterhammel (Globalgeschichte). Siehe Fehn, Historische Geographie, 447, 456.

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fluss und Nutzen von Raumkonzepten unterbelichtet, wohingegen die Beiträge der Zeit eine bedeutende Rolle zuwiesen.46 Nimmt man die Einführungswerke zum Maßstab, dann haben sich die großen Linien der Raumbegriffe der deutschen Geschichtswissenschaften in den letzten 120 Jahren nur wenig verändert. Prägend war der Einfluss Immanuel Kants. Er erklärte den Raum zum a priori menschlicher Erfahrungen und rückte damit die Subjekte in den Mittelpunkt der Raumbetrachtung. Indem er aber zugleich vom dreidimensionalen euklidischen Raum ausging, der den menschlichen Wahrnehmungen vorgelagert sei, vertrat er ein statisches Raumverständnis. Es übte einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichtswissenschaften aus und prägte beispielsweise die Arbeiten Georg Wilhelm F. Hegels und Johann Gustav Droysens. Auch im späten 19. und im 20. Jahrhundert blieb es wirksam und leistete der Privilegierung der Zeit Vorschub.47 Eine Wirkung dieses Konzepts war, dass Zeit und Raum deutlich voneinander geschieden wurden und vor allem erstere Bewegung und Wandel verkörperte. Der Kant‘sche absolute Raum wurde mit dem Erdraum gleichgesetzt. Er galt als statisch, hier entfaltete sich das gesellschaftliche Leben in der Zeit. Unter dieser Maßgabe wurden lange Zeit die Wechselwirkungen von Mensch und Raum erforscht. Die Erdoberfläche markierte den festen räumlichen Standpunkt der Historiographie. Impulse, den Raum als relationales und dynamisches Gebilde zu begreifen, wie sie Johann G. Herder und später Edmund Husserl oder Ernst Cassirer setzten und deren Ideen in der Landesgeschichte ausdifferenziert wurden, konnten sich nicht durchsetzen. Der große Einfluss solcher Raumkonzepte, die auch mit dem Namen Ratzel verbunden waren, verschwand allerdings nicht schlagartig mit dem Jahr 1945, dessen Charakter als „Stunde Null“ auch aus dieser Perspektive zu relativieren ist.48 Der Abschied des Raumes aus der Mitte der Geschichtswissenschaften vollzog sich, so der vorläufige Befund, erst in den 1970er Jahren. Jetzt wurden in öffentlichen Debatten belastete Traditionsbestände benannt. Das Fach erlebte Generationswechsel und Universitätsneugründungen, wodurch sich neue inhaltliche Schwerpunkte durchsetzten. Gleichwohl – und das ist im Folgenden zu zeigen – finden sich in den untersuchten Einführungen Konzepte, die auch ange-

46 Siehe die unter dem gleichnamigen Abschnitt in Goertz (Hg.), Geschichte, 19–249 versammelten Beiträge. 47 Der Bezug auf Kant in Schieder, Geschichte als Wissenschaft, 61. Zum Kant’schen Raumbegriff Stephan Günzel, Raumkehren, in: ders. (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart – Weimar 2010, 77–89, 77–79; Dirk Quadflieg, Philosophie, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, 274–289, 280–282; Koselleck, Raum und Geschichte, 80. An anderer Stelle wies Günzel auf die Bemühungen Kants hin, den Raum weniger absolut zu bestimmen. Diese Lesart hat sich jedoch als weitaus weniger einflussreich erwiesen, Stefan Günzel, Einleitung, in: ders. Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, 19– 43, 31–33. 48 Dazu Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, 23f.

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sichts der vielen gegenwärtig kursierenden historiographischen Raumbegriffe nutzbar gemacht werden können. 2. Raumkonzepte heute: Was ist neu am „spatial turn“? Die deutsche historische Raumforschung hat sich in den letzten fünfzehn Jahren hinsichtlich ihrer Begriffe und Gegenstände erheblich ausdifferenziert.49 Sie wurde dabei auch von der Debatte um den „spatial turn“ beeinflusst. Darunter lässt sich eine Denkbewegung verstehen, die den Raum in den Mittelpunkt der Forschung rücken will. Um den „spatial turn“ hat sich eine Diskussion entsponnen, die sich vor allem am behaupteten Neuigkeitswert des „turns“ reibt sowie die Notwendigkeit infrage stellt, neue Forschungsfelder zwangsläufig mit dem mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff des „turns“ auszuflaggen. Natürlich ist es ausgesprochen selten der Fall, dass Themen und Trends der Historiographie tatsächlich noch keinen Historiker gefunden haben. So wie die Globalgeschichte mit Leopold von Ranke und Heinz Gollwitzer ihre Vorläufer hatte, so haben sich auch Historiker immer wieder mit der räumlichen Seite der geschichtlichen Welt befasst. In Frankreich traten die Annales-Historiker wie Lucien Febvre oder später Fernand Braudel hervor, in der Bundesrepublik wiesen beispielsweise Reinhart Koselleck oder Wolfgang Zorn auf die auf die räumliche Bedingtheit sozialen Lebens hin. Gleichwohl waren die deutschen Geschichtswissenschaften von einer doppelten Distanz zum Raum geprägt. Zum einen war der Umgang mit dem Raum, wie gezeigt, vor allem von Zeitströmungen und Fachtraditionen geprägt. Zum anderen gab es lange Vorbehalte gegen den „spatial turn“ selbst. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren vom Geographen Edward Soja als ein krasser Fall von Eigenwerbung in Szene gesetzt. Mit ihm verbanden sich eine Reihe fachfremder Begriffe und Theorien. Sie stießen nicht immer auf Zustimmung50, weil sie auf das Themenfeld Raum zielten, dass die Geschichtswissenschaften für ausreichend bearbeitet und für ihren Zuständigkeitsbereich hielten. Die Distanz zum „spatial turn“ hat sicherlich auch mit der Debattenkultur der Geschichtswissenschaften zu tun, von der methodische und thematische Neuerungen tendenziell abgewiesen und – durch Netzwerke und Habitus begünstigt – regelmäßig die hergebrachten Kernthemen des Faches betont werden. Ein markantes Beispiel dafür ist der heftig ausgetragene und lang andauernde Streit um die Relevanz der Kulturgeschichte.51 49 Zu den Ursachen Schlögel, Im Raume, 62–69. 50 Zur Begriffsgeschichte des „spatial turn“ siehe Jörg Döring / Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hgg.), Spatial turn, 7–45, 8–13; Jörg Döring, Spatial Turn, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart – Weimar 2010, 90–99. 51 Siehe dazu Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48/1997, 195–218 sowie die gelehrte Polemik von Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, 7–13, 142–153.

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Die Raumbegriffe, die im Zuge des „spatial turn“ diskutiert wurden, tragen eine überdeutliche kulturgeschichtliche Einfärbung. Im Umgang mit ihnen sind die Folgen früherer Auseinandersetzungen immer noch sichtbar. Diese Vorbehalte haben dazu geführt, dass einige Forscher vom „spatial turn“ abgerückt sind. Immer wieder wird das Diktum Karl Schlögels zitiert, der damit „lediglich“ eine „gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt“ bezeichnet sehen will, „nicht mehr, aber auch nicht weniger.“52 Andere wiederum finden den Terminus sinnvoll, sofern sich damit neue Zugänge finden lassen und er so einen Mehrwert bietet.53 Eric Piltz weist auf die Potentiale des neuen historiographischen Raumdenkens hin und betont: „Spatial turn“ heiße nicht nur, „Geschichte in ihren räumlichen Bedingungen zu denken“, sondern auch die Rückwirkungen des eigenen Raumverständnisses auf die Historiographie selbst zu reflektieren.54 Daneben finden sich mittlerweile Arbeiten, die ganz ohne diese Bezeichnung auskommen. So entledigen sie sich der Notwendigkeit, sich zur Mode der „turns“ zu positionieren und versuchen, mit neuen und unbelasteten Begriffsschöpfungen wie „Raumwissenschaften“ zu operieren.55 So machen sie auch deutlich, dass die Berücksichtigung räumlicher Fragen für viele Historiker mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Wie auch immer sich Historiker zum „spatial turn“ positionieren, festzuhalten bleibt, dass es zu einer intensiveren Beschäftigung der Geschichtswissenschaften mit dem Raum gekommen ist. Inzwischen haben sich drei Begriffe herausgebildet, mit denen Fragen von Raum und Geschichte untersucht werden. 1. Zunächst ist vor allem ein materielles Raumverständnis verbreitet. Wie auch Blackbourn versteht Schlögel unter räumlicher Geschichtsschreibung eine Hinwendung zu den „Schauplätzen der Geschichte“, die lange Zeit vergessen worden seien.56 Schlögel versucht, seine Geschichten an historischen Orten entlang zu erzählen und den Raum zu einer narrativen Struktur zu machen. Es ist vor allem der physische Raum, auf den Schlögel dabei zielt. Am Beispiel des 11. September führt er aus, dass es nicht nur vorgestellte Räume gebe: „Es wurden Türme getroffen, nicht nur Symbole.“57 Ein ähnlich gelagerter Raumbegriff dient dazu, Staaten und Regionen auf der Weltkugel zu verorten, um sie als Untersuchungsgegenstände bestimmbar zu machen oder ihre „relative geographische Lage“ zu 52 Schlögel, Im Raume, 68. 53 Rau, Räume, 12; Riedl, Mode oder Methode, 37. 54 Eric Piltz, „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hgg.), Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 75–102, 94. 55 Stephan Günzel, Einleitung, in: ders. (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, 7–13, 7. Als Beispiele: Nübel, Durchhalten und Überleben; Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg 2012. 56 David Blackbourn, A Sense of Place. New Directions in German History. German Historical Institute. The 1998 Annual Lecture, London 1999, 9; Karl Schlögel, Räume und Geschichte, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, 33–51, 51; ders., Im Raume, 71. Als Beispiel vgl. die Beiträge in Maurer (Hg.), Aufriß. 57 Schlögel, Im Raume, 31.

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erfassen.58 Diese Ansätze sind wenig umstritten, lehnen sie sich doch an das tradierte geschichtswissenschaftliches Raumverständnis an, das bereits die Einführungswerke prägte. Allerdings haben sich lange Zeit vor allem die Landesgeschichte und die Historische Geographie mit Fragen dieses Themenfeldes befasst, das in den Geschichtswissenschaften insgesamt eher ein Nischendasein fristete.59 Paradigmatisch sind mittlerweile die Arbeiten Fernand Braudels geworden, der die Bedeutung der Geographie des Mittelmeerraumes für die Bewirtschaftungsformen oder die Auswirkungen des Wetters auf die Seefahrt berücksichtigte und dafür den Begriff „géohistoire“ vorschlug.60 Die Rezeption dieses Konzeptes verstärkte den Einfluss eines statischen Raumverständnisses61, obgleich es immer wieder Versuche gab, im Rahmen dieses Raumbegriffs auf Strukturen, Verteilungen und Relationen hinzuweisen.62 Daneben ist für die heutige Forschung die Frage nach der Durchsetzung staatlicher Herrschaft im Raum und die Territorialität von Imperien bestimmend, zu der Bernheim und Schieder weiterführende Gedanken vorgelegt haben. Mittlerweile haben zwei ganz anders gelagerte Raumbegriffe in die Historiographie Einzug gehalten. Sie gehen nicht länger von einem materiellen, physischgeographischen Raum aus, der a priori existiert und in dem Menschen und Sachen verortbar sind. Vielmehr betonen sie, dass Räume gemacht werden. Diesem Verständnis wohnt ein dynamisches Moment inne, weil es davon ausgeht, dass sich Räume in der sozialen Praxis konstituieren.

58 Jürgen Osterhammel, Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: Wilfried Loth / ders. (Hgg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, 287–308; Dominic Sachsenmaier, Europäische Geschichte und Fragen des historischen Raumes, in: Winfried Eberhard (Hg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig, 2009, 559–571. 59 Zur Forderung, die Historische Geographie wieder näher an den Fachdiskurs heranzuführen, Jürgen Osterhammel, Raumerfassung und Universalgeschichte, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, 151–169, 153f. Die erste deutschsprachige Einführung in das Fach, die seit 40 Jahren erschienen ist, belegt, dass sich Teile der Historischen Geographie heute mehr der Geographie als der Historiographie zugehörig fühlen, Winfried Schenk, Historische Geographie, Darmstadt 2011. Siehe aber die Beiträge in Goertz (Hg.), Geschichte. 60 Fernand Braudel, Geohistoire und geographischer Determinismus (1949), in: Matthias Middell / Steffen Sammler (Hgg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, 233–246, ohne indes dem Determinismus ganz zu entgehen. Braudel skizzierte hier seinen räumlichen Ansatz, der Grundlage seines Schlüsselwerkes ist, vgl. ders., Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde. Frankfurt a.M. 1992 (frz. 1949). 61 Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn u. a. 2011, 16f. In Bezug auf Braudel Jarrick, Halbwegs zwischen Materialismus und Konstruktivismus, 48; Piltz, „Trägheit des Raums“, 92. 62 Matthias Middell, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung der Geschichtswissenschaft, in: Döring / Thielmann (Hgg.), Spatial turn, 103–123; Irsigler, Raumkonzepte, 13.

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2. Dabei wird vor allem das Raummachen untersucht. Als einflussreich hat sich in diesem Zusammenhang das Werk Henri Lefebvres erwiesen. Sein Diktum lautete, dass „der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist.“ Räume bestehen demnach nicht a priori, sie sind auch nicht als ruhende Entitäten zu begreifen, sondern werden zu einem wandelbaren Gebilde, dessen Gestalt durch menschliches Handeln hervorgebracht wird. „Jede Gesellschaft“, so fasste Lefebvre es zusammen, „produziert einen ihr eigenen Raum.“63 Natürlich ist die Veränderbarkeit des Raumes nicht erst seit Lefebvres „La production de l’espace“ aus dem Jahr 1974 bekannt. Bereits Georg Simmel betonte 1903, dass sich Gesellschaften ihre Räume machen.64 Keyser und Schieder wiesen in ihren Einführungen darauf hin, dass sich Räume und Grenzen in Gestalt sozialen Handelns ausprägen. Kosellecks Idee, es gebe nicht nur Naturräume, sondern auch „Räume, die sich der Mensch selber schafft“, scheint dem Raumverständnis Lefebvres zu entsprechen. Gleichwohl bezeichnen diese Räume etwas anderes. Koselleck zielte auf den physischgeographischen Raum, der Ressourcen zum Leben bietet und der durch Verkehrswege erschlossen wird.65 In der Soziologie bezeichnet man diesen Raum als Containerraum, der als Behälter gedacht wird und in dem Subjekte und Objekte in einer festen Struktur angeordnet sind.66 Auch Keyser und Schieder betrachteten gemachte Räume immer im Zusammenhang mit dem geographischen Raum, betonten aber die historische Wandelbarkeit des Raumes. Die im Gefolge Lefebvres verbreiteten Ansätze gingen darüber noch hinaus, denn ihnen lag die Idee der Konstruktion des Raumes jenseits bloßer Geographien zugrunde. Lefebvre berücksichtigte zwar die Materialität des Raumes („la practique spatiale“), wies zugleich jedoch auf die gemachten Repräsentationen („représentations de l’espace“) und Symbolhaftigkeit des Raumes („espaces de représentation“) hin. Lefebvres Werk wird deshalb als Plädoyer dafür gelesen, weniger den Raum selbst, sondern vielmehr den „Produktionsprozess“ zu untersuchen, im dem Raum hervorgebracht wird.67 Vor allem dieser Impuls ist gemeint, wenn von neuen Ansätzen der Raumforschung die Rede ist. In diesem Zusammenhang werden auch raumbezogene Identitäten, gedachte Raumordnungen und Grenzziehungen in den Blick genommen.68 63 Henri Lefebvre, Die Produktion des Raums, in: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, 330–342, 330f. 64 Georg Simmel bezeichnete beispielsweise eine Grenze als „eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“, zit.nach Döring, Spatial Turn, 94. 65 Koselleck, Raum und Geschichte, 83, 85. 66 Laura Kajetzke / Marcus Schroer, Sozialer Raum: Verräumlichung, in: Günzel (Hg.), Raum, 192–203, 193. 67 Lefebvre, Die Produktion des Raums, 333f. Zur Umsetzung siehe beispielsweise Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 130; Rau, Räume. 68 Siehe dazu mit weiteren Hinweisen: Marc Buggeln, Raum, in: Christian Gudehus / Michaela Christ (Hgg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, 215–220; Sabine Damir-Geilsdorf / Béatrice Hendrich, Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung. Heuristische Potentiale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps, Er-

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3. Als weiteres Novum ist es die Relationalität des Raumes, die als ein Themenschwerpunkt der Historiographie hervortritt. Auch hier wird der Raum nicht mehr als eine bloße physische Entität begriffen. Man sucht vielmehr nach Beziehungen im Raum, nach Verteilungen, nach Nähe und Ferne. Das war bereits für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bedeutsam, wie Zorn gezeigt hat. Es ist die Soziologie, die diesen Raumbegriff heute konkretisiert und den Raum als „eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“ in den Blick nimmt.69 Piltz hat diese Ideen in ein geschichtswissenschaftliches Forschungsprogramm übersetzt, das die „Wechselbeziehung von physischen Bedingungen und (menschlichen) Handlungen untersucht, wobei Raum das Ergebnis dieser Wechselbeziehung ist und sich in den Vorstellungen von Räumlichkeit, Grenzen und den Darstellungen derselben äußert.“ Dabei bedauert er, dass es nur wenige Arbeiten gebe, welche die Raumbeziehungen herausarbeiteten und Raum als „Analyseinstrument“ einsetzten.70 Indes stellte bereits Bernheim Überlegungen zur Verknüpfung von Topologie und Chronologie an, die in diesem Zusammenhang wieder aufgegriffen werden könnten. Nach diesem knappen Überblick lässt sich sagen: Die neue Raumforschung operiert vor allem mit einem konstruktivistischen und dynamischen Raumkonzept. Sie fokussiert auf die soziale Praxis und stellt die Produktion und die Relationalität des Raumes in den Mittelpunkt. Weiterhin zeichnet sie sich durch einen Raumbegriff aus, der nicht als selbstverständlich hingenommen wird, sondern unter Zuhilfenahme von fachfremden Denkansätzen aus Geographie, Philosophie und Soziologie reflektiert und differenziert wird. Diese gehen damit über das etablierte Instrumentarium der Geschichtswissenschaften hinaus, wobei sich in den historiographischen Einführungswerken immer wieder bedenkenswerte Vorschläge zur historischen Raumforschung finden. Arbeiten jüngeren Datums neigen indes dazu, die Materialität des Raumes zu vernachlässigen. Dieser Tendenz folgt beispielsweise Rau in ihrer Einführung in die Raumforschung. Sie lehnt einen „territorialen Raumbegriff“ als nicht weiterführend ab und schlägt vor, eine Analyse entlang der Schwerpunkte Dynamiken, Wahrnehmungen und Praktiken durchzuführen.71 Dem stehen Positionen gegenüber, die primär von der Materialität des Raumes ausgehen. Sie kritisieren den „spatial turn“, weil ihnen seine konstruktivistischen Ansätze und die zuweilen überbordenden theoretischen Überlegungen am innerung, in: dies. / Angelika Hartmann (Hgg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005, 25–50; David Gugerli / Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002; Jureit, Das Ordnen von Räumen; Middell, Der Spatial Turn, 118f.; Iris Schröder / Sabine Höhler, Annäherungen an eine Geschichte der Globalität im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hgg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt a.M. – New York. 2005, 9–47. 69 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 42005, 153. 70 Piltz, „Trägheit des Raums“, 94. Siehe aber den Vorschlag von Middell, Der Spatial Turn, 118f. 71 Rau, Räume, 13. Siehe dazu auch die Zusammenfassung ihres Raumverständnisses ebd., 11.

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Gegenstand der Geschichtswissenschaften vorbeizugehen scheinen. So raten Christoph Dipper und Lutz Raphael zum „pragmatischen Umgang mit Theorien beim Thema ‚Raum‘.“72 Hierin wird die zweifelnde Haltung der Historiographie zur Theorie deutlich, die entweder in einer verbreiteten „Neigung (…) zur Theorieabstinenz“ (Karl-Georg Faber) oder in einem „relativ unvermittelte[n] Nebeneinander“ von historischer Theorie und Praxis (Christian Meier) ihren Ausdruck findet.73 Beide Haltungen sind durch die Impulse der Kulturgeschichte nur teilweise aufgebrochen worden. Ein solcher Pragmatismus mag zuweilen gut begründet sein, ist die Theorie doch Dienerin der Historiographie mit dem Ziel, die Vergangenheit zu rekonstruieren.74 Wer will schon von raumtheoretischen Erwägungen lesen, wo er die Früchte empirischer Forschung zu ernten hofft? Indes hat sich gerade im Feld der Raumforschung gezeigt, dass sich mit ein wenig Theorie heuristische Probleme klären und Erkenntnisgewinne verzeichnen lassen. 3. Zwischen Materialität und Repräsentation: Raum als Konzept der Forschung Raum ist ein offener Begriff und eine grundlegende Qualität der Geschichte. Daher ist die grundsätzliche Frage danach, was konkret unter „Raum“ verstanden wird, eine Voraussetzung dafür, dass sich der Ansatz in ein fruchtbares Konzept der empirischen Forschung ummünzen lässt. Es lässt sich indes ohne metahistorische Überlegungen nicht erarbeiten. Zuweilen droht der Raum jedoch zum Füllsel und Erklärungsmuster für alles zu geraten. Häufig gebrauchte Schlagworte wie „Deutungsraum“, „Erfahrungsraum“ oder „Erinnerungsort“ sind Metaphern und haben nur wenig mit räumlich orientierter Forschung zu tun, wie sie hier verstanden wird.75 Im Folgenden soll gezeigt werden, welche heuristischen Gefahren 72 Dipper / Raphael, „Raum“, 40, ähnlich Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 129. Jureit bemerkte die „irritierende Gleichzeitigkeit von konstruktivistisch argumentierenden Raumbekenntnissen und einer relativ konventionellen Forschungspraxis“, Jureit, Das Ordnen von Räumen, 11. 73 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971, 10; Christian Meier, Der Alltag des Historikers und die historische Theorie, in: Hans Michael Baumgartner / Jörn Rüsen (Hgg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt a.M. 1976, 36–58, 36. Siehe dazu auch Piltz, „Trägheit des Raums“, 94. 74 So die Formulierung bei Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 146–214, 204. 75 Beispielsweise Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918, Göttingen 2003, 91 oder das oftmals erstaunlich raumlose Konzept der Erinnerungsorte, Étienne François / Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde. München 2001–2002. Dazu vgl. die Kritik von Stephan Günzel, Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen, in: Döring / Thielmann (Hgg.), Spatial Turn, 219–237, 220. Siehe dagegen die Überlegungen zur Räumlichkeit des Gedächtnisses bei Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 52005, 38f.; Peter Burke,

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aufgrund dieser Auslassungen in der Raumforschung lauern und wie sie sich umgehen lassen. Dazu seien zwei Beispiele angeführt. In den 1980er Jahren wollten Michael Stürmer und vor allem Hagen Schulze die deutsche Geschichte aus der „Mittellage“ des Reiches erklären. Zugespitzt hieß es dann: „Deutschlands Schicksal ist die Geographie.“76 Während des Historikerstreits erkannten Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler in solchen Äußerungen den Versuch, die Deutschen von ihrer Geschichte zu entlasten und den Sonderweg zu relativieren.77 Etwa 30 Jahre später stellten Dipper und Raphael im Kontext der Grenzforschung fest, dass Räume einerseits zwar „das Ergebnis sozialer Konstruktion“ seien, andererseits aber „ohne Zweifel (…) von der Natur vorgegebene Grenzen“ existierten. Am Beispiel einer„wahrgenommene[n] und gelebte[n] naturräumliche[n] Grenze[n]“ wollten sie die Existenz von Naturgrenzen belegen.78 In beiden Fällen wird die Existenz eines physisch-geographischen Raums vorausgesetzt. Sie vertreten mithin einen Raumbegriff, der über Jahrzehnte im Zentrum der räumlich inspirierten historischen Forschung stand79 und verwenden ein deterministisches Erklärungsmuster, das vor allem im geopolitischen Denken virulent war und das auch die Geographie lange Zeit prägte.80 Es seien räumliche Tatsachen, die Tatsachen des sozialen Lebens bestimmten. Diese Begründung ist allerdings fragwürdig, denn sie reduziert die Komplexität der Welt auf geographische Einflüsse. Sosehr der Geographie eine Bedeutung für die soziale Praxis zuzumessen ist, darf menschliches Handeln keineswegs allein auf den Raum zurückgeführt werden. Im Beharren auf dem physisch-geographischen Raum zeigt sich ein Unbehagen gegenüber einem Konstruktivismus, der Räume zunächst durch soziales Handeln hervorgebracht wissen und sie weiterhin vor allem in ihren Repräsentationen

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Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, 289–303, 293f.; Rau, Räume, 94–97. Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, München 1982, 16. Ähnlich, aber weniger explizit: Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, München 1983, 19. Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988, 76–78. Siehe weiterhin die Kritik bei Blackbourn, A Sense of Place, 6f.; Jürgen Kocka, Interventionen. Der Historiker in der öffentlichen Verantwortung, Göttingen 2001, 22f. Dipper / Raphael, „Raum“, 32f. Als Resümee der mit diesem Raumbegriff verbundenen Ansätze lässt sich Irsigler, Raumkonzepte lesen. Siehe Köhler, Raum und Geschichte, passim (zur Kritik von Grenzkonstruktionen und räumlichem Determinismus ebd., 418); Hans-Dietrich Schultz, Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 28/2002, 343–377. Zu den Folgen dieses Denkens auch Dieter Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 254/1992, 341–381, 377. Allgemein zum Raumdeterminismus Roland Lippuner / Julia Lossau, Kritik der Raumkehren, in: Günzel (Hg.), Raum, 110–119, 113.

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lesen will.81 Die sich hier abzeichnende Streitfrage lautet, ob Raum in seiner Materialität historiographisch fassbar ist oder ob er sich allein als ein Konstrukt verstehen lässt, das in einem Netz von Diskursen sichtbar wird. Sie prägt nicht nur die gegenwärtige Theoriedebatte über den Raum82, sondern auch die empirische Forschung, wo sie – wie eben gezeigt – zu analytischen Unschärfen und Verwicklungen führt. Raumforschung muss allerdings nicht heißen, dass man allein dem Konstruktivismus das Wort redet und die Materialität der Welt aus den Augen verliert. Die Trennung der materiellen und symbolischen Welt ist in der Tat unbefriedigend und nicht weiterführend.83 Wenig hilfreich ist es aber auch, die „Faktizität des Dinglichen“ zwar zu akzeptieren, sie dann aber in der empirischen Forschung unberücksichtigt zu lassen und allein die „Beschreibung von Raum“ zu thematisieren.84 Tatsächlich lassen sich Ansätze, die entweder von der Materialität oder der Diskursivität der Welt ausgehen, in der Raumforschung zusammenführen.85 Damit lassen sich beide Dimensionen der Geschichte berücksichtigen, ohne in eine letztlich unbefriedigende Abwehrhaltung oder Dichotomisierung zu verfallen. Ausgangspunkt dafür sind Überlegungen, die Max Weber in seinem Text über „Objektivität“ im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Begriffsbildung angestellt hat. Weber arbeitete heraus, dass Wissenschaft die Wirklichkeit nicht abbilden könne, da sie in Denken und Darstellung auf die Sprache zurückgeworfen bliebe. Die Begriffe, mit denen wir versuchen, Historie zu betreiben, seien wandelbar – ebenso wie die geschichtlichen, zeitgenössischen Begriffe selbst. Weber zufolge gab es keinen konstanten Wortgebrauch, mit denen man historische „Tatsachen“ beschreiben kann. Das heißt freilich nicht, dass man sich diesen „Tatsachen“ nicht doch annähern kann. Einen Ansatzpunkt fand Weber zunächst in der Kritik der wissenschaftlichen Arbeit. Der Wissenschaftler müsse sich seiner eigenen Rolle im Prozess des Forschens klar werden, um Werturteile von der Analyse der „empirische[n] Wirklichkeit“ zu trennen.86 Weiterhin gelte es, das 81 Dipper / Raphael, „Raum“, 40; Schröder, Das Wissen, 12, 16. 82 Jörg Dünne, Einleitung, in: ders. / Günzel (Hgg.), Raumtheorie, 289–302; ähnlich das Plädoyer von Kajetzke / Schroer, Sozialer Raum, 202. 83 Vgl. Blackbourn, A Sense of Place, 25. 84 Günzel, Einleitung, 11. Auch Rau betont, dass es einen materiellen Raum gebe. Diese Raumdimension wird indes im Kernstück des Bandes, der vorgeschlagenen Raumanalyse, nicht berücksichtigt, Rau, Räume, 122–191. 85 Geppert, Jensen und Weinhold wollen diese Trennung überwinden, indem sie kommunikative Praktiken untersuchen, die in Räumen stattfinden und Räume zugleich hervorbringen, Geppert / Jensen / Weinhold, Verräumlichung, 18, 28f. Ein anderer Vorschlag stammt von der Soziologin Martina Löw, die Raum als soziales Handlungsfeld begreift, in dem Dinge und Menschen ihre Rollen spielen, Löw, Raumsoziologie. 86 Weber, Objektivität, 152–157. Siehe dazu die Überlegungen zur normativen und repräsentativen Dimension der Sprache, die Chris Lorenz durch einen „internen Realismus“ überbrücken will, Chris Lorenz, Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: Für einen „internen Realismus“, in: Jens Schröter / Antje Eddelbüttel (Hgg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin – New York 2004, 65–106, 98–101.

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Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zu überdenken und die Konsequenzen in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess zu überführen. Die Komplexität und Historizität der Wirklichkeit könne durch die Eigenlogiken und sinntragende Dimension der Sprache nicht in einzelnen Begriffen aufgehoben werden. In der Tradition Kants formulierte Weber, dass „Begriffe (…) gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind.“87 Sprache und Wirklichkeit gehören zwar nicht denselben Welten an, verweisen aber aufeinander. Damit markierte Weber früh eine Position, die von der kritischen Historiographie heute wieder bezogen wird.88 Wie lässt sie sich dann untersuchen? Weber schlug vor, idealtypische Begriffe als „abstrakte Begriffe von Zusammenhängen“ herauszuarbeiten. „Idealtypen“ seien ein heuristisches Konstrukt des Historikers mit dem Zweck, „die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen.“89 Diese Überlegungen lassen sich auf das geschilderte Problem der Raumforschung beziehen. Anhand der gewählten Begriffe lässt sich der Gegensatz zwischen Materialität und Diskurs in der Historiographie überbrücken, indem Raum erstens als analytische Kategorie und zweitens als Quellenbegriff verstanden wird. 1. Im ersten Fall ist der Raum ein metahistorisches Konstrukt, das der Historiker mit eigenen Begriffen begründet, um die Vergangenheit untersuchen zu können. Wie die Weber‘schen „Idealtypen“ dient es dazu, das Chaos der Vergangenheit zu ordnen und überhaupt erst fassbar zu machen. Weber bezeichnete diesen Prozess als „denkende Umbildung“ der „unmittelbar gegebenen Wirklichkeit.“90 Mit dem Raum als metahistorischer Kategorie, für den eigene Forschungsbegriffe gefunden werden, kann der Historiker Dinge sichtbar machen, die zuvor nicht kenntlich waren, ohne die Analyse mit zeitgenössischen Sinngebungen und Deutungen zu befrachten. Die angesprochenen Zusammenhänge werden nicht in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, sondern in ihren nicht artikulierten – weil nicht bewussten, nicht bestimmbaren oder unbemerkt gebliebenen – Auswirkungen und Prägungen untersucht. Raum kann hier dazu dienen, den Untersuchungsgegenstand einzugrenzen, wie es heute für die Lokalgeschichte, Weltgeschichte oder Geschichte der internationalen Beziehungen bedeutsam ist.91 Weiterhin geht es hier aber auch um die Topographie von Orten und Infrastrukturen in Abhängigkeit von der Geographie. So lassen sich Herausbildung, Wandel und Ende ganz unterschiedlicher Räume untersuchen, Relationen im Raum be-

87 Weber, Objektivität, 194–209, Zitate 208, 203. 88 Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. ²2006, 10–60, 32, 58, ebenso Goertz, Abschied von „historischer Wirklichkeit“ sowie ders., Unsichere Geschichte. 89 Weber, Objektivität, 202. 90 Ebd., 206. Zu den folgenden Überlegungen vgl. Kosellecks Differenzierung zwischen Quellenbegriffen und Erkenntniskategorien, Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien (1976), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 62006, S. 349–375. 91 Siehe Osterhammel, Raumbeziehungen.

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stimmen sowie wie Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten untersuchen.92 Letztlich fallen hierunter auch die in den Geschichtswissenschaften verbreiteten Vorstellungen von einem physisch-geographischen Raum. Hier lässt sich das ausmessen, was Osterhammel die „vorgefundene Voraussetzung menschlichen Überlebens“ genannt hat.93 Es geht um natürliche Einflüsse auf das soziale Leben, die sich in Geographie und Klima zeigen. Die Geographie wirkt sich auf die Chancen der Ressourcengewinnung in Landwirtschaft oder Bergbau aus. Ebenso ist die Rolle von Meeren und Flüssen, Ebenen und Gebirgen als Transportweg oder Hindernis zu untersuchen. Das Klima gibt der Pflanzen- und Tierwelt ihre Lebensbedingungen vor. Generell steht hier die Frage der Raumbewältigung im Mittelpunkt, also des Vorankommens und des Überlebens von Gesellschaften unter den Bedingungen des materiellen Raums. Die Analyse der „Wirkung des Raumes auf die geschichtlichen Strukturen“ trägt dazu bei, einseitig deterministische Schlüsse zu vermeiden.94 Zu bedenken bleibt jedoch, dass es gerade die räumliche Ordnung der Welt ist, die vermeintlich klare Strukturen schafft und „bei großer Allgemeinverständlichkeit den Anschein höchster Objektivität“ erweckt. Aus diesem Grund ist bei der Entwicklung dieser Begriffe Vorsicht geboten, um nicht die seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Deutungen und Determinismen fortzuschreiben, die selbst zu historisieren wären.95 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Besonderheiten historischer Epochen nicht normativen Begriffen untergeordnet und somit dem historiographischen Konstrukt ein Primat vor der Geschichte eingeräumt wird.96 Vielmehr muss der metahistorische Raumbegriff laufend am Untersuchungsgegenstand geschärft und weiterentwickelt werden. Schließlich verlangt dieser Zugriff eine differenzierte Hermeneutik, mit der sich die materielle Dimension des Raumes aus den Quellen herausarbeiten lässt. Sie sind zunächst als Repräsentationen zu verstehen, welche die Zeitgenossen hervorgebracht und mit ihren Deutungen verbunden haben. Die Körpergeschichte hat dieses Problem bereits ausführlich diskutiert. Auch sie stritt um einen Primat der Materialität oder Diskursivität der Körper. Lange galt es als Konsens, dass der Körper „trotz seiner physischen Manifestation nur als soziales Gebilde wahrgenommen und ausgedrückt werden“ könne.97 Mittler92 Siehe zu diesem Programm Rau, Räume, 122–171. 93 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 131, zuvor ähnlich Koselleck, Raum und Geschichte, 83. 94 Ulrich Noack, Geist und Raum in der Geschichte. Einordnung der deutschen Geschichte in den Aufbau der Weltgeschichte, Göttingen 1961, zit. nach Köhler, Raum und Geschichte, 402. Zu Recht wies Köhler der Natur erst dann eine historische Bedeutung zu, wenn „der Mensch sich mit ihr auseinandersetzt“, ebd., 411. 95 Schultz, Raumkonstrukte, 374. Zur Kontinuität dieser Deutungen Schröder, Das Wissen, 10. Die ordnende Funktion des Raumes analysiert Marc Redepenning, Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken, Leipzig 2006, 131. 96 So auch die Warnung bei Weber, Objektivität, 204. 97 Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000, 21. Vgl. Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a.M. 2009, 306.

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weile finden sich Arbeiten, die solche Beschränkungen nicht mittragen, sondern die Materialität und Diskursivität historischer Körper analysieren.98 Vor einer ähnlichen Debatte steht auch die historische Raumforschung, denn es stellt eine unbefriedigende Verkürzung dar, die Materialität der Welt allein in ihren Repräsentationen zu erfassen. Indes kann es auch nicht das Ziel sein, einen unbedingten historischen Realismus zu postulieren. Vielmehr muss die historiographischen Analyse vor dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen Kritik Webers und seiner Nachfolger entwickelt werden. Es sind nicht die realen Bedingungen des physisch-geographischen Raumes, die mit diesem Instrumentarium untersuchbar werden. Geschichte wird auch weiterhin von Historikern gemacht. Durch die kritische Auswahl von Analysebegriffen ist es jedoch möglich, das Quellenmaterial gegen den Strich zu bürsten und sich so den Bedingungen des physisch-geographischen Raumes anzunähern, von dem wir wissen, dass es ihn gibt, der sich aber aufgrund der beschriebenen Probleme einer unmittelbaren und objektiven Analyse entzieht. Somit lassen sich Aspekte herausarbeiten, die von den Zeitgenossen sprachlich nicht artikuliert wurden und jenseits ihrer Frage-, Denk- und Deutungshorizonte lagen.99 Dabei sind auch die Befunde der Anthropologie in ihrer biologischen und historischen Ausprägung, der Geographie, Philosophie sowie letztlich auch der Naturwissenschaften nutzbringend und begründen eine erweiterte Materialbasis. Beispielsweise können die Ergebnisse von Studien, die sich mit der Wirkung von Kälte und Wärme auf den menschlichen Körper auseinandergesetzt haben, zeigen, unter welchen Bedingungen sich die Menschen an ihre Umwelt anpassten.100 2. Mit diesem Werkzeug kann indes nur eine Seite der geschichtlichen Welt untersucht werden. Die analytische Kategorie ist durch Raumbegriffe und Raumbilder historischer Epochen zu ergänzen, die keineswegs mit dem eben skizzierten Analysebegriff übereinstimmen müssen und ihm sogar widersprechen können. Nur so lässt sich das auf den Raum bezogene Denken und Handeln von Gesellschaften aufspüren, die Räume schaffen und in ihnen handeln. Der Raum ist nicht als Container zu begreifen, in dem Objekte und Subjekte einer starren Anordnung gehorchen. Raum wird vielmehr dynamisch aufgefasst, weil er in Diskurs und Praxis erst hervorgebracht wird. Das lenkt den Blick auf die Subjektivität des Raumes, die an anderer Stelle als „Ordnung um die Mitte“ bezeichnet wurde.101 Alfred Schütz betonte, dass der „Körper“ nicht allein „ein Gegenstand im Raum“ sei, „sondern die Bedingung für alle (…) Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt.“ Folgt man diesem Gedanken, so bedeutet das, dass sich der Raum in der individuellen Erfahrung erst konstituiert – „Sein“ heiße „Orientiert98 Beispielsweise Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn u. a. 2008, 27f. 99 Goertz, Abschied von „historischer Wirklichkeit“, 16f.; Sarasin, Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 60. 100 Zur geschichtswissenschaftlichen Umsetzung dieses Programms hinsichtlich der Dimensionen Körper und Raum Nübel, Durchhalten und Überleben. Dabei ist klar, dass diese außersprachlichen Elemente von den Historikern wieder verbalisiert werden müssen – mit allen Konsequenzen. 101 Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1969, 58.

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sein“, so hatte Schütz’ spiritus rector Maurice Merleau-Ponty diese Prämisse auf den Punkt gebracht.102 Von diesen Überlegungen ausgehend lassen sich Quellen als Repräsentationen verstehen, die aus der Perspektive der Zeitgenossen über den Raum Auskunft geben. Quellen sind damit Spiegel subjektiver Sinnwelten und Erfahrungen, in denen sich die Anordnung von Objekten ebenso historiographisch aufschließen lassen wie zeitgenössische Praktiken und Diskurse. Was dabei herauskommt, ist keine Geschichte räumlicher Tatsachen, sondern eine Geschichte historischer Raumdeutungen, Raumpraktiken und Symbolwelten. Es ist in diesem Zusammenhang nicht notwendig, die Existenz eines physisch-geographischen Raumes zu postulieren, denn dessen Auswirkungen und Bedeutung für historische Gesellschaften lassen sich in den Quellen nachvollziehen. Auf diese Weise können die Probleme der eingangs geschilderten Beispiele umgangen und zu weiterführenden Fragestellungen ausdifferenziert werden. Erstens: Deutschlands geographische Lage hat sicherlich die Geschicke seiner Landesbewohner mit beeinflusst, aber keineswegs in Gestalt schicksalhafter Kräfte. Politik wird immer noch von Menschen gemacht, nicht von der Geographie, wie auch Schieder unterstrichen hat. Es ist die Übersetzung der Geographie in räumliches Denken, die Ende des 19. Jahrhunderts im Kaiserreich ein spezifisches Bedrohungsgefühl entstehen ließ. In der Folge wurde für den Kriegsfall ein Feldzugsplan entwickelt, der dem Szenario eines Zweifrontenkrieges Rechnung trug. Er erhöhte zugleich die Wahrscheinlichkeit eines Krieges, denn er zwang aus strategischen Notwendigkeiten heraus zum raschen Losschlagen.103 Zweitens: Grenzen lassen sich mit dem vorgeschlagenen Instrumentarium in ihren materiellen und diskursiven Dimensionen untersuchen, indem geographische Vorgaben – Flüssen, Höhenzügen, Wäldern – untersucht und deren Bedeutungen für die historischen Akteure in den Blick genommen werden. Zu welchen Zeiten wirkte die Geographie als Hindernis, weil sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu bewältigen war? Begünstigte das möglicherweise ein Denken und Handeln, das Grenzen hervorbrachte? In diesem Zusammenhang wäre auch danach zu fragen, wann ein Gebirge oder ein Fluss nicht zur Grenze wurden. Wann werden Grenzen, die sich auch geographisch ausprägen, überschritten und aufgelöst? Achim Landwehr hat solche Fälle am Beispiel der Grenzsetzungen im Venedig der Frühen Neuzeit untersucht. In einem Akt des Berechnens und Ordnens begann der Staat, eigene Grenzen zu ziehen. Damit emanzipierte er sich von göttlichen und natürlichen Vorgaben. Es kam zu Konflikten, da die Bevölke-

102 Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 152; Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, 294. 103 Gerhard P. Groß, Der „Raum“ als operationsgeschichtliche Kategorie im Zeitalter der Weltkriege, in: Jörg Echternkamp / Wolfgang Schmidt / Thomas Vogel (Hgg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, München 2010, 115–141, allerdings stellenweise mit Hang zum Raumdeterminismus infolge der oben skizzierten Probleme historiographischer Begrifflichkeiten.

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Christoph Nübel

rung die bestehenden Grenzen als natürliche Grenzen betrachtete, die von der Obrigkeit verletzt wurden.104 Zusammenfassung Der Raum sei ein „heute übrigens sehr strapaziertes Wort!“, schrieb Schieder 1965 über die Präsenz des Raumes in den Geschichtswissenschaften und formulierte damit ein Urteil, das auch gegenwärtig wieder Zustimmung findet.105 Dass Historiker oftmals den Eindruck haben konnten, Raum sei ein omnipräsentes Thema, lag an der Vielfalt der seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Raumkonzeptionen. Wenn wir vom Raum sprechen, müssen wir darunter nicht unbedingt dasselbe verstehen. Droysen argumentierte, dass Raum und Zeit zu den „leersten Vorstellungen unseres Geistes“ gehören. „Einen Inhalt bekommen sie erst in dem Maß, als wir sie durch das Nacheinander und Nebeneinander bestimmen, das will sagen, die Einzelheiten unterscheiden, – nicht bloß sagen, daß sie sind, sondern was sie sind.“106 Heute ist der Umgang der Historiographie mit dem Raum von zwei Standpunkten geprägt. Zum einen gibt es ein Unbehagen gegenüber konstruktivistischen Positionen, denen vorgeworfen wird, sie bedrohten etablierte methodische Zugänge und kämen auf Kosten der Empirie mit einem Übermaß an Theorie daher. Auch deshalb wird vor allem ein Raumbegriff vertreten, der den physischgeographischen Dimensionen der geschichtlichen Welt Rechnung trägt. Neben dieser klassischen Auffassung wiesen Historiker seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auf die Historizität des Raumes in seiner sozialen Bedingtheit hin und machten ihn sogar zur Methode. In der Tradition des Fachs finden sich also Ansätze, die auch heute noch weiterführend sind, allerdings seit den 1970er Jahren in Vergessenheit gerieten. Zum anderen wurden – teilweise unter der Bezeichnung „spatial turn“ – dynamische und relationale Raumbegriffe entwickelt, die den physisch-geographischen Raum nicht abdeckten. Historiker, die sich diese Konzepte zu Eigen gemacht haben, beklagen die geringe Neigung des Faches, sich über die Aussagekraft seiner Raumbegriffe zu verständigen und sich für weitere Raumdimensionen zu öffnen. Die jüngere Raumforschung erschließt neue Horizonte, weil sie andere Raumbegriffe vorschlägt und zum Nachdenken über die verwendeten Konzeptionen anregt. Sie bringt die Geschichte in eine neue Ordnung, weil sie methodische Reflexionen mit neuen Fragestellungen und Perspektiven verbindet.

104 Achim Landwehr, Der Raum als „genähte Einheit“: Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert, in: Lars Behrisch (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. – New York 2006, 45–64. 105 Schieder, Geschichte als Wissenschaft, 62. Siehe nur Geppert / Jensen / Weinhold, Verräumlichung, 16; Rau, Räume, 192. 106 Johann Gustav Droysen, Historik. Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart – Bad Cannstatt 1977, 473.

Was ist neu am „spatial turn“?

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Dieser Beitrag führt beide Positionen in der wissenschaftlichen Praxis zusammen. Er trägt der Materialität der Welt und ihrer Abbildung in Begriffen Rechnung, ohne der oft vernommenen Forderung nach empirischem Pragmatismus mit möglichst wenigen theoretischen Zutaten nachzukommen, denn das ist oftmals nur auf Kosten methodischer Zulänglichkeit und historischer Erkenntnis erreichbar. Die ganze Räumlichkeit der Geschichte lässt sich untersuchen, wenn der Raum als analytische Kategorie und als Quellenbegriff betrachtet wird. Beide Ebenen sind miteinander verwoben, Wirklichkeit und Konstruktion lassen sich nicht getrennt denken. So lässt sich die oftmals beschworene und zuweilen bemüht wirkende Dichotomie von Materialität und Repräsentation auflösen.107 Der hier skizzierte Vorschlag setzt bei der Sprache an, um die beiden Pole zu überbrücken. Der Raum wird in zwei Begriffsordnungen übersetzt. Sie tragen Droysens Erkenntnis Rechnung, dass historische Tatsachen selbst im Grunde gar keine Rolle spielen, denn sie allein sagen nichts aus.108 Stattdessen ist das bedeutsam, was Zeitgenossen und Historiker daraus machen – die Geschichte eben, deren Komplexität durch den Raum erschließbar wird. Dr. Christoph Nübel, Berlin

107 Zur Künstlichkeit dieser Trennung Charles Taylor, Interpretation and the Sciences of Man, in: The Review of Metaphysics 25/1971, 3–51, 24. Vgl. auch Canning, Problematische Dichotomien, 182. 108 Oexle, Im Archiv der Fiktionen, 517f. sowie die Beiträge in Rainer Maria Kiesow / Dieter Simon (Hgg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. – New York 2000. Im Zusammenhang mit dem Raum vgl. die frühen Bemerkungen von Köhler, Raum und Geschichte, 411f.

HUMAN RIGHTS LEAGUES AND CIVIL SOCIETY (1898–ca. 1970s) Wolfgang Schmale und Christopher Treiblmayr 1. Introduction Personalities as diverse as Victor Basch, René Cassin, Emile Durkheim, Albert Einstein, Emile Kahn, Caroline Rémy de Guebhard (Séverine), or Kurt Tucholsky had one thing in common: they were all committed members of a human rights league. The present article aims to provide a first insight into the history of human rights leagues and an overview of possible research questions. Its background is our research project on “Civil Society and the Austrian League for Human Rights”.1 The Austrian League for Human Rights was founded in 1926. This foundation took place in the international context of human rights leagues that came into being after the foundation of the French League in 1898. National leagues joined the “Ligue Internationale des Droits de l’Homme” which was launched in 1922.2 In May 2014, the authors of the present article organized an international workshop on the history of those human rights leagues that were members of the Ligue Internationale resp. Fédération Internationale des (Ligues des) Droits de l’Homme (FIDH) at the University of Vienna.3 The workshop’s focus was on the 1

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The project was funded by the Austrian Science Fund (FWF, Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, project number P 20475) and was co-designed by Thomas Brendel. Christopher Treiblmayr is writing a book on the League’s history. An outline was published in: Christopher Treiblmayr, Concordance Democrats? The Austrian League for Human Rights and the Civil Society, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 10 (2010), 1, 173–175. This article is also based on deliberations published in Treiblmayr’s column for the League’s journal “Liga”, as well as on his paper: Christopher Treiblmayr, Die Österreichische Liga für Menschenrechte und ihre Stellungnahmen zu Homosexualität. Ein Werkstattbericht, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 16 (2014) (in press). We are grateful to the Austrian League and its president, judge Barbara Helige, as well as its vice-president, former member of the Austrian Parliament, Terezija Stoisits. The League encouraged the research project from its very beginning, it provided unlimited access to its archives and arranged contact to contemporary witnesses. Special mention is due to former secretary general Feliks J. Bister, whose testimony has been essential for the project. The precise designation of the International League varied during the different decades of its existence. It was frequently also referred to as “Fédération Internationale”. The workshop was organized with the help of the Austrian League, especially secretary general Kira Preckel; it was financially supported by the Faculty for Historical and Cultural Studies of the University of Vienna, and by the research foci “Historical and Cultural European

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interwar period, but, as some leagues were founded only after World War II or even some decades later, further contributions dealing with the history of these newer leagues were also admitted. Turkey, Greece, Rumania and Bulgaria, Austria, the Czech Republic, Germany, Belgium, France, Spain, Portugal and the FIDH were represented. The state of research varies between research in depth (France) and an almost preliminary outline (Rumania).4 The Turkish Human Rights Association (İnsan Hakları Derneği or İHD) held a special position at the workshop: It is a member of the FIDH, but not a human rights league in a strict understanding of the tradition: It was established on 17 July 1986 and operates, as one can easily imagine, under extremely difficult conditions.5 The İHD’s admission also indicates the FIDH’s increasingly global orientation from the 1980s onwards, a point emphasized by Patrick Baudouin in his lecture at the workshop.6 The research project on the Austrian League on the one hand and a second one under preparation on the networks linking the different human rights leagues on the other hand constitute the background of this article. The research project on the Austrian League for Human Rights has to be considered as a research model for other leagues. Although this presented a challenge, over the course of the project we were largely able to reconstruct the League’s archives covering the years from its foundation in 1926 until its preventive self-dissolution in 1938. The period from the reestablishment of the League in 1945 until the present time is well-documented in the League’s archives, which have been put into exemplary order by former secretaries general. For the first time ever, the entire history of a human rights league from its foundation up to the present became the object of a third-party funded research project following scientific rules and methods. The project is focused on

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Studies” [http://forschungsportal.univie.ac.at/de/schwerpunkte/europawissenschaften] (First Spokesman Philipp Ther also gave a welcome speech at the workshop followed by an address by Barbara Helige) and “History of Women and Gender” [http://forschungsportal.univie.ac. at/de/schwerpunkte/frauen-und-geschlechtergeschichte] of the same Faculty as well as the National Fund of the Republic of Austria for Victims of National Socialism. This workshop will be cited as “Vienna Workshop”. We are especially grateful to prof. Ther who provided funds for the English revision of this article. The revision has been carried out to our full satisfaction by Brita Pohl, Vienna. Acting as chairs, our colleagues from the Department of History, Birgitta Bader-Zaar, Thomas Angerer, Peter Becker and Thomas Fröschl provided important input to the workshop. For an outline see: Wolfgang Schmale, Zur Geschichte der Menschenrechte und der Menschenrechtsorganisationen (circa 1788 bis 1934), in: Mitchell G. Ash / Christian H. Stifter (eds.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002, 305–320. Osman İşçi, who presented the paper on İHD at the Vienna Workshop, was arrested without specific charges on several occasions. In his lecture, he drew comparisons with the situation in Europe between and after the World Wars. Patrick Baudouin, The History of FIDH, paper presented to the Vienna Workshop, May 2014. For her assistance in the organization of the workshop we are greatly indebted to Elena Crespi of the FIDH. Since 2000, the European Association for the Defense of Human Rights (AEDH), an associated member of the FIDH, assembles European human rights leagues and other human rights organizations.

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the League’s history in close relationship to the Austrian civil society and to the international human rights leagues movement. The organization itself claims the relation to Austrian civil society by referring to the so-called Austrian concordance democracy. Seen in hindsight, all human rights leagues are part of a civil society that is growing and increasingly active since the late 18th century. In 2012, the “Hellenic League for Human Rights”, founded on 26 April 1936, also initiated a research project on its history. Research is carried out by Michalis Moraitidis, who attended the Vienna workshop in May 2014 and reported that he is “studying the private archives of former members of the League, that is the archive of the first chairman Alexandros Svolos, professor of Constitutional Law at Athens University, the archive of lawyer Charalambos Protopapas and the archive of the Unified Democratic Left – Eniaia Dimokratiki Aristera (EDA) –, a party that offered support and political protection to the League’s efforts for more democracy and generally for safeguarding human rights in post-Civil War Greece.”7 Although up to the present day, human rights leagues are working actively on the national as well as the international level, no one has yet attempted to write their singular history. One may even doubt that the long-standing activities of human rights leagues actually constitute the object of what could be called a field of research. The rare scientific publications – some books and articles8 – scarcely tie in with each other. This remains an important desideratum. 7 8

Michalis Moraitidis, The History and the Interventions of the Hellenic League for Human Rights (1936–2013), paper presented to the Vienna Workshop, May 2014. See the references on the following pages as well as, for the German League: Richard A. Cohen: The German League for Human Rights in the Weimar Republic, PhD diss., State University of New York, Buffalo 1989. Lothar Mertens, Die „Deutsche Liga für Menschenrechte“ in der Weimarer Republik, in: Bert Becker / Horst Lademacher (eds.), Geist und Gestalt im historischen Wandel. Facetten deutscher und europäischer Geschichte 1789–1989. Festschrift für Siegfried Bahne, Münster et al. 2000, 257–269. Lora Wildenthal, Human Rights Activism in Occupied and Early West Germany: The Case of the German League for Human Rights, in: The Journal of Modern History, 80 (2008), 515–556. Lora Wildenthal, The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia 2013. For the French League, without mentioning regional sections, see: Éric Agrikoliansky, La Ligue française des droits de l’homme et du citoyen depuis 1945: sociologie d’un engagement civique, Paris 2002. André Berland / Georges Touroude, Ludovic Trarieux 1840–1904: fondateur de la Ligue française des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1990. Bernard Deljarrie / Bernard Wallon, Un combat dans le siècle / La Ligue des droits de l’homme, Paris 1988. Norman Ingram, Defending the Rights of Man: the Ligue des Droits de l’Homme and the Problem of Peace, in: Peter Brock / Thomas P. Socknat (eds), Challenge to Mars: Essays on Pacifism from 1918 to 1945, Toronto et al. 1999, 117–133. Gilles Manceron / Madelaine Rebérioux: Droits de l’homme, combats du siècle: exposition présentée au Musée d’Histoire contemporaine-BDIC. Paris, du 30 avril au 18 décembre 2004, Paris 2004. Gilles Manceron / Emmanuel Naquet (eds.), Être dreyfusard hier et aujourd’hui, Rennes 2009. Emmanuel Naquet, Affaire Dreyfus et intellectuels: aux origines de la Ligue des droits de l’homme 1894–1898, Institut d'études politiques Paris 1990. Emmanuel Naquet, Pour l’Humanité: La ligue des droits de l’homme, de l’affaire Dreyfus à la défaite de 1940, Rennes 2014. Wendy E. Perry: Remembering Dreyfus: the Ligue des Droits de l’Homme and the Making of the Modern French Human Rights Movement, PhD diss., University of North Carolina, Chapel Hill 1998.

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Research on national human rights leagues suffered more than once from the displacement of their archives by the Red Army immediately after 1945. They were incorporated into the “Special Archive” of the intelligence service in Moscow. In the case of the Austrian League, its archive had first been confiscated by the Nazi regime and moved to Berlin, and later ended up in Moscow. After 1945, in the countries belonging to the Eastern Bloc under the rule of Moscow, research on human rights leagues was disapproved of by the various communist regimes.9 And, of course, not all of them had taken care of their papers by organizing a proper archive. The Austrian case and the reconstruction of the interwar period show that documents and papers were only partly collected by the League. This stock was finally transferred to the Secret Archive. Some items were collected by members privately. It was possible to reconstruct some facts and activities by using oral history methods, but with regard to the interwar period the application of this method is becoming more and more difficult. Finally, a considerable number of documents, sometimes originals, sometimes copies, can be found among the papers and publications, such as newsletters, of other leagues and of affiliated organizations. Most national leagues have a kind of chronicle assembled by one of their members belonging to the core circle, but these chronicles often do not meet scientific standards. We will see these circumstances in more detail below, which do not only concern human rights leagues but most civil society associations, even up to the 1970s/1980s. 2. The Austrian League for Human Rights – A Case Study A few distinguished figures of Austria’s intellectual life at the beginning of the last century, among them the Viennese Jewish sociologist, philosopher, journalist, and sexual reformer Rudolf Goldscheid, resolved to launch an Austrian national section of the International League.10 It was also Goldscheid who, on 4 November 1923, delivered a salutatory address to the delegates at the annual conference of the International League in Paris. “We will set to work in Austria to spread the ideas of the Declaration of Human Rights, we will keep you informed of the development of opinion in our country, and we will work with you all to destroy the

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The GDR is an exception in this respect. In Jena, a research group directed by Dieter Fricke focused on the so-called “bourgeois and petty-bourgeois parties and associations”. They also dealt with the German League for Human Rights. Although they sceptically estimated it to be a “bourgeois-democratic” entity, this research still stands as a fundamental contribution on the League’s early history: Werner Fritsch, Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM) 1922–1933, in: Dieter Fritsche (ed.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1790–1945). Vol. 1, Köln 1983, 749–759. 10 See Feliks J. Bister, Rudolf Goldscheid und die Österreichische Liga für Menschenrechte, in: Ash / Stifter (eds.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, 321–328.

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belief in the creative force of violence.” Thus his address quoted in the French League’s journal.11

Figure 1. Front page of the “Cahier des Droits de l’Homme” from 1923. Bibliothèque nationale de France, Paris.

11 Le Congrès International des Ligues des Droits de l’Homme. Première Séance (Dimanche, 4 Novembre 1923), in: Les Cahiers des Droits de l’Homme 23 (1923), 507–512, 511.

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As we know today, his words were slightly premature. It took another three years until the Austrian League was formally established. And what is more, its activities during the First Austrian Republic were not destined to last for very long. After the National Socialists took power in Austria in 1938, the League was dissolved, or more precisely, it preemptively disbanded.12 Immediately after the end of World War II in 1945, the League was re-established with a new executive committee. Thanks to a well-organized archive, it is possible to document the activities of the League from 1945 to the present day. However, the investigation of its history before 1938 proved to be more challenging, as the largest part of the documents from this period was believed to have been lost. Today, the League’s archive contains only a very limited amount of material concerning the association’s history during the First Republic and no information at all about the fate of individual League members following the dissolution in 1938. Using a series of articles on the League’s history written by former Secretary General Erich Körner in 1976 and 1977 for its magazine “Das Menschenrecht” as a starting point13, we were able to locate materials now in the archive that were previously unavailable to researchers. This material consists of documents Körner had collected and that formed the basis of his work. A detailed comparison of the sources – for example files from the Vienna regional police headquarters and the Austrian State Archives – revealed the apologetic tone of the articles Körner had written on the occasion of the League’s fiftieth anniversary. In these texts, he assumed that either the former responsible leaders had destroyed the League’s archive in order to protect their members, or that it had been confiscated by the National Socialists and since been lost.14 As our research has shown, this is only partly true. We were able to ascertain that the “Österreich Auswertungskommando”, a National Socialist evaluation commando on Austria, had seized the archive and sent it to Berlin where it was analyzed for its ideological positions. Towards the end of World War II, the archives were then confiscated for a second time by the Red Army and taken to a so-called “Special Archive” established by the intelligence service in Moscow. While a large part of the material that had been confiscated by the National Socialists remained in this secret archive that did not even officially exist until the 1990s, the Auswertungskommando reports found their way to the secret National Socialist Archives of the Ministry of State Security in the GDR and later, post-1990, into the Federal Ar12 After the League had informed the authorities of its dissolution on March 15, 1938, the Liquidation Commissioner (Stillhaltekommissar) for Associations, Organizations and Unions issued a formal warrant of dissolution on November 24, 1938: Decision of the Ministry for the Interior and Culture. Section III. Security Police, November 24, 1938, in: Archive of the Republic, Stillhaltekommissar, Kart. 480 IVAc 25-23, Austrian State Archives. 13 Erich Körner, Ein halbes Jahrhundert „im Dienst der Menschheit“ – Grundlagen und Entwicklung der „Österreichischen Liga für Menschenrechte“ I–V, in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte 1976 et seq. 14 Erich Körner, Ein halbes Jahrhundert „im Dienst der Menschheit“ – Grundlagen und Entwicklung der „Österreichischen Liga für Menschenrechte“ (I), in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte 4 (1976), 2–7, 2.

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chives in Berlin. Although not explicitly listed in the inventory, reports about the League and some original documents were found in the files of this evaluation commando. One key report states that the League had around 300 members and notes that they were “mostly non-Aryan”. In the Kommando’s opinion, the relations the League entertained with other pacifists and “enemy” organizations (from the National Socialists’s viewpoint), such as the League of Nations, the Harand Movement, and the Women’s International League for Peace and Freedom, were particularly worth mentioning. In addition, the report alludes to their comprehensive commitment to the so-called “Staatenlosen”, stateless people.15 Board member Heinrich Engländer had written a paper on this issue in 1932, the fourth volume of a series of treatises published by the League.16 The report also lists individual legal assistance in cases of human rights abuse, and the wide-ranging lecturing activities of leading League members as main fields of activity. Among those leading members were, according to the report, Rudolf Goldscheid, the advocate Robert Pelzer and Adolf Vetter, the first president of the League from 1926–1934. Nevertheless, the Kommando found the League itself to be only of “minor importance”.17 The documents found in the Berlin archives also enabled us to correct the previously accepted version of the League’s history, namely that none of its members had changed allegiance and joined the National Socialists. Contrary to Körner’s claims18, we were able to prove the involvement of some former League members in the Nazi regime, among them the last Secretary General, Gustav Schuster, who became head of the office for the surveillance of foreign mail in Vienna.19 Despite the National Socialist’s view that the League was of minor importance, it was still seen as a dangerous enemy because it was deemed to have 15 Report on the Austrian League for Human Rights. Sicherheitshauptamt, Sonderkommando II 122, April 4, 1938, in: Sicherheitsdienst des RFSS, SD-Hauptamt, R 58/6264b, Federal Archives, Berlin. 16 Heinrich Engländer, Die Staatenlosen. Mit einem Geleitwort von Univ.-Prof. Dr. Hans Kelsen (Schriften der Österreichischen Liga für Menschenrechte Bd. IV), Wien 1932. Volume 1 of the series is deemed lost, it probably dealt with the history of the League’s formation. Volume 2 dealt with the reform of marriage law, a subject that was examined by a fact-finding committee in 1927. Volume 3 documents the League’s commitment in the “Halsmann case”, a court case with antisemitic undertones. Eherechtsreform. Stenographisches Protokoll der von der Österreichischen Liga für Menschenrechte veranstalteten Enquete über die Reform des Eherechts Wien, 29. und 30. April 1929 (Schriften der Österreichischen Liga für Menschenrechte Bd. II), Wien 1928. Der Fall Halsmann (Schriften der Österreichischen Liga für Menschenrechte Bd. III), Wien 1931. 17 Report on the Austrian League for Human Rights. 18 Erich Körner, Ein halbes Jahrhundert „im Dienst der Menschheit“ – Grundlagen und Entwicklung der „Österreichischen Liga für Menschenrechte“ (III), in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte 2 (1977), 3–6, 5. 19 Austrian State Archives, AdR, Chancellery and Interior, Gauakt Gustav Schuster, born August 5, 1879.

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Masonic origins. Masonic researcher Bernd Gallob, who made himself available to the project and also facilitated contact with the Masonic Grand Lodge in Vienna, had already suggested this.20 This aspect was also emphasized more recently in Günter K. Kodek’s encyclopedia of Austrian Masonic Lodge members21, and Marcus G. Patka’s 2011 study entitled “Freemasonry and Social Reform”.22 However, neither was yet able to draw upon the files from Berlin or those from the Special Archive in Moscow, which one of the authors, C. Treiblmayr, was able to analyze for references to the League during a month-long research trip in 2010. While Treiblmayr already had reviewed copies of some files in the Masonic Grand Lodge in Vienna and in professor Günter K. Kodek’s private archives, the support of the German Historical Institute and the Austrian Embassy in Moscow allowed him to examine previously unknown founding documents, including records from the Masonic Grand Lodge in Vienna, that further confirmed the Masonic influence on the foundation of the League.23 In the course of the planned follow-up research project, the authors are curious to learn whether and to what extent such a strong Masonic influence can be ascertained in other leagues, too. In addition Treiblmayr analyzed files from the German League for Human Rights in Berlin in order to document their relations to the Austrian “sister” organization. Again, Rudolf Goldscheid played a key role here, because he had already been a member of the German League’s executive when the Austrian League was founded. After his death in 1931 however, relations with the German League did not cease to exist. For instance, the Austrian League made various efforts to provide their German associates with support and refuge after Hitler’s seizure of power in Germany.24 We were also able to review files documenting the network of the French parent organization in the Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine in Paris. In terms of a “European civil society” it can be shown that such a network was in existence from the early 1920s and that it became even closer during Austrofascism. While the Austrian League was repeatedly threatened with dissolution, which it managed to avoid by increasing the involvement of Christian Social party members in its board, the French League protested on its 20 Bernd Gallob, Die Österreichische Liga für Menschenrechte. Ein Bericht zu ihrer Gründung, in: Margarete Grandner / Wolfgang Schmale / Michael Weinzierl (eds.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven – Aktuelle Problematiken, Wien / München 2002, 350– 367. 21 Günter K. Kodek, Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurer-Logen 1869–1938, Wien 2009. 22 Marcus G. Patka, Freimaurerei und Sozialreform. Der Kampf für Menschenrechte, Pazifismus und Zivilgesellschaft in Österreich, Wien 2011. 23 Detailed information on the League’s formation are recorded in the protocol of the 102nd session of the Grand Lodge of Vienna on 11 November 1925, in: Freimaurerbestände, 14121-862, “Special Archive”, Moscow. The Lodge’s subsequent support is, for instance, indicated by a letter from 1929, in: Freimaurerbestände, 1412-1-784, ibidem. 24 See Erich Körner, Ein halbes Jahrhundert „im Dienst der Menschheit“ – Grundlagen und Entwicklung der „Österreichischen Liga für Menschenrechte“ (II), in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte 2 (1977), 2–7, 7.

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behalf after secret talks about various measures taken by the Austrian government. In 1938, the French League assisted individual members of the Austrian League with their emigration. However, the National Socialists murdered and persecuted many members of the League who have since been forgotten. The monograph on the Austrian League currently under preparation is therefore going to include biographical sketches of the board and advisory committee members during the First Republic. These shall contribute to the remembrance of those who fell victim to National Socialist persecution and extermination. Among them is Elise Richter, the first woman to habilitate at the University of Vienna back in 1905; she was killed in the ghetto of Terezín in 1943.

Figure 2. Advisory committee member Elise Richter. Courtesy of Vienna University Archive, 106.I.194.

Bearing this history in mind, it comes as no surprise that a completely different circle of individuals formed the new executive committee when the League was re-established in 1945. This time there was a stronger communist influence (in particular from Ernst Fischer, then Secretary of State), although it was increasingly repressed, in keeping with the political developments in Austria at the time. In

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the immediate post-war period, the League was also regarded as an “instrument of denazification”. Before they were permitted to join, new members were required to prove that they had not been involved in National Socialism. A closer look at this period shows that there were considerable irregularities in the plausibility of the evidence. For this reason, the newly formed proponent committee had to be assembled several times before the League was able to start its work. On 24 March 1946, it was however formally re-established in the main lecture hall at the University of Vienna.25 This fact also underscores the close relations between both bodies that were to leave a mark on their respective histories in the post-war period. Figures 3 and 4 are photographs from the League’s archives, which have found a new home at the University’s Department of Contemporary History during the course of our project. Figure 3 shows the constituent general assembly with chairman Erwin Kulka at the lectern, figure 4 the same event, looking into the audience. Third from the left in the front row of this photograph is the thenmayor of Vienna and future president of Austria, Theodor Körner, a long-standing member of the League.

Figure 3. Constituent general assembly of the Austrian League for Human Rights, University of Vienna, 24 March 1946. Archives of the Austrian League for Human Rights. 25 See Liga-Korrespondenz, 1/1946, 2–6.

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Figure 4. Constituent general assembly of the Austrian League for Human Rights, view of the audience. Archives of the Austrian League for Human Rights.

Following the already-mentioned repression of the communist influence and under a renewed Masonic influence (which can be proven up until the 1970s)26, the League sought to intensify its contacts to the dominant political parties ÖVP (Austrian People’s Party) and SPÖ (Social Democratic Party). The League had always rejected street fighting as a strategy and endeavored to create close links to the political elite in Austria in order to strengthen its lobbying for human rights issues. Consequently, the party political balance of the directorate was considered carefully. The League offered a platform for informal communication beyond party lines and showed definite characteristics of a “concordance democratic” – or consociational – corporation. In the period between 1946 and 1984, the League also maintained offices in Carinthia, the Tyrol, Burgenland and Styria – the latter is the only one still in existence. According to the above-mentioned Erich Körner, it’s main activities in the Second Republic comprised five lines of action: information about human rights, education on human rights, advancement of civil peace and peaceful international understanding, protection and development of human rights as well as individual legal and social assistance.27 Besides the League’s archives, its aforementioned journal “Das Menschenrecht” is another important source for the analysis of these fields of activity. Published from 1946 onwards, originally under the title “Liga 26 See Gallob, Die Österreichische Liga für Menschenrechte. 27 Körner, Ein halbes Jahrhundert „im Dienst der Menschheit“ (II), 5.

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Korrespondenz”, it has appeared as a quarterly since 1964 and was re-named “Liga” in 2004. The overall tendency that can be observed during the Second Republic suggests a development away from a legal protection organization towards a focus on sensitization and awareness-raising. This shift of focus can be placed in the larger context of the universalization of human rights that has taken place since World War II.28 Since the 1970s, yet another process of repositioning can be observed, in parallel with the increasing establishment of other civil society actors in Austria. This repositioning was accompanied by a generation change within the League itself. Among other changes, this entailed the creation of the League’s first department of Women’s Affairs in 1970, which brings us to a point that is of particular interest to the project team re-constructing the history of the League: the application of insights and methods of women’s and gender history – a field of research that allows for an analysis of the exclusions that have always been part of the concept of civil society, with all the different messages it has involved since Aristotle first coined the term. Such mechanisms of exclusion affected not only women but in many ways also men from lower social classes and, to a certain extent, “alternative” men such as homosexuals.29 Despite the League’s proximity to the state in the Second Republic, the organization repeatedly and consciously set an example in the struggle against these exclusions. This cannot only be demonstrated by the example of the question of women’s rights, which had already been addressed in the First Republic with the appointment of two very prominent (if very different) women, Elise Richter and Rosa Mayreder, as members of the board; but also by its involvement in the fight for gay rights. Here, too, the – albeit tentative – tradition of involvement dates back to the 1930s, and it continues through the mid1960s to the present day.30 We would be very interested to learn to what extent other leagues attended to and represented the rights of women and so-called sexual minorities. After World War II, the League’s international relations were likewise quickly resumed. When, for example, the FIDH was reconstituted in 1948, the Austrian League was one of its founding members.31 28 On this universalization of human rights in the second half of the 20th century, see for example: Stefan-Ludwig Hoffmann (ed.), Moralpolitik: Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. 29 See Karen Hagemann, Civil Society Gendered. Rethinking Theories and Practices, in: Karen Hagemann (ed.), Civil Society and Gender Justice, Historical and Comparative Perspectives, New York 2008, 17–41.Christopher Treiblmayr, Zivilgesellschaft, in: Friedrich Jaeger (ed.), Enzyklopädie der Neuzeit. Vol. 15, Stuttgart 2012, s.v. (also online, access limited: http://referenceworks.brillonline.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/zivilgesellschafta4901000). 30 See Treiblmayr, Homosexualität. 31 See for example a letter by secretary general Emile Kahn of the French League to the president of the Austrian League, dated 3 November 1948, confirming the reconstitution of the Fédération and also containing its statute. Archives of the Austrian League for Human Rights, folder FIDH.

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Figure 5. The re-establishment of the international confederation was highly acclaimed in the November 1948 issue of the “Liga-Korrespondenz”. Archives of the Austrian League for Human Rights.

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But the League’s work after World War II did not only include its international contacts. As in the First Republic, a strong focus on the fight against antisemitism in Austria can be discerned. In this effort, the League also cooperated with the Jewish Community (Israelitische Kultusgemeinde) of Vienna, for instance concerning the restoration of Jewish cemeteries. From its inception, it was a major concern of the new League to raise awareness of the all too often tabooed fate of Austria’s Jewish population. Among other groups supported by the League were the Slovenes of Carinthia, the Croatian and Hungarian minorities in Burgenland, Sinti and Romanies, Czech emigrants in Austria, as well as the German-speaking South Tyrolese in the Italian provinces of Alto Adige and Trentino. A strong emphasis remained on fields already covered during the First Republic, such as pacifist initiatives, the protection of personality rights, and criminal law. 3. The notion of “civil society” The Austrian League’s self-proclaimed reference to civil society requires discussion. The rise of civil society is commonly attributed to the 18th century in both the sense of theory and of practice.32 The idea of dissociating state and society 32 On the notion of “civil society” see: Treiblmayr, Zivilgesellschaft. Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt am Main / New York 2005. Zwi Batscha / Jörn Garber (eds.), Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Politisch-soziale Theorien im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1981. Arnd Bauerkämper (ed.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main / New York 2003. Marvin B. Becker, The Emergence of Civil Society in the Eighteenth Century. A Privileged Moment in the History of England, Scotland, and France, Bloomington 1994. Nancy Bermeo / Philip Nord (eds.), Civil Society before Democracy. Lessons from Nineteenth-Century Europe, Boston 2000. Alejandro Colás, International Civil Society. Social Movements in World Politics, Hoboken 2013. Michael Edwards (ed.), The Oxford Handbook of Civil Society, Oxford 2011. Arthur Eyffinger, The 1899 Hague Peace Conference. ‘The Parliament of Man, the Federation of the World’, Den Haag / London / Boston 1999. John A. Hall (ed.), Civil Society. Theory, History, Comparison, Cambridge 1995. Manfred Hildermeier / Jürgen Kocka / Christoph Conrad (eds.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt am Main/New York 2000. Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003. Ralph Jessen / Sven Reichardt / Ansgar Klein (eds.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004. John Keane (ed.), Civil Society and the State. New European Perspectives, London 1988. Andrew Linklater, Men and Citizens in the Theory of International Relations, London 1982. National Humanities Center / Bronisław Geremek (eds.), The Idea of a Civil Society, National Humanities Center Conference, Research Triangle Park, NC 1992. Birgit Schwelling (ed.), Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Bielefeld 2012. Adam B. Seligman, The Idea of Civil Society, Princeton, NJ 1995. On selected countries: Anıl AlRebholz, Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei. Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980, Bielefeld 2013. Lisa Alschibaja, Zivilgesellschaft in Georgien. Ausprägungen vom Zarenreich bis zur Gegenwart und die Rolle der internationalen Gemeinschaft, Diplomarbeit (Kultur- und Sozialanthropologie), Universität

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progressed slowly since the 17th century, but it seems to have become generally accepted by the middle of the 18th century. It finally enabled Adam Ferguson to publish his famous “Essay on the History of Civil Society” in 1767.33 But we may doubt whether Ferguson’s concept of civil society is identical to what we are used to call civil society. On the one hand, and indeed until today, civil society is a synonym for “bourgeois society”, the new societal type that gained a hegemonic status in the 19th century. This notion of civil society is based on the historical fact that the bourgeois was first of all a homo oeconomicus. In this quality, the bourgeois played a major role in the social revolutions of the late 18th century. Although Karl Marx was the first to emphasize this relation, historians at least maintain the importance of the interrelation between civil society and the economy of the bourgeois society. Others trace the origin of the concept of civil society back to Aristotle’s notion of “politiki koinonia” which gained a second life in the later Middle Ages when Aristotle was translated into Latin and vernacular languages. Most scholars writing on civil society refer to a long list of thinkers, including Locke, Montesquieu, Ferguson, Adam Smith, Immanuel Kant, Hegel, Marx, Tocqueville, Gramsci, et cetera, not to mention the controversial debates of the last decades. Today, civil society is an all-encompassing notion that seems to cover all organized and structured societal activities that are non-governmental and that can be subsumed under the notion of participative democracy. This type of civil society is characterized by its globalized nature. In historical hindsight we may ask whether this is a new aspect. Bourgeois society and economy are linked to the period of globalization that already began in the late 18th and early 19th century. Exactly in this period, according to Manuel Castells, the network society is the agent of globalization.34 For our purposes, the character of being a transnational and, ultimately, global network which can be attributed to civil society reveals itself as fruitful. It seems

Wien 2010. Günther Ammon / Michael Hartmeier (eds.), Zivilgesellschaft und Staat in Europa. Ein Spannungsfeld im Wandel. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Ukraine, Weißrußland, Baden-Baden 2001. Wolfgang Benedek (ed.), Civil Society and Good Governance in Societies in Transition, Wien / Belgrad 2006. Wilhelm Brauneder / Milan Hlavačka (eds.), Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie, Berlin 2014. Emil Brix (ed.), Civil Society in Österreich, Wien 1998. Jörg Hackmann (ed.), Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge. Associational Culture and Civil Society in North Eastern Europe. Regional Features and the European Context, Wien / Köln / Weimar 2012. Robert Luft / Miloš Havelka (eds.), Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich, Göttingen 2014. Akkaya Gülcan, Nichtregierungsorganisationen als Akteure der Zivilgesellschaft. Eine Fallstudie über die Nachkriegsgesellschaft im Kosovo, Wiesbaden 2012. 33 See Becker, The Emergence, XI. 34 Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture, 2nd ed., Oxford 1996.

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that the first transnational associations in this sense of civil society were those dedicated to the pursuit of fundamental and human rights. Despite the importance which is attributed to associations, NGOs et cetera, these do not figure prominently in academic publications on civil society. Therefore, we emphasize this aspect in our research on the Austrian Human Rights League in the context of a European and a wider global civil society. The anti-slavery and abolition societies35 of the late 18th century were the first associations that can be regarded as an organizational expression of civil society. The fact that such associations came to life in the period of the Atlantic Revolution can be explained by a new historic constellation which is precisely due to the revolutions of society and state in North America and in France. This new constellation was characterized by a systemic relationship between “Rechtsstaat” (rule of law), humanitarianism, and political participation of the people. Neither the American nor the French Revolution created constitutional institutions which would have taken over the tasks resulting from this systemic constellation. The best example to illustrate the issue is the anti-slavery movement.36 It emerged in England, first driven by individual activists, and later structured by the creation of associations on both sides of the Atlantic. Frenchman Brissot de Warville transferred the idea to France and co-founded the “Société des Amis des Noirs” in 1788. He himself and Condorcet, the society’s president in 1789, tried to introduce the abolition of slavery into the “Cahiers de Doléances” through which the French population prepared the coming Etats généraux in Versailles. Members of the society who became deputies to the Etats généraux, later transformed into the National Assembly, got involved with enacting a law proscribing slavery.37 The British Parliament abolished the Atlantic slave trade in 1807.38 British diplomats were expected to include this principle in international relations; thus, corresponding agreements were settled with the Netherlands, Denmark and Sweden in 1813 and 1814. On 8 February 1815, the Congress of Vienna agreed on the principle that the slave trade was to be abolished in the future.39 The English, American and French anti-slavery and abolition societies formed a loose but efficient network. They can be considered as a structured and organized expression of the rise of civil society. These societies promoted the abolition of slavery throughout the 19th century and contributed to international antislavery law. 35 See Katja Füllberg-Stolberg, Abolition, in: Friedrich Jaeger (ed.), Enzyklopädie der Neuzeit. Vol. 1, Stuttgart 2005, s.v. (also online, access limited: http://referenceworks.brillonline.com/ entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/abolition-a4946000). 36 See Birgitta Bader-Zaar, Antisklavereiverein, in: Friedrich Jaeger (ed.), Enzyklopädie der Neuzeit. Vol. 1, Stuttgart 2005, s.v. (also online, access limited: http://referenceworks.brill online.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/antisklavereiverein-a0186000). 37 Serge Daget, La traite des Noirs. Bastilles négrières et velléités abolitionnistes, Rennes 1990, ch. 7. 38 Roger Anstey, The Atlantic Slave Trade and British Abolition, 1760–1810, London 1975. 39 See as a brief description: Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power after Napoleon, London 2013, 144–146.

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The second root of a structured and organized civil society is to be seen in women’s associations40 as they were created in France between 1789 and 1794. Not all but some of these associations dealt with women’s political and fundamental rights. Although they were banned in 1794, they formed the historic model for future women’s movements and associations during the 1848 revolution or in the Paris Commune of 1871. Durable associations developed with the National Society for Women’s Suffrage, 1867, and the Société du Suffrage des Femmes, 1883, not to mention a number of others in most European countries. Women’s clubs or societies were even to be found in the Balkans: their main purpose was to teach women how to be a good wife and mother, but this included a strong nationalist element. So these clubs were not apolitical. But were they part of civil society, as some scholars suggest?41 The expansion of the nationalist state and of imperialism impeded the juridification and the humanisation of international relations. This had repercussions for national societies. So, most pacifist and internationalist movements, emerging as early as 1815 – an example is the New York Peace Society, founded by the New York tradesman David L. Dodge in 1815 –, can be recognized as parts of an international civil society. The first international peace conferences were to be held in 1843 in London, in 1848 in Brussels, and in 1849 in Paris, with a famous address by Victor Hugo. The International League for Peace and Freedom organized a congress in Geneva in 1867 with more than 6,000 participants. This event demonstrates the scale of the societal basis of civil society by this time.42 4. Human Rights Leagues and their History: A Brief Outline The creation of the French League for Human Rights (“Ligue pour la défense des droits de l’homme et du citoyen”) in 189843 signalizes a new phase in the history of civil society and its institutions. The step was senator Ludovic Trarieux’ and others’ reaction to the Dreyfus affair44 and to the extreme right-wing League of Patriots as well as the Antisemitic League poisoning the political climate in the French Third Republic (1871–1940/44). Over the following years, but mainly in 40 Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1988. 41 See Holm Sundhaussen, Chancen und Grenzen zivilgesellschaftlichen Wandels: Die Balkanländer 1830–1940 als historisches Labor, in: Hildermeier / Kocka / Conrad (eds.), Europäische Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 149–177. 42 Still relevant: Jakob ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung. 3 vols., Den Haag 1917, 1929, 1940. Alfred H. Fried, Handbuch der Friedensbewegung. 2 vols., ent. revised and enlarged ed., Berlin 1911. 43 Most recent synthesis on the French League: William D. Irvine, Between Justice and Politics. The Ligue des Droits de L’Homme, 1898–1945, Standford 2007. The probably first monograph on the French League dates from 1927: Henri Sée, Histoire de la Ligue des Droits de l’Homme, Paris 1927. 44 Madeleine Rebérioux,„La naissance de la Ligue des droits de l’homme“, in: Michel Drouin (ed.), L’affaire Dreyfus de A à Z, Paris 1994, 414–418.

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the interwar period, the French League encouraged the foundation of more than 20 comparable leagues across Europe, and even outside Europe. The first league founded outside France was the Belgian League in 1901.45 In Spain, a first league under the name of “Liga Española para la Defensa de los Derechos del Hombre y del Ciudadano” was established in 1913. It lasted until 1922. It then adopted the name of “Liga Española de los Derechos del Hombre” under the chair of Miguel de Unamuno. His case – in 1920, he had been accused of insulting the King – inspired the League’s first nation-wide action.46 Paul Aubert, who has extensively studied the Spanish League, emphasizes the frequent re-organizations and renamings of this league. Several leagues were launched in the 1920s, during the short phase of social and economic consolidation that gave rise to so many, but later unfulfilled, hopes. In 1921, the Portuguese League for Human Rights was established by freemasons with links to the republican and socialist political spectrum.47 Nearly the same held true for the Austrian League, founded in 1926. Apparently, the Italian League, which was created by exiled Italian democrats, republicans and others in 1922 in France with the help and support of the French League48, also shows that Freemasonry played an eminent role for the European human rights movement after World War I. The German League for Human Rights came into being in 1922; the “Bund Neues Vaterland” (16 October 1914) was its direct forerunner.49 From the very beginning, the French and the German Leagues closely cooperated. The Bulgarian League was officially founded on 9 November 1924, but it seems that it had already existed since 1922, as there were Bulgarian delegates at the first congress of the International League on 28 May 1922.50 The foundation of the International 45 See Fabrice Deloze, Histoire de la Ligue belge pour la défense des droits de l’Homme entre 1954 et 1983: positions et actions internationales. Unpublished thesis, 2001, quoted by David Morelli who presented a paper on the history of the Belgian League to the Vienna Workshop. 46 Paul Aubert, The Spanish League of Human Rights, paper presented to the Vienna Workshop. 47 Information kindly provided by the Liga Portuguesa dos Direitos Humanos – CIVITAS, for the Vienna Workshop. 48 Antonio Baglio, Luigi Campolonghi et la Ligue italienne des Droits de L’Homme, in: Marta Petricioli / Donatella Cherubini (eds.), Pour la paix en Europe. Institutions et société civile dans l’entre-deux-guerres, Bruxelles 2007, 341–365. The Italian League has been studied by: Éric Vial, LIDU 23-34. Une organisation antifasciste en exil, la Ligue italienne des Droits de l’Homme, de sa fondation à la veille des fronts populaires, Thèse EHESS, Paris 1985, micro form 1986. See also: Éric Vial, La ligue italienne des droits de l’homme (LIDU), de sa fondation à 1934, in: Pierre Milza (ed.), Les Italiens en France de 1914 à 1940, Rome 1986, 407– 430. [/web/ouvrages/home/prescript/article/efr_0000-0000_1986_mon_94_1_3164; consulted 06 January 2015]. 49 Emmanuel Naquet, The LDH and the Bund Neues Vaterland: Convergence of two Associations Defending Human Rights from 1914 to 1939, paper presented to the Vienna Workshop. 50 Suzanne Colette-Kahn, Fédération Internationale des Droits de l’Homme [short historical outline, typoscript in French, 1966, and German translation care of the Austrian League, 1967, signed by LM. [sic!] Neuwalder, 30 pp., 2, Archives of the Austrian League for Human Rights, folder FIDH]. Mrs. Colette-Kahn became secretary general of the FIDH in 1951; see ibidem, 26. The document does not give any references, but the author was an insider. She

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Federation League in 192251 under the instigation of the French and the German Leagues also highlights the increased relevance accorded to the human rights idea in the interwar period. Suzanne Colette-Kahn, a later secretary general to the International League, enumerates delegates to the 1922 congress in Paris representing the following countries: France and Germany (according to Colette-Kahn the driving forces), Bulgaria, China, Spain, Norway, Portugal, Greece, Russia (from the Menshevik party52), Armenia, Poland, Sweden, Denmark, Belgium, Switzerland (in this order). From the 1940s on, the name “Fédération International des Droits de l’Homme” was commonly used for the International League (currently “Fédération International des Leagues des Droits de l’Homme). All these leagues shared a commitment to a universal understanding of human rights based on the revolutionary ideas of the Declaration of the Rights of Man and of the Citizen of 1789.53 Like the Austrian League, the Bulgarian League, which effectively had to stop its activities in 193454, dissolved itself in 1938 to pre-empt its threatening official dissolution by the regime.55 It was re-established in October 1945, but was dissolved for a second time by the Secret Services in 1947. In 1972, it was refounded in exile in Amsterdam. In 1926, the foundation of the Austrian and the Czechoslovakian human rights leagues advanced the human rights movement in Central Europe.56 The interwar period has to be considered as the period of the strongest activities. The human rights leagues under the roof of the International League fought against the growing dangers of fascism, National Socialism, and all other types of dictatorship such as Franco’s Falange movement in Spain. Their main area of activity was Europe and the countries in the adherent geographic space, but it also extended to

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probably also used the “Cahiers des Droits de l’Homme”, the journal of the French League which exercised a strong influence on the International League and backed it financially until the beginning of World War II and beyond. Gilles Manceron, The  French LDH’s Interests in International Issues from 1898 to 1980. Founding and Supporting the FIDH, paper presented to the Vienna Workshop. Mantas Viselga, Erasmus-trainee from the University of Vilnius, carried out, under our supervision, some research on this issue during his stage at the History department of the University of Vienna. He was able to identify archive material in several countries as well as some of the Menshevik human rights activists. It seems difficult to establish whether the socalled “League of observers” was connected to the Menshevik’s League for Human Rights to which E. Körner, from the Austrian League, refers to in his chronicle (in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte, 4 (1974), 3, 5). See André Liebich, From the Other Side. Russian Social Democracy after 1921, Cambridge, Mass. / London 1997, 134 et seq. Wolfgang Schmale, Grund- und Menschenrechte in vormodernen und modernen Gesellschaften Europas, in: Grandner / Schmale / Weinzierl (eds.), Grund- und Menschenrechte, 29–76, 69 et seq. Colette-Kahn, Fédération Internationale, 16. On the Bulgarian League see: Stilyan Deyanov, La Ligue bulgare à travers les archives de la Ligue française, in: Grégory Singal / Sonia Combe (eds.), Retour de Moscou. Les archives de la Ligue des droits de l’homme 1898–1940, Paris 2004, 71–82. Paper Zuzana Candigliota, Brno, presented to the Vienna Workshop.

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other continents. They established close networks among their members. These travelled and held conferences and lectures in different countries. Thus members of the French League, namely Victor Basch57, president of the French and later of the International League, visited Germany for public lectures; and the same was true for Polish members visiting Germany, and German members visiting Poland. A lot of well-known and distinguished intellectuals and scholars joined the national leagues and militated in favour of human rights, democracy, peace and disarmament, even for a United States of Europe, through personal assistance, observation of law suits, public campaigns, declarations, petitions, and interventions on the highest political levels. The more the 1930s advanced towards dictatorship and war, the more they risked their lives. For a few years, France and the French League hosted the exiled German League as well as the Italian. When the German League was dissolved in 1933, Helmut von Gerlach, its president, was welcomed by his French fellow campaigners and friends, and, together with other refugees from the German League, he succeeded in giving it a second life in French exile. The experience of exile and veritable friendship in a Europe divided by radical nationalism, antisemitism and various fascisms strengthened the ties between these people. The French League counted about 200,000 members in 1933, 300,000 in 1936.58 In 1931, more than 19,000 individuals asked the League for support. In comparison, this number fell to about 2,500 requests to the League in 1956. The League established its own review in 1917 under the title “Cahiers des Droits de l’Homme”, and, since 1923, it edited a daily newspaper, “La Quotidienne”.59 Neither the French nor any other human rights league was able to achieve comparable public influence ever again. The human rights leagues also suffered from political frictions among their members. Even the French League was hit by a deep divide in 1937 (Tours congress) and lost a third of its membership. A strong anti-communist minority was willing to make a pact with Hitler. It was not that all these people sympathized with the Nazi ideology, they adopted the idea of appeasement. But, as Irvine states, some, for example Félicien Challaye, went beyond the idea of appeasement: “At the time of the Munich crisis of 1938, Félicien Challaye, a thirty-year veteran of the League’s Central Committee, had spent a week in Germany. What he brought back was an open admiration for the regime. Any socialist, he opined, would be far more comfortable with Nazi Germany than with the decadent Wei-

57 On V. Basch, professor for Aesthetics at the Sorbonne, specialist for German aesthetics and philosophy, see: Françoise Basch, Victor Basch ou La passion de la Justice. De l’affaire Dreyfus au crime de la Milice, Paris 1994. Françoise Basch / Liliane Crips / Pascale Gruson (eds.), Victor Basch 1863–1944, un intellectuel cosmopolite, Paris 2000. Basch and his wife were murdered near Lyon by French militia in January 1944. On this murder, see also from the Austrian League: Liga-Korrespondenz 1/1946, 8 (Letter by the Swiss League to the Austrian League, 26 February 1946). 58 Baglio, Luigi Campolonghi, 351. 59 See article “League”, in: Grand Larousse encyclopédique, Paris 1961, s.v.

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mar Republic.”60 We have already seen that the Austrian League’s members had fallen into a similar ideological divide. In 1941, the international federation had to cease its operations. In order to continue its efforts, that same year, emigrants from Europe, together with the American civil-rights activist Roger N. Baldwin, founded the International League of the Rights of Man and for the New Democracy61 in New York. It continued to exist after the re-establishment of the French umbrella organization, the Fédération Internationale des Droits de l’Homme (FIDH), in 1948.62 A small lobbying group with rather an elitist understanding of politics, the members of this International League initially conceived of their activities as an intellectual contribution to Europe’s liberation from National Socialism. “Democracy” and “freedom” were among their core values, as they regarded disdain for human rights and fundamental freedoms as a major cause of World War II. Toward the end of the war, the group began to broaden its focus and to advocate for worldwide adherence to human rights in keeping with a universal understanding of human rights. Regional committees for Latin America, Europe, Asia, and Africa were established in order to work on an International Bill of Rights. In addition, the so-called “Jewish question” played a key role. A global orientation continued to shape its activities for the following decades, in close agreement with the work of the United Nations.63 The national leagues as well as the International Federation of Human Rights Leagues relied strongly on the League of Nations, later the United Nations. The foundation of the UNO generally encouraged the creation of NGOs, and the relative weight of the pre-war human rights leagues slowly decreased. The human rights leagues now seem to be less in the media’s focus, although they have not given up on their daily work. 5. Conclusion As a conclusion we can state that, with the creation of the French League in the context of the Dreyfus affair, which had had an international impact, civil society as well as democratization of state and society by and through human rights entered a new and intensive phase. The French League was the first and therefore it was able to establish a model which motivated intellectuals, academics from various disciplines, politicians, members of peace movements and others to found 60 Quotation from William D. Irvine, War, Peace and Human Rights: The Dilemma of the Ligue des Droits de l’Homme (LDH), paper presented to the Vienna Workshop, 3. Irvine’s paper is based on his book, quoted above. 61 Renamed to International League for Human Rights in 1976. 62 See Jan Eckel, The International League for the Rights of Man, Amnesty International, and the Changing Fate of Human Rights Activism from the 1940s through the 1970s, in: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarism, and Development, 4/2013, 183–214, 185. 63 See Eckel, The International League, 184 et seq.

Human Rights Leagues and Civil Society

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similar leagues in their respective countries. A first peak was reached after 1918. As their common ground, the leagues referred to the French declaration of human and civil rights of 1789. In the course of the 19th century, the notion of “human rights” had nearly disappeared as a keyword. With the centenary of the French Revolution, in 1889, and the policy of the Third Republic to refer explicitly to 1789 in the public sphere, things had changed.64 The Dreyfus affair became the first major opportunity to test whether the notion of human rights would be able to regain its historic importance or not. It was, and through the various leagues for human rights it gained increasing importance all over Europe. This joint attempt failed, however, it turned out that the forces of reaction, fascism and Nazism were too strong. During the war, some league members joined resistances movements. This phase in the history of human rights leagues would require more in-depth study, for instance with regard to network-building in the European resistance in the occupied countries and in exile. Also, in-depth study is necessary with regard to the mentioned political and ideological frictions that arose among the leagues’ members in different countries. A further point that has unfortunately been underexposed in research so far is the role and function of women. For instance it is well known that Ernesta Cassola, Luigi Campolonghi’s wife, was the decisive figure for the foundation of the Italian League in French exile.65 For the Austrian League, we will cite the case of Elise Richter here. The relationship between the different leagues has also not been sufficiently clarified. After World War II, the situation concerning the implementation of democracy, rule of law and human rights had changed. These principles now ruled the western hemisphere, with exceptions such as Spain and Portugal; they were backed by the United Nations, by the Council of Europe, and by the democratization of Germany under the supervision of the USA, the UK, and France. Human rights now became an integral part of the constitution, and the independence of law courts was guaranteed. The legal and institutional protection of human and civil rights was improved significantly. Nevertheless, changing the individuals’ mentality, changing people into democrats, was a different task, which could not be accomplished simply by the creation of appropriate and independent institutions. So there was a wide field of operation for the re-founded human rights leagues. Special interest and much more in-depth research are necessary for the immediate post-war years with regard to Eastern and Western Europe. The same holds true for the period of the CSCE in the 1970s: Were new networks established between the western leagues and civil society movements in the East? Up to the eve of World War II, the human rights leagues played a major role in the construction of national civil societies and of a European civil society. Net64 Wolfgang Schmale, Die Dritte Republik, das Centenaire und die Menschenrechte, in: Gudrun Gersmann / Hubertus Kohle (eds.), Frankreich 1871–1914. Die Dritte Republik und die Französische Revolution, Stuttgart 2002, 11–17. 65 See Baglio, Luigi Campolonghi, 346.

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works between leaguists, the roles played by women, peace movements, other internationalisms such as socialist or Christian movements or associations, and finally the transition to resistance movements are awaiting further enlightenment. After World War II, the leagues recovered their former role in the process of reconstructing civil society to some extent. How this worked in detail is less well known than the operating phase of the interwar period. In addition, the human rights leagues were thrown into something of a competitive situation, as more and more NGOs, often specialized in a specific human rights problem, were established. In the same sense, collecting money and subsidies became professionalized because of charitable organizations that operated globally; this changed the rules of how to address people and how to win them for the organization’s aims. The post-war period ends in the 1970s, and with it the conditions in which the human rights leagues had emerged. Prof. Dr. Wolfgang Schmale, Wien Dr. Christopher Treiblmayr, Wien

„DA KÖNNEN SE JANZ BERUHIGT SEIN, DAT IS FÜR NE JUTE ZWECK JEJEBEN WORDEN.“ Korruption beim Wiedergutmachungsvertrag vom 10. September 1952 Herbert Elzer Als der jüdische Autor Norman G. Finkelstein in seinem von Bitterkeit und Polemik geprägten Buch aus dem Jahr 2000 die Verteilungspraktiken der Jewish Claims Conference für die deutschen Wiedergutmachungszahlungen seit 1953 attackierte1, entfachte er einen Sturm der Entrüstung2. Er warf der JCC vor, zur Überraschung der Bundesregierung viel mehr kulturelle Zwecke gefördert als einzelnen verfolgten Juden geholfen zu haben. Dies ist zwar zutreffend, doch die Vertragsauslegung der JCC war durchaus vertretbar.3 Ob die deutschen Juden bei der Vergabe der Mittel zu kurz kamen, soll hier nur am Rande verfolgt werden. Stattdessen sind anstößige Begleiterscheinungen zur Zeit des Vertragsabschlusses zu betrachten. Die Bundesregierung musste im Nahen Osten drei Dinge miteinander verknüpfen: die schier erdrückende Last des Holocaust, ökonomische Interessen in der arabischen Welt, Ausstrahlungen von Kaltem Krieg und deutscher Frage.4 Das war stets eine Gratwanderung. Konrad Adenauer betont in seinen Erinnerungen die moralische Verpflichtung, die Deutschland gegenüber den Juden besessen 1 2

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Norman G. Finkelstein, Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, München 42001, 89–93. Rolf Surmann (Hrsg.), Das Finkelstein-Alibi. „Holocaust-Industrie“ und Tätergesellschaft, Köln 2001; Gerald D. Feldman, Der Holocaust und der Raub an den Juden. Eine Zwischenbilanz der Restitution und Entschädigung, in: Constantin Goschler/Philipp Ther (Hrsg.), „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt a.M. 2003, 225– 237, hier: 227f.; Werner Bergmann, Die Haltung der deutschen Bevölkerung zur Wiedergutmachung, in: Claims Conference, Luxemburger Abkommen: 50 Jahre Entschädigung für NSUnrecht, hrsg. von Karl Brozik und Konrad Matschke, Frankfurt a.M. 2004, 16–24, hier: 22. Sachlicher: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 156f. Vgl. Jens Hoppe, Zwischen Maßnahmen zur Versorgung von Überlebenden der Shoah und Lobby-Arbeit im Bundestag. Die Tätigkeit der Claims Conference zwischen 1952 und 1965, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker/Bernd Walter (Hrsg.), Wiedergutmachung als Auftrag. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel (Geschichtsort: Erinnern – Forschen – Lernen. Schriften, Bd. 7), Essen 2007, 171–191, hier: 175–182. Josef Joffe, Reflections on German Policy in the Middle East, in: Shahram Chubin (Hrsg.), Germany and the Middle East. Patterns and Prospects, London 1992, 195–209.

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habe.5 Eine finanzielle Wiedergutmachung6 sollte zumindest den guten Willen der Deutschen zeigen, für untilgbare Schuld Verantwortung zu übernehmen.7 Zugleich war nur unter dieser Voraussetzung damit zu rechnen, von der internationalen Staatengemeinschaft wieder aufgenommen zu werden.8 Schließlich galt es, das traditionell gute Verhältnis zu den Arabern zu pflegen, um in der Levante bald wieder Fuß zu fassen und nicht gegenüber dem anderen deutschen Staat ins Hintertreffen zu geraten.9 Dem Werben des Ostblocks um die arabischen Länder10 musste Bonn effektiv begegnen – der Kalte Krieg zwischen westlichen Demokratien und kommunistischen Diktaturen war auf dem gesamten Globus relevant. Dies alles konnte aber für die Bundesregierung den Gedanken nicht aufwiegen, ohne substantielle Leistungen an das Judentum ein Paria in der Nachkriegswelt zu bleiben. Es fehlte indessen nicht an kritischen Stimmen bezüglich Zahlungen an den erst 1948 entstandenen Staat Israel: Bundesfinanzminister Fritz Schäffer11 oder CSU-Generalsekretär Franz Josef Strauß12 argwöhnten exorbitante Belastungen des damals noch überschaubaren Bundeshaushalts, der Wiederaufbau und Lasten5 6

Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953–1955, Stuttgart 1966, 132–136. Der Terminus „Wiedergutmachung“ hat sich als Klammer für die zahlreichen Varianten finanzieller Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an die Opfer des Nationalsozialismus trotz mancher Bedenken eingebürgert. Zum Begriff: Ludolf Herbst, Einleitung, in: Ders./Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer), München 1989, 7– 31, hier: 8–10; Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 111), Göttingen 2005, 11–17. 7 Betonung der Moral bei Michael Wolffsohn, Wiedergutmachung oder Realpolitik: Eine Bilanz der Israelpolitik Adenauers in den fünfziger Jahren, in: Hanns Jürgen Küsters (Hrsg.), Adenauer, Israel und das Judentum (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 20), Bonn 2004, 210–225. 8 Dies unterstreicht Dominique Trimbur, L’Influence américaine sur la Politique israélienne de la RFA (1951–1956), in: Relations internationales 110 (2002), 197–218, hier: 199–205. 9 Grundlegend: Sven Olaf Berggötz, Nahostpolitik in der Ära Adenauer. Möglichkeiten und Grenzen 1949–1963 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 33), Düsseldorf 1998, 48–58, 130–136, 223–225. 10 Zur Haltung von SBZ/DDR zu Israel im Gefolge Moskaus: Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern: Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997, 81– 97. 11 Dazu Christoph Henzler, Fritz Schäffer 1945–1967: der erste bayerische NachkriegsMinisterpräsident und Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland (Untersuchungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 3), München 1994, 426–442; Yeshayahu A. Jelinek (Hrsg.), Zwischen Moral und Realpolitik: Deutsch-israelische Beziehungen 1945–1965. Eine Dokumentensammlung (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv, Bd. 16), Gerlingen 1997, 28 und Dok. Nr. 38; Michael Wolffsohn, Globalentschädigung für Israel und die Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung, in: Herbst/Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, 161–190. 12 Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1949–1953, bearb. von Wolfgang Hölscher (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, IV. Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. 13/I), Düsseldorf 1998, Nr. 120 (12.3.1953), hier: 1506–1511.

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ausgleich verkraften musste. Sie befürworteten statt dessen eine individuelle Wiedergutmachung. Nicht erleichtert wurde die Situation der Bundesregierung durch eine 1951/52 tagende Londoner Konferenz zur Regelung der deutschen Vor- und Nachkriegsschulden.13 Die deutsche Delegation unter der Leitung des Bankiers Hermann Josef Abs hatte in London einen schweren Stand. In Anbetracht der jüdischen Entschädigungsansprüche machte ihn dies zu einem Mahner vor Überbürdung der sich erst langsam konsolidierenden Bundesrepublik. Im Auswärtigen Amt traten Staatssekretär Walter Hallstein und Ministerialdirektor Herbert Blankenhorn vorbehaltlos für Schilumim14 ein.15 Bei aller Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Schrittes waren sie bemüht, negative Auswirkungen auf das Verhältnis der Bundesrepublik zu den arabischen Staaten einzudämmen. Orientspezialisten wurden nicht eingeschaltet. Es liegt nahe, dies auf gewisse Präferenzen der Arabisten im Auswärtigen Amt um Wilhelm Melchers (1900–1971)16 zurückzuführen.17 Die Befürchtung, schwere Schäden für die Beziehungen zu den islamischen Staaten des Mittelmeerraums würden nicht ausbleiben, herrschte dort vor. Die „Frankfurter Rundschau“ erhob Vorwürfe gegen Melchers für die Zeit des Dritten Reichs: Er soll als Orientreferent des Auswärtigen Amts im Zweiten Weltkrieg mit dem anrüchigen Mufti von Jerusalem verkehrt haben.18

13 Ursula Rombeck-Jaschinski, Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 58), München 2005, Kap. IV. 14 Der Begriff ist dem Buch Jesaja entlehnt und impliziert neben der direkten Bedeutung „Entschädigung“ das Zurückbleiben von etwas Untilgbarem, Verzeihung Ausschließendem. Dazu: Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 66), München 2004, 91f. 15 Birgit Ramscheid, Herbert Blankenhorn (1904–1991). Adenauers außenpolitischer Berater (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 49), Düsseldorf 2006, 189–204; Berggötz, Nahostpolitik, 68f.; Dominique Trimbur, De la Shoah à la Réconciliation. La Question des Relations RFA – Israel 1949–1956 (Centre de Recherche français de Jérusalem. Hommes et Sociétés), Paris 2000, 308f.; Rolf Vogel (Hrsg.), Deutschlands Weg nach Israel. Eine Dokumentation, Stuttgart-Degerloch 1967, 21f. 16 Zu Melchers: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, hrsg. vom Historischen Dienst des Auswärtigen Amtes (Maria Keipert, Peter Grupp), Bd. 3: L – R, bearb. von Gerhard Keiper und Martin Kröger, Paderborn u.a. 2008, 219f. 17 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 42010, 574f.; Yeshayahu A. Jelinek, Konrad Adenauer and the State of Israel: Between Friendship and Realpolitik (1953–1963), in: Orient. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients 43 (2002), Heft 1, 41–57, hier: 44–46; Berggötz, Nahostpolitik, 105–113. 18 Wilhelm Haas, Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1969, 189, 235–238, 498–500; Hans-Jürgen Döscher, Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts, Berlin 2005, 163f.; Christopher R. Browning, Ambivalenz und Paradox bei der Durchsetzung der NS-Judenpolitik: Wilhelm Melchers, in: Jan Erik Schulte/Michael Wala (Hrsg.), Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler, München 2013, 211–223.

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Hallstein und Blankenhorn zeigten große Entschlossenheit, ein Abkommen mit Jerusalem zu erreichen und es dann auch zu ratifizieren. Diese Haltung wäre verständlich, wenn nur sachliche Motive sie verursacht hätten. Allein, in Bonn kursierten bald Gerüchte über Bestechung und dunkle Geschäfte. Dabei fiel immer wieder ein Name: Herbert Blankenhorn. Das Anliegen dieses Beitrags ist, den Wahrheitsgehalt solcher Anschuldigungen zu prüfen. Gibt es Belege für Korruption? Wenn ja, wie ist dies konkret vonstatten gegangen? Wer war darin verwickelt? Welche Ziele wurden verfolgt? Die Untersuchung befasst sich zunächst mit dem Verhalten Blankenhorns und seiner engen Mitarbeiter bei den Verhandlungen mit Israel und der JCC. Sie hält Ausschau nach Auffälligkeiten und besonderen Akzenten, die von einigen deutschen Diplomaten gesetzt wurden. Anschließend ist der in die Vorgänge verwickelte Kaufmann Lewy zu charakterisieren. Im Weiteren sind die Quellen zu begutachten, in denen Vorwürfe gegen Blankenhorn und bestimmte jüdische Kreise erhoben werden. In der Schlussbetrachtung soll ein Gesamtbild des Korruptionsfalls gezeichnet und die Triftigkeit der Beschuldigungen bewertet werden. Die Materialbasis bilden diverse Nachlässe sowie die Akten des Kanzleramtes im Bundesarchiv (Koblenz), der Bestand Büro Staatssekretär im Auswärtigen Amt (Berlin), die Sammlung Personalia im Archiv der sozialen Demokratie (Bonn) und verschiedene Gerichtsakten aus dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf). Auf dem Weg zum Luxemburger Abkommen (1950–1952) Im März 1950 erschien der Kaufmann Gerhard Lewy im Auswärtigen Amt.19 Er ließ Ulrich von Marchtaler wissen, der World Jewish Congress (WJC) – dessen Vorsitzender in Europa Noah Barou (1890–1955) war – wünsche eine Versöhnung mit Deutschland. Der Bundestag solle in einer Erklärung die Verbrechen des Nationalsozialismus an den Juden verurteilen und eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung anerkennen. In einem Gesetz müsste zudem jede Benachteiligung Einzelner wegen Rasse und Religion verboten werden. Wenn dies geschehen sei, käme Barou zu einer Unterredung mit Adenauer nach Bonn. Die genannten Maßnahmen hätten Lewy zufolge eine sehr günstige Wirkung auf die Weltmeinung über die Bundesrepublik. Er sei zu einem Gespräch mit Blankenhorn bereit. Einen Brief ähnlichen Inhalts richtete Lewy am 26. März 1950 an Hermann Pünder.20 19 Aufzeichnung von Marchtalers, Geh. 37/50, 31.3.1950, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) 1949/50, Wiss. Leiter Rainer A. Blasius, bearb. von Daniel Kosthorst u. Michael F. Feldkamp, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, München 1997, Nr. 47. Vgl. Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 38), Düsseldorf 2002, 58–60. 20 Auszug in: Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD), II. Reihe, Bd. 3: 1. Januar bis 31. Dezember 1950, hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs,

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Lewy unterhielt persönliche Beziehungen zu Blankenhorn.21 Am 4. April 1950 fand tatsächlich ein Treffen zwischen Blankenhorn und Lewy statt.22 Der Kaufmann wiederholte im Wesentlichen seine obigen Ausführungen. Am 28. April kam es in London zu einer Begegnung zwischen Blankenhorn und Barou. Dieser bekräftigte die Notwendigkeit, durch eine Resolution des Parlaments und gesetzgeberische Schritte Voraussetzungen für einen Dialog zu schaffen.23 Lewy war nun wieder von der Bildfläche verschwunden, Barou blieb präsent. Präsident der mächtigen jüdischen Dachorganisation WJC – der aber keineswegs alle Verbände angehörten – war Nahum Goldmann24. Er sollte ein maßgeblicher Befürworter einer Annäherung Israels und der Juden an die Bundesrepublik werden und steht in Deutschland als Mann der Versöhnung in hohen Ehren.25 Bisweilen wird Goldmann aber auch als eitel, machtgierig und intrigant charakterisiert.26 Eine große Zahl jüdischer Organisationen rief am 26. Oktober 1951 in New York die Conference on Jewish Material Claims against Germany (JCC) unter dem Vorsitz von Goldmann ins Leben.27 Sie sollte die Position Israels in den kommenden Verhandlungen mit der Bundesrepublik unterstützen und die Interessen der Juden in aller Welt vertreten. Adenauer traf am 6. Dezember in London heimlich mit Goldmann zusammen und sicherte ihm zu, dass die israelische Note vom März mit dem Betrag von 1 Mrd. Dollar von der Bundesregierung als Ausgangsbasis für Verhandlungen zwischen einer deutschen und einer jüdischen Delegation akzeptiert werde.28 Mit dieser spontanen Großzügigkeit scheint Goldmann nicht gerechnet zu haben.29

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Wissenschaftliche Leitung: Klaus Hildebrand und Hans-Peter Schwarz, Unveröffentlichte Dokumente, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Carsten Tessmer, München 1997, Nr. 240. Bundesarchiv Koblenz (BArch), NL 1351 Herbert Blankenhorn, Bd. 2, Bl. 188, Tagebuchnotiz, 30.11.1949. Notiz Blankenhorns, 4.4.1950, in: DzD II/3 (1950), Nr. 244. Dazu auch Kai von Jena, Versöhnung mit Israel? Die deutsch-israelischen Verhandlungen bis zum Wiedergutmachungsabkommen von 1952, in: VfZ 34 (1986), 457–480, hier: 461f. BArch, NL Blankenhorn, Bd. 5, Bl. 7, Notiz Blankenhorns, 28.4.1950. Zu Goldmann: Archiv der sozialen Demokratie Bonn (AdsD), Sammlung Personalia, Bd. 3626: Nahum Goldmann, Munzinger-Archiv, 22.10.1977 und 1982: Nahum Goldmann. Shlomo Shafir, Nahum Goldmann and Germany after World War II, in: Mark A. Raider (Hrsg.), Nahum Goldman. Statesman without a State (Suny Series in Israeli Studies), Albany/N.Y. 2009, 207–231; Trimbur, De la Shoah à la Réconciliation, 182–193; Hansen, Schatten, 115–119. Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995, 305–307, 320; Michael Brecher, Decisions in Israel’s Foreign Policy, London 1974, 97, Anm. 1. Ronald W. Zweig, German Reparations and the Jewish World. A History of the Claims Conference, Boulder/Co. 1987, 14–29; Marilyn Henry, Confronting the Perpetrators. A History of the Claims Conference, London/Portland (Or.) 2007, Chapter 1. Adenauer, Erinnerungen 1953–1955, 137–139; Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, München/Wien 1980, 382–387. Dazu u.a. Trimbur, De la Shoah à la Réconciliation, 44–46; Hansen, Schatten, 139–144. Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Bd. 2, Berlin 1997, 153–156.

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Barou legte ein Lieferungsprogramm vor, das eine vernünftige Grundlage bieten sollte.30 Im März 1952 drängte der deutsche Diplomat Heinz Trützschler massiv auf sofortige Warenlieferungen an Israel.31 Blankenhorn konfrontierte Adenauer am 10. März mit dem israelischen Wunsch nach Soforthilfen, den Abs zurückweise. Blankenhorn brachte seine Sorge zum Ausdruck, das Verhalten von Abs werde „erhebliche politische Rückschläge“ zeitigen. Goldmann sei nach seinen Gesprächen mit Adenauer von unverzüglichen Verhandlungen über Sachleistungen ausgegangen. Laut dem Diplomaten Alexander Böker erklärte Goldmann in London, es würden dringend Pharmazeutika, Hospitaleinrichtungen und Chemikalien benötigt. Mit einer Geste des Entgegenkommens ließe sich nach Meinung Blankenhorns der Glaube der Israelis an den guten Willen der Deutschen stärken. Am 21. März 1952 begannen Verhandlungen zwischen einer deutschen und einer jüdischen Delegation in der Abgeschiedenheit des niederländischen Ortes Wassenaar.32 Goldmann kündigte dem Kanzler am 24. April an, Barou werde nach Bonn reisen und seine Warenliste präsentieren.33 Bei dieser Unterredung trug Goldmann die Idee eines Expertentreffens vor.34 Sie ging anscheinend von Barou aus, der in Deutschland seine Produktvorstellungen mit Spezialisten besprechen wollte; Blankenhorn befürwortete dies, doch es kam nicht zu einem konkreten Ergebnis.35 Die von Blankenhorn mehrfach genannten pharmazeutischen Produkte und medizinischen Artikel wurden auch von Goldmann auffällig oft erwähnt.36 Die israelische Delegation in Wassenaar war von Goldmanns Al-

30 BArch, NL Blankenhorn, Bd. 16, Bl. 26–27, und Bd. 17, Bl. 82–83, und BArch, B 136 (Bundeskanzleramt), Bd. 1127, Bl. 57f., Schreiben Barous an Blankenhorn, 5.2.1952. 31 Aufzeichnung Froweins, 8.3.1952, in: AAPD 1952, Wiss. Leiter Rainer A. Blasius, bearb. von Martin Koopmann und Joachim Wintzer, München 2000, Nr. 72. Vgl. auch RombeckJaschinski, Schuldenabkommen, 254f. Barou hatte am 28.2. Böker gegenüber die Eilbedürftigkeit betont (AAPD 1952, Nr. 64). 32 Dazu u.a.: Rudolf Huhn, Die Wiedergutmachungsverhandlungen in Wassenaar, in: Herbst/Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, 139–160; Hansen, Schatten, Kap. B; Jelinek, Deutschland und Israel, Kap. V und VI; Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt a.M. 2002, 72–105; Lily Gardner Feldman, The Special Relationship between West Germany and Israel, Boston/Ma. 1984, 52–65. 33 BArch, NL Blankenhorn, Bd. 17, Bl. 66–68. Zur Warenliste: Rolf Theis, Wiedergutmachung zwischen Moral und Interesse. Eine kritische Bestandsaufnahme der deutsch-israelischen Regierungsverhandlungen, Frankfurt a.M. 1989, 264–273. 34 Documents on the Foreign Policy of Israel, Vol. 7 (1952), hrsg. von Yehoshua Freundlich, Companion Volume (State of Israel. Israel State Archives), Jerusalem 1992, Nr. 122, 89–92, Schreiben Shinnars an Sharett, 25.4.1952. Dazu Nana Sagi, Wiedergutmachung für Israel. Die deutschen Zahlungen und Leistungen, Stuttgart-Degerloch 1981, 140–142. 35 Hansen, Schatten, 196. 36 In einem Brief an Adenauer vom 5.7.1952 erbat er noch einmal ausdrücklich eine Vorlieferung dieser dringend in Israel benötigten Waren im Umfang von etwa 20 Mio. DM (BArch, NL Blankenhorn, Bd. 17, Bl. 37–38).

„Da können se janz beruhigt sein, dat is für ne jute Zweck jejeben worden.“

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leingang wenig angetan und ließ sich aus taktischen Gründen nicht darauf ein.37 Im Einklang mit Außenminister Moshe Sharett beschloss die Delegation am 6. Mai, Barou nicht in ihren Kreis aufzunehmen, sondern nur als Verbindungsmann zu Blankenhorn zu nutzen.38 Das israelische Außenministerium konstatierte, in Bonn werde getuschelt, Goldmanns Leute hätten Blankenhorn bestochen.39 Nachdem die offiziellen Verhandlungen gestockt hatten40, gelang in Bonn vom 8. bis 10. Juni 1952 eine Einigung.41 Hallstein und Blankenhorn gaben dem Kanzler unzweideutig zu verstehen, er müsse nun eine Entscheidung fällen. Goldmann stellte in Aussicht, über die von Israel zugestandenen 10 Jahre Laufzeit hinauszugehen, verlangte dafür aber zusätzlich eine halbe Mrd. DM für seine JCC. „Blankenhorn’s reaction was extremely positive”, meldete die israelische Delegation.42 Man verständigte sich auf 3 Mrd. DM für Israel und 0,5 Mrd. DM für die JCC. Goldmann meinte später unumwunden, Adenauer hätte das Abkommen „billiger“ haben können.43 Goldmanns dezidiertes Auftreten gegenüber Adenauer lohnte sich jedenfalls.44 Am 10. September 1952 wurde in Luxemburg das Wiedergutmachungsabkommen unterzeichnet.45 Es darf als Meilenstein auf dem dornigen Weg der Aussöhnung zwischen den Juden und dem deutschen Volk schon wenige Jahre nach dem Holocaust gelten.46 Arabischer Widerstand und innenpolitischer Gegenwind verzögerten die parlamentarische Sanktionierung des Luxemburger Abkom37 Documents on the Foreign Policy of Israel, Vol. 7 (1952). Companion Volume, Nr. 125, 93– 95, Schreiben Josephthals an Sharett, 28.4.1952. 38 Ebd., Nr. 139, 102f., Schreiben Josephthals an Shinnar und Avner, 6.5.1952. 39 Segev, Siebte Million, 309. 40 Zur Krise der Verhandlungen im Mai 1952: Theis, Wiedergutmachung, 193–219; Sagi, Wiedergutmachung, 142–149; Jelinek, Deutschland und Israel, 180–198; Hansen, Schatten. 212– 230. 41 AAPD 1952, Nr. 153. Dazu Adenauer, Erinnerungen 1953–1955, 152f.; Hansen, Schatten, 231–237; BArch, NL Blankenhorn, Bd. 10, Bl. 235 und 252, Tagebuchnotizen, 8. und 9.6.1952. Blankenhorn traf sich zudem privat mit Goldmann und Barou (ebd., Bd. 11, Bl. 81, und Bd. 12, Bl. 48). 42 Schreiben israelische Delegation London an Eytan, 13.6.1952, in: Documents on the Foreign Policy of Israel, Vol. 7 (1952). Companion Volume, Nr. 194, 136–139, hier: 137. 43 Nahum Goldmann, Adenauer und das jüdische Volk, in: Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, [Bd. 1:] Beiträge von Weg- und Zeitgenossen, hrsg. von Dieter Blumenwitz u.a. (Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung – Archiv für Christlich-Demokratische Politik), Stuttgart 1976, 427–436, hier: 428. Vgl. auch Köhler, Adenauer, Bd. 2, 167. 44 Ebd., 276f.; Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 1: Der Aufstieg (1876–1952), Stuttgart 21986, 902f.; Segev, Siebte Million, 310–312; Goldmann, Leben, 398–403; Felix E. Shinnar, Bericht eines Beauftragten. Die deutsch-israelischen Beziehungen 1951–1966, Tübingen 1967, 46– 48. Zu den Verhandlungen mit der JCC: Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. XV), Göttingen 2007, 342–356. 45 Wortlaut in: Vogel (Hrsg.), Weg, 62–74. Zu den Bestimmungen: Hansen, Schatten, 265–277. 46 Goldmann, Leben, 386f., 417–425; Shinnar, Bericht, 26.

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mens.47 Bei der Ratifizierung am 18. März 195348 im Bundestag gab die Regierungskoalition kein Bild der Geschlossenheit ab. Es bedurfte der Zustimmung der SPD, um eine eindrucksvolle Mehrheit zu erhalten.49 Eine israelische Einkaufsmission unter Leitung von Felix Shinnar sollte in der Bundesrepublik für die Abwicklung der Warenlieferungen zuständig sein und quasi diplomatischen Status erhalten.50 Doch zunächst tut eine Rückblende auf die dubiose Figur Gerhard Lewy not. Gerhard Lewy und die Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels Der Journalist Michael Mansfeld beschrieb Lewy vermutlich im Jahr 1954 so:51 Seine Familie lebe seit der Zeit Friedrichs des Großen in Berlin. Lewy sei zwischen 55 und 65. Er „ist jüdischer, evangelisch getaufter, Emigrant aus Berlin“, wohnte seit 1938 in London und kehrte inzwischen nach Deutschland zurück. Er trat 1946 in die Zweizonenverwaltung in Hamburg ein. Lewy hege keinerlei Ressentiments gegen die Deutschen. Von Hamburg aus war er Verbindungsmann zum Lager Bergen-Belsen und machte seit 1948 Geschäfte mit der jüdischen Wiederaufbaubank in Frankfurt am Main. Lewy lebe seit 1951 in Bonn. Laut Rechtsanwalt Egon Kubuschok verfügte er über vorzügliche wirtschaftliche Beziehungen im Ausland und bemühte sich um den Wiederaufbau der deutschen Außenwirtschaft.52 Dabei spielte der enge Kontakt zu seinem Londoner Partner Noah Barou vom World Jewish Congress eine wichtige Rolle. Im Jahre 1950 fädelte Lewy die Gründung einer Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels von London aus ein. Am 8. September 1950 wurde die Gesellschaft bei einem Frankfurter Notar gegründet.53 Das Stammkapital betrug 20.000 DM. Teilhaber waren der Frankfurter Exporteur Erich Alexander Brand und Walter Teichmann für das Frankfurter Bankhaus Hardy. Kleinere Anteile besaßen 47 Dazu etwa Meir Litvak/Esther Webman, From Empathy to Denial. Arab Responses to the Holocaust, London 2009, 59–91; Hansen, Schatten, 289–328. 48 Ausführlich: Ebd., 328–343. 49 Thomas Scheffler, Von der „orientalischen Frage“ zum „tragischen Dreieck“. Die Nahostpolitik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Zerfall des Osmanischen Reichs bis zum deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommen, Diss. phil. Berlin 1993, 279– 286, 298–308; Shlomo Shafir, Die SPD und die Wiedergutmachung gegenüber Israel, in: Herbst/Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, 191–203, hier: 200f. 50 Trimbur, De la Shoah à la Réconciliation, 19–84; Nicholas Balabkins, West German Reparations to Israel, New Brunswick/N.J. 1971, Kap. 8. 51 BArch, NL 1467 Michael Mansfeld, Bd. 19, Aufzeichnung „Lewy-Komplex“, o.D. Zu Lewy ferner: Jelinek, Deutschland und Israel, 72f., 174; Yeshayahu A. Jelinek, Political Acumen, Foreign Pressure, Altruism or Moral Debt: Konrad Adenauer and the „Shilumim“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 19 (1990), 77–102, hier: 85f.; Hansen, Schatten, 58f. 52 BArch, NL 1005 Hermann Pünder, Bd. 630, Bl. 19–23, Schreiben Rechtsanwalt Kubuschoks an Finanzministerium NRW, 4.3.1952. 53 Ebd., Bd. 535, Bl. 265–268f.

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Hermann Pünder, Reichskanzler a.D. Hans Luther, Direktor Emil Puhl von der Hamburger Kreditbank und Generaldirektor Hans Herrmann von Stahlbau Rheinhausen sowie einige Kaufleute.54 Die Gesellschaft hatte ihren Sitz in Bonn.55 Lewy übernahm die Geschäftsführung, der mit ihm befreundete Oberdirektor der ehemaligen Bizone, Hermann Pünder, den Vorsitz im Verwaltungsrat. Das Ziel bestand darin, den deutschen Außenhandel in Gang zu bringen. Hilfe für deutsche Firmen bei der Durchführung von Im- und Exportgeschäften gehörte ebenfalls zum Arbeitsspektrum der Gesellschaft. Lewy schmiedete eifrig Pläne. So unterrichtete er Barou in London und Herrmann jeweils am 23. März 1951 über eine mögliche deutsche Beteiligung an britischen Kolonialprojekten vor allem in Afrika.56 Pünders Part bestand darin, die Gesellschaft seinen hochrangigen Bekannten ans Herz zu legen.57 Anfang 1953 empfahl er Generaldirektor Joseph Horatz vom angesehenen Kölner Elektrotechnik-Konzern Felten&Guilleaume die Exportfirma Otto Stross auf Bitten Lewys als Partner für Ägypten. Am Nil hatten Lewy und die Firma Brand-Stross einen besonderen Schwerpunkt, für den Pünder etwa die Maschinenfabrik AugsburgNürnberg (MAN) interessieren sollte.58 In der Verwaltungsratssitzung der Gesellschaft in Bonn vom 2. Juni 195159 berichtete Stross über ein Kompensationsgeschäft von Stahlbau Rheinhausen mit Ägypten, bei dem der Gesellschaft eine Provision von 0,25% winke. Die Gesellschaft habe ihr Stammkapital schon ausgegeben und zudem 13.000 DM Bankschulden. Teichmann und Pünder mahnten im Oktober 1951 bei Lewy Ergebnisse an.60 Wo blieben die versprochenen Provisionen? Pünder beanstandete, er habe keinerlei Überblick über finanzielle Lage und Unkosten, die aus der Verwaltung erwüchsen. Durch die Übernahme des Vorstands und die Überlassung eigener Büroräume habe er „nach außen hin ein sehr hohes Maß von persönlicher Verantwortung übernommen“. Er sei nicht gewillt, seinen guten Ruf durch unübersichtliche ökonomische Dinge in Gefahr zu bringen. Mochte Pünder einige höfliche Floskeln einstreuen – für die Maßstäbe dieses Grandseigneurs war das geradezu ein Brandbrief. Zweifel an der Effizienz von Lewys Aktivitäten nagten auch an ihm. Es gelang Lewy, die Wogen zu glätten. Er unterstrich am 22. April 195261, Stross habe nun das große Ägypten-Geschäft über 50 Mio. DM endlich perfekt gemacht. Allein, es blieb bei Ankündigungen. Da Barou die Wiedergutmachung gemeinsam mit Blankenhorn einfädelte, besaß Lewy ein Trumpfas. Gleichwohl hätte Pünder gut daran getan, beispielsweise auf Otto Schniewind aus Düsseldorf zu hören. Dieser schrieb seinem alten Freund Pünder am 10. Dezember, er sei verpflichtet, ihm zu sagen, „dass man in weiten, 54 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., Bl. 142, Bilanz per 31.12.1950. Ebd., Bd. 630, Bl. 19–23. Ebd., Bd. 535, Bl. 170–179 bzw. 180–185. Ebd., Bl. 186f., 187, 199, 200, 221–240. Ebd., Bl. 274–275. Ebd., Bl. 137–140. Ebd., Bl. 129–130 und 126. Ebd., Bl. 118–119.

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ihm sehr gut gesonnenen Kreisen seine enge Verbindung mit Gerhard Lewy sehr bedauert.“62 Das Bankhaus Hardy belastete Pünder mit dem Debet aus seinem Anteil bei der Gesellschaft. Der beunruhigte Pünder teilte dies Lewy am 3. Juli 1952 mit.63 Lewy beschwichtigte sechs Monate später:64 Dies sei rein banktechnisch! Dieser Brief belegt die Unverfrorenheit, die Lewy auszeichnete. Er verharmloste Pünders Bankschulden und erklärte im gleichen Atemzug, er beabsichtige eine Vertragsschließung mit Stross und Brand, bei der offenbar seine Tätigkeit für diese Firma stärker honoriert werden sollte. Zugleich wollte er seine Auslagen durch Verminderung seiner Anteile an der (untätigen) Gesellschaft reduzieren und mutete Pünder zu, selbst mehr Geld aufzubringen – obwohl dieser über seine Verbindlichkeiten als Anteilseigner klagte! Pünder schrieb Teichmann am 4. Mai 195365, im Bundeshaus hätten ihn gute Freunde auf Lewy angesprochen und „leichte Warnungen“ hören lassen. Fritz Schäffer habe sogar deutlich den sog. Frankfurter Kreis um Lewy kritisiert. Angeblich teile selbst Abs diese Ansicht. In seiner Antwort vom 7. Mai deutete auch Teichmann ein gewisses Unbehagen an.66 Pünder schilderte Teichmann am 3. Februar 1954 einen telefonischen Disput mit Lewy.67 Dieser bekundete schlankweg, die Gesellschaft kümmere ihn nicht mehr, denn seit September 1953 stehe er auf eigenen Füßen. Teichmann reagierte prompt:68 Lewy beabsichtige Geschäfte auf eigene Rechnung? Völlig ausgeschlossen! Falls Lewy versuchen sollte, „Sperenzchen“ zu machen – also sich von der Gesellschaft zu distanzieren –, seien sie beide sich einig, mit aller Macht dagegen anzugehen! Lewy führte flugs in freundlichem Ton Telefonate mit Teichmann und Pünder69, damit sein Temperamentsausbruch keine schlimmen Folgen für ihn zeitigte. Lewy teilte Pünder am 31. Mai 1954 mit, er habe eine starke Position auf dem internationalen Finanzparkett und wäre erfreut, wenn Betriebe, die Pünder nahe stünden, davon profitieren könnten.70 Dies hieß übersetzt: Nachdem Lewy mit seinen Wirtschaftsprojekten Schiffbruch erlitten hatte, sollte Pünder seine Empfehlungen nun für Kreditgeschäfte einsetzen, damit Lewy hier vielleicht ein Bein auf den Boden bekäme. Teichmann gab am 22. Juni 1954 zu erkennen, warum sich seine Unruhe in Grenzen hielt:71 die Schuld der Gesellschaft bei Hardy sei durch Brand & Co verbürgt. Ein „bankmäßiges Risiko“ habe er also nicht. Am 1. September 1955 ließ Teichmann von seiner Konsortialabteilung ein erstaunlich großzügiges Auflö62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., Bl. 22f. Ebd., Bl. 47. Ebd., Bl. 41–42. Ebd., Bl. 4f. Ebd., Bl. 9. Ebd., Bd. 536, Bl. 102–104. Ebd., Bl. 100–101. Ebd., Bl. 98 bzw. 99 (am 6. bzw. 16.2.1954). Ebd., Bl. 94–95. Ebd., Bl. 91.

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sungsangebot für die Gesellschafter erarbeiten.72 Teichmann kommentierte, Lewy habe die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht. Die Gesellschaft verursachte nur Unkosten; am Ende stand ein „erheblicher Verlust“. Am 17. Januar 1957 legte Pünder in einem Brief an Stross sein Amt als Vorsitzender des Verwaltungsrates der Gesellschaft nieder.73 Er wisse nicht, wo sich die Geschäftsführung derzeit befinde und bitte ihn daher, seinen Mitgeschäftsführer Lewy zu unterrichten. Als ob es je eine „Geschäftsführung“ gegeben hätte! Die Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels war ein Phantom. Sie wickelte nie eine Transaktion ab. Die Absicht ihres spiritus rector Gerhard Lewy scheint vor allem darin bestanden zu haben, das Renommee prominenter Köpfe des Verwaltungsrats für seine eigenen Geschäfte zu nutzen, die er mit ganz anderem Engagement betrieb. Nun mochte ein Politiker ohne kaufmännische Erfahrung und mit offenbar geringer Menschenkenntnis wie Hermann Pünder von dem leutselig-eloquenten Lewy hereingelegt werden können. Doch warum hielten kühle Rechner wie Teichmann so lange still? Sie mussten nach einer gewissen Zeit begriffen haben, dass Lewy nichts zuwege brachte. Tatsächlich gibt es für dieses Verhalten eine Erklärung … Tatsachen und Gerüchte: Korruption beim Wiedergutmachungsvertrag 1952/53 Als Mitte 1952 die Verhandlungen in Wassenaar kurz vor dem Abschluss standen, wurden in anonymer Form schwere Anschuldigungen gegen Lewy und Blankenhorn erhoben. In einem von dem Journalisten August Hoppe an den Vizekanzler und Bundesminister für Angelegenheiten des Marshallplans Franz Blücher (FDP) weitergeleiteten Rundschreiben „Nur zur persönlichen Information“74 ging es um vermeintliche Ränke Blankenhorns beim Israel-Vertrag. Es behandelte insbesondere Bemühungen des Bankenkonsortiums von Gerhard Lewy, mit der Abwicklung der Wiedergutmachungsleistungen an Israel beauftragt zu werden. Lewy kannte Blankenhorn aus Hamburg. Er gründete sein Konsortium mit Hilfe von Hermann Pünder, behauptete der Verfasser des Rundschreibens. Lewy sei lediglich Strohmann gewesen; im Hintergrund stand das Bankhaus Hardy. Lewy kümmerte sich um die Kontakte zum Auswärtigen Amt. Er unterzeichnete am 18. Dezember 1951 als Direktor der Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels vom Bankhaus Hardy ausgehende Anweisungen über je 25.000 DM an Blankenhorn und Böker. Dieser habe bei den Haager Verhandlungen darauf beharrt, das Konsortium von Lewy einzuschalten. Es existiere ein Briefwechsel darüber zwischen Böker und Lewy.

72 Ebd., Bl. 33–35. 73 Ebd., Bl. 1f. 74 BArch, NL 1080 Franz Blücher, Bd. 98, Bl. 69–70.

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Erhards Persönlicher Referent Ernst Kutscher75 wurde bei den Verhandlungen durch Ernst Aschner ersetzt, weil er zu enge Kontakte zu diesem Zirkel unterhielt. Am 22. März 1952 habe Erhard bei einer Referentenbesprechung erklärt, die Gruppe Lewy sei nicht mehr tragbar. Barou und israelische Kreise setzten durch, dass Heinz Trützschler von Falkenstein Nachfolger des zurückgetretenen stellvertretenden Verhandlungsführers Otto Küster wurde. Laut Barou sei Trützschler von Blankenhorn gewonnen worden; dieser wolle zudem mit Hilfe des Vertrags die Kritik an seiner Rolle im Dritten Reich zum Schweigen bringen.76 Es gelang Trützschler und Böker nicht, die Betrauung einer staatsnahen israelischen Einkaufsmission mit der Durchführung von Schilumim zu verhindern. Heinz Trützschler von Falkenstein (1902–1971)77 stieß 1934 zum Auswärtigen Amt. Er soll Weißbücher für Ribbentrops Propaganda und Sprachregelungen des Auswärtigen Amts für Auslandsmissionen erstellt haben.78 Er gelangte 1949 in die Verbindungsstelle zur Alliierten Hohen Kommission im Bundeskanzleramt und später in das Auswärtige Amt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Personalpolitik im Auswärtigen Dienst empfahl 1952, ihn nicht im Ausland zu verwenden.79 Alexander Böker (1912–1997)80 war Blankenhorns Persönlicher Referent, bevor er 1953 als Legationsrat nach Paris entsandt wurde. Der Heidelberger studierte und arbeitete während des Dritten Reiches in Großbritannien und den USA. Er wurde 1949 ins Kanzleramt berufen und beteiligte sich am Aufbau des Auswärtigen Amts. Im Juli 1952 kritisierten Abgeordnete der Regierungskoalition hinter vorgehaltener Hand, dass Trützschler nach Den Haag geschickt wurde, obwohl der Untersuchungsausschuss in seinem Votum von einer derartigen Verwendung indirekt abgeraten hatte.81 Hallstein erklärte, die israelischen Gesprächspartner hätten die Berufung Trützschlers in die deutsche Delegation begrüßt. Dies rief prompt ein israelisches Dementi hervor.82 Die jüdische Seite wollte die Sachlage erst prüfen.83 Danach verlautete nichts weiter darüber. Mansfeld zufolge wollten renom75 Zu Kutscher, der im Januar 1953 ins AA überwechselte: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 2: G – K, bearb. von Gerhard Keiper und Martin Kröger, Paderborn u.a. 2005, 712f. 76 Dazu auch Jelinek, Deutschland und Israel, 224f. 77 Zu Trützschler: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 5: T–Z und Nachträge, bearb. von Bernd Isphording, Gerhard Keiper und Martin Kröger, Paderbon u.a. 2014, 75f.; AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 10052: Truchseß-Truman, Munzinger-Archiv, 4.9.1971: Heinz Trützschler von Falkenstein; BArch, B 126 (BMF), Bd. 17048, Kurzer Lebenslauf von Trützschler, 21.2.1963; „Offene Worte“, 2.4.1953: „Heinz Trützschler von Falkenstein“. 78 Döscher, Seilschaften, 173, 244; Haas, Beitrag, 204, 265f., 500f.; Conze u.a., Amt, 627. 79 Dazu Döscher, Seilschaften, 239, 244f.; Conze u.a., Amt, 486. 80 Lebenslauf in: Lothar Bossle (Hrsg.), Pforten zur Freiheit. Festschrift zum 85. Geburtstag von Alexander Böker, Paderborn 1997, 415f. 81 AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 10052, „Politik und Wirtschaft“, 12.7.1952; Karl Gerold, „Das schiefe Bild“, in: „Frankfurter Rundschau“, 28.6.1952. 82 „Neue Zeitung“, 3.7.1952: „Israelische Kritik an der Ernennung von Trützschlers“. 83 „Neue Zeitung“, 16.7.1952: „Trützschler geht nach Den Haag zurück“.

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mierte Juden aus Frankfurt a.M. – die Bankiers Curt von Eppstein oder Alexis von Goldschmidt-Rothschildt, die Rechtsanwälte Henry Ormond oder Robert Kempner – im Juni 1952 bei der Bundesregierung gegen die Berufung Trützschlers nach Wassenaar protestieren.84 Doch sie verzichteten darauf, als Barou ihnen auseinandersetzte, dass Trützschlers Mitwirken für einen annehmbaren Kontrakt unabdingbar sei. Barou erklärte intern, er habe Trützschler in der Hand, dieser werde alles durchdrücken. Einige israelische Dokumente enthalten dunkle Anspielungen auf diese Vorgänge. Ministerpräsident David Ben Gurion schrieb Goldmann am 2. Juli 1952, eine einzige Agentur werde zuständig sein für die Verteilung von Aufträgen und die Warenlieferungen. Ob dieses Monopol jüdische Profiteure bremsen könne, sei zweifelhaft. Es gebe viele herausragende Köpfe unter den Juden, aber ebenso „have we been cursed with Jews who are worse than their counterparts among the Gentiles, and I do not know a people among whom there are so many thieves, cheats and profiteers devoid of conscience, as in this small nation whose name is Israel.“85 Diese harten Worte des Staatsgründers über sein eigenes Volk müssen wir nicht auf ihren Realitätsgehalt prüfen, sondern stellen lediglich fest, dass einzelne Personen an der Wiedergutmachung verdienen wollten, obgleich sie dafür gemünzt war, unsägliche Leiden des jüdischen Volks zu mildern. Hoppe ergänzte am 9. Januar 1953, was der syrische Diplomat Mamun Hamui ihm mitgeteilt hatte:86 Blankenhorn habe den amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy gebeten, Adenauer zu sagen, eine Entschädigung an die Juden sei wünschenswert.87 Das State Department bestritt gegenüber arabischen Regierungen jede Intervention. Tatsächlich sei die Sympathie für das jüdische Anliegen eher lau, weil die Remilitarisierung des neuen Verbündeten gegen die Sowjetunion und die nur langsam einsetzende ökonomische Stabilisierung der Bundesrepublik sich damit nur schwer vereinbaren ließen.88 Indessen gab McCloy zu verstehen, dass Schilumim nicht scheitern dürfe.89 In der deutschen Presse wurde laut Hamui die Meldung lanciert, die ägyptische Regierung habe Bonn zu Wirtschaftsgesprächen eingeladen. Dies sei vermutlich eine „Zweckmeldung des Blankenhorn-Kreises“, denn in Wirklichkeit drohe ein Boykott des deutschen Handels durch die arabischen Staaten. Nach arabischen Angaben drängten Blankenhorn und Hallstein auf eine Ratifizierung des Abkom84 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19, Aufzeichnung „Lewy-Komplex“, o.D. 85 Documents on the Foreign Policy of Israel, Vol. 7 (1952), Companion Volume, Nr. 204, Anm. 3, 144. Deutsch in: Jelinek (Hrsg.), Moral, Dok. Nr. 39. 86 BArch, NL Blücher, Bd. 102, Bl. 132–133, und Bd. 147, Bl. 30–31, Aktennotiz Hoppes, 9.1.1953. Vgl. auch Jelinek, Deutschland und Israel, 175, 219. 87 Dazu Constantin Goschler, Wiedergutmachung: Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945–1954 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 34), München/Wien 1992, 279f.; Hansen, Schatten, 105–107; von Jena, Versöhnung, 471, 478. 88 Vgl. Yeshayahu A. Jelinek, Israel und die Anfänge der Shilumim, in: Herbst/Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, 119–138, hier: 129–131, 133–135. 89 Vgl. Thomas Alan Schwartz, Die Atlantik-Brücke. John McCloy und das Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M./Berlin 1992, 259–266.

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mens im Januar 1953, während die Arabisten des Auswärtigen Amts aus Karrieregründen mit ihrer Skepsis über den Vertrag hinter dem Berg hielten.90 Indessen gibt die Quelle der Anschuldigungen zu denken: Der syrische Diplomat Mamun Hamui war einer der engagiertesten Kämpfer gegen das Wiedergutmachungsabkommen in Deutschland. Seine Dramatisierung des arabischen Protests ist bezeichnend. Zwar schlugen die Wellen der Empörung in der arabischen Welt kurzzeitig hoch, verebbten aber schnell wieder. Hamui verfolgte die Strategie, die Verantwortung für den Vertrag mit Israel Blankenhorn zuzuschieben und ihm persönliche Motive zu unterstellen. Blankenhorn bat den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Otto John, am 9. Dezember 1952, etwas gegen die Verleumdungen zu unternehmen, die über ihn kursierten.91 Böker hielt fest, er habe zuverlässige Mitteilungen darüber erhalten, dass dpa-Chef Fritz Sänger (SPD) den Journalisten Dieter Gütt mit Recherchen über Blankenhorn betraut habe.92 Sängers Position wird von einem Schreiben an Arno Rudert („Frankfurter Rundschau“) vom 17. September 1951 beleuchtet, in dem er als Privatmann zur Artikelserie über die Vergangenheit des Auswärtigen Amts gratuliert hatte.93 Albert Radke, der Vizepräsident des BfV, teilte Blankenhorn am 5. Februar 1953 mit, hinter den Verleumdungen steckten auch neofaschistische Kräfte.94 Blankenhorn schrieb Otto John am 6. März 1953, er habe Regierungsrat Josef Merfels nach Belgrad zu Botschafter Hans Kroll geschickt, der Näheres wisse.95 Was brachte Merfels in Erfahrung?96 Die Informationen kämen aus der unmittelbaren Umgebung Blankenhorns. Es gebe drei Gruppen, die dahinter steckten: In erster Linie FDP-Politiker, u.a. Ernst Achenbach und Rudolf Rahn, des Weiteren Bankiers wie Abs und Fritz Andre, schließlich einige bayerische Abgeordnete um Franz Josef Strauß. Abs soll gegenüber den FDP-Politikern gesagt haben, Blankenhorn habe eingeräumt, Geld erhalten zu haben; es sei aber für die CDU gewesen, nicht für ihn persönlich. Die Motive bei den drei Gruppen seien unterschiedlich. Es gebe Gegner des Vertrages mit Israel, die Blankenhorn ziehen, den Kanzler zu dem Vertrag überredet zu haben. So höre man es von den Bankiers. Die FDP-Politiker ließen sich hingegen von ihrer Ablehnung der Außenpolitik Adenauers leiten. Sie behaupteten, in der Umgebung des Kanzlers befänden sich Leute, die für den britischen oder den französischen Geheimdienst arbeiteten. Die Kritik entzünde sich nicht zuletzt an Otto John. Dessen Verschwinden nach Ost90 BArch, NL Blücher, Bd. 98, Bl. 66–68, Anlage zur Aufzeichnung Hoppes über Gespräch mit arabischem Diplomaten, 19.12.1952. 91 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin (PA/AA), B 2 (Büro Staatssekretär), Bd. 116, Bl. 34–35. Dazu auch Ramscheid, Blankenhorn, 201. 92 PA/AA, B 2, Bd. 116, Bl. 36. 93 BArch, NL Mansfeld, Bd. 8. 94 PA/AA, B 2, Bd. 116, Bl. 13. 95 Ebd., Bl. 8. 96 Ebd., Bl. 9–10, Aufzeichnung Merfels, 5.3.1953. Dazu auch Ramscheid, Blankenhorn, 202; Cordula Kühlem, Hans Kroll (1898–1967). Eine diplomatische Karriere im 20. Jahrhundert (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 53), Düsseldorf 2008, 207.

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Berlin am 20. Juli 195497 war sicherlich das gravierendste Indiz dafür, dass einige Befürchtungen von Blankenhorns Kritikern berechtigt waren. Aus anderer Quelle (sowjetischen Ursprungs) verlautete, einige Leute machten mit ihrem Wissen über die Vergangenheit von deutschen Diplomaten Geschäfte.98 Dabei fielen folgende Namen: Hans Schroeder, Werner Best, Rudolf Rahn und Ernst Achenbach. Immerhin fällt auf, dass einige Namen sich mit den von Merfels ermittelten decken. Hans Schroeder stand seit Februar 1941 an der Spitze der Personalabteilung des Auswärtigen Amts.99 Werner Best machte Karriere in Gestapo und Reichssicherheitshauptamt und wurde bei der Militärverwaltung von Frankreich und Dänemark berüchtigt.100 Rudolf Rahn soll als Bevollmächtigter bei der italienischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges in Judendeportationen verwickelt gewesen sein.101 Ernst Achenbach hatte als Botschaftsrat in Paris mit ähnlichen Mordaktionen zu tun.102 Best arbeitete nun in Achenbachs Anwaltskanzlei in Essen, von wo aus er für eine Generalamnestie für Kriegsverbrecher kämpfte; beide gerieten bei der Naumann-Affäre von 1953 um eine mutmaßliche Unterwanderung der FDP in Nordrhein-Westfalen durch neonazistische Kräfte erheblich unter Druck.103 SED-Blätter wie der Berliner „Morgen“ versäumten nicht, Tatsachen und Geraune zu vermischen.104 Die kommunistische Linke profitierte von Erfindungen bzw. Übertreibungen der neonazistischen Rechten – das beflügelte zwar die Phantasie, schadete aber der Wahrheitsfindung. Im Juni 1954 verlautete aus sowjetischen Quellen in Genf, Blankenhorn habe israelische Reparationsforderungen bei der Bundesregierung kräftig gefördert105, Franz Josef Strauß deshalb die Abset97 Dazu Bernd Stöver, Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den Aussagen des deutschen Geheimdienstchefs gegenüber MfS und KGB, in: VfZ 47 (1999), 103–136. Für die Entführungsthese: Klaus Schaefer, Der Prozess gegen Otto John. Zugleich ein Beitrag zur Justizgeschichte der frühen Bundesrepublik Deutschland (Wissenschaftliche Beiträge aus dem TectumVerlag, Reihe Rechtswissenschaften, Bd. 32), Marburg 2009. 98 BArch, NL Mansfeld, Bd. 4, Albert Deschanel, „Der Kampf des Doctor Otto John gegen die Nazis in Bonn“, in: „Diplomatische Nachrichten der Woche“ (Genf), 23.7.1954. 99 Conze u.a., Amt, 156–158. Zu Schröder: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 4: S, bearb. von Bernd Isphording, Gerhard Keiper und Martin Kröger, Paderborn u.a. 2012, 169f. 100 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 2001. Zu Best: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 1: A – F, bearb. von Johannes Hürter, Martin Kröger, Rolf Messerschmidt, Christiane Scheidemann, Paderborn u.a. 2000, 137f. 101 Conze u.a., Amt, 269–272, 328. Zu Rahn: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 3, 557–559. 102 Conze u.a., Amt, 19, 356. Zu Achenbach: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 1, 3f. 103 Zur Naumann-Affäre zuletzt: Günter J. Trittel, „Man kann ein Ideal nicht verraten“: Werner Naumann – NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2013. 104 „Der Morgen“, 27.6.1954: „Neuer Skandal um Blankenhorn“. 105 BArch, NL Mansfeld, Bd. 4, Albert Deschanel, „Neue Affaeren im Bonner Außenamt“, in: „Diplomatische Nachrichten der Woche“ (Genf), 25.6.1954. Weitere Angriffe enthielt ein

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zung Blankenhorns verlangt106. Hinter den Enthüllungen in Genf steckten die 1951 in die UdSSR geflüchteten britischen Doppelagenten Guy Burgess und Donald Maclean.107 In einem Geheimdienstbericht vom 5. Mai 1953 wurde ausgeführt, ein Großkaufmann aus Bonn-Beuel habe mit Hilfe von Franz Josef Strauß Handelslizenzen für Ägypten zu erhalten versucht.108 Adenauer habe eine entsprechende Bitte von Strauß mit der Begründung abgelehnt, jener Beueler Geschäftsmann Joachim Hertslet sei ein Landesverräter, da dieser sich Hallstein zufolge in Kairo abfällig über die Bundesregierung geäußert habe.109 Hertslet sagte Strauß daraufhin, er besitze Beweise dafür, dass Nahum Goldmann einen jüdischen Bankier Lewy angewiesen habe, Blankenhorn 25.000 DM gutzuschreiben. Er solle dafür die vereinbarte Form des Wiedergutmachungsabkommens mit Israel durchsetzen, gegen die Wirtschaftsminister Erhard und sein Ministerialrat Strack kämpften. Der „Spiegel“-Redakteur Werner Volkmar habe davon erfahren. Im Zusammenhang mit dem Besuch einer deutschen Regierungsdelegation in Ägypten vom Februar 1953 meldete der „Spiegel“, Lewy zeige über Deckfirmen Interesse an ägyptischer Baumwolle, die er bei seinem Streben nach geschäftlicher Abwicklung der Wiedergutmachungsleistungen an Israel verwenden wolle.110 Später stand im „Spiegel“ zu lesen, Blankenhorn hätte Ministerialrat Strack nicht so rau behandelt, wenn dieser nicht Lewys Geschäften in die Quere gekommen wäre.111 Blankenhorn und Lewy seien über die Abwicklung des Wiedergutmachungsvertrags gleicher Meinung gewesen. Hans Strack wurde durch eine Intrige Hallsteins und Blankenhorns zur Jahreswende 1952/53 von seinem Posten als Nahostreferent im Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) entfernt.112 Nun mag der „Spiegel“ mitunter antisemitische Klischees gepflegt haben113 – in diesem Fall gab es aber reale Ursachen, die nichts mit Religion zu tun haben.

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obskures, in Paris und Den Haag erscheinendes Magazin: BArch, B 136, Bd. 241, Henry Riolle, „Kriminalaffären im Auswärtigen Amt in Bonn“, in: „La Vie internationale et diplomatique“, 6.8.1952; AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 5730: Herbert Blankenhorn, Henry Riolle, „Einsturz im Bonner Außenministerium“, in: „La Vie internationale et diplomatique“, 17.6.1953. Strauß forderte 1953 mehrfach die Entmachtung Blankenhorns. Dazu demnächst Herbert Elzer, Anklage gegen die Bundesregierung. Der Fall Hertslet-Strack und das Verhältnis von Politik und Justiz in der Ära Adenauer, Teil III, Kap. I.5. Zu diesen Doppelagenten: Anthony Glees, The Secrets of the Service. British Intelligence and Communist Subversion 1939–1951, London 1987, 1–17, 354–368; Oleg Gordiewski/ Christopher Andrew, KGB. Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow, München 1990, bes. 515–520. AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 5730 und Bd. 5731: Herbert Blankenhorn, 003922, Betr.: Herbert Blankenhorn/Konrad Schmeisser, 5.5.1953. Zu den Hintergründen: Elzer, Anklage, Teil II. „Der Spiegel“, Nr. 9/1953, 25.2., 15f.: „Arabien-Boykott: Scheitern einer Mission“. „Der Spiegel“, Nr. 16/1953, 15.4., 8–9: „Nach Ägypten abgereist“. Dazu demnächst: Elzer, Anklage, Teil III. David Heredia, Der Spiegel and the Image of Jews in Germany: The early Years (1947– 1956), in: Yearbook Leo Baeck Institute 53 (2008), 77–106. Mit Bezug auf Lewy: Ebd., 97.

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SPD-Pressechef Fritz Heine hörte von Franz Josef Strauß vertraulich Details über die Rolle Blankenhorns bei den Vereinbarungen über die Entschädigungszahlungen an Israel.114 Strauß erwähnte die Meldung einer saudi-arabischen Zeitung, Blankenhorn und sein Persönlicher Referent Böker hätten je 25.000 DM erhalten. Lewy habe die Verhandlungen maßgeblich beeinflusst. Anfang Januar 1954 fand eine Unterredung zwischen Hertslet, verschiedenen Politikern, dem Journalisten Hans Gerd Schulz und dem Herausgeber der „Allgemeine[n] Wochenzeitung der Juden in Deutschland“, Karl Marx, statt.115 Erich Mende116 erklärte, er habe vor seiner Fraktion Adenauer gefragt, ob es zutreffe, dass zwei höheren Beamten 100.000 DM von der Hardy-Bank in Frankfurt a.M. überwiesen worden seien, weil sie das Verfahren beschleunigt hätten. Der Kanzler habe die Zahlung durch das genannte Bankhaus bestätigt; es sei nicht erwiesen, dass Blankenhorn und Böker die Empfänger waren. Mende kommentierte, die Gerüchte über eine Bestechung wollten nicht verstummen. Einem Verfahren werde ausgewichen. Mende erinnerte ferner an die „eigenartigen Angriffe“ gegen Strack. „Steckt etwa eine verfilzte Clique im AA“ dahinter? Bestehe nicht eine „leichte Anfälligkeit für Erpressungen durch § 175117?“ Karl Marx sagte, er kenne Lewy nicht und habe sich Ende 1951 nach ihm erkundigt. Lewy wollte sich das Monopol für Geschäfte mit Israel sichern.118 Er werde aber vom „offiziellen Israel“ konsequent abgelehnt. Auch Marx hatte Gerüchte über Schmiergelder gehört. Der renommierte Bonner Journalist Robert Strobel119 – ein (wenngleich nicht unkritischer) Bewunderer Adenauers120 – notierte im März 1954121, Lewy spanne

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Zur NS-Belastung von „Spiegel“-Mitarbeitern: Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998, 316–336. AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 5731, und Strach-Strack, ohne Nr., Mappe Hans Strack, „Von Heine“, Streng Vertraulich, 3.2.1953. Dazu auch Michael Mansfeld, Bonn, Koblenzer Straße. Der Bericht des Robert von Lenwitz, München 1967, 414f. PA/AA, B 130 (VS-Registratur), Bd. 5509, unpag.; AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 4296: Joachim Hertslet. Zu Marx: Andrea Sinn, Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd. 21), Göttingen 2014, 56–84. Marx unterstützte in seiner Zeitung die Wiedergutmachung für Israel nachdrücklich und lobte Adenauers Handeln. Mende war 1953 Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, 1957 Fraktionsvorsitzender. Den Parteivorsitz übernahm er 1960, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen wurde er 1963. Zu Mende vor allem: Lutz Nickel, Dehler – Maier – Mende. Parteivorsitzende der FDP: Polarisierer – Präsident – Generaldirektor (DemOkrit. Studien zur Parteienkritik und Parteienhistorie), München 2005, Kap. 6. Gemeint ist der Artikel im StGB über das Verbot homosexueller Handlungen. Knapp zu Barous und Lewys Geschäften: Shlomo Shafir, Der Jüdische Weltkongreß und sein Verhältnis zu Nachkriegsdeutschland 1945–1967, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1992, 210–237, hier: 220f. mit Anm. 39, 234. Zu Strobel (1898–1994), der die „Zeit“ und mehrere Tageszeitungen in Bonn vertrat und Vorsitzender des Deutschen Presseclubs Bonn war: Heinz Murmann, Mit “C” ist es feiner: Der Deutsche Presseclub Bonn von 1952 bis heute, Bonn 1997, 32–35. Das zeigt sein Bild-Text-Band: Robert Strobel, Adenauer und der Weg Deutschlands, Luzern/Frankfurt a.M. 1965.

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in geschickter Weise bekannte Politiker wie Pünder für seine geschäftlichen Pläne ein. Am 22. Juli 1954 hielt Strobel Folgendes fest:122 Fritz Schäffer kam angeblich der Sache auf die Spur – allerdings sei er als Gegner des Abkommens bekannt. Immerhin verlaute von verschiedenen Seiten, Hallstein oder Blankenhorn hätten für das Gelingen dieses Vorhabens 100.000 DM erhalten. Schäffer soll es im Kabinett erwähnt und von Adenauer die Antwort bekommen haben: „Da können Se janz beruhigt sein, dat is für ne jute Zweck jejeben worden.“ Ob diese Gerüchte zuträfen, wisse er nicht. Einiges werde von alten Nazis in die Welt gesetzt... Allerdings sei auch unstrittig, dass „manches Rankenwerk“ an diesem Vertrag hänge. Hertslets Rechtsanwalt Karl Leverenz argumentierte in einem Schriftsatz vom 17. Juli 1969:123 Lewy sei damals vergeblich an Hertslet herangetreten, um ihn durch Angebote von seinem Widerstand gegen den Vertrag abzubringen. Lewy pflegte enge geschäftliche Verbindungen zur Firma Brand in Frankfurt a.M. Dort war ein Ägypter österreichischer Herkunft namens Stross tätig, ein guter Bekannter des ägyptischen Presseattachés im Generalkonsulat Frankfurt, Kamal Eldin Galal124. Dieser kannte den Besitzer der großen Tageszeitung „Al Misri“, Mahmoud Abul Fath. Der Anwalt erinnerte an die Korruption, die dieser Kreis betrieb, der zudem im Waffenhandel tätig war.125 Das Auswärtige Amt dürfte durch Lewy oder Galal von Hertslets Kritik an Abul Fath gewußt haben. Durch ihre zweifelhaften Geschäfte erhielt die ägyptische Armee meist veraltete Waffen. Hertslet pflegte beinahe freundschaftliche Beziehungen zu Staatschef General Naguib und riet ihm von privaten Waffenkäufen ab. Abul Fath hatte noch eine Rechnung mit ihm offen – wegen der Waffenschiebereien und der Geschäfte mit der Firma Brand gemeinsam mit Lewy. Sie konnten sich beim Auswärtigen Amt in ein positives Licht setzen und ihre Stellung in Ägypten dadurch festigen. Wie wir sehen, war der Wiedergutmachungsvertrag mit Israel nicht der einzige Gegenstand von Ambitionen und Intrigen. Ein anderer Kreis profitsüchtiger Elemente führte Transaktionen in Ägypten durch, die nicht minder lukrativ schienen und den sensiblen Bereich der Rüstung einschlossen. Offenbar existierten Querverbindungen zwischen diesen heiklen Geschäftsfeldern. Doch es bedarf noch weiterer Betrachtungen darüber …

121 Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Vertrauliche Informationsberichte Robert Strobel, ED 329, Bd. 6, 16.3.1954. 122 Ebd., 22.7.1954. 123 BArch, B 136, Bd. 3805 (auch für das Folgende). 124 Zur Verleumdung Stracks durch Galal: Elzer, Anklage, Teil III, Kap. I. 125 Näheres ebd., Teil III, Kap. I.2. Hertslet war freilich auch selbst im Waffenhandel aktiv.

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Ein hartnäckiger Rechercheur: Michael Mansfeld Michael Mansfeld alias Eckart Heinze (1922–1979)126 sammelte eine Fülle von Details über die wirkliche oder vermeintliche NS-Vergangenheit von Angehörigen des Auswärtigen Amts, womit er gehörig für Wirbel sorgte. Seine Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ lösten 1951 umfangreiche Nachforschungen des Bundestages aus.127 Der Sohn des Direktors eines Braunkohlebergwerks aus Leszno/Lissa in Posen kämpfte im Zweiten Weltkrieg an allen Fronten, wurde schwer verwundet und mehrfach dekoriert. Seit 1949 arbeitete er als Journalist und schrieb Drehbücher. Ausgewogenheit in der Darstellung war nicht die Stärke des als schonungslos-leidenschaftlicher Enthüllungsjournalist berüchtigten Mannes, der umtriebig durch die Welt zog, bevor er sich 1962 in Granada niederließ. Im März 1952 bot der ehemalige Personalchef des Auswärtigen Amts, Hans Schroeder, Mansfeld die Vermittlung von Gesprächen mit Wolfgang Freiherr von Welck (Personalabteilung), Hans von Herwarth (Protokoll) und Blankenhorn an.128 Mansfeld gewann einen guten Eindruck von Freiherr von Welck, der nach Meinung des Journalisten „taktische Rückzugsgefechte“ führte und ihm insgeheim in vielem recht gab. Auch von Herwarth konzedierte gewisse Verstrickungen mancher Diplomaten. Schroeder fuhr Mansfeld zu Blankenhorn, der ihn bat, seine Initiative nicht nach außen hervortreten zu lassen. Bei dem 20minütigen Gespräch präsentierten sich beide laut Mansfeld ebenso verbindlich wie vorsichtig. „Ich halte ihn für einen Mann, der auf mindestens zwei Schultern trägt, der aber gerissen genug ist, um in gefährlichen Momenten einzulenken.“ Blankenhorn beteuerte, bei dokumentierter Belastung werde er durchgreifen; er meine aber, Mansfeld läse manches anders, als es seinerzeit gedacht war. Der Besucher konterte, die exakte Prüfung hätte auch eher Sache des Auswärtigen Amtes sein sollen. Blankenhorn zeigte sich erbost über den ehemaligen Judenreferenten des Auswärtigen Amts, Franz Rademacher129, der die Ghettobilder in seinem Prozess zu erwähnen beabsichtigte und erst davon Abstand nahm, als der Ministerialdirektor in den Zeugenstand treten wollte. Insgesamt habe Blankenhorn versucht, sich mit ihm gegen Ewiggestrige in eine Front zu stellen. Alle drei Begegnungen bewiesen Mansfeld zufolge großen Respekt vor scharfen Reaktionen der öffentlichen Meinung. Von Welck sei offenbar zu Revisionen in der Personalpolitik willens. Aus der Sicht Mansfelds waren Blankenhorn zwar keine schweren Verfehlungen im Dritten Reich anzulasten.130 Die „Spiegel“-Veröffentlichung über die 126 Zu Mansfeld: AdsD, Sammlung Personalia, Bd. 6535: Mannbar-Mansfeld, MunzingerArchiv: Michael Mansfeld, 25.8.1979. 127 Wiederabdruck in: Döscher, Seilschaften, 161–279. 128 BArch, NL Mansfeld, Bd. 4, Aktenvermerk Mansfelds, 30.3.1952. 129 Rademacher wurde im März 1952 vom Landgericht Nürnberg-Fürth zu 3 Jahren und 5 Monaten Gefängnis verurteilt. Dabei versuchte das AA, Einfluss auf den Prozess zu nehmen (Conze u.a., Amt, 479–482). 130 BArch, NL Mansfeld, Bd. 8, Aktennotiz Mansfelds, „Falsche Beurteilung von Einzelfällen durch den Untersuchungsausschuss“, o.D.

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Schmeisser-Affäre131 erschütterte ihn jedoch. Bis zur Klärung müsste Blankenhorn eigentlich beurlaubt werden. Mansfeld warf Blankenhorn vor allem vor, zusammen mit Wilhelm Haas die Hauptverantwortung für die „RenazifizierungsPersonalpolitik“ des Auswärtigen Amts zu tragen. Des Weiteren sei ihm die „Ohrfeige“ an den Untersuchungsausschuss zuzuschreiben, welche die Entsendung Trützschlers nach Wassenaar bedeute. Im Zusammenhang mit Blankenhorn beschäftigte Mansfeld ein Bild, das jenen vor dem Warschauer Ghetto zeige.132 Es gebe Zeugen für die optimistischen Berichte, die Blankenhorn nach dieser Reise über das „erträgliche“ Los der Juden verfasst habe. An anderer Stelle hielt Mansfeld zu dieser ominösen Reise zu den Ghettos von Lublin und Warschau fest:133 Die Fotos entstanden bei einer Besichtigung durch mehrere Presse- und Kulturattachés. Beim Prozess gegen Rademacher wurde diese Reise angesprochen, doch einige Namen von Teilnehmern – wie derjenige Blankenhorns – blieben unerwähnt. Mansfeld selbst verpflichtete sich, Blankenhorn in diesem Kontext nicht zu nennen, aber einige Andeutungen könnte man platzieren… Mansfeld trug also eine Fehde mit Blankenhorn aus, während er Machenschaften beim Vertrag mit Israel zu ergründen trachtete. In einem undatierten Memorandum und in einer „Aufzeichnung für Redaktion“ (des „Spiegel“?) vom 15. Juli 1954 fasste Mansfeld seinen Wissenstand um die Affäre BlankenhornLewy zusammen:134 Lewy besaß in England ein Landhaus und eine Wohnung in London, wo er laut Strauß und Abs Gespräche mit Blankenhorn über die Einschaltung eines Konsortiums in die Wiedergutmachungslieferungen führte. Entsprechende Vorschläge unterbreitete auch Böker in Den Haag den Israelis, welche diese konsequent abwiesen. Es gab Warnungen von jüdischer Seite vor Lewy an die Bundesregierung, insbesondere von Karl Marx. Doch es gelang Lewy, vor Abschluss des Abkommens Geschäfte anzubahnen. So wurde Rohöl von Shell nach Israel in der Erwartung geliefert, der Vertrag werde spätestens im November 1952 ratifiziert sein. Hertslets Störmanöver hielten die Sache auf, Shell drängte, aber kein Haushaltstitel war dafür vorgesehen. Vermutlich schoss der Kanzler deshalb mit Kanonen auf den „Spatzen“ Hertslet, denn Regierungsmitglieder waren plötzlich persönlich haftbar.

131 Blankenhorn hatte 1948 dem französischen Agenten Hans-Konrad Schmeisser vertrauliche Informationen zukommen lassen und dafür materielle Gegenleistungen erhalten. Der „Spiegel“ griff Blankenhorn am 9.7.1952 deswegen an. Dazu Herbert Elzer, Die SchmeisserAffäre: Herbert Blankenhorn, der „Spiegel“ und die Umtriebe des französischen Geheimdienstes im Nachkriegsdeutschland 1946–1958 (Historische Mitteilungen der RankeGesellschaft, Beihefte, Bd. 68), Stuttgart 2008. 132 BArch, NL Mansfeld, Bd. 4, Aktennotiz Mansfelds, o.D. 133 Ebd., Bd. 8, Aktennotiz Mansfelds, Betr.: Personalpolitik Auswärtiges Amt, o.D. 134 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19. Knapper, aber im Kern ähnlich zu Lewy (ohne Erwähnung von Rosensaft) äußert sich ein von August Hoppe weitergeleitetes Rundschreiben „LewyKonsortium und Israelverhandlungen“ (ebd. und BArch, NL Blücher, Bd. 98, Bl. 69–70). Vgl. auch Mansfeld, Bonn, 396.

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Mansfeld unterhielt erstaunlicherweise Kontakt mit Franz Josef Strauß. Dieser wies Hallstein – wie schon Fritz Heine! – auf eine saudi-arabische Zeitung hin, in der Faksimiles der von Lewy an Blankenhorn und Böker gezahlten Schecks abgedruckt seien. Hallstein habe sich verfärbt und bestritten, dass damit irgendetwas bewiesen sei. Schäffer wollte die Ratifizierung des Vertrags hinauszögern, um zu ermitteln, wer tatsächlich für die Forderungen von Shell geradestehen musste. Später wurde die Ratifizierung geradezu durchgepeitscht. Im Bundeshaus verbreitete sich derweil das Gerücht von 100.000 DM, die Lewy an Blankenhorn und Böker gezahlt habe. Schäffer ließ unter einem Vorwand das Bankhaus Hardy von der Steuerfahndung „filzen“, doch es fanden sich nur Materialien über Devisenvergehen Lewys. Von Lewys Konto gingen im Dezember 1951 80.000 DM bar ab, ferner 20.000 DM bzw. 25.000 DM per Scheck. Strauß konfrontierte Adenauer mit dem Ondit über die Bestechung. Dieser rief Blankenhorn hinzu, der alles abstritt, obwohl Strauß ihm energisch seine Kontakte mit Lewy vorhielt. Heutzutage leugne Strauß verständlicherweise diese Version ab: Es habe keinen „Auftritt“ gegeben. Was hätte er tun sollen? Schließlich stehe ihm kein „Agentenapparat“ für Aufklärung zur Verfügung. Es werde nun verständlich, warum Strauß Minister wurde! Ein weiterer Ministerposten für Victor-Emanuel Preusker dürfte auf seine Assistenz bei der 100.000 DM-Spende zurückzuführen sein.135 Manfred Kirschberg136 – ein langjähriger Freund Goldmanns – war schon damals gegen Vereinbarungen mit Israel und der „korrupten“ JCC; die Gelder sollten in eine von den geschädigten Juden getragene Holdinggesellschaft eingezahlt werden. Kirschberg argwöhnte sogar die Veruntreuung zweckgebundener Zahlungen durch die Jewish Restitution Successor Organisation (JRSO).137 Goldmann erklärte Mansfeld im Gespräch: „Ich bin der Vertreter des Weltjudentums, an dessen Gesamtheit wiedergutgemacht werden muss!“ Goldmann betonte erregt, die deutschen Juden hätten noch am meisten retten können; es handle sich um das Judentum insgesamt. Unter diesen Umständen sei es nicht verwunderlich, dass es vielen deutschen Juden in Übersee schlecht gehe, notierte Mansfeld. Leo Baeck sei mit seinem Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany aus verschiedenen jüdischen Organisationen ausgetreten.138

135 Preusker wurde im Oktober 1953 Wohnungsbauminister, Strauß Bundesminister für besondere Aufgaben. 136 Material zu den Aktivitäten von Kirschberg und seiner jüdischen Gruppe in der Schweiz u.a. in: BArch, B 126, Bd. 12429; BArch, NL Blücher, Bd. 141. Vgl. auch Kurt R. Grossmann, Die Ehrenschuld. Kurzgeschichte der Wiedergutmachung, Frankfurt a.M./Berlin 1967, 54f.; Hansen, Schatten, 334f.; Auswärtiger Ausschuß Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953, Nr. 120 (12.3.1953), hier: 1496–1498 (dort und bei Hansen fälschlich: „Kirchberg“). 137 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19, Aktennotiz nach Unterhaltung mit KM, 29.1.1955; Ebd., Entwurf für ein Memorandum zum Israel-Abkommen, o.D.; BArch, NL Blücher, Bd. 141, Bl. 21–28. Die JRSO verwaltete das erbenlose jüdische Vermögen. Zur JRSO: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), Arisierung und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002. 138 BArch, B 126, Bd. 12429, Vermerk Kuschnitzkys, 3.6.1954. Dazu auch Lillteicher, Raub, 391–397.

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Ähnlich rebellisch verhielt sich die Axis Victims League von Bruno Weil.139 Im Endeffekt kamen die Entschädigungszahlungen dem Zionismus zugute, urteilte Mansfeld. Die Tatsache, dass Goldmann einen Schwarzmarktkönig wie Rosensaft zu Verhandlungen schickte und nicht angesehene Juden aus dem Rheinland, sei bezeichnend für die Atmosphäre um das Abkommen.140 Blankenhorn und Hallstein kämpften mit „fast anormale[m] Hass“ und „schmutzigen Methoden“ gegen alle Kritiker der Wiedergutmachung, echauffierte sich Mansfeld. Bei Strack schreckte Blankenhorn vor der Fälschung von Unterlagen nicht zurück! Weitere Zusammenhänge enthüllt eine streng vertrauliche Information Mansfelds vom 1. Juli 1952.141 Es gebe ein Konsortium internationaler Geschäftsleute, das anstrebe, die Alleinverfügung über die Abwicklung der Wiedergutmachungsleistungen zu erhalten. Es habe seine Fäden bis in höchste Regierungsämter gesponnen. Das Konsortium führe in Deutschland die Bezeichnung „Gesellschaft zur Förderung des deutschen Außenhandels“ mit Sitz in Bonn; Geschäftsführer sei Gerhard Lewy. Nicht zufällig befänden sich im gleichen Haus die Räume der Gesellschaft für Industrieforschung von Hans Luther und ein Büro von Hermann Pünder. Lewy sei aber nur Strohmann von Josef Rosensaft, dem „ungekrönte[n] König von Bergen-Belsen“. Über dessen Schiebergeschäfte in diesem jetzt von Displaced Persons (DPs)142 bewohnten ehemaligen KZ hatte ein jüdischer Informant detailliert berichtet. Rosensaft tauge keinesfalls als Beauftragter der israelischen Regierung für die Wiedergutmachung. Das dürfte ihm auch nicht gelingen, da die Regierung in Jerusalem ihm misstraue. Warnungen an die Bundesregierung seien leider unmöglich, weil Blankenhorn und Böker mit Rosensaft kooperieren sollen. Auch zum BMWi habe die Organisation ihre Verbindungen. Rosensaft bleibe stets im Hintergrund. Oft trete an seiner Stelle Noah Barou auf, eigentlich ein honoriger Mann, der aber trotzdem mit Rosensaft zusammenarbeite. 139 Material in: BArch, NL Mansfeld, Bd. 19. Zu Weil: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, Leitung und Bearbeitung: Werner Röder und Herbert A Strauss, München/New York/London/Paris 1980, 803f.; Sabine Bauer-Hack, Die jüdische Wochenzeitung „Aufbau“ und die Wiedergutmachung, Düsseldorf 1994, bes. 84–92, 169–171. 140 Die jüdischen Gemeinden in Deutschland besaßen bis Mitte der 1950er Jahre wenig Einfluss auf das Weltjudentum, das eine Rückkehr ins „Land der Täter“ missbilligte. Dazu Jay Howard Geller, Jews in post-Holocaust Germany 1945–1953, Cambridge 2005. 141 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19. 142 Allgemein zu DPs u.a.: Ben Shephard, The long Road home: The Aftermath of the Second World War, London 2011; Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950 (Beck’sche Reihe, Bd. 1139), München 1995, 19–147. Zur Kriminalität: Ronald Webster, American Relief and Jews in Germany (1945–1960). Diverging Perspectives, in: Yearbook Leo Baeck Institute 38 (1993), 293–321, hier: 310–316; Joanne Reilly, Belsen: the Liberation of a Concentration Camp, New York 1998, 112f.; Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 65), Göttingen 1985, 210–220. Abwiegelnd: Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Aktual. Neuausgabe Frankfurt a.M. 2004, 135–138, 206–208.

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Josef Rosensaft (1911–1975)143, Sohn eines polnischen Schrotthändlers aus einer Kleinstadt bei Krakau, flüchtete beim Transport nach Auschwitz. Er wurde erneut ergriffen, misshandelt, in verschiedene Konzentrationslager eingeliefert und schließlich zum Todesmarsch nach Bergen-Belsen bei Celle geschickt. Dort überlebte er bis zur Befreiung des Lagers und wurde Vorsitzender des Zentralkomitees der jüdischen DPs in der britischen Zone. Der dezidierte Zionist war nach schrecklichen Erlebnissen Verfechter einer unnachgiebigen Erinnerung an den Holocaust. Er wohnte zunächst in Montreux/Schweiz, dann in New York. Seine umfangreiche Kunstsammlung musste nach seinem plötzlichen Tod verkauft werden, da sein extravaganter Lebensstil kostspielig gewesen war. Mansfeld schildert ihn als sympathische, aber temperamentvoll-energische Person, die „wie ein Tiger wirken“ konnte.144 Rosensaft stellte später fest, Bergen-Belsen sei „eine Art extraterritoriale Einheit innerhalb Deutschlands“ gewesen.145 Jüdische Kreise gingen nur zögerlich gegen ihn vor, denn sie fürchteten negative Konsequenzen für das Prestige der Juden in Deutschland. Es sei durch die Vorgänge um Auerbach146 bereits schwer beeinträchtigt.147 Mansfeld verhehlte nicht seine Sorge vor einer neuen Welle des Antisemitismus. Gerade deshalb seien Bestrebungen im Gange, Rosensaft geräuschlos auszuschalten. „Jessel“ bzw. „Jossele“ Rosensaft kontrollierte und schikanierte laut Mansfeld die Bewohner des Lagers.148 Er habe den deutschen Fiskus um 50 Mio. DM geprellt. Als sich 6.000 DPs in Bergen-Belsen aufhielten, bezifferte Rosensaft sie auf 11.400, was ihm 216.000 DM eingebracht haben soll. Bei Razzien von britischem Militär gelang es ihm stets, die Schmuggelware unter Holzstößen oder in Kellern zu verbergen. So wurden mitunter kleine Rationen an Stoff oder Zigaretten gefunden, aber große Mengen an Kaffee, Bargeld und Schmuck blieben un143 Documents on the Foreign Policy of Israel, Vol. 7 (1952). Companion Volume, Nr. 115, Anm. 3, 87; http://en.wikipedia.org/wiki/Josef_Rosensaft, 5.6.2014. 144 Mansfeld, Bonn, 389–392. 145 Zit. nach Brenner, Nach dem Holocaust, 30, vgl. auch ebd., 47–49, 142–146. Zu BergenBelsen nach 1945: Hagit Lavsky, New Beginnings. Holocaust Survivors in Bergen-Belsen and the British Zone in Germany 1945–1950, Detroit/Mi. 2002; Bergen-Belsen: Kriegsgefangenenlager 1940–1945 – Konzentrationslager 1943–1945 – Displaced Persons Camp 1945– 1950. Katalog der Dauerausstellung, hrsg. von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Göttingen 2009, 300–371. Zu Rosensafts führender Rolle dort: Juliane Wetzel, Die Selbstverwaltung der Sche’erit Haplejtah. Das Zentralkomitee der befreiten Juden in Bergen-Belsen 1945–1951, in: Herbert Obenaus (Hrsg.), Im Schatten des Holocaust: Jüdisches Leben in Niedersachsen nach 1945, Hannover 1997, 43–54; Lavsky, New Beginnings, 63–67, 110– 113, 120–123. 146 Der Präsident des Bayerischen Landesentschädigungsamts Philipp Auerbach wurde Anfang 1951 wegen Untreue und passiver Bestechung angeklagt und am 14.8.1952 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wählte daraufhin den Freitod. Zu diesen umstrittenen Vorgängen u.a.: Hannes Ludyga, Philipp Auerbach (1906–1952): Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 8: Judaica, Bd. 1), Berlin 2005. 147 Dazu Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989 (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin, Bd. 4), Frankfurt a.M./New York 1997, 145–174. 148 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19, Aufzeichnung „Lewy-Komplex“, o.D.

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entdeckt. Ein Offizier bescheinigte, dass alles in Ordnung sei – wofür er 5.000 DM erhalten haben soll. Mögen diese Behauptungen nicht leicht beweisbar sein, so gebe es an der Art der Geschäfte Rosensafts nichts zu deuteln, konstatierte Mansfeld. Das bestätigen die Memoiren Goldmanns.149 Er beschreibt die Schiebergeschäfte Rosensafts augenzwinkernd und mit unverkennbarer Vertrautheit. Goldmann zufolge war er klug und in finanziellen Dingen begabt, dabei „ein bisschen rücksichtslos“, mit Witz und Chuzpe ausgestattet – doch ein großer Wohltäter. Goldmann räumt freimütig ein, dass er Rosensafts Bekanntschaft mit Erhard, Blankenhorn und Hallstein zur Übermittlung von Nachrichten bei den Wiedergutmachungsverhandlungen nutzte.150 Mansfeld nannte verschiedene Hotels quer durch Europa, in denen sich Blankenhorn mit Rosensaft getroffen haben soll.151 Bevorzugter Treffpunkt war Scuol im Engadin. Die Telefonate Blankenhorns mit dem in Montreux wohnenden Rosensaft seien von der französischen Sûreté abgehört worden. Mansfelds Anschuldigungen richteten sich ferner gegen den Leiter der israelischen Einkaufsabteilung, Dagani (richtig wohl: Dan).152 Dieser unterhalte mehrere Konten in der Schweiz, die er u.a. zu politischen Bestechungen nutze. Im Jahre 1951 seien Schecks von zweimal 50.000 DM von einem gewissen Pfeiffer eingelöst worden, der ein persönlicher Freund Bökers sei. Es handele sich um Barscheck-Abgänge vom Baseler Konto Daganis. Mansfeld gab später sein Wissen über die Manipulationen beim Israel-Vertrag an Hans Dieter Jaene vom „Spiegel“ weiter und ärgerte sich darüber, dass im akuten Stadium bis Anfang 1953 zu wenig davon bekannt war.153 Augstein sagte in einer Gesprächsrunde beim „Spiegel“ am 11. Mai 1953, man wolle „in der Sache der Bestechung von Blankenhorn durch israelische Stellen“ etwas unternehmen.154 Er tat es aber nicht. So begnügte Mansfeld sich damit, 1967 (!) einen mit partieller Verfremdung operierenden Roman über die eben nicht nur fiktiven Erlebnisse des Diplomaten „Robert von Lenwitz“ zu publizieren. Dieser wird zum deutschen Mittelsmann stilisiert, der Kontakte mit Vertretern des Judentums durchführen sollte.155 Mansfeld ließ dabei erkennen, dass aus seiner Sicht einige der Verantwortlichen kaltschnäuzig und berechnend eine Blutschuld abkaufen 149 150 151 152

Goldmann, Leben, 334–341 (auch für das Folgende). Ebd., 339. BArch, NL Mansfeld, Bd. 19, Aktennotiz, o.D. Vgl. auch Mansfeld, Bonn, 391–394. Hansen nennt als Leiter der israelischen Schilumim-Behörde Hillel Dan (1900–1969). Dieser trat 1954 zurück, weil ihm vorgeworfen wurde, eine bestimmte israelische Gewerkschaft zu begünstigen (Hansen, Schatten, 362f.). Näheres zu Dan: http://www.hileldan.com/about.html, 5.6.2014. Hansen meint wohl die israelische Aufbaugesellschaft Solel Boneh, für die Dan tätig war. 153 BArch, NL Mansfeld, Bd. 19. Das Schreiben ist auf den 16.7. datiert, doch ohne Jahreszahl. 154 BArch, B 141 (Bundesministerium der Justiz), ohne Bandnummer, AZ 4023 E (1), Bd. 1, Bl. 107–110, Geheim, Betrifft: Besuch bei Konrad Schmeisser am 14. und 15. Mai 1953 in München, hier: Bl. 110. 155 Mansfeld, Bonn, 386–395. Vgl. auch „Der Spiegel“, Nr. 3/1968, 15.1., 23–24: „Diplomaten: Silbernes Paulchen“.

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wollten. Die Form des Schlüsselromans diente dazu, juristischen Auseinandersetzungen vorzubeugen, die bei Nennung von „Ross und Reiter“ unabdingbar gewesen wären. Zuvor war die Angelegenheit Ende der 1950er Jahre nochmals an die Oberfläche gelangt. Adenauers Äußerungen in den Fraktionssitzungen von FDP und CDU/CSU am 17. März 1953 – Klärungsbemühungen fünf Jahre später Die Bundestagsfraktion der SPD erkundigte sich in einer Kleinen Anfrage vom 28. November 1957156, ob Blankenhorn 1952 im Rahmen der Verhandlungen um den Israel-Vertrag von dem Kaufmann Lewy durch das Bankhaus Hardy eine Zuwendung für die CDU in Höhe von 100.000 DM erhalten habe. Außenminister Heinrich von Brentano antwortete am 12. Dezember auf die Anfrage der SPD, Blankenhorn habe eine solche Zuwendung nicht in Empfang genommen.157 Worauf basierte diese Erwiderung? Blankenhorn erklärte dem Auswärtigen Amt am 5. Dezember 1957 telegraphisch, eine solche Zahlung von Lewy nicht angenommen zu haben und auch nichts darüber zu wissen.158 Lewy sprach am 11. Dezember unaufgefordert im Auswärtigen Amt vor und beteuerte, der Vorgang sei „frei erfunden“; dies könne auch das Bankhaus Hardy bestätigen.159 Die Behauptung komme einer Verunglimpfung der jüdischen Weltorganisation nahe, denn er müsste das Geld ja von ihr erhalten haben. Diese kurzen Darlegungen Blankenhorns und Lewys wurden also zur Grundlage einer verneinenden Beantwortung im Bundestag gemacht. Zum Verdruss der Bundesregierung griff die „Frankfurter Rundschau“ am 7. Januar 1958 die von der Kleinen Anfrage der SPD aufgewärmten Vorgänge um Lewy auf.160 Mende habe auf Anfrage bestätigt, dass Adenauer 1952 in der FDPFraktion die Spende zugegeben habe. Die FDP schließe daraus, der Betrag sei der CDU zugeflossen. Bundesminister a.D. Victor-Emanuel Preusker161, inzwischen Geschäftsführer des Bankhauses Hardy, machte Adenauer am 8. Januar 1958 auf diese Meldung der „Frankfurter Rundschau“ aufmerksam.162 Im Jahr 1952 „geis156 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Anlagen zu den Stenographischen Berichten: Drucksachen. Wahlperiode III, Bd. 55 (DS 1–130), DS 27, Kleine Anfrage, o. Nr. 157 Ebd., DS 103. Dazu FAZ, 7.1.1958: „Kein Geld an Blankenhorn“. 158 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Düsseldorf (LAV NRW), Gerichte Rep. 104 (Landgericht und Staatsanwaltschaft Bonn), Bd. 289, unpag., Tel. Blankenhorns (Paris) an Auswärtiges Amt, Nr. 444, 5.12.1957. 159 Ebd., Vermerk Löns, 11.12.1957. 160 „Frankfurter Rundschau“, 7.1.1958: „Wer erhielt die 100000 DM?“ 161 Zu Preusker: Christopher Hausmann, Victor-Emanuel Preusker, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, 529–532. 162 BArch, B 136, Bd. 1149, Bl. 157–158. Das Berliner Bankhaus Hardy war 1950 in Frankfurt a.M. neu gegründet worden. Zur Geschichte: Erich Achterberg/Victor Emanuel Preusker, Berliner Banken im Wandel der Zeit – Wirtschaftsbilanz eines Jahrhunderts. Eine Schrift zum

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terte in der Tat ein solches Gerücht (...) irgendwo in Bonn herum.“ Die damaligen Geschäftsführer von Hardy, Walter Teichmann und Karl Pfeiffer, suchten daraufhin Finanzminister Schäffer auf und legten dar, weder für Blankenhorn, die CDU oder sonst jemand seien durch das Bankhaus Hardy 100.000 DM gezahlt worden. Reinhold Mercker (Kanzleramt) erarbeitete am 11. Januar 1958 eine Gegendarstellung, die die „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichen sollte.163 Adenauer selbst richtete am 13. Januar einen Brief an Erich Mende.164 Er wies auf den Beitrag der „Frankfurter Rundschau“ hin, die sich auf ihn berufe. Es „steht einwandfrei fest“, dass im Kontext des Wiedergutmachungsabkommens keinerlei Zahlungen an die CDU geflossen seien. Er selbst habe sich vor der FDP-Fraktion niemals in diesem Sinne geäußert. Er wäre dankbar, wenn auch Mende eine Richtigstellung in der Öffentlichkeit vornähme. Mende enttäuschte am 15. Januar seine Erwartungen:165 Laut Fraktionsproto166 koll weilten Adenauer und Hallstein am 17. März 1953 in der FDP-Fraktion, um Bedenken gegen die Ratifizierung des Israel-Vertrags zu entkräften. 44 Mitglieder unter Vorsitz von Hermann Schäfer nahmen teil. Nach den Darlegungen der beiden Besucher wurden Fragen gestellt. Er (Mende) warf dabei die 100.000 DM-Spende über die Hardy-Bank auf. Adenauer habe ihm erwidert, in der Unionsfraktion sei ihm dieselbe Frage von Franz Josef Strauß gestellt worden. Der Kanzler habe daraufhin die Zahlung von 100.000 DM bei der Hardy-Bank eingeräumt. Empfänger seien weder Blankenhorn noch Böker gewesen, auf die offenbar angespielt wurde. Daraufhin habe Preusker sich gemeldet und erklärt, diese angebliche Zahlung sei ausgeschlossen, weil er als Angestellter von Hardy sonst davon wüsste. Mende ergänzte, am heutigen 15. Januar 1958 habe er in der Fraktion auf Adenauers Schreiben hingewiesen und gefragt, ob es noch Kollegen gäbe, die sich an den Vorgang erinnerten. Fraktionsgeschäftsführer Fritz Niebel – der seinerzeit protokollierte – habe seine Schilderung bestätigt, ebenso einige andere Mitglieder der Fraktion. Aus diesen Gründen könne er dem Wunsch des Kanzlers leider nicht nachkommen. Mende versäumte nicht, seinen Briefwechsel mit Adenauer der Presse zur Kenntnis zu bringen.167

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75jährigen Bestehen des Bankhauses Hardy & Co. GmbH. Frankfurt-Berlin, Darmstadt 1956, 101–108. BArch, B 136, Bd. 1149, Bl. 159. Adenauer und die FDP, bearb. von Holger Löttel (Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe), Paderborn 2013, Nr. 185. Ebd., Nr. 186. Das von Mende unterzeichnete Kurzprotokoll vom 18.3.1953 über die Sitzung des Vortages erwähnt den Besuch Adenauers und Hallsteins, die über das Wiedergutmachungsabkommen referierten. In der Aussprache sei der Grundgedanke der Wiedergutmachung bejaht worden. Kritisiert wurden aber der Abschluss mit dem Staat Israel, die Einbeziehung von rund 350.000 Juden aus Osteuropa und die Auswirkung auf die arabischen Staaten. Über die angebliche Spende verlautet nichts (Archiv des Liberalismus Gummersbach, NL Wolfgang Mischnick, A 40-733). Ich danke Herrn Raymond Pradier von der Friedrich-Naumann-Stiftung für seine Hilfe bei dieser Recherche. „Düsseldorfer Nachrichten“, 16.1.1958: „Politischer Streit um 100000 DM“; „Die Welt“, 16.1.1958: „Streit um 100.000 DM“.

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Was aber hatte sich in der CDU/CSU-Fraktion zugetragen? Das Protokoll der Sitzung vom 17. März 1953 gibt zumindest gewisse Aufschlüsse.168 Als kontrovers über das Israel-Abkommen debattiert wurde, insinuierte der CSU-Politiker Joseph Ernst Fürst Fugger von Glött, er sehe darin ein „künstliches Alibi“ für nationalsozialistisch Belastete bei der Personalpolitik des Auswärtigen Amts. Diejenigen, die laut Protokoll diese Ansicht vertraten, erhoben die Beschuldigung, „daß bei Ministerialdirektor Blankenhorn und bei Dr. Pünder persönliche Interessen wegen ihrer Beziehungen zu einem gewissen Herrn Levy vorlägen, der die Lieferungen nach Israel abwickeln solle.“ Der Bearbeiter der Edition, Helge Heidemeyer, identifiziert „Levy“ als Professor Ernst Levy, einen Rechtshistoriker, der zur deutschen Delegation bei der Verhandlung über das Israel-Abkommen gehört haben soll.169 In Wirklichkeit ging es um Gerhard Lewy. Strauß sprach vermutlich die angebliche 100.000 DM-Spende an; dies blieb im Protokoll aus nahe liegenden Gründen unerwähnt. Eine Bestechung Blankenhorns wurde demnach bei FDP und CDU thematisiert. Die „Frankfurter Rundschau“ zitierte die Gegendarstellung des Kanzlers im Rahmen eines weiteren Artikels zu diesem Thema vom 16. Januar 1958.170 Mende beharre auf seiner Sichtweise, und mehrere Abgeordnete hätten dies bekräftigt. Mende sagte der „Rundschau“ auf Anfrage, er sei bereit, seine Aussage notfalls zu beeiden. Das Kanzleramt entwarf einen Brief an Preusker, doch Globke sah zunächst davon ab, ihn zu expedieren.171 Erst die mehrfache Wiederholung Mendes dürfte ihn veranlasst haben, am 27. Februar ein Schreiben an Preusker zu schicken.172 Globke knüpfte an die Schilderung des Sachverhalts folgenden Kommentar: Er wolle den guten Glauben Mendes nicht anzweifeln, doch er weise nachdrücklich darauf hin, dass dessen Schilderung jeder Plausibilität entbehre, selbst wenn sie dem Protokoll der Fraktionssitzung entsprechen sollte. Hätte Adenauer in der FDP-Fraktion wirklich eine solche Äußerung getan, wäre eine heftige Reaktion unausweichlich gewesen. Diese blieb aber aus. So möge Preusker in einer zur Weitergabe an die Presse geeigneten Form verdeutlichen, über das Bankhaus Hardy sei kein Geld an die CDU geflossen, und der Kanzler habe in der FDP-

168 Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953, bearb. von Helge Heidemeyer (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 11/I), Düsseldorf 1998, Nr. 384a, hier: 688f. In der Sitzung der Landesgruppe der CSU vom 17.3.1953 wurde zwar der Wiedergutmachungsvertrag behandelt, dem Protokoll zufolge aber nicht die mutmaßliche Bestechung. Dazu: Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag: Sitzungsprotokolle 1949–1972, bearb. von Andreas Zellhuber und Tim B. Peters (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 15/1), mit CD-Rom-Supplement, Düsseldorf 2011, hier: CD-ROM-Supplement, Nr. 75, 127. 169 CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953, Personenregister, 758. 170 „Frankfurter Rundschau“, 16.1.1958: „Irrt sich der Kanzler oder die FDP?“ 171 BArch, B 136, Bd. 1149, Bl. 175–176. 172 Ebd., Bl. 182–184.

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Fraktion keine derartigen Angaben gemacht. Ähnliche Bitten wurden auch an Hermann Schäfer, August Martin Euler und Ludwig Schneider gerichtet.173 Mehr als vier Monate tat sich nichts. Günther Abicht fragte Globke am 15. April, ob die vier Herren an die Beantwortung erinnert werden sollten. Globke erwiderte am 21. April, Euler zufolge wollten die Angeschriebenen noch Besprechungen untereinander abhalten.174 Das Kanzleramt stellte am 3. Juli 1958 fest, der Staatssekretär habe angeordnet, nichts mehr zu veranlassen, sofern die Sache nicht wieder „hochkommt“.175 Am 13. August meldete sich Preusker dann doch.176 Seiner Erinnerung nach habe Mende tatsächlich nach dem Wahrheitsgehalt eines solchen Gerüchtes gefragt, woraufhin der Kanzler auf eine analoge Erkundigung durch Strauß hinwies. Er entsinne sich aber keineswegs daran, dass Adenauer anschließend eine 100.000 DM-Spende bei der Hardy-Bank prinzipiell eingeräumt habe. Die damalige FDP-Fraktion hätte beim Vorliegen eines „außerordentlich schwerwiegenden Korruptionsfalles“ niemals tatenlos geschwiegen. Hermann Schäfer teilte Globke am 20. August 1958 mit, er habe keine Unterlagen finden können.177 Er habe diese Dinge nicht besonders ernst genommen. Euler und Schneider wurden erneut gebeten, sich zu äußern.178 Euler, mittlerweile Generaldirektor bei Euratom in Brüssel, gelangte am 16. September nach sorgfältigen Bemühungen zu folgenden Ergebnis, das er in einer Notiz vom 28. Juli (!) niederlegte:179 Als Adenauer nach einer Zahlung an die CDU über Hardy gefragt wurde, erklärte er, seines Wissens treffe das nicht zu. Preusker bestätigte dies. Trotz der Unterstützung durch Preusker, Euler und Schäfer verzichtete das Kanzleramt auf eine Presseverlautbarung. Lagen dem taktische Erwägungen zugrunde oder bestanden doch Zweifel an der Authentizität der „positiven“ Schilderungen? Die zeitlichen Verzögerungen und Teildementis gaben gewiss zu denken. Doch unternommen wurde nichts. Am 27. August 1959 erstattete ein Manfred W. aus Mülheim an der Ruhr Strafanzeige beim Oberstaatsanwalt Bonn gegen Blankenhorn wegen passiver Bestechung.180 Er bezog sich auf einen Pressebericht, in dem angegeben wurde, Blankenhorn habe im Zusammenhang mit dem Wiedergutmachungsvertrag 100.000 DM erhalten. Sollte diese Angabe unzutreffend sein, richte sich der Strafantrag gegen den Verantwortlichen der Zeitschrift „Neue Politik“ (d.h. Wolf Schenke)181 wegen Verunglimpfung. In der Ausgabe vom 15. August 1959182 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Ebd., Bl. 184–186, Ebd., Bl. 191f. Ebd., Bl. 187. Ebd., Bl. 188–190. Ebd., Bl. 191. Entsprechende Schreiben gingen am 6.9.1958 ab (ebd., Bl. 194 bzw. 195). Ebd., Bl. 196 und 197. LAV NRW, Gerichte Rep. 104, Bd. 289, Bl. 1. Zu Wolf Schenke, einem national-neutralistischen Journalisten und Verleger: Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 127), Düsseldorf 2001, 195–203.

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fragte das Magazin, ob je dem vom Bonner Richter Quirini erwähnten Verdacht nachgegangen worden sei, dem zufolge jüdische Kreise 100.000 DM anlässlich des deutsch-israelischen Vertrages von 1952 gezahlt hätten. Als Helmut Quirini im Strack-Prozess vor dem Landgericht Bonn am 2. März 1959 laut Tonband nach der angeblichen 100.000 DM-Spende fragte, erwiderte Blankenhorn, das sei geklärt.183 Quirini wollte wissen, ob das heißen solle, es sei durch ein Strafverfahren erledigt. Der Ministerialdirektor erwiderte: Nein, nicht durch ein Strafverfahren und auch nicht auf Veranlassung der Bundesregierung. Mehr verlautete in diesem Prozess dazu nicht. Die Staatsanwaltschaft Bonn vernahm Wolf Schenke am 4. Januar 1960.184 Er gab zu, den Artikel in der „Neuen Politik“ vom 15. August 1959 verfasst zu haben. Die 100.000 DM wurden schon in früheren Beiträgen erwähnt, ohne Konsequenzen hervorzurufen. Günter Kaufmann, Korrespondent der „Neuen Politik“, erinnerte sich am 9. Januar 1960 an die Erörterung der 100.000 DM für Blankenhorn beim Evangelischen Kirchentag in Frankfurt 1959.185 Karl Marx habe angemerkt, seines Wissens läge der Betrag höher. Der Journalist Christoph Freiherr von Imhoff erklärte am 18. Januar 1960186, als damals von Blankenhorn die Rede war, dürfte wirklich über „Schmiergelder“ gesprochen worden sein, die ihm für den Israel-Vertrag zuteil wurden. Es dauerte bis zum 28. März 1963, ehe die Vernehmung von Marx stattfinden konnte.187 Der Chefredakteur der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ vermochte sich an die Begebenheit beim Evangelischen Kirchentag 1959 nicht mehr zu entsinnen. Der Staatsanwalt las ihm Kaufmanns Aussage vor. Daraufhin sagte Marx, Kaufmann müsse ein „Phantast“ sein. Er habe niemals dergleichen über gezahlte Gelder für den Wiedergutmachungsvertrag gesagt. Marx unterstrich, Gerhard Lewy sei für die Vertreter des Staates Israel stets persona non grata gewesen. Der Bonner Oberstaatsanwalt Franz Drügh resümierte am 4. April 1963, die Vernehmungen hätten nicht zu tragfähigen Ergebnissen geführt. Das Verfahren wurde eingestellt.188 Schlussbetrachtung: Nur ein Gerücht? Parteispende und Korruption beim Wiedergutmachungsvertrag Die vorliegenden Indizien reichen aus, um den Sachverhalt im groben zu rekonstruieren. Ein von Josef Rosensaft geleitetes Konsortium mit Gerhard Lewy als 182 „Neue Politik“, Nr. 33, 15.8.1959: „US-Geheimdienstgelder für die Bundestagswahl 1953? Dr. Fabian von Schlabrendorff – wie war das?“ 183 LAV NRW, Gerichte Rep. 104, Bd. 289, Bl. 28–30; „Der Spiegel“, Nr. 13/1959, 25.3., 17– 21: „AA-Prozeß: Auf Motiv-Suche“, hier: 18–20. 184 LAV NRW, Gerichte Rep. 104, Bd. 289, Bl. 13f. 185 Ebd., Bl. 18–19. 186 Ebd., Bl. 20–21. 187 Ebd., Bl. 41–42. 188 Ebd., Bl. 44–56.

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maßgeblichem Akteur wollte am Wiedergutmachungsvertrag verdienen. Lewy verfügte über Kontakte zu herausragenden Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Seinen wichtigsten Stützpunkt bildete eine Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels, deren Aufsichtsrat mit illustren Köpfen wie Hermann Pünder gespickt war. Hinter der Maske von Bonhomie und gewandten Umgangsformen verbarg sich bei Lewy ein zweifelhafter Charakter. Lewy kündigte den Aufsichtsratsmitgliedern seiner Gesellschaft ständig lukrative Transaktionen an, die aber nie stattfanden. In Wirklichkeit wickelte er offenbar für das Konsortium Geschäfte ab, bei denen er von klingenden Namen wie Pünder, Luther oder Teichmann profitierte. Auch beim geplanten Deal im Gefolge des deutschisraelischen Abkommens scheint Lewy mit der Gesellschaft für sich geworben zu haben. Die meisten Mitglieder des Aufsichtsrats ahnten nicht, wie ihr honoriges Bestreben zur Ankurbelung des deutschen Außenhandels missbraucht wurde. Pünder jedenfalls zeigte sich etwas naiv und weltentrückt. Er beobachtete Lewy gegenüber eine Langmut, die nur mit einem hohen Maß an menschlicher Zuneigung für diesen umtriebigen Kaufmann zu erklären ist; sie wurde freilich schlecht belohnt. So unbedarft war das Bankhaus Hardy mitnichten. Die erstaunliche Geduld von Direktor Teichmann angesichts der ständigen Vertröstungen Lewys ist nur zu verstehen, wenn man einen Nutzen postuliert, den Hardy aus Lewys Unternehmungen zog. Mit der Gesellschaft zur Förderung des Außenhandels verdiente Teichmann nichts. Lewys eigentlicher Tätigkeitsbereich lag aber auch woanders: bei Nahostgeschäften, die er von Frankfurt am Main – dem Sitz von Hardy – aus betrieb, vor allem für die Exportfirma Brand & Stross. Ob sie mit Rosensafts Konsortium zusammenhing, ist unklar. Doch nicht Pünder stand im Zentrum der Hoffnungen Lewys auf einträgliches Mitwirken bei Warenlieferungen nach Israel. Hier schien Blankenhorn der bessere Ansprechpartner, besaß er doch das Ohr Adenauers; Lewy kannte ihn vom Zonenbeirat in Hamburg. Goldmann betraute Rosensaft mit Sondierungen für einen Wiedergutmachungsvertrag mit den Deutschen, in die Barou und Lewy eingebunden wurden. Sie begnügten sich nicht damit, Konditionen für Schilumim zu übermitteln, so sehr dies auch für sie Herzensanliegen gewesen sein mag. Lewy redete Tacheles mit Blankenhorn: Die Wiedergutmachung würde Milliardenwerte an Sachleistungen implizieren, die durchzuführen ein einträgliches Unterfangen zu werden versprach. Lewy antichambrierte bei Blankenhorn, konnte aber auch mit wesentlich handfesteren Gründen aufwarten, sollten sentimentale nicht ausreichen… Israel und die jüdischen Organisationen hielten sich mit Kritik an der NSVergangenheit deutscher Diplomaten auffällig zurück, über die 1951/52 in der deutschen Öffentlichkeit lebhaft diskutiert wurde. Die Bundesrepublik benötigte in vielen Feldern die Integration jener Kräfte, die im Dritten Reich als Mitläufer oder gar Mitschuldige in Erscheinung getreten waren. Nur die an schweren Verbrechen maßgeblich Beteiligten sollten strikt geächtet werden. Die Grenzen waren

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manchmal fließend – auch bei der neuen Garde des Auswärtigen Amts.189 Es ist plausibel, dass der für Personalentscheidungen zuständige Blankenhorn mit Vertretern des Judentums vereinbarte, die für das Auswärtige Amt rekrutierten Diplomaten unbehelligt zu lassen, wenn kein Blut an ihren Händen klebte. Ein Gentlemen’s Agreement über Maßhalten dürfte zu den Gesprächsthemen von Scuol gezählt haben. Die Nominierung des gerade erst vom Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Prüfung der Vergangenheit deutscher Diplomaten stigmatisierten Trützschler für die Gespräche von Wassenaar ist erstaunlich. Einige der jüdischen Wortführer wussten, dass Trützschler ein loyaler Mitstreiter Blankenhorns war und dessen für die Juden günstige Instruktionen peinlichst ausführen würde. Proteste gegen dessen Person blieben jedenfalls aus. Mansfeld erfuhr, Barou habe für die Nützlichkeit dieses Mannes geworben. Es muss dabei bedacht werden, dass eine Berufung von Arabisten wie Melchers aus der Sicht Goldmanns verhindert werden sollte. Die deutsch-israelischen Verhandlungen durchlebten schwierige Phasen. Abs, Schäffer und Strauß hatten starke Bedenken und verfügten über großen Einfluss: Londoner Schuldenkonferenz, Wiederbewaffnung, Lastenausgleich und ökonomische Labilität der jungen Bundesrepublik waren als Risikofaktoren nicht zu unterschätzen. Die Sorge vor arabischem Protest kam hinzu. Manche plädierten für individuelle Entschädigung statt Kollektivzahlungen. Das hätte auch gezielte Hilfe für bedürftige, vom Genozid ins Elend gestürzte Juden erlaubt. Sowohl der Staat Israel als auch die großen jüdischen Verbände waren zum Leidwesen deutscher Juden daran interessiert, für nicht genau definierte Zwecke Mittel zu erhalten. Immerhin trat schon am 1. Oktober 1953 das Bundesentschädigungsgesetz in Kraft, das Verletzungen von Leib und Leben sowie Vernichtung der beruflichen Existenz „wiedergutmachen“ sollte.190 So wurden staatlich-institutionelle Belange und persönliche Ansprüche eben doch kombiniert, mag auch auf Seiten der deutschen Juden nicht ohne Anlass ein Gefühl der Benachteiligung bestanden haben. Aber es geht hier um das Jahr 1952: Die grundsätzliche Bereitschaft für Schilumim vorausgesetzt, stand die Höhe der Gelder in Frage. Ob Israel 3 Mrd. DM und die JCC 500 Mio. DM erhalten sollten, war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesregierung. Goldmann ließ seine Drähte glühen, um das bestmögliche Ergebnis für das Judentum zu erreichen. Die Geheimtreffen zwischen Rosensaft, Lewy und Blankenhorn sind sicher überliefert. 189 Zur aktuellen Kontroverse über das in seinen Anschuldigungen gegen das Auswärtige Amt nicht zimperliche Werk von Conze u.a., Amt, jetzt der Sammelband: Martin Sabrow/Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit – eine deutsche Debatte, Frankfurt a.M. 2014. 190 Goschler, Schuld, 176–214. Kritisch: Cornelius Pawlita, „Wiedergutmachung“ als Rechtsfrage? Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung 1945–1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe II: Rechtswissenschaften, Bd. 1440), Frankfurt a.M. 1993, 269–289. Umsichtige Bilanz: Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945–2000, in: VfZ 49 (2001), 167–214.

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Politisch-ökonomische Interessen von jüdischer Seite dürfen auf ein gewisses Verständnis rechnen; damit kombinierte geschäftliche Ziele eines Rosensaft oder Lewy sind dagegen zu kritisieren. Der heute bescheiden anmutende, damals aber gigantisch wirkende Betrag von 3,5 Mrd. DM war ganz gewiss keine überzogene Sühne für ein Verbrechen, das ohnehin nicht mit monetären Kategorien erfasst werden kann. Es ist vollauf nachvollziehbar, dass Goldmann vor Kniffen nicht zurückscheute, um eine akzeptable Summe zu erlangen. Auch Blankenhorn ist nicht zu tadeln, wenn er aus Überzeugung jeden geringeren Betrag als lächerliche Abfindung betrachtet haben sollte, die dem Ansehen der Bundesrepublik eher abträglich wäre. Allein, neben diesem durchaus zu würdigenden Gedanken gab es den Korruptionsversuch Lewys, dem Blankenhorn möglicherweise im Benehmen mit Adenauer ebenfalls mit Sympathie begegnete. Schon im Frühling 1952 drängte Barou in Bonn auf Beschaffung dringend erforderlicher Güter – die Gefolgsleute Blankenhorns bestürmten Adenauer, dem Ansinnen zuzustimmen, die israelische Regierung distanzierte sich von Barou! Hinzu kommen angebliche Interventionen deutscher Diplomaten wie Böker oder Trützschler zugunsten einer Einbeziehung von Lewys Konsortium. Dieser hatte nicht geahnt, dass die israelische Regierung die Organisierung der Warenlieferungen monopolisieren und dem Gewinnstreben einzelner konsequent einen Riegel vorschieben würde. Der harsche Kommentar von Ben Gurion lässt sich so verstehen. Gelang es Blankenhorn, Lewys Intentionen behilflich zu sein, dann winkte allem Anschein nach eine Spende an die CDU – die Rede war von 100.000 DM. Bei Scheckeinlösungen fiel der Name „Pfeiffer“; offenbar handelte es sich um Karl Pfeiffer, einen leitenden Bankier von Hardy. Dieser Vorgang ist relativ detailliert bezeugt; Strauß sah Faksimiles von Quittungen in einer saudischen Zeitung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass eine solche Summe von privater jüdischer Seite an Blankenhorn geflossen ist, der sie wiederum an die Bundes-CDU weitergeleitet haben dürfte. Blankenhorn konnte allerdings keine Erfolgsgarantie abgeben, sondern nur zusagen, sein Bestes zur Befriedigung jüdischer Wünsche im Allgemeinen und Lewys im Besonderen zu tun. Aufgrund einer Anzeige kam es Ende der 1950er Jahre zu staatsanwaltlichen Ermittlungen über Schmiergeldzahlungen beim Wiedergutmachungsvertrag, die sich auf eine Publikation der „Neuen Politik“ des bekannten Neutralisten Wolf Schenke konzentrierten. Die Verhöre blieben unergiebig. Klar war nur: Der Chefredakteur der „Allgemeine[n] Wochenzeitung der Juden in Deutschland“, Karl Marx, hatte sich zwischen 1952 und 1954 mehrfach kritisch über Lewy geäußert. Hieb- und stichfeste Beweise gerichtsverwertbarer Art existierten nicht; eine Ahndung durch die Justiz konnte demnach nicht erfolgen. Die Union war 1952/53 auf Zuwendungen aus der Wirtschaft angewiesen, und der nächste Bundestagswahlkampf mit seinen Kosten zog am Horizont herauf. Laut Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes müssen die Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft ablegen. Die Modalitäten der Annahme von Geldern durch Parteien wurden erst durch das Parteiengesetz von 1959 geregelt,

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das eine Staatsfinanzierung einführte.191 Eine gesetzliche Regelung war immer wieder vertagt worden, taten sich die Parteien doch schwer mit der notwendigen Rechenschaftslegung. Spendenbeschaffung an sich ist kein Anlass zur Kriminalisierung. Es kommt auf die Umstände an, die nicht an Korruption erinnern dürfen. Beim Israel-Vertrag scheint diese Vokabel aber kaum zu vermeiden, wenn Geld geflossen sein sollte, das fest umrissene Zwecke zu fördern gehabt hätte. Die Einzelheiten sind nicht mit letzter Exaktheit zu beschreiben, das Faktum an sich liegt offen zutage. Adenauer räumte allem Anschein nach gegenüber den Fraktionen der Regierungsparteien in verklausulierter Form ein, Geld erhalten zu halten. Verständlicherweise sagte er dazu kein Wort mehr als erforderlich. Erich Mende ließ sich über Jahre nicht beirren und nagelte den Kanzler auf die Konzedierung dieser ominösen Spende fest. Gewiss, die FDP hatte sich mit der CDU/CSU überworfen. Allein, Mende war eher ein „Moderator“ (Lutz Nickel), der pragmatisch und besonnen vorging. Trotz aller Gegnerschaft zu Adenauer leuchtet nicht ein, warum er an einer schwer beweisbaren Anschuldigung festhalten sollte, wenn er nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war. Der bei Hardy tätige Preusker widersprach ihm etwas zu eifrig. Kein Wunder, dass Mansfeld im Ministeramt für Preusker die Abstattung eines Dankes sah. Auch Strauß soll weniger „aufmüpfig“ gewesen sein, seit er zum Sonderminister aufstieg. Als Globke 1958 weitere inzwischen aus der FDP ausgetretene Politiker wegen der Richtigkeit von Mendes Darstellung befragte, zögerten diese monatelang mit einer Antwort, bevor sie halbwegs von Mende abrückten. Keiner dieser Männer hatte Anlass, sich Mende zuliebe mit dem Bundeskanzler anzulegen. Haben Blankenhorn und sein Persönlicher Referent Böker gar Zahlungen in die eigene Tasche gesteckt? Dafür gibt es keine Beweise, wohl aber Indizien, über die Franz Josef Strauß die politische Welt fleißig informierte. Blankenhorn hatte 1948 vom französischen Agenten Schmeisser durchaus „kleine Geschenke“ für Informationen angenommen und Gelder weitergeleitet. Blankenhorn sprach einmal heimlich mit Mansfeld. Dabei gefiel sich der Ministerialdirektor in der Pose des Bundesgenossen gegen unverbesserliche Nazis. Welchen Sinn hatte diese Unterredung mit dem perhorreszierten Enthüllungsjournalisten? Es ging um Besänftigung. Blankenhorn wollte Mansfeld von weiteren Veröffentlichungen über die NS-Belastung deutscher Diplomaten abbringen, indem er unterstrich, dass sie gemeinsam die wirklich schlimmen Gestalten fernhalten sollten. Blankenhorn fürchtete die Ghetto-Bilder, die ihn persönlich in Verlegenheit bringen konnten und beim Rademacher-Prozess zur Sprache kamen. Der Neuaufbau des Auswärtigen Amts schien gefährdet, worin eine Beeinträchtigung 191 Umfassend zur Entwicklung bis 1959: Karl-Heinz Adams, Parteienfinanzierung in Deutschland. Entwicklung der Einnahmestrukturen politischer Parteien oder eine Sittengeschichte über Parteien, Geld und Macht, Marburg 2005, 49–112. Zu Art. 21 GG im Kontext der Parteienfinanzierung: Ebd., 49–60. Zu den Finanzierungspraktiken der Union: Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei (1945–1969), Stuttgart/München 2001, 195–235. Die CDU/CSU arbeitete mit „Fördergesellschaften“ und Zeitschriften.

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deutscher Interessen gesehen werden kann. Die Initiative Blankenhorns gegenüber Mansfeld beweist, wie weit er ging, um Schaden vom Auswärtigen Amt bzw. einigen seiner Angehörigen abzuwenden. Indessen verquickte er immer wieder persönliche Belange mit übergeordneten, nicht generell verwerflichen Zwecken. Lewy und Rosensaft erscheinen bei den geschilderten Vorgängen in schlechtem Licht, aber auch Goldmanns Ruhm erhält einige Kratzer. Für die beteiligten Deutschen um Blankenhorn ist ein moralischer Freispruch nicht zu rechtfertigen, denn sie ließen sich offenbar großzügigere Zahlungen an Israel bzw. den JCC und eine Begünstigung Lewys mit Schmiergeldern vermutlich für die Parteikasse der Union honorieren. Ob die von Bonn vorfinanzierten Öllieferungen an Israel eine besondere Härte des Vorgehens gegen Hertslet und Strack mit verursachten, muss spekulativ bleiben. Gewisse Haftungsrisiken für Adenauer und seine engsten Gefolgsleute mochten bestehen. Lewy engagierte sich besonders am Nil, wo sein Arbeitgeber, die Firma Brand & Stross, in Rivalität mit Hertslet Baumwollhandel trieb. Lewy dürfte Blankenhorn nicht vorenthalten haben, wie störend das Auftreten Hertslets war – jenes Mannes, der angeblich den arabischen Boykott gegen deutsche Waren anstachelte! Schlimmer: Die Konkurrenten Hertslets hatten Verbindung zu den „Drei Reitern“, einem Ring ägyptischer Waffenhändler um den Diplomaten Galal und die als Zeitungsverleger tätigen Gebrüder Fath. Galal war derjenige, dessen Verleumdungen von Blankenhorn genutzt wurden, um Ministerialrat Strack aus dem BMWi als Nahostreferent zu stürzen. Strack wiederum galt bei diesen Kreisen als Rückhalt für Hertslet, der dem BMWi im Vorderen Orient behilflich war. Die Denunzierung Hertslets als „Landesverräter“ ohne klare Beweise192 und damit sein beruflicher Ruin sowie das heimtückische Intrigenspiel gegen Strack sind von den Zirkeln um Lewy und Galal initiiert, aber von der Spitze des Auswärtigen Amts durchgeführt worden. Blankenhorn durchschaute möglicherweise nicht alles, aber er gebärdete sich gemeinsam mit Hallstein radikal gegen Kritiker des Wiedergutmachungsvertrags. Es kann als sicher angesehen werden, dass ihn dabei nicht nur der moralische Aspekt einer Sühne antrieb. Blankenhorn war besorgt genug wegen der kursierenden Gerüchte über die Zahlung von 100.000 DM, um das BfV einzuschalten. Rechtsstehende Kräfte mischten dabei mit. Namen wie Rudolf Rahn, Werner Best und Ernst Achenbach lassen aufhorchen. Sie verübelten der neuen Elite, aus dem auswärtigen Dienst verdrängt worden zu sein. Darüber hinaus hatte Blankenhorn in der Israel- und Saarpolitik vor allem bei FDP und CSU Anstoß erregt, was ihm in diesen Politikfeldern einige scharfe Gegner eintrug. Die Sûreté erfuhr mit einer Abhöraktion wohl auch von Korruption beim Israel-Vertrag. Das schwächte Blankenhorns Position gegenüber den Ambitionen Frankreichs in der Saarfrage. Die SPD bemän192 Der deutsche Botschafter in Kairo, Günther Pawelke, behauptete, in Wirklichkeit sei der mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung stehende Berater von General Naguib, Wilhelm Voss, für die Boykottdrohungen gegen die Bundesregierung verantwortlich, nicht Hertslet. Dazu Herbert Elzer, Deutsche Militärberater in Ägypten. Wilhelm Voss, General Fahrmbacher und die Bundesregierung 1951–1955, in: HMRG 24 (2011), 222–250, hier: 237–239, 242f., 249.

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gelte vor allem die Personalpolitik Blankenhorns beim Neuaufbau des Auswärtigen Amts und stand ihm deshalb skeptisch gegenüber. Bei der Schmeisser-Affäre gab er in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild ab. Wenngleich die Methoden seiner Widersacher mitunter wenig fein waren, ist daran zu erinnern, dass Blankenhorn selbst vor Ränken keineswegs zurückschreckte. Im Übrigen wurden vielfältige Behauptungen in Pamphleten und Aufzeichnungen aufgestellt, die zugespitzt oder irreführend waren. Der nur in vagen Konturen durchgesickerte Korruptionsfall diente als Vehikel für ganz anders geartete Botschaften. Propagandaabsichten arabischer Staaten bzw. der Sowjetunion sind unübersehbar. Die Unterzeichnung bzw. Ratifizierung des Israel-Vertrags sollte vereitelt werden. Die Diskreditierung von Blankenhorn als einem seiner Architekten hatte Methode. Der Wiedergutmachungsvertrag beruhte auf realpolitischen Erwägungen, aber er war zugleich ein moralischer Akt. Diese Wirkung ist unauslöschlich, auch wenn in seinem Dunstkreis Geschäfte gemacht wurden, die den Maßstab der Rechtschaffenheit nicht erfüllen. Dr. Herbert Elzer, Andernach

VOM ZWEITEN KALTEN KRIEG ZUM ENDE DES OST-WEST-KONFLIKTS Wandel der Weltpolitik und Revolution der Staatenwelt (1979–1991) Hermann Wentker Die Auflösung des Ostblocks infolge von weitgehend friedlichen Revolutionen und das Ende der Sowjetunion nur zwei Jahre später wurden von niemandem vorausgesehen. Hätte jemand gar im Winter 1979/80 eine solche Prognose gewagt, wäre er für unzurechnungsfähig erklärt worden. Denn die Blöcke schienen damals starr und unverrückbar; verbunden waren sie lediglich in scharfer Konfrontation. Mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan hatte das Zeitalter der Entspannung sein scheinbar unwiderrufliches Ende gefunden; ein Zweiter Kalter Krieg trat an dessen Stelle.1 Hier gilt es, zunächst nach den Ursachen für diesen Temperatursturz im weltpolitischen Klima zu fragen, die nicht nur in den Aktionen und Reaktionen der Supermächte und den von ihnen angeführten Bündnissystemen, sondern auch in den Perzeptionen durch die jeweils andere Seite zu suchen sind. Im Anschluss daran wird die weitere Entwicklung der internationalen Politik zwischen Konflikteskalation und Entspannung zu untersuchen sein, um genauer bestimmen zu können, warum sich schließlich die Tendenz zur Detente durchsetzte. Inwieweit es Zusammenhänge zwischen der Beendigung der Konfrontation der Supermächte, den anschließenden Revolutionen in Ostmitteleuropa und dem Zerfall der Sowjetunion gab, so dass schließlich mit der Fragmentierung des ehemaligen Ostblocks und der östlichen Supermacht auch das Ende des Ost-WestKonflikts und eine Revolutionierung der Staatenwelt verbunden war, behandelt

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Der Begriff des Zweiten Kalten Krieges erscheint als der geeignetste Begriff, um die grundlegende Abkehr von der Ära der Entspannung zu kennzeichnen, die bereits Mitte der 1970er Jahre begann, im sowjetischen Einmarsch in Afghanistan kulminierte und 1987 mit dem INFAbkommen beendet wurde. Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1990, München 2004, 5f., spricht hingegen von einer dritten Phase des Kalten Krieges, der von zwei Tauwetterphasen (1955–1958, 1962–1975) unterbrochen gewesen sei. Gottfried Niedhart und Oliver Bange plädieren angesichts der stärkeren Fokussierung der Forschung auf die Entspannungspolitik dafür, auf den Begriff „Kalter Krieg“ entweder völlig zu verzichten oder ihn nur auf die 1950er Jahre zu beziehen, was der Schärfe der Auseinandersetzung m. E. nicht gerecht wird. Vgl. Gottfried Niedhart, Der Ost-West-Konflikt. Konfrontation im Kalten Krieg und Stufen der Deeskalation, in: Archiv für Sozialgeschichte 50/2010, 557–594, hier 588–594; Oliver Bange/Bernd Lemke, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990, München 2013, 9f., 13.

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der letzte Abschnitt. Dabei wird versucht, eine Vielzahl von Momenten in die Analyse mit einzubeziehen: die Politik und die Perzeptionen der Supermächte, erste Ansätze zu kooperativen, blocküberwölbenden Strukturen, Ökonomie und Rüstung sowie das Gewicht der handelnden Persönlichkeiten und der Öffentlichkeit in der internationalen Politik. I. Struktur und Stand des Ost-West-Konflikts Ende der 1970er Jahre Der Ost-West-Konflikt bildete die Grundstruktur der Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war geprägt vom ideologischen Gegensatz zwischen Demokratie und kommunistischer Diktatur sowie von Marktwirtschaft und Planwirtschaft. Unauflöslich damit verbunden war auch ein machtpolitischer Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, die zur Durchsetzung ihrer Ziele zwei Bündnisse um sich scharten, die sich in ihrer inneren Struktur und im Verhältnis zu ihrer Vormacht freilich stark unterschieden: Handelte es sich bei der NATO um einen freiwilligen Zusammenschluss, war die Warschauer Vertragsorganisation (WVO) ein Zwangsbündnis der osteuropäischen Staaten, die nach 1945 in den sowjetischen Einflussbereich geraten waren. Dementsprechend waren die USA eine Vormacht, die ihre Hegemonie im Bündnis „durchgehend vergleichsweise partnerschaftlich gestaltet[e]“; die WVO hingegen war von der Sowjetunion regelrecht beherrscht und ließ den Einzelstaaten weitaus weniger Spielräume.2 Ein besonderes Spezifikum des Kalten Krieges bildete die herausragende Bedeutung von Nuklearwaffen. Deren Besitz spielte eine höchst ambivalente Rolle, die Jeremy Suri einmal auf die Formel gebracht hat: „Atomwaffen schreckten die Staaten von einem entfesselten Krieg ab, aber sie trugen zur Eskalation von Krisen bei; sie setzten dem Kalten Krieg gewisse Grenzen, hielten ihn aber zugleich am Leben.“3 Trotz dieser gleichbleibenden Grundstruktur war der Ost-West-Konflikt im Verlauf seiner Geschichte erheblichen Wandlungen unterworfen. Zur Charakterisierung von dessen Entwicklungsstand Ende der 1970er Jahre ist auf drei wesentliche Punkte zu verweisen. Erstens hatte die Sowjetunion im Hinblick auf die Nuklearrüstung bereits Ende der 1960er Jahre mit den USA bei den atomaren Interkontinentalraketen gleichgezogen, sie rüstete allerdings weiter. Ende der 1970er Jahre war sie daher in diesem Bereich den USA überlegen; bei der Einbe-

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Zur Unterscheidung von amerikanischer Hegemonie und sowjetischer Herrschaft vgl. HansPeter Schwarz, Ost-West, Nord-Süd. Weltpolitische Betrachtungen zur deutschen Teilungsepoche, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, 10–18, das Zitat 13. Schwarz lehnt sich an die Begrifflichkeit von Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 2 1943, an. Jeremy Suri, Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hgg.), Krisen im Kalten Krieg, Hamburg 2008, 24–47, hier 46.

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ziehung anderer Trägersysteme gab es jedoch eine ungefähre Parität – ein Umstand, der auch die Unterzeichnung der beiden SALT-Abkommen von 1972 und 1979 ermöglichte. 4 Ein Problem bestand darin, dass beide Supermächte gerade im nuklearen Bereich weiter rüsteten. Hier begannen sie mit der Entwicklung von Raketen und Marschflugkörpern mittlerer Reichweite (von bis zu 5.000 km). Die NATO erörterte seit Anfang der 1970er Jahre eine Modernisierung ihrer taktischen Nuklearwaffen (Theater Nuclear Forces, TNF), deren Reichweite erhöht und deren Zielgenauigkeit verbessert werden sollte, und begann, an ferngelenkten Marschflugkörpern zu arbeiten. Die Sowjetunion hatte in diesem Bereich jedoch die Nase vorn und wurde bereits 1975 aktiv: Neben der Entwicklung des nuklear bestückbaren Überschallbombers Tupolew TU-22M („Backfire“) nahm sie eine Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen vor, indem sie die mit einem einzigen Nuklearsprengkopf ausgestatteten SS-4 und SS-5 durch treffsichere, mit drei Atomsprengköpfen ausgerüstete, bis 5000 km reichende SS-20-Raketen ersetzte, was die NATO zu einer Reaktion zwang.5 Dieser Umstand verdeckte, zweitens, dass die USA und der Westen wirtschaftlich sehr viel leistungsfähiger und innovativer waren als der Osten. Die westliche Wirtschaft machte freilich in den Jahren 1979 bis 1982 eine massive Krise durch, gekennzeichnet durch „Stagflation“ und hohe Arbeitslosigkeit.6 In der Sowjetunion und den östlichen Staaten herrschte hingegen Vollbeschäftigung – zumindest auf dem Papier. Dazu kamen ein hoher Rohölpreis, von dem die Sowjetunion profitierte, und ein qualitativ und quantitativ hoher Rüstungsstand. Beides verdeckte jedoch grundlegende Strukturschwächen der östlichen Hemisphäre. Denn Westeuropa stellte trotz Wirtschaftskrise und Eurosklerose für die osteuropäischen Staaten eine permanente Herausforderung dar: Insbesondere die westlichen Konsummöglichkeiten übten eine dauerhafte Anziehungskraft auf die Menschen östlich des „Eisernen Vorhangs“ aus. Drittens schien in der Dritten Welt der Westen politisch auf dem Rückzug, der Osten aber auf dem Vormarsch zu sein. Die USA mussten 1975 Südvietnam endgültig räumen und ermöglichten dadurch dessen Vereinigung mit Nordvietnam unter kommunistischem Vorzeichen. Mit dem Sturz des Schah im Iran 1979 ging den USA ein wichtiger Verbündeter in der Golfregion verloren, die angesichts der Ölkrise seit 1973 erheblich an Bedeutung gewonnen hatte. Die Sowjetunion und ihre Klientenstaaten hingegen schienen nicht nur in Vietnam, sondern auch in Afrika an Einfluss zu gewinnen: In der letzten Phase der Entko-

4 5 6

Vgl. William Burr / David Allan Rosenberg, Nuclear Competition in an Era of Stalemate, 1963–1975, in: Melvyn Leffer / Odd Arne Westad (Hgg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. II: Crises and Détente, Cambridge 2010, 88–111, hier 107–110. Vgl. Tim Geiger, Der NATO-Doppelbeschluss. Vorgeschichte und Implementierung, in: Christoph Becker-Schaum u.a. (Hgg.), „Entrüstet euch!“ Nuklearkrise, NATODoppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012, 54–70, hier 55f. Vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, 19f.; für die Bundesrepublik ders., Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, 223–225.

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lonialisierung gerierten sich die neuen Machthaber in Angola, Äthiopien und Mosambik als Kommunisten und konnten so die Unterstützung Moskaus erhalten bzw. erheblich ausweiten.7 Das waren keine guten Voraussetzungen zur Fortsetzung der Entspannung zwischen Ost und West, die 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ihren Höheund Wendepunkt erreichte. Dieser Akt wurde freilich gerade in den USA von der erstarkenden neokonservativen Opposition als Legitimierung der auf Stalin zurückgehenden Teilung Europas gesehen; ähnlich kritisch wurden Probleme bei den Rüstungskontrollverhandlungen und die sowjetische Unterstützung für die marxistischen Befreiungsbewegungen in Afrika bewertet. Daher sprach Präsident Gerald Ford, der sich am 30. Juli 1975 nachdrücklich zur Entspannungspolitik bekannt hatte, im März 1976 nicht mehr von „détente“, sondern von „peace through strength“.8 Breschnew hingegen ging es um die Anerkennung als gleichwertige Supermacht durch die USA, die er mit den SALT-Verhandlungen als erreicht ansah, und um Entspannung zwischen Ost und West. In der Dritten Welt verfolgte er zwar keinen Masterplan, aber er ließ sich, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen, immer wieder zur Unterstützung vermeintlich sozialistischer Partner in Afrika hinreißen, ohne zu bedenken, dass dies vom Westen im Hinblick auf seine Entspannungsrhetorik als doppelzüngig verstanden werden konnte.9 II. Der Höhepunkt des Zweiten Kalten Krieges (1979–1981) Bereits Mitte der 1970er Jahre deutete vieles darauf hin, dass die Entspannungspolitik ihren Zenit überschritten hatte: Schon der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 mit der indirekten Involvierung der Supermächte, das sowjetische Ausgreifen nach Afrika in Angola, Mosambik und Äthiopien ab 1974 sowie die sowjetische Hochrüstung zur See und bei den Mittelstreckenraketen hatten den Entspannungsgegnern insbesondere in den USA Auftrieb gegeben.10 1979 jedoch verschärften drei Ereignisse den Ost-West-Konflikt so sehr, dass man vom Zweiten Kalten Krieg sprach: die sowjetische Intervention in Afghanistan, der NATODoppelbeschluss und die Polen-Krise von 1980/81.

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Vgl. u.a. Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007, 252–259, 273–288, 299–303. 8 Vgl. ebenda, 250–252, das Zitat 252. 9 Vgl. ebenda, 258f.; Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, 247–254. 10 Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker, Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Einleitende Überlegungen zum historischen Ort des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: dies. (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATODoppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011, 7–29, hier 12f.

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Genauso wenig wie in Afrika verfolgte die sowjetische Führung gegenüber Afghanistan eine konsistente Strategie. Dazu trug sicher bei, dass an die Stelle des alten, kranken Breschnew ein Triumvirat getreten war, das aus KGB-Chef Juri Andropow, Verteidigungsminister Dmitri Ustinow und Außenminister Andrei Gromyko bestand. In Afghanistan war 1978 die dortige kommunistische Partei, die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA), durch einen Putsch an die Macht gekommen. Diese war allerdings in unterschiedliche Fraktionen gespalten: die Parcham-Fraktion unter Führung von Babrak Karmal und die Khalq-Fraktion geführt von Mohammed Nur Taraki und Hafizullah Amin. Da damals letztere die Oberhand hatten, wurde Taraki Staatspräsident, der einflussreichere, mit diesem rivalisierende Amin jedoch Außenminister. Parallel zu den innerparteilichen Konflikten formierte sich eine landesweite antikommunistische Opposition gegen die neue Führung, unter anderem von islamistischen Kräften. Nach einem islamistisch inspirierten Aufstand gegen die neue kommunistische Regierung in Herat im März 1979 wandte sich diese an Moskau mit der Bitte, militärisch einzugreifen. Die sowjetische Führung wollte Afghanistan zwar nicht verlieren; gleichzeitig entschied sie jedoch, keine Truppen zu senden, weil sie wusste, dass dadurch die Beziehungen zum Westen massiv beeinträchtigt würden. Vor dem Hintergrund der weiter anhaltenden Unruhen richtete die afghanische Führung unter Taraki weitere Hilferufe an Moskau. Gleichzeitig verschärfte sich die Auseinandersetzung in der DVPA; in deren Verlauf ließ Amin, der innenpolitisch radikaler und skrupelloser und zudem aus sowjetischer Sicht weniger verlässlich war, seinen Rivalen Taraki umbringen. So wurde Moskau hinterbracht, dass Amin auch den Amerikanern Avancen machte. Es war letztlich diese Befürchtung und nicht die Sorge vor einem Übergreifen der iranischen Revolution auf Afghanistan, die im Dezember 1979 die sowjetische Führung ihre Entscheidung vom März revidieren ließ. Da nun aus ihrer Sicht die Gefahr bestand, dass Amin auf die amerikanische Seite wechselte und in Afghanistan infolgedessen Pershing-II-Raketen stationiert werden könnten, sollte dieser beseitigt und durch den verlässlicheren Babrak Karmal von der Parcham-Fraktion ersetzt werden. Letzterer musste aber, um seine Macht zu konsolidieren, von sowjetischen Truppen unterstützt werden. Gedacht war an eine Operation von drei oder vier Wochen. Letztlich schlitterte die Sowjetunion mehr in das Afghanistan-Abenteuer hinein, als dass sie dies gründlich geplant hätte; bei der Entscheidung zur Intervention, so Melvyn Leffler, „Soviet leaders saw threat, not opportunity“.11 Der amerikanische Präsident Jimmy Carter hatte seit 1976 eine widersprüchliche Politik gegenüber der Sowjetunion verfolgt. Einerseits wollte er an der Entspannung festhalten, ja, diese sogar durch tiefe Einschnitte in die atomaren Arsenale beider Seiten vorantreiben; andererseits bildete die Einhaltung der Menschen11 Leffler, For the Soul of Mankind, 332, zur Vorgeschichte 303–311, 329–332; dazu auch Zubok, Failed Empire, 259–264; David N. Gibbs, Die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hgg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006, 290–314.

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rechte einen zentralen Bezugspunkt seiner Außenpolitik, was in der Sowjetunion, die die Zahl der politischen Gefangenen damals drastisch reduzierte, auf Unverständnis stieß. Gleichwohl traf Carter noch im Juni 1979 in Wien mit Breschnew zusammen, um das SALT-II-Abkommen zu unterzeichnen. Zu dieser Zeit hatte er jedoch auch schon begonnen, Gegenmaßnahmen gegen die sowjetischen Aufrüstungs- und Expansionsbestrebungen zu treffen: Genannt seien vor allem die Vorbereitung des NATO-Doppelbeschlusses, aber auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit China im Dezember 1978. Denn die sowjetischen Aktivitäten am Horn von Afrika und die islamische Revolution im Iran wurden von Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski nicht zuletzt vor dem Hintergrund der ersten Ölkrise und der amerikanischen Abhängigkeit vom arabischen Öl als äußerst bedrohlich eingeschätzt: Wenn die Sowjetunion sich in diesem Raum durchsetzte, würde sie sich eine geostrategisch entscheidende Position sichern.12 Daher überrascht die harte Reaktion Carters auf die sowjetische Intervention in Afghanistan nicht, die für ihn die größte Bedrohung des Friedens seit dem Zweiten Weltkrieg darstellte. Jetzt schien das Krisenszenario seines Sicherheitsberaters Gestalt anzunehmen: Die sowjetischen Truppen in Afghanistan waren in Reichweite des Indischen Ozeans und der Straße von Hormuz und bedrohten die Ölquellen am Persischen Golf und im Nahen Osten. Der amerikanische Botschafter aus Moskau wurde abberufen, die Ratifizierung von SALT II durch den Senat suspendiert, ein Handelsembargo bei Getreide gegenüber der Sowjetunion verhängt und der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau beschlossen. 13 Genauso wie die sowjetische Seite der amerikanischen Politik im Zusammenhang mit den innerafghanischen Querelen aggressive Absichten unterstellte, war die amerikanische Seite davon überzeugt, dass die Sowjetunion mit ihrem Eingreifen in Afghanistan weitergehende, geostrategische Ziele im Mittleren Osten verfolgte. Letztlich waren es sowohl in Moskau als auch in Washington Fehlperzeptionen, die den Zweiten Kalten Krieg auslösten. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Blick auf den NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979. Wenngleich die NATO auch unabhängig von der sowjetischen Raketenaufstellung an der Modernisierung ihrer Mittelstreckenwaffen arbeitete, so war doch die sowjetische Stationierung von modernen, mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüsteten SS-20-Raketen, die Westeuropa bedrohten, nicht aber die USA erreichen konnten, der entscheidende Anstoß für den Doppelbeschluss. Erstmals machte Helmut Schmidt am 28. Oktober 1977 mit einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London öffentlich auf das Problem der sowjetischen Mittelstreckenraketen aufmerksam, die das atomare Gleichgewicht bei Waffen dieser Reichweite gefährdeten. Als Reaktion darauf kam für ihn entweder eine massive westliche Gegenrüstung oder eine beiderseitige Abrüstung in Frage, wobei er letztere klar bevorzugte. Dabei richtete sich sein Appell nicht 12 Vgl. Olav Njølstad, The Collapse of Superpower Détente, in: Leffler / Westad (Hgg.), Cambridge History of the Cold War, Bd. III: Endings, Cambridge 2010, 135–155, hier 142–149. 13 Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 335f.

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nur an Moskau, sondern auch an Washington, das bei SALT nur über Interkontinental-, nicht aber über Mittelstreckenraketen verhandelte. Somit bestand aus westeuropäischer Perspektive die Gefahr, dass Zonen unterschiedlicher Sicherheit in der NATO entstehen könnten und Westeuropa vom global-strategischen Abschreckungsschirm der USA abgekoppelt würde.14 Ob dies tatsächlich das sowjetische Motiv bei der SS-20-Stationierung war, ist nicht ganz klar; vieles deutet darauf hin, dass die Sowjetunion darin nur eine Modernisierung ihrer bisherigen Mittelstreckenwaffen sah, die vom mächtigen militärisch-industriellen Komplex vorangetrieben wurde, ohne dass das Politbüro der KPdSU darüber entschieden hätte.15 Der NATO-Doppelbeschluss sah schließlich die Stationierung von 108 Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörpern in Europa vor; gleichzeitig wurden der Sowjetunion Verhandlungen über eine beiderseitige Reduzierung dieser Waffen angeboten. Wenngleich sich nicht alle NATO-Staaten zu einer Stationierung bereit erklärten, handelte es sich doch um eine gemeinsame Entschließung der Allianz; außerdem stellte sie einen Kompromiss zwischen der amerikanischen, stärker auf Nachrüstung setzenden und der bundesdeutschen Linie dar, die Abrüstung bevorzugte.16 Nachdem sich durch Doppelbeschluss und Afghanistan-Intervention die Beziehungen zwischen den Supermächten schlagartig abgekühlt hatten, kündigte sich im Ostblock im August 1980 eine weitere Krise an. Streiks in der Danziger Leninwerft und die anschließende Bildung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die gewaltigen Zulauf hatte, bedeuteten eine Erschütterung der realsozialistischen Ordnung in Polen. Die zur Beobachtung der Krise eingesetzte Kommission des Politbüros der KPdSU sah darin von Anfang an eine Bedrohung der Grundlagen kommunistischer Herrschaft in Osteuropa. Ähnlich wie bei der Krise um die ČSSR 1968 setzte Moskau darauf, dass die polnische Führung die Lage durch Unterdrückung der Solidarność selbst in den Griff bekam. Ein fundamentaler Unterschied zu 1968 bestand aber darin, dass die sowjetische Führung eine militärische Intervention kategorisch ausschloss. Zwar waren ein-

14 Vgl. dazu Tim Geiger, Die Regierung Schmidt-Genscher und der NATO-Doppelbeschluss, in: Gassert / Geiger / Wentker (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg, 95–122, hier 97–100. Geiger macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Schmidts Rede zunächst kaum beachtet wurde. Beim anschließenden Dinner kritisierte Schmidt das amerikanische Versäumnis, die SS-20Raketen in SALT einzubeziehen, sehr viel deutlicher, was amerikanische Teilnehmer nach Washington weitermeldeten. „Erst diesem Umweg über die USA verdankt die Rede ihre Berühmtheit.“ (99). Vgl. neuerdings zu dem ganzen Themenkomplex Gunnar Seelow, Strategische Rüstungskontrolle und deutsche Außenpolitik in der Ära Helmut Schmidt, Baden-Baden 2013, hier 275–286. 15 Vgl. Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 56f., der sich hier auf die Memoiren Gorbatschows und Dobrynins stützt; Seelow, Strategische Rüstungskontrolle, 226, schreibt auch, allerdings ohne konkrete Belege, dass es sich bei der Stationierung der SS 20 aus sowjetischer Sicht nur um „eine routinemäßige Modernisierung der älteren SS-4 und SS-5“ gehandelt habe. 16 Zur Entscheidungsfindung und Implementierung des Doppelbeschlusses Geiger, Regierung Schmidt-Genscher, S. 105–120; Seelow, Strategische Rüstungskontrolle, 286–339.

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schüchternde Drohungen und Militärmanöver auch 1980/81 Mittel sowjetischer Politik; Moskau vermied es aber, eine ähnliche Drohkulisse wie 1968 gegenüber Prag aufzubauen. Auch als General Wojciech Jaruzelski im Herbst 1981 mit der Ausrufung des Kriegsrechts zögerte und um sowjetische militärische Unterstützung bat, wurde ihm diese verwehrt.17 Denn die sowjetische Führung sorgte sich, wie die Sitzung des Politbüros der KPdSU vom 10. Dezember 1981 zeigt, nicht nur um ihr Prestige als Friedensmacht, sondern befürchtete auch wirtschaftliche und politische Sanktionen des Westens. Angesichts der sowjetischen Überdehnung – Stichwort Afghanistan – nahm Moskau eine Neudefinition seiner Interessen vor: Man müsse sich auf die Sicherheit der Sowjetunion konzentrieren und die Verbindungslinien in die DDR schützen – dann konnte Polen auch an die Solidarność fallen.18 Angesichts des zunehmenden Machtverfalls erschien der sowjetischen Führung die Erhaltung der eignen Integrität und Lebensfähigkeit wichtiger als die Aufrechterhaltung des politischen Status quo im weiteren Machtbereich.19 Da Jaruzelski und die polnische Armee die Lage nach dem 13. Dezember 1981 allein in den Griff bekamen, blieb dem Westen verborgen, dass Moskau die Breschnew-Doktrin damals still und leise beerdigte. Die Ereignisse in Polen wurden von der amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA) völlig falsch wahrgenommen. Ging diese im August 1980 noch davon aus, dass die Solidarność ihre Forderungen nicht würde durchsetzen können, hielt sie ab Herbst 1980 eine Militärintervention für die bevorzugte Option Moskaus. Anfang Dezember 1980 meldete CIA-Direktor Stansfield Turner Präsident Carter, die Sowjetunion bereite ihre Truppen für eine Invasion vor; ob eine Entscheidung bereits gefallen sei, wisse er jedoch nicht. Carter veranlasste dies, Breschnew vor einer Intervention zu warnen; gleichzeitig sicherte er ihm zu, „die Ereignisse in Polen nicht auszunutzen und die legitimen sowjetischen Sicherheitsinteressen in der Region nicht zu bedrohen“. Die Grundregel der militärischen Nichteinmischung in den Einflussbereich der anderen Supermacht wollte Washington weiter beachten, damit aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde. Über die Vorbereitung zur Ausrufung des Kriegsrechts war die CIA zwar informiert; sie rechnete jedoch nicht damit, dass es tatsächlich dazu kommen würde – als größte Gefahr wurde weiterhin ein sowjetischer Einmarsch betrachtet. Die neue Administration in Washington unter Präsident Ronald Reagan war daher auf die polni-

17 Vgl. Matthew J. Ouimet, The Rise and Fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet Foreign Policy, Chapel Hill / London 2003; Patrizia Hey, Die sowjetische Polenpolitik Anfang der 1980er Jahre und die Verhängung des Kriegsrechts in der Volksrepublik Polen. Tatsächliche sowjetische Bedrohung oder erfolgreicher Bluff ?, Münster 2010. 18 Das Protokoll der Politbürositzung ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Wladimir Bukowski, Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens, Bergisch Gladbach 1996, 484–491. 19 Nach Wilfried Loth, Moscow, Prague und Warsaw: Overcoming the Brezhnev Doctrine, in: Cold War History 1/2001, H. 2, 136f., war dieser Verzicht auf die Interventionsoption eine Auswirkung der westlichen Entspannungspolitik. Dafür fehlt allerdings jeder Beleg.

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schen Maßnahmen nicht vorbereitet.20 Die Ausrufung des Kriegsrechts beantworteten die USA dann erwartungsgemäß mit Wirtschaftssanktionen, Unterstützung für die Solidarność und Verschärfung ihrer Propaganda – das massive Rüstungsprogramm, das sie ohnehin schon seit einigen Jahren verfolgten, wurde unter dem neuen Präsidenten ab 1981 nochmals bedeutend intensiviert.21 Nicht so sehr die weitere Verschärfung der Ost-West-Spannungen infolge der polnischen Unruhen ist überraschend, sondern dass auch hier Washington einer Fehlperzeption unterlag. Die Stationierung von Mittelstreckenwaffen, die Intervention in Afghanistan und die sowjetischen Drohgebärden gegenüber Polen verleiteten Washington dazu, die Sowjetunion für stärker zu halten, als sie eigentlich war. Diese erschien als eine mächtige, auf systematische Expansion bedachte Weltmacht, der dringend Einhalt geboten werden musste. In Wahrheit hatte die östliche Supermacht jedoch ihren Zenit bereits überschritten und war immer weniger in der Lage, mit ihren schwindenden Ressourcen ihr Imperium zusammenzuhalten, geschweige denn zu expandieren. III. Eskalation der Spannungen zwischen Moskau und Washington bei fortgesetzter europäischer Dialogbereitschaft (1981–1983) Dass die weltpolitischen Spannungen nach 1981 auf einem hohen Niveau verharrten, war nicht nur auf das sowjetische Bestreben zurückzuführen, ihre Position um fast jeden Preis zu halten, sondern auch darauf, dass der neue amerikanische Präsident Reagan wenig von der bisherigen Entspannungspolitik hielt. Dabei war er nicht der Kriegstreiber, als den ihn die Sowjetunion und die westeuropäische Linke hinstellte. Neuere amerikanische Forschungen kommen bei allen Differenzen im Einzelnen hier zu einem bemerkenswert einhelligen Befund. Reagan war demzufolge ein Politiker mit einem klaren, stabilen und in sich konsistenten Weltbild. Zweifellos handelte es sich bei ihm um einen Ideologen, der, wie seine Bezeichnung der Sowjetunion als „evil empire“ in einer Rede am 8. März 198322 zeigt, den Kalten Krieg nicht so sehr als machtpolitische, sondern als moralische Auseinandersetzung verstand. Kern des Problems war für ihn das kommunistische System in der Sowjetunion, das mit allen Mitteln die Weltrevolution betrieb, gleich20 Vgl. Paweł Machcewicz, Die polnische Krise von 1980/81, in: Greiner / Müller / Walter (Hgg.), Krisen im Kalten Krieg, 477–504, das Zitat 491. Die Ausführungen von Machcewicz im Hinblick auf die sowjetische Politik sind nicht auf dem neuesten Forschungsstand, da er davon ausgeht, dass Moskau weiterhin an einer militärischen Intervention als Option zur Lösung der Krise festhielt. In seinen Aussagen zur amerikanischen Politik, die sich vor allem auf Douglas J. MacEachin, U.S. Intelligence and the Confrontation in Poland, 1980–1981, University Park 2002, stützen, ist er jedoch zuverlässig. 21 Vgl. Helen Sjursen, The United States, Western Europe and the Polish Crisis. International Relations in the Second Cold War, Basingstoke 2003, 63–89. 22 Vgl. James Mann, The Rebellion of Ronald Reagan. A History of the End of the Cold War, New York 2009, 29.

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wohl aber dem Untergang geweiht war. Den Kommunismus bezeichnete er schon 1975 als „a temporary aberration which will one day disappear from the earth because it is contrary to human nature“. Überdies erschien ihm die Sowjetunion schwach und verwundbar: Schwach war sie aufgrund ihrer nicht funktionierenden Wirtschaft, verwundbar war sie ideell, da sie die Menschenrechte missachtete. Auf der anderen Seite besaß er einen unerschütterlichen Optimismus, demzufolge das eigene System aufgrund seiner moralischen und wirtschaftlichen Überlegenheit siegen musste. Vor diesem Hintergrund hielt er die Strategie der Entspannung für völlig verfehlt. Denn dabei waren Vereinbarungen mit der Sowjetunion erreicht worden, ohne die amerikanische Stärke zu nutzen. Reagan setzte sich daher für den massiven Aufbau der amerikanischen Verteidigungskapazitäten ein. Dabei ging es ihm nicht darum, die Sowjetunion totzurüsten, sondern nach Erreichen eines ausreichenden Rüstungsstandes an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wenn die Vereinigten Staaten entsprechend rüsteten, würde auch die sowjetische Führung einsehen, dass Rüstungsbegrenzung sinnvoll sei, und man könne „real peace“ erlangen. Ein solcher Friede setzte aber letztlich einen fundamentalen Wandel in der Sowjetunion voraus, den Reagan einerseits durch amerikanische Rüstungen und andererseits durch die Wirkung des amerikanischen Vorbilds erreichen wollte. Bei all dem war er ein strikter Gegner der Idee der gegenseitigen atomaren Abschreckung: Nicht „mutual assured destruction“ (MAD), sondern verifizierbare atomare Abrüstung sollte einen Nuklearkrieg verhindern.23 Insgesamt wollte Reagan also nicht den Ost-West-Gegensatz perpetuieren, sondern diesen überwinden, ohne amerikanische Positionen preiszugeben. Gegenüber einem Besucher fand er eine einfache Formulierung: „My theory of how the Cold War ends is: We win, they lose.“24 Nach seinem Amtsantritt setzte er alles daran, dies in die Praxis umzusetzen. Die National Security Decision Directive (NSDD) vom 20. Mai 1982 bezeichnete es als ein Ziel amerikanischer Sicherheitspolitik „to contain and reverse the expansion of Soviet control and military presence throughout the world“. Um dies zu erreichen, sollten Anstrengungen unternommen werden, “to foster (…) restraint in Soviet military spending, discourage Soviet adventurism, and weaken the Soviet alliance system by forcing the USSR to bear the brunt of its economic shortcomings, and to encourage long term liberalizing and nationalist tendencies within the Soviet Union and allied countries.”25

23 Vgl. John Lewis Gaddis, Strategies of Contaiment. A Critical Appraisal of American National Security Policy during the Cold War, Oxford 2005, 350–353, die Zitate 351, 352. Zu letzterem vgl. auch Paul Lettow, Ronald Reagan and his Quest to Abolish Nuclear Weapons, New York 2005; Simon Head, Reagan, Nuclear Weapons, and the End of the Cold War, in: Cheryl Hudson / Gareth Davies (Hgg.), Ronald Reagan and the 1980s. Perceptions, Policies, Legacies, New York 2008, 81–99. 24 Zit. nach Mann, Rebellion of Reagan, 16. 25 NSDD Nr. 32, in: http://www.reagan.utexas.edu/archives/reference/Scanned%20NSDDS/NS DD32.pdf (28.3.2014).

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Die NSDD vom 17. Januar 1983 knüpfte in ihrer generellen Beschreibung des Ziels gegenüber der Sowjetunion an diese Direktive an, ging gleichzeitig jedoch in doppelter Hinsicht darüber hinaus: Zum einen sollte der sowjetische Expansionsdrang eingedämmt und umgekehrt werden, Mittel dazu war nun jedoch zum einen ein effektiver Wettbewerb „on a sustained basis with the Soviet Union in all international arenas“. Zum anderen sollte die Sowjetunion zu Verhandlungen bewegt werden, „to attempt to reach agreements which protect and enhance U.S. interests and which are consistent with the principle of strict reciprocity and mutual interest.“26 Diese Zielbeschreibungen implizierten zunächst eine massive Aufrüstung: Die Verteidigungsausgaben der USA verdoppelten sich dementsprechend von 134 Milliarden Dollar 1980 auf 273,4 Milliarden 1986.27 Zudem führte diese Politik auch zur weltweiten Unterstützung antisowjetischer und antikommunistischer Kräfte mit Geld und Waffen – das war der Kern der sogenannten Reagan-Doktrin, zu der sich der Präsident am 6. Februar 1985 öffentlich bekannte.28 Um seinem Ziel einer atomwaffenfreien Welt näher zu kommen, proklamierte er schließlich am 23. März 1983, dass die Vereinigten Staaten fortan intensiv an einem Raketenabwehrschild im Weltraum arbeiten würden – die sogenannte Strategic Defense Initiative (SDI).29 Sein Ziel war dabei nicht nukleare Überlegenheit, sondern effektiver Schutz vor nuklearen Angriffen. Dazu wollte er die neue Technologie auch der Sowjetunion zur Verfügung stellen, um Atomwaffen letztlich unnötig zu machen.30 In Westeuropa konzentrierten sich die Auseinandersetzungen in den Jahren bis 1983 auf den NATO-Doppelbeschluss. Dabei waren die westeuropäischen Regierungen, allen voran die Bundesregierung, darauf bedacht, die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zurückzuholen und gleichzeitig den engen Schulterschluss mit den USA zu erhalten. Eine besondere Dimension erhielt die Auseinandersetzung durch die Friedensbewegung, die sich in allen westeuropäischen Staaten und in den USA bildete und angesichts der Erhöhung der weltweiten Spannungen an Zulauf gewann. Da sie vor allem die Stationierung weiterer Atomwaffen verhindern wollte, wurde sie vom Osten umworben und unterwandert, um die Implementierung des Doppelbeschlusses abzuwenden.31 Insbesondere aufgrund westdeutscher Vermittlung gelang es, die Sowjetunion im Oktober 1980 zur Aufnahme von Vorgesprächen und im November 1981 zu regulären Ab26 NSDD Nr. 75 in: http://www.reagan.utexas.edu/archives/reference/Scanned%20NSDDS/NS DD75.pdf (28.3.2014). 27 Vgl. den Appendix in: Gaddis, Strategies of Containment, 393f. 28 Ansprache Reagans vor dem Kongress (State of the Union Address) in: http://www. reagan. utexas.edu/archives/speeches/1985/20685e.htm. 29 Fernsehansprache Reagans in: http://www.reagan.utexas.edu/archives/speeches/1983/32383 d.htm. 30 Zur Vorgeschichte und zu Reagans Absichten mit SDI vgl. vor allem Lettow, Reagan and his Quest, 81–121. 31 Vgl. dazu Michael Ploetz/Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß, Münster 2004.

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rüstungsverhandlungen in Genf zu bewegen.32 Nun schlug die Reagan-Administration – wohl aus taktischen Gründen – eine doppelte Null-Lösung vor: Angeboten wurde der völlige Verzicht auf Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles, wenn die Sowjetunion alle SS-20-Raketen verschrotten würde.33 Parallel zu den Verhandlungen eskalierten die innenpolitischen Auseinandersetzungen, da die Friedensbewegung Millionen Menschen zu mobilisieren vermochte und auch die politischen Parteien immer stärker in deren Sog gerieten. Die Sowjetunion und ihre Bündnispartner, insbesondere die DDR, setzten dabei vor allem auf die westlichen kommunistischen Parteien, die die Friedensbewegung in ihrem Sinne lenken sollten, was allerdings aufgrund von deren Heterogenität nur zum Teil gelang.34 Als die Genfer Verhandlungen im Herbst 1983 immer noch keine Ergebnisse zeitigten, kam am 22. November 1983 in der Bundesrepublik die Stunde der Wahrheit: Trotz unzähliger Massendemonstrationen ließ sich die Bundesregierung unter Helmut Kohl nicht von ihrem Kurs abbringen und setzte im Bundestag die Stationierung der Mittelstreckenwaffen durch.35 Als Gegenreaktion ließ Moskau weitere operativ-taktische Raketen in die DDR und ČSSR verlegen. Trotz dieser erneuten Verschärfung der Ost-West-Konfrontation waren nicht alle Ostblockstaaten bereit, diesem Kurs zu folgen. Insbesondere Erich Honecker sprach sich ausdrücklich für die Fortsetzung der internationalen Abrüstungsbemühungen aus und widersetzte sich erfolgreich sowjetischen Pressionen, nun auch in den innerdeutschen Beziehungen eine Eiszeit einkehren zu lassen. Trotz des Zweiten Kalten Krieges konnten daher die deutsch-deutschen Beziehungen in den folgenden Jahren einen ungeahnten Aufschwung nehmen – ein weiterer Hinweis auf die sowjetische Schwäche, auch gegenüber ihren Klientenstaaten.36 Neben der Beibehaltung des Ost-West-Austauschs auf bilateraler Ebene waren es zwei multilaterale Ost-West-Foren aus der Ära der Entspannung, die einer totalen Konfrontation entgegenstanden: die MBFR-Verhandlungen, die sich in Wien seit 1973 um die gegenseitige Verringerung von Streitkräften und konventionellen Waffen bemühten, und der KSZE-Prozess. Erstere wurden zwar nie abge-

32 Vgl. Geiger, Regierung Schmidt-Genscher, 117–119. 33 Vgl. Klaus Schwabe, Verhandlung und Stationierung: Die USA und die Implementierung des NATO-Doppelbeschlusses 1981–1987, in: Gassert / Geiger / Wentker (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg, 65–93, hier 68–71. 34 Vgl. Helge Heidemeyer, NATO-Doppelbeschluss, westdeutsche Friedensbewegung und der Einfluss der DDR, in: Gassert / Geiger / Wentker (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg, 247–267, hier 265–267. 35 Zur Politik der Regierung Kohl vgl. Andreas Rödder, Bündnissolidarität und Rüstungskontrollpolitik. Die Regierung Kohl-Genscher, der NATO-Doppelbeschluss und die Innenseite der Außenpolitik, in: Gassert / Geiger / Wentker (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg, 123–136. 36 Vgl. Hermann Wentker, Zwischen Unterstützung und Ablehnung der sowjetischen Linie: Die DDR, der Doppelbeschluss und die Nachrüstung, in: Gassert / Geiger / Wentker (Hgg.), Zweiter Kalter Krieg, 137–154, hier S. 147–153.

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brochen, erzielten aber letztlich kaum Fortschritte.37 Etwas anders sah es bei der KSZE aus: Denn die KSZE-Schlussakte garantierte nicht nur die europäische Nachkriegsordnung, sondern verpflichtete die Signatarstaaten auch zur Einhaltung von Menschenrechten und Zusammenarbeit in humanitären Fragen (Korb III). Überdies sah sie regelmäßige Nachfolgetreffen vor, in denen die Implementierung der Schlussakte überprüft werden sollte. Aufgrund dieser Konstruktion etablierte sich zum einen die KSZE als kontinuierliches Ost-West-Forum; zum anderen entwickelte sie sich vor allem aufgrund der Bestimmungen von Korb III zu einem Einfallstor für den Westen in den Osten. Denn die Bürger der Ostblockstaaten konnten, unter Berufung auf die KSZE-Schlussakte, Menschenrechte, Reisefreiheit und Ausreise einfordern. Der KSZE-Prozess verhinderte zwar nicht, dass sich die verschärften Spannungen im Ost-West-Verhältnis auch in Europa bemerkbar machten – auch die KSZE-Nachfolgetreffen in Belgrad (1977–1978) und Madrid (1980–1983) waren davon betroffen. Gleichwohl wurde gerade das Nachfolgetreffen von Madrid zu einem Erfolg, weil die Sowjetunion, die durch den Doppelbeschluss unter Druck geraten war, den KSZE-Rahmen für ein Mandat über eine Abrüstungskonferenz nutzen wollte. Dazu zeigte sie sich auch in humanitären Fragen zu Zugeständnissen bereit, was wiederum einigen Ostblockstaaten, allen voran der DDR, zu weit ging. Gerade in der DDR hatte die KSZE beträchtliche innenpolitische Auswirkungen: Denn sie ließ die Zahl der Ausreiseantragsteller kräftig ansteigen und zu einer veritablen Ausreisebewegung werden. Die Bundesrepublik wiederum sah in der KSZE ein Instrument, um die Entspannung zu stabilisieren und zu institutionalisieren. In Zeiten sich verschärfender Spannungen konnte die KSZE den Westeuropäern helfen, die Sprachlosigkeit zwischen den Supermächten zu überwinden.38 In den Ost-West-Beziehungen zwischen 1981 und 1983 nahmen auf der einen Seite die Spannungen zweifellos zu: sowohl durch die Sturheit der Sowjetunion als auch durch die Aufrüstung der Vereinigten Staaten, deren weltweite antisowjetische Aktivitäten und deren antikommunistische, martialische Rhetorik. Auf der anderen Seite hatten die europäischen Regierungen in Ost und West ein gesteigertes Bedürfnis, an der Entspannung festzuhalten, und nutzten dazu sowohl bilaterale Kontakte als auch multilaterale Foren. Ebenfalls gegen die Konfrontation stellte

37 Zu den MBFR-Verhandlungen liegen noch keine neueren aktengestützte Untersuchungen vor. Einen knappen Abriss bietet Josef Holik, Die Rüstungskontrolle. Rückblick auf eine kurze Ära, Berlin 2008, 34–40. 38 Zum KSZE-Prozess vgl. vor allem Matthias Peter / Hermann Wentker (Hgg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990, München 2012. Zur sowjetischen und amerikanischen Politik vgl. den Beitrag von Douglas Selvage, The Superpowers, and the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1977–1983. Human Rights, Nuclear Weapons, and Western Europe, 15–58; zur DDR Anja Hanisch, Zwischen sowjetischer Konzessionsbereitschaft und Ausreisebewegung. Die DDR und das Madrider KSZE-Folgetreffen 1980–1983, 203–218; zur Bundesrepublik Matthias Peter, Sicherheit und Entspannung. Die KSZE-Politik der Bundesregierung in den Krisenjahren 1978–1981, 59–82.

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sich die Friedensbewegung, die mit ihrer Forderung nach radikaler Abrüstung zwar nicht ans Ziel gelangte, aber erreichte, dass auch bei den etablierten politischen Parteien diese Fragen weiterhin auf der Tagesordnung blieben. IV. Von der Konfrontation zur nachhaltigen Ost-West-Entspannung (1983–1988) Aufgrund der gigantischen Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten und der heftigen Ost-West-Konfrontation fürchteten die Menschen einen unkontrollierten, durch ein Missverständnis ausgelösten Ausbruch eines Nuklearkrieges. 1983, so eine Reihe amerikanischer und deutscher Historiker, sei es fast dazu gekommen. Doch war 1983 wirklich „das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges“?39 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Bedrohungsperzeption der sowjetischen Führung nach der Ankündigung des SDI-Projekts durch Reagan im März 1983. Diese sah darin kein reines Verteidigungssystem, sondern ein Raketenabwehrsystem, das den USA die von ihnen angestrebte Erstschlagmöglichkeit einräumen würde. Bereits 1981 hatte der KGB zudem die Operation Rjan ins Leben gerufen, derzufolge die sowjetischen KGB-Residenturen im westlichen Ausland systematisch allen möglichen Hinweisen für die Planung eines westlichen atomaren Raketenangriffs nachgehen sollten. Die Ausrufung eines solchen Alarmzustandes war jedoch Mark Kramer zufolge keineswegs singulär; außerdem resultierten daraus im November 1983 keine Warnungen über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff der NATO.40 Der Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs am 1. September 1983, das versehentlich in den ostasiatischen Luftraum der Sowjetunion eingedrungen war, wird von Schild und anderen ebenfalls als Anzeichen für die erhebliche Nervosität der sowjetischen Seite interpretiert. Denn die sowjetischen Militärs gingen offensichtlich davon aus, dass es sich bei der Maschine um ein Spionageflugzeug handelte – ein schweres Missverständnis, das 269 Menschen das Leben kostete. Im Herbst 1983 spitzten sich die Dinge weiter zu: Denn am 26. September meldete ein sowjetisches Raketenfrühwarnsystem den Start von fünf amerikanischen Langstreckenraketen, die auf dem Weg in die Sowjetunion seien. Der diensthabende Offizier, Stanislaw Petrow, behielt jedoch die Nerven und entschied, dass es sich um einen Fehlalarm handelte – und dies stellte sich auch als

39 So u. a. Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn 2013, hier 159–161, 167–171. 40 So Mark Kramer, Die Nicht-Krise um „Able Archer 1983“: Fürchtete die sowjetische Führung tatsächlich einen atomaren Großangriff im Herbst 1983?, in: Bange / Lemke (Hgg.), Wege zur Wiedervereinigung, 129–149. Auch die folgenden Ausführungen basieren auf diesem Aufsatz.

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richtig heraus.41 Die Situation war sicher nicht ungefährlich; aber solche Fehlalarme kamen Mark Kramer zufolge häufiger vor. Den gefährlichsten Anlass solcher Fehlperzeptionen habe jedoch, so wieder Schild, das NATO-Stabsmanöver „Able Archer 83“ vom 7. bis 11. November 1983 geboten. Dabei wurden auch alliierte Abstimmungsprozesse während einer Konflikteskalation von einem konventionellen zu einem nuklearen Krieg simuliert, einschließlich des Abwurfs von Atombomben auf sowjetisches Territorium. Die KGB-Zentrale habe das Manöver jedoch nur für eine Verschleierung eines echten atomaren Angriffs gehalten, so dass die sowjetischen Truppen in Alarmbereitschaft versetzt worden seien.42 Kramer kommt hingegen aufgrund des Studiums sowjetischer Akten und der Befragung damaliger sowjetischer Entscheidungsträger zu dem plausiblen Ergebnis, dass damals im Politbüro keinerlei Furcht vor einem unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Nuklearangriff bestand; die NATO-Übung auch löste keine Warnungen aus. Überdies stellte die amerikanische Aufklärung fest, dass nur rund ein Dutzend sowjetische Militärflugzeuge in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Anders als Schild behauptet, räumte nicht erst der Spion Rainer Rupp im NATO-Hauptquartier in Moskau die Befürchtungen über einen bevorstehenden Angriff aus – diese hatten nie bestanden!43 Der Doppelagent Oleg Gordiewski unterrichtete den Westen jedoch über die vermeintliche sowjetische Fehleinschätzung, was bei Reagan einige Folgen zeitigte. Denn das Jahr 1983 wurde auch zur Peripetie der amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion. Reagan selbst leitete diesen Politikwechsel ein, zum einen wohl deshalb, weil ihm in dem Film „The Day After“ noch einmal drastisch die Folgen eines Nuklearkriegs vor Augen geführt worden waren; zum anderen aber auch weil er von der vermeintlichen sowjetischen Fehlperzeption der Übung „Able Archer“ erfuhr. Wie er im Nachhinein schrieb, war er erstaunt darüber, dass viele in der sowjetischen Führung wirklich Angst vor Amerika und den Amerikanern hatten. Hinzu kamen innenpolitische Beweggründe: Angesichts der 1984 bevorstehenden Präsidentschaftswahlen galt es, nicht länger einseitig nur eine Politik der Stärke, sondern auch Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren.44 Daher betonte er in einer Fernsehansprache am 16. Januar 1984: „[W]e want more than deterrence. We want genuine cooperation. We seek progress for peace. Cooperation begins with communication.” Damit wollte Reagan auch beginnen, indem er persönlich KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko in einem Brief versicherte, dass die USA zwar ihre eigenen Interessen und die ihrer Ver-

41 Vgl. Schild, 1983, 173–185. 42 Ebenda, 185–190. 43 Kramer, Nicht-Krise, S. 140–148; ähnlich Vojtech Mastny, „Able Archer“. An der Schwelle zum Atomkrieg?, in: Greiner / Müller / Walther (Hgg.), Krisen im Kalten Krieg, 505–522. 44 Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 358f.; Gaddis, Strategies of Containment, 360f.; Barbara Farnham, Reagan and the Gorbachev Revolution: Perceiving the End of Threat, in: Political Science Quarterly 116/2001, H. 2, 225– 252, hier 230–234.

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bündeten verteidigen, aber nicht die Sicherheit der Sowjetunion herausfordern würden.45 Der sowjetischen Führung sollte so die Angst vor einem Überraschungsangriff genommen und Verhandlungen angeboten werden. In Stil und Inhalt bedeutete dies einen Politikwechsel gegenüber der Sowjetunion; Reagans Auffassungen über den Kommunismus und seine Politik der Aufrüstung gegenüber der Sowjetunion änderten sich dadurch freilich nicht. 46 Aber immerhin sah er einen solchen Rüstungsstand erreicht, dass ihm nun Verhandlungen mit der Sowjetunion möglich erschienen. Vorerst fehlte dazu freilich noch ein Partner in Moskau. Denn seit Ende der 1970er Jahre stand die Sowjetunion unter der Führung alter, kranker Männer: Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko. Außer einigen Sondierungen und einem Treffen zwischen USAußenminister George Shultz und Gromyko im Januar 1985 tat sich zunächst nicht viel im sowjetisch-amerikanischen Verhältnis. Immerhin konnten sich die beiden Seiten auf eine Rückkehr an den Verhandlungstisch in Genf am 12. März einigen.47 Der Stillstand in den Beziehungen der beiden Supermächte änderte sich erst, als am 11. März 1985 der 54jährige Michail Gorbatschow die Nachfolge des tags zuvor gestorbenen Tschernenko antrat. „In Gorbachev we have an entirely different kind of leader in the Soviet Union than we have experienced before“: So äußerte sich Außenminister Shultz gegenüber Vizepräsident George Bush, die beide anlässlich der Beerdigung Tschernenkos in Moskau weilten.48 Gorbatschow war sich vor allem darüber im Klaren, dass die Sowjetunion nicht so weiter machen konnte wie bisher, wenn sie Supermacht bleiben wollte. Er erkannte vor allem die Ineffizienz und den Reformbedarf des sowjetischen ökonomischen Systems. Außenpolitik erschien ihm demgegenüber zwar nachgeordnet, aber er sah, dass die Verteidigungskosten eine enorme Belastung für den sowjetischen Staatshaushalt darstellten. Nicht zuletzt deshalb wollte er vor allem eine neue Runde des Wettrüstens verhindern. Darüber hinaus beschwor er seit dem XXVII. KPdSU-Parteitag von Februar/März 1986 ein „Neues Denken“ in der Außenpolitik. Er propagierte die Abkehr von einer durch die Ost-West-Konfrontation geprägten Mentalität und eine Entideologisierung der internationalen Beziehungen; demgegenüber plädierte er für eine kooperative Politik friedlicher Koexistenz, die das Überleben der Menschheit angesichts der Gefahr einer Nuklearkatastrophe und der Umweltzerstörungen in den Mittelpunkt stellte. Dabei betonte er die wechselseitige Abhängigkeit aller Staaten und Völker angesichts globaler

45 Vgl. Leffer, For the Soul of Mankind, 360; hier auch das Zitat. 46 So die plausible Interpretation von Barbara Farnham, Reagan and the Gorbachev Revolution, 234; Beth Fischer, The Reagan Reversal: Foreign Policy and the End of the Cold War, Columbia 1997, 2–5, 135, 141, 146–156, hingegen argumentiert, diese Wende der Politik Reagans sei auch mit einem Perzeptionswandel verbunden gewesen. 47 Vgl. Raymond L. Garthoff, The Great Transition. American-Soviet Relations and the End of the Cold War, Washington 1994, 197f. 48 Zit. nach Leffler, For the Soul of Mankind, 366.

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Herausforderungen.49 Den Beziehungen zu den USA als der anderen Supermacht räumte er Priorität ein; im Verhältnis zu Westeuropa griff er auf die in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre von Gromyko und Breschnew benutzte Formel vom „Gemeinsamen europäischen Haus“ zurück. Auf der einen Seite stellte dies ein Signal für den Wandel der sowjetischen Politik von Konfrontation zu Kooperation dar; auf der anderen Seite wollte er damit aber, ganz in der Tradition seiner Vorgänger, die Westeuropäer als Verbündete gegen die westlichen Mittelstreckenraketen und SDI gewinnen und diese von den USA abkoppeln. Seit 1987 gab er letztere Absicht mehr und mehr auf, so dass das „Gemeinsame europäische Haus“ sowohl seinen realen Wunsch reflektierte, nach Europa zurückzukehren, als auch das teilweise utopische Ziel einer neuen politisch-gesellschaftlichen Ordnung auf dem ganzen europäischen Kontinent umschrieb.50 Wenngleich Gorbatschow 1985 nicht mit einer fertigen außenpolitischen Konzeption antrat, war er doch gewillt, zur Entspannung zurückzukehren. Eine Beendigung des Rüstungswettlaufs, insbesondere im nuklearen Bereich, war ihm dabei ein ernsthaftes Anliegen, so dass er schon zu Beginn seiner Amtszeit mit einer Reihe von spektakulären Abrüstungsinitiativen hervortrat, vor allem mit einem Vorschlag vom 15. Januar 1986, alle Nuklearwaffen bis zum Jahr 2000 abzuschaffen.51 Gut drei Monate später, am 26. April, ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl, die das antinukleare Denken Gorbatschows betätigte.52 In seiner öffentlichen Stellungnahme dazu im sowjetischen Fernsehen formulierte er: „Das Atomzeitalter fordert mit Macht ein neues Herangehen an die internationalen Beziehungen und die Vereinigung der Anstrengungen von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zur Beendigung des todbringenden Wettrüstens.“53

Ungeachtet des allgemeinen westlichen Misstrauens gegenüber den Initiativen Gorbatschows hatte Reagan ein offenes Ohr für den Abrüstungsvorschlag vom Januar 1986 und erhob nur einen Einwand: „Why wait until the end of the century for a world without nuclear weapons?“54 In ihrem ernsthaften Bestreben, die Welt von Nuklearwaffen zu befreien, waren sich Reagan und Gorbatschow sehr ähnlich.

49 Vgl. den von Gorbatschow vorgetragenen Politischen Bericht des ZK der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPdSU, 25.2.1986, in: Michail Gorbatschow, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 3: Oktober 1985–Juli 1986, Berlin (Ost) 1988, S. 218–221; dazu Marie-Pierre Rey, Gorbachev’s New Thinking and Europe, 1985–1989, in: Frédéric Bozo u. a. (Hgg.), Europe and the End of the Cold War. A Reappraisal, London/New York 2008, 23–35, hier 24f. 50 Vgl. Marie-Pierre Rey, „Europe is our Common Home“: A Study of Gorbachev’s Diplomatic Concept, in: Cold War History 4/2004, H. 2, 33–65, hier 34–42. 51 Erklärung Gorbatschows zur Abrüstung, 15.1.1986, in: Gorbatschow, Ausgewählte Reden, Bd. 3, 146–159. 52 Vgl. dazu u. a. Zubok, Failed Empire, 288–290. 53 Gorbatschows Fernsehansprache, 14.5.1986, in: Gorbatschow, Ausgewählte Reden, Bd. 3, 434–442, hier 442. 54 Zit. nach Lettow, Reagan and his Quest, 192.

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Die Kardinalproblem, das ernsthafte Abrüstungsvereinbarungen behinderte, bestand im Misstrauen zwischen Ost und West, insbesondere zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Führung. Ein erster Schritt zu dessen Abbau war bereits beim ersten Treffen von Reagan und Gorbatschow am 19./20. November 1985 in Genf erfolgt. Wenngleich dadurch eine persönliche Verbindung zwischen beiden Staatsmännern hergestellt wurde, blieb SDI das wesentliche Hindernis, das einer Annäherung in der für beide entscheidenden Rüstungsfrage im Wege stand.55 Im Verlauf des Jahres 1986 kam Reagan aufgrund von Nachrichten über die massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion und über die dortigen innenpolitischen Öffnungsbestrebungen zu der Überzeugung, dass es Gorbatschow mit der Abrüstung ernst meinte. Gorbatschow hingegen war bei Reagan nicht so sicher: Denn die wiederholten sowjetischen Mahnungen an die amerikanische Adresse, auf SDI zu verzichten, verhallten ungehört.56 Gleichwohl, so Gorbatschow Anfang Oktober im KPdSU-Politbüro, könne man nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, da man sich dann auf einen Rüstungswettlauf einlasse, der die sowjetischen Kapazitäten überfordere.57 Daher traf er sich mit Reagan erneut am 11./12. Oktober 1986 in Reykjavik. Dort erhielt Gorbatschow mit seinem Vorschlag, alle Mittelstreckenwaffen in Europa abzuschaffen, zunächst Reagans Zustimmung; eine Einigung scheiterte jedoch daran, dass der Generalsekretär auf dem amerikanischen Verzicht auf SDI bestand.58 Erst als er sich am 28. Februar 1987 bereit erklärte, das Problem der Mittelstreckenwaffen separat zu behandeln59, ermöglichte er einen Durchbruch bei den Genfer Verhandlungen. Parallel dazu arbeiteten führende sowjetische Militärs unter Generalstabschef Sergei Achromejew an einer neuen sowjetischen Militärdoktrin, die nicht länger die sowjetische Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive, sondern die einer hinlänglichen Verteidigung herausstellte. Gegen den Widerstand führender Militärs stimmte Gorbatschow der neuen Militärdoktrin bereits am 31. Dezember 1986 zu, bevor diese am 27./28. Mai 1987 auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der WVO in Ost-Berlin formell verabschiedet wurde.60 Die Genfer Verhandlungen über die Mittelstreckenwaffen wurden schließlich vor allem aufgrund der sowjetischen Zugeständnisse mit der Unterzeichnung des INF-Abkommens auf dem Gipfel von Washington am 10. Dezember 1987 beendet. Das war insofern eine wesentliche Station auf dem Weg zur Entspannung, als damit erstmals nicht nur eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen vernichtet, sondern auch die wech-

55 56 57 58 59

Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 381–386. Vgl. ebenda, 389f.; Lettow, Reagan and his Quest, 206f., 214. Vgl. Zubok, Failed Empire, 292. Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 392–395. Gorbatschows Erklärung vom 28.2.1987 in: Gorbatschow, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 4, 492–494. 60 Vgl. Zubok, Failed Empire, 295f.; zu dem Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses vgl. die Dokumente in: Vojtech Mastny / Malcolm Byrne (Hgg.), A Cardboard Castle? An Inside History of the Warsaw Pact, 1955–1991, Budapest/New York 2005, 562–571.

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selseitige Verifikation dieser Vernichtung vereinbart wurde. Das Abkommen bildete somit den „entscheidende[n] Durchbruch in den Rüstungskontrollgesprächen der 1980er Jahre“.61 Die Jahre 1987 bis 1988 waren von zwei gleichzeitigen Prozessen geprägt, die das Ende des Kalten Krieges beförderten. Auf der einen Seite stand eine Zunahme der sowjetischen Signale, die auf eine Abwendung von der Konfrontation mit dem Westen hindeuteten: die Annahme einer neuen Militärdoktrin der WVO im Mai 1987, das INF-Abkommen vom Dezember 1987, die sowjetische Ankündigung vom 8. Februar 1988, innerhalb eines Jahres aus Afghanistan abzuziehen,62 und schließlich die Rede Gorbatschows vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 7. Dezember 1988, in der er ankündigte, die sowjetischen Truppen binnen zwei Jahren um 500.000 Mann zu verringern, aus der DDR, der ČSSR und Ungarn bis 1991 sechs Panzerdivisionen abzuziehen und aufzulösen sowie die in diesen Ländern befindlichen sowjetischen Truppen um 50.000 Mann und die Bewaffnung um 5000 Panzer zu reduzieren.63 Damit ging auf der anderen Seite ein kontinuierlicher Abbau von Feindbildern und der Aufbau von Vertrauen einher, vor allem zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Führung. Als Reagan während seines Moskaubesuchs am 31. Mai 1988 gefragt wurde, ob er glaube, noch immer in einem „evil empire“ zu sein, verneinte er und fügte hinzu: „I was talking about another time and another era.“ Und auf einer Pressekonferenz am folgenden Tag antwortete er auf die Frage, was sich denn seit dieser Zeit geändert habe: „I think a great deal of it is due to the General Secretary, who I have found different than previous Soviet leaders.“64 Aber auch Gorbatschow verdeutlichte bei diesem Besuch, dass sich die sowjetische Außenpolitik grundlegend gewandelt hatte, indem er Reagan ein Papier mit den Grundsätzen der beiderseitigen Beziehungen überreichte. Beide Seiten, so hieß es darin, „believe that no problem in dispute can be resolved, nor should it be resolved, by military means. They regard peaceful coexistence as a universal principle of international relations. Equality of all states, non-interference in internal affairs and freedom of sociopolitical choice must be recognized as the inalienable and mandatory standards of international relations.”

Reagan stimmte zwar zu, aber seine Berater verhinderten eine Unterzeichnung des Papiers, da „friedliche Koexistenz“ an die sowjetische Außenpolitik der Vergangenheit erinnere. Dabei übersahen sie, dass diese von Gorbatschow nicht mehr als eine andere Form des Klassenkampfes, sondern als das „universelle Prinzip internationaler Beziehungen“ betrachtet wurde.65

61 Vgl. u. a. Florian Pressler, Ein Sieg der Rüstungskontrolle? Die 1980er Jahre und das internationale politische System, in: Becker-Schaum u. a. (Hgg.), Entrüstet euch, 339–353, hier 348. 62 Vgl. dazu Artemy M. Kalinovsky, A Long Goodbye. The Soviet Withdrawal from Afghanistan, Cambridge/London 2011, 134f. 63 Die Rede in: Europa-Archiv 44/1989, D23–D37. 64 Zit. nach Mann, Rebellion of Reagan, 304f. 65 Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 418–420, das Zitat 418f.

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Doch das Ende des Kalten Krieges lässt sich nicht allein auf die Qualität der bilateralen Supermächte-Beziehungen zurückführen; auch die in sich widersprüchliche Entwicklung in Europa muss dabei berücksichtigt werden. Einerseits kam es zu einer Vertiefung der Ost-West-Spaltung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Denn wirtschaftlich entwickelten sich die ost- und die westeuropäischen Staaten stärker auseinander denn je. Osteuropa war von immensen Schuldenlasten geplagt, und dessen Wirtschaftsleistung stagnierte, was unter anderem auf die mangelnde Innovationsfähigkeit der zentralen Planwirtschaften zurückging, die weder den Sprung in die Dienstleistungsgesellschaft noch in die Informationsgesellschaft geschafft hatten. Demgegenüber ging es mit der westeuropäischen Wirtschaft seit 1983 kontinuierlich bergauf: Der Aufschwung kam zwar nicht an den Boom der 1950er und 1960er Jahre heran, und er betraf auch nicht alle Branchen. Gleichwohl ging im Verlauf der 1980er Jahre das Krisenbewusstsein in Westeuropa zurück, und ein neuer Optimismus machte sich breit.66 Das hing auch damit zusammen, dass die europäische Integration wieder an Schwung gewann; die Zeit der Eurosklerose war vorbei. Die Europäische Gemeinschaft war nicht nur um Griechenland, Spanien und Portugal erweitert worden; mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte zum 1. Januar 1987 wurde darüber hinaus ein wichtiger Schritt zur Vertiefung der Integration getan. Denn diese sah die Vollendung des Binnenmarkts bis Ende 1992 und eine größere institutionelle Effizienz der Gemeinschaftsorgane vor. Überdies nahmen die Planungen für eine Wirtschafts- und Währungsunion immer konkretere Formen an – kurzum: In dem westeuropäischen Zusammenschluss machte sich eine ungeheure Dynamik bemerkbar, die den Weg in eine glänzende Zukunft zu weisen schien.67 Das osteuropäische Pendant dazu, der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war hingegen, genauso wie die einzelnen Volkswirtschaften in Osteuropa, überbürokratisiert und letztlich zur Reform unfähig. Andererseits verstärkten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aber auch die Kontakte und der Austausch zwischen Ost und West nicht nur auf der staatlichen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene – etwa im deutsch-deutschen Besucherverkehr. Die revitalisierten westeuropäischen Demokratien mit ihren erfolgreichen Volkswirtschaften übten folglich enorme Anziehungskraft auf die Ost- und Ostmitteleuropäer aus. Die „von oben“ angestoßene und „von unten“ begierig aufgenommene Öffnung der Sowjetunion und des Ostblocks sowie die immer stärker sichtbar werdenden wirtschaftlichen und politischen Ungleichgewichte sollten sich letztlich als entscheidend für den Sieg des Westens über den Osten im Kalten Krieg erweisen68, wenngleich die internationale Ordnung nach außen weiterhin fest gefügt erschien.

66 Dies traf vor allem, aber nicht nur auf die Bundesrepublik zu: vgl. Wirsching, Abschied, 225– 235. 67 Vgl. ebenda, 522–524. 68 Vgl. zu letzterem Archie Brown, The Gorbachev Revolution and the End of the Cold War, in: Leffler / Westad (Hgg.), Cambridge History of the Cold War, Bd. III, 244–266, hier 264.

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Doch bewirkte nicht nur die wirtschaftliche Attraktivität des Westens eine tendenzielle Destabilisierung des Ostblocks; ein weiterer Faktor stellten die westlichen Menschenrechtsideen dar, die jenseits des Eisernen Vorhangs um sich griffen. So zeigte sich beim KSZE-Nachfolgetreffen in Wien zwischen 1986 und 1989, dass die Ostblockstaaten keine geschlossene Front mehr bildeten; sowohl die ungarische als auch die polnische Delegation näherten sich bereits 1987 den westlichen Positionen in Menschenrechtsfragen an.69 Und die Sowjetunion, die in Moskau eine Menschenrechtskonferenz ausrichten wollte, ließ sich aufgrund des Wiener Treffens auf die Zulassung unabhängiger Gruppen und die Tolerierung regelmäßig erscheinender Samisdat-Publikationen ein.70 Schließlich waren die DDR und Rumänien in Wien isoliert, da sich selbst Bulgarien und die ČSSR am Verhandlungstisch der sowjetischen Position anschlossen. Die Jahre 1983 bis 1988 waren demnach von zwei Entwicklungen geprägt, die für das friedliche Ende des Kalten Krieges entscheidend sein sollten. Zum einen von der neuen Qualität der Entspannung zwischen Ost und West, in deren Rahmen erstmals die kontrollierte Verschrottung einer ganzen Kategorie von Atomwaffen vereinbart worden war. Überdies wurde die Ursache der Ost-WestSpannungen, das Misstrauen zwischen den Führungen der Supermächte, systematisch abgebaut. Eine Umkehrung dieser Entwicklung war nur schwer vorstellbar. Zum anderen wurde zunehmend deutlich, dass die Ostblockstaaten immer mehr hinter dem Entwicklungsstand ihrer westlichen Nachbarn zurückblieben, was erste Risse im Ostblock und eine Erosion der realsozialistischen Herrschaft in den Klientenstaaten der Sowjetunion nach sich zog. V. Die Rolle des Westens bei den Revolutionen im Ostblock und beim Zerfall der Sowjetunion (1988–1991) Mit dem Ende des Kalten Krieges erwies sich der Westen zwar politisch und ökonomisch als vitaler und zukunftsfähiger als der Osten. Der Westen hatte jedoch weder gezielt auf dieses Ziel hingearbeitet noch hatte er einen maßgeblichen Anteil am Untergang der kommunistischen Systeme. Entscheidend war vielmehr die ökonomische und die damit eng verknüpfte politische Krise der Sowjetunion und des Ostblocks. Die sowjetische Wirtschaft scheiterte am Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum in den 1970er und 1980er Jahren. Dabei waren die Kosten, die die Sowjetunion für die Aufrechterhaltung ihres Imperiums und ihr Verteidigungsbudget aufbringen musste, beträchtlich; ob jedoch die Ressourcen, die durch eine Einsparung dieser Kosten für privaten Konsum und Investitionen frei geworden wären, wirklich höhere Wachstumsraten nach sich gezogen hätten, 69 Vgl. Erhard Crome/Jochen Franzke, Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz 1986 bis 1989. Dokumente aus dem Parteiarchiv, in: Deutschland Archiv 26/1993, 905–914. 70 Vgl. Yuliya von Saal, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991, München 2014.

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ist mehr als zweifelhaft. Als Gorbatschow an die Macht kam, glaubte er, das mit ökonomischen Mängeln behaftete System durch vergleichsweise geringfügige Änderungen optimieren zu können. Diese reichten jedoch nicht aus, so dass letztlich seine Reformen zwar das alte System zerstörten, aber nichts Neues an seine Stelle setzten, da er vor dem letzten Schritt, der Einführung der Marktwirtschaft, bis zuletzt zurückschreckte.71 Die Sowjetunion ächzte zwar beim Amtsantritt Gorbatschows unter imperialer Überdehnung, enormen militärischen Lasten, zurückgehenden Rohölpreisen und einer wenig effektiven Wirtschaft; sie war jedoch noch nicht dem Untergang geweiht. Erst durch Glasnost und Perestroika wurde letztlich die finale ökonomische und politische Krise der Sowjetunion und damit des Ostblocks unvermeidlich.72 Auch die Reformen und Revolutionen im Ostblock waren nicht vom Westen inspiriert, sondern hatten endogene Ursachen. Während das westliche System eine permanente Herausforderung für die Ostblockstaaten, insbesondere aber die DDR, bildete, trugen Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion maßgeblich zu vermehrter Kritik an den eigenen Systemen bei. Gerade in der DDR bekam angesichts der Reformpolitik Gorbatschows die Parole „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ einen ganz neuen Klang. Hinzu kam, dass Gorbatschow, nicht zuletzt aufgrund der bis 1987 signifikant verbesserten Ost-WestBeziehungen die sowjetische Herrschaft über den Ostblock lockerte, die Breschnew-Doktrin nun auch öffentlich zurücknahm und das Prinzip der „Freiheit der Wahl“ an ihre Stelle setzte. In seiner Rede vor den Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 bezeichnete er es als sein Ziel, der Rivalität der Supermächte „die Eigenschaft eines vernünftigen Wettbewerbs unter den Bedingungen der Achtung der Wahlfreiheit und Interessenbilanz zu verleihen.“73 Ende 1988 hatten sich Gorbatschow und seine Berater auf zwei Ziele festgelegt: Sie wollten zum einen eine militärische Intervention im Ostblock auf jeden Fall vermeiden und zum anderen den friedlichen, möglichst schnellen Übergang zu einer neuen politischen Ordnung in Osteuropa ermöglichen. Eine Diskussion darüber im Politbüro zwischen Januar und März 1989 verdeutlichte schließlich, dass nun die gesamte Führungsspitze eine militärische Intervention in einem WVO-Staat aufgrund innenpolitischer Änderungen kategorisch ausschloss.74 An eine Aufgabe des Ostblocks dach-

71 Vgl. Paul R. Gregory, Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hgg.), Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, 311–325. 72 Vgl. dazu Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, Oxford/New York 2001; Jane R. Zavisca, Explaining and Interpreting the End of Soviet Rule, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 12/2011, 925–940; Jörg Baberowski, Criticism as Crisis, or Why the Soviet Union Still Collapsed, in: Journal of Modern European History 9/2011, 148–166. 73 Zit. nach Europa-Archiv 44 (1989), D37. 74 Vgl. dazu Mark Kramer, The Demise of the Soviet Bloc, in: Vladimir Tismaneu (Hg.), The End and the Beginning: The Revolutions of 1989 and the Resurgence of History, Budapest 2012, 171–255, hier 198–208.

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te Gorbatschow dabei nicht; er wollte vielmehr das östliche Paktsystem in ein von reformkommunistischen Regierungen geführtes Bündnis auf partnerschaftlicher Grundlage transformieren. Jedoch überschätzte er sowohl die Beharrungskraft des Sozialismus als auch die Reformbereitschaft in den „Bruderstaaten“, so dass sich sein Ziel eines reformierten und damit stärkeren Bündnisses nicht durchsetzen ließ. Bereits im Fall Polens schloss er nach den Wahlen vom 4. Juni 1989 und der anschließenden Bildung einer nicht-kommunistischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki ein Eingreifen zur Wiederherstellung der Herrschaft der ehemals führenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei aus. Die Vermeidung einer Militärintervention hatte für ihn eindeutig Vorrang vor der Erhaltung des Bündnissystems in Osteuropa. Die Struktur des Ostblocks und Europas veränderte sich 1989 daher zum Teil auf evolutionärem, vorwiegend aber auf revolutionärem Wege. Lediglich in Ungarn und in Polen kam es zu „Refolutionen“ (Timothy Garton Ash); in anderen Ostblockstaaten wurden die herrschenden kommunistischen Parteien durch Revolutionen entmachtet. Bei den Bewegungen von unten bildete die friedliche Revolution in der DDR mit dem Mauerfall einen Katalysator für die weiteren Umwälzungen: Nun folgten die samtene Revolution in der ČSSR, ein weitgehend friedlicher Machtübergang in Bulgarien sowie ein äußerst gewaltsamer Umsturz in Rumänien.75 Diese Bewegungen führten letztlich zur Auflösung des Ostblocks, wenngleich die WVO zunächst noch erhalten blieb. In den Vereinigten Staaten war zu Beginn des Jahres 1989 George Bush Präsident geworden. Mit dem Wechsel der Präsidentschaft setzte auch eine „Pause“ im sowjetisch-amerikanischen Dialog ein: Denn obwohl Bush den Wandel in der Sowjetunion begrüßte, war er hinsichtlich der weiteren Entwicklung dort unsicher, so dass er vorsichtshalber eine gründliche Überprüfung der US-Strategie anordnete. Das hing auch damit zusammen, dass in seinem Beraterstab ehemalige Hardliner wieder stärker vertreten waren, so dass die neue sowjetische Politik, wie sie in Gorbatschows Rede vor den Vereinten Nationen zum Ausdruck gekommen war, nicht als solche wahrgenommen wurde.76 Eine neue Vision gegenüber Osteuropa entstand im Frühjahr 1989 unter maßgeblicher Mitwirkung des National Security Council. Unter der Formel, dass nun die Zeit angebrochen sei, „to move beyond containment […and to] seek the integration of the Soviet Union into the community of nations“, kündigte Bush am 17. Mai einen Aufbruch gegenüber der

75 Vgl. dazu Jacques Lévesque, The East European Revolutions of 1989, in: Leffler / Westad (Hgg.), Cambridge History of the Cold War, Bd. III, 311–332, der auch im Fall der Berliner Mauer einen „catalyst“ sieht (323). 76 Derek H. Chollet / James M. Goldgeiger, Once Burned, Twice Shy? The Pause of 1989, in: William C. Wohlforth (Hg.), Cold War Endgame. Oral History, Analysis, Debates, University Park 2003, 141–174; Thomas Blanton, U.S. Policy and the Revolutions of 1989, in: Svetlana Savranskaya / Thomas Blanton / Vladislav Zubok (Hgg.), Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe, 1989, Budapest/New York 2010, 49–98, hier 60, 66.

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Sowjetunion an. Kurz danach, am 31. Mai bei seinem Besuch in Deutschland, sprach er sich für ein ungeteiltes und freies Europa aus; die Bundesrepublik betrachtete er dabei als „partner in leadership“. Dies war noch kein bis zum Ende durchdachtes strategisches Konzept zu einer aktiven Politik zur Überwindung des Kalten Krieges; aber es gab doch eine Richtung vor angesichts einer Welt, die in Bewegung geraten war.77 Daraus folgte freilich nicht, dass die amerikanische Führung unter Bush nun die Ost- und Mitteleuropäer in ihrem Freiheitsdrang energisch unterstützte – im Gegenteil: Sie übte sich in Zurückhaltung, die sowohl in den Auftritten des Präsidenten in Warschau und Budapest im Juli 1989 als auch in dessen Verzicht auf jeglichen Triumphalismus angesichts des Falls der Berliner Mauer zum Ausdruck kam. Bis zur Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem neuen amerikanischen Präsidenten und dem KPdSU-Generalsekretär, das dem zwischen Reagan und Gorbatschow ähnelte, dauerte es noch bis zu deren Gipfeltreffen in Malta am 2./3. Dezember 1989.78 Auch die Bundesregierung war zwar ein höchst interessierter Beobachter der Krise in der DDR, hielt sich aber bis nach dem Mauerfall demonstrativ zurück, um eine Explosion zu verhindern. Erst am 28. November übernahm sie mit dem „Zehn-Punkte-Plan“ die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage.79 Inzwischen zerbrach nicht nur das sowjetische Imperium; auch der Zerfall der Sowjetunion schritt immer weiter voran. Im Unterschied zum „outer Soviet empire“, auf das Gorbatschow zu verzichten bereit war, wollte er die Sowjetunion selbst erhalten.80 Jedoch hatte er durch die zunehmende Entmachtung der KPdSU seit 1988 das Instrument zerstört, das nicht nur Garant für die Aufrechterhaltung des realsozialistischen Herrschaftssystems, sondern auch die Klammer des Viel-

77 Vgl. dazu zuletzt Pia Molitor, Partner in der Führung. Die Deutschlandpolitik der Regierung Bush/Baker als Faktor amerikanischen Machterhalts, Paderborn u. a. 2012, 49–88, 128–177. die Zitate S. 84, 128, 147). Während Molitor den Eindruck einer durchdachten politischen Konzeption erweckt, befindet sich Beth Fischer auf dem anderen Ende des Spektrums, da sie die Bush-Administration während des Jahres 1989 als „flat-footed, unable to grasp the momentous changes taking place in the Soviet sphere" bezeichnet und ihr die Fähigkeit abspricht, eine Vision für eine Welt nach dem Kalten Krieg zu entwickeln. Dies., US Foreign Policy under Reagan and Bush, in: Leffler / Westad (Hgg.), Cambridge History of the Cold War, Bd. III, 267–288, hier 284. Für einen mittleren Weg vgl. Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, 53–63. 78 Vgl. Leffler, For the Soul of Mankind, 440f.; Blanton, U.S. Policy, S. 88. 79 Vgl. Hanns Jürgen Küsters, Die Bundesregierung und die Krise der DDR vor dem Mauerfall, in: Klaus-Dietmar Henke (Hgg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, 365–373. 80 Vgl. Kristina Spohr Readman, Between Political Rhetoric and Realpolitik Calculations: Western Diplomacy and the Baltic Independence Struggle in the Cold War Endgame, in: Cold War History 6/2006, H. 1, 1–42, hier 5.

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völkerstaats Sowjetunion gewesen war.81 Während die Partei die unitarische Struktur des Imperiums gewährleistet hatte, wurden nun die einzelnen Sowjetrepubliken erheblich aufgewertet. Dies erhielt zusätzliche Brisanz dadurch, dass der Nationalismus in der Sowjetunion nun eine mobilisierende Kraft entfaltete. Denn die Völker der Sowjetunion hatten Glasnost und Perestroika dazu genutzt, das Recht auf Selbstbestimmung für sich zu reklamieren und sich dabei teils gegen die Zentrale, teils aber auch gegen Nachbarnationen gewandt. Die Nationalitätenprobleme, die Anfang 1988 insbesondere im Kaukasus und im Baltikum aufbrachen und weiter um sich griffen, erschütterten bis zum Sommer 1989 die Stabilität der Sowjetunion. Dabei war Nationalismus ein transnationales Phänomen, das sich wechselseitig verstärkte: Vertreter der ukrainischen, armenischen, georgischen, lettischen, litauischen und estnischen nationalistischen Bewegungen errichteten im Juni 1988 ein Koordinierungskomitee, und im Sommer und Herbst wurden Volksfronten nach baltischem Muster in allen Sowjetrepubliken begründet.82 Wenngleich diese nationalen Bewegungen endogene Ursachen hatten, lassen sich auch erhebliche „spillover“-Effekte der Revolutionen in Osteuropa beobachten. Diese konnten zum einen direkter Art sein, indem etwa die polnische Solidarność enge Verbindungen nach Litauen, Moldawien und in die Ukraine knüpfte. Zum anderen gab es auch indirekte Auswirkungen: So ermutigte der Erfolg der friedlichen Revolutionen in der DDR und in der ČSSR etwa die baltischen Volksfronten, auf ähnliche Weise vorzugehen.83 Gleichwohl hatten diese Vorgänge allenfalls unterstützende Wirkung; entscheidend für den Zerfall der Sowjetunion waren die Vorgänge in deren Zentrum. So war Gorbatschow trotz seines Willens zur Erhaltung der Sowjetunion in seinen Handlungen alles andere als entschieden. Im Januar 1990 ließ er zwar die Armee nach Aserbaidschan einmarschieren, um die dortige Volksfront niederzuschlagen; von der Gewaltanwendung gegen Demonstranten in Tiflis im April 1990 distanzierte er sich jedoch, was die Moral der Separatisten hob, die der Verteidiger der Sowjetunion aber beeinträchtigte. Letztlich lehnte Gorbatschow den Einsatz militärischer Gewalt auch bei der Erhaltung des Sowjetstaates ab.84 Hinzu kam, dass schließlich auch Russland selbst von der nationalen Bewegung erfasst wurde und der Rivale Gorbatschows, Boris Jelzin, sich dies zunutze machte. Nach den Souveränitätserklärungen zahlreicher Sowjetrepubliken an der Peripherie in der ersten Jahreshälfte 1990 erklärte sich schließlich auch Russland am 12. Juni 1990 für

81 Vgl. Gerhard Simon, Die Entmachtung der KPdSU, in: Martin Malek/Anna Schortschudnowskaja (Hgg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen–Begleiterscheinungen–Hintergründe, Baden-Baden 2013, 169–185; Kotkin, Armageddon Averted, 77–80. 82 Vgl. Mark R. Beissinger, Nationalism and the Collapse of Soviet Communism, in: Contemporary European History 18/2009, 331–347. 83 Vgl. Mark Kramer, The Collapse of East European Communism and the Repercussions within the Soviet Union, in: Journal of Cold War Studies 5/2003), H. 4, 178–256 (Part 1); 6/2004, H. 4, S. 3–64 (Part 2); 7/2005 H. 1, S. 3–96 (Part 3). 84 Vgl. ebenda, Part 1, 210f., Part 2, 30–40.

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souverän; Jelzin wurde genau ein Jahr später, am 12. Juni 1991, vom Volk zum russischen Präsidenten gewählt. Anders als Gorbatschow, der am 30. März 1990 vom Volksdeputiertenkongress zum sowjetischen Präsidenten gewählt worden war, war der Volkstribun Jelzin nun direkt durch das Volk legitimiert. Da Jelzin sich zudem gegen den kommunistischen Kandidaten durchgesetzt hatte, zeigte dies auch, dass der Kommunismus in der Sowjetunion keine Zukunft mehr hatte. Der gescheiterte Putschversuch gegen Gorbatschow (18.–20. August 1991) endete mit einem Sieg Jelzins. Die Kommunistische Partei war dadurch genauso diskreditiert wie die Zentralregierung; die Unabhängigkeitserklärungen der Republiken besiegelten faktisch das Ende der Sowjetunion, wenngleich sich dies noch bis zum 21. Dezember 1991 hinzog, als Repräsentanten elf ehemaliger Sowjetrepubliken mit der Erklärung von Alma-Ata die Bildung der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ begründeten.85 Der Westen verhielt sich zurückhaltend angesichts dieses säkularen Verfallsprozesses, der die Staatenwelt revolutionierte. In der ersten Hälfte des Jahres 1990 ging es der Bundesrepublik und den USA vor allem noch darum, die sowjetische Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland zu erhalten; dazu wurde auf dem NATO-Gipfel vom 5./6. Juli 1990 eine Erklärung verabschiedet, die einen grundlegenden Wandel der Allianz versprach. All dies war dazu gedacht, Gorbatschow angesichts zu erwartender Gegner auf dem parallel stattfindenden XXVIII. KPdSU-Parteitag (2.–13. Juli) zu stärken. Gorbatschow überstand den Parteitag und konnte anschließend mit der Bundesregierung die endgültigen Bedingungen der gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft aushandeln, die er prinzipiell bereits am 31. Mai 1990 zugestanden hatte.86 In der zweiten Jahreshälfte wurde Gorbatschows zunehmende innenpolitische Schwäche zu einem Pluspunkt im Verhältnis zu den Westmächten: Denn nichts fürchteten diese mehr als dauerhafte Instabilität der bereits unter massiven wirtschaftlichen und Nationalitätenproblemen leidenden Sowjetunion, geschweige denn einen dadurch beförderten Umsturz, der den ihnen wohlgesonnenen Gorbatschow hinweggefegt hätte. Und nachdem die deutsche Einheit unter Dach und Fach gebracht worden war, benötigten die USA Gorbatschow erneut als Verbündeten angesichts der Golfkrise. Unter diesen Bedingungen hatten die baltischen Staaten, die in ihrem Kampf um Unabhängigkeit in dieser Zeit um westlichen Beistand baten, das Nachsehen. Hilfe erhielten die Litauer lediglich von litauischen Emigranten in den

85 Vgl. dazu insgesamt u. a. Richard Lorenz, Das Ende der Sowjetunion, in: ders. (Hg.), Das Verdämmern der Macht. Vom Untergang großer Reiche, Frankfurt a. M. 2000, 256–280, hier 268–278; zum Putsch vom August 1991 Ignaz Lozo, Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion, Köln/Weimar/Wien 2014. 86 Vgl. dazu u. a. Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998.

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Vereinigten Staaten; nur die Tschechoslowakei und Polen sowie Island und Dänemark fanden sich zur Unterstützung der Balten bereit.87 Die Hilfsbereitschaft für Gorbatschow fand freilich bei den meisten westlichen Staaten dort eine Grenze, wo es um Geld für die finanziell immer stärker bedrängte Sowjetunion ging. Die Bundesregierung hatte zwar erhebliche Summen aufgebracht, um die Sowjetunion zur Aufgabe der DDR und zum Abzug der sowjetischen Truppen zu bewegen; als sich Gorbatschow jedoch an den G-7-Gipfel in London am 17. Juli 1991 wandte und um Kredite in Höhe von 15 bis 20 Mrd. Dollar bat, blieb Bush hart. Nur wenn die Sowjetunion ernsthafte marktwirtschaftliche Reformen einführte, war er bereit, auch entsprechende Kredite zur Verfügung zu stellen. Die Führer der G-7 ließen sich aber von dem sowjetischen AntiKrisen-Programm nicht beeindrucken. In dieser Situation, als in den meisten westlichen Volkswirtschaften eine Rezession einsetzte, war diesen das Hemd näher als der Rock.88 Wenn auch die Staaten der westlichen Hemisphäre zögerten, die sowjetische Schwäche für politische Ziele auszunutzen, so griff die westliche Wirtschaft um so beherzter zu, als es darum ging, die eigenen Positionen beim Zugang zum Markt und zu den Ressourcen der untergehenden Sowjetunion zu sichern und auszubauen.89 Diese epochalen Entwicklungen vollzogen sich nicht gewaltlos: Innerhalb der ehemaligen Sowjetunion forderten die ethnischen Konflikte einschließlich der Einsätze der sowjetischen Armee und Polizeitruppen bis Ende 1990 1049 Tote und 8951 Verletzte; über eine halbe Million Menschen waren zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht.90 Dass es nicht mehr waren, lag sicher auch an der weitgehenden Zurückhaltung Gorbatschows, wenn es um den Einsatz staatlicher Gewalt ging. Überdies waren zwischen den Blöcken nie erhöhte Spannungen registriert worden, trotz der angespannten Situation. Dies war auf den in den vorangegangenen Jahren erreichten Stand der Entspannung und auf den Aufbau zwischenstaatlichen Vertrauens zurückzuführen, das letztlich auch den Westen davon abgehalten hatte, die innere Schwäche der Sowjetunion politisch auszunutzen, sondern diesen dazu gebracht hatte, Gorbatschow zu unterstützen. An die Stelle der Ost-WestKonfrontation trat eine neue, fragmentierte internationale Ordnung, dominiert von den USA und instabiler als zuvor, aber befreit vom Risiko eines weltweiten Atomkriegs.

87 Vgl. Spohr Readman, Between Political Rhetoric, passim; Alex Pravda, The Collapse of the Soviet Union, in: Leffler / Westad (Hgg.), Cambridge History of the Cold War, Bd. III, 366– 369. 88 Vgl. ebenda, S. 374–377; Mária Huber, Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums, München 2002, 279–284. 89 Vgl. ebenda, S. 285–290. 90 Vgl. Astrid S. Tuminez, Nationalism, Ethnic Pressures, and the Breakup oft he Soviet Union, in: Journal of Cold War Studies 5/2003, H. 4, 81–136, hier 121.

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Schlussbetrachtung 1. Das lange letzte Jahrzehnt des Ost-West-Konflikts begann mit beispiellosen Spannungen und endete mit dem Untergang der sowjetischen Weltmacht. Das ging letztlich auf die mangelnde Wirtschaftskraft der Sowjetunion zurück, die sich im Verlauf der 1980er Jahre immer deutlicher bemerkbar machte. Lange Zeit konnte diese wirtschaftliche Schwäche mit militärischer Macht ausgleichen, so dass der Westen ihr weltpolitisches Gewicht 1979/80 noch überschätzte. Gleichwohl zeigte sie bereits deutliche Anzeichen von Überdehnung, etwa als sie sich 1981 zu einer Intervention in Polen nicht mehr in der Lage sah. Die sowjetischen Reformen in der Sowjetunion, dazu gedacht, die Wirtschaft wieder zu dynamisieren, verfehlten nicht nur ihre Ziele; sie stürzten diese vielmehr in eine tiefe Krise, die den Untergang der östlichen Supermacht beschleunigte. 2. Mit dem Nachlassen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit schwand auch die Attraktivität der kommunistischen Ideologie. Zu Beginn der 1980er Jahre versuchten die Führungen im Ostblock noch einmal mit dem Friedensthema zu punkten, was jedoch angesichts der sowjetischen Hochrüstung nur bei einem Teil der westlichen Friedensbewegung verfing. Lediglich die DDR konnte sich nach 1983 in Abgrenzung von der Sowjetunion als Friedensmacht profilieren. Umgekehrt gewannen die westlichen Menschenrechtsvorstellungen im Ostblock an Boden, sowohl bei den Menschen als auch langfristig auch bei den Regierungen. Entideologisiert wurde der Kalte Krieg schließlich von Gorbatschow selbst, der sich zu Beginn seiner Amtszeit zwar immer wieder auf Lenin berief, später jedoch nicht nur in Taten, sondern auch in Worten der Ideologie zuwiderhandelte. 3. Der Zweite Kalte Krieg war vor allem durch Fehlperzeptionen ausgelöst worden. Voraussetzung dafür war ein Klima der Konfrontation und des wechselseitigen Misstrauens zwischen den Supermächten. Reagan sah sich erst nach massiven Gegenrüstungen dazu in der Lage, aus einer Position der Stärke mit der Sowjetunion zu verhandeln, während Gorbatschow nach Abrüstung strebte, um die Rüstungslasten zu verringern. Beide trafen sich jedoch in ihrer Abneigung gegen die atomare Hochrüstung; insofern standen sie sich ab 1986/87 als kongeniale Partner gegenüber, wenngleich Gorbatschow zu größeren Zugeständnissen bereit war als Reagan. Es wäre jedoch verfehlt, die Ursachen für die Rückkehr zur Detente allein bei den Supermächten zu suchen; denn sowohl in West- als auch in Osteuropa wurde während des gesamten Zweiten Kalten Krieges auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene an der Entspannung festgehalten und damit die Voraussetzungen für neue Verbindungen zwischen Ost und West geschaffen. 4. Dass 1987 über die Entspannung hinaus ein Zeitalter der Abrüstung eingeleitet wurde, war etwas grundlegend Neues gegenüber den vorangegangenen Jahrzehnten. Dies hing nicht nur mit wirtschaftlichen Zwängen auf sowjetischer Seite, sondern auch damit zusammen, dass die Ursache der Spannungen, das wechselseitige Misstrauen, auf höchster Ebene zunehmend abgebaut wurde. Das verweist darauf, dass der persönliche Faktor bei diesem epochalen Wandel eine maßgebliche Rolle spielte.

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5. Der Ost-West-Konflikt endete zwar mit einem Sieg des westlichen und dem Untergang des östlichen Systems. Jedoch hatte der Westen allenfalls indirekt zum Ende des Ostblocks und zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen, da er den Menschen östlich des immer poröser werdenden Eisernen Vorhangs als das attraktivere System erschien. Den unterdrückten Gesellschaften in den Ostblockstaaten war vor allem aufgrund der Lockerung der sowjetischen Zügel und der ausdrücklichen Abkehr Gorbatschows von der Breschnew-Doktrin die Möglichkeit eröffnet worden, sich erfolgreich gegen die ihnen aufoktroyierten Regime zu widersetzen und diese auf teils evolutionärem, teils revolutionärem Wege zu beseitigen. Die Sowjetunion selbst war aufgrund endogener Ursachen implodiert. Der Westen sah in diesem Vorgang, an dessen Ende sich die Staatenwelt grundlegend ändern sollte, eher eine Gefahr als eine Chance, so dass er sich weitgehend zurückhielt. Auch dies trug, neben der grundsätzlichen Absage Gorbatschows an Gewalt als Mittel der Politik, wesentlich zum weitgehend friedlichen Verlauf der epochalen Umwälzungen bei. Prof. Dr. Hermann Wentker, Berlin

L’AFRIQUE ET L’EUROPE Relations comparées et processus d’intégration régionale conjoints Ludger Kühnhardt Zusammenfassung Die Partnerschaft zwischen der Afrikanischen Union und der Europäischen Union initiiert eine neue Phase in den Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten. Es ist offenkundig, dass Elemente der vergangenen Struktur in den Beziehungen zwischen den beiden kontinentalen Nachbarn nicht spurlos und rasch verschwinden. Gleichwohl ist es angebracht, von der gegenwärtigen Bemühung um eine wahrhaftige bi-kontinentale Partnerschaft als einer neuen historischen Epoche zu sprechen. Um diese besser einzuordnen in die Zusammenhänge der regionalen Integration, empfiehlt der Autor – Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn und Mitglied des wissenschaftlichen Beirat des West Africa Institute (WAI) in Praia – zwischen drei historischen Phasen in den Beziehungen von Afrika und Europa zu unterscheiden: Phase 1: Im Zeichen des Kolonialismus stand das Ansinnen von Eurafrique/Euro-Africa; Phase 2: Die Assoziation der beiden Kontinente im postkolonialen Zeitalter wurde vom Ideal der Entwicklung geprägt; Phase 3: Der Beginn einer wahrhaftigen Partnerschaft zwischen den beiden Kontinenten markiert die Neuordnung der Beziehungen von Afrika und Europa zu einem Zeitpunkt, wo beide Kontinente nach einer inneren regionalen Integration streben. Abstract The partnership between the African Union and the European Union initiates a new phase in the bi-continental relations. It is obvious that elements from past phases of the relations between the two neighbouring continents survive the current paradigmatic shift. Yet, it is worthwhile to consider the current phase of a true partnertship as a momentous historic opportunity. The author, director at the Center for European Integration Studies (ZEI) at Bonn University and member of the Scientific Committee of the West Africa Institute (WAI) in Praia, distinguishes between three historic periods in the relation between Africa and Europe: Phase 1: the notion of Euro-Africa during the colonial era; phase 2: the perspective of association and its defining idea of development; phase 3: the beginning of a true partnership and the quest for regional integration in both regions.

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I. Contexte et focalisation Un partenariat entre l’Europe et l’Afrique – c’est aujourd’hui la seule idée constitutive et valable pour organiser des relations entre les deux continents voisins. Après le premier sommet entre l’Union Africaine et l’Union Européenne à Caire en 2000, ainsi que les deux sommets à Lisbonne en 2007 et à Tripoli en 2010, le quatrième sommet entre les deux continents voisins aura lieu en 2014. Les sommets bi-continentaux portent sur les activités régulières dans la structure du partenariat entre l’Afrique et l’Union Européenne. Inévitablement, les sommets politiques se trouvent sous l’influence des événements et des bouleversements actuels. Néanmoins, plus remarquable que le partenariat entre l’Union Africaine et l’Union Européenne au niveau des sommets politiques est le développement d’un itinéraire complexe et multidimensionnel initié par la stratégie commune des deux continents partenaires, qui était publiée en 20071. Il n’est pas le lieu ici pour discuter la structure en détail, les efforts et les effets, mais aussi les limites et les déficits de ce partenariat stratégique. Mais il faut souligner que le partenariat entre l’Union Africaine et l’Union Européenne a initié une nouvelle étape dans les relations entre les deux continents voisins. Evidemment, un changement de paradigme ne se réalise pas en un jour, ni même en une décennie. Il est clair que les éléments surannés survivent n’importe quel changement paradigmatique. Dans ce contexte, l’initiative du partenariat peut être considérée comme une opportunité historique. Les relations entre l’Europe et l’Afrique étaient définies trop longtemps par un sens de la supériorité européenne, par l’ambition de conquérir, d’exploiter et de dominer. Très souvent, l’Europe se caractérisait comme continent éclairé, avec un certain racisme de supériorité. Même les relations entre les Européens étaient déterminées par ces intuitions agressives: Par la supériorité, un sens de dominance, de honte et d’orgueil. Au fond d’analyse, les conquêtes coloniales étaient une projection de ces attitudes nationalistes parmi les Européens. Le colonialisme comme tel n’était pas un projet européen. Pour longtemps, l’ambition de projeter le pouvoir national a défini les relations entre les pays européens – et exactement ce comportement se reflétait aussi en dehors de l’Europe dans les relations des pays européens vis-à-vis les sociétés africaines. Le colonialisme n’était pas une stratégie européenne commune mais au contraire une stratégie nationaliste et donc antieuropéenne. Et, plus important, le colonialisme comme tel n’était pas lié à une stratégie bi-continentale. Ce qui représentait une stratégie bi-continentale à l’âge du colonialisme c’était l’idée d’Eurafrique dans ses dimensions diverses. Pour souligner l’importance du partenariat de notre temps, il faut donc distinguer entre trois phases historiques de relations entre l’Afrique et l’Europe lors du 19ième et 20ième siècle: Phase 1: L’idée d’Eurafrique et la dominance coloniale exercée par des pays européens l’un contre l’autre; phase 2: Le projet d’une association postcoloniale défini par la logique du développement et la collaboration   1

Le Partenariat Stratégique Union Africaine-UE, online sous: www. ec.europa.eu/develop ment/icenter/repository/EAS2007_joint_strategy_fr.pdf.

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commerciale et basé sur la primauté des états de deux côtés; phase 3: La décolonisation du post-colonialisme qui se déroule actuellement et qui ouvre la perspective d’un vrai partenariat parmi les continents, ses régions et ses peuples au-dessus des états-nationaux et leur inclination de se définir comme projet autonome. Après la réflexion sur les trois phases historiques entre l’Afrique et l’Europe, je vais rappeler la raison clé pour l’avancement d’intégration régionale, soit en Europe, soit en Afrique. J’ajouterai quelques critères qui sont importants pour établir une intégration durable et profonde. Finalement, je discuterai les principes fondamentaux qui peuvent guider le partenariat entre l’Europe et l’Afrique dans ses prochaines phases. De plus, je proposerai que l’idée de la « solidarité des faits » – le principe qui organise les relations franco-allemandes depuis la déclaration Schuman – constitue aussi les rudiments pour l’avenir des voisins européens et africains. II. Les phases historiques entre les continents voisins Phase 1: Parmi les idées qui ont avancé la conquête coloniale vers une stratégie bi-continentale, l’idée d’Eurafrique était particulièrement significative pour la pensée coloniale en Europe sur les relations avec l’Afrique: Pour les colonialistes en général, l’Afrique était perçue comme un continent sous-développé et incapable de s’organiser même sur la base de rationalité. Pour ceux qui ont proposé l’idée d’Eurafrique, l’Afrique n’était qu’une prolongation d’Europe, c’est-à-dire une arrière-cour située au sud d’un continent si fier de soi-même. Déjà parmi certains penseurs du 19ième siècle, comme Barthélemy Prosper Enfantin, un SaintSimonist, ou Friedrich List, qui « avait aussi songé à un ‘Zollverein’ étendu à l’Afrique »2, l’idée d’Eurafrique était vivante. Mais le 20ième siècle a vu la définition de cette idée en pleine force. L’iconographie d’Eurafrique est révélatrice: Entre les années 1920 et 1960, des conceptions diverses d’Eurafrique ont trouvé une expression dans les textes européens et, surtout, dans les mappemondes3. Une Europe menacée par son déclin après la Première Guerre mondiale, définie par ses craintes internes telles que ses pressions géopolitiques et démographiques externes, était à la recherche de sa propre place dans le monde. Entre outre, l’euro-enthousiaste autrichien Richard Coudenhove-Kalergi4 ainsi que le géo-stratège allemand Arthur Dix5 ou l’architecte allemand Herman Sörgel6 ont   2 3 4 5 6

Chantal Metzger, L’Allemagne et L’Eurafrique, dans: Marie-Thérèse Bitsch/Gérard Bossuat (Hgg.), L’Europe unie et l’Afrique. De l’idée d’Eurafrique à la Convention de Lomé I, Brüssel 2005, 59. voir Karis Muller, Iconographie de l’Eurafrique, ibid., 9–33. Ibid., 11, 28 (Richard Coudenhove-Kalergi, Die Europäische Nation, Stuttgart 1953, 151–152 (manifest originale de 1920)). Ibid. 12, 28 (Arthur Dix, Weltkrise und Kolonialpolitik. Die Zukunft zweier Erdteile, Berlin 1932, 311–329). Ibid., 13 (Herman Sörgel, Atlantropa, Zürich 1932, 100).

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désigné les plans d’une union paneuropéenne y incluant les colonies françaises en Afrique, sans la Grande-Bretagne et, surtout, sans la Russie. Sörgel l’a imaginée comme une « Atlantropa ». Dans un article du 20 avril 1957, le « Business Week » de New York a proposé une « Eurafrica » essentiellement comme un marché commun de six pays fondateurs en Europe de l’Ouest prolongé par l’Afrique, qui a pour objet le combat de la pauvreté en Afrique et également le contrôle de la périphérie européenne7. Le socialiste français Sarraut a songé à une « Eurafrique vraiment républicaine »8, étant quand même une Eurafrique coloniale. Le socialiste anglais Ernest Bevin a parlé d’une « Euro-Africa »9 comme une Union de l’Ouest avec une dimension sous-saharienne. Les représentants des industrielles minières ont pensé de l’Eurafrique en 1953, en créant un « Consortium européen pour le développement des ressources naturelles de l’Afrique à Luxembourg »10. Dans sa première phase, l’Eurafrique était sans doute un concept colonialiste, quelques fois inspiré de la gauche dans les moments progressistes en croyant à l’avenir technologique et industriel, quelques fois inspiré de la droite par des éléments géopolitiques en considérant l’angoisse d’une Europe en déclin. Après la Deuxième Guerre mondiale, l’idée d’Eurafrique était revitalisée comme la conception d’une troisième force entre le monde atlantique dominé par les États-Unis et l’espace eurasiatique sous l’hégémonie de l’Union Soviétique. Dans ce contexte, l’Afrique n’occupait qu’une fonction dans la géostratégie de la Guerre froide. C’était la période d’un « néo-colonialisme éclairé », comme l’historien Marc Michel le disait11. L’ambassadeur de la Grande-Bretagne à Paris, Alfred Duff Cooper, a proposé la création d’une Union Africaine sous la direction d’Europe12. Comme les autres participants de cette discussion, il a réfléchi à l’idée d’Eurafrique comme une troisième force dans la politique mondiale, une force en même temps atlantique et euro-africaine. Le résultat historique de cette phase n’était pas la création d’une troisième force, mais enfin l’indépendance du tiersmonde, un monde autonome, sans acceptant aucune conception paternaliste, un monde d’auto-détermination et d’identité authentique. Phase 2: Encore un mois avant la signature des Traités de Rome, le ministre des Affaires Etrangères françaises, Christian Pineau, a présenté son idée d’Eurafrique à l’ONU (en février 1957). Mais en réalité, avec les Traités de Rome, les traités fondateurs de la Communauté Economique Européenne, la deu  7 8 9

Ibid.,13. Voir Yves Montarsolo, Albert Sarraut et l’Idée d’Eurafrique, ibid., 90. Voir Anne Deighton, Ernest Bevin and the Idea of Euro-Africa from the Interwar to the Postwar Period, ibid., 98–118. 10 Karis Muller, op.cit., 20. 11 Marc Michel, La coopération intercoloniale en Afrique noire, 1942–1950: un néocolonialisme éclairè?, in: Relations internationales, 34/1983, 155–171, cit. Bitsch/Bossuat, op.cit., 131. 12 Cit. Anthony Adamthwaite, Britain, France, the United States and Euro-Africa, 1945–1949, op.cit., 131.

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xième période des relations modernes entre l’Afrique et l’Europe commençait: C’était la période des relations associées, définies par l’espoir du développement, et des relations commerciales privilégiées. Les articles 131 et 136 du Traité de Rome représentaient un compromis entre les intérêts différents des six pays fondateurs de la CEE: la France a réussi l’association de ses territoires d’outre-mer par le marché commun européen, sans oublier l’appui de la Communauté pour financer le développement de ces territoires. L’Allemagne de l’Ouest était capable de limiter ses obligations financières à cinq ans – le fonds de développement créé à l’époque existe jusqu’à aujourd’hui – et l’assurance que la politique européenne en Afrique sera cohérente avec l’article 73 de la Charte des Nations-Unies, c’està-dire en faveur de l’auto-détermination de tous les peuples. Au début, l’agenda de l’association entre l’Europe et l’Afrique – reconnaissante de l’inévitabilité d’une indépendance africaine – était encore politique et stratégique; soit pour les Français qui n’ont pas accepté la Grande-Bretagne dans l’enjeu européen, soit pour les Allemands qui étaient à la recherche d’une réhabilitation morale et de leur souveraineté perdue après leur responsabilité pour l’éclat de la Guerre mondiale. Les Traités de Rome étaient les premiers dans la longue liste des compromis entre les Français et les Allemands. Mais ce qui est aussi certain: la dimension d’Afrique ne joue aucun rôle si on discute l’origine de l’intégration européenne aujourd’hui en Europe. Le récit dominant s’occupe avec la réconciliation interne en Europe. Surtout, un aspect de l’impérialisme colonial était la projection des conflits internes autour du monde. Mais le monde a toujours continué de jouer un rôle important en dehors des règles européennes. Donc, grâce à la faiblesse des vainqueurs européens de 1945, la France et la Grande-Bretagne, et grâce à une Allemagne divisée, la protection d’Europe commençait sous l’abri américain. Les États-Unis étaient toujours en faveur de l’auto-détermination des peuples colorés – dès les paroles de Woodrow Wilson jusqu’à la politique de Roosevelt et Truman. L’Eurafrique, dans n’importe quelle dimension, n’était jamais une option américaine. L’association alors, la deuxième phase historique des relations bicontinentales: Les Traités de Rome, et surtout le Traité de la Communauté Atomique Européenne, étaient orientés vers la perspective d’une association des territoires d’outre-mer en faveur de leur propre développement et également en faveur du développement en Europe. Les intérêts commerciaux, les besoins d’énergie, les marchés d’importation pour les produits européens – c’était le contenu des perspectives d’une association située entre une Europe renaissante après la Deuxième Guerre mondiale et une Afrique libérale au déclin du colonialisme. La dimension morale des relations dans ce genre d’association était un produit des années 60 et 70, avec la focalisation à l’aide du développement et avec la réflexion sur la culpabilité coloniale. Certainement, les vieux conflits intra-européens – aussi exercés aux territoires africains – n’étaient pas totalement éliminés dans les années 60 et 70. Le veto de Général de Gaulle contre l’application de la Grande-Bretagne dans la Communauté Economique Européenne en 1963 portait aussi une dimension de la compétition globale, même si c’était une compétition postcoloniale qui était surchargée par la Guerre froide. La potentialité d’une Eurafrique démocratique et

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parlementaire se présentait encore une fois à l’occasion de la conférence parlementaire eurafricaine à Strasbourg en juin 196113. Mais l’Eurafrique républicaine ou même démocratique était déjà surpassée par l’indépendance nationale et l’association des pays africains avec une Europe postcoloniale et, en plus, postnationaliste qui a commencé de s’unifier pas à pas. L’association était définie par les Traités de Rome, et par la Convention de Yaounde, par les conventions de Lomé, et par la Convention de Cotonou en 2000 qui étaient des projets postcoloniaux, définis par le calcul du développement et par les intérêts commerciaux, précisés graduellement par les expériences spécifiques et politiques14. La conception d’une association exposée dans ces Conventions joue un rôle dans le processus de la réconciliation des Européens: En acceptant la Grande-Bretagne dans la Communauté Européenne, les autres partenaires européens ont simplement élargi la surface de l’association, en intégrant aussi les pays du Commonwealth anglais. L’intégration était déterminée par la méthode de simplement élargir le focus pour établir un équilibre entre les différences des pays européens. Cette décision a aussi influencé les relations en Afrique propre: Il n’était pas une coïncidence que le traité fondateur de la CEDEAO en mai 1975 était suivi quelques mois après par la signature de la première Convention de Lomé, effectivement signée en février 1975 – et, bien sûr, l’adhésion de la GrandeBretagne à la Communauté Economique Européenne en 1973. Le Traité de l’amitié franco-allemande signé en janvier 1963 n’a pas joué un rôle principal dans le développement des relations entre l’Europe et l’Afrique. Sans définir des objectifs communs, le Traité de l’Elysée a simplement agrégé les aspirations eurafricaines françaises et les visions paneuropéennes allemandes, sans y faire explicitement référence. Le Traité de l’Elysée a promis de coordonner la politique du développement entre Bonn et Paris. Mais le problème principal consistait des mots utilisés et, également, de l’absence d’une précision sur les objectifs de cette coordination: En 1963, la France poursuivait une politique autonome vis-à-vis ses territoires d’outre-mer, ses colonies et ses ex-colonies, en utilisant l’Afrique pour son enjeu stratégique. L’Allemagne essayait de profiter des aspects commerciaux et morales en poursuivant une politique en faveur du développement et de l’auto-détermination d’un côté et une politique en faveur de l’intégration européenne de l’autre.   13 Voir Urban Vahsen, La Conférence Parlementaire Eurafricaine de Strasbourg (19–24 Juin 1961), op. cit., 375–391. 14 Voir Francoise Moreau, The Cotonou Agreement – New Orientations, in: The Courier, 9/2000, 6–10; Stephen R. Hurt, Co-Operation or Coercion? The Cotonou Agreement between the European Union and the ACP States and the End of the Lomé Convention, in: Third World Quarterly, 24.1/2003, 161–176; Sven Grimm, Die Verträge von Lomé und Cotonou, in: Informationen zur politischen Bildung, 303/2009, 63–65; Margaret C. Lee, Trade relations between the European Union and Sub-Saharan Africa under the Cotonou Agreement, in: Roger Southall/Henning Melber (Hgg.), New Scramble for Africa? Imperialism, Investment and Development, Scottsville 2009, 83–110.

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Les limites de la politique d’association vues en parallèle à la persistance des intérêts spécifiques entre les pays européens dans leur projection globale étaient évidentes lors de toute cette période d’association: la France se faisait critiquer pour la continuation de « Françafrique », la Grande-Bretagne a préféré les relations spéciales envers les Etats-Unis et l’Allemagne était dirigée vers la résolution de la division du pays ce qui était plus favorable à la réconciliation avec l’Europe de l’Est qu’à la redéfinition de ses relations avec l’Afrique. Finalement, le processus a trouvé ses limites à cause de trois raisons: la réalisation en étapes des limites du projet d’association grâce à la confiance des Africains, les autres acteurs au marché mondial sous pression des activités privilégiées entre l’Europe et l’Afrique et, l’intensification du processus d’intégration européenne y incluant la dimension extérieure des relations européennes. Phase 3: Donc, l’Afrique et l’Europe ont commencé la troisième phase de leurs relations réciproques, le partenariat. L’un des résultats des processus multidimensionnels contemporains en Europe est la redécouverte d’Afrique comme voisin, comme problème surtout, mais aussi comme possibilité, un partenaire en pleine transformation. La perception de pression, la réflexion sur les marchés vivants, l’angoisse de la présence chinoise et le concours avec les Etats-Unis du rôle stratégique et global, ces éléments pavaient le chemin de la redécouverte d’Afrique après la fin de la Guerre froide. En même temps, l’Union Européenne avait commencé de vraiment s’intégrer – le marché uni, l’euro, les processus de réforme des institutions avec une dimension plus européenne, parlementaire et fédérale, les activités dans le cadre de la politique extérieure et de la sécurité jusqu’à la création du Service Extérieur Européen. Finalement, les pressions en provenance de la mondialisation, le bouleversement des piliers du pouvoir au monde et une nouvelle discussion interne sur le déclin d’Europe – cette fois la réponse n’était pas une nouvelle version d’Eurafrique ou même du concept de l’association, cette fois la réponse était la recherche d’un vrai partenariat entre l’Afrique et l’Europe. En 2005, l’Union Européenne a préparé sa propre stratégie sur l’Afrique15, suivie en 2007 par la stratégie commune entre l’Union Africaine et l’Union Européenne. Aujourd’hui, ces faits sont à la base d’une nouvelle époque de relations entre les deux continents voisins. C’est le début d’un processus à long terme. Mais le processus est historique: la décolonisation du post-colonialisme. Il contient la transformation des générations et des itinéraires, des perspectives et des sujets. Surtout, il est resté un processus à long terme, plein de contradictions, avec beaucoup de ruptures, de frustrations, mais en même temps, c’est un processus fascinant, plein d’essais et d’efforts substantiels et sérieux. Le printemps arabe ajoute une dimension particulière aux relations bicontinentales entre l’Europe et l’Afrique: la destruction de la division artificielle entre l’Afrique du Nord et l’Afrique subsaharienne. L’Union pour la Méditerranée   15 La Stratégie de l’UE sur l’Afrique, online sous : www.europa.eu/legislation_summaries/deve lopment/african_caribbean_pacific_states/r12540_fr.htm.

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– étant une approche européenne qui donne substance à la ségrégation de l’Afrique du Nord avec l’Afrique subsaharienne – était toujours limitée dans ses objectives et ses applications possibles. Selon les événements du printemps arabe, il est indubitable que les défis structurels en Afrique du Nord ne sont pas très étranges à l’agenda de l’Afrique subsaharienne: la nécessité d’une limitation du pouvoir exécutif, les problèmes constitutionnels et, surtout, la frustration de la jeunesse sur l´état économique de leur pays. Donc, le printemps arabe et ses espoirs inachevés renforcent la nécessité de donner plus de substance et de réalisme au partenariat entre l’Europe et l’Afrique. Le partenariat entre l’Union Africaine et l’Union Européenne définit la troisième période des relations entre l’Europe et l’Afrique. C’est une période à peine commencée qui se réalisera lors des décades suivantes. La base de ce partenariat, c’est une Europe transformée par sa propre intégration et une Afrique transformée par sa propre renaissance. Ce développement se caractérise par la décolonisation de l’ère postcoloniale, intellectuellement et en réalité. Le partenariat EuroAfricain est défini par le respect mutuel, la coopération réciproque, les principes de la liberté et de la solidarité, l’inclusion et le dialogue politique pour gérer les différences et pour réaliser des valeurs ajoutées. III. Conditions pour l’intégration régionale viable La structure extérieure des relations entre l’Europe et l’Afrique reflète la transformation perpétuelle des structures et des objectifs internes au sein des deux continents voisins. La première phase était définie par deux objectifs disparates: – organiser la paix, c’était l’objectif principal en Europe, – protéger l’indépendance, c’était l’objectif principal en Afrique. Les conséquences étaient évidentes: Pour l’Europe, la priorité était le lancement des mécanismes internes pour consolider la paix par les instruments de contrôle réciproque et donc par des mécanismes pour partager la souveraineté sur des ressources économiques les plus stratégiques, c’est-à-dire du charbon et d’acier, suivi de près par l’agriculture et par les marchés entiers. Pour l’Afrique, la priorité était la création de l’Organisation pour l’Unité Africaine comme instrument protecteur de l’indépendance, la souveraineté nationale et le principe de non-ingérence aux affaires internes. Paradoxalement, lorsque l’Europe commençait à surpasser la primauté d’état national en reconnaissant ses ambigüités comme source principale de pouvoir interne et également de conflits externes, l’Afrique embarquait aux processus inverses: la création des nations et des états, souvent un peu artificiels – comme c’était le cas d’ailleurs, y inclus l’Europe il y a des siècles. Les conséquences de ces deux priorités disparates ont coupé les liens coloniaux et les fantasmes eurafricains. Ils provoquent presque une clôture des relations réciproques. L’Europe s’occupait de soi-même, pareille pour l’Afrique. Bien sûr, les relations formelles continuaient: l’âge du développement sous la base d’association était plein d’activités. Mais comme conséquence des priorités principales, les acteurs se sont spécialisés. C’est-à-dire que les acteurs du développe-

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ment étaient à part des acteurs politiques et stratégiques. L’itinéraire du développement et d’aide n’était pas vraiment lié aux autres politiques des pays industrialisés. L’Afrique devenait un continent à part de l’Europe. Autrement dit: l’âge du développement et d’aide a annulé les relations stratégiques et, plutôt, les perceptions réciproques des deux continents. Pour L’Afrique, l’Europe était de plus en plus un continent fortifié avec une certaine projection morale exercée comme alibi par les moyens d’aide de développement (quelques fois avec des conditionnalités inacceptables); pour l’Europe, l’Afrique était un continent loin, fermé, plein de conflits, fragile et frustrant. En réalité, les processus n’étaient plus différenciés lors des décades d’association – c’est-à-dire entre 1960 et 1990. L’engagement de l’Europe se manifestait dans la transformation des relations entre les états-membres qui était accessible aux citoyens; l’élection du parlement européen en direct était symbolique. L’Afrique s’engageait avec les réformes internes; la première vague de démocratisation et la révision des processus d’intégration régionale étaient également symboliques. La fin de la Guerre froide a redéfini le contexte pour les relations bilatérales. Aujourd’hui, c’est l’âge de la mondialisation qui sert comme point de référence aux relations bi-continentales. Les effets pour l’Europe sont évidents: la conclusion du marché commun avec l’introduction de l’euro, l’établissement des structures pour une politique extérieure et pour une sécurité commune, et le débat sur la légitimité démocratique16. Pour l’Afrique, les effets étaient également évidents: la création de l’Union Africaine définie par le changement d’une politique de non-ingérence à une politique de non-indifférence17, la rationalisation des projets d’intégration régionale étant donné la création des communautés régionales d’intégration économique (en anglais: Regional Economic Communities, REC) avec des objectifs multidimensionnels. C’était donc le point de départ au moment de la dernière période qui était la plus innovatrice dans les relations réciproques des deux continents: l’initiative d’un partenariat bi-continental. Pourtant, cette constellation est chargée des éléments paradoxaux. Au milieu de la crise de dettes publiques de ses états membres et la nécessité de renforcer l’union monétaire et économique, l’Europe s’occupe plutôt de soi-même, lorsque, à l’inverse, plus que jamais l’Afrique s’ouvre au monde entier, y inclus la Chine, le Brésil, l’Inde, la Turquie et d’autres partenaires18 Quand même, les relations entre l’Europe et l’Afrique – for better or worse – sont plus intensives que d’autres relations d’Afrique avec des régions ou continents extérieurs. L’investissement en provenance de l’Union Européenne (agrégée) est plus haut que les investissements en provenance des autres régions qui   16 Voir Ludger Kühnhardt, European Union – The Second Founding. The Changing Rationale of European Integration, Baden-Baden 2008 (2ème édition 2010). 17 Voir Paul D. Williams, From Non-Intervention to Non-Indifference: The Origins and Development of the African Union’s Security Culture, in: African Affairs, 106/2007, 253–279. 18 Voir Ian Taylor, The International Relations of sub-Saharan Africa, New York 2010.

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s’engagent en Afrique; le commerce entre l’Union Européenne (agrégée) et l’Afrique est plus haut que le commerce entre l’Afrique et d’autres régions; l’aide du développement en provenance de l’Union Européenne (agrégée) est plus forte que l’aide du développement en provenance des autres régions. L’Union Européenne est surtout définie par une diversité des relations extérieures, parmi lesquelles les relations économiques et stratégiques avec les Etats-Unis restent les plus intensives. Mais il faut reconnaître que l’Union Européenne a redécouvert l’Afrique comme voisin en reconnaissant la transformation de l’Afrique contemporaine. Les deux voisins doivent intensifier ce processus de redécouvrir l’un l’autre dans la complexité juste. Pour l’Europe cela signifie plutôt une correction de la perception d’Afrique: Aujourd’hui pour la première fois, l’Afrique est plus que jamais un continent d’espoir qu’un continent d’angoisse. Il faut différencier parce que l’Afrique comme telle n’existe pas. Il y a de plusieurs Afriques. L’Europe doit respecter les réalités du continent, y inclus les structures continentales et régionales d’intégration. L’Europe peut contribuer à la recherche africaine d’un équilibre entre la stabilisation des pays nationaux et l’approfondissement des structures régionales et continentales. Le plus grand problème des deux voisins est similaire aujourd’hui: L’implémentation des décisions et des règles prises par un consensus politique et souvent renforcées par des décisions juridiques. Le problème de l’implémentation du consensus régional est fondamental même si on peut avoir l’impression que ce n’est qu’un problème technique. En réalité c’est intellectuellement le problème principal des processus d’intégration régionale, soit en Afrique, soit en Europe: Comment mieux implémenter les projets en commun pour convaincre les citoyens du bien de l’intégration? – ce doit être le point de départ pour une discussion fructueuse entre les acteurs et penseurs des deux régions voisines. En réfléchissant des expériences globales avec des systèmes d’intégration régionale, on peut tomber sur trois points fondamentaux pour avancer le discours sur l’implémentation des idées organisées par rapport à l’intégration régionale, c’est-à-dire: l’union douanière, le marché commun, le commerce inter-régional, l’union politique, l’organisation des institutions supranationales et fédératives, la politique extérieure commune, la primauté du droit régional, la balance de la légitimité des structures nationales et la légitimité des institutions supranationales19. 1. Des pays faibles produisent une intégration faible. A la fin, l’intégration régionale contient la création d’une valeur ajoutée régionale. Enfin, elle est basée sur la question simple et claire: qu’est-ce que nous voulons faire ensemble pour le bien-être de tous? Il est légitime d’ajouter: qu’est-ce qui serait la valeur ajoutée pour mon pays spécifique? Mais la solidarité commune et les mécanismes politiques, économiques et juridiques fonctionnent seulement si les éléments constituants d’un système régional sont assez solides et forts pour garantir la volonté   19 Voir Ludger Kühnhardt, Region-Building, Vol.1. The Global Proliferation of Regional Integration, Oxford/New York 2010, 11–70.

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politique commune et pour faciliter l’implémentation des décisions collectives et régionales. Donc, des pays faibles ou même fragiles peuvent espérer que leur propre intégration dans un système régional les stabilisera jusqu’à un certain point. Il n’y a pas de réponses scientifiques pour mesurer ce point-là. Et, c’est aussi vrai: les structures peuvent murer par la crise. Pourtant, il est indubitable que la fragilité et la faiblesse d’un état national limitent le processus d’intégration régionale pour tous les participants. La conception d’une coopération renforcée soulagera ce problème et avancera les projets régionaux sans attendre les restrictions, la fragilité ou le scepticisme d’une région. 2. Des pays non démocrates ne produisent pas de structure supranationale légitime fondée sur la primauté d’un droit commun. L’Union Africaine a décidé de poursuivre un chemin inclusif pour l’application de la conception de « building blocs » régionaux. Eliminer l’affiliation chevauchée c’est une chose, mettre en œuvre des processus réels et solides d’intégration régionale, c’est une autre. Dans l’analyse finale, un système d’intégration solide et forte doit accepter la primauté d’un droit régional au vrai. Quand même, cela ne fonctionne pas parmi des pays avec des régimes incomparables. A la fin, ce sont seulement des pays gouvernés par une démocratie réelle fondée sur l’état du droit qui garantissent l’application d’un droit commun et régional. 3. L’intégration régionale – si on la veut ou non – est un processus multidimensionnel et à long terme. Il est impossible d’isoler la logique économique de la logique politique ou bien de la logique juridique. L’intégration est un processus de deux chemins réciproques: les structures nationales influencent la réalité régionale et à l’inverse. Il n’y a pas un chef-d’œuvre théorique sur le chemin objectif qui guidera les processus d’intégration régionale. L’intégration, c’est un processus par tâtonnement, des réponses aux crises et des relances perpétuelles. Même si les parties constituées d’intégration régionale ne veulent pas passer la souveraineté nationale au niveau régional, le processus lui-même le fait. C’est-à-dire: L’intégration fonctionne comme une modalité réciproque entre le niveau national et le niveau régional – et à l’inverse. Comme conséquence, l’intégration régionale – soit dans le contexte de l’Union Européenne, soit dans le contexte de l’Union Africaine (ou même dans le contexte de la CEDEAO) – est un projet politique très pratique avec la nécessité de réfléchir, d’anticiper ses effets et ses détours, ses obstacles et ses limites. En 2013, au moment de l’écriture de cette analyse, l’Union Européenne se trouve dans une période dans laquelle le caractère politique de l’intégration est retourné au centre du débat. La crise des dettes publiques nationales s’est transformée en un nouveau projet pour avancer l’union politique européenne. En Afrique, également, l’Union Africaine s’occupe avec des modalités techniques pour améliorer son effectivité. Les deux groupements ont besoin de gagner plus de légitimité et de crédibilité par les résultats de leurs efforts. Le résultat des faits, c’est la clé pour renforcer la confiance de la population dans les projets d’intégration. Cet argument appartient aussi aux communautés économiques régionales en Afrique. Aujourd’hui, la CEDEAO (Communauté Economique des Etats d’Afrique d’Ouest), la Communauté d’Afrique Orientale (East African

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Community, EAC) et la Communauté du Développement d’Afrique Australe (Southern African Development Community, SADC) sont les projets d’intégration régionale en Afrique les plus prometteurs. Pour l’Union du Maghreb Arabe (AMU), la Communauté des Etats Sahélo-Saharienne (CEN-SAD), l’Autorité Intergouvernementale du Développement (IGAD), la Communauté Economique des Etats d’Afrique Centrale (CEEAC), et la Communauté d’un Marché Commun d’Afrique du Sud et d’Ouest (COMESA), les perspectives sont tout à fait moins claires. Pour la CEDEAO, le problème d’harmoniser et, finalement, d’unifier ses efforts avec l’UEMOA (Union Economique et Monétaire Ouest Africaine) est similaire à la situation de la CEEAC vis-à-vis la CEMAC (Communauté Economique et Monétaire d’Afrique centrale). Les relations restent sensibles entre les deux communautés monétaires postcoloniales et les deux visions régionales authentiques. Dans l’analyse finale, c’est une situation dans laquelle des relations entre l’Afrique et l’Europe postcoloniales se touchent avec l’innovation d’une Afrique authentique: l’UEMOA et la CEMAC appartiennent à un passage d’Eurafrique coloniale et au mieux postcoloniale, lorsque la CEDEAO et la CEEAC représentent l’avenir qui est défini par la décolonisation des périodes coloniales et, également, postcoloniales. L’existence d’une monnaie commune, sans doute, représente un élément fort du progrès intégrationniste. Mais l’existence d’une monnaie commune n’est pas durable sans contexte. Dans le cas d’euro, on a vu qu’une politique monétaire commune n’est pas suffisamment solide sans coordination, plutôt l’intégration de la politique macro-économique et, par conséquence, fiscale. Pour l’Union Européenne, la réalisation d’une union fiscale sera le dernier pas d’une nouvelle vague d’intégration politique. Il sera ni facile ni rapide de la réaliser. Mais les expériences des trois années passées ont démontré clairement que la seule solution durable est la perspective que les hommes politiques réclament « plus d’Europe » – c’est-à-dire: plus d’éléments d’intégration régionale profonde, plus de solutions fédératives. En Afrique, l’existence de deux unions monétaires ne reflète pas l’état réel et solide d’un marché commun, ni en Afrique Central, ni en Afrique de l’Ouest. Par conséquence, il n’y a que deux alternatives: Transformer l’union monétaire CEMAC et l’union monétaire UEMOA dans un marché commun réel et solide avec des dimensions d’une union politique, y inclus un parlement élu en direct, un cour de justice avec puissance et une politique étrangère commune – ou bien mêler l’UEMOA et la CEDEAO d’un côté, et la CEMAC et la CEEAC de l’autre, vers une communauté régionale réelle et multidimensionnelle, vers un marché commun, une monnaie transfrontalière et des dimensions macro-économiques et politiques20. Les chemins seront longs, durs et controversés, mais ils sont inévitables   20 Voir Corsino Tolentino / Matthias Vogl (Hgg.), Sustainable Regional Integration in West Africa/ Intégration régionale durable en Afrique de l´Ouest/ Integração regional sustentavel  

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pour sauvegarder les unions monétaires africaines comme projets d’une Afrique décolonisée de son héritage colonial et postcolonial. En plus, les problèmes de la stabilité, de la paix et de la tolérance restent graves en Afrique de l’Ouest. La crise on Mali a avancé, sous pression, l’option de la CEDEAO comme idée organisatrice d’une Afrique de l’Ouest responsable de soi-même, appuyée par l’Union Africaine qui a activé, pour la première fois, les contributions financières africaines pour financier une opération de la paix africaine. L’opération MISMA deviendra l’instrument clé pour donner solidité et crédibilité à la vision d’une Afrique intégrée qui donne substance à la promesse d’une responsabilité africaine pour des problèmes africaines, y inclus le financement de cette opération essentielle pour sauvegarder la stabilité et pour garantir le retour à une bonne gouvernance au Mali. Les deux partenaires – l’Union Africaine, ses états membres et les communautés régionales d’un côté, et l’Union Européenne et ses états membres de l’autre – sont confrontées avec le même défi: consolider leurs institutions, réaliser des résultats visibles, viables et durables et, ne plus que jamais, approfondir la légitimité des projets d’intégration dans la population respective. La solution de ce défi principal dépend plutôt des principes convaincants que des instruments factuels et fonctionnels. IV. Compromis, contrôle de soi et modération: le chemin vers l’avenir Quels sont les principes qui peuvent guider la consolidation des unions soit en Afrique, soit en Europe – et les relations entre les deux? Tout d’abord, il faut clarifier que ce n’est pas une question péjorative ou, pire, paternaliste. Les Européens ne présentent pas une histoire tout à fait encourageant: C’étaient les états européens qui ont organisé le colonialisme, c’étaient les états européens qui ont détruit la paix mondiale et finalement eux-mêmes comme conséquence des deux grandes guerres. Mais, pour rendre justice à l’Europe, il faut ajouter que c’étaient aussi les états européens qui se sont revitalisés dans la deuxième moitié du 20ième siècle, qui se sont rétablis dans un ordre de paix, dans une affluence sans alternative dans leur histoire et dans une construction d’intégration qui, si on applique la longue durée du chemin européenne, est presque la réalisation d’une anti-utopie européenne. Alors, trois principes sont essentiels pour l’avenir d’intégration régionale dans n’importe quel contexte mondial. 1. Comme le disait José Manuel Barroso, le président de la Commission Européenne, à l’occasion de la cérémonie du prix Nobel en décembre 2012 à Oslo: L’Europe combine la légitimité des états démocratiques avec la légitimité des organes supranationaux. L’intégration est un état de pensé qui contribue à un monde   na África Ocidental, ZEI Discussion Paper, C 208, Bonn 2011; Chibuike Uche, The European Union and Monetary Integration in West Africa, ZEI Discussion Paper, C 206, Bonn 2011.

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plus fédérative et cosmopolite21. C’est aussi une bonne formule pour définir les efforts africains dans le cadre de l’intégration continentale et régionale. Barroso a cité le premier président de la Commission Européenne, Walter Hallstein: Il faut reconnaître que l’état national n’a pas réussi des examens que l’histoire lui a présentés dans le siècle passé. La conséquence est structurelle et donc similaire pour l’Europe et pour l’Afrique: il faut construire des régions pour balancer la souveraineté des états avec la souveraineté des constructions régionales; il faut combiner le nation-building avec le region-building. 2. Le deuxième principe clé pour le succès de l’intégration était discuté à l’occasion de la cérémonie du prix Nobel 2012 par le directeur du comité Nobel, Thorbjǿrn Jagland: la volonté pour faire des compromis, le contrôle de soi, et la modération22. Jagland se référait à l’intégration européenne, mais il a mentionné un principe universel pour la paix des nations: la volonté pour faire des compromis, le contrôle de soi, et la modération sont des principes ou plutôt des vertus élémentaires pour maintenir et gérer l’intégration régionale partout. La confiance peut seulement se consolider avec modération et la volonté des compromis parmi les parties qui appartiennent à un projet régional. Le prix est, peut-être, une réduction de la vitesse dans les processus politiques, mais le bénéfice est, surtout, plus de solidité et donc plus de stabilité. En disant cela, il faut mettre en contexte les espoirs qui existent sur la rapidité des processus d’intégration. «L’herbe ne croît pas plus vite si on le tire», dit un proverbe africain. Les chercheurs qui discutent les processus d’intégration – soit en Europe, soit en Afrique – sont bien consulté d’accepter la sagesse de ce proverbe. Ni en Europe, ni en Afrique l’intégration régionale et la transformation d’un système entre états vers une union des peuples et des états auraient été créé si on met le temps à mal. 3. Le troisième principe constitutif pour un fonctionnement viable d’intégration régionale, c’est la « solidarité des faits », comme le disait Robert Schuman dans sa fameuse conférence de presse du 9 mai 1951. A ce moment-là, il a envisagé la création de la Haute Autorité de la CECA, le début de l’intégration européenne. Il me semble qu’aujourd’hui, l’énergie et l’infrastructure sont les facteurs analogues en Afrique prenant place de la fonction de l’acier et du charbon en Europe. Energie et infrastructure, ce sont les facteurs clé pour mettre en œuvre l’intégration des marchés africains, pour faciliter l’élimination des monopoles nationaux et pour diversifier les marchés privés. La légitimité supranationale, les compromis, la modération et la solidarité des faits – ensemble, ces principes doivent accompagner la transformation des alliances intergouvernementales aux unions fédérales, soit en Europe, soit en Afrique. Il faut avoir patience et il faut identifier les acteurs pertinents pour avancer l’itinéraire concret ce qui n’est pas très compliqué. Enfin, les acteurs sont pa  21 José Manuel Barroso, voir online sur: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates /2012/eu-lecture_en.html. 22 Thorbjǿrn Jagland, voir online sur: www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/2012 presentation-speech.html.

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reils en Afrique qu’en Europe: les sociétés civiles, les leaders politiques, les hommes des affaires, et les intellectuels. Un dernier mot à propos des expériences spécifiques que le Traité de l’Elysée – signé entre la France et l’Allemagne en 1963 – a contribué à cette transformation en Europe. La clé pour mieux entendre la dynamique qui était et reste liée au couple franco-allemand dans le contexte de l’intégration européenne, ce n’est pas le fait que la France et l’Allemagne sont les deux pays les plus grands de l’Union Européenne. La clé pour percevoir l’effet de la dynamique franco-allemande, c’est la reconnaissance du fait qu’il s’agit des pays les plus différents de l’Union Européenne. Le Traité de Rome en 1957 a établi un processus commun parmi les six pays fondateurs. Le Traité de l’Elysée en 1963 a renforcé l’ambition par les moyens bilatéraux. Les gouvernements français et allemands ont promis de se consulter régulièrement, entre outre, sur les dossiers de la politique extérieure. Consulter, ce ne signifie pas de s’arranger. En effet, il fallait quatre décades que les structures d’une politique extérieure européenne étaient créées par le Traité de Lisbonne. Les Traités de Rome ou de Lisbonne – ou n’importe quel traité bilatéral – n’étaient pas capables de surpasser les différences politiques et stratégiques par un coup de foudre. Pour harmoniser les pays au niveau régional, on a eu besoin de temps; il fallait prendre patience et accepter la méthode progressive. Jusqu’à aujourd’hui, le fait de l’harmonisation des intérêts politiques, des perspectives aux défis politiques et des réactions aux options politiques reste complexe. Un « intérêt européen » n’existe pas naturellement. Il faut le développer, pas à pas. Ce qui est vrai pour l’Europe n’est pas moins correct pour l’Afrique, si on fait une comparaison honnête de l’Union Européenne avec la CEDEAO dans ce sujet-là. La CEDEAO est particulièrement confrontée avec la nécessité de mettre ensemble les perspectives des pays anglophones, francophones et lusophones. C’est plus qu’une question linguistique ou bientôt historique. Plus le processus d’intégration régionale avancera, plus on sera confronté avec les différences entre les traditions et les systèmes juridiques en Afrique de l’Ouest. L’intégration régionale, à vrai titre, signifie de gouverner ensemble et de réguler ensemble. Donc, un couple consistant de Nigeria d’une côté et des pays francophones de l’autre sera important pour faciliter les processus envers une vraie intégration en Afrique de l’Ouest. Tous les processus d’intégration régionale viennent avec un certain prix, avec des coûts. En Europe, le Traité de l’Elysée n’était qu’un élément dans le processus transformant l’alliance européenne à l’Union Européenne23. Le prix de ce bilatéralisme régional était l’exclusion de la Grande-Bretagne pour plus qu’une décade de processus de l’intégration européenne. Les décisions stratégiques françaises à l’époque ont couté cher si on regarde l’euroscepticisme anglais. Les Anglais ont perdu une génération des citoyens européens ou, au minimum, des citoyens potentiellement européens comme conséquence des deux vetos français en 1962 et en   23 Voir: Corine Defrance / Ulrich Pfeil (eds.), La France, l’Allemagne et le traité de l’Èlysee, 1963–2013, Paris 2012.

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1967. En Afrique de l’Ouest, on a opté dès le début pour une perspective qui inclut les pays francophones, anglophones et lusophones. Mais, en réalité, la présence de tous les pays de la région n’a pas automatiquement établi une pensée régionale commune et, non plus, des mécanismes convaincants pour faciliter l’implémentation des décisions collectives. Il manque un couple ouest-africain qui jouera le rôle d’un moteur régional sans avoir l’intention de dominer les autres partenaires. En Afrique de l’Ouest, l’inclusion géographique était payée par l’inefficacité des solutions supranationales. Donc, les prix étaient différents en Afrique et en Europe, mais en tout cas, les deux systèmes d’intégration ont dû payer un prix spécifique pour leurs décisions réciproques. Cette réalité partagée souligne que les processus d’intégration régionale ne suivent pas des règles objectives mais des conditions spécifiques et des expériences par tâtonnement. C’est, paradoxalement, une base encourageante pour l’avenir du partenariat entre l’Union Africaine et l’Union Européenne. En le disant, il faut saluer les Africains pour leur courage de mettre en parallèle les projets d’intégration régionale et les désirs de consolider les états nationaux. Les voisins européens doivent accompagner ces efforts des voisins africains avec respect, avec patience et avec la volonté d’avancer un vrai partenariat bi-continental – la seule perspective sérieuse et valable pour l’Europe et l’Afrique dans l’âge de la mondialisation. Prof. Dr. Ludger Kühnhardt, Bonn

TAGUNGSBERICHT Europa, das Meer und die Welt. Akteure, Agenten, Abenteurer Sven Wunderlich Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Geschichte der Universität zu Köln Berlin, 7.–8. November 2014 Am 7. und 8. November 2014 fand im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin die Tagung „Europa, das Meer und die Welt. Akteure, Agenten, Abenteurer“ statt. Die Veranstaltung stand im Zeichen der Vorbereitungen für die geplante Ausstellung „Europa, das Meer und die Welt“ (Arbeitstitel), die voraussichtlich ab 2017 im DHM zu sehen sein wird. Es ist geplant, sie anschließend an weiteren Orten zu zeigen. Die auf Anregung von JÜRGEN ELVERT (Köln) vor zwei Jahren begonnenen Planungen sehen eine Ausstellung vor, die erstmals umfassend die maritime Geschichte Europas und die durch das Meer geschaffenen globalen Beziehungen und Kontexte europäischer Geschichte darstellt und vermittelt. Der Leiter des DHM ALEXANDER KOCH und Jürgen Elvert begrüßten zunächst die Gäste und Referenten und führten in Thematik und Kontext der Tagung ein. Das Konzept zur Ausstellung war bereits in mehreren vorangegangenen Workshops und Gesprächen entwickelt worden. Daran waren zahlreiche in- und ausländische Experten aus den Geschichtswissenschaften, aber auch aus zahlreichen anderen Disziplinen beteiligt. Elvert wie Koch verwiesen noch einmal auf den inter- und transdisziplinären Charakter des Projekts, ebenso seinen internationalen Charakter. Die Tagung sei als ein weiterer Baustein für die kommende Ausstellung zu verstehen und diene dem Austausch von Ideen und Anregungen. Der Vortrag von DIETMAR ROTHERMUND (Heidelberg) über „Die ‚Agency´ der Menschen und Mächte im Zeitalter der europäischen Expansion“ wurde aufgrund einer Erkrankung Rothermunds von Jürgen Elvert verlesen. Rothermunds Überlegungen dienten der weiteren theoretischen Vertiefung des Vorhabens und lieferten zugleich den methodischen Rahmen für die weiteren Vorträge der Tagung. Besondere Bedeutung maß er dabei der organisierten Handlungs- und Verhandlungskompetenz von Menschen und der europäischen Großmächte zu, die die globale Geschichte maßgeblich bestimmt haben. So betonte Rothermund die eigene Handlungsfreiheit der Menschen und stellt sich damit gegen Theorien, die dem Zufall in der Geschichte eine weitaus größere Bedeutung zumessen. Jede im Prin-

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zip offene Situation tendiere dazu, sich selbst zu ordnen und sei keineswegs nur eine zufällig Anordnung von Ereignissen. Weiterhin führte Rothermund den Begriff des „public domain-Wissens“ in die einschlägige Diskussion ein. Darunter sei ein gemeinsamer Wissensfundus zu verstehen, auf den jedes Mitglied einer Gemeinschaft zugreifen könne, um diesen zu nutzen und zu erweitern. ULRICH FELLMETH (Stuttgart-Hohenheim) knüpfte an die theoretischen Grundlagen von Rothermund an und wandte diese in seinem Vortrag „Meer und Häfen in der europäischen Antike“ an. Fellmeth unterstrich dabei die Wichtigkeit der Häfen und des Meeres als Raum des kulturellen Austauschs in der Antike. Er legte zudem systematisch dar, dass es in allen Abschnitten der Antike die Tendenz gab, das Meer zunächst als Transitraum und danach als Herrschaftsraum zu erschließen. Dieses Vorgehen diente dazu, transmaritime Herrschaften zu errichten und auszubeuten. Fellmeths besonders Interesse galt dabei zwei Phänomenen: Zum einen sahen die europäischen Mächte die eigene Kultur stets als die zivilisiertere und fortschrittlichere an und zwangen diese den kolonialisierten Völkern auf. Zum anderen lasse sich auch für die Antike das von Rothermund beschriebene Phänomen des „public domain Wissen“ nachweisen. Hierunter verstand Fellmeth Wissen, das zwar von einzelnen Akteuren erworben wurde, jedoch in einen kollektiven Wissensbestand einfloss, beispielweise über sichere Seerouten und nautisches Wissen. Dies alles, so Fellmeth, seien Muster, welche sich von den Phöniziern über die Griechen bis zu den Römern durchsetzten und sich letztendlich tief in das kollektive Bewusstsein der Europäer eingruben. Ähnliches gilt auch für die Frühe Neuzeit, freilich diesmal bezogen auf den globalen Rahmen. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker MARKUS A. DENZEL (Leipzig) berichtete über „Edelmetalle als ‚Katalysatoren´ des frühneuzeitlichen Seehandels und der maritimen Entwicklung Europas“. Denzel versuchte dabei die herausragende Bedeutung des Seehandels mit Edelmetallen im globalen Kontext zu erläutern. Dies geschah in zwei Abschnitten. Zunächst bot er einen Überblick über die katalysatorische Wirkung von Edelmetallen in der Frühneuzeit, um seine Überlegungen anschließend anhand des südchinesischen Kanton näher zu untersuchen und damit „mikroökonomische“ Befunde herauszuarbeiten. Letztendlich konnte er eine vernetzende Wirkung von Edelmetallen konstatieren. Denn nur der große Edelmetallexport aus Südamerika hatte es den kolonialen Mächten ermöglicht, Luxusgüter aller Art in Asien zu erwerben. Die Edelmetalle ermöglichten zudem den Handel und Kontakt zwischen den Kontinenten und Kulturen. Jedoch ist hier der Wirkungsgrad zu beachten, denn Edelmetalle waren keineswegs der Initiator für den Handel und den Austausch, sondern bloß das „Schmiermittel“ dafür. Dessen globale Dimension machte Denzel jedoch plausibel, weshalb auch dieser Aspekt in die kommende Ausstellung einfließen wird. In seinem Vortrag „Port Cities of the ‚French Atlantic´“ zeigte WILLIAM MARSHALL (Stirling) die Wirkung und die Einflussbereiche von Hafenstädten für das atlantische französische Handelsnetz, den „French Atlantic“. Er wählte dabei einen interdisziplinären Zugang, indem er kulturelle und philosophische Fragestellungen und Methoden in seine Analyse einbezog. Einige ausgewählte

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Häfen Frankreichs nahm er als Beispiele für größere Prozesse, dabei lag sein Fokus besonders auf Nantes und La Rochelle. Anhand dieser beiden Häfen analysierte Marshall die Entwicklung des Sklavenhandels und zeigte das Potenzial einer solchen Analyse, indem er zentrale Problemstellungen der Zeit aufzeigte. Beispielweise lassen sich anhand der Häfen die Entwicklung von Menschenrechten, Identitätsbildung und das dynamische Verhältnis von Schwarzen und Weißen aufzeigen. Um aus diesen Problemstellungen belastbare Ergebnisse zu abzuleiten, müsse man jedoch auch weitere Häfen miteinbeziehen. Marshall votierte besonders für die Vernetzung der Häfen im französischen Mutterland mit den Häfen in Übersee und auch für die Einbeziehung der Häfen anderer europäischer Nationen. Letztendlich können Häfen als die Tore zum Festland gelten. Marshall selbst zeigte dies anhand der Einflüsse, die die Häfen auf die Städte selbst hatten. So zeigte er anhand zahlreicher Beispiele, etwa Denkmäler, Gebäude oder Verweise in der Popkultur, wie der Sklavenhandel das Bild der Städte nachhaltig verändert und geprägt hat. Unter dem Titel „Wie aus Opfern Täter wurden. Wandel vom Wissen über die Welt“ wählte WOLFGANG REINHARD (Freiburg) einen metahistorischen Zugang und fragte, ob Geschichtswissenschaften vom Diskurs oder von den Quellen lebten. Dabei bewegte er sich in einem Spannungsfeld, das von den Postcolonial Studies geschaffen war und bezog dagegen Stellung. Des Weiteren zeigte Reinhard am Beispiel des neuzeitlichen Sklavenhandels mehrere Probleme auf. Zum einen arbeiteten die Europäer bei der Beschaffung der afrikanischen Sklaven mit den indigenen Eliten zusammen, was bedeutend mehr Todesopfer forderte als der Sklavenhandel. Zum anderen wurden viele Sklaven auf den Frachtschiffen vergleichsweise gut behandelt, da diese als Ware betrachtet wurden und diese nicht beschädigt werden dürfe. Außerdem erwähnte Reinhard die kulturelle Kreativität der Sklaven, die Musik, Religion und Kunst hervorbrachte. Sklaven waren also durchaus eigene „Akteure“ und keineswegs in jeder Hinsicht ihren Herren ausgeliefert. Dies wurde in der haitianischen Revolution untermauert, in der sich deutlich die Handlungs- und Verhandlungskompetenz zeigte. KLAUS SCHWABE (Aachen) vereinte in seinem Vortrag „Monnet und Amerika“ zwei seiner wichtigsten Forschungsfelder und zeigte anhand der der Biografie des französischen Politikers und Unternehmers, warum sich Jean Monnet den US-amerikanischen Idealen zugewandt fühlte. Monnet, Geburtsjahr 1888, war geprägt durch die Weltkriege und habe in beiden Kriegen eng mit dem Amerikanern zusammen gearbeitet. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg war Monnet als Versorgungskoordinator in Frankreich tätig gewesen und hatte in dieser Funktion engen Kontakt zu Amerikanern. Da er die USA zudem in beiden Kriegen als eine Art „Heilsbringer“ für Frankreich und Europa erlebt habe, da durch sie die Kriege entschieden wurden, sah er die Vereinigten Staaten als Vorbild für Europa. Europa sollte sich wie die USA als Wertegemeinschaft für Recht und Gerechtigkeit verstehen. Der Schuman-Plan gründete auf Monnets Idee eines Zusammenschlusses Frankreichs mit Deutschland und trägt. Aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sollte ein gemeinsames Werteideal erwachsen, wie es in Monnets Vorstellungen die USA verkörperten. Für Schwabe waren diese Idealvorstellun-

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gen naiv. Dennoch eigne sich Monnet als Vorbild für ein gemeinsames Europa auch und besonders aufgrund seines Blicks über den Atlantik, womit Monnet ein wichtiger Akteur in der modernen europäischen Geschichte aus globaler Perspektive bleibe. PHILIPP ROBINSON RÖSSNER (Manchester/Leipzig) referierte im letzten Vortrag des ersten Veranstaltungstages über „Das Meer und die Konzeption von ‚Markt‘, ‚Konnektivität‘ und Wettbewerb im vorklassischen Wirtschaftsdenken insbesondere des 18. Jahrhunderts“. Rössner vertrat zunächst die These von einer von Europa ausgehende (Proto-)Globalisierung, im 16. Jahrhundert. In der Folge gab es einen zunehmenden Aufbau wettbewerbsfähiger Industrien in Europa. Da das Wirtschaftswachstum und der Wettbewerb jedoch auf staatlichen Interventionen in den Wirtschaftsprozess basierten, gab es keinen freien Markt. Diese Interventionen seien in den Handelsschranken und -grenzen sowie in den Regeln für Austausch und Produktion fassbar. Der Staat habe demnach sowohl durch Kontrolle und Regulierung in Inneren als auch durch Grenzen nach Außen die Bedingungen für einen Wettbewerb geschaffen. So sei letztendlich ein freier beziehungsweise fairer Wettbewerb ohne staatliches Eingreifen nicht denkbar, da zudem der Gedanke der ökonomischen Rivalität auf staatlicher Ebene seit der Renaissance feststellbar ist. Letztendlich müssten der Wettbewerb, die zunehmende ökonomische Verflechtung und die wirtschaftliche Vernetzung Europas mit Außereuropa seit dem 16. Jahrhundert immer unter den Gesichtspunkt der staatlichen Intervention gedacht werden. Nur durch die Regeln und den Schutz des Staates war ein freier und fairer Wirtschaftsmarkt möglich. Den zweiten Konferenztag eröffnete MICHAEL JEISMANN, Direktor des Goethe-Instituts Dakar, indem er mit seinem Vortrag eine in der Geschichte der globalen Beziehungen Europas bisher seltener berücksichtigte Perspektive hinzufügte: Liebesbeziehungen zwischen Einheimischen und Seefahrern stellte Jeismann unter den Titel „Liebe geht über das Meer. Verbot und Vermischung. Transkulturelle Paare und die Geschichte der Zugehörigkeit.“ Wie er an einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer aufzeigte, sei das Meer stets – mit vielen Sehnsuchtsworten – emotional verklärt worden und müsse auch vor diesem Hintergrund als transkultureller Verbindungsraum interpretiert werden. Jeismann verwies auf die Verknüpfungen zu den großen Themen der Geschichte und Gegenwart, wie Eroberung, Flucht und Migration, und stellte insbesondere die Frage nach dem Umgang mit Beziehungen zwischen den Kulturen. Was waren die Folgen einer solchen Liebesbeziehung? Was qualifizierte jemanden, in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden? Wie gingen die Kolonialmächte mit den Beziehungen und auch mit den daraus entstandenen Kindern um? Und was waren die Rückwirkungen auf das koloniale Mutterland? Jeismann gab mit diesen Fragen wichtige Denkanstöße, die im Anschluss intensiv diskutiert wurden. Zudem beschrieb er eindrückliche Beispiele für solche Liebesbeziehungen mit Schwerpunkt auf Kanada. Das Meer sei dabei Ort der Emotionen und der Kommunikation, der Probleme und Chancen zugleich. Europa sei somit, so Jeismann, „schaumgeboren“.

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Anschließend sprach HASSO SPODE (Berlin) über „Max Weber und die Europäizität des Kapitalismus“ und wandte sich darin stärker theoretischen Gedanken zu. Ihm ging es darum, einen Metadiskurs der Geschichtswissenschaft zu betrachten. So gebe es immer binär kodierte historische Grundannahmen in der Geschichtswissenschaft, die einem ständigen Wechsel unterlägen. Die großen Pole seien hierbei der Objektivismus und der Konstruktivismus. Als konkretes Beispiel nannte Spode zunächst die Konvergenztheorie als eurozentristische Perspektive und als konstruktivistischen Gegensatz dazu die Divergenztheorie, die alle Kulturen geleichwertig zu behandeln trachte und Europa keine Sonderrolle zuweise. Spode stellte daraufhin die „Weber-Frage“, warum gerade Europa die Welt provinzialisierte und aufteilte und stellte sich dabei auf die Seiten der Konvergenztheoretiker, indem er zum einen Argumente für diese Theorie aufzeigte, zum anderen aber auch problematische Grundannahmen in der Divergenztheorie aufzeigte. Schließlich ging auch diese Theorie aus Europa beziehungsweise dem „Westen“ hervor. Weiterhin könne man kaum argumentieren, dass die Wissenschaft kein Kind Europas sei und dass Europa deshalb auch „Rationalisierungsinsel“ für die wissenschaftliche Dynamik war. Letztendlich müsse man, so Spode, für die Globalgeschichte die Weber-Frage umstellen: Warum teilten nicht die anderen Weltregionen die Welt unter sich auf und provinzialisierten sie, wie es die Europäer taten? Auch plädierte er dafür, sich mehr auf die Bewahrung des bereits erreichten Wissens zu beziehen und nicht einen ständigen und radikalen Konstruktivismus weiter zu verfolgen. Der Meeresgeologe GERD HOFFMAN-WIECK (Kiel) stellte seine Ausführungen unter den pragmatischen Titel „Die Geschichte der Meeresforschung und deren mögliche Visualisierung in der Ausstellung ‚Europa und das Meer‘“. Er legte den Schwerpunkt auf konkrete Vorschläge für die in Planung befindliche Ausstellung und teilte seinen Vortrag in zwei Teile: Zunächst gab HoffmanWieck einen Überblick über die Geschichte der Meeresforschung in Kiel. Dieser Teil konzentrierte sich auf die zentralen Akteure und die wichtigsten technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Meeresforschung seit ihren Anfängen am Ende des 17. Jahrhunderts. Dabei trat die zunehmende systematische Beschäftigung mit dem Meer und insbesondere seinen Ressourcen hervor. Im zweiten Teil skizzierte er Darstellungsmöglichkeiten in einer Ausstellung. Hierzu böten sich als Exponate zum einen Instrumente und Werkzeuge an, zum Beispiel der Sextant und die ersten Echolote, aber auch aktuelle Technologie, wie Tiefseeroboter und Strömungsmesser. Damit könne ein Schwerpunkt auf das Thema Tiefseeressourcen gelegt und die Frage diskutiert werden, wie ein nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen des Meeres aussehen bzw. ob es diese überhaupt geben könne. Einen weiteren Schwerpunkt sollte nach Hoffmann-Wieck die Meeresverschmutzung bilden, für die noch kein echtes Bewusstsein bestehe. In diesem Zusammenhang wären in einer Ausstellung neben den Müllinseln in den Ozeanen auch die zunehmende Gefährdung für Mensch und Meer durch Mikroplastik zu thematisieren. Sowohl bei Meeresnutzung als auch bei Meeresverschmutzung seien die zunehmenden Konflikte zwischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen aufzugreifen. Letztendlich zeigte Hoffmann-Wieck,

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wie groß das Visualisierungspotenzial von Meeresforschung in einer historischen Ausstellung ist. Sven Wunderlich, Köln

REZENSIONEN Europäische Erinnerungsorte Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bände [Band 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, 333 S., Band 2: Das Haus Europa, 626 S., Band 3: Europa und die Welt, 290 S.], Oldenbourg verlag, München 2012, 99,95 €. Rezensiert von Alexander Kraus „Die Schwierigkeiten“ eines Projekts, das sich möglicher europäischer lieux de mémoire annehme, seien „nicht zu übersehen“, schrieb Etienne François am Ende seiner 2006 in einem Band zur Transnationalen Geschichte publizierten Plausibilitätsprüfung. Gerade, da wir zugleich „Zeugen und Akteure“ der sich wandelnden europäischen Gedächtniskulturen seien, böten die geschichtswissenschaftlichen Methoden weniger Hilfe als beispielsweise soziologische, kulturanthropologische oder politikwissenschaftliche Analyseansätze. Daher sei es nicht verwunderlich, so François in seiner Bestandsaufnahme, dass es im deutlichen Kontrast zu den vielfältig kursierenden theoretischen und methodischen Konzeptionierungen „bis jetzt so gut wie keine Publikationen [gebe], die konkrete, empirisch fundierte und überzeugende Antworten auf die Frage nach den europäischen Erinnerungsorten gibt und die man als eine erste Einlösung davon betrachten könnte“. Die Skepsis, mit der Etienne François einem solchen Unterfangen begegnet und die er im übrigen mit Pierre Nora teilt, ist in seinem Text überall zu greifen – und dies, obgleich er selbst zwei mögliche Zugänge durchspielt: Europa als Erbe und Europa als Projekt, die auch in der aktuellen Forschungsdiskussion noch immer die Vorstellungen europäischer Erinnerung dominieren. So stellt er gleich einleitend die Frage, ob solche europäischen Erinnerungsorte denn wie die deutschen oder französischen „durch einen Überschuß an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert“? Seine Zweifel stechen umso mehr ins Auge, als er betont, wie sehr sich die bisherigen Übertragungen und Neuinterpretationen des in den 1980er Jahren durch Pierre Nora erarbeiteten und sukzessive weiterentwickelten Konzepts voneinander unterscheiden. François’ Frage steht hier nicht nur aus programmatischen Gründen am Anfang der Besprechung der dreibändigen Europäischen Erinnerungsorte, die ab 2007 am Mainzer Institut für Europäische Geschichte konzipiert und realisiert worden sind. Denn als Herausgeber der gemeinsam mit

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Hagen Schulze publizierten dreibändigen Deutschen Erinnerungsorte wurden seine kritischen Einschätzungen auch von den Herausgebern des Mainzer Projekts, Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale, zur Kenntnis genommen. Jedoch: Mögen sie in ihrer Einleitung auch konstatieren, den durch Etienne François formulierten „Bedenken gegen eine Inangriffnahme eines ,europäischen‘ Projekts“ sei in der Forschung bislang „so viel Gewicht beigemessen [worden], dass bis heute alle Experten die Hände davon gelassen haben“ (Bd. I, S. 9) – eine wirkliche Auseinandersetzung mit eben diesen Bedenken findet sich in der theoretischen Verortung des Projektes nicht. Vielmehr begnügen sich die Herausgeber mit dem einfachen Hinweis, Noras Ansatz sei auf die europäische Ebene nur „bedingt“ übertragbar, weshalb ein „eigener Zugang gefunden werden“ musste, der nicht zu abstrakt sein durfte und sich zugleich als praktikabel erweisen sollte. Weshalb aber mit der ursprünglichen Definition Noras die europäischen lieux de mémoire nicht verwirklicht werden konnten, bleibt unausgeführt. Stattdessen benennen die Herausgeber kurz und bündig drei Kriterien, die ihrer Auswahl zugrunde lagen: Bei europäischen Erinnerungsorten handele es sich zunächst einmal um solche Phänomene, „denen bereits in der Zeit ihrer Genese das Bewusstsein der Zeitgenossen innewohnte, europäisch dimensioniert zu sein“ (Bd. I, S. 9). Zugleich betonen sie die Bedeutung der transnationalen Kommunikation und Rezeption, für die bereits in der Zeit selbst europäische Vermittler aktiv gewesen und ebensolche Vermittlungswege beschritten worden sein sollten. Ein abschließendes drittes Kriterium wiederum stellte die Vorgabe dar, solche Erinnerungsräume zu finden, „die nicht nur für die westliche Hälfte des Kontinents von Belang waren, sondern auch in den östlichen Teil ausstrahlten“. Dieser Kriterienkatalog erscheint aus mehreren Gründen problematisch. So gründet das dritte Kriterium auf einem erschreckend hierarchisierenden Denken, das den Westen Europas gegenüber dem Osten als dominant setzt, erscheint doch ein Ausstrahlen in umgekehrter Blickrichtung als nicht vorgesehen. Der Osten Europas bleibt demnach nicht mehr als ein Korrektiv und eine Erweiterung, die qualitativ nichts zum gesamteuropäischen Erinnerungsraum beitragen kann. Da, wie Benoît Majerus erst unlängst festgestellt hat, die drei Bände mehrheitlich (zu 70 Prozent) von deutschen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verfasst wurden (wobei letztere gerade einmal ein Viertel der Autoren ausmachen), ist zudem zu fragen, welches Europa hier eigentlich konkret bearbeitet wird und ob diese europäischen Erinnerungsorte nicht letztlich, so Majerus, eher deutsche seien. Angesichts der Fixierung auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen für die Etablierung europäischer Erinnerungsorte, die mögliche später einsetzende Aushandlungs- und Deutungsprozesse vernachlässigt, geht der Mainzer Konzeption darüber hinaus eine zentrale Ebene des Noraschen Zugangs verloren. Schließlich ging es Nora nicht alleine darum, Erinnerungsorte zu entziffern und mitunter auch zu konstruieren, sondern diese eben auch wieder zu dekonstruieren. Es sei gerade dieser „Entzifferungsprozess“, der letztlich die „Seele des ganzen Unternehmens“ ausmache.

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Denn für Nora stellen lieux de mémoire keinesfalls feste Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses dar. Vielmehr gelte es, dieses memorielle Erbe zu hinterfragen. Immerhin ist nicht wenigen der von Nora in sein Werk aufgenommenen Erinnerungsorten gemein, dass ihr jeweiliger Erinnerungsaspekt bereits verblasst, sie ihre Funktion als zentrale Mittler des kollektiven Gedächtnisses verloren haben. Da sich die Herausgeber des Mainzer Projektes für die Rezeptionsgeschichte ihrer postulierten Europäischen Erinnerungsorte nicht wirklich interessieren, obgleich sie selbst konstatieren, welch „maßgebliche Rolle“ diese für deren Konstruktion spielen (Bd. I, S. 8), gerät das Werk gleich zu Beginn in eine methodische Schieflage. Wie sich diese konkret manifestiert, zeigt sich besonders an solchen im Band als europäisch postulierten Erinnerungsorten, die in früheren Publikationen bereits als nationale Erinnerungsorte beschrieben wurden. So zeichnet der Musikwissenschaftler und Soziologe Esteban Buch in seinem Eintrag zu den Deutschen Erinnerungsorten über Beethovens Neunte in wünschenswerter Dichte die einzelnen Rezeptionsetappen nach – angefangen mit der politischen Bedeutung, mit der sie bereits im Vorfeld der Uraufführung aufgeladen wurde, über die Entfaltung des Beethoven-Kultes in der musikalischen Romantik, der wiederholten nationalen Instrumentalisierung bis hin zu ihrer Wahl als Europa-Hymne, dabei immer wieder auch die Vereinnahmungen und Aufladungen durch andere Nationen berücksichtigend. Dagegen verzichten beide (!) Texte in den Europäischen Erinnerungsorten vollständig auf diese Ebene: Während Konrad Küster Beethovens „Neunte Sinfonie“ zunächst einmal in ihren schaffensgeschichtlichen Kontext verortet und dabei den äußeren Kontext ebenso wie die Stilmittel des Komponisten dechiffriert, ehe er die Bedeutung von Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagners für den Erfolg der Sinfonie herausarbeitet, fokussiert Albrecht Riethmüller in seinem Text Die Hymne der Europäischen Union zum einen die Hintergründe, die zur Auswahl des Schlusssatzes der Neunten Sinfonie als Europahymne führten, zum anderen auf die oftmals vertrackte politische Praxis der Hymne, der wiederholt mangelnder Respekt entgegen gebracht worden sei. Darüber hinaus nimmt er auch verschiedene Debatten über den Text und Alternativen zu diesem in den Blick, obgleich doch bei der Wahl der Hymne, wie er selbst ausführt, die „Väter der Europahymne [...] auf ein textloses musikalisches Gebinde“ abzielten (Bd. II, S. 93). Wie und ob überhaupt die Hymne tatsächlich zu einem europäischen Erinnerungsort geworden ist, fragt keiner der Texte. Auch für das Lemma Auschwitz lässt sich eine ähnliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit konstatieren: Denn im Text von Wolfgang Benz, ohne Zweifel einer der angesehensten Experten auf dem Gebiet, werden zwar wiederholt zahlreiche Stimmen von Auschwitzüberlebenden aufgeführt, die das individuelle Erinnern greifbar machen, und der Ort selbst als „Metapher“ benannt: „Der Ort Auschwitz wurde zum Begriff für das Böse schlechthin und zur Metapher für eine einzigartige Situation in der Geschichte der Menschheit, dafür, dass die Realität jede Phantasie überholt hatte.“ (Bd. II, S. 468) Doch wie aus der individuellen eine kollektive Erinnerung, und wie aus dieser Metapher ein europäischer Erinnerungsort wurde, interessiert ihn schlichtweg nicht. Wenn schon, so zeichnet

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er diesen Weg als einen nationalen nach. Diese Erinnerungsortwerdung hat indes Peter Reichel deutlich detaillierter und konziser in den Deutschen Erinnerungsorten dargelegt. Verdun wiederum hatte bereits Antoine Prost als einen Erinnerungsort Frankreichs par excellence herausgearbeitet: So zeigt er auf, wie Verdun nach 1916 nicht nur ein, sondern wohl auch der allerwichtigste Erinnerungsort wurde. Dies vermag er über viele unterschiedene Ebenen zu rekonstruieren: So kämpften – anders als auf deutscher Seite – fast alle französischen Soldaten nach dem Prinzip „Schöpfrad“ meist nur einmal in Verdun; sie sollten die Hölle von Verdun kein zweites Mal erleben müssen. Dabei entwickelte sich diese Hölle für die Soldaten schon bald zu einem wahrhaft heiligen Ort, der zugleich auf Ebene der Nation über Presse und staatliche Autoritäten zu einem Ort des patriotischen Stolzes wurde. Die spätere Monumentalisierung, darunter das durch nationale Spendenkampagnen finanzierte Beinhaus, und die Entwicklung hin zu einer zentralen Touristenattraktion läuteten eine weitere Etappe der Erinnerungsortwerdung ein, ehe Verdun in einem erneuten turn zu einem Symbol wurde, hinter dem das eigentliche Ereignis mehr und mehr verblasste. Gerd Krumeich hat sich in den Europäischen Erinnerungsorten mit dieser französischen Vorlage intensiv auseinandergesetzt. Dabei ist es ihm gelungen, verschiedene Facetten aufzuzeigen, die diese Festschreibung als französischen Erinnerungsort hinterfragen – und dies, obgleich er zunächst just jene Argumente Revue passieren lässt, die jene Lesart unterstreichen. Doch sei die Schlacht eben von Beginn an auch auf vielfältige Weise ein spezieller Gegenstand europäischen Interesses gewesen: So ist Verdun noch während der Kriegshandlungen von insgesamt 17 alliierten Nationen dekoriert worden – andere Sympathiebekundungen, Ehrungen und Besuche hoher Repräsentanten von Alliierten nicht miteingerechnet; daneben kämpften neben Franzosen und Deutschen auch polnische Soldaten auf beiden Seiten. Macht dies Verdun nach der dem Mainzer Werk zugrundeliegenden Definition bereits zu einem europäischen Erinnerungsort, begnügt sich Krumeich damit noch keineswegs. Vielmehr zeigt er auf, wie in den 1920er und 1930er Jahren auch von deutscher Seite sogenannte „Friedensfahrten“ organisiert wurden und Verdun auf diesem Weg zu einem – Harry Graf Kessler zitierend – „Heiligtum für ganz Europa“ wurde (Bd. II, S. 441). Allerdings erscheint die weitere Gedenkpraxis mehr als eine binationale, in der die offizielle deutsche Seite phasenweise ausgesperrt blieb. Mit dem Aufzeigen dieser Transformationsprozesse gelingt Krumeich somit weit mehr, als im theoretischen Konzept der Europäischen Erinnerungsorte eingefordert wurde. Leider verzichten zahlreiche Beiträge des zweiten Bandes, der den Herausgebern zufolge besonders solche Erinnerungsorte Europas präsentiert, „bei denen das Moment europäischer Zäsurhaftigkeit, europäischer Ausstrahlung und Kommunikation und europäischen Erinnerns in besonderer Weise gegeben sein sollten“ (Bd. I, S. 10), darauf, die Dimensionen des Erinnerns aufzuzeigen und zu hinterfragen. Dass die Artikel, durchweg von Expertinnen und Experten verfasst, dabei zahlreiche Facetten ihrer Themen explorieren und in vielerlei Hinsicht lesenswert sind, steht außer Frage. Aber wenn nach der Lektüre des Lemmas Michelangelo unklar bleibt, wieso jener Künstler der Hochrenaissance selbst zum

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europäischen Erinnerungsort stilisiert wird, und nicht, wie im Beitrag ausgeführt, dessen „Sixtina“ (Bd. II, S. 107), für die wiederum nicht aufgeführt wird, wie sie rezipiert wurde, wenn für Rembrandts „Nachtwache“ dessen sich „stetig verfestigende Stellung als Nationaldenkmal“ nachgezeichnet wird (Bd. II, S. 132), ohne dass auch nur im entferntesten eine europäische Dimension aufzuzeigen, ja wenn für die „Mona Lisa“ zwar en detail nachgezeichnet wird, wie diese gerade über ihre Medialisierung zu dem Bild wurde, das wir heute sehen, dafür aber vor allem zwei Ausstellungen in den Vereinigten Staaten von Amerika als wesentliche Wegmarken aufgeführt werden, erschließt sich nicht, warum diese zu den europäischen Erinnerungsorten zählen. Anders sieht dies dagegen für die behandelten Werke der Literatur aus. So gelingt es Bernhard König anschaulich die um 1800 einsetzende Entwicklung von Dantes „La Divina Commedia“ von einem italienischen zu einem europäischen Erinnerungsort nachzuzeichnen, Lea Marquart wiederum für Goethes „Faust“ die europaweite Rezeptionsgeschichte aufzuzeigen oder Pim den Boer den Transformationsprozess von Homer und Troja von einem einst griechischen Erinnerungsort, zu einem westeuropäischen, dann liberalen, schließlich imperialistischen und zu guter Letzt globalisierten Erinnerungsort zu rekonstruieren. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache eines solch groß angelegten Projekts, dass die Überprüfung der eigenen Konzeption im Verlauf der Realisierung auf der Strecke bleibt. Nichtsdestotrotz hätte etwas mehr Stringenz dem dreibändigen Werk gut zu Gesicht gestanden. Denn macht die Feststellung, Pizza sei ein „kulinarisches Symbol“ der europäischen Esskultur, diese bereits zu einem europäischen Erinnerungsort (Bd. II, S. 319)? Wird die Schlacht am Kahlenberg 1683 allein deshalb zu einem solchen, weil die Zeitgenossen die Bedeutung der zweiten türkischen Belagerung Wiens europaweit erfassten, wenngleich eine Erinnerung und Verankerung allein für das österreichische Bewusstsein nachvollzogen werden kann (Bd. II, S. 413)? Ist Katyń angesichts der rund 400 entstandenen Formen des Gedenkens weltweit nicht eher als globalisierter Erinnerungsort aufzufassen (Bd. II, S. 486), ganz ähnlich wie Anne Frank, für deren weltumspannende Rezeption gerade die Bedeutung ihrer Ikonisierung am Broadway und in Hollywood hervorgehoben wird (Bd. II, S. 348)? Da sich solcherlei Fragen auch an zahlreiche Lemmata aus dem ersten Band stellen lassen, der sich alle jene Kräfte zum Thema nimmt, „die in den Augen der Politiker die Physiognomie Europas ausmachten“ (Bd. I, S. 10), drängt sich auch hier der Verdacht auf, als wären die Begriffe zunächst bestimmt, nicht aber auf ihre Plausibilität für das erarbeitete Konzept überprüft worden. Dies gilt beispielsweise für den Eintrag zu den Menschenrechten, deren Prägekraft seit 1789 auch über Europa hinaus zwar nachgespürt wird, dies aber zumeist in einzelnen Etappen mit nationalgeschichtlichem Fokus. Über die Gewaltenteilung wird dagegen zunächst konstatiert, sie sei konsequent – und obendrein als erstes – allein in der amerikanischen Verfassung verwirklicht (Bd. I, S. 187, 191, 192). Da daraufhin dargelegt wird, wie sehr sich die Auffassungen von Gewaltenteilung in Frankreich, England, Polen und Deutschland unterscheiden, gerät die Dimension des Europäischen mehr und mehr aus dem Blick – schließlich sollte ein europäischer Erinnerungsort mehr sein als die Addition ver-

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schiedener Positionen. Auch eine Begriffsgeschichte von Rechtsstaatlichkeit und parallel dazu die Geschichte des Rechtsstaatsgedankens haben erst einmal nichts mit der Analyse eines europäischen Erinnerungsortes zu tun. Ein wie von den Herausgebern erhofftes einheitliches Europa wird hier mehr gestiftet als rekonstruiert. Im dritten, Europa und die Welt betitelten Band, der im Sinne einer Verflechtungsgeschichte solche Phänomene zum Thema nimmt, die in abgewandelter Form nach Europa zurückgekehrt sind, findet meist gar keine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Erinnerungsorte mehr statt (beispielsweise Frömmigkeit: Der Gospel-Gottesdienst, Südsee, Kunst- und Wunderkammern, Völkerschauen/Zurschaustellungen, Museen in Europa). Schon anhand dieser stichprobenartigen Auswahl zeigt sich letztlich, wie wenige der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich tatsächlich an der vorgegebenen Definition der Europäischen Erinnerungsorte orientierten. Und damit ist dann offenbar auch eine der eher nicht intendierten Überschneidungen angesprochen, die die Mainzer Publikation mit den lieux de mémoire de la France Pierre Noras gemein hat: Denn auch in Noras sieben Bänden entsprechen zahlreiche Beiträge nicht seiner ausgegebenen und während der Realisierung immer wieder angepassten Konzeption und Definition. Weiß schon die recht knapp gehaltene Konzeption und Definition der Herausgeber nicht zu überzeugen, so offenbart die Umsetzung, wie wenig die Europäischen Erinnerungsorte in dieser Form eine zufriedenstellende Antwort auf die eingangs durch Etienne François formulierte Frage zu geben in der Lage sind. Ob sich das Werk auf diese Weise tatsächlich als „Referenzwerk“ zu etablieren vermag, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung formulieren, das „einen Beitrag zu einem spezifischen Zusammengehörigkeitsgefühl der ,Europäer‘ leiste[t] – oder zumindest dazu anreg[t], darüber weiter nachzudenken, was diesen Kontinent und seine Einzelteile miteinander verbindet“ (Bd. I, S. 8), bleibt zu bezweifeln. Alexander Kraus, Münster „Was die Welt im Innersten zusammenhält“ Jörg Zedler (Hg.), „Was die Welt im Innersten zusammenhält“. Gesellschaftlichstaatliche Kohäsionskräfte im 19. und 20. Jahrhundert (Spreti-Studien, Bd. 4), 213 S., Herbert Utz Verlag, München 2014, 38 €. Rezensiert von Benjamin Hasselhorn Schon das Thema ist eine Wohltat: Entgegen einer mächtigen Tendenz der geschichtswissenschaftlichen Forschung, im Hinblick auf kollektive Identität im 19. und 20. Jahrhunderts überall nur „Erfindungen“ und „Konstruktionen“ zu sehen, deren negative bis fatale Wirkungen zu kritisieren und die Brüche und Krisen zu betonen, wird hier die entgegengesetzte Perspektive eingenommen: Der von Jörg Zedler herausgegebene Sammelband über „Gesellschaftlich-staatliche Kohäsions-

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kräfte im 19. und 20. Jahrhundert“ fragt nämlich nach der realen Seite kollektiver Identität und untersucht die tatsächlichen – und nicht die „konstruierten“ oder „erfundenen“ – Kohäsionskräfte, die den inneren Zusammenhalt von Staaten und Gemeinwesen in den vergangenen gut zweihundert Jahren garantierten. Die einzelnen Beiträge sind zwar sehr unterschiedlich, haben diese Fragestellung habe durchgängig im Blick. Etwas aus dem Rahmen fällt höchstens der Aufsatz von Michael Walter über die Nationaloper des 19. Jahrhunderts. Dessen These – die Nationaloper weniger als Kohäsionsmittel, sondern eher als Ausdruck einer bereits bestehenden nationalen Kohäsion – ist durchaus disktutabel; der Beitrag leidet aber unter einer gewissen Inkonsistenz, wenn etwa einerseits die Nation im Sinne Benedict Andersons als (nur) „vorgestellte Gemeinschaft“ (S. 19) verstanden, andererseits aber die politische Bedeutung der Nationalopern mit dem Argument relativiert wird, es sei nur die gesellschaftliche Elite und nicht die ganze Nation gewesen, die Opern besucht habe (S. 31). Der ausgezeichnete Beitrag von Michael Hochgeschwender nimmt die in den USA wirkenden Kohäsionskräfte in den Blick und nutzt die Gelegenheit für einen Abriss der Geschichte des US-amerikanischen Selbstverständnisses, der in manchen Teilen einer Generalabrechnung gleichkommt. Das beginnt schon bei der Gründung der USA: Die Große Erzählung vom gerechten Aufbegehren gegen einen Tyrannenstaat, so Hochgeschwender, habe nichts mit der historischen Realität zu tun, vielmehr habe es handfeste, vor allem ökonomische Gründe für die Abspaltung vom englischen Mutterland gegeben, und die innere Kohäsion sei von Anfang an aufgrund des Nord-Süd-Gegensatzes prekär gewesen. Zur Lösung dieses Problems habe man nach außen wie nach innen eine „Gewaltstruktur“ (S. 68) erzeugt, welche die USA des 19. Jahrhunderts nicht als politisches Vorbild, sondern als ein „potentielles Exempel für UNO-Interventionen“ (S. 68) erscheinen lasse. Erst nach dem Bürgerkrieg sei aus den USA ein moderner Nationalstaat geworden, dessen Selbstvergewisserung mittels einer „Zivilreligion“ (S. 71) gelungen sei, in deren Zentrum die Verehrung der Gründerväter, der Fahne und der vergangenen wie zukünftigen Kriege als Variationen des Kampfes Gut gegen Böse standen. Eine dauerhafte innere Einheit habe sich aber jenseits der Zeiten des unmittelbaren Ost-West-Konflikts trotzdem nicht ausgebildet, und diese Zeiten seien vorbei. Angesichts eines solchen Befundes sowie der Umwälzungen der letzten Jahrzehnte erscheint die Schlussbemerkung, die Kohäsion der USA werde kaum zum Problem werden, sofern man nur die „Notwendigkeit prozedualer Konfliktregelung“ (S. 76) beachte, übermäßig optimistisch. Hochinteressant ist auch das, was Ekaterina Makhotina über die russische Identität im Bezug auf die Geschichtspolitik Russlands berichtet: Zentrum des sowjetischen Patriotismus sei das Gedenken an die heroischen Leistungen der Revolution sowie des „Großen Vaterländischen Krieges“. In der Phase des Zusammenbruchs, 1988-1991, habe es für kurze Zeit eine radikale „Vergangenheitskritik“ (S. 94) gegeben, die sogar das Verhalten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg thematisiert habe. Damit sei es allerdings spätestens Mitte der 1990er Jahre wieder vorbei gewesen, als die politische Elite Russlands den Versuch un-

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ternommen habe, eine neue Identität Russlands als multiethnische Staatsnation zu stiften und dabei eine historische Kontinuität bis zurück zu den Rus zu postulieren. In jüngster Zeit gebe es außerdem immer stärkere Anzeichen für den Erfolg eines eklektischen Identitätsgefüges aus sowjetischen, nationalrussischen und orthodoxen Elementen. Den Nationalheroen Garibaldi und Bismarck widmet sich der Beitrag von Katharina Weigand und Jörg Zedler. Bei aller Betonung der Gemeinsamkeit in der nationalen Heldenverehrung in Deutschland und Italien werden dabei auch die Unterschiede deutlich: Mit Garibaldi verehrte man in Italien einen Abenteurer mit Sinn für theatralische Inszenierung, verehrte ihn bis hin zu einer regelrechten „Divinisierung“ (S. 122) schon zu Lebzeiten, auch wenn er gegen Ende seiner Laufbahn eher zu einer „Gallionsfigur der Unzufriedenen“ (S. 130) wurde. Von Faschisten wie Sozialisten und auch den Christdemokraten wurde Garibaldi nach seinem Tod vereinnahmt, was aber vor allem nach 1945 dazu führte, dass alle inhaltlich-politischen Aspekte abgeschliffen wurden und Garibaldi somit als Identifikationsfigur eher irrelevant erschien. Bismarck dagegen wurde zu Amtszeiten nur von einer Minderheit verehrt, die allerdings nach 1871 stärker wurde. Erst nach seiner Entlassung 1890 kann man aber von einer ähnlich religiösen Verehrung sprechen, die zudem deutlich gegen die Reichsregierung gerichtet war. Für einen dauerhaften politischen Mythos, so schließt der Beitrag, sei die Figur Garibaldis zu uneindeutig gewesen, Bismarck aber eindeutig genug. Wieso letzteres negativ beurteilt wird, erschließt sich dem Leser allerdings nicht. Einen weiteren internationalen Vergleich nimmt Michael Kißener vor, diesmal zwischen Deutschland und Frankreich, und das im Hinblick auf die Frage, ob der Hass auf den jeweils Anderen als Sieger von 1871 bzw. 1918 zur inneren Kohäsion beigetragen hat. Auch hier werden Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede deutlich: In beiden Fällen sei eine gewisse Einheit hergestellt worden durch die gemeinsame Hoffnung auf eine Revision oder Revanche. Die deutsche Besatzung erscheint in Kißeners Darstellung allerdings wesentlich weniger konfliktreich als umgekehrt, dafür wiederum scheint der französische Hass auf die Deutschen intensiver gewesen zu sein als der deutsche auf Frankreich – vielleicht auch, weil die Niederlage im Ersten Weltkrieg umfangreicher und komplexer war als die von 1871, zumal es gerade 1914-1918 zu einer Welle des Deutschenhasses kam, die die Nachkriegslage fundamental von derjenigen der Vorkriegszeit unterscheidet. Kißeners sehr plausible Schlussfolgerung aus seinem Befund lautet, dass Hass tatsächlich die Kohäsion stärken kann, dies aber nur kurzfristig, da über kurz oder lang radikale politische Kräfte vom Hass profitieren, was wiederum eher spaltend als integrierend wirke. Wieder einen Vergleich Deutschlands, diesmal mit Israel und im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen als Identitätsfaktor, nimmt Michael Wolffsohn vor. Seine These lautet, dass weder die Schoa für Israel noch die Vergangenheitsbewältigung für Deutschland tatsächlich Kohäsionskräfte seien. In beiden Staaten sei der Umgang mit den NS-Verbrechen vielmehr heftig umstritten und keinesfalls ein einigender Faktor: In Israel gehe es eher um die Selbstbehauptung angesichts zahlreicher Katastrophen, von denen die Schoa nur eine unter

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mehreren sei, und in Deutschland habe sich erst infolge des Historikerstreits die Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftlicher Kohäsionsfaktor etabliert, dies aber nur pro forma, denn tatsächlich sei die in punkto Vergangenheitsbewältigung eingehaltene Disziplin eher ein Zeichen öffentlicher „Verlogenheit“ (S. 176). Der Nachvollziehbarkeit der Argumentation des Aufsatzes ist dessen assoziative Struktur allerdings manchmal abträglich; unersichtlich bleibt beispielsweise, wieso Theodor Schieder gemeinsam mit Günther Grass, Walter Jens und Dieter Hildebrandt zu den – problematischen – „Lichtgestalten“ (S. 173) der Vergangenheitsbewältigung gezählt wird. In diese Reihe gestellt zu werden, hat Schieder in mehr als einer Hinsicht nicht verdient. Die beiden letzten Beiträge – von Friedrich Kießling über die Ökonomie als Kohäsionsfaktor der alten Bundesrepublik und von Hans-Michael Körner über den Freistaat Bayern – konzentrieren sich ganz auf innerdeutsche Belange. Kießling zeigt sehr plausibel, dass die eigene Wirtschaftskraft tatsächlich ein eminent wichtiger Bestandteil bundesrepublikanischer Identität gewesen ist, dies allerdings verbunden mit einem Wertesystem, das erstens die ökonomische Stabilität, zweitens die dahinter stehende Eigenleistung und drittens die soziale Verantwortung wirtschaftlicher Prosperität im Namen der Sozialen Marktwirtschaft betonte. Dass die Wurzeln dieses Wertesystems „weit ins 19. Jahrhundert“ (S. 194) reichen, wird aber mehr postuliert als gezeigt, und auch die These, dass Konsumgesellschaft (als ökonomische Teilhabe) und Demokratie (als politische Teilhabe) konvenieren, ist nicht recht überzeugend, wenn man sich vor Augen führt, dass größere innergesellschaftliche Konflikte nur bei dauernder Prosperität ausbleiben und selbst ein solcher Zustand kein dauerhaftes politisches Engagement der Bürger garantiert. Körner wiederum geht von dem Befund aus, dass über den Bruch von 1918/19 hinweg eine Kontinuität bayerischer Identität seit 1806 angenommen werde und verortet deren Wurzeln in den Bemühungen der politischen Eliten Bayerns im 19. Jahrhundert, mittels einer zuerst regionalbezogenen, dann vor allem auf den Aspekt der Kultur konzentrierten Geschichtspolitik eine gemeinsame bayerische Identität zu stiften. Die implizite, wenn auch nicht ausgeführte These ist dabei die, dass im 19. Jahrhundert die politische Aufgabe der Identitätsstiftung erkannt und bearbeitet worden sei, während man im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, das Vorhandensein einer bayerischen Identität für selbstverständlich genommen habe. Die an zwei Stellen von Körner deutlich formulierte Skepsis, ob sich unter diesen Bedingungen die Kohäsion Bayerns dauerhaft werde halten lassen, wäre eine nähere Erläuterung wert gewesen. Insgesamt zeigt der Band gerade in seiner Vielgestaltigkeit, welchen konstruktiven Beitrag eine Geschichtswissenschaft leisten kann, die sich gerade nicht „konstruktivistisch“ versteht. Dies gilt umso mehr, als vieles dafür spricht, dass Identitätsfragen – und das ist im Grunde dasselbe wie die Frage der staatlichen und gesellschaftlichen Kohäsion – im 21. Jahrhundert an Bedeutung eher zu- als abnehmen werden. Benjamin Hasselhorn, Passau

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Europe’s 1968 Robert Gildea/James Mark/Anette Warring (eds), Europe’s 1968. Voices of Revolt, 382 S., Oxford University Press, Oxford 2013, 65 £. Rezensiert von Michael Fröhlich Für die Oral History war es ein langer Weg bis zu ihrer allgemeinen Akzeptanz und Anerkennung. Als die ersten Interviews in größerem Umfang durchgeführt wurden, zeigten sich die einen begeistert über die neuen Wissensquellen, die erschlossen wurden, die anderen sahen sich in ihrer Skepsis bestärkt, da die Ergebnisse nach ihrem eigenen Verständnis überwiegend subjektiv waren und den Vergleich mit anderen Quellen, zumindest nicht schnell, nicht erlaubten. Es fiel schwer, die subjektiven Aussagen der Zeitzeugen mit schriftlichen Quellen zu vergleichen, nicht zuletzt deshalb, weil sie zunächst noch transkribiert werden mussten. Und dieser Prozess der Transkription erwies sich trotz aller technischen Hilfen keineswegs als unproblematisch. Zumindest war es ein hoher personeller und zeitlicher Aufwand, das gesprochene Wort in eine schriftliche Vorlage zu übertragen. Hinzu kam nach allen Erfahrungen aber auch, dass die mühsame Transkription keineswegs in der großen Zahl der Fälle umgesetzt wurde. Mit anderen Worten: die Recherche blieben ein gesprochenes Wort, das sich der präzisen Analyse entzog. Häufig wurde aber noch ein anderer Vorwurf an die Oral History gerichtet: ihre Vertreter schienen quasi im Nachhinein die Quellen zu produzieren, die sie für ihre Forschungen brauchten. Konnte man ausschließen, dass der Interviewte durch eine ausgefeilte Fragetechnik ein Opfer des Fragesteller wurde? Mehr noch, erwies sich die Oral History nicht auch deshalb als problematisch, weil sie sich an die Schwächeren und Älteren der Gesellschaft wandte, um ihre subjektive Erinnerung zu erfragen? An diesen grundsätzlichen Einwänden hat sich nicht sehr viel geändert, auch wenn die Schärfe der Kritik nachgelassen hat und Ergebnisse, die auf Befragungen beruhen, nicht a priori als unzuverlässig und “forschungsunwürdig“ bezeichnet werden. Ein Grund für diesen dezenten Wandel dürfte auch sein, dass sich die Akzeptanz der Subjektivität in der Forschung in den letzten Jahrzehnten geändert hat. In den Geisteswissenschaften wird sie, wenn sie denn als solche ausgewiesen ist, in ihrer beschränkten, aber möglicherweise doch wegweisenden Aussagekraft eher angenommen, nicht zuletzt deshalb, weil die Überlieferungen vieler Opfer, insbesondere aus der Zeit des Holocaust, sonst der Vergessenheit anheimfallen würden. Die Oral History steht heute aber auch deshalb auf festen Füßen, weil allgemein die Begründung, Differenzierung und Popularität der Zeitgeschichte einen ungeheuren Aufschwung erfahren hat und die historisch interessierten zu einem sehr hohen Prozentsatz auf Publikationen der Zeitgeschichte zugehen, die ihrerseits nun wiederum nicht auf Befragungen berühmter Akteure oder unbekannter Zeitgenossen verzichten möchte und kann. Hinzu kommt aber auch, dass die Perzeptionsgeschichte im allgemeinen wie im besonderen eine beachtliche Ausweitung erfahren hat. Die Oral History ist vor allem deshalb nicht mehr so

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umstritten, weil eine Vielzahl selbstständiger Disziplinen sich ihre Ziele zu Eigen gemacht und damit erheblich legitimiert hat. Auch für die „Voices of Revolt“ gilt, dass die Quellen gewissermaßen selbst geschaffen wurden. In vier Jahren führten die Verantwortlichen ungefähr 500 historische Interviews mit Zeitzeugen, die an den Protestbewegungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Europa teilgenommen hatten. Für die Historiker war unter anderem wichtig zu erfahren, welche Gründe die jungen Menschen zu ihren Protesten veranlassten, wie sie ihre Aktivitäten planten und durchführten sowie, nicht weniger wichtig, welche Bedeutung sie im Rückblick dieser Zeit beimassen, in ihrer Biografie und in der Geschichte Europas. Dieser Ansatz hat die Herausgeber bewogen, in ihrer Einleitung von einer kollektiven Biografie zu sprechen. Im selben Atemzug betonen sie, dass es natürlich auch mit der Oral History nicht gelingen kann, die gesamte Geschichte zu erzählen. Aber, und darin besteht der große Vorzug ihrer Arbeitsweise, die Oral History und die ungefähr 500 Interviews erlauben eine inhaltliche Bandbreite, die, natürlich nicht absolut gesehen, eine Erkenntnisvielfalt und Interpretationsbreite erlauben, die ihresgleichen sucht. An dieser Stelle liefern die Herausgeber und alle Beteiligten die Begründung für die immerhin 382 Seiten, auf denen in drei großen Kapiteln („Becoming an Activist“; „Being an Activist“; „Making Sense of Activism“) mit vielen Untergliederungen Erinnerungen wachgerufen und in den historischen Kontext eingebettet werden. Die interessanten und gut geschriebenen Kapitel thematisieren die aufregenden Jahre der 68‘, sie fassen zusammen, setzen Schwerpunkte, wählen aussagekräftige Passagen der Erinnerungen und betten sie behutsam in die Darstellung ein. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Arbeit basiert nicht allein auf den Ergebnissen der Oral History, alle Interviewpartner sind zu Beginn des Quellenund Literaturverzeichnisses genannt, sondern auch auf einer sehr weit ausgreifenden Literaturrecherche, die behutsam und vergleichend in den Text und die Fußnoten eingebaut ist. Es ist sehr wohltuend, dass die Herausgeber nicht die eine Seite gegen die andere ausspielen oder das „mündliche“ Wort absolut setzen. Diese Behutsamkeit bringt ihnen viel Sympathie ein und hilft, der Oral History eine weitere Lanze zu brechen. Auch wenn manche Rückblicke sehr selbstbewusst anmuten („I am one of the main reasons we have senior citizens‘ councils in Denmark … And there’s no doubt that people like me have exercised a lot of political influence, but in decentralized structures“, S. 385), dann werden sie sofort mit anderen historischen Arbeiten verglichen, beispielsweise den Ergebnissen in „The world we have won”. Robert Gildea und James Mark sind überzeugt, dass die Revolten der sechziger Jahre trotz unterschiedlicher Nationalitäten, politischer Systeme, trotz der ideologischen Spaltung in Ost und West Gemeinsamkeiten aufwiesen, die den Akteuren ungeachtet ihrer politischen und nationalen Zugehörigkeit das Bewusstsein gaben, für ein gemeinsames Netzwerk und daher auch mit größeren Einwirkungsmöglichkeiten zu arbeiten. Dieser These kann man sich schnell anschließen. Das Gefühl, für den Anti-Imperialismus auf die Straßen zu gehen, Universitätsveranstaltungen zu sprengen und Autoritäten infrage zu stellen und zu stürzen,

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war ein revolutionärer Ausweis dieser Jahre. Vietnam reichte als Stichwort, um eine weltweite und damit auch europäische Protestbewegung mit revolutionärem Elan zu versehen. Auch der Zweite Weltkrieg war und blieb ein „unbewältigtes“ Thema, dass die Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Überwindung nationaler Grenzen im Sinne kommunikativer Strukturen und politisch-ideologischer Ziele war ein weiterer Grundzug jener Jahre. Revolutionen kontinuierlich zu „diskutieren“ und zu überdenken, bisweilen auch unter Anwendung von Gewalt, waren ein Phänomen dieser Zeit, in Europa, aber auch in vielen anderen Teilen der Welt. Das Ende des Buches wird von den Ehemaligen „diktiert“, die euphorisch, relativierend und noch stolz in der Niederlage auf ihre kollektive Biografie zurückblicken („And all in all I would say, with hindsight, that I can be entirely grateful - and I am – for the period of ‚67/’68. This experience, that you can do something, is irreplaceable. And I really had this. I was helpless before … My feeling was that in this society, which I didn’t experience as pleasant, everything is already decided, everything has been decided. I could only become a frustrated professor. I pictured myself as someone who has to plough through secondary literature with frustration and grim determination. And I couldn’t see myself doing this … So in a sense I am really proud of this time and what I did. And on the other hand I see all the big, big mistakes and the blindness – in part an inevitable blindness”, S. 337). Es ist nicht verwunderlich, dass die Oral History am Ende des Buches noch einmal zum Zuge kommt und in ihrer Vielfalt und Erinnerungskultur die weit zurückliegenden Jahre für einen Augenblick vor das Auge des Betrachters zieht. Die subjektive, nicht abstrakte Erinnerung bestätigt viele gesicherte Erkenntnisse, die man andernorts nachlesen kann, aber sie gibt der Geschichte auch eine Lebendigkeit und einen Widerspruchsgeist, der neue Fragen weckt. Vielleicht kann man in diesem Punkt den größten Beitrag sehen, den die Oral History zu den 68‘ leisten kann. 500 Menschen und ihre Aussagen lassen sich sicher unter gewissen Gesichtspunkten subsumieren, aber was überwiegt, ist die Lebendigkeit, mit der die Interviewten wieder in den Dialog mit der Geschichte treten, gleichgültig, ob sie „inevitable blindness“ (S. 337) beklagen oder „a real chance“ (S. 336) bejubeln. Das letzte Kapitel, die Zusammenfassung, trägt die Überschrift „Between Memory and History“. Diese Wortwahl und die folgende Perzeption und Würdigung sind gelungen, sie weisen der Oral History ihren Stellenwert zu, der sicher weit über dem einer bloßen Hilfswissenschaft liegt, und sie würdigen die Beiträge beispielhaft in ihrer Vielfalt. Gleichwohl beanspruchen die Interviews und die Interviewten nicht das letzte Wort, das die historische Disziplin ohnehin nicht kennt. Sie haben der Sprachlosigkeit vieler ein Ende gesetzt und damit die historische Forschung im Detail und im Allgemeinen bereichert. Die hervorragend gearbeitete Studie ist im „positiven“ Sinne des Wortes kein revolutionäres Buch, aber sie ist ein lebendiges Sprachrohr für viele, die sonst nicht zu Wort gekommen wären. Die Arbeit ist eine große organisatorische Integrationsleistung, die sich unterschiedlichster historischer Disziplinen bedient, um den Widerspruchsgeist junger Menschen in Europa rückblickend neu zu beleuchten. Sicher stehen auf diesen Seiten nicht das zerstörerische Potenzial und die Gewaltbereitschaft im

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Vordergrund, die der Bewegung zum Teil innewohnte, aber das ist ein Gesichtspunkt, den kaum ein Historiker in den Vordergrund rückt. Die Interviews werfen zwischen den Zeilen auch einen Blick auf die Opfer und diese haben ihre Geschichte verdient. Dazu gehören nicht nur die Repräsentanten von Staat und Gesellschaft, sondern auch der „normale Durchschnittsbürger“. Wie erinnert er sich an die 68‘, ihr Auftreten, ihre Forderungen, ihre „Integration“ in die Gesellschaft? Eine sorgfältig gearbeitete Studie, die großen Respekt verdient. PD Dr. Michael Fröhlich, Bonn

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Heiko Stoff Petra Grimm / Oliver Zöllner (Hg.) Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten 2012. 360 Seiten mit 33 Abbildungen. Kart. ¤ 49,– ISBN 978-3-515-10296-4

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Gift in der Nahrung Zur Genese der Verbraucherpolitik Mitte des 20. Jahrhunderts Am 6. November 1958 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit eine Novelle des noch aus dem Jahr 1927 stammenden Deutschen Lebensmittelgesetzes. Damit fand eine seit den 1930er Jahren andauernde Debatte ihren vorläufigen Abschluss, die durch das Schlagwort „Gift in der Nahrung“ geprägt war und mit der Verbraucherbewegung einen neuen politischen Akteur in das politische System der Bundesrepublik einführte. Es ging dabei um mehr als eine längst überfällige Anpassung der Gesetzgebung an die Bedingungen der industriellen u. hasebrink Lebensmittelproduktion. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts k. neef wurde eine hochgradig politische Auseinandersetzung über rungen Gesellschaft und Individuen | b. debatin die Chemisierung und für Technisierung der modernen Welt geführt, die Risikopolitik und Präventionstechniken Netzwerke aus medienethischerverband. Perspektive | In stetem Bezug auf den zivilisationskritischen Diskurs zur Vergiftung etablierte sich in der Bundesrepublik ein Gefüge r. capurro der Verbraucherpolitik, das durch teils bekannte, teils neue soziale Akteure geprägt war, durch Lobbyisten, Reformer, Konzept „Privatheit“ in den Medien | Puristen, Experten, eifrige Ministerialbeamte, organisierte Konsumenten und die Aktivistinnen der Frauen- und Hausfrauenorganisationen.

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William Dieterle und die deutschsprachige Emigration in Hollywood Franz Steiner Verlag Antifaschistische Filmarbeit bei Warner Bros. Pictures, 1930–1940 Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 25 82 – 0 ·55Fax: 0711 / 25 82 – 390 Transatlantische Historische Studien – Band 2014. 347 Seiten.E-Mail: Geb. ¤ 58,–. [email protected] & 978-3-515-10974-1 /@ 978-3-515-11014-3 Internet: www.steiner-verlag.de Rudolf Stöber / Michael Nagel / Astrid Blome / Arnulf Kutsch (Hg.)

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HISTORISCHE FORSCHUNG Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit Herausgegeben von Nikolas Jaspert, Johannes Kunisch †, Klaus Luig, Peter Moraw †, Peter Oestmann, Heinz Schilling, Bernd Schneidmüller und Barbara Stollberg-Rilinger Die 1974 gegründete »Zeitschrift für Historische Forschung« ist die einzige deutschsprachige Fachzeitschrift, die sich auf die Epoche des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit konzentriert. Das Konzept beruht auf der Idee, die Geschichte der europäischen Vormoderne vom hohen Mittelalter über die Reformationszeit hinweg bis zur revolutionären Sattelzeit um 1800 als strukturelle Einheit zu thematisieren. In sachlicher und methodischer Hinsicht bildet die »ZHF« die Vielfalt der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft ab. Sie hat einen stabilen Kern im Bereich der Politik- und Verfassungsgeschichte, ist aber auch offen für Beiträge aus der Religions-, Wissenschaftsund Ideengeschichte sowie aus der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Neben Aufsatzbeiträgen bietet sie regelmäßig aktuelle Forschungsberichte und einen ausführlichen Besprechungsteil, in dem jährlich etwa 200 Neuerscheinungen von Fachleuten für Fachleute besprochen werden.

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Lexikon zur Überseegeschichte Herausgegeben von Hermann Joseph Hiery für die Gesellschaft für Überseegeschichte unter Mitarbeit von Markus A. Denzel, Thomas Fischer, Gita Dharampal-Frick, Horst Gründer, Mark Häberlein, Achim von Oppen, Horst Pietschmann, Claudia Schnurmann, Bernhard Streck, Wilfried Wagner, Hermann Wellenreuther und Michael Zeuske Das Lexikon zur Überseegeschichte ist das Standardwerk zur außereuropäischen Geschichte in deutscher Sprache. Verfaßt von den maßgeblichen deutschen Experten – Historikern, Ethnologen, Linguisten, Religionswissenschaftler u. hasebrink – zu außereuropäischen Kulturen und Völkern und ihrer k. neef Geschichte enthält es rund 2000 Stichwörter (Abidjan bis Zyklische Zeitvorstellung) zu allen Bereichen rungen für Gesellschaft undAfrikas, Individuen | b. debatin Amerikas, Asiens, Australiens und der Südsee.

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Hermann Joseph Hiery (Hg.) Lexikon zur Überseegeschichte 2015. XIII, 922 Seiten. Gebunden. € 99,– & 978-3-515-10000-7 @ 978-3-515-10875-1 Jetzt auf unserer Homepage bestellen: www.steiner-verlag.de

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Auf dem neuesten Stand der Forschung werden auch komplexe historische und politische Zusammenhänge überr. capurro sichtlich und verständlich dargestellt.

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Birgitt Aschmann / Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.) Petra Grimm / Oliver Zöllner (Hg.) Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten 2012. 360 Seiten mit 33 Abbildungen. Kart. ¤ 49,– ISBN 978-3-515-10296-4

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1813 im europäischen Kontext Historische Mitteilungen – Beiheft 89

Im Zusammenhang mit den antinapoleonischen Kriegen erlebten die Gesellschaften Europas die Aufhebung traditioneller Beschränkungen: Staatliche Grenzen wurden verlegt, Handelsströme umgeleitet, politische Ordnungsmodelle und Genderkonzepte hinterfragt und neue Verfassungen erlassen. Doch gleichzeitig setzten diese Erfahrungen Abwehrprozesse in Gang, welche die „Entgrenzungen“ wieder einhegen sollten. Diesen dialektischen Entwicklungen wie Grenzüberwindung und Nationalisierung, Demokratisierung und Stärkung der Monarchie, Judenemanzipau. hasebrink tion und Antisemitismus ist der Band gewidmet. k. neef Nach einer Rekapitulation der Erinnerungskonjunkturen rungen für Gesellschaft und Individuen | b. debatin um die Leipziger Völkerschlacht nehmen die Beiträge die AmbivalenzenNetzwerke von traditionalen und innovativen Elemenaus medienethischer Perspektive | ten in den Blick, die die Gesellschaften während und nach den antinapoleonischen Kriegen geprägt haben. Die r. capurro immense Reichweite der Veränderungen wird durch den interdisziplinären Zugang deutlich, indem die Ereignisse Konzept „Privatheit“ in den Medien | und ihre Folgen nicht nur für die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft analysiert, sondern auch aus musik- und literaturwissenschaftlicher sowie emotionsund medizinhistorischer Perspektive beleuchtet werden. Gesellschaften | e. wagner

Aus dem Inhalt

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Franz Steiner Die Wilhelminische ZeitVerlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart in der Diskussion Telefon: 0711 / 25 82 – 0 · Fax: 0711 / 25 82 – 390 Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918–1939 und ihr zeitgenössischer Kontext E-Mail: [email protected] Historische Mitteilungen Beiheft 88 Internet:–www.steiner-verlag.de 2014. 360 Seiten. Kart. ¤ 59,–. & 978-3-515-10960-4 /@ 978-3-515-10969-7

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Michael Kißener mögliche Regulierung diskutiert.

Petra Grimm / Oliver Zöllner (Hg.) Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten 2012. 360 Seiten mit 33 Abbildungen. Kart. ¤ 49,– ISBN 978-3-515-10296-4

Michael Kißener Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus 2015. 292 Seiten mit 14 Fotos, 2 Abbildungen und 7 Farb- und 6 s/w-Tabellen. Kartoniert. € 39,– & 978-3-515-11008-2 @ 978-3-515-11021-1 Jetzt auf unserer Homepage bestellen: www.steiner-verlag.de

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Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens Historische Mitteilungen – Beiheft 90

Die Erforschung der deutschen Großindustrie in der Zeit des Nationalsozialismus hat in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wenig ist demgegenüber bislang über die Rolle klein- und mittelständischer Familienunternehmer zwischen 1933 und 1945, zumal im chemischpharmazeutischen Bereich, bekannt. In diese Forschungslücke stößt Michael Kißener mit seinem Band über das bekannte, weltweit tätige Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, dessen Geschichte in den u. hasebrink Jahren 1933–1945 hier erstmals umfassend dargestellt wird. In sechs Einzelstudien, k. neef die zentrale Themen wie „Zwangsarbeit“ oder den NS-Alltag im Werk, aber auch die „Bewälrungen für Gesellschaft und Individuen | b. debatin tigung“ der Diktatur nach 1945 aufgreifen, zeichnet der Netzwerke aus medienethischer Autor ein anschauliches und differenziertes Bild der Perspektive | Handlungsoptionen mittelständischer Familienunternehmer unter den Bedingungen einer modernen totalitären r. capurro Diktatur. Zugleich analysiert er regionale Einflussfaktoren Konzept „Privatheit“ den Medien | auf die Unternehmensentwicklung undin bestimmt in einem Vergleich den Standort des innovativen Pharma- und Säurenherstellers in der Geschichte der deutschen Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Aus dem Inhalt

Gesellschaften | e. wagner

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und Co. | e. clausen-muradian

Aus dem Inhalt Daten- und Persönlichkeitsschutzes | u.a. Einführung: (Noch eine) Unternehmensgeschichte p Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus – Studien zur Unternehmensund Familiengeschichte: Ausgangslage und Franz Steiner Verlag Vorgeschichte | Im „Dritten Reich“ |Chemisch-pharmazeuBirkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart tische Produktion im „Führerstaat“ | Zwangsarbeit |NachTelefon: 0711 / 25 82 – 0 · Fax: 0711 / 25 82 – 390 wirkungen der Diktatur p Exkurs: Ein „unsichtbares“ E-Mail: [email protected] Mitglied der Firmenleitung: Robert Boehringer p Fazit: Internet:im www.steiner-verlag.de Boehringer Ingelheim Nationalsozialismus – Vergleichende Beobachtungen p Anhang: Quellenverzeichnis | Literatur verzeichnis |Personenregister |Firmenregister | Ortsregister | Auszug aus dem Stammbaum der Familien Boehringer

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Die HMRG prägt eine große thematische Offenheit, die unter den deutschsprachigen Fachzeitschriften der Geschichtswissenschaften keineswegs Standard ist. Das aktuelle Jahrbuch zeichnet sich einmal mehr durch zwei Themenschwerpunkte und eine Reihe von glänzenden Einzelbeiträgen aus. Der erste Schwerpunkt mit fünf Aufsätzen zur Krise des Reformationszeitalters, koordiniert von Markus A. Denzel und Philipp Robinson Rössner, bietet nicht nur fünf Betrachtungen zur Thematik, sondern stellt zugleich eine Epochengrenze in Frage. Der zweite Schwerpunkt widmet sich dem Thema Europa im Blick deutscher

Historiker im 19. Jahrhundert. Seine vier Beiträge sind die Früchte internationaler Historiker-Kooperation, da sie auf eine Jahrestagung der German Studies Association in den Vereinigten Staaten zurückgehen. Die anschließenden Einzelbeiträge umfassen schließlich theoretisch-methodische Überlegungen zur Kategorie des Raumes in der deutschen Geschichtswissenschaft und vier weitere Aufsätze zu deutschen, europäischen und globalen Themen. Mit einem aktuellen Tagungsbericht und drei Rezensionsessays zum Abschluss erscheint ein facetten- und gedankenreiches Jahrbuch.

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