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German Pages [613] Year 1983
STÄDTEFORSCHUNG Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster
In Verbindung mit
W. Ehbrecht, H. Jäger, E. Meynen, H. Naunin, F. Petri, H. Schilling und H.K. Schulze herausgegeben von
Heinz Stoob Reihe A: Darstellungen Band 16
URBANISIERUNG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT HISTORISCHE UND GEOGRAPHISCHE ASPEKTE
Herausgegeben von Hans Jürgen Teuteberg
® 1983
BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN
Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 164 „Vergleichende geschichtliche Städteforschung" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Urbanisierung Izwanzigsten]
im 19. [neunzehnten] und 20. Jahrhundert: histor. u. geograph.
Aspekte/ hrsg. von Hans Jürgen Teuteberg - Köln; Wien : Böhlau, 1983. (Städteforschung: Reihe A, Darst.; Bd. 16) ISBN 3 412 00582 7
NE: Teuteberg, Hans Jürgen [Hrsg.] ; Städteforschung / A
Copyright ® 1983 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Textaufnahme: SFB 164 "Vergleichende geschichtliche Städteforschung", Münster Satz: Rechenzentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Belichtung: Mohndruck, Gütersloh Druck und Bindung: Hain-Druck GmbH, Meisenheim/Glan Printed in Germany ISBN 3 412 00582 7
INHALT
Verzeichnis der Mitarbeiter
VIII
Hans Jürgen Teuteberg Vorwort
X
A. Z u r E i n f ü h r u n g in d e n
Problemkreis
Hans Jürgen Teuteberg Historische Aspekte der Urbanisierung: Forschungsstand und Probleme
2
Heinz Heineberg Geographische Aspekte der Urbanisierung: Forschungsstand und Probleme
35
B. S t ä d t i s c h e s B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m u n d
Mobilität
Hans Dieter Laux Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses: Zur Bevölkerungsstruktur und natürlichen Bevölkerungsentwicklung deutscher Städtetypen 1871-1914
65
Walter Dean Kamphoefner Soziale und demographische Strukturen der Zuwanderung in deutsche Großstädte des späten 19. Jahrhunderts
95
William H. Hubbard Binnenwanderung und berufliche Mobilität in Graz um die Mitte des 19. Jahrhunderts
117
Herman Diederiks The Role of Amsterdam during the 19th Century in the Process of Urbanization - some Observations
130
C. U r b a n i s i e r u n g u n d
Städtesystem
Hans Heinrich Blotevogel Kulturelle Stadtfunktionen und Urbanisierung: Interdependente Beziehungen im Rahmen der Entwicklung des deutschen Städtesystems im Industriezeitalter Norbert de Lange Jüngere raumzeitliche Entwicklung multivariat definierter Städtestrukturen am Beispiel Nordrhein-Westfalens (1961-1970) und ihre historischen Einflußfaktoren
143
187
VI
Inhalt
D. W i r t s c h a f t l i c h e , s o z i a l e u n d k u l t u r r ä u m l i c h e Differenzierung Hans Böhm Rechtsordnungen und Bodenpreise als Faktoren städtischer Entwicklung im Deutschen Reich zwischen 1870 und 1937 . . . .
214
Heinrich Johannes Schwippe Zum Prozeß der sozialräumlichen innerstädtischen Differenzierung im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts. Eine faktorialökologische Studie am Beispiel der Stadt Berlin 1875-1910 . . .
241
Clemens Wischermann Wohnen und soziale Lage in der Urbanisierung: Die Wohnverhältnisse hamburgischer Unter- und Mittelschichten um die Jahrhundertwende
309
Wolfgang von Hippel Stadtentwicklung und Stadtteilbildung in einer Industrieansiedlung des 19. Jahrhunderts: Ludwigshafen am Rhein 1853-1914 . . .
339
E. A u f b a u d e r m o d e r n e n K o m m u n a l V e r w a l t u n g u n d Wandel ihres A u f g a b e n b e s t a n d e s Wolfgang R. Krabbe Die Entfaltung der modernen Leistungsverwaltung in den deutschen Städten des späten 19. Jahrhunderts
373
Walter Steitz Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich am Beispiel der Stadt Frankfurt a.M
393
John von Simson Water Supply and Sewerage in Berlin, London and Paris: Developments in the 19th Century
429
F. S t ä d t e b a u u n d S t ä d t e p l a n u n g im i n t e r n a t i o n a l e n Vergleich Anthony Sutcliffe Urban Planning in Europe and North America before 1914: International Aspects of a Prophetic Movement
441
Andrzej Wyrobisz Stadtplanung in polnischen Gebieten 1815-1914: Generelle Probleme und aktueller Forschungsstand
475
Göran Sidenbladh Planning for Stockholm 1923-1958
499
Barbara Miller Lane Government Buildings in European Capitals 1870-1914 .
517
Inhalt
Jacob Spelt Public Policy and the Viability of the Canadian Inner City: The Toronto Example G. U r b a n i s i e r u n g s f r a g e n der j ü n g s t e n
Gegenwart
Johan Borchert Geographische Urbanisierungsforschung in den Niederlanden in den letzten Jahrzehnten Peter Schöller Einige Erfahrungen und Probleme aus der Sicht weltweiter Urbanisierungsforschung Heinz Heineberg und Hans Jürgen Teuteberg Zusammenfassung der Schlußdiskussion Index der Ortsnamen
VERZEICHNIS DER
MITARBEITER
Priv.-Dozent Dr. Hans Heinrich Blotevogel, Ruhr-Universität Bochum, Geographisches Institut, Universitätsstr. 150, 4630 Bochum 1 Prof. Dr. Hans Böhm, Rheinische Wilhelms-Universität, Institut für Wirtschaftsgeographie, Franziskanerstr. 2, 5300 Bonn 1 Drs. Johan Borchert, Geografisch Instituut der Rijksuniversiteit Utrecht, Transitorium II, Heidelberglaan, Utrecht Docent Drs. Herman Diederiks, Rijksuniversiteit Leiden, Afdeling Sociale Geschiedenis, Middelste Gracht 4, Leiden Prof. Dr. Heinz Heineberg, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Geographisches Institut, Robert-Koch-Str. 26,4400 Münster Prof. Dr. Wolfgang von Hippel, Universität Mannheim, Historisches Seminar, Schloß, 6800 Mannheim Prof. William Henry Hubbard, Department of History, Condordia University, Loyola Campus, 7141 Sherbrooke St. West, Montreal H 4B 1R6, Walter Dean Kamphoefner, Ph.D., California Institute of Technology. Division of the Humanities and Social Sciences, 228-77, Pasadena, California 91125 Dr. Wolfgang R. Krabbe, Sonderforschungsbereich 164 - Vergleichende geschichtliche Städteforschung, Syndikatplatz 4-5,4400 Münster Dr. Norbert de Lange, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Geographisches Institut, Robert-Koch-Str. 26 Dr. Hans-Dieter Laux, Rheinische Wilhelms-Universität Bonn, Geographisches Institut, Franziskanerstr. 2, 5300 Bonn 1 Prof. Barbara Miller Lane, Ph.D., Committee on the Growth and Structure of Cities, Director, Growth and Structure of Cities Program, Bryn Mawr College, Bryn Mawr, Pennsylvania Prof. Dr. Peter Schöller, Ruhr-Universität Bochum, Geographisches Institut, Universitätsstr. 150, 4630 Bochum 1
Verzeichnis der Mitarbeiter
EX
Dr. Heinrich Johannes Schwippe, Sonderforschungsbereich 164 - Vergleichende geschichtliche Städteforschung, Syndikatplatz 4-5,4400 Münster Stadtbaudirektor a.D. Prof. Göran Sidenbladh, Narvavägen 23,11460 Stockholm Dr. John von Simson, Karl Hofer-Str. 18,1000 Berlin 37 (Technische Universität Berlin) Prof. Jacob Spelt, Ph.D., Vice-Dean, University of Toronto, Faculty of Arts and Science, Toronto, Ontario M 5 S - 1 A 1 Priv.-Dozent Dr. Walter Steitz, Westfälisches Industriemuseum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Alter Steinweg 34,4400 Münster Anthony Sutcliffe, Ph. D., University of Sheffield, Department of Economic and Social History, Sheffield S 10 2 TN Prof. Dr. Hans Jürgen Teuteberg, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20-22,4400 Münster Clemens Wischermann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20-22,4400 Münster Prof. Dr. Andrzej Wyrobicz, Universytet Warszawa, Instytut Historyczny, 00927/1 Warszawa, Krakowskie Przedmiéscie 26-28
Redaktion:
Christoph Schütte und Volker Werner, Sonderforschungsbereich 164 - Vergleichende geschichtliche Städteforschung, Syndikatplatz 4/5,4400 Münster
VORWORT
Der vorliegende Sammelband vereinigt Referate, die auf einer Arbeitstagung des Sonderforschungsbereichs 164 „Vergleichende geschichtliche Städteforschung" der Westfälischen Wilhelms - Universität Münster vom 30. Oktober bis 1. November 1980 vorgetragen wurden. Zweck dieser Veranstaltung war es, Resultate neuer Forschungen auf dem Gebiet der Urbanisierung einer grösseren Öffentlichkeit vorzustellen und mit Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland zu diskutieren, die zur Zeit ähnlichen Fragen nachgehen. Die Vorführung neuer Methoden zur Quantifizierung des disparaten Quellenmaterials spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Als besonders wertvoll und zum Teil auch neuartig wurde von allen Teilnehmern empfunden, daß zwei sonst relativ getrennt arbeitende Fächer hier systematisch zum gemeinsamen Erfahrungsaustausch zusammengeführt wurden. Nähere Einführungen in den Problemkreis der Urbanisierung vom Standpunkt der Geschichtswissenschaft wie der Geographie geben die mit bewußt vielen Literaturangaben ausgestatteten beiden Einführungen, so daß auf weitere Ausführungen an dieser Stelle verzichtet werden kann. Eine weitere Tagung, die dann unter der Leitung des Geographen Heinz Heineberg stehen wird, soll in absehbarer Zeit diese erfolgreiche interdisziplinäre Tagung fortsetzen und das kaum auszuschöpfende Thema weiter verfolgen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist für Hilfen bei der Finanzierung, den Herausgebern und dem Verlag für die Aufnahme in diese angesehene Reihe sowie den zahlreichen wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern des Sonderforschungsbereichs für die tatkräftige Mitarbeit vielfach und nachdrücklich zu danken.
Münster, im April 1982 Hans J. Teuteberg
HISTORISCHE ASPEKTE DER
URBANISIERUNG:
FORSCHUNGSSTAND UND
PROBLEME
Von H a n s J . T e u t e b e r g
Dieser Sammelband ist unter das Leitthema „Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert - historische und geographische Aspekte" gestellt worden. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß das in den letzten einhundert Jahren quantitativ wie qualitativ kulminierende Phänomen der Verstädterung Objekt einer zeitlich wie räumlich vergleichenden Analyse bildet. Das Problem der Stadt im Industriezeitalter wird heute von der speziellen Wissenschaft der Urbanistik erforscht, die sich in Wahrheit aber noch aus einer Vielzahl unverbundener herkömmlicher Disziplinen rekrutiert. Bei allen Untersuchungen muß daher auf die Resultate verschiedener Fächer zurückgegriffen werden. Wenn hier Geographen und Historiker gemeinsam auftreten, dann stellt dies nur eine der möglichen Kooperationsformen dar. Angesichts solcher interdisziplinärer Bemühungen darf nicht überraschen, wenn viele Einzelfragen der Urbanisierung beide Fächer gleich stark berühren. Zu nennen wären hier beispielsweise die zentralörtlichen Funktionen der Städte in Abhängigkeit von ihrer Lage und Größe, die geographischen Determinanten des Bevölkerungswachstums und der Mobilität, die Standortwahl von Unternehmen im Hinblick auf natürliche Ressourcen, Arbeitskräftepotential und Verkehrsverbindungen, die soziale Segregation bei der City- und Stadtteilbildung und anderes mehr. Die unterschiedlichen Anliegen von Geschichte und Geographie liegen offensichtlich weniger in der spezifischen Auswahl der zu untersuchenden Sachverhalte als vielmehr in den Forschungsstrategien und generellen Erklärungsversuchen, die ihrerseits auf verschiedenen Wissenschaftstraditionen aufbauen. Zweck dieses Sammelbandes soll es sein, anhand einheitlicher Themenkomplexe gemeinsame wie trennende Forschungsansätze herauszuarbeiten und sich über den jeweils erreichten Erkenntnisstand besser als zuvor gegenseitig ins Bild zu setzen. Verständlicherweise können wie immer bei solchen Anlässen nur einige spezifisch ausgewählte Problembereiche intensiver diskutiert werden, die beide Fächer zugleich beschäftigen. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als würden die Themen dieses Bandes etwas unverbunden nebeneinanderstehen. Eine nähere Beschäftigung mit ihnen wird aber schnell zeigen, wie mannigfach verzahnt sie in Wirklichkeit sind. Das Feld der Urbanisierungsforschung ist sehr viel komplexer als man früher anzunehmen geneigt war. Angesichts eines multidisziplinären wie auch internationalen Gedankenaustausche erscheint es besonders dringlich, zunächst begriffliche Verständigungsversuche zu unternehmen. Der hier im Brennpunkt stehende Terminus „Urbanisierung" ist wie seine Synonyme „Urbanisation" und „Verstädterung" (engl, urbanization, franz. urbanisation) weit, vielschichtig und mehrdeutig, so daß eine genuin akzeptable Definition nicht angeboten werden kann. Seitdem
Historische Aspekte der Urbanisierung
3
vermutlich Karl Bücher 1893 den Begriff Urbanisierung erstmals im heutigen Sinne in die wissenschaftliche Debatte einführte, haben sich eine Fülle von Ausdeutungen ergeben, die sich nur schwer auf einen Nenner bringen lassen Das Spektrum der Erklärungsversuche reicht von quantitativ-statistischen Zugriffen der demographischen Entwicklung und siedlungsgeographischen bzw. sozialtopographischen Strukturveränderungen über Beiträge zur Theorie des Wirtschaftswachstums und sozialen Wandels bis zu sozialpsychologischen Begriffsbestimmungen. Aufgabe dieses einleitenden Beitrages ist es, einen kurzen Aufriß zu geben, inwieweit sich die Historiker im weiteren Sinne in den letzten einhundert Jahren um die Aufhellung des Verstädterungsphänomens bemüht haben und welche Problemfelder und Forschungsmethoden z.Zt. hauptsächlich diskutiert werden. Dabei muß auch auf die Erkenntnisfortschritte benachbarter Fächer, insbesondere der mehr generalisierenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, zurückgegriffen werden. Dies darf als durchaus legitim angesehen werden, da die moderne Stadtgeschichte ähnlich wie die Urbanistik selbst eine interdisziplinäre Vorgeschichte hat. Wann hat die stadtgeschichtliche Forschung begonnen? Erste Beschäftigungen mit dem sich wandelnden Bild der Stadt sind so alt wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation, so daß es m,üßig erscheint, nach irgendwelchen näher datierbaren Ursprüngen zu fahnden. Jahrtausendelang wurde Stadtgeschichte ganz offensichtlich nur als integraler Bestandteil mythisch-religiös überhöhter Heils- und Weltgeschichte begriffen. Erst mit dem Auftauchen der modernen Staatswissenschaften im Zeichen des Naturrechts, der Renaissance und besonders dann der Aufklärung begannen im Rahmen der sich herausbildenden Kameralistik tastende Versuche, die Erscheinung der Stadt im Gegensatz zum „platten Land" erstmals gedanklich abstrahiert zu erfassen, wobei man sich zunächst an rein äußerlichen Merkmalen orientierte, wie z.B. dem Vorhandensein einer Mauer oder eines Stadttores, der Zahl der Bewohner und ihrem Handel und Gewerbe bzw. der Existenz eines siegelführenden Stadtrates. Als besonderes Charakteristikum zur Differenzierung von Stadt und Land wurde die Verleihung eines Marktrechtes durch den jeweiligen Landesheim angesehen 2 . Die Antwort, was unter einer Stadt zu verstehen sei, mußte bei einer solchen Addition von äußerlichen Charakteristika noch recht disparat ausfallen, kam es doch ganz darauf an, ob man eine Stadt vom Standpunkt der Fortifikation, der wirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung, der Staatssteuern oder aber von der Baukunst her betrachtete. Die Enzyklopädien und Lexika des 18.Jahrhunderts sind voller Beispiele für solche Betrachtungsweisen. 1
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Bücher erklärte den Begriff Urbanisierung mit „Verstadtlichung der Kulturmenschheit". Vergi. KARL BÜCHER, Großstadttypen aus fünf Jahrtausenden, in: DERS., Die Entstehung der Volkswirtschaft, 1, 14.-15.Aufl. Tübingen 1920, S. 386. Die deutsche Kameralistik definierte das Wesen der Stadt wie folgt: „Die Stadt ist ein Zusammenhang von Gesellschaften, Familien und einzelnen Personen, die in einem verwahrten Orte unter Aufsicht und Direktion eines Polizey-Collegii, welches man einen Stadtrath nennet... bei einander wohnen, um mit desto besserem Erfolge, Wirkung und Zusammenhänge solche Gewerbe und Nahrungsarten zu betreiben, die sowohl der Landes-Nothdurft und Bequemlichkeit, als zu der Verbindung des gesamten Nahrungsstandes im Lande erforderlich waren". JOHANN-HEINRICH GOTTLIEB JUSTI, Staatswirthschaft, Theil 1, Kopenhagen 1758, § 457. Zum Problem der Stadtforschung im 18.Jh. vergi. FRANKLIN KOPITSCH (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976 (Ein!.).
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Hans J. Teuteberg
Wichtig für den Beginn einer autonomen Stadtgeschichtsschreibung war offensichtlich die aufkommende Bevölkerungs-, Medizinal- und Wirtschaftsstatistik. An englische und französische Vorbilder sich anlehnend stellte man aus Kirchenregistern ausgezogene Geburts-, Heirats- und Sterbedaten bei der Bevölkerung von Stadt und Land vergleichend gegenüber, wobei erste dynamische Entwicklungsstrukturen städtischer Gemeinwesen ins Blickfeld gerieten 3. Die Auseinandersetzung mit der „Politischen Arithmetik" und malthusianischen Bevölkerungstheorie, die Gründung von Statistischen Bureaus und Statistischen Vereinen in den deutschen Bundesstaaten sowie dann von Statistischen Ämtern in größeren deutschen Städten und schließlich die einsetzende Reichsstatistik mit ihren verschiedenen Zweigen haben wesentliche Momente der einsetzenden Verstädterung Deutschlands sowohl zahlenmäßig messend wie verbal deskriptiv erstmals ins allgemeine Bewußtsein gebracht 4 . Der Zusammenschluß der deutschen Städtestatistiker zu regelmäßigen Konferenzen ab 1879, die Herausgabe des „Statistischen Jahrbuchs deutscher Städte" durch W. Neefe ab 1890 sowie der Beginn international vergleichender Großstadtstatistik ab 1876 haben die Kommunalstatistik in wenigen Jahrzehnten zu einem verlässlichen Instrument der Wissenschaft gemacht und das erste brauchbare Fundament für eine Quantifizierung geschaffen s . Um eine „Morphologie der Großstadtbevölkerung" zu schaffen, wie es der bayerische Statistiker Georg von Mayr nannte, wurde die städtische Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Beruf gegliedert und mit dem Ausmaß der Zuwanderung in die Städte in Beziehung gesetzt. Die damals empirisch erarbeiteten Populations- und Wanderungsstatistiken müssen als erste wichtige Bausteine für die quantitativ arbeitende Urbanisierungsforschung angesehen werden 6 . Der Amerikaner Adna Ferrin Weber hat die Resultate der 3
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So unterzog der Feldprediger Friedrichs d.Gr., Johann Peter Süßmilch, die Sterblichkeit in preußischen Städten einer ersten zusammenfassenden Analyse, wobei er zu dem Ergebnis kam, daß diese mit der Größe relativ zunehme, während die Heiratsquote sinke. Das Leben in den Städten nannte er vom populationistischen Standpunkt „fast einen Pestschaden". JOHANN PETER SÜMILCH, Göttliche Ordnung in der Veränderung des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 2. ganz umgearbeitete Aufl., Berlin 1761. Vergi. DERS., Gedancken von den epidemischen Krankheiten und dem größeren Sterben des 1757ten Jahres, in einem Sendschreiben an die Herren Verfasser der Göttingschen Anzeigen von gelehrten Sachen auf derselben Verlangen entworfen, Berlin 1758. Für die Entwicklung der verschiedenen Zweige der amtlichen wie privaten Statistik, die sich fast immer auch mit kommunalen Problemen befaßte, vergi. PAUL MOMBERT, Bevölkerungslehre, Jena 1929, S. 108. Die Rezeption der malthusianischen Bevölkerungslehre ist jetzt aufgearbeitet bei KLAUS JÜRGEN M A T Z , Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19.Jahrhunderts, Stuttgart 1980. - Gute statistische Gegenüberstellungen von Stadt- und Landbevölkerung bringt unter anderem GEORG VON VIEBAHN, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, 3 Bde., Berlin 18S8-1868. Das „Statistische Jahrbuch Deutscher Städte" ist für die Geschichte der Urbanisierung eine unerschöpfliche Fundgrube, die bisher von Historikern noch wenig ausgenutzt wurde. Die Entwicklung aller größeren und mittleren deutschen Stadtgemeinden, die über ein Statistisches Amt verfügten, kann dort im einzelnen verfolgt werden. Unter anderem finden sich dort Angaben über Bevölkerung, Grundstücke, Gebäude, Wohnungen, Bautätigkeit, Versorgungsbetriebe, Sparkassen, Unterrichtsanstalten usw. Vergi, zur Bedeutung der älteren Stadtstatistik ELISABETH PFEIL, Großstadtforschung, 2.neu bearb. Aufl., Hannover 1972, S. 33. Aus der Fülle der zeitgenössischen Schriften sind hier beispielhaft zu nennen GEORG HANSSEN, Die drei Bevölkerungsstufen, München 1889. - H. RAUCHBERG, Die Bevölkerung Österreichs
Historische Aspekte der Urbanisierung
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ersten Kommunalstatistik, die etwa zur gleichen Zeit auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften begonnen worden war, in einem bis heute immer wieder zitierten klassischen Werk zusammengefaßt und damit die Bedeutung dieser quantitativen Forschungsansätze für die vergleichende Städteforschung unterstrichen 7 . Webers mühseliger Versuch, die unterschiedlich angefertigten Statistiken aus verschiedenen Ländern Europas und den USA in einen einheitlich interpretierbaren Rahmen zu zwängen, mußte verständlicherweise noch unvollkommen bleiben und löste berechtigte Kritik aus. Sein Buch machte aber weithin deutlich, daß es sich bei der Urbanisierung um ein weltweites, offenbar mit der Industrialisierung und Modernisierung eng zusammenhängendes Strukturproblem handelte und die damals viel erörterte „Soziale Frage" zugleich bis zu einem gewissen Grade als eine Frage der Verstädterung angesehen werden mußte. Die schnell wachsenden großen Städte brachten überall darüber hinaus eine Fülle von rechtlich-politischen und wirtschaftlich-technischen sowie sozialpsychologischen und kultur-kritischen Problemen ins Spiel, die von den Städtestatistikern noch nicht beantwortet werden konnten. Eine weitere wichtige Unterstützung erfuhr die Urbanisierungsforschung durch die im Zuge der politischen Romantik und des Historismus aufkommende Historische Rechtsschule. Seit etwa der Mitte des 19.Jahrhunderts ist unter ihren Anstößen ein nahezu ständig fließender Strom rechts- und verfassungsgeschichtlicher Studien entstanden, die sich in der Hauptsache allerdings zunächst mit der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Stadt befaßten. Die Forschungen von Wilhelm Arnold, Georg Ludwig von Maurer und Karl Theodor von Inama-Sternegg, aber auch von Rudolph Gneist, Hugo Preuß, Rudolph Sohm, Friedrich Keutgen und besonders von Georg von
auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung von 1890, Wien 1895. - RICHARD KUCZYNSKI, Der Zug nach der Stadt, Stuttgart 1897. - CARL BALLOD, Die Lebensfähigkeit der städtischen und ländlichen Bevölkerung, Leipzig 1897. - H.BLEICHER, Die Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1891, insbesondere Studien über Wanderungen, durchgeführt an der Stadt Frankfurt am Main, in: Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt/M. 1893. - R.BÖCKH, Der Anteil der örtlichen Bewegung an der Zunahme der Bevölkerung, in: Congrès International d'Hygiène et de Démographie, Budapest 1895. - N.BRÜCKNER, Die Entwicklung der großstädtischen Bevölkerung im Gebiet des Deutschen Reiches, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 1899. - CARL BALLOD, Die mittlere Lebensdauer in Stadt und Land, Leipzig 1899. - HANS ALLENDORF, Der Zuzug in die Städte, Jena 1901. - GEORG VON MAYR, Statistik und Gesellschaftslehre. Der Stand der deutschen Städtestatistik, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 1903 (6. Erg.heft). - SIEGMUND SCHOTT, Das Wachstum der deutschen Großstädte seit 1871, in: Statistisches Jb. deutscher Städte, 11, 1903, S. 129-148. - AUGUST MAYR, Untersuchungen über die Agglomerationsverhältnisse der Bevölkerung im Königreich Bayern, München 1904. SIEGMUND SCHOTT, Die Citybildung in deutschen Großstädten seit 1871, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, 14, 1907, S. 21-32. - M. BROESIKE, Arbeitsort und Wohnort der Bevölkerung in den Großstädten und einigen Industriebezirken Preußens am l.Dez. 1900, in: Zeitschrift des Kgl.preußischen Statistischen Büros, 44, 1907, S. 492. - DERS., Die Binnenwanderung im preußischen Staate nach Kreisen 1895-1900, in: Zeitschrift des Kgl.preussischen Statischen Büros 42, 1902, S. 273-298. - SIEGMUND SCHOTT, Die großstädtischen Agglomerationen des Deutschen Reiches 1871-1910, Breslau 1912. - GOTTLIEB GASSERT, Die berufliche Struktur der deutschen Großstädte nach der Berufszählung von 1907, Diss. Heidelberg 1917. - W. FRANKE, Die Volkszahl deutscher Städte Ende des 18. und Anfang des 19.Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamtes Berlin, 62, 1922. 7
ADNA FERRIN WEBER, The Growth of the Cities in the Nineteenth Century: A Study in Statistics (1899), Neudruck Ithaca, N.Y., 1967.
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Hans J. Teuteberg
Below haben hier die institutionellen Anfänge der frühesten Verstädterung Deutschlands anhand der Quellen herausgearbeitet, um nur einige der wichtigsten Gelehrtennamen zu nennen 8 . Die ältere Historische Schule der Nationalökonomie war unter dem Eindruck der massenhaft einsetzenden Stadtwanderungen im späten 19. Jahrhundert ebenfalls stark an dem Problem der Verstädterung interessiert. Sie lenkte den Blick aber öfter als die Juristen auch auf die eigene Gegenwart. So untersuchte, historisch allerdings meistens weit ausholend, Wilhelm Roscher die Getreide-, Finanz- und Armenpolitik der Städte, Bruno Hildebrand setzte sich nach einer Englandreise mit Friedrich Engels 1845 verfaßten düsteren Gemälde der aufkommenden englischen Industriestädte im Hinblick auf die deutsche Situation auseinander, und Karl Knies machte die Wirkung des aufkommenden Eisenbahnsystems und der Geldwirtschaft auf das Städtewachstum erstmals zum Gegenstand von Analysen 9 . Die sich im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts dann vor allem im „Verein für Socialpolitik" formierende jüngere Historische Schule der Wirtschaftswissenschaft setze diese Untersuchungen in wesentlich verbreiterter Form fort, wobei auf die richtungsweisenden Arbeiten von Georg Friedrich Knapp, Gustav Schmoller, Gustav Schönberg, Richard Ehrenberg und Adolph Wagner vor Ausbruch des 1. Weltkrieges besonders hinzuweisen ist, die ihrerseits wiederum eine Reihe von Schülern zu lokalgeschichtlichen Vertiefungen anregten 10. Die Studien 8
WILHELM ARNOLD, Verfassungsgeschichte deutscher Freistädte, 2 Bde., Gotha 1 8 5 4 . - GEORG LUDWIG RITTER VON MAURER, Geschichte der deutschen Gemeindeverfassung in Einzeldarstellungen, 12 Bde., Leipzig 1 8 5 4 - 1 8 7 1 . - K.H. ROTH VON SCHRECKENSTEIN, Das Patriziat in
den Städten, 1856. - F. BARTHOLD, Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Bürgertums, 4 Teile in 2 Bden., 2 . Aufl., Leipzig 1 8 5 9 (Nachdruck 1 9 7 6 ) . - G. ECKERTZ, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, 6 Bde., Köln 1 8 6 0 - 1 8 7 0 . - WILHELM ARNOLD, Zur Geschichte des Eigentums in deutschen Städten, Basel 1861. - L. ENNEN, Geschichte der Stadt Köln, 5 Bde., Köln 1 8 6 3 - 1 8 8 0 . - GEORG LUDWIG RITTER VON MAURER, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 4 Bde., Erlangen 1 8 6 9 - 1 8 7 1 . - GEORG VON BELOW, Die Entstehung des deutschen Städtewesens (Festschrift), Leipzig 1 8 9 0 . - SEBASTIAN SCHWARZ, Anfänge des Städtewesens in Elbe-und Saalegegenden, Leipzig 1 8 9 2 . - SIEGFRIED RITSCHL, Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis, Leipzig 1 8 9 7 . - KARL THEODOR VON INAMA-STERNEGG, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1 9 0 1 . - RUDOLPH SOHM, Institutionen. Ein Lehrbuch der Geschichte und des Systems des Privatrechts, 10. Aufl., Leipzig 1 9 0 1 . - FRIEDRICH KEUTGEN, Ämter und Zünfte, Jena 1 9 0 3 . - H U G O PREUSS , Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Bd.l: Entwicklung der deutschen Städte Verfassung, Leipzig 1 9 0 6 . - GEORG VON BELOW, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum, Leipzig 1 8 9 8 ( 2 . Aufl. 1 9 0 5 , 3 . Aufl. 1 9 2 2 ) . DERS., Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, München 1 9 0 0 ( 2 . Aufl. 1 9 2 3 ) . Vergi, zu diesem Komplex der älteren Stadgeschichtsforschung die immer noch hervorragend informierende Zusammenfassung von EDITH ENNEN, Art. „Stadt III (Europäisches Mittelalter)", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 9 , Tübingen-Göttingen 1 9 5 6 , S. 7 8 0 - 7 8 5 . 9
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WILHELM ROSCHER, Über Kornhandel und Teuerungspolitik, 3 . Aufl., Stuttgart-Tübingen 1 8 5 3 . - DERS., System der Finanzwirtschaft (System der Volkswirtschaft, Bd. 4), Stuttgart 1886DERS., System der Armenpflege und Annenpolitik, Stuttgart 1 8 9 4 . - FRIEDRICH ENGELS, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1 8 4 5 . - BRUNO HILDEBRAND, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, Frankfurt a.M. 1848. Neu hrsg. von Heinrich Waentig, Jena 1 9 2 2 . - KARL KNIES, Die Eisenbahn und ihre Wirkungen, Braunschweig 1 8 5 3 . DERS., Geld und Kredit, 2 Bde., Berlin 1 8 7 3 - 1 8 7 9 ( 2 . Aufl. 1 8 8 5 ) . GEORG FRIEDRICH K N A P P , Über die Ermittlung der Sterblichkeit aus den Aufzeichnungen der Bevölkerungsstatistik, Leipzig 1 8 6 8 . - GUSTAV SCHMOLLER, Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe, Straßburg 1 8 7 5 . - GUSTAV SCHÖNBERG, Finanzverhältnisse der Stadt Basel, Tübingen 1 8 7 9 . - GUSTAV SCHMOLLER, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, Straßburg 1 8 7 9 . EUGEN NÜBLING, Ulms Baumwollweberei im Mittelalter, Leipzig 1 8 9 0 . - RICHARD EHRENBERG,
Historische Aspekte der Urbanisierung
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bewegten sich ähnlich wie die der vergleichenden Rechts- und Verfassungsgeschichte teils im ausgehenden Mittelalter, teils aber sich auf die vorhandene Städtestatistik stützend im eigenen Jahrhundert. Dem Nationalökonom und Historiker Karl Bücher gebührt das unbestreitbare Verdienst, die vielfältigen Forschungsergebnisse zur allgemeinen Stadtentwicklung wie auch zu dem speziellen Großstadtphänomen erstmals zusammengefaßt zu haben. Seine aus den Quellen erarbeitete und methodisch außerordentlich anregende Untersuchung „Die Bevölkerung Frankfurt am Mains im 14. und 15 Jahrhundert" (1886) sowie seine nicht minder bedeutsamen Abhandlungen in seinem immer wieder aufgelegten Sammelwerk „Die Entstehung der Volkswirtschaft" (1893) weisen ihn ähnlich etwa wie M.Legoyt und E.Levasseur in Frankreich als ersten speziellen Urbanisierungsforscher aus Unter anderem setzte er sich hier mit den Großstadttypen im Laufe der letzten fünf Jahrtausende, mit der sozialen Schichtung in einer mittelalterlichen Stadt, den Stadtwanderungen sowie den Veränderungen des kommunalen Aufgabenbestandes auseinander. In selten gelehrter Meisterschaft verstand es Bücher, die Besonderheiten der modernen Megapolis durch Vergleiche mit der antiken und mittelalterlichen Stadt strukturell abstrahierend herauszuarbeiten, die in ihren damaligen Zeiten durchaus den Charakter einer „Großstadt" hatten. Die neuere „Verstadtlichung der Kultur", wie er die Urbanisierung erstmals definierte, wurde als eine unausweichliche Folge ökonomischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse interpretiert und die damals beliebte Verurteilung des „Zuges zur Stadt" logischerweise scharf abgelehnt 12 . Bücher, zunächst Lehrer und dann Journalist gewesen, besaß ein ungewöhnliches Gespür, zeitgenössische Probleme in eine größere historische Entwicklung zu stellen und von daher neu zu beleuchten, wobei auch die Statistik herangezogen wurde. Seine betont optimistische Sicht der Verstädterung richtete sich gegen eine im späten 19. Jahrhundert weit verbreitete und emotionell tief verwurzelte Großstadtfeindschaft. Schon die romantische Staatslehre und die Frühsozialisten verschiedener Richtungen
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Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Kreditverkehr im XIV. Jahrhundert, 2 Bde., Jena 1898. - ALOIS SCHULTE, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß Venedigs, 2 Bde., Leipzig 1900. - ALEXANDER DIETZ, Frankfurter Handelsgeschichte, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1910. - WILHELM FRANZ, Bilder aus der Geschichte des deutschen Städtewesens, Berlin 1910. - Eine Fülle von Abhandlungen zur Wirtschaftsgeschichte des deutschen Städtewesens in älterer Zeit wie zur Urbanisierung des 19. Jahrhunderts dürfte in den Zeitschriften enthalten sein, die von den historisch orientierten Nationalökonomen herausgegeben wurden. Zu nennen sind hier vor allem das Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche (1878 ff), die Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (1844 ff), die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik (1863 ff) und das Thünen-Archiv (1906-1922). KARL BÜCHER, Die Bevölkerung Frankfurt am Mains im 14. und 15. Jahrhundert, 2 Bde., Tübingen 1920. Büchers stadtgeschichtliche Studien hängen auf das engste mit seiner zugleich aufgestellten wirtschaftlichen Stufentheorie Hauswirtschaft-Stadtwirtschaft-Volkswirtschaft zusammen. Vergi. KARL BÜCHER, Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen, in: Grundriß der Sozialökonomik, 2. Aufl., Tübingen 1924. - Bücher machte hier unter anderem darauf aufmerksam, daß es sich bei den ersten Stadtbildungen um freiwillige Siedlungszusammenschlüsse gehandelt habe. Die moderne Großstadtbildung stehe dagegen unter dem Druck der ländlichen Übervölkerung und bilde daher ein notwendiges Ventil für die wirtschaftliche und soziale Weiterentwicklung einer Kultur.
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hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die aufkommenden großen Urbanen Agglomerationen ebenso wie die Zentralisierung des gewerblichfabrikatorischen Produktionsprozesses als Symbole des heraufziehenden „Mammonismus" bzw. der „Geldaristokratie" und als gefährliche Atomisierung der ständisch korporierten alten Gesellschaft begriffen sowie als Auswüchse eines entseelten „Maschinenzeitalters" und Brutstätten einer allgemeinen Pauperisierung und Proletarisierung diskreditiert 13 . Im Mittelpunkt der allgemeinen Gesellschafts- und Kulturkritik stand verständlicherweise das neue Massenwohnungselend in den großen Industriestädten. Die vormärzliche Armutliteratur in Deutschland hatte sich noch wie in den Jahrhunderten zuvor fast nur mit ländlichen und kleinstädtischen Verhältnissen beschäftigt. Nur einige wenige Ortsbeschreibungen aus den Federn städtischer Armenärzte deuteten in vagen Umrissen und Ausschnitten die nun heraufziehenden hygienischen Fragen der neuen industriellen Verstädterung an |4 . Die sozialen Fragen des eigentlichen Verstädterungsprozesses blieben dabei noch verborgen. Als aber in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in England, Frankreich und Belgien aufgrund von ersten Umfragen die industrielle „Wohnungsfrage" als Bestandteil der neuen „Arbeiterfrage" lebhaft erörtert wurde, griff man dies auch in einigen deutschen Bundesstaaten in Form von Übersetzungen und Kommentaren auf, zumal sich die Zensur gelockert hatte. Einiges Aufsehen erregte zunächst der Barmer Fabrikantensohn Friedrich Engels mit seinem betont polemisch einseitig angelegten Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (1845), worin er die Arbeiterquartiere in einigen englischen Industriestädten und insbesondere in Manchester, wo er eine Zeitlang in einer Filiale des väterlichen Unternehmens gearbeitet hatte, einer scharfen Kritik unterzog. Das Buch, das Karl Marx und den aufkommenden „Wissenschaftlichen Sozialismus" sowie die Arbeiterbewegung stark beeinflußte, forderte wegen seiner Einseitigkeit und düsteren Prophezeiungen nicht nur den Marburger Nationalökonomen und Achtund13
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Diese Problematik ist bis heute wenig untersucht. Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Industriestadt in diesem kritisch abwertenden Sinne finden sich bei J.G. FICHTE, Der geschloßne Handelsstaat, Tübingen 1800, Abdruck in: DERS., Sämtliche Werke, Bd. 3, 2. Aufl. 1925. - ADAM MÜLLER, Elemente der Staatskunst, 3 Theile, Berlin 1809 (3. Aufl. 1926). CHARLES FOURIER, Cités ouvriers, Paris 1849. - Vergi. KLAUS BERGMANN, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim/Glan 1970. CARL JANTKE/DIETRICH
HILGER, D i e
Eigentumslosen,
Freiburg-München
1965.
-
VOLKER
GLÄNTZER, Ländliches Wohnen vor der Industrialisierung, Münster 1980. - RUDOLF BRAUN, Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800, Winterthur 1960, S. 155-180. Vergi, die zeitgenössischen Schriften ADOLPH LETTE, Die Vertheilungsverhältnisse des Grundbesitzes in Preußen, in: Zeitschrift des Central-Vereins für d a s W o h l d e r a r b e i t e n d e n K l a s s e n , 2, 1 8 6 0 , S . 8 7 - 1 1 2 . - THEODOR FREIHERR VON DER GOLTZ,
Ländliche Arbeiterwohnungen oder Darstellung der Nothwendigkeit einer Verbesserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse, Königsberg 1865. - W. SENFT, Über gesundheitsmässige Einrichtung ländlicher Arbeiterwohnungen, in: Der Arbeiterfreund, 3, 1865, S. 173-186. - A. FRIEDLÄNDER, Über die Wohnungsverhältnisse der ärmeren Classen der ländlichen Bevölkerung in hygienischer Beziehung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege, 9, 1877, S. 126-156. Vergi, auch ENID GAULDIE, Cruel Habitations. A History of Working-Class H o u s i n g 1780-1918, L o n d o n 1974. - KARL PAUL BRANDELMEIER, M e d i z i n i s c h e
Ortsbeschreibungen des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachbereich (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, H. 38), Berlin 1942.
Historische Aspekte der Urbanisierung
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vierziger-Politiker Bruno Hildebrand, sondern auch den bekannten preussisch-protestantischen Sozialreformer Victor Aimé Huber zur Kritik heraus, nachdem auch diese die englischen Industriestädte bereist hatten 1S. Der im Anschluß an die erste deutsche Gewerbeaussteilung 1844 entstandene sozialliberale „Centrai-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen in Preußen" wurde nun zum ersten öffentlichen Forum in Deutschland, auf dem man sich ausführlich und speziell mit den „Wohnungsfragen der arbeitenden Klassen", aber auch allgemeinen Problemen der Verstädterung unter meist praktischen Aspekten auseinandersetzte l6 . In den von dem Verein herausgegebenen Mitteilungsblättern, aus denen dann seit den sechziger Jahren die bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 erscheinende Zeitschrift „Der Arbeiterfreund" entstand, finden sich reiche Anschauungsmaterialien über die ersten Auswirkungen der Verstädterung in Deutschland sowie erste programmatische Überlegungen zur Städteplanung und Wohnungssanierung 17. Vor allem wurde hier auch in ausführlichster Form das gesamte ausländische einschlägige Schrifttum besprochen und Nutzanwendungen für die deutsche Entwicklung zu ziehen versucht. Als einer der frühesten und profiliertesten Städtereformer im Rahmen dieser Vereinsbestrebungen erwies sich der schon erwähnte Victor Aimé Huber. Nach entsprechenden Studienreisen 1854 im benachbarten westlichen Ausland im Auftrag der preußischen Regierung machte er als erster Wissenschaftler in Deutschland in zusammenhängender Weise auf die Problematik der speziellen „Wohnungsfrage" aufmerksam, die von ihm als Ausfluß einer größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandlung bezeichnet wurde. Die bisherigen iso-
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FRIEDRICH ENGELS, Die Lage der arbeitenden Klasse, Leipzig 1845. (Vergi, dort das Kapitel „Die großen Städte", S. 89ff). - BRUNO HILDEBRAND, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), neu hrsg. von H. Waentig, Jena 1922. - VICTOR AIMÉ HUBER, Zur neuesten Literatur, in: Janus. Jahrbücher deutscher Gesinnung, Bildung und That, Bd. 2, Berlin 1845, H. 18, S. 387-389. * 16 JÜRGEN REULECKE, Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in Preußen, in: Mittheilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1848-1858 in fünf Bänden) hrsg. von W. KÖLLMANN/J. REULECKE, Bd. 1, Hagen 1980, S. 23-42. 17 Aus der Fülle der Themen, die auf den Versammlungen des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen in Preußen in den vierziger und fünfziger Jahren erörtert wurden, seien hier folgende Beispiele zitiert: GAEBLER, Idee und Bedeutung der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft, Berlin 1848. - W. EMMICH, Vergleichende Bemerkungen über die Bestrebungen zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der arbeitenden Klassen in verschiedenen Ländern, namentlich in England, in: Zeitschrift des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 1, 1859, H. 2, S. 145-168. - RUDOLPH GNEIST, Die öffentlichen Bade- und Waschanstalten, besonders in England, in : Mittheilungen des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen N.F., 3, 1851/52, H. 15, S. 1-23. - G. KNOBLAUCH, Warum werden in Berlin nicht mehr Gebäude mit kleinen Wohnungen gebaut?, in: Mittheilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen N.F., 1, 1853-1855, H. 3, S. 246-249. - W. EMMICH, Betrachtungen über Ursache und Abhülfe des Mangels an kleinen und mittleren Wohunugen in Berlin, nebst Ermittlung der Anlagekosten und Ertragsverhältnisse von Grundstücken verschiedenen Umfangs mit bürgerlicher Einrichtung, in: Ebd. S. 249-257. - DERS., Über die Kellerwohnungen in Berlin, die nachtheiligen Einflüsse derselben auf die Gesundheit der Bewohner und Vorschläge zu deren Abhülfe, in: Ebd., 2, 1856-1858, S. 218-249. - W. EMMICH, Bericht über Säuglings- und Kinderbewahr-Anstalten in baulicher Beziehung, in: Ebd., 1, 1851/52, H. 15, S. 34-51, - KOBES, Allgemeine Einrichtungen im Interesse der Arbeiter der Flachsgarn-Maschinenspinnerei und Weberei Erdmannsdorf im Jahre 1852.4. Wohnungsv e r h ä l t n i s s e , i n : E b d . , 1, 1 8 5 3 - 1 8 5 5 , H . 3, S. 2 1 9 - 2 2 0 .
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Herten und nur an praktischen Lösungsvorschlägen orientierten Betrachtungsweisen überwindend brachte er den Kernbereich der modernen Verstädterung in einen größeren Kontext und stellte generalisierende Reflexionen darüber an 18. Karl Knies, der bereits erwähnte Mitbegründer der älteren Historischen Schule der Nationalökonomie, legte vor dem gleichen Gremium in den fünfziger Jahren erstmals die Bedingungen der Mietpreisbildung bei der städtischen Bevölkerung dar, wobei die sozialen Unterschichten verständlicherweise wiederum im Mittelpunkt standen . Auch der der Freihandelsbewegung nahestehende „Kongreß deutscher Volkswirthe" sah sich veranlaßt, die sich verschärfende Wohnungsnot in den rasch anwachsenden Großstädten bereits 1868 zum Thema einer eigenen Tagung zu machen 19. Viele Mitglieder dieser vor allem in norddeutschen Küstenstädten auftretenden Vereinigung waren zugleich im „Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" tätig. Hatte sich dieser mehr den sozialen und sozialpolitischen Fragen der Urbanisierung zugewandt, so sah der „Kongress deutscher Volkswirthe" vor allem sein Ziel darin, die ökonomischen Aspekte dieser drängenden Tagesfrage zu analysieren. Hier trat vor allem der Publizist und Journalist Julius Faucher hervor, der die weit verbreiteten liberalen Vorstellungen von einem automatischen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt anhand beobachteter Fakten widerlegte. Nachdrücklich forderte er die Heranziehung der Kulturgeschichte als empirische Wissenschaft zur Ergänzung der seiner Meinung nach relativ realitätsfernen klassischen Nationalökonomie und machte auch auf die psychologischen Momente einer wachsenden Verstädterung für das menschliche Dasein aufmerksam 20 . Der aus Österreich stammende Städtereformer ging interessanterweise nicht mehr wie seine Vorgänger von einer eingeschränkten „Arbeiterwohnungsfrage" aus, sondern konstatierte in der Mitte der sechziger Jahre bereits eine „zusammenschrumpfende Räumlichkeit der Privatwohnungen aller Stände", womit die „Wohnungsfrage" ebenfalls als Problem des allgemeinen sozialen und 18
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Reisebriefe aus Belgien, Frankreich und England im Sommer 1854, Hamburg 1855. - Die 50 Thesen des Professor Huber, in: Mittheilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, N.F., 2, 1856, S. 289-293. - DERS., Die Wohnungsnoth der kleinen Leute in großen Städten, Leipzig 1857. - DERS., Die Wohnungsfrage in Frankreich und England, in: Zeitschrift des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 2, 1860, S. 3-37 und 3, 1861, S. 123-196. - DERS. (Hrsg.), Concordia. Beiträge zur Lösung der socialen Frage in zwanglosen Heften, H. 1-8, Leipzig 1861 (Vergi, bes. H. 2 und 3). - DERS., Über die geeignetsten Maßregeln zur Abhülfe der Wohnungsnoth, in: Der Arbeiterfreund, 3, 1865, S. 143-172. - DERS., Die Wohnungsnoth und die Privatspekulation, in: Der Arbeiterfreund, 5, 1867, S. 420-443. KARL KNIES, Über den Wohnungsnothstand der unteren Volksschichten und die Bedingungen des Mietpreises, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 15, 1859, S. 83-107. - Die Wohnungsfrage mit besonderer Rücksicht auf die arbeitenden Klassen in Verbindung mit der ständigen Deputation des Kongresses deutscher Volkswirthe, hrsg. vom Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, Berlin 1865. JULIUS FAUCHER, Die Bewegung für Wohnungsreform, in: Vierteljahresschrift für Volkwirtschaft und Kulturgeschichte, 3, 1865, H. 4, S. 127-199 und ebd., 4, 1866, H. 3, S. 86-151. DERS., Vergleichende Kulturbilder (Berlin-Wien-Paris-London), Leipzig 1877. - DERS., Die Vereinigung von Sparkasse und Hypothekenbank und der Anschluss eines Häuserbauvereins als social-ökonomische Aufgabe unserer Zeit, Berlin 1845. Vergi, auch ähnliche Überlegungen bei EUGEN RENTSCH, Art. „Wohnungsfrage", in: Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1866. VICTOR AIMÉ HUBER,
Historische Aspekte der Urbanisierung
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wirtschaftlichen Wandels im beginnenden Industriezeitalter erkannt wurde. Wie Friedrich Engels, Bruno Hildebrand und Victor Aimé Huber stützte aber auch er seine Thesen noch hauptsächlich auf englische, französische und belgische Großstädte, da in Deutschland abgesehen von Berlin diese Frage noch nicht zu dieser Reife gediehen war. Im Vordergrund aller dieser Bemühungen bestand die Beschaffung von ausreichendem Wohnraum für die vom Land in die Stadt strömenden Arbeitskräfte. Während auf dem Baumarkt der Wohnungsbau in den sechziger und siebziger Jahren allmählich auf eine erste kapitalistische Grundlage gestellt und das traditionelle selbständige Maurerhandwerk in den Hintergrund gedrängt bzw. von großen Baufirmen abhängig gemacht wurde, versuchten neue gemeinnützige Baugesellschaften und Baugenossenschaften den unsozialen Auswüchsen des neuen großstädtischen Wohnungselends entgegenzusteuern. Diese Problematik spiegelt sich in einer Fülle von Schriften wider, die bis heute noch nicht zusammenhängend ausgewertet wurden 21. Eine heftige und grundsätzliche Kritik an der wachsenden Großstadt wurde in der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Wilhelm Heinrich Riehl vorgetragen. Als Vorkämpfer einer empirischen Soziologie, Volkskunde und Kulturgeschichte sah er es ähnlich wie Justus Moser im späten 18. Jahrhundert als große Aufgabe der Zeit an, durch vergleichende Beobachtung zu „Naturgesetzen des Volkslebens" vorzudringen: Stamm, Sprache, Sitte und Siedlung (die vier großen „S") überdauerten seiner Meinung nach den Wandel aller politischen Staatsformen und sollten daher den Gegenstand wissenschaftlicher Analysen bilden. Wie die moderne Strukturgeschichte ging Riehl von langandauernden, allmählich sich vollziehenden historischen Strukturveränderungen der Völker aus, die ihre Eigenart ausmachten. Nur durch unmittelbare Anschauung, durch teilnehmende Beobachtung („Erwandern") und naturgeschichtliche Beschreibungen von „Land und Leuten" konnten diese hinreichend erforscht werden, nicht allein aus Akten und Urkunden oder bloßen gedanklichen Deduktionen. Riehl war keineswegs der Auffassung, eine solche „geistige Statistik der Sitten" müsse sich auf bloße Deskription beschränken. Sein ausgesprochenes Ziel war es, von diesem empirisch erarbeiteten Material zu einem gegliederten theoretischen System vorzustoßen, mit dessen Hilfe das Zusammenspiel der Stände, Schichten und Gruppen einer
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Vergi. LUDOLF PARISIUS, Bericht über die in Deutschland bestehenden Baugesellschaften und Baugenossenschaften, in: Der Arbeiterfreund. 3,1865, S. 292-314. - W. EMMICH, Betrachtungen über den Stand des Unternehmens der gemeinnützigen Baugesellschaft und über neue Vorschläge zur Abhülfe der Wohnungsnoth in Berlin, in: Zeitschrift des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 2, 1860, S . 195-201. - KARL BRÄMER, Über HäuserbauGenossenschaften, in: Der Arbeiterfreund. 2, 1864, S. 182-257. — EDOUARD DUCPETIAUX, Über die Verbesserung der Wohnungen der arbeitenden Klassen in England nach den von Herrn Roberts mitgetheilten Nachrichten, in: Zeitschrift für das Wohl der arbeitenden Klassen, 1, 1859, S . 150-168. - H U G O SENFTLEBEN, Die Bedeutung und der Fortschritt der Wohnungsfrage, in: Der Arbeiterfreund, 6, 1868, S. 365-400, 7, 1868, S. 822, S. 213 und S. 376ff (Bericht über die Wohnungsfrage in Deutschland). - KARL BRÄMER, Die nützlichen Baugesellschaften in England, in: Der Arbeiterfreund, 3, 1865, S. 233-240. - DERS., Braunschweigische Aktiengesellschaft für den Bau von Arbeiterwohnungen nebst deren Statut, in: Der Arbeiterfreund, 8, 1870, S. 122-145. - L. PARISIUS, Die auf dem Princip der Selbsthilfe beruhenden Baugenossenschaften, in: Der Arbeiterfreund, 3, 1865, S. 262-291. - A R W E D EMMINGHAUS, Die Wohnungsfrage, in: Der Arbeiterfreund, 6,1864, S. 213-253.
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Gesellschaft und damit unter anderem auch die Beziehungen zwischen Stadt und Land erfaßt werden könnten. In seiner zwischen 1854 und 1856 veröffentlichten „Naturgeschichte des Deutschen Volkes als Grundlage einer socialen Politik" war sein Blick als konservativer Gesellschaftswissenschaftler vor allem auf das in seinen Augen noch unverdorbene Leben auf dem Lande gerichtet. Die großen Städte erschienen ihm als Anhänger der alten Gesellschaftsformen letztlich als ein katastrophales Verhängnis. Den Vorgang der zunehmenden Verstädterung sah er nicht überall pejorativ, da er z.B. die wohltätigen Folgen für Handel und Gewerbe infolge steigender Rationalisierung und Arbeitsteilung bemerkte. Aber diese günstigen Auswirkungen für die wirtschaftliche Produktivität galten ihm weniger als die soziokulturellen Verluste auf der anderen Seite. So kritisierte er an der entstehenden Großstadt die mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Dekorporierungsprozesse und das neue „aufgeregte, ungesunde Seelenleben". Mit scharfen Ausdrücken geißelte er die Formlosigkeit, Uniformität und Maßlosigkeit der „Weltstädte", die er an den Beispielen von London und Paris selbst studiert hatte. Die moderne Großstadtkritik vom Schlage Jane Jacobs und Alexander Mitscherlichs, die sich vor allem aus sozialpsychologischen Motiven speist, aber auch die Äußerungen der neuen Grünen Bewegung unserer Tage weisen erstaunliche Parallelen zu Riehls Denkkategorien auf 2 2 . Die großen städtischen Zusammenballungen erschienen ihm als prinzipielle Widersacher des alten organischen Lebens. Was Riehl am meisten skeptisch stimmte, waren die Massen von wandernden, aus ihrer Heimat entwurzelten, alleinstehenden jungen Menschen, die er mit einem treffenden Ausdruck die „schwebende Bevölkerung" nannte. Der bayerische Gelehrte, der heute für eine Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen als Stammvater gelten kann, sah das Ziel einer „Socialpolitik" (diesen Begriff prägte er erstmals!) darin, dem entstehenden städtischen Proletariat („Vierten Stand") rechtzeitig einen geachteten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, da alle Vereinzelung auf die Dauer das soziale Ganze zertrümmern würde. Ferdinand Tönnies hat diese seit Riehl vielbesprochene „Unnatur" der modernen Großstadt auf eine höher reflektierende Ebene gebracht. In seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft" setzte er sich mit den Beziehungsmustern, Lebenskreisen und Interaktionen in der großen Stadt im Gegensatz zu den bisher dominierenden Daseinssphären Familie, Dorf, Klein- und Mittelstadt auseinander. Der Kieler Gesellschaftswissenschaftler diagnostizierte hier zwei grundsätzlich antinomische Formen menschlicher Gesellung: In den kleinen „Gemeinschaften" lebten die Menschen trotz vielfältiger äußerer räumlicher Trennung in einer inneren emotionellen Verbundenheit, in der Metropolis dagegen trotz z.T. enger körperlicher Nähe in einer prinzipiellen Gefühlsdistanz. Auf der einen Seite sah Tönnies ein Zusammenleben auf der Grundlage enger personaler und um ihrer selbst willen bejahter Beziehungen, auf der anderen nur zweckhafte Verbindungen und dadurch bedingte zwischenmenschliche Entfremdungen. Formen der Gemeinschaft waren ihm Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, vor allem aber die 22
Death and Life of American Cities, New York 1 9 6 1 . Deutsch: Tod und Leben amerikanischer Städte, Gütersloh 1 9 6 3 . - ALEXANDER MITSCHERLICH, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M. 1965.
JANE JACOBS,
Historische Aspekte der Urbanisierung
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durch Blutsbande geprägte Familie. Hier herrschten wie in allen gesellschaftlichen Kleingebilden seiner Meinung nach Eintracht, Sitte und Religion. In den großen amorphen Sozialgebilden dominierten dagegen anonyme Unternehmen wie Aktiengesellschaften, Großstädte oder die Wirtschaftsgesellschaft schlechthin. In den makrosozialen Gesellungen wurden nur interessenspezifische Bindungen mittels loser Konventionen, Politik und öffentlicher Meinung gepflegt. Das Gemeinschaftsleben spielte sich auf der Basis großer mitmenschlicher Intensität ab; das Leben in den größeren Gesellschaftsformationen und vor allem in den gesichtslosen Großstädten war durch unübersichtliche Komplexität und überlokale Verflechtungen gekennzeichnet. Den kleinen organisch gewachsenen Einheiten des menschlichen Daseins traten nun erstmals in der Geschichte mechanische Artefakte der Gesellschaft gegenüber, die ihrem Wesen nach grenzenlos waren und zu beständiger Extension neigten 23. Daneben beschäftigt sich Tönnies, was bisher mangels einer Edition seines Gesamtwerks vielfach übersehen wurde, mit stadtsoziographischen Untersuchungen, insbesondere mit Selbstmord, Kriminalität und Lage der städtischen Lohnarbeiterschaft, wobei es ihm auf die Aufdeckung von Korrelationen zwischen Konjunkturverläufen, materieller Verarmung, Geschlecht und Familienverfassung auf der einen , sowie Wohnsitz in Stadt und Land auf der anderen Seite ankam. Die in der damaligen Öffentlichkeit teilweise leidenschaftlich erörterten Suicid- und Verbrechensraten in den Großstädten hatten ihm Anlaß zu diesen Forschungen gegeben. Die Daten stammten von den Statistischen Ämtern, die die Städte wie schon erwähnt eingerichtet hatten. Tönnies erblickte auch hier wieder einen Beweis für seine Grundthese, daß der Großstadtmensch ein mehr individueller, auf seine Interessen hin bedachter Typ sei, bei dem die jahrhundertealten Werte des „Gemütslebens" im Schwinden begriffen seien, weil der schärfere Konkurrenzdruck, die Abwehr bzw. Anpassung alle seine Aufmerksamkeit erfordere. Das Verbrechen wurde von ihm ausdrücklich in diesem Zusammenhang erstmals als gesellschaftliches Phänomen klassifiziert und die Verbrechensrate der Großstädte mit den Faktoren soziale und räumliche Mobilität, Heimat- und Eigentumslosigkeit in Relation gesetzt. Merkwürdigerweise hat Tönnies, der in seinen soziologischen Theorien deutliche Anklänge an Adam Müller, Albert Schäffle, Carl Rodbertus, aber auch an Rudolph Gneist, Adolph Wagner und besonders die Sozialwissenschaftler Heinrich Ahrens, Foustel de Coulange und Henry Morgan erkennen läßt, keinerlei praktische Anwendungen aus seiner weitreichenden und bis heute diskutierten Stadttheorie gezogen oder 23
F E R D I N A N D TÖNNIES, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig 1887. Wirklich bekannt wurde das Werk erst in der zweiten Auflage mit dem Titel: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der Reinen Soziologie, Berlin 1912 (8. Aufl. Leipzig 1935, Nachdruck Darmstadt 1963). Vergi, dazu ALFRED BELLEBAUM, Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen, Meisenheim/Glan 1966. - R E N É KÖNIG, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 7, 1955, S. 348ff. - THEODOR GEIGER, Die Gruppe und die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft, in : Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 58, 1927, S. 338f. - RUDOLF HEBERLE, Art. „Soziographie", in: Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931 (Nachdruck 1959). - Louis WIRTH, The Sociology of Ferdinand Tönnies. In: Amtrican Journal of Sociology, vol. 32 (1926-27), pp. 412ff.
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Hans J. Teuteberg
aber Vorschläge für eine Städte- oder Wohnungsreform gemacht, was in seiner Zeit nahe gelegen hätte. Seine wichtige Differenzierung zwischen dem „dörflichen Wesensverband" und dem „städtischen Zweckverband" hat offensichtlich aber in der entstehenden Gartenstadtbewegung eine größere Rolle gespielt. Der Tiefgang seiner stadtsoziologischen Thesen läßt sich auch daran ermessen, daß sich Oswald Spengler in seinem philosophischen Bestseller „Untergang des Abendlandes", der Amerikaner Lewis Mumford in seinen zahlreichen Büchern über die Stadt sowie die heutige Gemeinde- und Familiensoziologie intensiv mit ihm beschäftigt haben 24 . Von Tönnies ausgehend wurden Familie und Gemeinde als gesellschaftliche Archetypen und als besondere lokale Gruppen von Menschen erkannt, die ihr ökonomisches und soziokulturelles Handeln nach gut abgrenzbaren Werten ausrichten und so zur sozialen Identitätsfindung des Individuums beitragen. Wichtig war dabei die Erkenntnis, daß sich diese sozialen Urphänomene, die gleichsam als Mikrokosmen einer größeren Gesellschaft angesehen werden können, in der Regel gerade nicht mit den Verwaltungsbezirken einer Stadt decken, so daß zwischen informalen und formalen Gruppenbeziehungen in der städtischen Gemeinde unterschieden werden muß. Für die empirische Nachbarschaftssoziologie wie auch die Umweltpsychologie als neueste Zweige der Urbanistik sind solche Einsichten von Nutzen geblieben 25 . Wissenschaftsgeschichtlich noch folgenreicher für die Entwicklung der modernen Großstadtforschung wurde der aus Berlin stammende Philosoph und Gesellschaftswissenschaftler Georg Simmel. Auf Einladung der an Städteund Wohnungsreform besonders interessierten Gehe-Stiftung hielt er anläßlich der Städteausstellung von 1903 in Dresden einen Vortrag mit dem Titel „Die Großstädte und das Geistesleben", in dem er die Stadt vor allem als einen Ort der modernen Geldwirtschaft und der sich in ihrem Gefolge ausbreitenden Prozesse der Arbeitsteilung und Rationalisierung begriff 26 . Ähnlich wie Tönnies beschäftigte er sich mit der psychischen Mentalität des modernen Groß24
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LEWIS MUMFORD, City Development, New York 1 9 4 5 . Deutsch: Megapolis - Gesicht und Seele der Großstadt, Wiesbaden 1951. - DERS., The Culture of Cities, New York 1938, (2. Aufl., London 1 9 4 6 ) . - The City in History, New York 1 9 6 1 . Deutsch: Die Stadt, Köln 1 9 6 3 . - RENÉ KÖNIG, Art. „Gemeinde", in: Fischer-Lexikon Soziologie, Frankfurt/M. 1 9 5 8 , S. 7 3 - 8 3 . HELMUT SCHELSKY, Wandlungen in der deutschen Familie, Stuttgart, 1 9 6 4 . - RENÉ KÖNIG, Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde, Hamburg 1958. - DERS., Soziologie der Gemeinde, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1, 1963. Vergi. HERMANN KÖRTE, Soziologie der Stadt, 2 . Aufl., München 1 9 7 4 . - ELISABETH PFEIL, Großstadtforschung. 2 . neubearb. Aufl., Hannover 1 9 7 2 . - HEIDE BERNDT, Das Gesellschaftsbild der Stadtplaner, Frankfurt a.M. 1968. HELMUT KLAGES, Der Nachbarschaftsgedanke und die nachbarschaftliche Wirklichkeit in der Großstadt, Köln-Opladen 1 9 5 8 . - LENELIS KRUSE, Umweltpsychologie, in: Hermann Glaser (Hrsg.), Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung, München 1 9 7 4 , S. 4 5 - 5 3 . GEORG SIMMEL, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, (Jahrbuch der Gehe-Stiftung, 9) Dresden 1903, S. 185ff. Wiederabgedruckt in : GEORG SIMMEL, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Kunst, Religion und Gesellschaft, hrsg. von Michael Landmann und Margret Susman, Stuttgart 1957. - Vergi. RUDOLF TARTLER, G. Simmeis Beitrag zur Integrations- und Konflikttheorie der Gesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 16, 1965, S. Iff. - K U R T H . WOLFF, The Sociology of G. Simmel, Glencoe, 111., 1950. - PETER E. SCHNABEL, Die soziologische Grundkonzeption Georg Simmeis, Stuttgart 1974. - GEORG SIMMEL, Philosophie des Geldes, München-Leipzig 1900(6. Aufl. 1958).
Historische Aspekte der Urbanisierung
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städters, ohne aber der damals vorherrschenden Großstadtfeindschaft und Agrartümelei zu verfallen. Nüchtern versuchte er, die Auswirkungen dieser neuen Lebenssphäre auf das menschliche Dasein insgesamt abzuwägen. Der Großstädter , so behauptete der deutsch-jüdische Gelehrte, lege gleichsam als Schutzfunktion gegenüber seinen zahlreichen Mitmenschen eine neue, von einer gewissen Blasiertheit nicht freie Reserve an den Tag, die Landmenschen nicht kennen. Simmel erblickte in dieser versachlichten und entemotionalisierten Haltung des Großstädters einen gewissen Selbstschutz vor zu vielen Kontakten und einer psychischen Atomisierung. Die neue soziale Distanzierung ermöglichte den metropolitanen Bewohnern die Bewahrung ihrer individuellen Unabhängigkeit und schuf damit neue Chancen zur geistigen Entwicklung, Emanzipation und Arbeitsteilung. Simmel, der trotz seiner sonst sehr formal gehaltenen Gesellschaftslehre die historische Methode und empirische Verfahren zur Überprüfung genereller soziologischer Modelle und Hypothesen prinzipiell befürwortete und vor allem an den Vergesellschaftungsformen interessiert war, die in relativer Konstanz einen sozialen Wandel auf „lange Dauer" bewirkten, sah in dem Urbanisierungsprozeß insgesamt einen positiv zu bewertenden Vorgang der Vergemeinschaftung und keinen dekadenten Kulturverfall wie Wilhelm Heinrich Riehl 27 . Die Großstadt eröffnete bisher nicht gekannte Möglichkeiten der Individuation für den Menschen, bescherte freilich vice versa auch neue soziale Zwänge und Abhängigkeiten. In den USA ist die Entstehung der „Urban Sociology", insbesondere der berühmten Chicagoer Schule, am Anfang durch Simmel und seine optimistische Sicht stark beeinflußt worden. Die Wertschätzung des Berliner Urbanisierungsforschers geht aus den ersten amerikanischen Veröffentlichungen und Übersetzungen Simmeis hervor. So setzte Robert Ezra Park schon in seinem 1916 erschienenen Aufsatz „The City-Suggestion for the Investigation of Human Behavior" in betonter Anlehnung an Simmeis klassische Abhandlung von 1903 und die Übersetzungen durch seinen Kollegen Albion W. 27
D i e Bewertung der Großstadt korrespondiert mit Simmeis Auffassung vom Wesen der Geldwirtschaft und der Modernisierung: Die Akzeptierung des Geldes als Zahlungmittel hat die relativ geschlossene jahrtausendealte Naturalwirtschaft aufgelöst, Kommunikationen und Handel zwischen distanziertesten Partnern ermöglicht und vor allem die halbsklavische Abhängigkeit des Individuums bei der naturalwirtschaftlichen Entlohnung vermindert. Die neue Geldwirtschft des kapitalistischen Systems erfordert nur noch partielle Unterwerfungen der Persönlichkeit, hat freilich dafür andere sublimere Formen menschlicher Unfreiheit erzeugt, weil sie die Menschen nun zwingt, sich im Konkurrenzkampf zu profilieren. Die mit der modernen Geldwirtschaft verbundene Versachlichung sozialer Herrschaftsbeziehungen und zwischenmenschliche Distanzierung in den unmittelbaren Lebensbereichen hat Simmel ganz offenbar zu seiner These über die geistig-seelische Physiognomik des modernen Großstadtmenschen geführt: Der Mensch befreit sich durch die Industrialisierung und Urbanisierung von den vorgeldwirtschaftlichen Kulturen und kann prinzipiell nun alles frei kaufen und verkaufen. Zugleich ist er aber unfähig, die sich neu ergebenden Freiheitsräume zum Zweck der Selbstverwirklichung voll zu nutzen und begibt sich in neue, selbst geschaffene Abhängigkeiten. Änlich wie Max Weber, der durch Simmeis „Philosophie des Geldes" zu seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" mitangeregt wurde, will Simmel den Historischen Materialismus nicht durch eine ebenso schwer zu rechtfertigende idealistische Gesamttheorie widerlegen. Plumpe Apologien bestehender Verhältnisse liegen ihm fern. Die sozialen Folgen der ökonomischen Strukturveränderungen sind ihm wie Marx unerhört wichtig für die gesellschaftliche Bewußtseinsbildung; alle zwangsläufigen Einseitigkeiten quasi-gesetzmäßiger Art werden aber von ihm strikt abgelehnt.
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Small einen ersten Schwerpunkt für die Urbanisierungsforschung in den Vereinigten Staaten, deren eigene Ergebnisse neun Jahre später unter Mitarbeit von W. E. Burgess, R. D. MacKenzie und L. Wirth in dem berühmten Sammelwerk „The City" 1925 vorgelegt wurden 28 . Wenngleich der Name Simmel bei den nachfolgenden Urbanisierungsforschern kaum noch erwähnt wurde, so lassen doch viele Problemstellungen und die theoretischen Bezugsrahmen der überwiegend empirisch angelegten soziologischen Untersuchungen den Simmelschen Einfluß noch gut erkennen 29 . Nach dem 2. Weltkrieg besann man sich im Rahmen einer Simmel-Renaissance dieses wichtigen wissenschaftlichen Erbes; es wurden nicht nur die wichtigsten Schriften dieses deutschen Gelehrten neu und gesammelt herausgegeben, sondern auch ihm ein „Buch des Dankes" gewidmet 30 . Einen gänzlich anderen Ansatz zur theoretischen Erfassung der Stadt und Verstädterung lieferte der Nationalökonom Werner Sombart. Sein Blick ruhte primär auf den ökonomischen Funktionen der Stadt. Im Rahmen seiner bekannten Stufentheorie über die Entwicklung des „modernen Kapitalismus" stellte er folgende Fragen 31 : - Woher kamen die Menschen für die Städte? - Was veranlaßte sie zum Zusammenschluß einer städtischen Siedlung? - Wie wurde es möglich, daß sich diese Urbanen Zusammenballungen der „natürlichen" agrarischen Lebensweise entfremden konnten? In seiner um 1900 konzipierten Theorie der Städtebildung hat Sombart u.a. die wissenschaftliche Vermutung geäußert, die Größe einer städtischen Siedlung habe zu Beginn von der Höhe der landwirtschaftlichen Überschüsse des Umlandes, bzw. genauer gesagt, von dessen Bodenfruchtbarkeit, dem Stand der landwirtschaftlichen Technik und der Lage abgehangen. Der Einfluss der klassisch-liberalen Wertlehre sowie der darauf basierenden Standorttheorien läßt sich hier erkennen. Als einer der begrifflich anregendsten Gelehrten seiner Zeit unterschied Sombart ferner zwischen den „primären Städtegründern" (Landes- und Grundherren bzw. Staat) und „sekundären Städtefüllern", die von den Einkünften der ersten Gruppe lebten. Daran schlössen sich dann wiederum „tertiäre Städtefüller", die sich wiederum auf die Einnahmen der zweiten Gruppe stützten. Das in der Folgezeit viel diskutierte „Gesetz vom doppelten Stellenwert" geht auf diese Sombartsche Städtetheorie zurück 32 . 28
ROBERT EZRA PARK ET. AL., The City, Chicago 1 9 2 5 . - Vergi. ERNEST BURGESS (ed.), The Urban Community, Chicago 1926. 29 Vergi, unter anderem N. ANDERSON, The Hobo (1921). - E. THRASHER, The Gang (1927). LOUIS WIRTH, The Ghetto (1928). - H . ZORBOUGH, Gold Coast and the Slum (1929). - Ν . S. HAYNER, Hotel Life (1936). - E. V. STONEQUIST, Marginal Man (1938). - ROBERT S . LIND-HELEN M. LIND, Middle-Town in Transition (1937). - WILLIAM F . O G B U R N , .Social Characteristics of Cities (1937). - E D W A R D H . SHILS, The Metropolis and Mental Life (1937). - H A N S H . G E R T H / C . WRIGHT MILLS, The Metropolis and Mental Life, Ann Arbor. Mich., 1949. 30 K U R T GASSEN/MICHAEL LANDMANN (Hrsg.), Das Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1 9 5 8 . - LEWIS Η . COSER, Georg Simmel, Englewood Cliffs, N . J . , 1 9 6 5 . - Vergi. ERIC LAMPARD, American Historians and the Study of Urbanisation, in: American Historical Review, 67, 1961. - PHILOP H A U S E R / L E O F . SCHNORE (eds.), The Study of Urban History, New York 1 9 6 5 . 31 WERNER SOMBART, Der Begriff der Stadt und das Wesen der Städtebildung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik N.F., 25,1907, S. 1-9. Später aufgenommen in: DERS., Der moderne Kapitalismus, Bd. 1, 1. Halbbd., Berlin 1928, S. 124ff (3. Aufl., Bd. 3, 1. Halbbd., Berlin 1955, S. 399ff. Separater Neudruck Berlin 1979). 32 Sombart hat das ubiquitäre Schema des „Städtefüllers" an folgendem Beispiel demonstriert: Wenn in einem Restaurant ein Kellner ein Glas Bier trinkt, so lebt davon der Wirt. Von diesem
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Sombart hat andere Einflüsse bei einer Städtegründung keineswegs übersehen, war aber der Meinung, daß eine theoretische Erfassung des vielschichtigen Phänomens der Stadt nur durch solche raumwirtschaftliche Abstraktionen möglich sei. Er kritisierte, die Historikerzunft hätte sich fast ausschließlich mit der rechtlichen Entstehung der Stadtverfassung beschäftigt und dabei die Erscheinungen des realen wirtschaftlichen und sozialen Lebens vernachlässigt oder übersehen. Nicht den städtischen Verfassungsnormen, sondern der städtischen Verfassungswirklichkeit müsse man verstärkt nachspüren. Der Gang der bisherigen stadtgeschichtlichen Forschung sei zwar verständlich, weil die Masse der überlieferten Quellen zur Stadtgeschichte Rechtsvorgänge widerspiegele. Zur Geschichte einer Stadt und der Verstädterung gehörten aber auch die Auswertung von Chroniken, Bevölkerungs- und Vermögensstatistiken, die Geschichte von Kirchen und Klöstern sowie vor allem die Anwendung kartographischer Methoden. Erstmals wurde damit auch die Forderung nach einer sozial- und wirtschaftsräumlichen Stadtgeschichte als Ergänzung der bisherigen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Sicht erhoben. Die von den Rechts- und Verfassungshistorikern aufgestellte Marktrechtstheorie verwarf Sombart: Seiner Meinung nach sind die Städte nicht entstanden, weil Märkte abgehalten wurden, sondern es wurden erst dort regelmäßig Waren getauscht, wo bereits Städte bestanden bzw. im Entstehen begriffen waren. Das Marktrecht ist seiner Ansicht nach für die weitere Ausbildung der Stadtverfassung zwar wichtig geworden, doch war es für die Stadtgründung im ökonomischen Sinne nicht entscheidend. Sombart bezweifelte im Anschluß daran, ob es im europäischen Mittelalter überhaupt Gebilde gegeben habe, die ökonomisch den Begriff „Stadt" verdienen. Nach Sombarts Ansicht sind die Städte in einem über die Jahrhunderte sich erstreckenden Umbildungsprozeß allmählich aus Dörfern und Siedlungen emporgewachsen und nicht durch einen plötzlichen Gründungsakt ins Leben getreten. Unter Verweis auf die Untersuchungen von Maurer, Below, Lamprecht und Bücher (dessen Buch „Die Bevölkerung Frankfurt am Mains im 14. und 15. Jahrhundert" als bestes Werk der deutschen Stadtgeschichte bezeichnet wurde!) stellte er die These auf, auch die größeren Städte des Hoch- und Spätmittelalters seien in Wahrheit nur kleine „Ackerbürgerstädte" gewesen, weil die Mehrheit ihrer Bewohner allein oder doch überwiegend noch von der Landwirtschaft gelebt habe 3 3 . In ausführlichen Darlegungen hat dann Som-
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bezieht der Bierbrauer sein Einkommen. Der Kellner bezahlt mit dem Trinkgeld, das er von einem Gast bekommen hat, der Arzt ist, der seinerseits es von einem Patienten kassiert hat. Dieser hat sein Geld wiederum als Schauspieler aus einem Theaterfonds bekommen, in dem z.B. ein Professor sein Geld für Eintrittskarten bezahlt hat. Jener bezieht wiederum sein Gehalt vom Staat. Alle diese erwähnten Berufsgruppen sind nach Sombart „Städtefüller", der Staat (bzw. seine Vorläufer) allein der Städtegründer. Dieses Schema wird dann an historischen Beispielen erläutert und daraus gefolgert, daß die Dialektik des Arbeitsvermögens an einem bestimmten Standort das Wesen einer industriellen Gesellschaft wesentlich bestimmt. Es wird ein Zusammenhang von Grund- und Folgeleistungen derart gestiftet, daß im wirtschaftlichen Kreislauf von den primären Arbeitseinkommen über alle privaten und öffentlichen Haushalte von jeder primären Stelle eine zweite in den Folgeleistungen mitgetragen wird. Sombart hielt auch die von den Historikern vertretene Ansicht f ü r grotesk, im Rahmen der deutschen Ostsiedlung sei „planmäßig" ein Netz von Gründungs- und Kolonisationsstädten entstanden. Seiner Meinung nach habe es sich vielmehr zunächst um Militärkolonien gehandelt wie sie auch die Römer zuerst anlegten. Die Bewohner lebten hauptsächlich vom Ackerbau und nicht vom Handel.
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bart anhand der historischen Quellen einzelne Gruppen der „Städtebildner" und „Städtefüller" beschrieben. Da die ersten Städte seiner Meinung nach reine „Konsumentenstädte" waren, kam es weniger auf Verkehr, Handel und Gewerbe als vielmehr auf Bevölkerungsdichte und das agrarische Mehrprodukt des Umlandes an, das die Stadt verzehrte 34 . Für das Städtewachstum sei daher im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit die in den Städten konsumierten Grundrenten und nicht das dort akkumulierte Handelskapital entscheidend gewesen. Sombarts Thesen dienten in erster Linie dazu, die Entstehungen der modernen industriellen Wirtschaft und damit auch das Wesen der Großstadt des 19. Jahrhunderts durch Vergleiche mit den davorliegenden Jahrhunderten besser herauszuarbeiten. Die Fachhistoriker haben sich mit dem hier gezeichneten Bild des frühen Städtewesens vielfach nicht einverstanden erklärt und vor allem Sombarts Theorie über die Rolle der Grundrenten für die Städtegründung durch Vorlage von Quellen zu erschüttern versucht 35 . Der Streit zwischen dem Nationalökonomen Werner Sombart und den Vertretern der Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende ist inzwischen von der Forschung überholt worden und interessiert heute nur noch vom wissenschaftsgeschichtlichen Standpunkt. Die Historiker hatten sicherlich die größere Quellenkenntnis und in vielen Einzelheiten recht, so daß Sombart seine Stadttheorie erheblich revidierte. Dabei muß allerdings festgehalten werden, daß die Fachhistoriker im Gegensatz zu Sombart auch in der Folgezeit keinen Beitrag zur Begriffsbestimmung der Stadt geleistet haben. Solche generalisierenden Betrachtungen blieben ihnen weiterhin fern. Eine Weiterentwicklung der Stadttheorie geschah durch Max Weber. Wie Sombart interessierte er sich in erster Linie für die wirtschaftlichen Funktionen der Städte, insbesondere für die Entstehung der ersten Marktsiedlungen, die Typen von Konsumenten- und Produzentenstädten und ihre Beziehungen zu der umgebenden Landwirtschaft, die Herausbildung der einzelnen Stufen der Stadtwirtschaft, dann aber auch für die Genesis des politisch-administrativen Stadtbegriffs 36 . Seine Darlegungen beschäftigten sich ferner mit der Verschmelzung der militärischen Festungen und Garnisonen mit den Märkten 34
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Sombart ist hier offensichtlich Büchers bekannter Stufentheorie gefolgt, die eine Abfolge von Stadt-, Territorial- und Volkswirtschaft sah. Heute wird bekanntlich nicht mehr angenommen, die „Stadtwirtschaft" habe eine besondere Periode dargestellt. Neben der sich aus dem Umland mit Lebensmitteln versorgenden und dieses mit Gewerbeprodukten wiederum beliefernden lokalen Marktstadt gab es frühzeitig überwiegende Fernhandels-, Gewerbe-, Hafen- und Bergstädte. Später kamen dann die speziellen Residenz-, Verwaltungs-, Universitäts-, Garnisons- bzw. Festungsstädte hinzu. Neben der nur auf das engere Umland angewiesenen Stadtwirtschaft gab es frühzeitig auch eine Territorialwirtschaft und einen, wenngleich umfangmäßig bescheidenen, Fernhandel. Vergi. z . B . JAKOB STRIEDER, Zur Genesis des Kapitalismus. Forschungen zur Entstehung großer bürgerlicher Kapitalvermögen am Ausgang des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Leipzig 1903. M A X WEBER, Die Stadt, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik N.F., 47, 1921, S. 62Iff. - Vergi. DERS., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, 2. Halbbd. Köln-Berlin 1954, S. 923-1033 (§ 7: Die nicht-legitime Herrschaft (Typologie der Städte). Webers Abhandlungen über die Stadt sind auch gesondert ins Englische übersetzt worden: M A X WEBER, The City. Translated and edited by Don Martinsdale and Gertrud Neuwirth, New York 1958.
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sowie dem sozialen Verbandscharakter der ersten Stadtgemeinden und der städtischen Qualifikationen des neuen „Bürgers". Schließlich beschrieb er antike und mittelalterliche Stadtverfassungen, denen er mit großer Meisterschaft verschiedene Stadttypen des alten Orients, Chinas und Indiens gegenüberstellte. Auf hoher Abstraktionsstufe stehend interessierte sich Max Weber für die Entstehung des „okzidentalen Kapitalismus", in dem die Städte als besondere Formen rationalisierter Herrschaft eine große Rolle spielten. Auf die engeren Probleme der Urbanisierung im 19. Jahrhundert ist er bei seinen über weite Zeiten und Räume angelegten Betrachtungen aber nicht eingegangen. Neben diesen Versuchen, zu einem theoretischen Rahmenkonzept für die Stadt und die Stadtentwicklung zu kommen, gab es eine Fülle von Literatur, die sich weiterhin mit den Ursachen und Folgen der Wohnungsnot im 19. Jahrhundert beschäftigte. Im Vordergrund standen seit den siebziger Jahren konkrete Bestandsaufnahmen und Vorschläge zur gesetzlichen Abhilfe der festgestellten Übelstände. Einen Markstein in dieser engeren Urbanisierungsliteratur bildet ohne Zweifel die von dem Berliner Statistiker Ernst Engel 1873 veröffentlichte Schrift „Die moderne Wohnungsnoth", die Anlaß zur Formulierung des Engel-Schwabeschen Gesetzes über die Relation der Wohnungskosten zu den allgemeinen Lebenshaltungskosten wurde. Nicht weniger beeindruckte die Zeitgenossen die von Emil Sax erstmals vorgelegten Unterscheidungskriterien der ländlichen und städtischen Wohnungsnot und der daraus entwickelte Katalog schichttypischen Wohnens 37 . Der Verein für Socialpolitik veranstaltete ebenfalls in diesen Jahren eine erste große Enquête in Deutschland und veröffentlichte sie 1886 unter dem Titel „Die Wohnungsnot der ärmeren Klassen in deutschen Großstädten" 38 . Erstmals wurde anhand von Gutachten und Statistiken genauer Aufschluß über das Verhältnis der Bevölkerung zur bebauten Fläche, zu den Grundstücken, Gebäuden und Wohnungen sowie über die schichtspezifische Verteilung der Haushalte und Mietausgaben gegeben. Diese erste große empirische Bestandsaufnahme über die Folgen der Urbanisierung in Deutschland verstärkte die Ansicht, daß den Kommunen hier ganz neue Aufgaben gestellt seien und führte zur Gründung eines „Vereins Reichswohnungsgesetz" 1898 (später Verein für Wohnungsreform). Nach Ansicht seiner Mitglieder sollten vom Gesetzgeber folgende Probleme geregelt werden 39 : - Einführung einer allgemeinen Wohnungsinspektion - Schaffung einer staatlichen Genehmigungs- und Revisionsinstanz für Bauordnungen und Bebauungspläne - Heranziehung öffentlicher Kredite zur Förderung des Kleinwohnungsbaus - Reform des Enteignungrechts und Erneuerung der Bestimmungen über den
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ERNST ENGEL, Die moderne Wohnungsnoth, Signatur, Ursachen und Abhülfe, Leipzig 1873. Vergi. DERS., Über die Wohnungsnoth, in: Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage, Leipzig 1872. - EMIL SAX, Die Wohnungszustände der arbeitenden Klassen und ihre Reform, Wien 1869. - DERS., Referat zur Wohnungsnot. Berichte des Volkswirtschaftlichen Kongresses, Leipzig 1873, S. 104ff. Die Wohnungsnot der ärmeren Klassen in deutschen Großstädten und Vorschläge zu deren Abhülfe. Gutachten und Berichte, hrsg. vom Verein für Socialpolitik, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, 30-31, Leipzig 1886. Vergi. Deutscher Verein für Wohnungsreform (Hrsg.), 30 Jahre Wohnungsreform 1898-1928, Berlin 1928.
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Grundbesitz von Gemeinden - Reform des Mietrechts, des Mietprozesses und der Zwangsvollstreckung - Entwicklung und Verbilligung des städtischen Nahverkehrs - Errichtung eines Reichswohnungsamtes als Abteilung des Reichsamts des Innern. Die weitreichenden und für die damalige Zeit revolutionären Forderungen wurden in zahlreichen Schriften heftig diskutiert und von einzelnen Vereinsmitgliedern verteidigend differenziert und konkretisiert. Die von dem Verein herausgegebene Reihe „Die Wohnungsfrage und das Reich", die seit 1900 zu erscheinen begann, setzte diese Erörterungen in geschlossener Form fort. Die Behandlung der Wohnungsfrage geriet durch die Bestrebungen des Vereins für Wohnungsreform, in dem auch führende Sozialdemokraten mitwirkten, immer mehr in eine Auseinandersetzung über Bodenmonopol und Bodenspekulation. Neben allgemeine theoretische Erwägungen, wie sie Friedrich Engels schon 1873 in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage" angestellt hatte, traten nun Untersuchungen über die konkreten Ursachen. Der Verein für Socialpolitik sah sich veranlaßt, auch hierzu eigene Untersuchungen vorzulegen, die die erste Bestandsaufnahme von 1886 wesentlich ergänzten 40. War die ältere Bodenreformbewegung mit ihren Hauptvertretern Adolph Damaschke und Franz Oppenheimer noch von einem allgemeinen Bodenmonopol ausgegangen u n d damit innerhalb der klassischen Werttheorie verblieben, so konzentrierte sich nach der Jahrhundertwende die Städte- und Wohnungsreformbewegung auf spezifische Untersuchungen des städtischen Baubodenmonopols, das in unterschiedlicher Weise für die allseits beklagten Mißstände verantwortlich gemacht wurde. Karl von Mangoldt, Rudolf Eberstadt und Carl Johannes Fuchs traten hier besonders mit ihren Veröffentlichungen hervor 41 . Die Wohnungsfrage wurde nun in ihrer gesamten wirt-
40 Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage in Deutschland und im Ausland. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 94-97, München-Leipzig 1901. - Vergi. Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Wohnungsfrage und Handelspolitik. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 98, Leipzig 1902, S. 15-118. 41 ADOLPH DAMASCHKE, Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not, Berlin 1902 (13. Aufl. Jena 1916). - FRANZ OPPENHEIMER, Großgrundeigentum und soziale Frage, Berlin 1898. - DERS., Wohnungsart und Wohnungsreform in England, Leipzig 1900. - KARL VON MANGOLDT, Die städtische Bodenfrage, Göttingen 1907. - RUDOLF EBERSTADT, Städtische Bodenfrage, Berlin 1894. - DERS., Rheinische Wohnungsverhältnisse und ihre Bedeutung für das Wohnungswesen in Deutschland , Jena 1903. - DERS., Besprechung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse in Preußen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik N.F., 1, 1904, S. 173-202. - DERS., Die Spekulation im neuzeitlichen Städtebau, Jena 1907. - DERS., Über städtische Bodenrente und Bodenspekulation, in: Archiv für Sozialpolitik N.F., 22-23, 1906, S. 631-663. - DERS., Das Wohnungswesen, Jena 1922. - DERS., Art. „Wohnungsfrage" und „Wohnungswesen", in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1929, S. 1098-1160. Vergi. C. STEINBRÜCK, Die Entwicklung der Preise des städtischen und ländlichen Immobilienbesitzes zu Halle (Saale) und im Saalekreis, Jena 1901. - H. PETER, Wert und Preis unbebauter Liegenschaften in der modernen Großstadt. Dargestellt aufgrund der Verkäufe unbebauter Liegenschaften in Mannheim 1895-1906, Karlsruhe 1910. - W. STREHLOW, Die Boden- und Wohnungsfrage des rheinisch-westfälischen Industriebezirkes, Essen 1911. - H. CONERT, Die sächsischen Terraingesellschaften und ihr Einfluß auf die Stadterweiterung, Leipzig 1911. - ALFRED BARON, Die Haus- und Grundbesitzer Preußens einst und jetzt, Jena 1911.
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schaftlichen, sozialen und kommunalpolitischen, aber auch in ihren rechtlichen und technischen Aspekten abgehandelt und die komplexen Zusammenhänge zwischen Städtereform und Sozialer Frage bloßgelegt. Wie sehr dieser Fortschritt in der Urbanisierungsforschung auf Anstößen beruhte, den der Verein für Socialpolitik gegeben hatte, läßt sich daraus ersehen, daß der führende Kopf unter den deutschen Wohnungsreformern, der aus einer alten jüdischen Familie in Frankfurt am Main stammende Privatdozent Rudolf Eberstadt ein Schüler Gustav Schmollers war. Dieser gehörte bekanntlich zu den maßgeblichen Gründern des Vereins für Socialpolitik und hatte selbst eine Schrift mit dem Titel „Mahnruf in der Wohnungsfrage" verfaßt. Zwischen Rudolf Eberstadt und Johannes Fuchs auf der einen und den Nationalökonomen Voigt, Geldner und Philippovich auf der anderen Seite entspann sich auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik 1902 beim Thema städtische Bodenreform eine Kontroverse, die anschließend in verschiedenen Schriften weiter ausgefochten wurde. Dabei ging es um die Frage, ob der Mietpreis den Bodenwert bestimme oder umgekehrt. Voigt und Geldner vertraten hier die These, großstädtische Wohnungsnot sei vor allem aus Mangel an geeigneten Bauunternehmungen entstanden und suchten die Wohnungsnot durch Vermehrung des Wohnungsangebots sowie größere Freiheit der kommunalen Bauordnungen marktwirtschaftlich zu lösen. Philippovich meinte demgegenüber, nicht der Bau von Kleinwohnungen, sondern die Hebung des Einkommens bei den unteren Bevölkerungsschichten sei vorrangig zu betreiben 42. Das an diese Debatte sich anschließende Schrifttum hat sich immer wieder mit diesen beiden gegensätzlichen Positionen auseinandergesetzt und eine Fülle neuer Argumente und Einsichten herbeigetragen. Die Schriften von Adolph Wagner, Lujo Brentano, Adolf Weber, Ludwig Pohle, Emil Lederer und Heinrich Herkner sind in diesem Zusammenhang zu nennen 43. Fast alle diese Autoren gehörten dem Verein für Socialpolitik bzw. dem „Verein Reichswohnungsgesetz" an. Daß diese Wissenschaftler nicht nur theoretisierten, beweist ihr Eintreten für die von England ausgehende Gartenstadtbewegung. In Anlehnung an Vorschläge von Ebenezer Howard war dort Ende des 19. Jahrhunderts eine erste „Garden City Association" entstanden, die eine bewußte städtische Dezentralisierung und planmäßige Organisation von Städtegründungen sowie eine 42
EUGEN VON PHILIPPOVICH, Correferat, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Wohnungfrage und die Handelspolitik, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, 98, 1902, S. 43-96. -
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ANDREAS VOIGT/PAUL GELDNER, K l e i n h a u s u n d M i e t s k a s e r n e ,
1905. -
DERS., Z u m
Streit um Kleinhaus und Mietskaserne, Dresden 1907. ADOLPH WAGNER, Die Abschaffung des privaten Grundeigentums, Leipzig 1870. - DERS., Wohnungsnot und städtische Bodenfrage, Berlin 1901. - ANDREAS VOIGT, Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vororten, Berlin 1901. - LUJO BRENTANO, Wohnungszustände in München, München 1903. - ADOLF WEBER, Über Bodenrente und Bodenspekulation in der modernen Stadt, Leipzig 1904. - DERS., Die Großstadt und ihre sozialen Probleme, Leipzig 1918. - WILHELM MEWES, Boden werte, Bau- und Bodenpolitik in Freiburg/Br. 1863-1902 mit einem Vorwort von Carl Johannes Fuchs, Karlsruhe 1905. - LUDWIG POHLE, Der Wohnungsmarkt unter der Herrschaft der privaten Bauspekulation, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 7, 1904. - DERS., Die neuere Entwicklung der Wohnungsfrage, 2 Bde., Leipzig 1910. - EMIL LEDERER, Bodenspekulation und Wohnungsfrage, in: Archiv für Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik N.F., 25,
1907, S. 6 1 3 - 6 4 8 . -
HEINRICH HERKNER,
Woh-
nungsfrage und Bebauungsplan, Berlin 1908. - DERS., Die Arbeiterfrage, 5. erw. Aufl., Berlin 1908, S. 3 8 0 - 3 9 4 .
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humane Verbindung von industriellen Arbeitsstätten und Siedeln im Grünen zum Ziel hatte. In den zu gründenden „neuen Städten" sollte an nicht mehr als 30.000 Einwohner das Gemeindeland pachtweise zu Wohn-, Industrie- und Landwirtschaftszwecken abgegeben werden, wobei die Stadt selbst aber nicht mehr als ein Sechstel der vorgesehenen Bodenfläche einnehmen durfte. Deutsche Städtereformer, die schon vor Howards Auftreten unabhängig davon ähnliche Gedanken geäußert hatten, gründeten 1902 eine „Deutsche Gartenstadtgesellschaft", deren Vorstand die schon erwähnten Wohnungreformer Mangoldt, Eberstadt und Fuchs angehörten. Die von der Gesellschaft herausgegebenen Schriften suchten entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen zu initiieren und die Forderungen der englischen Schwesterbewegung den anderen deutschen Verhältnissen anzupassen 44 . Da es im Deutschen Reich andere Agrarverfassungen und Städteordnungen als in Großbritanien gab, kam es nur zur Gründung von Gartendörfern bzw. Gartenvorstädten, also betont ländlichen Wohnsiedlungen innerhalb von industriellen Großstädten. Der Grundgedanke blieb faszinierend: durch Ausweichen auf billiges, von steigender städtischer Grundrente nicht erfaßtes Bauland die Hauptursachen der großstädtischen Wohnungsnot auszuschalten und eine partielle Rückkehr zur „Natur" einzuleiten. Die Vorherrschaft der Mietskaserne sollte an der Wurzel bekämpft werden. Der Sozialdemokrat Paul Kampffmeyer als Vorsitzender der Deutschen Gartenstadtgesellschaft wies auf die Grenzen seiner „grünen" Bewegung hin : Sie konnte nicht den Anspruch erheben, die gesamte Bodenfrage oder gar die gesamte Problematik der Urbanisierung, geschweige denn der Sozialen Frage zu lösen. Es waren und blieben beschränkte Experimente mit bewußt pragmatischer Zielsetzung. Gegner der Gartenstädte wie der Kommunalpolitiker Hugo Lindemann warfen ihren Verfechtern utopischen Dilettantismus vor, weil sie die städtische Grundrentenpreisentwicklung nicht im geringsten allgemein zu beeinflussen vermochten. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist auf den eingeschlagenen Wegen der Urbanisierungsforschung nur teilweise weiter gearbeitet worden. 44
EBENEZER H O W A R D , Tomorrow, London 1898, 2. Aufl. unter dem Titel: Garden Cities of Tomorrow, London 1902. Deutsch: Gartenstadt in Sicht (1908). Zitiert nach: Das Buch und seine Geschichte, hrsg. von Julius Posener, Berlin-Freiburg-Wien 1968. - H. LINDEMANN, Die Gartenstadtbewegung, in: Sozialistische Monatshefte, 7, 1905, S. 603-608. - PAUL KAMPFFMEYER, Zur Gartenstadtbewegung, in: Ebd., 11, 1905, S. 958-966. - Schriften der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, Dresden 1907. - Deutsche Gartenstadtgesellschaft, (Hrsg.), Flugschriften „Vermählung von Stadt und Land", „Abkehr von der Großstadt", „Genossenschaften und Genossenschaftsstädte", „Der Zug der Industrie auf das Land", „Gartenstadt und ästhetische Kultur", „Thesen zur Wohnungs- und Siedlungsfrage" usw., Die deutsche Gartenstadtbewegung, Berlin 1911. - ABELE, Weiträumiger Städtebau und Wohnungsfrage, Stuttgart 1900. - E. ROTH, Leitsätze und Referate über Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land mit anschließender Diskussion, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, 1, 1903. - Die hiermit eng zusammenhängenden Probleme der Stadtplanung und städtischen Architektur können an dieser Stelle nicht behandelt werden. Vergi. FELIX GENZMER, Stadtgrundrisse. Ein Rückblick auf ihre geschichtliche Entwicklung, Berlin 1911. A. PENCK, Die Lage der deutschen Großstädte, Berlin 1912. - JOSEF BRIX, Aus der Geschichte des Städtebaus der letzten hundert Jahre, Berlin 1912. - FELIX GENZMER, Das Haus im Stadtkörper, Berlin 1912 usw. - PAUL ZUCHER, Entwicklung des Stadtbildes, München-Berlin 1929. - KARL GRUBER, Die Gestalt der deutschen Stadt, München 1976. - G E R D ALBERS U.A., Entwicklungslinien im Städtebau. Ideen, Thesen, Aussagen 1875-1945, Düsseldorf 1975. L U D W I G / G R U B E R (Hrsg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter, München 1974.
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Im Rahmen der Rechts- und Verfassungsgeschichte legten Otto Hintze und Fritz Härtung wichtige Zusammenfassungen vor, während Hermann Aubin, Walter Schlesinger, Franz Steinbach, Fritz Rörig, Hektor Amman u. a. die Stadt im Rahmen der Landesgeschichte wiederum vorwiegend im Mittelalter und der frühen Neuzeit weiter verfolgten. In Erich Keysers „Deutschem Städtebuch", das vom 5. Band an später durch Heinz Stoob fortgesetzt wurde, erlebte dieser älteste Zweig der deutschen Urbanistik eine glänzende Kompilation der vorhandenen Erkenntnisse 45 . Demgegenüber blieb die sozialwissenschaftlich und mehr theoretisch konzipierte Stadtgeschichte im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten stark zurück, was mit der weiterhin bestehenden grundsätzlichen Reserviertheit der deutschen Fachhistoriker gegenüber der Soziologie und Wirtschaftswissenschaft zusammenhing. Obwohl Werner Sombart seine modifizierte Stadttheorie 1931 im Vierkandtschen Handwörterbuch für Soziologie nochmals vorlegte und Gunther Ipsen sie in seiner Bevölkerungslehre aufgriff, der Sombartschüler Arthur Spiethoff sich nochmals prinzipiell über die Rolle von Boden und Wohnung auf dem Markt verbreitete sowie der Geograph Walter Christaller seine vieldiskutierte Theorie der zentralen Orte vortrug, um die ökonomisch-geographischen Gesetzmässigkeit bei der Verteilung und Entwicklung von Siedlungen mit städtischen Funktionen auf die Spur zu kommen, kam es in der engeren Fachhistorie zu keinen ernsthaften Auseinandersetzungen mit diesen Überlegungen 46 . Die Entstehung der modernen Großstadt im 19. Jahrhundert wurde weiterhin, sieht man von Gelegenheitsarbeiten vornehmlich der Lokal- und Kulturgeschichte ab 4 7 , den Nachbardisziplinen überlassen, vor allem der emporblühenden Bevölkerungswissenschaft, wo Paul Mombert, Helmut Haufe und der später nach Amerika ausgewanderte Tönnies-Schüler Rudolf Heberle ihre bedeutenden Monographien vorlegten 48. Die Idyllisierung der agrarisch-mittelständischen Welt im Dritten Reich und die Unterdrückung früherer stadtsoziologischer Ansätze zugunsten sozialdarwinistischer und sozialbiologischer
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Theorien haben zu dieser Vernachlässigung der historischen Großstadtforschung offensichtlich beigetragen 49 . Die richtungsweisende Zusammenfassung der historisch-sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Vorgang der Verstädterung in Louis Wirths Abhandlung „Urbanism as a Way of Life" 1938 blieb auf deutscher Seite, sieht man von Willy Hellpachs kulturpsychologischer Analyse des Großstadtmenschen einmal ab, zwischen 1933 und 1945 ohne Parallele und Widerhall ». Wirths Aufsatz ist bis heute ein weiterer großer Markstein in der Urbanistik geblieben, so daß seine Grundgedanken hier wenigstens mit einigen Strichen skizziert werden müssen 5i. Der amerikanische Gelehrte sah es ähnlich wie Georg Simmel zunächst als Aufgabe an, diejenigen Formen gesellschaftlicher Aktion und Organisation herauszufinden, deren Auftreten in relativ dauerhaften, dicht bevölkerten Siedlungen mit einer großen Anzahl heterogener Individuen regelmäßig zu beobachten ist. Die moderne Stadt wird bei ihm durch die Bevölkerungsgröße, die soziale Differenzierung, die Bevölkerungsdichte pro Flächeneinheit und die Konstanz der mittleren Wohndauer bzw. das Ausmaß der sozialen Fluktuation charakterisiert. Auf Bücher, Sombart und Max Weber sich stützend nimmt Wirth zunächst eine Arbeitsteilung zwischen Stadt und ihrem Umland an: Die Stadt ist wenigstens partiell auf agrare Überschüsse der ländlichen Umgebung angewiesen, und diese wird wiederum im Austausch mit städtischen Gewerbeprodukten versorgt. Mit steigender Einwohnerzahl wächst in der Stadt die Zahl der Berufe, die Differenzierung des kulturell-geistigen Lebens und die interne soziale Segregation. Die sich dadurch ergebenden neuen Ideen und Lebensweisen erlebt der Stadtbewohner als stimulierende Außenreize, die er nur durch eine gewisse Auswahl noch verarbeiten kann. Je mehr die urbane Population wächst, um so weniger können sich die Menschen noch gegenseitig kennenlernen, so daß die Blickkontakte als Kommunikation überwiegen. Infolge der Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen verschiedenster Art wachsen auch die ethnischen und altersmässigen Unterschiede. Ähnlich wie Simmel weist Wirth darauf hin, daß bei zunehmender physischer Nähe die soziale Distanz wächst. Es bildet sich eine Segmentierung gesellschaftlicher Bindungen heraus, d.h. die Stadtbewohner treten sich weniger als Individuen, sondern mehr in sozialen Rollen gegenüber. Aus personalen Beziehungen werden käufliche Waren und Dienstleistungen. Diese sind aber notwendigerweise an einer möglichst breiten, anonymen Nachfrage interessiert und müssen spezielle Interessen vernach-
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50
51
Vergi, etwa die Arbeit des bekannten nationalsozialistischen Rasseforschers H. F. K. G Ü N T E R , Die Verstädterung. Ihre Gefahren für Volk und Staat vom Standpunkte der Lebensforschung und Gesellschaftswissenschaft, Leipzig-Berlin 1934. - Vergi, ferner GEORG SCHWEILER, Großstadt und Volkstum, Münster 1933. - B. DE R U D D E R / F . LINKE (Hrsg.), Biologie der Großstadt, Dresden-Leipzig 1940. Louis WIRTH, Urbanism as a way of life. In: American Journal of Sociology, vol. 44 (1938), pp. 1-24. Abdruck in: K A R L G U S T A V SPECHT (Hrsg.), Soziologische Forschung in unserer Zeit. Festschrift für Ludwig von Wiese, Köln-Opladen 1951, S. 320-335. - ULFERT HERLYN (Hrsg.), Stadt- und Sozialstruktur, München 1974. - Vergi. WILLY HELLPACH, Mensch und Volk der Großstadt, Stuttgart 1939 (2. Aufl. 1952). Vergi. C. S. FISHER, Urbanism as a way of Life. A Review and a Agenda. In: Sociological Methods and Analysis, vol. 1 (1972). Die folgenden Ausführungen über Louis Wirth stützen sich auf JÜRGEN FRIEDRICHS, Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, Reinbek 1977, S. 21-22.
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lässigen. Wirth sieht damit in der modernen Großstadt prinzipiell depersonalisierende und nivellierende Tendenzen als Folgen der ökonomischen Organisation der Stadt. Die mitmenschlichen Beziehungen werden gegenüber dem früheren Land- oder Kleinstadtleben oberflächlicher, anonym gleichförmiger und schneller veränderlich. Auf der anderen Seite gewinnt der Städter aber auch einen größeren individuellen Freiheitsraum und kann sich traditionalen Kontrollen und Handlungszwängen entziehen, die für kleinere Wohngemeinden charakteristisch sind. Man kann hier Wirths Gedankengang verlängernd hinzusetzen: Die großen Stadtwanderungen des 19. Jahrhunderts müssen neben der Suche nach einem höheren materiellen Lebensstandard hier ihr Hauptmotiv gehabt haben. Persönliche Selbstdarstellungen, überlieferte Tugendmuster und persönliche aktive Teilhabe am politischen Gemeinwesen treten demgegenüber zurück. Da das Individuum seine Interessen in der Großstadt allein nur noch schwer durchsetzen kann, muß es sich notwendigerweise zu neuen Interessenverbänden zusammenschließen, wo man zusätzliche neue Statuspositionen und gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten offeriert. Wirth nimmt generell an Simmel sich anlehnend an, daß die Größe und Heterogenität einer Urbanen Bevölkerung die entscheidenden Ursachen dafür sind, daß die informalen Kontrollen durch formale bzw. mehr symbolische Zwänge ersetzt werden. So tritt an die Stelle eines gewohnheitsrechtlich oder religiös verankerten Gebots auf dem Dorf die Uhr, die Verkehrsampel oder die Vereinssatzung. Die neuen städtischen Institutionen und Kontrollmechanismen erfassen aber jeweils nur noch Teilbereiche der menschlichen Persönlichkeit, die soziale Integration wird gegenüber früher geringer. Die verminderte gesellschaftliche Bindung verursacht psychische Störungen, die in gesteigerten Selbstmord- und Kriminalitätsraten sowie anderen „abweichenden" Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen. Die relativ hohe Bevölkerungsdichte in der Stadt fördert die soziale Segregation, d.h. sozial homogene Gruppen und Schichten ziehen gern zusammen und sondern sich in bestimmten Stadtvierteln ab, so daß dann ein besonderes Lebensmilieu entstehen kann. Im übrigen bewirkt nach Wirth die Kombination von physischer Nähe und psychischer Entfernung den Zug zur allgemeinen Konkurrenz und Ausnutzung gesellschaftlicher Herrschaftspositionen. Deutlich sind bei Wirths Thesen frühere Gedankengänge von Simmel, Sombart und Max Weber zu erkennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich unter dem Eindruck der weiter vorangeschrittenen angelsächsischen und französischen Sozialgeschichte erneut Versuche, sozialwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen mit der traditionellen Stadtgeschichte zu verbinden. Unter dem Einfluß der stadtsoziologischen Forschungen von Elisabeth Pfeil, Gunther Ipsen, Rainer Mackensen und Renate Mayntz, der industriell-volkskundlichen Studien Wilhelm Brepohls sowie Werner Conzes Konzept einer strukturgeschichtlichen Betrachtung legte Wolfgang Köllmann seine für die weitere Urbanisierungsforschung neue Wege weisende „Sozialgeschichte Barmens im 19. Jahrhundert" vor, an der sich dann weitere Arbeiten des Verfassers sowie seiner Schüler emporrankten 52 . 52
Großstadtforschung, Bremen-Horn 1 9 5 0 ( 2 . neubearb. Aufl. Hannover 1 9 7 2 ) . Soziologie der Großstadt, in : ARNOLD GEHLEN/HELMUT SCHELSKY (Hrsg.), Soziologie, Düsseldorf 1955. - GUNTHER IPSEN, Art. „Stadt ( I V ) Neuzeit", in: Handwörterbuch der
ELISABETH PFEIL, -
DIES.,
26
Hans J. Teuteberg
Helmut Croon und Otto Büsch versuchten zur gleichen Zeit Anfang der sechziger Jahre, von Heinrich Heffters „Geschichte der Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert" ausgehend, in der kommunalen Verwaltungsgeschichte den alten ideen- und institutionengeschichtlichen Rahmen zu durchstoßen 53 . Eine Reihe jüngerer Stadthistoriker wie Wolfgang Hofmann, Dieter Rebentisch, Jürgen Reulecke, Horst Matzerath, Ingrid Thienel, Wolfgang Krabbe und Karlbernhard Jaspers ist seitdem mit neuen Studien gefolgt und hat der Geschichte der Verstädterung neue Lichter der Erkenntnis aufgesetzt 54 . Es ist
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im
19.
Jahrhundert,
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54
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nicht notwendig, auf alle diese leicht erreichbaren bekannten Forschungen hier näher einzugehen. Hans Herzfelds bewegte Klage aus der Mitte der sechziger Jahre, die deutschen Historiker hätten die „grüne Weide" anziehender Themen bei der Verstädterung Deutschlands bisher vernachlässigt, ist damit allerdings noch nicht gegenstandslos geworden 55. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die Majorität der bedeutenden Stadtgeschichtsforscher mit Rang und Namen immer noch dem frühen Städtewesen im Mittelalter und der Neuzeit treu geblieben ist, wie etwa die Arbeiten von Fritz Rörig, Hans Planitz, Theodor Mayer, Walter Schlesinger, Erich Maschke, Edith Ennen und Heinz Stoob, aber auch von Karl-Heinz Blaschke, Carl Czok, und Bernhard Toepfer beweisen 56 . Es läßt sich ferner nicht übersehen, daß das Ende der sechziger Jahre eine gewisse Zäsur in der historischen Urbanisierungsforschung gebracht hat: 1968/69 wurde durch die Amerikaner Stephen Thernstrom und Richard Sennett der Begriff der „New Urban History" kreiert, mit dem sich folgende Ziele verbinden : 1. Betonte quantitative statt narrative Darstellung. 2. Verbindung historischer Daten mit soziologischer Theorie. 3. Suche nach urbanisierungsrelevanten Epocheneinschnitten. 4. Möglichst Ersatz der traditionellen Städtemonographien durch Vergleich von Städten oder sogar Städtesystemen. 5. Auswertung von Alltagserfahrungen einfacher Menschen für die Stadtgeschichte. Die Vertreter der „alten Stadtgeschichte" haben natürlich sofort eingewandt, daß auch sie quantitative Methoden und Quellen benutzt hätten und bei der „Neuen Stadtgeschichte" viele Probleme unberücksichtigt bleiben, die sich nicht zahlenmässig messen lassen. Es wurde aber zugegeben, daß hier z.T. Fragen angegangen wurden, die von der herkömmlichen, stark ideen- und institutionengeschichtlich orientierten Stadtgeschichte nicht zureichend erfaßt werden. Der Schwerpunkt der neuen Forschung über die Geschichte der Verstädterung liegt eindeutig bei den demographischen Aspekten (Größe, Zusammensetzung, Verteilung der Bevölkerung in den Städten), bei den
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H A N S HERZFELD, Leistungen und Aufgaben der Kommunalgeschichte, In: W. Haus (Hrsg.), Kommunalwissenschaftliche Forschung, Stuttgart u.a. 1966. - DERS., Aufgaben der Geschichtswissenschaft im Bereich der Kommunalwissenschaften, in: Archiv für Kommunalwissenschaft, 1 , 1 9 6 2 , S. 2 7 - 4 0 . - DERS. und CHRISTIAN ENGELI, Neue Forschungsansätze in der modernen Stadtgeschichte, in: Ebd., 1 2 , 1 9 7 5 , S. 1 - 2 1 . EDITH E N N E N , Die europäische Stadt des Mittelalters, Göttingen 1 9 7 2 . - W. BESCH U.A. (Hrsg.), Die Stadt in der europäischen Geschichte, Festschrift für Edith Ennen, Bonn 1 9 7 2 . - WALTER SCHLESINGER, Burg und Stadt, in: Verfassungs- und Landesgeschichte, Festschrift für Th. Mayer, Bd. 1, Lindau-Konstanz 1 9 5 4 . - H A N S PLANITZ, Die deutsche Stadt im Mittelalter, Köln 1 9 5 4 . - FRITZ RÖRIG, Die europäische Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter, Göttingen 1 9 5 5 . - THEODOR MAYER, Studien zu Anfängen des europäischen Städtewesens, Konstanz 1 9 5 8 . - K A R L - H E I Z BLASCHKE, Qualität, Quantität und Raumfunktion als Wesensmerkmale der Stadt vom Mittelalter bis zur Gegenwart, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, 3 , 1 9 6 8 , S. 3 4 - 5 0 . - KARL C Z O K , Die Stadt. Ihre Stellung in der deutschen Geschichte, Leipzig-Jena-Berlin (Ost) 1 9 6 9 . - OTTO BORST (Hrsg.), Stadt in der Geschichte, Sigmaringen 1 9 7 7 . - HEINZ STOOB, Forschungen zum Städtewesen in Europa, Bd. 1, KölnWien 1 9 7 0 . - BERNHARD TOEPFER, Städte und Ständestaat, Berlin-Ost 1 9 8 0 . Vergi, ferner OTHMAR PICKL (Hrsg.), Die Stadt in Geschichte und Gegenwart, Graz 1 9 7 3 . - ERICH MASCHKE, Städte und Menschen, Wiesbaden 1980.
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ökologischen Fragen (raumzeitliche Dimensionen sozialer Beziehungen in einer Kommune), bei strukturellen Problemen (Organisation des kommunalen Lebens und seiner Bestandteile), sowie den psychosozialen Verhaltensaspekten des Menschen unter dem Einfluß der Urbanisierung 57 . Eine solche Sichtweise ist gerade in der amerikanischen Geschichtswissenschaft allerdings nicht ganz neu 5 8 . Im Juni 1971 versammelten sich die ersten Vertreter der „Neuen Stadtgeschichte" in Madison (Wisconsin) zu einer ersten Konferenz, deren Referate von Leo F. Schnore anschließend herausgegeben wurden 59 . Dieser Band machte den Anspruch der neuen Forschungsrichtung noch deutlicher. Auch in der Bundesrepublik ist die „Neue Stadtgeschichte", wie die Veröffentlichungen der QUANTUM-Gruppe zeigen, von den Historikern jetzt rezepiert worden: Von 496 Projekten der quantitativ historisch-sozialwissenschaftlichen Richtung im Wintersemester 1977/78 beschäftigten sich immerhin schon 63 mit den Methoden dieser modernen Stadtgeschichte. Der Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung und multivariaten Analyseverfahren haben an diesem Aufschwung mitgewirkt 60 .
SC V V V
Welche Hauptprobleme gibt es in der gegenwärtigen historischen Urbanisierungsforschung? An erster Stelle ist die ungenügende Klärung des Begriffes Verstädterung zu nennen. Im Mittelpunkt aller älteren Definitionsbemühungen stand der Prozeß des historischen Städtewachstums seit dem 19. Jahrhundert, die Verlagerung des Bevölkerungsgewichts vom agraren auf den Urbanen Bereich, von der kleinen zu großen Wohngemeinde. Der Prozentsatz der in der Städten lebenden Menschen wird hier als Maßstab für das Wirtschaftswachstum bzw. den erfolgten sozialen Wandel, für Industrialisierung und Modernisierung und sogar für die erreichte Zivilisations- bzw. 57
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(eds.), Nineteenth Century Cities: Essays in New Urban History, New Häven-London 1969. So hat Richard Hofstadter in seiner Betrachtung über Geschichte und Soziologie in den USA darauf aufmerksam gemacht, daß schon nach dem 1. Weltkrieg der an der ColumbiaUniversität in New York lehrende Historiker James H. Robins eine „New History" forderte, die alle politischen Ereignisse betont von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Seite her sehen sollte, insbesondere von der Umgebung und dem Milieu her, wobei die Erfahrungen einfacher Menschen und die Methoden der Soziologie genutzt werden sollten. Der Einfluß des damals modischen Behaviorismus und der einsetzenden amerikanischen Urban Sociology wird hier deutlich. Die New Urban History als Pendant zu einer New Economic History und New Social History kann als Verlängerung solcher wissenschaftlichen Traditionen gesehen werden. Vergi. R . HOFSTADTER/SEYMOUR MARTIN LIPSET (eds.), Sociology and History. Methods, New York 1968, p. 8. LEO F . SCHNORE (ed.), The New Urban History, Quantitative Explorations by American Historians, Princeton, N.J., 1972. Vergi. STEPHEN THERNSTROM, Reflections on the New Urban History. In: Daedalus, vol. 100 (1971), pp. 359-375. - THEODOR HERSHBERG, The New Urban History: Toward a Interdisciplinary History of City. In: Journal of Urban History, vol.5 (1978), pp. 1-40. - JOYCE ASCHENBRENNER-LLOYD/R. COLLINS (eds), Process of Urbanism: A Multidisciplinary Approach, Den Haag 1978. Ein gutes Beispiel für die Anwendung der New Urban History ist PETER R. KNIGHT, The Plain People of Boston, 1830-1860. A Study in City Growth, New York 1971. WILHELM SCHRÖDER (Hrsg.), Moderne Stadtgeschichte, Stuttgart 1979. STEPHAN THERNSTROM/RICHARD SENNETT
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Kulturhöhe einer Gesellschaft gesehen. Mit einer solchen Betrachtung bewegt man sich freilich auf unsicherem Boden: Läßt sich tatsächlich eine Gesellschaft oder ein Staat bereits als „verstädtert" bezeichnen, wenn etwa ein Drittel oder die Hälfte seiner Bewohner in den Städten leben? Zwar hat schon 1887 der internationale Statistikerkongreß festgelegt, daß Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern als „Großstädte" bezeichnet werden sollen. Auch die deutsche Statistik hat im Anschluß daran Mittelstädte mit 20-100.000, Kleinstädte mit 5.000-20.000 und Landstädte mit 3.000-5.000 Bewohnern davon unterschieden. Es wird aber bei dieser rein zahlenmäßigen Einteilung nicht deutlich, wo die entscheidenden Schwellenwerte für eine Verstädterung beginnen. Eine oberdeutsche Handelsstadt im 16. Jahrhundert mit 15.000 Einwohnern war für die damalige Zeit sicherlich eine „Großstadt". Sie überragte in ihrer weitreichenden Bedeutung eine moderne Agglomeration von 100.000 Menschen wie beispielsweise Wanne-Eickel. Gleitende Bemessungsgrenzen, die daraufhin vorgeschlagen wurden, können leider dieses Problem nicht lösen, da sich offenbar mit der städtischen Quantität auch die städtische Qualität ändert 61 . Das Unbehagen an dem Großstadtbegriff hat dazu geführt, dynamische Strukturveränderungen wirtschaftlich-sozialer Art zur Bestimmung der Verstädterung mit heranzuziehen 62. Unter anderem ist an Jean Fourastiés wirtschaftliche Wachstumstheorie sich anlehnend auf die sich arbeitsteilig verfeinernde Entwicklung von Gewerben und Dienstleistungen in den Städten hingewiesen worden. Auch Werner Sombart und Max Weber hatten um 1900 bei ihrer ersten Stadttheorie bekanntlich auf die Arbeitsteilung von Stadt und Land und auf diesen Punkt aufmerksam gemacht. Die Städte erscheinen hier als besondere Quellen ökonomischer und sozialer Innovationen. Dabei erhebt sich allerdings wiederum die Frage, ob man hier nicht nur bestimmte, einmalig ablaufende historische Prozesse erfaßt und ob die Stadt am Ende dieses 20. Jahrhunderts immer noch eine Vorbedingung für solche weitreichenden Strukturveränderungen darstellt. Es könnte auch durchaus sein, daß die Rolle der Stadt in einer bereits verstädterten Gesellschaft überschätzt wird. Daran läßt sich die Frage knüpfen, welche Kontinuitäten eigentlich zwischen antiken, mittelalterlichen, absolutistisch-merkantilistischen, frühindustriellen und modernen Städten bestehen und inwieweit sich der Begriff „Stadt" in seinem Kern verändert hat. Die vielen Bücher mit dem Titel „Die Stadt in Vergangenheit und Gegenwart" suggerieren die Konstanz eines Sachverhaltes, der so nicht gegeben ist. Die moderne Begriffsforschung ist mit anderen Worten 61
Gleitende Bemessungsgrenzen für die Definition von Stadtgrößen sehen vor, daß eine Stadt um 1600 a b 15.000, u m 1790 a b 20.000, u m 1840 a b 4 0 . 0 0 0 u n d u m 1939 a b 100.000 B e w o h n e r n als
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Großstadt angesehen wird. Die Kritik hat gegen einen solchen Vorschlag eingewandt, daß damit ein präzises Vergleichen unmöglich gemacht wird und wichtige Sachverhalte der Verstädterung unterschlagen werden. Eine spätmittlalterliche Stadt ist, auch wenn sie grössenmäßig im gleichen Verhältnis zu anderen Städten und zur Landbevölkerung wie eine heutige Großstadt dasteht, noch lange keine moderne Metropole. Bestimmte städtische Qualifikationen und Charakteristika sind, wie die Stadttheorien von Simmel und Wirth zeigen, auch an bestimmte absolute Größenverhältnisse gebunden. NEILS ANDERSON (ed.), Urbanism and Urbanization, Leiden 1 9 6 4 . - L E O N A R D REISMANN, The Urban Process. Cities in Industrial Societies, London 1 9 6 4 . - ERIC E . LAMPARD, Urbanization and Social Change. On Scope and Relevance in Urban History. In: OSCAR HANDLIN/JOHN BURCHARD (eds.), The Historian and the City, Cambridge 1 9 6 3 , pp. 2 2 5 - 2 4 7 .
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voll in die Urbanisierungsforschung einzubeziehen. Das Problem kann hier nur angedeutet werden und verdiente eine ausführlichere Behandlung. Das erregendste Problem ist sicherlich der mögliche Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Urbanisierung. Die wissenschaftlichen Ansichten gehen hier weit auseinander: Einmal wird das wirtschaftliche „Take-off into sustained growth" (W. W. Rostow) als notwendige Vorbedingung einer Verstädterung angesehen, zum anderen nimmt man nur gewisse Beschleunigungseffekte an, die vom wirtschaftlichen Wachstum auf die städtische Entwicklung ausstrahlen. Es wird aber auch von anderen die zeitliche Parallelität beider Prozesse betont oder aber ganz umgekehrt die Urbanisierung als Prämisse für die einsetzende Industrialisierung betrachtet. Schließlich gibt es noch Forscher, die nur ganz lose Zusammenhänge sehen oder sogar jede Koinzidenz leugnen, weil es sich um zwei prinzipiell autonom verlaufende Prozesse handelt 63 . In der Urbanisierungstheorie ist in diesem Zusammenhang bekanntlich wiederholt darauf verwiesen worden, daß die Einführung der Geldwirtschaft die räumliche wie soziale Mobilität der ländlichen Bewohner ungemein befördere und die Stadtbildung dadurch begünstigt habe. Die Städte waren erste Zentren der Geldwirtschaft. Aber dies mußte später nicht notwendigerweise immer zur Industriebildung im engeren Sinn führen. Es gab daneben offenbar viele andere „Städtefüller", die nicht einmal indirekt im Rahmen des Gesetzes vom doppelten Stellenwert mit der gewerblichen Industrie zu tun hatten. Der Verzehr von Grundrenten wie auch die Kapitalakkumulation auf engem Siedlungsraum lösten eine erweiterte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus. Ökonomisch entscheidend für Stadtgründungen wie für Stadtwachstum war offensichtlich, wieviel Einkommen pro Kopf des Bewohners ausgegeben werden konnte. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist auf jeden Fall auf die historisch gewachsenen Stadttypen hinzuweisen, die ganz verschiedene ökonomische, soziale und politisch-kulturelle Funktionen hatten. So gab es im 19. Jahrhundert städtische Agglomerationen, die praktisch eine einzige große Fabrik waren und bei denen der Einfluß der Industrie auf das städtische Wachstum evident war. Ähnliches läßt sich vom Einfluß des Seeverkehrs auf Hafenstädte oder des Bergbaus auf Bergstädte sagen. Daneben gab es aber auch fast reine Residenz-, Verwaltungs- und Universitätsstädte, ferner Festungs- bzw. Garnisons- sowie Pensionärs- und Kurstädte. Wenngleich die Mischformen und Überlappungen hier dominieren, so läßt sich doch sagen, daß die Städte in ihren ökonomischen Funktionen vielfach überhaupt nicht vergleichbar waren. Hinter dem Idealtypus „Stadt im Industriezeitalter" verbirgt sich viel Heterogenes. Die bekannte These von der Industrie als „Städtefüller" übersieht jedenfalls, daß in den Industriestädten viele Bewohner nichts direkt mit der Industrie zu tun hatten. 63
BERT F. HOSELITZ, The Role of Cities in the Economic Growth of Underdeveloped Countries. In: DERS., Sociological Aspects of Economic Growth, Glencoe, 111., 1960, p. 159. - PHILIP M. HAUSER, The Social, Economic and Technical Problems of Rapid Urbanization. I N : BERT F. HOSELITZ/WILBERT E. MOORE (eds.), Industrialization and Society, Paris 1968, pp. 199-217. - A.
LÖSCH, Das Problem einer Wechselwirkung zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 48, 1938, S. 455ff. - ERNST WILLEKE, Zur Entstehung und Problematik der Großstadt, in: Soziale Welt, 6, 1955. - WOLFGANG KÖLLMANN, Verstädterung, in: Der Mensch in der Großstadt, Stuttgart 1960, S. 28. - F. MERZBACHER, Art. „Stadt. 1. Neuere Geschichte", in: Staatslexikon, Bd. 7,6. neubearb. und erw. Aufl. Freiburg 1962, Sp. 63Iff.
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In der Debatte um den Zusammenhang zwischen Urbanisierung und Industrialisierung ist schließlich noch zu wenig gesehen worden, daß die Verstädterung offenbar durch metaökonomische Faktoren zum Teil entscheidend behindert oder gefördert worden ist. Die vielfach beobachtete Gründung von Doppel- und Konkurrenzstädten in nächster Nachbarschaft hatte wenig mit den ökonomischen Funktionen, dagegen viel mit den natürlich-geographischen Verhältnissen und vor allem mit Grenzziehungen zu tun. Infolge bestimmter politischer Fakten konnte es auch zu städtischen Verkümmerungen oder sogar Entstädterungen kommen. Nach über einhundert Jahren Urbanisierung läßt sich erkennen, daß frühere Untersuchungen viel zu einseitig das Problem der Verstädterung mit einer destruktiven „Landflucht" (Peter Quante) gleichgesetzt und diese Bevölkerungsbewegung einseitig dramatisiert haben. Über Ausmaß und Richtung der Stadtwanderungen bestanden lange keine quantitativ wie qualitativ zutreffenden Vorstellungen. So konnte man nicht angeben, welche ländlichen Bevölkerungsteile wohin abwanderten und wo auf dem Lande wirklich Entvölkerungserscheinungen auftraten. Erst neuere historische Mobilitätsstudien geben erste Einsichten über die komplizierten selektiven Wanderungsbewegungen, die sich offenbar in viele Richtungen bewegten und auch ein hohes Maß an Stadt-Land-Pendlern und Rückwanderern umfaßten. Noch gar nicht untersucht sind die tatsächlichen Rückwirkungen der Verstädterung auf die ländlichen Daseinsverhältnisse wie die dort möglichen Gegenbewegungen (Counter-Urbanization). Schließlich ist daran zu denken, daß es neben der bereits länger verstädterten Bevölkerung in den Stadtkernen an den Grenzen von Stadt und Land zahlreiche Übergangsformen der Verstädterung gegeben hat. Es kann mit Recht vermutet werden, daß sich die mit der Verstädterung einhergehenden Prozesse der sozialen Desorganisation besonders kraß in den großstädtischen Vororten darstellten. Da sich die Urbanisierung nicht so sehr in der bloßen Bevölkerungsanhäufung als vielmehr in der Ausbildung eines besonderen städtischen Lebensstils äußerte, muß nicht nur an die demographischen, sondern auch an die kulturellen Konzepte der Verstädterung gedacht werden, wie Eric E. Lampard mit Recht betont hat 6 4 . Im Grunde umfaßt die Urbanisierung die Totalität aller sozialen Handlungen, Normen und Institutionen. Der Vorgang der Verstädterung greift regelmäßig auf die Dauer über die Stadtgrenzen hinaus: Urbane Verhaltensweisen beeinflussen die Umgebung und durchdringen dann das ganze Land, so daß sich die alten Unterschiede einebnen, was mit dem treffenden Begriff „Rurbanization" bezeichnet worden ist. Soziale und ethisch-kulturelle Unterschiede zwischen einzelnen Stadtvierteln können dann unter Umständen gravierender als der alte Stadt-Land-Gegensatz werden. Inzwischen gibt es kaum noch Zweifel daran, daß in den Industrieländern die städtischen Verhaltensmuster ubiquitär geworden sind. Henri Lefebvre hat daher nicht zu Unrecht die Frage aufgeworfen, ob die postindustrielle Gesellschaft nicht insgesamt als „verstädterte Gesellschaft" bezeichnet werden sollte 65 . Faßt man die wichtigsten Erklä-
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E R I C E . L A M P A R D , Historical Aspects of Urbanization. In: PHILIPP E . H A U S E R / L E O F . (eds.), The Study of Urbanization, New York-London-Sidney 1965, pp. 519. H E N R I LEFEBVRE, Die Revolution der Städte (Übers, aus dem Franz.), München 1972.
SCHNORE
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rungsansätze für die Urbanisierung zusammen, dann erhält man folgende Bestimmungsmerkmale : 1. Umschichtung von primär ländlicher auf vorwiegend städtische Bevölkerung und gleichzeitig allgemeines Bevölkerungswachstum. 2. Umschichtung des wirtschaftlichen Schwergewichts vom agraren auf den gewerblichen und dienstleistenden Sektor. 3. Herausbildung neuer Sozialstrukturen und verstärkte räumliche wie soziale Mobilität. 4. Diffusion urbaner Mentalität auf die Gesamtgesellschaft. Zu den kontroversen Problemen der Urbanisierungsforschung gehört schließlich auch die Periodisierungsfrage. Rainer Mackensen hat zwischen feudalen, merkantilistischen, bürgerlichen und industriellen Verstädterungen unterschieden 66 . Hier wird aber offenbar ganz übersehen, daß die Verstädterungen vor 1870 regional zu verschiedenen Zeitpunkten auftraten und die wirtschaftlich-soziale Gesamtstruktur insgesamt wenig tangiert wurde. Der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtpopulation blieb bekanntlich bis zum späten 19. Jahrhundert relativ gering, da unter anderem der Versorgung großer Menschenmassen an einem einzigen Ort wegen der vergleichsweise geringen Transportkapazität enge Grenzen gesetzt waren. Zweckmäßiger erscheint die Annahme von drei großen Umbruchphasen : 1. Die vorindustrielle Periode, in der die Städte noch keine große Überschußbevölkerung vom Lande aufnehmen konnten, so daß nur die Auswanderung als Notventil verblieb, wenn Kriege, Seuchen oder Mißernten die Menschen nicht auf natürliche Weise dezimierten. Die räumliche wie gesellschaftliche Mobilität blieb insgesamt gering: die meisten Stadtbewohner waren in Wahrheit „Ackerbürger". 2. Die Phase der extensiven Verstädterung mit rasch wachsender Ausdehnung der Städte wie der Gesamtbevölkerung. 3. Der Übergang zu einer weithin verstädterten Gesellschaft, in der 70. v.H. aller Menschen in der Stadt leben und urbane Verhaltensweisen die Kultur prägen. Nach Horst Matzeraths Berechnungen über die Urbanisierung in Preußen lassen sich folgende, noch genauere zeitliche Einschnitte ausmachen: Zwischen 1840/43-1868/71 stieg der Anteil der Urbanen Bevölkerung nur auf niedrigem Niveau an, so daß von einer Inkubationsphase der Verstädterung gesprochen werden kann. Der dramatische Aufstieg zur Verstädterung ereignete sich, gemessen an den Bevölkerungsziffern, erst zwischen 1871 und 1910 im Deutschen Reich. In der nachfolgenden Zwischenkriegszeit nahm die Bevölkerungsvermehrung auf relativ hohem Niveau schon wieder ab. Diese rein quantitative Betrachtung (die an die Zufälligkeiten einer Zensuserhebung gebunden bleibt!) läßt, wie gesagt, alle anderen Wechselwir46
In der Periode der feudalen Verstädterung bilden agrarische Überschüsse des Umlandes die Grundlage zur Gründung von Konsumentenstädten. In der nachfolgenden merkantilistischen Phase ergeben sich aus dem sich ausbreitenden Fernhandel die Gründe für eine urbane Siedlungsweise. In der folgenden liberalen Ära nach 1800 gibt es infolge von Verwaltungsreformen eine bürgerliche Verstädterung und schließlich eine Urbanisierung unter dem Einfluß der Industrialisierung. Vergi. RAINER MACKENSEN, Städte in der Statistik, in: W. PEHNT (Hrsg.), Die Stadt in der Bundesrepublik, Stuttgart 1974, S. 141.
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kungen und Strukturverformungen, die unter Umständen anderen Zeitrhythmen folgen, außer acht. Agrarreformen, Gewerbefreiheit und Verkehrsbeschleunigung haben die Verstädterung sicherlich vorangetrieben, doch wurden alle diese wichtigen Innovationsschübe nicht überall und nicht zum gleichen Zeitpunkt in Gang gesetzt. Regionale Differenzierungen der Urbanisierung sind daher unabdingbar, wobei zwischen stadtanziehenden „Pull-Faktoren" und landabstoßenden „Push-Faktoren" unterschieden werden muß. Vom Grundmuster der hier zuletzt aufgezeigten Periodisierung gibt es offenbar viele Abweichungen, was bei den vielen Stadttypen verständlich erscheint. Die regionalen und lokalen Sonderheiten der Urbanisierung, die mit den spezifischen Bau- und Wohnungsmärkten, dem Aufbau der Infrastrukturen sowie der kommunalen LeistungsVerwaltung zusammenhängen, sind bis heute noch wenig zusammhängend erforscht. Am wenigsten wissen wir aber über die bei der Periodisierung eingangs erwähnten soziokulturellen Veränderungen, die Ausbildung und Diffusion urbaner Mentalitäten, was sich nur sehr begrenzt quantitativ erfassen läßt. Bei der Urbanisierungsdebatte stellt sich am Schluß die Fragen nach einer genaueren Bestimmung der Untersuchungsebenen. Objekte können ζ. B. sein 6 7 : 1. Einzelne Stadtbewohner. 2. Formale und informale Gruppen, Schichten und Institutionen von städtischen Gemeinden. 3. Städte als historische Individuen. 4. Städte als Subsysteme einer jeweiligen Gesellschaft. Nach diesem Schema könnte zwischen internen und externen Funktionen der Städte, d. h. zwischen der Geschichte einer inneren Stadtstruktur und einer äußeren Geschichte der Städte im Rahmen der Gesamtgeschichte gesprochen werden. Aber eine solche Differenzierung zwischen der Entwicklung einer Stadt, die gleichsam eine kleine Welt für sich darstellt und ihren äußeren Beziehungen läßt sich generell nicht durchhalten und ist heuristisch daher von geringem Wert. Jürgen Friedrichs hat 1977 darauf hingewiesen, die Stadtsoziologie habe sich bisher unfähig erwiesen, die Materialfülle städtischen Daseins systematisierend zu durchdringen und meinte, der Mangel an Theorie hänge mit der unscharfen Trennung von individueller Stadt- und genereller Gesellschaftsanalyse zusammen. Er bezweifelte, daß eine Unterscheidung von Stadt und Land heute noch sinnvoll sei, weil wir bereits in einer weithin verstädterten Gesellschaft leben 68 . Alle Stadtanalysen seien auch Gesellschaftsanalysen und umgekehrt. Gegenstand der Stadtsoziologie sei in Wahrheit nicht die Stadt, sondern das raumbezogene Verhalten des Menschen. Die Stadt sei sozialwissenschaftlich überhaupt kein abgrenzbarer Objektbereich, sondern
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U. POSECK, Geographische Auswirkungen der Verstädterung als Lebensform. Ein soziologischer Beitrag zur Genese des Städtischen, Diss. Köln 1 9 6 6 . - JOYCE ASCHENBRENNER ET. AL. (eds.), Process of Urbanization: A Multidisciplinary Approach, Den Haag 1 9 7 8 . - RICHARD WADE, An Agenda for Urban History. In: Herbert Bas (ed.), The State of American History, Chicago 1980, pp. 79. J. FRIEDRICHS, Stadtanalyse, 1 9 7 7 , S. 14. - Vergi, auch PETER ATTESLANDER/BERNHARD HAMM (Hrsg.), Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln 1974.
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nur ein Anwendungsgebiet zur Erklärung von Sachverhalten, die sich unter anderem auch in der Stadt nachweisen lassen. Friedrichs These, alle Stadtforschung heute sei im Grunde Gesellschaftsanalyse, ist für den Stadthistoriker auf den ersten Blick bestechend, weil auch Stadtgeschichte, zugespitzt formuliert, eigentlich niemals etwas anderes gewesen ist als eine Sozialgeschichte von einem besonderen räumlichen Standpunkt aus betrachtet 69 . Dennoch reicht ein solcher sozialökologischer Ansatz nicht aus, um alle Urbanisierungsprobleme zu erklären. Die Analyse der Bevölkerung auf städtischem Gebiet kann ohne Zweifel interessante soziale Segregationen, z. B. das Vorhandensein von Wohlstands- und Armenvierteln oder Wohn- und Industriegebieten als extreme Sondergestaltungen städtischen Lebens sichtbar machen. Auch die Aufdeckung von Nachbarschaftsbeziehungen, die Anordnungen der Wohnungen zu den Arbeitsstätten mit den Pendlerbewegungen, die Bevölkerungsverschiebungen bei City- und Vorortbildungen sind ein dankbares Feld solcher Untersuchungen. Dennoch bleibt die städtische Gemeinde letztlich mehr als eine Ansammlung von Menschen unter bestimmten räumlichen Umweltbedingungen. Sie zeichnet sich nicht zuletzt auch dadurch aus, daß die Integration zum städtischen Bürger über das Medium des politisch-kulturellen Lebens verläuft, weil die Komplexität der sozialen Strukturen für den einzelnen Bewohner nicht überschaubar ist und diese sich auch ständig ändern. Jede Stadt zeichnet sich, wie schon Louis Wirth gezeigt hat, neben spezifischen sozialen und geographischen Merkmalen durch einen besonderen politisch-kulturellen Lebensstil aus. Einer Quantifizierung sind daher bestimmte Grenzen gesetzt. Das Messen von generativem Verhalten, Bevölkerungswachstum, Wanderungen, Agglomerationen und Segregationen führt zur Aufdeckung interessanter Regelmäßigkeiten und Interdependenzen, doch dürfen die Probleme von Recht und Verfassung, Politik und Kultur nicht ausgeblendet werden. Die frühere Stadtgeschichtsforschung hat die Fragestellungen der „Neuen Stadtgeschichte" zu wenig berücksichtigt, aber es wäre ebenso verkehrt, auf die Erforschung individuell-geistiger Bezüge, der rechtlich-politischen Verfassung und der kulturellen Mentalität generell zu verzichten. Die nachfolgenden Beiträge der Historiker sind sowohl der einen wie der anderen Richtung verpflichtet. Insgesamt wurde versucht, einen Mittelweg zu finden und möglichst vielen Ansprüchen sowohl methodologisch wie inhaltlich gerecht zu werden.
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H. J. DYOS, Agenda for Urban Historians. In: H. J. Dyos (ed.), The Study of Urban History, London 1968, pp. 1-46.
GEOGRAPHISCHE ASPEKTE DER FORSCHUNGSSTAND Von H e i n z
UND
URBANISIERUNG: PROBLEME
Heineberg
Diese Einführung in den Forschungsstand und in Probleme der geographischen Urbanisierungsforschung beschränkt sich im wesentlichen auf Aspekte der diesbezüglichen jüngeren Forschungsentwicklung in der westdeutschen Geographie, wobei jedoch auch ihre Stellung im internationalen und interdisziplinären Rahmen angedeutet wird Mit diesem Einführungsreferat ist zugleich eine Zuordnung der übrigen geographischen Vorträge der Tagung Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert zu bestimmten Forschungsansätzen und -richtungen innerhalb der geographischen Stadt- bzw. Urbanisierungsforschung bezweckt.
1. D i e U r b a n i s i e r u n g s f o r s c h u n g - e i n n e u e r F o r s c h u n g s z w e i g in der d e u t s c h e n
Geographie?
Die Urbanisierung ist auf den ersten Blick ein relativ junger Forschungsgegenstand der geographischen Stadtforschung. Dies scheint z.B. ein Vergleich zweier Auflagen der in Deutschland am weitesten verbreiteten Lehrbuchdarstellung der Stadtgeographie von Burkhard Hofmeister zu belegen. In der ersten Auflage von 1969 taucht der Begriff Urbanisierung noch nicht auf; es wird lediglich die verwandte traditionelle Bezeichnung Verstädterung kurz aufgeführt und im statistisch-demographischen Sinne als der Anteil der in den Städten lebenden Bevölkerung eines Gebietes definiert 2 . Hofmeister widmet 1
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Mit diesem Referat ist nicht eine differenzierte Ableitung der Forschungsgeschichte der gesamten Stadtgeographie beabsichtigt, wie es in der Einführung von Hans J. Teuteberg bezüglich der Stadtgeschichte intendiert ist. Entsprechendes ist für die Stadtgeographie überflüssig, da mit den Darstellungen von H A N S DÖRRIES ( 1 9 3 0 ) , PETER SCHÖLLER ( 1 9 5 3 , 1 9 7 3 ) und ELISABETH LICHTENBERGER ( 1 9 7 9 / 1 9 8 0 ) (vgl. Abschnitt 1 des Literaturverzeichnisses) eine zeitlich aufeinander aufbauende, recht umfassende Dokumentation der Forschungsentwicklung vorliegt. Vgl. im folgenden die entsprechend dem Vortragsverlauf strukturierte Literaturzusammenstellung am Schluß dieses Beitrages. Die Literatur zur Urbanisierungsforschung aus der stadtgeschichtlichen Forschung bzw. Stadtgeschichte bleibt im folgenden unberücksichtigt, da diese in dem Einführungsreferat von Hans J. Teuteberg ausführlich gewürdigt wird. Ähnliches gilt z.B. auch für das umfassendere Lehr- und Handbuch von GABRIELE SCHWARZ, letzte Aufl. 1966 (vgl. dort die Definition von Verstädterung auf S. 290; der Begriff Urbanisierung ist auf S. 329 Undefiniert erwähnt und im Register nicht einmal aufgeführt worden). Die Autorin stellt jedoch an zahlreichen Stellen des Werkes die Beziehungen zwischen Industrialisierung, Bevölkerungsmobilität (Landflucht), Technisierung des Verkehrswesens und Verstädterung her und faßt ausführlich die Bedeutung dieses komplexen Prozesses für das Städtewachstum, das Entstehen spezieller Siedlungstypen (wie etwa Fremdenverkehrssiedlungen) etc., aber auch für die sich aus dem weltweiten Verstädterungsprozeß ergebenden Probleme der Groß- und Weltstädte zusammen.
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Heinz Heineberg
erst in der 3. Aufl. seines Lehrbuches (1976) dem sog. Phänomen der Verstädterung ein eigenes umfassendes Kapitel. Er faßt darunter nicht nur den Begriff der Urbanisierung - allerdings ohne ihn genauer zu definieren - , sondern ordnet unterschiedlichste Forschungsteilbereiche der Stadtgeographie dem Verstädterungsproblem zu: von der Ökologie der Stadt über demographische und soziale Prozesse bis hin zu dem Modell der Zentralen Orte, zur Stadtregion und zum Verdichtungsraum. Er deutet damit zugleich die Komplexität des Forschungsgegenstandes Verstädterung bzw. Urbanisierung an. Auch der Vergleich der von Hans Dörries (1930), Peter Schöller (1953, 1973) und Elisabeth Lichtenberger (1979/1980) verfaßten wichtigen Forschungsberichte zeigt, daß Verstädterung bzw. Urbanisierung erst in den letzten beiden Jahrzehnten als spezielle Forschungsprobleme zunehmende Bedeutung gefunden haben. Bei Dörries sind die Begriffe Verstädterung und Urbanisierung noch nicht explizit erwähnt. Er führt jedoch zahlreiche Arbeiten auf, die sich der damaligen Forschungstradition entsprechend - vor allem mit Problemen der Stadtentstehung und -ausbreitung, -genese und -morphologie und damit auch mit wichtigen Aspekten bzw. Merkmalen des (physiognomischen) Verstädterungs- bzw. Urbanisierungsprozesses befaßten. Insofern ist Urbanisierung in der Tat kein junger, sondern eher ein traditioneller Forschungsgegenstand der Geographie, jedoch haben sich die auf die Urbanisierung bezogenen Betrachtungsperspektiven und die Terminologie bis zur Gegenwart erheblich differenziert. Ein Vergleich der Literaturtitel, die in den beiden stadtgeographischen Forschungsberichten von Peter Schöller von 1953 und 1973 sowie in der von Schöller und Mitarbeitern für den Zeitraum 1952-1970 erstellten ergänzenden stadtgeographischen Bibliographie (1973) aufgeführt sind, verdeutlicht auch die sprunghafte quantitative Zunahme der Zahl deutschsprachiger geographischer Arbeiten zum Verstädterungsproblem gegen Ende der 60er Jahre und im Jahre 1970. Auffällig ist weiterhin, daß die Beziehungen zwischen Verstädterung und Bevölkerungsmobilität, d.h. regionalen Wanderungsprozessen bzw. Binnenwanderungen, nunmehr den Hauptforschungsgegenstand darstellen. Erst seit Ende der 60er Jahre wurde in einer wachsenden Zahl von Arbeiten im Titel der Terminus Urbanisierung anstelle des früher ausschließlich benutzten Verstädterungsbegriffes aufgeführt, und es wurden auch neue Forschungsprobleme aufgegriffen und bearbeitet (vgl. Abschnitt 3). Elisabeth Lichtenberger (1980) führte in ihrem Geographentagsvortrag des Jahres 1979, mit dem sie die Entwicklung von der klassischen zur modernen analytischen Stadtgeographie skizzierte, zwar die geographische Urbanisierungs- bzw. Verstädterungsforschung nicht als eigene Forschungsperspektive auf, betonte jedoch ausdrücklich, daß „der Prozeß der Verstädterung 3 zweifellos als derjenige bezeichnet werden (kann), der das Aufwachsen der analytischen Stadtgeographie außerordentlich begünstigt hat" (ebd., S. 105).
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Dieser Verstädterungsprozeß betrifft nach LICHTENBERGER drei Ebenen des Siedlungssystems: 1. Es „erfolgt ein Wandel des Stadt-Land-Gegensatzes zum Stadt-Land-Kontinuum, und zwar in Form einer physiognomischen, funktionellen und soziologischen Verstädterung"; 2. „das Wachstum der Städte beeinflußt und verändert alle Kategorien des innerstädtischen Systems" ; 3. die Verstädterung beeinflußt „auch die Strukturen der nationalen städtischen Systeme" (ebd., S. 105).
Geographische Aspekte der Urbanisierung
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Daß die geographische Urbanisierungsforschung auch im internationalen Rahmen seit der 2. Hälfte der 60er Jahre an zunehmender Bedeutung gewann, verdeutlicht etwa die Gründung einer Urbanisierungskommission, der sog. Commission on the Processes and Patterns of Urbanization innerhalb der Internationalen Geographischen Union (International Geographical Union) im Jahre 1968, deren deutsches Mitglied Peter Schöller wurde. In den Jahren 1973 und 1975 wurden von Peter Schöller und Ronald Jones zwei Sammelbände als Zusammenstellungen von Forschungsbeiträgen der Kommissionsmitglieder veröffentlicht, die für größere Sprachräume bzw. für ausgewählte Staaten den bereits damals beachtlichen Stand der geographischen Urbanisierungsforschung dokumentieren 4 . Von Bedeutung war auch die Veröffentlichung von drei weiteren international konzipierten Sammelbänden zur geographischen Urbanisierungsforschung mit Beteiligung von Geographen aus dem deutschsprachigen Raum. So stellten Karl Ruppert und Franz Schaffer sozialgeographische Aspekte der Urbanisierung in dem von Béla Sárfalvi 1975 herausgegebenen Sammelband der IGU dar, Elisabeth Lichtenberger faßte in dem von Brian J. L. Berry im Jahre 1976 veröffentlichten Reader den jüngeren Urbanisierungsprozeß in Europa zusammen, und Peter Schöller war an dem von Kazimierz Dziewónskie 1978 herausgegebenen Sammelband beteiligt 5 . Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland erschienen im Laufe der 70er Jahre zahlreiche geographische Urbanisierungsstudien, die sich z.T. auch um (dringend notwendige) terminologische Klärungen bemühten. Und damit komme ich zum zweiten Punkt meiner Einführung:
2. B e g r i f f s v e r w i r r u n g e n i n d e r
Urbanisierungsforschung
Innerhalb der deutschsprachigen geographischen Urbanisierungsforschung besteht eine erhebliche terminologische Verwirrung. Diese resultierte in den vergangenen Jahrzehnten - und zwar bis heute - nicht nur aus der Entwicklung unterschiedlicher Forschungsansätze und aus der Komplexität der Forschungsprobleme, sondern vor allem auch aus der verschiedenartigen Übernahme bzw. Übersetzung von Termini der interdisziplinären Urbanisierungsforschung im englischsprachigen Raum 6 . So wird der wichtigste Begriff urbanization teils als Verstädterung übersetzt, wie z.B. in der jüngst erschienenen, von Friedrich Vetter erstellten deutschen Fassung des in englischsprachigen Ländern weit verbreiteten Lehrbuchs von Harold Carter The study of urban geography ; andere Autoren benutzen dagegen als Überset-
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Der von RONALD JONES herausgegebene Band enthält u.a. drei Grundsatzbeiträge über Probleme der Definition und Messung ( A . E. SMAILES), über Einflußfaktoren ( R . JONES) sowie über Probleme und Konsequenzen der Urbanisierung (PETER SCHÖLLER). Dieser enthält neben einer Reihe von Arbeiten zur Urbanisierungsforschung erste Beiträge der im Jahre 1976 im Rahmen der IGU neu gegründeten sog. Commission on National Settlement Systems, deren deutsches Mitglied wiederum PETER SCHÖLLER wurde. Vgl. z . B . die Überblicksdarstellung von PHILIP HAUSER (1965), die den bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre beachtlichen Stand der Urbanisierungsforschung im englischsprachigen Raum zusammenfaßt. Vgl. dort auch die Diskussion der Definition, Ausprägungen und Konsequenzen von urbanization.
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Heinz Heineberg
zungen die Begriffe Urbanisation oder Urbanisierung. Hinzu kommen die Bezeichnungen Urbanität, Urbanismus, Überurbanisierung, Suburbanisierung etc., die in unterschiedlichster Weise, oftmals jedoch auch überhaupt nicht definiert werden. Auch in wichtigen Nachbarwissenschaften der Geographie, die sich seit den 60er Jahren verstärkt mit dem Problem der Verstädterung bzw. Urbanisierung beschäftigen und diesbezüglich mit der Geographie in wechselseitiger Beziehung stehen, gibt es erhebliche Begriffsunsicherheiten. Die verschiedenartigen inhaltlichen Bedeutungen von Verstädterung und Urbanisierung in der Siedlungssoziologie, d.h. in einer der wichtigsten Nachbardisziplinen der geographischen Urbanisierungsforschung bzw. der modernen Stadtgeographie, erläuterten Elisabeth Pfeil (1972; Verstädterung, Albert Kaufmann (1974; Urbanisierung), Lars Clausen (1970; Urbanisierung, Desurbanisierung), Rainer Mackensen (1974) und Bernhard Schäfers (1977) (Verstädterung, s. unten) sowie Jürgen Friedrichs (1977; Urbanisierung, Suburbanisierung). Über die unterschiedlichen Begriffsverwendungen in der stadtgeschichtlichen Forschung informiert das Einführungsreferat von Hans J. Teuteberg in diesem Band. In der deutschsprachigen Geographie wurden bzw. werden einige wichtige Termini z.T. synonym gebraucht, wie Urbanisierung und Verstädterung (z.B. von Erich Otremba 1967, Wilfried Heller 1973) oder das Begriffspaar Urbanisierung und Urbanisation (z.B. von Karlheinz Hottes 1970). Um definitorische Abgrenzungen der drei wichtigen Begriffe Urbanisation, Urbanisierung und Verstädterung hat sich in der deutschen Geographie wohl erstmals Gerhard Lindau er (1970) bemüht. Lindauer benutzte Urbanisation als „Oberbegriff für alle Urbanitätsprozesse im engeren Einflußbereich von Großstädten" (S. 9): für das Wachstum der Stadtbevölkerung, das Siedlungswachstum der Städte, die Städteverdichtung, die Änderungen des sozialen Verhaltens, d.h. „die Annahme der städtischen Kulturwerte" - die von Lindauer als Urbanisierung (oder Urbanisation i.e.S.) gekennzeichnet wurde - , die sog. demographische Stabilisierung in den Städten (Ausgleich der Altersund Geschlechtsquoten, Seßhaftwerdung der Neuzuwanderer in den Städten) und die sog. Detribalisierung (eine spezifische Form der Urbanisation in Entwicklungsländern) (ebd. S. 9-11). Den Begriff Verstädterung bezog Lindauer demgegenüber auf die Ausbreitung der „städtischen Ideen und Verhaltensweisen von den Städten her zu den ländlichen Gebieten hin" (S. 11). Dieser geographische Innovationsprozeß ist für ihn das räumliche Gegenstück zum Vorgang der Urbanisierung (in der o.g. Definition). Nach Walter Gerling ist der Begriff Verstädterung umfassender als Urbanisierung. Gerling führte zudem den Terminus Vergroßstädterung (der bereits 1972 von Detlef Herold im Sinne eines wachsenden Anteils der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Gebietes benutzt worden war) zur Kennzeichnung des Vorganges der Urbanisierung höheren Grades und der eigentlichen Verstädterung ein, verzichtete jedoch auf genauere Definitionen der drei Begriffe (ebd., S. 92,96,98) 7 .
7 Vgl. dazu die Kritik von R. PAESLER, 1976, S. 3-4.
Geographische Aspekte der Urbanisierung
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Der Geograph Wilfried Heller hat 1973 zu den Begriffsbildungen (vor allem bei Lindauer) Stellung bezogen und die Verwendung der drei semantisch gleichen Termini Urbanisation, Urbanisierung und Verstädterung mit unterschiedlichen Inhalten als verwirrend bezeichnet. Er schlug vor, Urbanisierung und Verstädterung - in Anlehnung an die sozialwissenschaftliche Literatur - synonym zu benutzen. Reinhard Paesler hat in seiner sozialgeographischen Urbanisierungsstudie (1976) mit Recht die Einengung der Begriffe auf Vorgänge am Rande der Großstädte und die z.T. willkürlichen Begriffsdefinitionen durch Lindauer kritisiert (ebd., S. 3). Letzteres betrifft insbesondere den ursprünglich aus der Demographie stammenden Terminus Verstädterung, worunter interdisziplinär zumeist der steigende Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung eines Gebietes, Landes oder Staates bezeichnet wird. Ausgehend von der Betrachtung der historischen Entwicklung des StadtLand-Verhältnisses und der jüngeren Veränderungen der Stadt-Land-Beziehungen bemühte sich Paesler selbst - und zwar in Anlehnung an Karl Ruppert und Franz Schaffer (1973) - um klare Begriffsfassungen vor allem von Urbanität und Urbanisierung. Er definierte zunächst Urbanität im sozialgeographischen Sinne als einen „integrierten Ausdruck der Gesamtheit aller Faktoren, die städtische Verhaltens-, Lebens- und Wirtschaftsweisen, also städtisches Wesen ausmachen" (S. 13). Diese Definition beinhaltet nach Paesler „sowohl den historischen Urbanitätsbegriff als auch die in unserer Zeit aufgetretenen Erweiterungen, die den Gehalt des Begriffs nicht nur auf dem kulturellen und Bildungssektor, sondern verstärkt auch im Bereich von Verhaltensweisen und Lebensformen sehen" (S. 13). Paesler bezeichnet mit Urbanisierung den „Prozeß der Diffusion der Urbanität", wobei der Urbanisierungsprozeß nicht unbedingt - wie die Verstädterung - mit der räumlichen oder bevölkerungsmäßigen Vergrößerung von Städten verbunden sein muß, sondern Urbanisierung allgemeiner als „ein sozialgeographischer Prozeß der Beeinflußung oder Veränderung von Strukturen der Siedlungslandschaft" (S. 22) verstanden wird, und zwar in dem Sinne, als „durch den Einfluß einer bestimmten Stadt und allgemein durch die von den Städten und Urbanen Siedlungen diffundierenden Einflüsse und Entwicklungen andere Siedlungen an Urbanität gewinnen" (S. 22-23)8. Mit der Beschränkung auf die „Beeinflussungen oder Veränderungen von S t r u k t u r e n der Siedlungslandschaft" nimmt Paesler jedoch scheinbar eine unnötige Einengung des Urbanisierungsbegriffes vor. Berücksichtigt man jedoch die oben zitierte Definition von Urbanität, so deckt der Paesler'sche Urbanisierungsbegriff aber
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Die Begriffsdefinitionen von REINHARD PAESLER basieren u.a. auf der Diskussion zum Wesen der Stadt in der deutschsprachigen geographischen Literatur. PAESLER verweist z.B. auf die Bewertungen japanischer Städte als „Mobilitätszentren der Gesellschaft, Anreger und Vermittler neuer Ideen, Werte und Lebensformen" und „Wegbereiter des Kulturwandels" durch PETER SCHÖLLER (1965) oder auf die Charakterisierung orientalischer Städte als „Ausgangspunkte von Innovationen" oder als „passive Durchgangsstation einer Innovationsweitergabe" ( E U G E N WIRTH 1968, 1969) im Sinne der Verwestlichung eines traditionellen Raumes. WIRTH hat in seinen wichtigen zusammenfassenden Beiträgen zum Städtewesen im orientalischislamischen Raum u.a. auch auf die ganz ähnlichen Forschungsergebnisse der deutschen Volkskunde hingewiesen (vgl. PAESLER, 1976, S . 14-15; die Aufsätze von P . SCHÖLLER und E. WIRTH sind im Literaturverzeichnis dieses Einführungsbeitrags unter 3. 7. aufgeführt).
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auch den Aspekt der Urbanisierung ab, den der Soziologe Albert Kaufmann (1974) mit soziokultureller Urbanisierung 9 bezeichnete. Wilfried Heller (1979) definierte Urbanisierung - ähnlich wie Ruppert und Schaffer (1973) und Paesler (1976) - als „Hinführung der Bevölkerung zur Urbanität und weitere Entwicklung der Urbanität" und stellte dabei heraus, daß Urbanität ein soziales bzw. gesellschaftliches Phänomen sei (S. 18) 10 . In Anlehnung an den Soziologen Lars Clausen (1970) hat Heller zugleich darauf verwiesen, daß Urbanisierung auch von negativen Erscheinungen begleitet sein kann, die in bestimmten Zeiten und Räumen stärker als die Urbanen Elemente hervortreten können, z.B. Agglomerationsnachteile wie Luftverschmutzung und hohe Mietkosten, eine zu starke industrielle Konzentration, zu hohe Zuwanderungsraten in städtischen Agglomerationen, aber auch die Bevölkerungsentleerung peripherer Gebiete, sterile „Wohnprovinzen" an Stadträndern oder die „Zersiedlung" der Landschaft. Eine sinkende Urbanität wurde von Clausen als Desurbanisierung bezeichnet. Nach Clausen zeigt sich, daß „Urbanisierung als Prozeß" nie ohne „Desurbanisierung als Prozeß" betrachtet werden darf! „Eine erfolgreich entstandene Urbanität kann auch wieder verlorengehen" (ebd., S. 157) Die sozialgeographischen und soziologischen Urbanisierungskonzepte unterscheiden sich jedoch von den eingeschränkteren Begriffsdefinitionen in der neueren städtebaulichen Literatur oder auch der Architekturgeschichte, in der mit Urbanisierung oftmals lediglich „eine Umstrukturierung und Erneuerung bestehender Städte" gemeint ist (A. Kaufmann, 1974, S. 276). Nicht diskutiert bzw. in die Begriffsdefinitionen mit einbezogen wurden von Paesler (1976) und anderen Geographen allerdings die Bedeutung und Inhalte zweier wichtiger neuerer Termini aus der Urbanisierungsforschung des angloamerikanischen Raumes, nämlich suburbanization und counterurbanization. Der erstgenannte Begriff wird in der deutschen sozialwissenschaftlichen Literatur einschließlich der Geographie wohl allgemein als Suburbanisierung übersetzt, während für den zweitgenannten m.W. eine adäquate deutsche Bezeichnung noch fehlt. Suburbanisierung wurde von dem Soziologen Jürgen Friedrichs und dem Geographen Hans-Gottfried v. Rohr in dem 1975 veröffentlichten Sammelband Beiträge zum Problem der Suburbanisierung als „intraregionaler Dekonzentrationsprozeß bezogen auf Bevölkerung, Beschäftigte oder auch Flächennutzungskategorien" definiert (ebd., S. 30). Der Suburbanisierungsprozeß, der nach Friedrichs (1977, S. 168, s. unter 3.3. im Literaturverzeichnis) die gegenwärtige Phase der Expansion der Städte in hochindustrialisierten Län9
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Gemeint sind damit „die Ausbreitung oder Diffusion städtischer Charakteristika, Lebensgewohnheiten oder Verhaltensweisen auf nicht-städtische Gebiete bzw. die Ü b e r n a h m e dieser städtischen Kultur- und Lebensformen durch die Bevölkerung in nichtstädtischen Siedlungsformen" (A. KAUFMANN, 1 9 7 4 , S. 2 7 6 ) . Angemerkt sei, daß diesbezüglich zahlreiche Beziehungen zu den Ergebnissen der Arbeitstagung „Kulturelle Stadt-Land-Beziehungen" dieses Sonderforschungsbereiches 164 Vergleichende geschichtliche Städteforschung hergestellt werden könnten (vgl. den von G Ü N T E R WIEGELMANN 1 9 7 8 herausgegebenen Tagungsband; siehe unter 3. 5. im Literaturverzeichnis). HELLER betonte jedoch ausdrücklich, daß er - im Gegensatz zu der Auffassung von RUPPERT, SCHAFFER und PAESLER, die den Urbanitätsbegriff „deskriptiv-neutral" fassen - unter „Urbanität die positive Seite und das anzustrebende mögliche Ziel gesellschaftlicher Entwicklung im allgemeinen und (humanitärer) Stadtentwicklung im besonderen" versteht (ebd., S. 19) In diesem Sinne ist „Urbanität" für HELLER ein normativer Begriff.
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dern bezeichnet, steht im Zusammenhang mit Entleerungserscheinungen in den Kernräumen städtischer Agglomerationen und läßt sich in einzelne Teilprozesse zergliedern: Bevölkerungssuburbanisierung, Industriesuburbanisierung und tertiäre oder quartäre Suburbanisierung (letztere umfaßt die Bürostandortdekonzentration). Es sind jedoch noch weitergehende inhaltliche bzw. begriffliche Differenzierungen des Suburbanisierungsprozesses möglich, wie J. G. Borchert und J. A. van Ginkel (1979) bzw. J. G. Borchert (1980) am Beispiel der Randstad Holland aufgezeigt haben (vgl. auch das Tagungsreferat von J. G. Borchert in diesem Band.) Der Soziologe Bernhard Schäfers (1975) charakterisierte in dem Sammelband Beiträge zum Problem der Suburbanisierung die Entwicklung und Ausdehnung des suburbanen Raumes als „neues Muster des Verstädterungsprozesses", als „funktionsspezifische Verstädterung" bzw. als eine von den Stadtkernen und Ballungszentren ausgehende sekundäre Verstädterung, die sich klar von den Stadtgründungen und Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Aus der Sicht der Soziologie trägt sie „eher zu einer Entdifferenzierung gegenwärtig vorherrschender Schichtunterschiede, Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten" bei, als daß sie einen „neuen, eigenständigen Siedlungstyp mit ausgeprägten Verhaltensmustern begründet" (ebd., S. 94). Der jüngere Suburbanisierungsprozeß in den entwickelten Industrienationen ist nach Bernhard Schäfers (1977) eine wichtige Komponente der sogenannten tertiären Verstädterung, die - als Fortsetzung der sogenanrtten industriellen Verstädterung - insbesondere durch die zunehmende Bedeutung des tertiären Sektors und damit der öffentlichen und privaten Dienstleistungen für das Wachstum der Städte und ihre sozialräumliche (Um-)Strukturierung gekennzeichnet ist (vgl. dazu auch Rainer Mackensen 1974). Mit der bereits genannten geographischen Arbeit von Tönnies (1979) wurde m.W. ein erster Versuch einer großräumigen Überprüfung des Suburbanisierungskonzeptes mit Hilfe amtlicher statistischer Daten für deutsche Stadtregionen vorgenommen. Nach Tönnies kann für das nordwestdeutsche Untersuchungsgebiet erst ab 1961 von einer Suburbanisierungsphase gesprochen werden. Traute Neubauer legte im gleichen Jahr für das am Ballungsrand des Rhein-Neckar-Raumes gelegene Verstädterungsgebiet der Nördlichen Badischen Bergstraße eine Studie zum jüngeren Suburbanisierungsprozeß vor, in der die komplexen Zusammenhänge zwischen Bevölkerungszuwachs, Sozialstruktur, Mobilität, innerörtlicher Differenzierung und Segregation, Entwicklung der Infrastruktur, Bebauungstypen, Veränderung der Bodennutzung etc. herausgearbeitet wurden. Am Beispiel zweier in der Stadtregion Karlsruhe gelegener Gemeinden untersuchte Bernd Eigenmann (1980) wichtige Merkmale der Suburbanisierung und deren jüngere Wandlungen, wobei sich der Verf. an die Begriffsbestimmungen von J. Friedrichs (Suburbanisierung) und R. Paesler (Urbanisierung) anlehnte. Erst im Jahre 1980 wurde im westlichen Deutschland von Reinhold Koch der Begriff der counterurbanization aufgegriffen und diskutiert, mit dem der Geograph Brian J. L. Berry (1976)11 den seit ca. 1970 in den USA großräumig 11
Vgl. den im Literaturverzeichnis unter 1. aufgeführten Reader.
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ablaufenden Prozeß der Bevölkerungsdekonzentration 12 beschrieben hat. Weiterhin sei angedeutet, daß man mit Urbanisierung - in Anlehnung an die volkswirtschaftliche Studie von Ulrich Peter Ritter (1972) - übergreifend auch die fundamentale Umstrukturierung von Siedlungssystemen im Laufe von bestimmten Entwicklungsprozessen, von der alle Elemente dieses Systems betroffen sind, bezeichnen kann. In diesem weitgefaßtem Sinne wird der Urbanisierungsbegriff in den Tagungsreferaten von Hans-Heinrich Blotevogel und Norbert de Lange verstanden. Betrachtet man die Verstädterung bzw. Urbanisierung als weltweites Phänomen, so lassen sich - wie bereits von Lindauer (1970) angedeutet - noch zusätzliche Aspekte der Verstädterung nennen, die vor allem für die Länder der Dritten Welt charakteristisch sind, in denen sich seit ca. drei Jahrzehnten ein Verstädterungs- bzw. Städtewachstumsprozeß größten Ausmaßes (vor allem bezogen auf die jeweils führenden Städte, die sog. primate cities) ereignet. Dies sind nach Fred Scholz (1979) neben der von Lindauer genannten Detribalisierung (d.h. der allmählichen „Loslösung der in die Stadt abgewanderten Gruppen von den sozialen und wirtschaftlichen Bindungen an das Herkunftsgebiet und die dort verbliebene Primärgruppe") die sog. Verdörflichung der Städte (d.h. „Vordringen ländlicher Wirtschafts-, Siedlungsund Wohnweise sowie Ausbreitung ländlicher Verhaltensweisen und Sozialorganisation in den Städten") und die sog. Überverstädterung (d.h. „überproportionales Wachstum der Stadtbevölkerung im Verhältnis zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand des Landes") (ebd., S. 345). Elisabeth Golz (1979) schlug bezüglich der Länder der Dritten Welt eine klare Trennung der Begriffe Verstädterung und Urbanisierung vor, da nach ihrer Auffassung der Begriff „Urbanisierung vor allem die Übernahme städtischer Lebens- und Verhaltensformen" zum Inhalt hat, jedoch „in den besonders von der Verstädterung betroffenen Gebieten die Zuwanderer kein urbanes Leben führen, sondern in jeder Hinsicht als Randgruppen existieren und sehr oft auch in den Elendssiedlungen ihre agrarisch fundierte Lebensweise beibehalten haben" (ebd., S. 18). Eine andere Möglichkeit einer (stärker systematisierten) Darstellung der Forschungsansätze und -probleme der geographischen Urbanisierungsforschung besteht darin, daß man versucht, die bisherigen geographischen Arbeiten zur Verstädterung, Urbanisierung, Suburbanisierung etc. einzelnen Hauptforschungsrichtungen der geographischen Stadtforschung zuzuordnen, von denen einige als „klassisch" zu bezeichnen sind (3. 1. und 3. 2.), andere jedoch jüngere, z.T. noch wenig ausgebaute Ansätze (vor allem 3. 6.) darstellen.
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D.h. es wachsen in den USA die metropolitanen Regionen weniger schnell als die Nation als Ganzes, vor allem bedingt durch selektive Wanderungsprozesse, von denen die nichtmetropolitanen Regionen profitieren (B.J.L. BERRY, 1976, S. 21).
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3. F o r s c h u n g s a n s ä t z e u n d F o r s c h u n g s r i c h t u n g e n in d e r westdeutschen geographischen Urbanisierungsf o r s c h u n g und Probleme der O p e r a t i o n a l i s i e r u n g 3.1. Statistisch-demographischer Ansatz Der statistisch-demographische Ansatz stellt eine der frühen und ertragreichen Forschungsrichtungen dar. Als stellvertretend sei zunächst die Arbeit von Heinz Günter Steinberg über die Bevölkerungsentwicklung der Städte in den beiden Teilen Deutschlands vor und nach dem 2. Weltkrieg aus dem Jahre 1974 genannt, in der aufgrund einer umfassenden Analyse von Bevölkerungsdaten für Gemeindegrößengruppen bzw. für Stadt- und Landkreise u.a. bestimmte Verstädterungsphasen herausgearbeitet wurden. Ein anderes Beispiel ist die Untersuchung der Verstädterung im zwischenstädtischen Raum zwischen den Kernstädten Hannover und Hildesheim von Ulrich Ante (1975). Als Indikator der Verstädterung bzw. verschiedener Verstädterungsphasen diente die Bevölkerung, deren Dichte und Verteilung, natürliche Entwicklung und räumliche Mobilität mit Hilfe unterschiedlicher Maßzahlen vor allem für den Zeitraum 1950-1970 analysiert wurden. Da für fast alle Staaten der Erde Daten für die Berechnung der Anteile der Stadtbevölkerung an der jeweiligen Gesamtbevölkerung zur Ermittlung von Verstädterungsquoten (auch Verstädterungsgrad genannt) oder Verstädterungsraten (Zuwachs der jeweiligen Anteile) zur Verfügung stehen, lassen sich auch bestimmte Aussagen über den großräumigen Zustand oder Prozeß der Verstädterung machen. Das Problematische dieses Ansatzes besteht jedoch wohl generell darin, daß die Erfassung und räumlichen Vergleiche derartiger Verstädterungsprozesse bekanntlich stark von den Abgrenzungskriterien für städtische und ländliche Gemeinden '3 bzw. für die Stadtbevölkerung und Landbevölkerung (vgl. W. Kuls 1980, S. 86ff.) abhängig sind. Auf die statistischen Kategorien bzw. Spannweiten und Probleme der Vergleichbarkeit von Stadtdefinitionen in verschiedenen Ländern der Erde geht insbesondere das Tagungsreferat von Peter Schöller ein. Die Problematik des Paradigmas des Stadt-Land-Gegensatzes verdeutlicht auch Hans-Dieter Laux in der Einleitung seines Referates über Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses am Beispiel deutscher Städtetypen, das zwar dem statistisch-demographischen Ansatz zuzuordnen ist, allerdings
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Vgl. dazu auch die Aussagen von A. KAUFMANN, 1974, S. 275-276 (s. unter 2. im Literaturverzeichnis). J. MAIER, R. PAESLER, K . RUPPERT und F. SCHAFFER, 1977, S . 101-102 (s. unter 3. 3. im Literaturverzeichnis), weisen darauf hin, daß der Begriff „Verstädterung" nur unter der Vorausstetzung einer „Stadt-Land-Dichotomie" anwendbar sei. „Ein derart scharfer Gegensatz zwischen Stadt und Land ist in unserem Raum jedoch ein Kennzeichen der vor- und frühindustriellen Zeit und besteht heute nur noch in gering entwickelten Gebieten, die in agrargesellschaftlichen Strukturen verharren. Bei diesem - auch in unserem Raum früher herrschenden - Stadt-Land-Gegensatz stehen sich die beiden Siedlungsformen nach Physiognomie, Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur und Funktionen, nach der ganzen Lebensund Wirtschaftsweise der Bevölkerung und nicht zuletzt nach juristischem Status relativ scharf getrennt gegenüber" (ebd., S. 101-102).
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keine Stadt-Land-Differenzierungen, sondern Unterschiede des generativen Verhaltens innerhalb eines Städtesystems als Phänomen der Verstädterung historisch-geographisch herausarbeitet. 3.2. Siedlungsmorphogenetischer Ansatz Der traditionsreiche siedlungsmorphogenetische Ansatz im Rahmen der Stadtgeographie fand seit der Zwischenkriegszeit bis in die 60er Jahre hinein vor allem in einer größeren Zahl stadtgeographischer Monographien Berücksichtigung. Als Beispiel sei die vorbildliche historisch-geographische Stadtmonographie von Helmut Friedmann (1968) über Alt-Mannheim erwähnt. Dieser Forschungsansatz ist jedoch im letzten Jahrzehnt leider erheblich vernachlässigt und hinsichtlich des modernen Urbanisierungskonzeptes wenig weiterentwickelt worden. So wurde auch der von Peter Schöller in seiner Gesamtdarstellung der deutschen Städte aus dem Jahre 1967 dargelegte Versuch der Kennzeichnung bzw. Abgrenzung regionaler Städtegruppen nach den Merkmalen der Städtebautraditionen und deren räumlichen Ausbreitungsbzw. Diffusionstendenzen m.W. in Deutschland leider nicht fortgeführt bzw. vertieft. Schöller hat 1974 zu Recht die Notwendigkeit einer „kultur- und systemvergleichenden Geographie des Städtebaus" herausgestellt, die - unter Berücksichtigung der Sozialpsychologie und Architekturforschung - Wahrnehmung, Bewertung und Verhalten einbeziehen sowie formale, genetische und funktionale Aspekte miteinander verbinden sollte (ebd., S. 433). Als eine der neueren geographischen Urbanisierungsstudien, mit der die physiognomischen wie - die damit verbundenen - funktionellen Veränderungen eines größeren Siedlungsraumes untersucht wurden, sei die Arbeit von Gerhard Gömann über den Raum Kassel (1978) genannt. In dieser Studie kommen jedoch noch wesentliche Aspekte der modernen Stadtgestaltforschung zu kurz. Wie jedoch z.B. die Ergebnisse eines im Jahre 1979 von dem Geographen Hellmut Schroeder-Lanz in Trier geleiteten interdisziplinären deutsch-kanadischen Kolloqiums zur Stadtgestaltforschung 14 zeigen, gewinnt die Untersuchung von Stadtgestaltmerkmalen - z.T. beeinflußt durch den neueren Forschungsansatz der Stadtbildwahrnehmung (oder allgemeiner: durch den Perzeptionsansatz), aber auch durch die Anforderungen der Planungspraxis im Rahmen der Stadterhaltung und Stadterneuerung bzw. des Denkmalschutzes und der zunehmend wichtiger werdenden Stadtimagepflege - in der geographischen Stadtforschung in jüngerer Zeit wieder an Bedeutung. Beispielsweise fand die Stadtmorphologie seit etwa der Mitte der 70er Jahre besondere Berücksichtigung in einigen speziellen geographischen Arbeiten, die als sog. vorbereitende Untersuchungen zur Stadterneuerung bzw. Stadtsanierung entstanden sind (z.B. Walter R. Heinz u.a., 1975). Den in der jüngeren geographischen Forschung zu stark vernachlässigten Beziehungen zwischen Verstädterung und Stadtgestalt sollte auf dieser Tagung ursprünglich ein eigenes Referat von Elisabeth Lichtenberger gewidmet sein 15. 14
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Die Vorträge des vom 14.-17.6.1979 in der nadischen Kolloquiums Stadtgestalt-Forschung Trierer Geographischen Studien veröffentlicht Das Referat von E L I S A B E T H L I C H T E N B E R G E R Tagung abgesagt.
Universität Trier durchgeführten deutsch-kasollen im Jahre 1982 als Sonderband 45 der werden. wurde leider krankheitsbedingt kurz vor der
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Jedoch wird der siedlungsmorphologische bzw. -morphogenetische Ansatz in mehreren Referaten aus Nachbarwissenschaften Berücksichtigung finden. 3.3. Sozialgeographische Stadtforschung Der angedeutete relative Bedeutungsschwund siedlungsmorphologischen Arbeitens in der deutschen Stadtgeographie ist zu einem nicht unerheblichen Teil durch die seit Ende der 60er Jahre von der sog. Münchner Schule forcierte sozialgeographische Arbeitsrichtung bedingt, die insbesondere auch für die geographische Urbanisierungsforschung fruchtbar wurde. Die Münchner Sozialgeographen konzentrierten sich vor allem auf die Erforschung sozialgeographischer Prozesse innerhalb der verschiedenen Grunddaseinsfunktionen menschlichen Lebens, vor allem des Wohnens, des Freizeit- und Bildungsverhaltens, sowie auf andere Mobilitätsprozesse in Deutschland, insbesondere in Bayern 16. Begonnen hatte diese Prozeßanalyse mit den Arbeiten Franz Schaffers (1967-1969) zur innerstädtischen Mobilität und deren Beziehungen zur räumlichen Verteilung, zum Bedürfniszyklus bzw. zur städtischen Lebensform bestimmter Sozialgruppen. Zu dem Problemkreis städtischer Lebensformen wurde allerdings bereits 1967 die von Peter Schöller angeregte und betreute Dissertation von Hans Jürgen Buchholz mit stadtgeographischen Beispielen aus dem Ruhrgebiet abgeschlossen (und 1970 veröffentlicht). Beeinflußt von dem prozeßhaften sozialgeographischen Ansatz Franz Schaffers war die Untersuchung des Verstädterungs- bzw. Suburbanisierungsprozesses im großstädtischen Umland Hamburgs am Beispiel der Stadt Reinbek seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Dieter Jaschke (1973), in der u.a. auch gruppenspezifische Einflüsse auf die Siedlungmorphologie 17 herausgearbeitet und damit eine Beziehung zwischen den siedlungsmorphogenetischen und sozialgeographischen Arbeitsrichtungen hergestellt wurden (vgl. auch Dieter Jaschke 1974,1977). Eine erste größere zusammenfassende Darstellung wichtiger sozialgeographischer Aspekte und Ergebnisse empirischer Untersuchungen der Münchner Schule über urbanisierte Lebensformen im süddeutschen Raum, darunter auch der Versuch einer sog. Gemeindetypisierung urbanisierter Lebensformen, wurde 1973 von Karl Ruppert und Franz Schaffer veröffentlicht. In dieser Arbeit wurden Urbanisierung als Prozeß der Ausbreitung städtischer Lebensformen und Urbanität als Zustand hoher Intensität städtischer Lebensformen bezeichnet (ebd., S. 22). Dieser Ansatz zur sozialgeographischen Urbanisierungsforschung wurde von Reinhard Paesler in seiner bereits genannten Studie über südbayerische Regionen aus dem Jahre 1976 weitergeführt, in der das sozialgeographische Forschungskonzept hinsichtlich einer Gemeindetypisierung weiter differenziert werden konnte. Diese Arbeit verdeutlicht jedoch auch die Operationalisierungsprobleme dieses Ansatzes, die vor allem durch die 16
Vgl. den jüngeren kritischen Forschungsbericht von ECKART THOMALE, 1 9 7 8 , und die Zusammenfassung der empirisch gewonnenen Ergebnisse in der Lehrbuchdarstellung von JÖRG
17
D.h. Berücksichtigung der Physiognomie der Gebäude und Parzellen als Indikator des Raumverhaltens sozialer Gruppen.
M A I E R , R E I N H A R D PAESLER, K A R L RUPPERT u n d F R A N Z SCHAFFER, 1 9 7 7 .
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erheblichen Restriktionen der amtlichen Statistik bedingt sind. Ausgehend von der in der deutschen Sozialgeographie seit Mitte der 50er Jahre entwickelten Indikatormethode versuchte Paesler, im Bereich jeder Daseinsgrundfunktion aussagekräftige Indikatoren des Urbanisierungprozesses bzw. einzelner Komponenten dieses Prozesses (sog. Urbanisierungsprozeßkomponenten) zu finden, für die auch amtliche statistische Daten zur Verfügung stehen. So wählte er etwa als Indikatoren einer sog. demographischen Komponente den Anteil der Jugendlichen, die Haushaltsgröße und den Anteil der Einpersonenhaushalte. Auf einzelne Probleme der weiteren Operationalisierung dieses Ansatzes im Hinblick auf eine sozialgeographische Gemeindetypisierung kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Angemerkt sei nur, daß Paesler auf den Einsatz komplexer faktorenanalytischer Verfahren bewußt verzichtete und lediglich für die zahlreichen Einzelindikatoren aller Urbanisierungsprozeßkomponenten Werteziffern pro Gemeinde und Untersuchungszeitpunkt (aufgrund der Zählungen von 1939, 1950, 1961 und 1970/71) berechnete und mit Hilfe dieser Analyse den jeweiligen Urbanisierungstyp einer Gemeinde bestimmte. Trotz des nicht unproblematischen methodischen Vorgehens konnte Paesler in seinem südbayerischen Untersuchungsgebiet gut voneinander unterscheidbare Raumkategorien abgrenzen: 1. Monozentrische Stadtregionen mit stark entwickelter Urbanität in der Kernstadt und ihren Randgebieten und mit einem Intensitätsabfall nach außen (dazu gehören die Stadtregionen München, Augsburg und Ulm), 2. stark überdurchschnittlich urbanisierte Gemeinden (im Bereich des Alpenraumes und Alpenvorlandes) und 3. ein rurales Gebiet außerhalb dieser beiden Raumkategorien mit flächenhafter Verbreitung von Gemeinden stark unterdurchschnittlicher Urbanisierung. Die sozialgeographische Gemeindetypisierung diente in der Studie von Elke Tharun (1975) über die Planungsregion Untermain (die Stadt Frankfurt und ihr ihr nördliches und östliches Umland umfassend) dazu, die Entwicklung und Struktur einer sogenannten „Verstädterungsregion" zu erklären. Der Begriff Verstädterungsregion wurde von der Autorin neu definiert, und zwar als ein „Verflechtungsraum sozio-ökonomischer und kultureller Beziehungen", (der) somit die Weiterentwicklung der Stadt, das aktuelle Stadium der Stadtenwicklung (kennzeichnet) (ebd., S. 40). In der Studie von Hans Dieter May (1977) über den jüngeren Verstädterungs- und Industrialisierungsprozeß im westlichen Untermaingebiet, dessen Impulse vor allem von Frankfurt ausgehen, wurde eine Gemeindetypisierung mit Hilfe sog. Typogramme erarbeitet, die wichtige Komponenten der Verstädterung (u.a. demographische Merkmale, Anteile der Erwerbstätigen, Beschäftigten und Berufspendler, Wanderungen) mit ihren jeweiligen unter- bzw. überdurchschnittlichen Werten gut verdeutlichen. Die Verstädterung - von May als „Angleichung an städtische Wirtschafts- und Lebensformen" verstanden - äußert sich im rhein-mainischen Kernraum auch physiognomisch besonders klar in den Wandlungen des Siedlungsbildes (Wohnsiedlungen, Gewerbestandorte). Peter Jurczek (1980/81) stellte am Beispiel des an der Peripherie der Kernstadt Frankfurt gelegenen Ortsteils Bergen-Enkheim mit Hilfe wichtiger Sozialindikatoren (Bevölkerung, Wohngebäude und Bevölkerunsbewegung) sowie mittels einer Analyse des Wohnverhaltens Differenzierungen der Urbanisierungs- bzw. Suburbanisierungserscheinungen innerhalb eines großstädtischen Verdichtungsraumes heraus.
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Eine großräumige Untersuchung sozialgeographisch relevanter Merkmale der Urbanisierung (vor allem Bevölkerungsentwicklung, Änderungen der Altersstruktur, interregionale Mobilität, Wandel der Beschäftigungsstruktur sowie Wohnungsbau, Entwicklung von Zweitwohnsitzen und Verbreitung des Telephons als Indikatoren des Lebensstandards) wurde von Jürgen Klasen (1971/72) am Beispiel von Frankreich veröffentlicht. Im Rahmen der geographischen Stadtforschung wurden seit Mitte der 60er Jahre auch eine Reihe von Untersuchungen zur sozialräumlichen Gliederung einzelner Städte durchgeführt, die zunächst bestimmte Indikatoren (wie etwa des Wahlverhaltens in der Studie von Karl Ganser über München 1966) oder eine Anzahl bevölkerungs- und sozialstatistischer Merkmale (wie in den Arbeiten von Alois Mayr über Ahlen oder Peter Braun über Hamburg, 1968) berücksichtigten. Erst seit Mitte der 70er Jahre fand die faktorialökologische Richtung der Sozialökologie angloamerikanischer Prägung Eingang in die sozialräumliche Analyse im Rahmen der deutschen Stadtgeographie 18. Diese wurde in starkem Maße auch von der jüngeren deutschen Siedlungssoziologie aufgegriffen und weitergeführt 19 . Der sozial- bzw. faktorialökologischen Forschungrichtung ist auch das geographische Tagungsreferat von Heinrich Johannes Schwippe zuzuordnen, das am Beispiel Berlins die Entwicklung sozialräumlicher und funktionaler Differenzierungen als Urbanisierungsphänomen historisch-geographisch analysiert. Der aus dem Forschungsteilprojekt Wandlungen der Landnutzungsmuster im Industrialisierungsprozeß dieses Sonderforschungsbereiches 164 resultierende Beitrag von H. J. Schwippe ist innerhalb der westdeutschen Geographie m.W. der erste Versuch der Erfassung derartiger innerstädtischer Veränderungen im 19. Jahrhundert mit Hilfe multivariater quantitativer Verfahren. Von Bedeutung für die räumlich unterschiedlichen Stadtentwicklungs- bzw. Verstädterungsprozesse sind insbesondere die Interdependenzen und Auswirkungen von Bauordnungen, Bodenpreisen, Grundstücksmobilität, Kapitalmarktverhältnissen und Wohnbautätigkeit, die in dem Tagungsreferat von Hans Böhm historisch-geographisch für Städte bzw. als Grundlagen von Stadterweiterungen im Deutschen Reich dargestellt werden. Die Ausführungen basieren auf umfassenden eigenen Untersuchungen (vgl. H. Böhm, 1980). Ein weiterer wesentlicher, bislang ebenfalls noch stark vernachlässigter Aspekt sozialgeographischer Stadt- bzw. Urbanisierungsforschung wird in dem Referat von Jacob Spelt über Metropolitan Toronto angesprochen: Konfliktsituationen, die zwischen verschiedenen politischen Entscheidungsträgern (Verwaltungsebenen), der Privatwirtschaft und Bürgergruppen (Bürgerinitiativen) entstehen, mit ihren Auswirkungen auf differenzierte (inner)städtische Entwicklungsprozesse. 3.4. Funktionale Stadtgeographie Einen besonderen Forschungsschwerpunkt bildeten seit Ende der 60er Jahre 18
Vgl. etwa die Arbeiten von M A N F R E D MISCHKE, 1 9 7 6 , und RÜDIGER KRETH, 1 9 7 7 , vor allem jedoch die am Beispiel von Düsseldorf für die Zensusjahre 1961 und 1970 durchgeführte faktorialökologische Längsschnittanalyse von JOHN V . O ' L O U G H L I N und G Ü N T H E R GLEBE, 1 9 8 0 . 19 Vgl. insbesondere JÜRGEN FRIEDRICHS, 1 9 7 7 , B E R N D HAMM, 1 9 7 7 , 1 9 7 9 , und MICHAEL M A N H A R T , 1977.
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auch die speziellen Arbeiten der funktionalen Stadtgeographie 20, die sich u.a. mit den differenzierten Ausstattungen und dem Vergleich innerstädtischer Zentren und in jüngster Zeit auch mit der raum-zeitlichen Diffusion neuer Angebotsformen des Einzelhandels in Gestalt von Shopping-Centern, Verbrauchermärkten u.ä. neuen großflächigen Betriebstypen sowie mit der Entwicklung peripherer Bürostandortkonzentrationen 21 beschäftigt haben. Diese zuletzt genannten Standortentwicklungen im tertiären und quartären Sektor bilden ein besonderes Merkmal des modernen Urbanisierung- bzw. Suburbanisierungsprozesses. Bezüglich der zu dem Problemkreis der neuen Einkaufszentren entwickelten Forschungsansätze und im vergangenen Jahrzehnt erschienenen Literatur sei auf den von mir in diesem Jahre herausgegebenen Sammelband über Einkaufszentren in Deutschland verwiesen, der u.a. einen zusammenfassenden Beitrag von Alois Mayr sowie eine annotierte Bibliographie von Bernhard Butzin, Heinz Heineberg, Alois Mayr und Mitarbeitern mit den wichtigsten neueren Arbeiten über städtische Geschäfts- und (neue) Einkaufszentren enthält. Diese Bibliographie verdeutlicht auch, daß in der westdeutschen Geographie noch weitgehend historisch-geographiche und vergleichende Untersuchungen fehlen, die Funktionsveränderungen innerstädtischer Geschäftsstraßen oder ganzer Citygebiete zum Forschungsgegenstand haben. Detaillierte geographische Analysen des City-Funktionswandels in deutschen Städten seit Beginn des Citybildungsprozesses im 19. Jahrhundert eine Entwicklung, die auch als Erscheinungsform des Urbanisierungsprozesses zu bewerten ist - liegen vor allem für (allerdings nur wenige) einzelne Hauptgeschäftsstraßen vor 22. Untersuchungen ganzer Citygebiete, wie sie von Elisabeth Lichtenberger (1972, 1977) am Beispiel der Stadt Wien veröffentlicht wurden, wurden in deutschen Städten in dieser historisch-genetisch vertieften Form nur ansatzweise durchgeführt. Zu den wenigen Citystudien, die auch die Genese der funktionsräumlichen Differenzierung der Innenstadtgebiete mitberücksichtigen, zählen in Deutschland die Arbeiten von Irmtraud-Dietlinde Wolcke über Bochum (1968) sowie die Untersuchungen von Heinz Heineberg 23 (1977,1979) über den West-Ost-Zentrenvergleich am Beispiel Berlins. 20
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Die Bezeichnung funktionale bzw. funktionelle Stadtgeographie für eine Forschungsrichtung, die (seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts) die funktionalen Raumeinheiten innerhalb städtischer Siedlungen als funktionale Stadtviertel untersucht (vgl. PETER SCHÖLLER, 1 9 5 3 , S . 166) ist heute nicht mehr eindeutig, da in der Nachkriegszeit in immer stärkerem Maße funktionale Raumeinheiten in Form von Beziehungsfeldern (im Sinne der heutigen Zentralitätsforschung, s. unter 3. 5.) oder in jüngerer Zeit auch räumliche Ausbreitungstendenzen spezieller städtischer Funktionen (wie Shopping-Center-Entwicklung, Bürostandortdekonzentration) Forschungsgegenstände darstellten. Auch bestehen Überschneidungen mit einer (ebenfalls nicht klar umrissenen) Geographie des tertiären (und quartären) Sektors. Vgl. diesbezüglich die neue Studie von PETER D A C H , 1 9 8 0 . Vgl. u.a. die klassische Untersuchung über die Frankfurter Zeil von EBERHARD H Ü B S C H M A N N , 1 9 5 2 , die Arbeiten von JÜRGEN C. TESDORPF, 1 9 7 5 , über die Scheffelstraße in Singen, von HILLE DEMMLER-MOSETTER, 1 9 7 8 , über die Maximilianstraße in Augsburg sowie die Studien über Hauptgeschäftsstraßen in Würzburg von THOMAS BARNIKEL, R U D O L F ELLINGER, M A N F R E D M A H A L U N D H O R S T - G Ü N T E R W A G N E R in dem von H . - G . W A G N E R im Jahre 1 9 8 0 herausgegebenen Sammelband. Im Rahmen dieses Sonderforschungsbereiches 164 Vergleichende geschichtliche Städteforschung wurde am 1. 1. 1981 unter meiner Leitung (zusammen mit Norbert de Lange) mit einem neuen Forschungsteilprojekt (Standortverhalten quartärer Dienstleistungsgruppen in westdeutschen Großstädten seit Ende des 19. Jahrhunderts) begonnen, dessen Ziel der Vergleich der differenzierten innerstädtischen Entwicklungsprozesse und die Herausarbeitung von
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3.5. Zentralitätsforschung Aus der funktionalen Stadtgeographie hat sich im letzten Jahrzehnt mehr und mehr die auf die Erforschung zentralörtlicher Beziehungen ausgerichtete Zentralitätsforschung herausgelöst 24 . Es hieße „Eulen nach Athen tragen", wenn die Bedeutung des zentralörtlichen Forschungsansatzes für den Sonderforschungsbereich 164 Vergleichende geschichtliche Städteforschung hier besonders herausgestellt würde. Es braucht nur auf die neueren historischgeographischen Arbeiten (insbesondere zur kulturellen Zentralität) von Hans Heinrich Blotevogel aus dem Teilprojekt Bl, auf die Untersuchungen kultureller Stadt-Land-Diffusionen in dem von Günter Wiegelmann geleiteten volkskundlichen Teilprojekt B4a 25 sowie auf den von Günter Wiegelmann herausgegebenen Sammelband über Kulturelle Stadt-Land-Beziehungen in der Neuzeit verwiesen zu werden, der die Ergebnisse der interdisziplinären Arbeitstagung dieses Sonderforschungsbereiches aus dem Jahre 1977 zusammenfaßt. Obwohl jedoch die Zentralitätsforschung im internationalen und interdisziplinären Rahmen sowohl theoretisch wie auch empirisch und hinsichtlich ihrer Anwendung in der Raumplanung weit fortgeschritten ist, sind die raum-zeitlichen Veränderungen der Zentralität in ihrer Bedeutung als Merkmal oder als Indikator von Urbanisierungsprozessen bislang kaum berücksichtigt worden. 3.6. Städtesystemforschung Zwei geographische Tagungsreferate (von Hans Heinrich Blotevogel und Norbert de Lange) beziehen sich auf die Weiterentwicklung der Zentralitätsforschung im Kontext der neueren geographischen Städtesystemforschung 26. Die Referate basieren auf umfassenden empirischen Untersuchungen der funktionalen Struktur des deutschen Städtesystems zwischen 1895 und 1970 unter besonderer Berücksichtigung der Polarisierung und Dezentralisierung in der Entwicklung kultureller Städtesystemfunktionen (Blotevogel,
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Regelhaftigkeiten im Standortverhalten des quartären Sektors (der u.a. Einrichtungen der Regierung und Verwaltung, gehobene personenbezogene private Dienstleistungen, Banken, Versicherungen und Verbände einschließt) ist. Der Terminus Zentralitätsforschung als neuer umfassender Begriff wurde von PETER SCHÖLLER (1972) eingeführt bzw. begründet (ebd., S. XIV-XV). Eine erste Lehrbuchdarstellung dieser interdisziplinär ausgerichteten Forschungsteildisziplin wurde in der deutschen Geographie im Jahre 1979 von G Ü N T E R HEINRITZ veröffentlicht. Vgl. u.a. die volkskundlichen Arbeiten zu Stadt-Land-Beziehungen von G Ü N T E R WIEGELMANN ( 1 9 7 3 / 7 5 ) u n d K L A U S ROTH ( 1 9 7 9 ) .
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Die theoretischen Ansätze einer interdisziplinären Siedlungssystemforschung, der sich die geographische Städtesystemforschung zuordnen läßt, wurden von DIETRICH BARTELS (1979) zusammengefaßt. Als Kategorien von Systembeziehungen, „die in der konkreten Ausgestaltung eines Städtesystem-Modells einzeln oder kombiniert auftreten können", unterscheidet Bartels: 1. sog. Interrelationen, d.h. räumliche Lagebeziehungen in Gestalt von Distanzen, Größen- oder Teilhabe-Relationen (z.B. Einwohner- oder Wirtschaftskraftverhältnisse bzw. -anteile) und Struktur-Relationen (z.B. Unterschiede in der zentralörtlichen Ausstattung) und 2. sog. Interaktionen, d.h. Interaktionswege, Interaktionsströme (als tatsächliche Austausch- und Kommunikationsbeziehungen jeder Art) und Machtbeziehungen (Ausdruckformen der gesellschaftlich-organisatorischen Abhängigkeiten einzelner Siedlungselemente voneinander) (ebd., S. 114-115).
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1980) bzw. auf der Analyse der Städtedimensionen und -gruppierungen in Nordrhein-Westfalen im zeitlichen Vergleich zwischen 1961 und 1970 (de Lange, 1980), die beide mit Hilfe multivariater Verfahren durchgeführt wurden. Sie stellen die besondere Relevanz dieser neuen Forschungsrichtung für die moderne geographische Urbanisierungsforschung heraus, verdeutlichen aber zugleich die nicht unerheblichen Probleme der Operationalisierung dieses jüngst in Deutschland aufgegriffenen Konzeptes der Siedlungs- bzw. Städtesystemforschung - insbesondere hinsichtlich der empirischen Erfassung der vielfältigen Interaktionen (bzw. Interaktionsströme) zwischen den Systemelementen, d.h. den Städten. 3.7. Urbanisierungsforschung in verschiedenen Kulturräumen der Erde Man würde der Entwicklung und dem gegenwärtigen Stand der Urbanisierungsforschung in der deutschsprachigen Geographie nicht gerecht werden, wenn man nicht auf einen weiteren gewichtigen Forschungsschwerpunkt, nämlich auf die Untersuchungen der Stadtentwicklung, der Verstädterungsbzw. Urbanisierungsprozesse in außerdeutschen bzw. in außereuropäischen Kulturräumen der Erde (insbesondere in Entwicklungsländern ) hinweisen würde, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten von zahlreichen westdeutschen Geographen in verstärktem Maße durchgeführt bzw. veröffentlicht wurden 27 . Besonders intensiv bearbeitet wurde der Vordere Orient,28 für den nicht nur beispielhafte monographische Darstellungen einzelner Städte vorliegen, die vor allem deren Genese, d.h. deren Gestalt-, Struktur- und Funktionswandel und Beeinflussung durch westlich-moderne Bau- und Lebensformen ( Verwestlichung), herausarbeiten: u.a. Klaus Dettmann (1969) über Damaskus, Helmut Hahn (u.a. 1972) über Kabul, Volker Höhfeld (1977) über anatolische Kleinstädte, Lothar Rother (1971) über Städte in der Cukurova/Türkei, Martin Seger (u.a. 1975, 1978) über Teheran und Dietrich Wiebe (1978) über Kandahar/Afghanistan. Zahlreiche Beiträge widmen sich speziellen Aspekten des Urbanisierungsprozesses: z.B. untersuchten Eckart Ehlers (1972) die Beziehungen zwischen Rentenkapitalismus und Stadtentwicklung und Günther Schweizer (1971) die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Verstädterung im Iran. Gert Ritter (1972) stellte am Beispiel des Verstädterungsgebietes von Istanbul und der Hauptstadt Ankara die Auswirkungen der Bevölkerungsmobilität und Reinhard Stewig (1970, 1980) am Beispiel von Bursa die Bedeutung der Industrialisierung für das Städtewachstum in der Türkei dar. In dem von Erwin Grötzbach (1976) herausgegebenen Sammelband über Afghanistan werden unterschiedliche Themen der jüngeren Stadtentwicklung bzw. Verstädterung behandelt. Die Entwicklungstendenzen im orientalischen Städtewesen wurden von Eugen Wirth
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Einen recht aktuellen Überblick über den Stand der Erforschung der Stadtstrukturen und z.T. auch der Verstädterungsprozesse im inter-kulturellen Vergleich (mit umfassenden Literaturhinweisen) gibt BURKHARD HOFMEISTER (1980). Die folgenden Ausführungen werden durch die allgemeineren, übergreifenden Aspekte und Probleme weltweiter Urbanisierungsforschung ergänzt, die in dem Tagungsreferat von Peter Schöller herausgestellt werden. Vgl. im folgenden die nach größeren Kulturräumen der Erde alphabetisch geordnete Literaturauswahl im Literaturverzeichnis.
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in mehreren gehaltvollen Forschungsberichten (1968, 1967/69, 1975) zusammengefaßt. Auch über Süd- und Südostasien liegen eine Reihe gewichtiger deutschsprachiger stadtgeographischer Arbeiten vor: Klaus Dettmann (1970, 1974, 1980) und Fred Scholz (1979) untersuchten die Stadtentwicklung bzw. Verstädterung in Pakistan, wobei von Scholz verschiedene Modelle zur Charakterisierung unterschiedlicher Konzentrations-, Segregations- und Expansionsprozesse pakistanischer Städte entworfen wurden. Von Jürgen Blenck (1973, 1977) bzw. von Jürgen Blenck und Hannelore Wiertz (1975) wurden das Städtewachstum und die Verstädterung sowie die damit zusammenhängenden Slumprobleme in Indien exemplarisch und zusammenfassend dargestellt. Über die Beziehungen zwischen Schwerindustriestandorten und Stadtentwicklung in Indien und die Dynamik der Großstadt Bombay liegen Untersuchungen von Friedrich Stang (1970) bzw. Heinz Nissel (1977) vor. Eine der umfassendsten geographischen Urbanisierungsstudien über Länder der Dritten Welt wurde von Dietrich Kühne (1976) über Malaysia veröffentlicht. Einen herausragenden Schwerpunkt stadtgeographischer Forschungsarbeiten in anderen Kulturräumen der Erde bildet Japan, dessen Verstädterung bereits 1950 von Martin Schwind zusammenfassend charakterisiert wurde. Ab 1962 wurde von Peter Schöller eine Vielzahl von Untersuchungen über Japan veröffentlicht, die sich u.a. den Phasen und Merkmalen der allgemeinen Stadtentwicklung und deren Zusammenhänge mit Prozessen der Binnenwanderung, Verstädterung, unterirdischem Zentrenausbau etc. widmeten. Sein Schüler Winfried Flüchter (1975) untersuchte eine spezielle Form der Industriesuburbanisierung in Japan: die Industrieansiedlungen auf Aufschüttungsgebieten entlang der Küsten. In einer jüngeren Arbeit (1978) faßte Flüchter die Maßnahmen und Probleme der Stadtplanung zusammen und stellte deren Beziehungen zum Verstädterungsprozess heraus. Von Bedeutung ist auch eine weitere Stadt- und sozialgeographische Ostasienunteruchung aus der Schöller-Schule: Hans Jürgen Buchholz (1978) analysierte die Entwicklung der Bevölkerungsmobilität, der städtischen Wohn- und Lebensformen und vor allem die Problematik der äußerst extremen städtischen Verdichtung in Hong Kong (zum letztgenannten Aspekt vgl. auch H. J. Buchholz 1973). Für Afrika liegt in deutscher Sprache eine umfassende jüngere Gesamtdarstellung wichtiger Entwicklungstendenzen des Städtewesens, einschließlich der Urbanisierung, mit umfangreicher Bibliographie von dem Geographen Walther Manshard (1977) vor. Schwerpunkte deutscher stadtgeographischer Forschung in Afrika bildeten in den letzten zwei Jahrzehnten einmal Untersuchungen einzelner Großstädte, z.B. der Stadt Kano von Christoph Becker (1969) oder der Städte Großkampala und Dar Es Salaam von Karl Vorlaufer (1967 bzw. 1973), die jeweils auch die vor allem aus Land-Stadt-Wanderungen resultierenden Verstädterungsprozesse mitberücksichtigen. Die Verstädterungs- bzw. Urbanisierungserscheinungen in größeren Teilräumen Afrikas wurden bereits 1961 von Walther Manshard für Westafrika, 1968 von dem Soziologen Josef Gugler für Ostafrika, 1970 von Wolfgang Kuls für Äthiopien, 1971 von Josef Matznetter für Portugiesich-Afrika sowie 1971 bzw. 1973 von Gabriele Wülker bzw. von Josef Gugler für Afrika südlich der Sahara in Überblicksdarstellungen charakterisiert. Von besonderer Bedeutung ist die umfassende Studie von Joachim Lühring (1976) über Urbanisation und
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Entwicklungsplanung in Ghana, in der - mit Hilfe historisch-prozessualer und sozio-ökonomisch-planerischer Untersuchungsansätze - die Zusammenhänge zwischen regionalen Disparitäten, Regionalbeziehungen und Verstädterung herausgearbeitet werden. Peter Weber (1975) hat am Beispiel von zwei Bantugruppen in städtischen Barackenquartieren in Beira/Moçambique aufgezeigt, daß sich ländliche Lebensformen in der städtischen Umwelt erhalten, d.h. daß eine relative Abnahme der intra-urbanen sozialen Urbanisierung ( = Realisierung) festzustellen ist. Besonders eingehend wurden von deutschen Geographen die Urbanisierungsprozesse in Lateinamerika untersucht: u.a. 1. die Wandlungen der Physiognomie (insbesondere des Städtebaus) der Städte seit der Kolonialzeit (Herbert Wilhelmy, 1952), 2. die Entwicklung von Hauptstädten (Gerhard Sandner, 1969) sowie Klein- und Mittelstädten (Axel Borsdorf, 1976; Wolfgang Schoop, 1980) im jüngeren Urbanisierungsprozeß, 3. unterschiedliche Aspekte der Verstädterung, insbesondere Beziehungen zur Bevölkerungsmobilität (Christoph Borcherdt, 1979, über Venezuela; Sammelbände von Wilhelm Lauer, 1976, über Chile sowie von Günter Mertins, 1978, mit Beiträgen von W. Brücher und G. Mertins über Kolumbien, von V. Jülich über Peru und H. Pachner über Venezuela), sowie vor allem 4. die unkontrollierte Verstädterung bzw. Suburbanisierung (Entstehung von Elendssiedlungen) am Rande der großen Metropolen, worüber die instruktiven Fallstudien von Jürgen Bähr (1977/78) über Groß-Santiago, von Walter Rohm und Lutz Bähr (1974) und von Karl Gaigl (1979) über Lima sowie von Heinrich Pachner 1975 über Caracas vorliegen. Jürgen Bähr (1976) hat versucht, die neueren siedlungs- und bevölkerungsgeographischen Prozesse in lateinamerikanischen Großstadträumen durch ein Stadtentwicklungsmodell (Idealschema einer lateinamerikanischen Großstadt) zu veranschaulichen, das von ihm 1978 am Beispiel von Santiago de Chile mit Hilfe faktorenanalytischer Verfahren überprüft wurde. Zusammenfassende Darstellungen der jüngeren Stadtentwicklung und Urbanisierung in Lateinamerika wurden von Walter Zcilincsar (1971), Elisabeth Lichtenberger (1972) und Axel Borsdorf (1978) veröffentlicht. Eine umfassende Gesamtdarstellung des nordamerikanischen Städtewesens in kultur-genetischer Betrachtungsweise (vor allem der spezifischen Merkmale, Strukturwandlungen und regionalen Unterschiede der Stadtentwicklung bzw. Verstädterung) wurde von Burkhard Hofmeister (1971) vorgelegt und von ihm durch eine Anzahl kürzerer Beiträge zu wichtigen Teilaspekten der jüngeren Stadtentwicklung in Nordamerika ergänzt. Einen Überblick über den Urbanisierungsprozess in Kanada, insbesondere über die Zusammenhänge zwischen Urbanisierung und der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, hat Karl Lenz (1971) veröffentlicht. Obwohl somit für die einzelnen Kulturerdteile eine beachtliche Zahl von Urbanisierungsstudien unterschiedlichster Zielsetzung vorliegt, so bestehen jedoch bzgl. des Vergleichs von historischen und jüngeren Urbanisierungsprozessen zwischen verschiedenen (größeren) Kulturräumen oder -kreisen, insbesondere zwischen Räumen mit gegensätzlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen, noch wesentliche Forschungsdefizite. Dies gilt nicht nur für die deutsche, sondern auch für die internationale geographische Urbanisierungsforschung. Eine rühmliche Ausnahme bildet die Untersuchung
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von Wilfried Heller (1979) 29 , die am Beispiel von Griechenland und Rumänien differenzierte räumliche Unterschiede regionaler Disparitäten und der Urbanisierung zwischen diesen markt- bzw. planwirtschaftlich orientierten Staaten herausarbeitet. 4. S c h l u ß Diese Einführung in Stand und Probleme der Urbanisierungsforschung anhand ausgewählter Literatur sollte u.a. die vielfältigen Einzelaspekte verdeutlichen, unter denen die Urbanisierung bislang in der jüngeren westdeutschen Geographie untersucht wurde. Ausgegangen wurde dabei einerseits von den in der interdisziplinären und insbesondere geographischen Urbanisierungsforschung bestehenden erheblichen Begriffsverwirrungen, andererseits von verschiedenen klassischen und neueren Forschungsansätzen der geographischen Stadtforschung bzw. der Stadtgeographie, die ganz maßgeblich die Betrachtungsrichtungen der modernen geographischen Urbanisierungsforschung bestimmen 30 . Die Urbanisierung, die begrifflich zumeist synonym mit Verstädterung und Urbanisation bezeichnet wird, erweist sich als mehrdimensionales Phänomen, dem eine prozeßhafte Perspektive zukommt. Die Erscheinungen der Urbanisierung sind, in Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachtungsdimension, dem Untersuchungsraum und -Zeitpunkt - nicht nur in verschiedenen Formen, sondern auch in unterschiedlichen Abstufungen erfaßbar. Die bestehende, nicht unerhebliche terminologische Verwirrung in der interdisziplinären Urbanisierungsforschung kann zumindest dadurch eingeschränkt werden, daß einzelne Dimensionen begrifflich klarer voneinander unterschieden werden. So lassen sich mit statistisch-demographischer oder einfach demographischer Urbanisierung (bzw. Verstädterung oder Urbanisation) der wachsende Anteil städtischer Bevölkerung, mit demographischer Überurbanisierung ein entsprechendes überproportionales, zumeist migrationsbedingtes Bevölkerungswachstum, mit physiognomischer Urbanisierung die arealmäßig-bauliche Expansion städtischer Wohnformen, mit sozialer Urbanisierung die Adaption und räumliche Ausbreitung spezifisch städtischer Lebens- bzw. Sozial- und 29 30
s. unter 2. im Literaturverzeichnis. Dabei wurden quantitative und historisch-geographische Richtungen der geographischen Urbanisierungsforschung (entsprechend den etablierten geographischen Forschungsdisziplinen Quantitative bzw. Historische Geographie) bewußt nicht gesondert herausstellt, da sich ein großer Teil der geographischen Arbeiten (unterschiedlichster Konzeption) zum Problem der Urbanisierung bzw. Verstädterung durch Anwendung moderner quantitativer Methoden und historisch-geographischer Betrachtungsperspektiven auszeichnet. Dies gilt insbesondere für die meisten geographischen Referate auf dieser Tagung. Angemerkt sei weiterhin, daß durch noch differenziertere Systematisierung der von mir unter 3.1. bis 3.7. aufgeführten Forschungsrichtungen der geographischen Urbanisierungsforschung eine Reihe spezieller Untersuchungsansätze besonders hervorgehoben werden könnte, für die unter 3.1. bis 3.7. auch Beispielarbeiten genannt wurden. Dies gilt z.B. für die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Urbanisierung (bzw. Verstädterung, Städtebildung usw.) und Industrialisierung (industrielle oder industrieräumliche Urbanisierung bzw. Verstädterung) im Grenzbereich zwischen geographischer und historischer Stadt-, Wirtschafts- und Sozialforschung. Vgl. zu diesem Aspekt auch den Sammelband: HELMUT JÄGER (Hrsg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter. Wien 1978. = Städteforschung A/5.
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Wirtschaftsformen, mit intra-urbaner Ruralisierung das (insbesondere für Entwicklungsländer charakteristische) Eindringen ländlicher Wohn-, Sozialund Wirtschaftsformen in städtische Siedlungen, mit Surburbanisierung intra-regionale Dekonzentrationsprozesse (Bevölkerungs-, Industrie- und tertiäre oder quartäre Suburbanisierung) etc. kennzeichnen. Unterschieden werden sollte weiterhin zwischen den einzelnen räumlichen Betrachtungsweisen. So läßt sich der Urbanisierungsprozeß mikroanalytisch als Struktur-, Funktions- und Verhaltensänderungen innerhalb einzelner (städtischer) Siedlungselemente und im Umland der Städte (Diffusion urbaner Lebensformen i.W.S.) oder makroanalytisch als Gesamtveränderung innerhalb von (regional begrenzten) Siedlungssystemen, international vergleichend (z.B. Unterschiede zwischen verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen) oder auch bezogen auf einzelne größere Kulturräume der Erde oder sogar global untersuchen. Ebenso wie der (geographische) Stadtbegriff nicht nur räum-, sondern vor allem auch epochenspezifisch zu differenzieren ist, lassen sich auch für einzelne Kulturräume der Erde Urbanisierungs- bzw. Verstädterungphasen abgrenzen, die jedoch für gleiche Zeiträume i.a. räumlich unterschiedliche Ausprägungen aufweisen (z.B. heutige Unterschiede zwischen den Merkmalen der Verstädterungsprozesse in westlichen Industriestaaten und Entwicklungsländern). Die nachfolgenden, vor allem empirisch ausgerichteten Beiträge dieses interdisziplinären Urbanisierungsbandes verdeutlichen die erheblichen räumlichen und zeitlichen Differenzierungen des komplexen Urbanisierungsphänomens .
LITERATURVERZEICHNIS
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Geographische Aspekte - Bibliographische Hinweise
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Standortdekonzentration:
DACH, Peter: Struktur und Entwicklung von peripheren Zentren des tertiären Sektors, dargestellt am Beispiel Düsseldorf. Düsseldorf 1980.= Düsseldorfer Geogr. Schriften 13. Sammelband mit annotierter Auswahlbibliographie jüngerer empirischer Zentrenstudien: HEINEBERG, Heinz (Hrsg.): Einkaufszentren in Deutschland. Entwicklung, Forschungsstand und -probleme mit einer annotierten Auswahlbibliographie. (Mit Beiträgen von Bernhard BUTZIN, Bernd R. FALK, Marianne GREWE, Heinz HEINEBERG, Alois MAYR und Winfried MESCHEDE). Paderborn 1980.= Münstersche Geogr. Arb. 5. Empirische Analysen der Entwicklung einzelner
Hauptgeschäftsstraßen:
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Heinz Heineberg
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Geographische Aspekte - Bibliographische Hinweise
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62
Heinz Heineberg Forschungen z. Wirtschafts- und Sozialgeogr. 8.
Ostasien (Japan, Hong Kong):
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DEMOGRAPHISCHE DES
FOLGEN
VERSTÄDTERUNGSPROZESSES. Zur
Bevölkerungsstruktur
und natürlichen
Bevölkerungsentwicklung
deutscher Städtetypen Von H a n s - D i e t e r
1. E i n l e i t u n g u n d
1871-1914
Laux
Fragestellung
Der tiefgreifende ökonomische und soziale Strukturwandel des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1914 wird durch die Prozesse der Industrialisierung, der Verstädterung und des stürmischen natürlichen Bevölkerungswachstums entscheidend bestimmt. So stieg in den knapp 40 Jahren zwischen 1871 und 1910 die Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches trotz einer erheblichen Überseeauswanderung um 57,9% von 41,1 auf 64,9 Millionen 1 . Die höchsten Geburtenziffern von bis zu 40,9%o wurden bereits um 1875, die stärksten natürlichen Wachstumsraten aber - mit max. 1,57% (1902) - erst im Jahrzehnt zwischen 1895 und 1905 erreicht 2 . Während des gleichen Zeitraumes von 40 Jahren steigerte sich der Anteil der Bevölkerung in Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern von 12,5 auf 34,7%, der Wert für die Großstädte mit über 100 000 Einwohnern gar von 4,8 auf 21,3% 3 . Die Wertschöpfung der Wirtschaftsbereiche Bergbau, Industrie und Handwerk schließlich erhöhte sich - in Preisen von 1913 gemessen - zwischen 1870 und 1913 von 4,0 auf 21,8 Milliarden Mark. Dies bedeutete eine Steigerung des Beitrags zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung von 28,2 auf 45,0% 4. Die Wechselbeziehungen zwischen den Prozessen der Industrialisierung, der Verstädterung und des Bevölkerungswachstums sind, wie Eversley gezeigt hat 5 , vielfältiger und komplexer Natur; ihre detaillierte Erfassung steht z.T. noch in den Anfängen. Es ist jedoch unbestritten, daß das 19. Jahrhundert, insbesondere in seiner zweiten Hälfte, als eine Phase der „industriellen Verstädterung" angesprochen werden kann. Mit der Ausbreitung des Fabriksystems und der Zunahme großbetrieblicher
1
2 3
4
5
Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872-1972, Stuttgart-Mainz 1972, S. 90. Stat. Bundesamt (wie Anm. 1) S. 101 f. Stat. Bundesamt (wie Anm. 1) S. 94. Die Werte für 1910 sind aufgrund von Eingemeindungen gegenüber 1871 in der Vergleichbarkeit leicht eingeschränkt. W. G . HOFFMANN / F. GRUMBACH / H . HESSE, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin-Heidelberg-New York 1965, S. 454f. D. E . C . EVERSLEY, Population, Economy and Society, in: D. V . GLASS / D. E . C . EVERSLEY (Eds.), Population in History. Essays in Historical Demography, London 1965, S. 23-69.
66
Hans-Dieter Laux
Produktionsformen entfaltet der industrielle Sektor eine ausgesprochen bevölkerungskonzentrierende Wirkung: die Industrie wird damit, wie Ipsen 6 in Weiterführung der Gedanken Sombarts ausführt, zum „primären Städtebildner" 7 des 19. Jahrhunderts, auch wenn es nur in Ausnahmefällen, wie z.B. in den durch spezifische Standortbedingungen geprägten Bergbaurevieren, zu einer eigentlichen Neubildung von größeren städtischen Siedlungen kommt. Vielmehr entwickelten sich die Standorte der - insbesondere stärker rohstoffunabhängigen und konsumorientierten - Industriezweige, wenn auch zeitlich und räumlich sehr ungleichgewichtig, so doch weitgehend im Rahmen des überlieferten vorindustriellen Städtesystems. Infolge des „Gesetzes des doppelten Stellenwerts" 8 , das besagt, daß jeder neugeschaffene Arbeitsplatz im primären, d.h. städtebildenden Wirtschaftssektor zu einer weiteren Stelle in den städtebedienenden Folgeleistungen führt, zeigen die bevorzugten Standorte der Industrie ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum. Diese Wachstumsimpulse bleiben jedoch nicht auf die ausgesprochenen Industriestädte beschränkt, sondern zeigen sich auch in den traditionellen Verwaltungsund Handelsstädten, insofern diese zugleich zu Orten industrieller Produktion werden. Dabei kommt es auch in Städten mit einer fortgesetzten Dominanz des tertiären Wirtschaftssektors nicht selten zu deutlichen Umgewichtungen in den städtischen Funktionen 9 . Ein retardiertes Wachstum ist schließlich bei den Städten zu erwarten, die es aus vielerlei Gründen nicht vermochten, ausreichende industrielle Aktivitäten an sich zu binden. Erscheint das Verhältnis von Industrialisierung und Städtewachstum in seinen Grundzügen geklärt, so ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Prozessen und der Dynamik der natürlichen Bevölkerungsentwicklung weniger eindeutig. Zwar wird in Deutschland das Spitzenwachstum der Bevölkerung erst in der Epoche der Hochindustrialisierung erreicht, der Beginn der großen Bevölkerungswelle des Industriezeitalters fällt jedoch bereits in das 18. Jahrhundert und wird dort, wie Mackenroth gezeigt hat 1 0 , in erster Linie durch eine Ausweitung des Nahrungsspielraumes infolge eines verstärkten Landesausbaus und der Steigerung der agrarischen Produktivität ausgelöst. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Fortschritte in Medizin und Hygiene sowie insbesondere durch die Freisetzung weiter Bevölkerungskreise zur ungehinderten Eheschließung und Fortpflanzung im Zuge von Reformbewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Der Zeitraum zwischen dem Beginn des verstärkten Bevölkerungswachstums und dem Anfang des industriellen „take-off", der nach Hoffmann für Deutschland nicht vor 1830/35 6
7
G. IPSEN, Artikel "Stadt ( I V ) " , in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, S. 786ff. W. SOMBART, Der Begriff der Stadt und das Wesen der Städtebildung, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik N.F. 25, 1907, S. 1-9.
S IPSEN ( w i e A n m . 6 ) S . 7 8 9 . 9
10
11
W. KÖLLMANN, Der Prozeß der Verstädterung in Deutschland in der Hochindustrialisierungsperiode, in: W. KÖLLMANN: Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 1 2 5 - 1 3 9 , hier S. 1 2 6 . G. MACKENROTH, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953, S. 468ff. J. REULECKE, Sozio-ökonomische Bedingungen und Folgen der Verstädterung in Deutschland, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 4, 1977, S. 269-287, hier S. 275f.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
67
anzusetzen ist 12 , ist gekennzeichnet durch eine zunehmende agrarische Überbevölkerung und damit eine wachsende Diskrepanz zwischen dem vorhandenen Arbeitskräftepotential und den verfügbaren Arbeitsplätzen. Die daraus resultierende Verelendung weiter Bevölkerungskreise (Pauperismus) führt nicht zuletzt zu einer ausgeprägten Mobilitätsbereitschaft, die schließlich eine wesentliche Voraussetzung für die in den 60er Jahren verstärkt einsetzende Industrialisierung und Verstädterung darstellt 13 . Steht die Bedeutung der Binnenwanderung für das Wachstum der Städte zwischen 1871 und 1914 außer jedem Zweifel, so existieren über die Wechselbeziehungen zwischen natürlicher Bevölkerungsbewegung und Städtewachstum bis in die Gegenwart hinein z.T. ungenaue, z.T. kontroverse Auffassungen. Eine herausragende Rolle in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion um die Jahrhundertwende spielte die Frage, ob die großen Städte überhaupt aus eigener Kraft, d.h. ohne einen permanenten Zustrom von außen, lebensfähig seien und ihre Einwohnerzahl halten könnten 14. Während die Vertreter einer sozialbiologisch ausgerichteten Großstadtkritik, wie etwa Hansen und Ammon, die Möglichkeit eines selbsttragenden Wachstums der Städte verneinten, kamen Autoren wie Ballod 15, Kuczynski 16 und Weber 17 aufgrund von exakten statistischen Analysen zu dem Ergebnis, daß diese Auffassungen nicht haltbar und zumindest durch differenzierte Argumentation zu ersetzen seien 18. So betont A. F. Weber in seinem grundlegenden Werk „The Growth of Cities in the Nineteenth Century" (1899), daß - im Gegensatz zu früheren Zeiten - im 19. Jahrhundert der natürliche Zuwachs der entscheidende Faktor der Städtevergrößerung sei 19 . Seinen im wesentlichen auf einer Auswertung von Gebürtigkeitsstatistiken beruhenden Folgerungen ist jedoch einschränkend entgegenzuhalten, daß ein Großteil der Gebärleistung von Zugewanderten getragen wird und folglich deren Einfluß auf die städtische Bevölkerungsentwicklung wesentlich stärker sein muß, als dies die Gebürtigkeitsstatistik zum Ausdruck bringt. Das in der bevölkerungsgeschichtlichen und demographischen Literatur bis in die Gegenwart hinein bestimmende Paradigma des Stadt-Land-Gegensatzes
12
W. G.
The Take-Off in Germany (1969), in: H . KELLENBENZ / J. SCHNEIDER / R. (Hrsg.), Wirtschaftliches Wachstum im Spiegel der Wirtschaftsgeschichte, Darmstadt 1978, S. 143-170. W. KÖLLMANN, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815-1865, in: W. KÖLLMANN, Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 61-98, hier S. 84f. Vgl. E. PFEIL, Großstadtforschung. Entwicklung und gegenwärtiger Stand, 2. Aufl., Hannover 1972, S. 48ff. und 128. C. BALLOD, Die Lebensfähigkeit der städtischen und ländlichen Bevölkerung, Leipzig 1897. R. KUCZYNSKI, Der Zug nach der Stadt. Statistische Studien über Vorgänge der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche, Stuttgart 1897. A. F. WEBER, The Growth of Cities in the Nineteenth Century, New York 1899, Nachdruck Ithaca, Ν. Y. 1963. Ein objektiver Anlaß für die ansonsten stark von ideologischen Vorurteilen geprägte pessimistische Einschätzung des natürlichen Bevölkerungsvorganges in den Großstädten mag sicherlich darin gelegen haben, daß der säkulare Rückgang der Geburtenziffern in Deutschland, etwa im Gegensatz zu Frankreich (vgl. MACKENROTH (wie Anm. 1 0 ) S. 2 7 0 ) , zuerst in den großen Städten, allen voran in Berlin, zu beobachten war. Dabei wurde jedoch übersehen, daß die Abnahme der Geburten nicht selten durch ein paralleles Absinken der Sterblichkeit kompensiert wurde. HOFFMANN,
GÖMMEL
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ι» WEBER ( w i e A n m . 1 7 ) S . 2 8 3 .
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hat ohne Zweifel eine Reihe von wesentlichen Einsichten in die Dynamik und den Ablauf der natürlichen Bevölkerungsbewegung in Deutschland seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verhindert. Während Mackenroth bereits im Jahre 1953 die Nützlichkeit der Stadt-Land-Dichotomie für die Analyse des Bevölkerungsvorganges in Frage stellte 20 , betonte Wrigley in seiner Studie über die Bergbaugebiete Frankreichs, Belgiens und Deutschlands 21 die Notwendigkeit einer stärker regional differenzierenden Betrachtung von demographischen Prozessen. Die Bedeutung dieses Ansatzes wurde von Knodel auf der Basis umfassender Analysen des Geburtenrückganges in Deutschland zwischen 1871 und 1939 eindrucksvoll bestätigt 22 . Er führt die bedeutsamen, den Stadt-Land-Gegensatz überlagernden regionalen Differenzierungen des generativen Verhaltens u.a. auf kulturelle Unterschiede zurück, die nur lose mit sozioökonomischen Strukturdifferenzen verknüpft sind 23. Diese Betonung regionaler Determinanten für den Ablauf des natürlichen Bevölkerungswachstums darf jedoch nicht dazu verleiten, die durchaus bedeutsamen und von der Stadt-Land-Dichotomie ebenfalls verdeckten Unterschiede des generativen Verhaltens innerhalb des Städtesystems zu übersehen. So hat Brückner bereits vor der Jahrhundertwende auf das von Großstadt zu Großstadt sehr unterschiedliche Niveau sowie die im zeitlichen Ablauf differenzierte Entwicklung der Geburten- und Sterbeziffern aufmerksam gemacht 24 . Er stellt fest, daß noch in den 70er Jahren die Großstädte eine höhere Geburtenrate aufweisen als das Deutsche Reich insgesamt. Die beachtlichen Unterschiede zwischen den Städten führt er teils auf das Ausmaß der Zuwanderungen, teils auf die wechselnde Stadtbegrenzung, in entscheidendem Maße aber auf die Funktion der Städte und die damit verbundene sozialökonomische Struktur der Bevölkerung zurück. So zeigen ausgesprochene Industriestädte wie Chemnitz, Barmen oder Krefeld die höchsten, durch den tertiären Sektor geprägte Städte wie Frankfurt, Königsberg oder Bremen die niedrigsten Geburtenziffern 25 . Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Köllmann für 1900 am Beispiel eines allerdings sehr kleinen Städtesamples 26, und auch die Beobachtungen Wrigleys hinsichtlich des Gegensatzes von Handels- und Bergbaustädten zielen in die gleiche Richtung 27. Von diesen Überlegungen ausgehend, läßt sich die Fragestellung der anschließenden Untersuchungen folgendermaßen umschreiben: 20 MACKENROTH (wie Anm. 10) S. 271-274. Ε. A. WRIGLEY, Industrial Growth and Population Change, Cambridge 1961, S. 107ff. 22 J. E. KNODEL, The Decline of Fertility in Germany, 1 8 7 1 - 1 9 3 9 , Princeton, Ν . J. 1 9 7 4 . - Vgl. auch W . K U L S , Regionale Unterschiede im generativen Verhalten, in: Innsbrucker Geographische Studien Bd. 5 , 1 9 7 9 , S. 2 1 5 - 2 2 8 . 23 J. E. KNODEL, Stadt und Land im Deutschland des 1 9 . Jahrhunderts: Eine Überprüfung der Stadt-Land-Unterschiede im demographischen Verhalten, in: W. H. SCHRÖDER (Hrsg.), Moderne Stadtgeschichte, Stuttgart 1979, S. 238-265, hier S. 262ff. 24 N. BRÜCKNER, Die Entwicklung der großstädtischen Bevölkerung im Gebiete des Deutschen Reiches, in: Allgemeines Statistisches Archiv 1, 1890-91, S. 135-184 u. 615-672, hier S. 159ff. Vgl. auch P. DITTMANN, Die Bevölkerungsbewegung der deutschen Großstädte seit der Gründung des Deutschen Reiches, Bamberg 1912. 25 BRÜCKNER (wie Anm. 24) S. 162-167. 26 W. KÖLLMANN, Zur Bevölkerungsentwicklung ausgewählter deutscher Großstädte in der Hochindustrialisierungsperiode, in: W. KÖLLMANN, Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 140-156, hier S. 153. 21
27 WRIGLEY ( w i e A n m . 2 1 ) S . 1 6 9 .
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
69
(a) Es soll geprüft werden, welche Unterschiede der natürlichen Bevölkerungsentwicklung innerhalb des deutschen Städtesystems im Zeitraum von 1871 bis 1914, d.h. der Periode der Hochindustrialisierung, vorhanden und welche Determinanten hierfür verantwortlich sind. Dabei geht die Untersuchung von zwei Leithypothesen aus: Zum einen ist eine Abhängigkeit des generativen Verhaltens der Bevölkerung von regionalen, d.h. kulturräumlichen Bestimmungsfaktoren zu erwarten, zum anderen wird ein entscheidender Einfluß der ökonomischen Funktion der Städte auf den Bevölkerungsvorgang angenommen. Diese Annahme erscheint insofern berechtigt, als die wirtschaftliche Struktur und Funktion einer Stadt von maßgebender Bedeutung für die sozialökonomische Situation ihrer Bevölkerung ist und diese sozialökonomischen Bedingungen ihrerseits wesentliche Determinanten des generativen Verhaltens darstellen. Da hierbei vornehmlich Einflüsse auf die Höhe der Fruchtbarkeit und auf das Heiratsverhalten der Bevölkerung anzunehmen sind, sollen diese beiden Komponenten des natürlichen Bevölkerungsvorganges primär betrachtet werden und die Phänomene der Sterblichkeit in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt bleiben. (b) Neben der Analyse der natürlichen Bevölkerungsentwicklung ist der Frage nachzugehen, ob die verschiedenen ökonomischen Städtetypen zugleich durch voneinander abweichende demographische Strukturen, d.h. vor allem Unterschiede im Altersaufbau, der Sexualproportion und im Familienstand, gekennzeichnet sind. Solche Unterschiede sind deshalb zu erwarten, weil die wirtschaftliche Struktur einer Stadt nicht nur über die Höhe der Fruchtbarkeit auf den Altersaufbau ihrer Bevölkerung einwirkt, sondern zugleich über den Arbeitsmarkt Einfluß auf nach Alter und Geschlecht selektive Wanderungsvorgänge sowie die ökonomischen Voraussetzungen der Familiengründung nimmt. Auf die direkte Analyse der Wanderungsprozesse soll jedoch im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden.
2. A u s w a h l d e r S t ä d t e u n d
Datenmaterial
Vor Beginn der empirischen Analysen sind noch einige Bemerkungen zur Auswahl der untersuchten Städte, zur zeitlichen Abgrenzung sowie zum verwendeten Datenmaterial zu machen. Um eine möglichst große Vielfalt von Städten bzw. Städtetypen zu berücksichtigen, erschien es sinnvoll, die Auswahl der Untersuchungsgemeinden nicht, wie bisher meist üblich, auf die Großstädte des Deutschen Reiches zu beschränken, sondern auf kleinere und mittlere städtische Siedlungen auszudehnen. Da nun allein für Preußen für eine Reihe von Volkszählungen detaillierte bevölkerungsstatistische Angaben über sämtliche Städte bzw. Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern vorhanden sind 28 , wurde die Untersuchung auf diesen Teil des Deutschen Reiches beschränkt. Die räumliche Ausdehnung Preußens sowie seine beachtlichen kulturellen und ökonomischen Gegensätze dürften jedoch ein hohes Maß an Repräsentativität gewährleisten. Da innerhalb der Periode von 1871 bis 1914 die Volkszählung von 1880 zum erstenmal und der Zensus von 28
Einen detaillierten und kritischen Überblick über die Quellenlage gibt KNODEL (wie Anm. 22) S. 89ff.
70
Hans-Dieter Laux
1905 zum letztenmal für die einzelnen Städte differenzierte Ergebnisse liefern, wurden diese beiden Jahre als Fixpunkte der Untersuchung gewählt. Diese Wahl wurde zusätzlich begünstigt durch die zeitliche Nähe zu den Berufszählungen der Jahre 1882 und 1907. Wenn auch primär durch die Zwänge des Datenmaterials gesetzt, so erscheinen die Stichjahre 1880 und 1905 auch aus allgemeinen Erwägungen heraus durchaus geeignet zu sein. So markieren die beiden Jahre in etwa den Anfang und das Ende der nach der Gründerkrise der 70er Jahre neu einsetzenden und bis zum 1. Weltkrieg reichenden wirtschaftlichen Aufschwungphase 29 . Unter demographischem Aspekt ist die Zeit um 1880 einerseits noch durch relativ geringfügige Unterschiede in der Fruchtbarkeit zwischen Stadt und Land gekennzeichnet, andererseits ist von diesem Zeitpunkt an bei einer Reihe von Städten ein verstärkter Geburtenrückgang zu beobachten, der schließlich bis zum Jahre 1905 auf die städtische Bevölkerung sämtlicher Landesteile Preußens übergreift 30 . Als Materialgrundlage der Untersuchung dienen neben den bereits erwähnten Daten der Volkszählung von 1880 und 190531 und der Berufszählungen der Jahre 1882 und 190732 die Angaben über die Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle in den Jahren 1879 bis 1881 sowie 1904 bis 190633. Bei der Berechnung der Indices der natürlichen Bevölkerungsbewegung wurden, um mögliche Zufallsschwankungen auszuschalten, jeweils die Mittelwerte aus diesen Drei-Jahres-Perioden zugrundegelegt 34 . In die endgültige Auswahl wurden schließlich für das Jahr 1880 69 und für 1905 87 Städte e i n b e z o g e n 3 5. Eine detaillierte Übersicht der Samples liefert die Anlage 1. In methodischer Hinsicht bedient sich die nachfolgende Untersuchung eines komparativ-statischen Ansatzes; in seinem Rahmen soll versucht werden, aus der Gegenüberstellung zweier Querschnittsanalysen auch Aussagen über zeitliche Entwicklungsabläufe zu gewinnen 36 . 29
Diese Entwicklung ist abzulesen am Produktionsindex von Industrie und Handwerk. Vgl. HOFFMANN U.A. (wie Anm. 4) S. 389ff. 30 K N O D E L (wie Anm. 22) S. 97ff. 31 Preußische Statistik, Bde. 66 (1883) und 206 (1908). 32 Preußische Statistik, Bd. 76, 1 (1884); Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 209 (1910). 33 Preußische Statistik, Bde. 56 (1881), 61 (1882), 68 (1883), 196 (1905), 200 (1906), 207 (1907). 34 Die korrekte Berechnung vitalstatistischer Kennziffern erfordert, daß die in einem bestimmten Zeitraum beobachteten Geburten, Sterbefälle und Heiraten jeweils auf die mittlere Bevölkerung im entsprechenden Zeitabschnitt bezogen werden. Da jedoch zuverlässige Einwohnerzahlen nur für den jeweiligen Stichtag der Volkszählungen, d.h. den 1.12.1880 bzw. 1905, vorhanden sind, führt das hier angewendete Verfahren in der Regel zu einer leichten Erniedrigung der Indexwerte. Dies erscheint jedoch wenig problematisch, da hiervon sämtliche Städte mehr oder weniger gleichmäßig betroffen sind. Aufgrund von Änderungen der Gemeindegrenzen sowie fehlender Angaben konnten in einigen Fällen nur die vitalstatistischen Daten von jeweils zwei Jahrgängen verwendet werden. 35 Im Jahre 1880 sind dies sämtliche Städte Preußens im rechtlichen Sinne mit mehr als 20 000 Einwohnern. Für das Stichjahr 1905 war aufgrund des verfügbaren Datenmaterials eine solch eindeutige Abgrenzung nicht möglich. Hier konnten nur solche Städte ausgewählt werden, die bereits in den Jahren 1905 und 1907 selbständige Stadtkreise waren. Dies führt zu regionalen Ungleichgewichten: Während in den ostelbischen Provinzen sowie in Sachsen und Hannover z.T. auch Städte mit unter 30 000 Einwohnern berücksichtigt sind, fehlen in den Provinzen Rheinland und Westfalen sämtliche Städte dieser Größenordnung. 36 Eine in diesem Zusammenhang sicherlich wünschenswerte Zeitreihenanalyse wäre mit fast unüberwindlichen datentechnischen Problemen verbunden.
71
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
3. F u n k t i o n a l e S t ä d t e t y p e n 1882 u n d
1907
Ausgehend von der Annahme, daß die wirtschaftliche Funktion einer Stadt über die durch sie bestimmte sozialökonomische Struktur ihrer Bevölkerung einen prägenden Einfluß auf das generative Verhalten und damit die Dynamik der natürlichen Bevölkerungsentwicklung nimmt, ist zunächst als Basis der weiteren Analysen eine Klassifikation der ausgewählten Städte nach ihrer ökonomischen Funktion vorzunehmen 37 . Als Ausgangspunkt dienten die Berufszählungen der Jahre 1882 und 1907 mit ihrer Aufschlüsselung der Erwerbstätigen nach Wirtschaftssektoren (Berufsabteilungen) und Berufsgruppen. Die Gruppierung der Städte wurde nach dem Verfahren der „hierarchischen Schwellenwertmethode" 38 vorgenommen. Dieser Ansatz erfordert vorweg die Festlegung von als bedeutsam angesehenen Klassifikationskriterien und Schwellenwerten. Im vorliegenden Falle wurde in Anlehnung an die von Blotevogel erstellte Gliederung 39 sowie unter Anwendung der Schwellenwertbildung nach Nelson 40 eine zweistufige Gruppierung durchgeführt. Zunächst wurden die Städte nach dem Anteil der Beschäftigten in Industrie und Gewerbe sowie im tertiären Sektor 41 in die Obergruppen „Dienstleistungsstädte", „Industriestädte" und „multifunktionale Städte" eingeteilt. In einem zweiten Schritt wurden diese drei Gruppen weiter differenziert, und zwar die „Dienstleistungsstädte" je nach ihrem Besatz mit Berufstätigen der Gruppen „Handel und Verkehr", „Heer, öffentlicher Dienst und freie Berufe" sowie „ohne Beruf ( = Rentner, Studenten etc.) in die Untertypen „Dienstleistungsstädte mit gemischter Struktur", „Handelsstädte", „Verwaltungs- und Garnisonstädte" sowie „Rentner- und Universitätsstädte"; bei den „Industriestädten" erfolgte eine besondere Berücksichtigung der Erwerbstätigen in den Bereichen „Bergbau- und Hüttenwesen" sowie „Textilgewerbe" und damit eine Untergliederung in „Bergbau- und Schwerindustriestädte", „Textilindustriestädte" sowie „sonstige Industriestädte". Die „multifunktionalen Städte" schließlich wurden je nach der relativen Stärke des sekundären bzw. tertiären Sektors in „multifunktionale Städte ohne Schwerpunkt" sowie „Städte mit Schwerpunkten im Dienstleistungsbereich" bzw. „in Industrie und Gewerbe" differenziert. Eine genaue Übersicht über die Klassifikationskriterien sowie die Zuordnung der einzelnen Städte zu den 10 funktionalen Kategorien liefern die Abbildungen la und lb 42. 37
Zum Begriff sowie den Problemen und Methoden der funktionalen Städteklassifikation sei auf die umfassende Darstellung von H. H. Blotevogel verwiesen: H. H. BLOTEVOGEL, Methodische Probleme der Erfassung städtischer Funktionen und funktionaler Städtetypen anhand quantitativer Analysen der Berufsstatistik 1907, in: W. EHBRECHT (Hrsg.), Voraussetzungen und Methoden geschichtlicher Städteforschung, Köln-Wien 1979, S. 217-269.
3« BLOTEVOGEL ( w i e A n m . 3 7 ) S . 2 3 1 .
«
BLOTEVOGEL ( w i e A n m . 3 7 ) S . 2 3 0 .
TO H. J. NELSON, A Service Classification of American Cities, in: Economic Geography 31, 1955, S. 189-210. Nelson setzt bei seiner Städteklassifikation als Schwellenwert für die einzelnen Beschäftigtenkategorien die einfache positive Standardabweichung ihres Anteils vom jeweiligen Mittelwert aller Städte. Im vorliegenden Falle wurde bei der Bestimmung der Haupttypen als Grenzwert die Hälfte, bei den Untertypen der „Dienstleistungs-" und „Industriestädte" die volle sowie bei den Teilgruppen der „multifunktionalen Städte" ein Viertel der Standardabweichung gewählt. 41 Zum „tertiären Sektor" wurden die Berufsabteilungen C bis F, d.h. „Handel und Verkehr", „häusliche Dienste, wechselnde Lohnarbeit", „Heer, öffentlicher Dienst, freie Berufe" sowie „ohne B e r u f , zusammengefaßt. 42 Teils vergleichbare, teils abweichende Zuordnungen liefern die Typisierungen von G . GASSERT, Die berufliche Struktur der deutschen Großstädte nach der Berufszählung von 1907, Phil. Diss. Heidelberg, Greifswald 1907 und H. H. BLOTEVOGEL (wie Anm. 37).
72 Tabelle
1 a:
Funktionale Städtetypen 1882. Klassifikationskriterien und Zusammensetzung der Gruppen
1.
2.
Dienstleistungsstädte t e r t i ä r e r Sektor über 53,32% η = 29
Industriestädte I n d u s t r i e u. Gewerbe über 57,88% η = 22
3. M u l t i f u n k t i o n a l e Städte t e r t i ä r e r Sektor unter 53,32% + I n d u s t r i e u. Gewerhe unter 57,88% η = 18
1.1 D i e n s t l e i s t u n g s s t ä d t e mit gemischter Struktur n i c h t unter 1.2 b i s 1.4 f a l l e n d e Städte η = 7
Flensburg, F r a n k f u r t a . O d e r , K a s s e l , K ö n i g s b e r g , Posen, Stargard, T i l s i t
1.2 Handelsstädte Handel u. Verkehr über 20.06% η = 6
Danzig, F r a n k f u r t a.Main, Hannover, Köln, Magdeburg, Stettin
1.3 Verwaltungs- u. Garnisonstädte Heer, ö f f e n t l . D i e n g t , f r e i e B e r u f e über 24,36% η = 9
Brandenburg, Bromberg, K i e l , Koblenz, N e i s s e , Potsdam, Thorn, T r i e r , Hesel
1.4 Rentner- u. U n i v e r s i t ä t s städte ^ ohne Beruf über 15,60% η = 7
Bonn, H a l l e , Hildesheim, Münster, S c h w e i d n i t z , S t r a l sund, Wiesbaden
2 1 Bergbau- u . S c h w e r i n d u s t r i e städte Bergbau u. Hüttenwesen über 14,98% η = 6
Beuthen, Bochum, Dortmund, Essen, K ö n i g s h ü t t e , Mülheim a.Ruhr
2 2 Textilindustriestädte T e x t i l i n d u s t r i e über 17,18% η = 7
Barmen, E l b e r f e l d , Guben, Linden i . H a n n . , K r e f e l d , Mönchen-Gladbach, V i e r s e n
2 3 sonstige Industriestädte n i c h t unter 2.1 u. 2.2 f a l lende Städte η = 9
A l t o n a , B i e l e f e l d , Duisburg, Hagen, Mülhausen i . T h ü r . , Mülheim a . R h e i n , NeustadtMagdeburg, Remscheid, W i t t e n
3.1 M u l t i f u n k t i o n a l e Städte ohne Schwerpunkt n i c h t unter 3.2 u. 3.3 f a l lende Städte η = 11
Düsseldorf, Elbing, E r f u r t , G ö r l i t z , H a l b e r s t a d t , Hanau, Kottbus, Landsberg, L i e g n i t z , Osnabrück, S t o l p
3.2 M u l t i f u n k t i o n a l e Städte m i t Schwerpunkt im D i e n s t leistungsbereich t e r t i ä r e r Sektor über 49,62% η = 3
Breslau, Spandau
3.3 M u l t i f u n k t i o n a l e Städte m i t Schwerpunkt i n I n d u s t r i e u. Gewerbe I n d u s t r i e u. Gewerbe über 54,25% η = 4
Aachen, B e r l i n , Hamm, Nordhausen
Charlottenburg,
Wird e i n Schwellenwert mehrfach ü b e r s c h r i t t e n , so e r f o l g t d i e Zuordnung aufgrund des r e l a t i v höchsten A n t e i l w e r t e s . QUELLE: Preußische S t a t i s t i k Bd. 76,1
73
Tabelle
lb:
Funktionale Städtetypen 1907. Klassifikationskriterien und Zusammensetzung der Gruppen
Wird e i n Schwellenwert mehrfach ü b e r s c h r i t t e n ,
so e r f o l g t ,
Zuordnung aufgrund des r e l a t i v höchsten A n t e i l w e r t e s . QUELLE: S t a t i s t i k des Deutschen R e i c h e s , Bd. 209
die
74
Hans-Dieter Laux
Vergleicht man die Gruppierungen für die Jahre 1882 und 1907 miteinander, so ist die starke Zunahme der Industriestädte und ihr quantitatives Aufschließen zu den anfänglich führenden Dienstleistungsgemeinden beachtenswert. Diese Verschiebung schlägt sich jedoch kaum im mittleren Anteil der in Industrie und Gewerbe Beschäftigten nieder, zeigt dieser doch lediglich eine Steigerung von 50,6 auf 51,3% Dies mag ein Hinweis auf die im Zuge der Industrialisierung gleichermaßen wachsende Bedeutung des tertiären Wirtschaftssektors sein. Betrachtet man die Zuordnung der 65 Gemeinden, die sowohl 1882 wie 1907 zum Städtesample zählen, so ergibt sich eine auf den ersten Blick-überraschend hohe Zahl von 28 ( = 43,1%) Umgruppierungen. Eine detaillierte Analyse jedoch zeigt, daß innerhalb des Zeitraumes von 25 Jahren lediglich neun Städte ihren ökonomischen Grundtypus verändern. So werden vier Dienstleistungsstädte zu multifunktionalen Siedlungen (Brandenburg, Frankfurt a./Oder, Köln, Magdeburg), eine Industriestadt zur Handelsstadt (Altona) sowie je zwei multifunktionale Städte zu Dienstleistungsgemeinden (Halberstadt, Charlottenburg) bzw. Industriesiedlungen (Elbing, Spandau). Damit ergibt sich im stürmischen Städtewachstum der Hochindustrialisierungsperiode eine insgesamt beachtliche Persistenz hinsichtlich der einmal übernommenen ökonomischen Grundfunktionen der Städte.
4. F u n k t i o n a l e und natürliche
Städtetypen
Bevölkerungsentwicklung
4.1. Die historisch-soziologische Bevölkerungstheorie von G. Mackenroth Es stellt sich nun die Frage nach der Relevanz der vorgenommenen Städteklassifikation für die Differenzierung des natürlichen Bevölkerungsvorganges. Diese Frage ist zunächst in zwei Teilfragen aufzuspalten, und zwar zum einen nach dem Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Funktion einer Stadt und der sozialökonomischen Struktur ihrer Bevölkerung sowie zum anderen nach dem Einfluß dieser Bevölkerungsstruktur auf das generative Verhalten. Zu dem zweiten Problemkreis zunächst einige Überlegungen. Einen bis heute überzeugenden Einblick in den Zusammenhang von wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Entwicklungsprozessen liefert die „historischsoziologische Bevölkerungstheorie" von G. Mackenroth 44 . Diese Theorie interpretiert das Bevölkerungswachstum Mitteleuropas in den vergangenen 200 Jahren als Teil und Ausdruck des sozialen und ökonomischen Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Im Zentrum der Theorie stehen dabei die weitgehend synonymen Begriffe der „generativen Struktur" resp. „Bevölkerungsweise" 45 . Darunter wird das jeweils spezifische Zusammenspiel von Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Heiratsverhalten verstanden. 43
44
Diese Zahlen stellen jeweils ungewichtete Mittelwerte dar und sind deshalb nicht voll miteinander vergleichbar. MACKENROTH ( w i e A n m .
10).
MACKENROTH ( w i e A n m . 10) S.
110.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
75
Die „vorindustrielle Bevölkerungsweise" ist in erster Linie durch eine mehr oder weniger unbeschränkte innereheliche Fruchtbarkeit gekennzeichnet; die notwendige Anpassung des Bevölkerungswachstums an den vorhandenen Nahrungs- und Existenzspielraum wird primär über das Heiratsverhalten gesteuert. Geringe Heiratshäufigkeit und hohes Heiratsalter, von Hajnal 4 6 als traditionelles „european marriage pattern" beschrieben, werden damit zu charakteristischen Merkmalen des generativen Verhaltens vorindustrieller Gesellschaften. Demgegenüber ist die „industrielle" oder „neue Bevölkerungsweise" durch eine deutlich gesunkene, im Prinzip aber durchaus variable innereheliche Fruchtbarkeit bei gleichzeitig stark herabgesetztem Heiratsalter und erhöhter Heiratsfrequenz gekennzeichnet. Damit wird die eheliche Fruchtbarkeit zur entscheidenden demographischen Variablen 47. Das rapide Bevölkerungswachstum, d.h. die „Bevölkerungswelle" des 19. und 20. Jahrhunderts aber deutet Mackenroth als Übergangs- bzw. „Überschichtungsphänomen" 48, insofern mit der Entwicklung des Industriesystems zwar einerseits die materielle Basis für eine Zunahme von Familiengründungen geschaffen, andererseits aber die traditionelle hohe innereheliche Fruchtbarkeit beibehalten bzw. über die Reduzierung des Heiratsalters z.T. sogar noch verstärkt wurde. Dieses Phänomen äußerte sich vornehmlich bei der industriellen Arbeiterschaft, die, häufig aus ländlichen Unterschichten und kleinbäuerlichen Verhältnissen stammend, als Zuwanderer das überlieferte generative Verhalten mit in die städtische Lebenswelt brachten und dort zumindest eine Generation lang beibehielten 49 . Demgegenüber zeigten die traditionellen städtischen Mittel- und Oberschichten bereits eine frühere Anpassung ihrer Fruchtbarkeit an die gewandelten ökonomischen und sozialen Bedingungen, ein Verhalten, das schließlich noch vor dem ersten Weltkrieg auch von Teilen der Unterschichten übernommen wurde. Die entscheidende Verknüpfung zwischen dem jeweiligen Sozial- und Wirtschaftssystem, d.h. der „Wirtschaftsweise" auf der einen und dem generativen Verhalten bzw. der „Bevölkerungsweise" auf der anderen Seite, geschieht nach Mackenroth über die Bereitstellung und Verfügbarkeit von ökonomisch und generativ vollwertigen, d.h. zur Familiengründung ausreichenden bzw. berechtigten „Stellen" 50 . Während im vorindustriellen Wirtschaftssystem neben diesen „Vollstellen" sowohl im landwirtschaftlichen wie im gewerblichen Bereich eine Vielzahl von „generativ sterilisierten Hilfsarbeiterstellen" (Knechte, Mägde, Gesellen etc.) existierten, fällt in der kapitalintensiven industriellen Wirtschaft diese Trennung fort: „Jeder Arbeitsplatz männlicher erwachsener Arbeiter ist tendenziell ausgestattet auf eine Familie hin, er ist generativ vollwertig" 51.
46
48
49
J. HAJNAL, European Marriage Patterns in Perspective, in: D. V . GLASS / D. E . C . EVERSLEY (Eds.), Population in History. Essays in Historical Demography, London 1965, S. 101-143. MACKENROTH (wie Anm. 10) S. 408ff. MACKENROTH (wie Anm. 10) S. 411. Der für das Entstehen der „Bevölkerungswelle" entscheidende Rückgang der Sterblichkeit ist nach Mackenroth ein Resultat der veränderten sozialen und ökonomischen Umweltbedingungen. KÖLLMANN ( w i e A n m . 2 6 ) S . 1 5 4 .
SO MACKENROTH ( w i e A n m . 1 0 ) S . 4 3 1 f. 51
MACKENROTH ( w i e A n m . 1 0 ) S . 4 3 9 .
76
Hans-Dieter Laux
4.2. Sozialökonomische Bevölkerungsstrukturen und generatives Verhalten Aus diesen Überlegungen folgt nun für unsere Fragestellung die Notwendigkeit einer getrennten Betrachtung von Heiratsgeschehen und ehelicher Fruchtbarkeit als den entscheidenden Elementen des generativen Verhaltens 5 2 . Diese beiden Komponenten werden von Stadt zu Stadt durch das Ausmaß der sozialen Differenzierung der Bevölkerung einerseits sowie durch die Struktur des lokalen Arbeitsmarktes andererseits in jeweils unterschiedlicher Form und Richtung beeinflußt. So führt ein steigender Anteil von Familien der städtischen Ober- und Mittelschichten sowohl zu einer Erniedrigung des ehelichen Fruchtbarkeitsniveaus als auch zu einer - nicht zuletzt in der Berufsausbildung und beruflichen Karriere begründeten Erhöhung des Heiratsalters. Demgegenüber beeinflußt das Angebot an ökonomisch vollwertigen, relativ krisensicheren und ausreichend entlohnten Arbeitsplätzen in erster Linie die Möglichkeiten der Familiengründung, d.h. die Heiratshäufigkeit, sowie darüber hinaus die Höhe des Alters bei der Eheschließung. Leider verfügen wir bisher nur über unzureichende Informationen über das mittlere Lohn- und Einkommensniveau in den einzelnen Wirtschaftsbereichen oder gar Berufsgruppen. Es darf jedoch angenommen werden, daß in dem hier betrachteten Zeitraum das generelle Lohn- bzw. Einkommensniveau der unselbständig Beschäftigten in Industrie und Handwerk höher lag als in den Bereichen des tertiären Sektors, von qualifizierten Berufsgruppen mit akademischer Ausbildung einmal abgesehen. In diesem Sektor gab es insbesondere in den Bereichen der häuslichen Dienste, des Handels sowie des Gaststätten- und Verkehrsgewerbes noch zahlreiche wenig qualifizierte, schlecht bezahlte sowie durch kurzfristige Arbeitsverträge (Tagelohn) und hohe Mobilität gekennzeichnete Arbeitsplätze 53 . Innerhalb des wohl generell begünstigten Industriesektors zeigen sich jedoch von Branche zu Branche beachtliche Unterschiede im Lohnniveau 54 . Überdurchschnittlich hoch lag dieses in den durch starkes Wachstum und qualifiziertere Tätigkeiten gekennzeichneten Industriezweigen, wie etwa der chemischen Industrie oder beim Maschinenbau, während eher stagnierende Branchen, wie z.B. die Textilindustrie, durch ein niedriges Niveau und geringe Steigerungsraten der Löhne ausgezeichet waren. Eine Sonderstellung nahm ohne Zweifel der Bergbau ein, dessen Löhne bis zum Jahre 1913 eine Spitzenstellung erreichten. In diesem Sektor konnten auch ungelernte Arbeitskräfte bereits in jungen Jahren ein überdurschnittliches Einkommen erzielen. Die differenzierte ökonomische Lage der einzelnen Berufsgruppen sowie 52
53
5"
Die Rolle der unehelichen Fruchtbarkeit darf hier vernachlässigt werden. Die Unehelichenquote, d.h. der Anteil der nicht-ehelichen Geburten an allen Geburten, erreicht im Jahre 1880 im Mittel der Städte einen Wert von 8,7% und im Jahre 1905 von 9,2%. Vgl. L . NIETHAMMER / M. v. F . BRÜGGEMEIER, Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich? In: Archiv für Sozialgeschichte 16, 1976, S. 61-134, hier S. 112-113. Zur Lage der kaufmännischen Angestellten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. R. ENGELSIN«, Die wirtschaftliche und soziale Differenzierung der deutschen kaufmännischen Angestellten im In- und Ausland 1690-1900, in: R. ENGELSING, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, 2. Aufl., Göttingen 1978, S. 51-111, hier insbes. S. 80 u. 101-107. Vgl. Α . V. DESAI, Real Wages in Germany, 1871-1913, Oxford 1968, S. 109ff. - HOFFMANN U.A. (wie Anm. 4) S. 468ff.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
77
die unterschiedliche Höhe des Verdienstes nach Lebensjahren 55 spiegelt sich eindrucksvoll in den von v. Fircks berichteten Werten des durchschnittlichen Heiratsalters in Preußen wider 56 . Während im Mittel der Jahre 1881-1886 in den Städten die im Bergbau und Hüttenwesen beschäftigten Männer mit 27,57 Jahren das niedrigste Heiratsalter zeigten und von den Fabrikarbeitern „ohne nähere Bezeichnung" (27,67 J.) sowie den Metallarbeitern (27,93 J.) gefolgt wurden, lag der Wert für die Beschäftigten in der Textilindustrie bei immerhin 30,09 Jahren. Dieses Alter wurde allerdings von den meisten Berufsgruppen des tertiären Sektors noch übertroffen, so von den Beschäftigten im Verkehrsgewerbe (30,47 J.), im Handel und Versicherungswesen (30,91 J.) oder im Gaststättengewerbe (31,65 J.). Eine ähnliche Reihenfolge ergab sich für das mittlere Heiratsalter der berufstätigen Frauen. Die eine frühe Eheschließung fördernde relativ günstige ökonomische Lage von Teilen der Industriearbeiterschaft müßte nun nach einer engen Auslegung der sog. „Wohlstandstheorie" zu einem eher niedrigen Niveau der ehelichen Fruchtbarkeit führen. Demgegenüber hat jedoch bereits Mombert betont, daß zwar langfristig gesehen wachsender Wohlstand über eine Veränderung des Wertesystems zu einer Geburtenreduktion führt, kurzfristig aber eine Besserung der ökonomischen Bedingungen durchaus eine Zunahme der Fruchtbarkeit zur Folge haben kann 5 7 . Diese Aussage läßt sich durch die Beobachtung Mackenroths ergänzen, daß innerhalb derselben - im wesentlichen durch die Kategorien der beruflichen Stellung bestimmten - Sozialschicht die insgesamt schichtenspezifische Differenzierung der Fruchtbarkeit durch eine eher positive Korrelation zwischen Einkommen und Kinderzahl modifiziert wird 58 . Über die bisher diskutierten Zusammenhänge hinaus muß der Erwerbstätigkeit der Frau ein zusätzlicher Einfluß auf das Heiratsgeschehen sowie auf die Höhe der innerehelichen Fruchtbarkeit zugesprochen werden. So ist anzunehmen, daß die Aufnahme eigener Erwerbstätigkeit, etwa als Dienstbote oder Textilarbeiterin, auch wenn dies nur bis zur Eheschließung geschah, zu einer Erhöhung des Heiratsalters und damit zugleich zu einer Reduzierung zumindest der potentiellen ehelichen Fruchtbarkeit führte. Bei einer Fortführung der Erwerbstätigkeit während der Ehe darf eine zusätzliche Einschränkung der Kinderzahl erwartet werden. Als eine letzte Determinante des Heiratsgeschehens muß die jeweilige - meist durch die Struktur des Arbeitsmarktes bestimmte - Sexualproportion einer Bevölkerung genannt werden 59. Ein deutliches Übergewicht an männlichen Arbeitsplätzen (z.B. Bergbau, Schwerindustrie) führt zu einer Verbesserung, ein überdurchschnittliches Angebot an spezifisch weiblichen Beschäftigungsmöglichkeiten (z.B. häusl. 55
56
57
Auf diesen Aspekt macht insbesondere Prinzing aufmerksam. Vgl. F. PRINZING, Die Wandlungen der Heiratshäufigkeit und des mittleren Heiratsalters, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft 5,1902, S. 656-674, hier S. 672 A. v. FIRCKS, Die Berufs- und Erwerbsthätigkeit der eheschliessenden Personen in ihrem Einflüsse auf deren Verheirathbarkeit, der Wahl des Gatten bezw. der Gattin, das durchschnittliche Heirathsalter, die eheliche und uneheliche Fruchtbarkeit sowie das Geschlecht und die Lebensfähigkeit der Kinder, in: Zeitschrift des Königl. Preuß. Statist. Bureaus 29, 1889, S. 165-203, hierS. 179. P. MOMBERT, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit, Karlsruhe 1907, S. 245ff.
58
MACKENROTH ( w i e A n m . 1 0 ) S . 2 8 2 .
59
J. KNODEL / M. J. MAYNES, Urban and Rural Marriage Patterns in Imperial Germany, in: Journal of Family History 1,1976, S. 129-168, hier S. 154f.
78
Hans-Dieter Laux
Dienste, Textilindustrie) eher zu einer Verschlechterung der Heiratschancen der Frauen. 4.3. Funktionale Städtetypen und sozialökonomische Bevölkerungsstrukturen Erscheint der Zusammenhang zwischen der sozialökonomischen Situation einer Bevölkerung und ihrem generativen Verhalten nach den vorangegangenen Ausführungen zumindest in wesentlichen Aspekten geklärt, so ist jetzt noch die Frage nach dem Einfluß der ökonomischen Funktion einer Stadt auf die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung zu stellen. Wir wissen sicherlich noch viel zu wenig über die soziale Differenzierung und die ökonomische Lage der Bevölkerung einzelner Städte, noch weniger über solches in unterschiedlichen Städtetypen, um diese Frage detailliert beantworten zu können 6 0 . Dennoch sind sicherlich einige allgemeine Aussagen möglich. So ist in den ausgesprochenen Industriegemeinden eine starke Dominanz von beruflich mehr oder weniger qualifizierten und in starkem Maße aus ländlichen Räumen zugewanderten Mitgliedern der sozialen Unterschicht zu erwarten. Zugleich aber stellen diese Industriestädte überwiegend ökonomisch - und damit im Sinne von Mackenroth auch generativ - vollwertige Arbeitsplätze zur Verfügung, die einer wachsenden Bevölkerungszahl eine zumindest bescheidene und sich im Laufe der Industrialisierung verbessernde Existenzgrundlage ermöglichen. Diese Aussage mijß jedoch für die Gruppe der Textilindustriestädte etwas modifiziert werden. Die durchschnittliche Einkommenshöhe ist in diesen früh industrialisierten Städten, die ihr Spitzenwachstum häufig bereits vor 1871 erreicht hatten 61 , aufgrund des niedrigen Lohnniveaus im Textilgewerbe sicherlich niedriger anzusetzen als in den übrigen Industriestädten. Andererseits jedoch verfügte die Textilbranche traditionellerweise über eine große Zahl von Arbeitsplätzen für Frauen und ermöglichte damit häufig eine Aufstockung des Familieneinkommens. Verglichen mit den Industriegemeinden dürfen wir in den überwiegend durch den Dienstleistungssektor bestimmten Städten sowohl eine stärker ausgeprägte soziale Stratifikation als auch eine deutliche Trennung der „Stellen" im Sinne Mackenroths in ökonomisch und generativ vollwertige auf der einen und Hilfsarbeiterstellen auf der anderen Seite erwarten. Als meist traditionelle Standorte der ökonomischen, politischen und kulturellen Zentralfunktionen besitzen die Städte mit den Trägern dieser Funktionen eine relativ stark ausgebildete Mittel- und Oberschicht. Nicht zuletzt führen die 60
61
In den USA beschäftigt sich die „New Urban History" seit einiger Zeit verstärkt mit diesem Fragenkomplex. Vgl. hierzu die nachfolgenden Berichte: P. J. BLESSING, New Urban History in den Vereinigten Staaten, in: W. H. SCHRÖDER (Hrsg.), Moderne Stadtgeschichte, Stuttgart 1979, S. 18-34. - J. MODELL, Die „Neue Sozialgeschichte" in Amerika, in: Geschichte und Gesellschaft 1, 1975, S. 155-170. In diesen Zusammenhang dürfen eine Reihe von neueren Untersuchungen mitteleuropäischer Städte gestellt werden; vgl. z.B. D. CREW, Regionale Mobilität und Arbeiterklasse. Das Beispiel Bochum 1880-1901, in: Geschichte und Gesellschaft 1, 1975, S. 99-120. - J. H. JACKSON, Wanderungen in Duisburg während der Industrialisierung 1850-1910, in: W. H. SCHRÖDER (Hrsg.) s.o., S. 217-237. - W. H . HUBBARD, Städtische Haushaltsstruktur um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: W. H. SCHRÖDER (Hrsg.) s.o., S. 198-216. Vgl. KÖLLMANN (wie Anm. 26) S. 142. Nach eigenen Berechnungen des Verf. zeigen die im Jahre 1907 als Textilindustriestädte klassifizierten Gemeinden im Zeitraum zwischen 1875 und 1905 insgesamt nur unterdurchschnittliche Wanderungsgewinne, die - mit Ausnahme von Forst i. Lausitz - jeweils deutlich hinter den Geburtenüberschüssen zurückbleiben. Eine nach 5-Jahresperioden differenzierte Analyse läßt sogar nach 1890 verbreitet negative Wanderungssalden erkennen.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
79
Ansprüche dieser Gruppen an Repräsentation und Haushaltsführung zu einem beachtlichen Potential an durch starke Abhängigkeitsbeziehungen und niedriges Lohnniveau gekennzeichneten Beschäftigungsmöglichkeiten im Bereich der häuslichen Dienstleistungen 62. Doch auch Handel, Verkehrsgewerbe und das traditionelle Handwerk stellen häufig nur unzureichend entlohnte und damit zumindest eine frühe Familiengründung erschwerende Arbeitsplätze zur Verfügung. Die geschilderte Struktur des Arbeitsmarktes aber begünstigt insgesamt eine relativ hohe Erwerbstätigkeit der Frau. Die hier etwas idealtypisch vereinfachte sozialökonomische Struktur der Dienstleistungsstädte wird natürlich von Untertyp zu Untertyp gewisse Modifikationen zeigen. Besonders deutlich dürfte sie jedoch bei der Gruppe der Rentner- und Universitätsstädte ausgeprägt sein. Gegenüber den Kategorien der Industriestädte auf der einen und den Dienstleistungsgemeiden auf der anderen Seite sind bei den „multifunktionalen Städten" weniger eindeutige sozialökonomische Verhältnisse zu erwarten. Vielmehr ist hier mit einer mehr oder weniger starken Durchmischung bzw. Überlagerung der geschilderten Strukturmuster und damit auch einer vermittelnden Stellung hinsichtlich des natürlichen Bevölkerungsgeschehens zu rechnen. Die vorangegangenen Ausführungen können zumindest teilweise durch einige sozialstatistische Indikatoren belegt werden. In Tabelle 2 wurden zu diesem Zwecke für sämtliche 10 Städtetypen für die Jahre 1880/82 und 1905/07 die Zahl der weiblichen Dienstboten pro 100 Haushalte, der Anteil der Familienangehörigen an allen in den Haushaltungen lebenden Personen sowie der Prozentsatz der berufstätigen Frauen an den Erwerbstätigen (ohne Dienstboten) sowie zusätzlich für 1905/07 die Zahl der zur Einkommensteuer veranlagten Zensiten pro 100 Erwerbstätige sowie der mittlere Steuerbetrag pro Zensit zusammengestellt. Während die beiden ersten Variablen einen Eindruck vom Ausmaß der häuslichen Dienstleistungen vermitteln 63 - die entsprechenden Bediensteten wurden meist als Haushaltsmitglieder gezählt - , erlauben die steuerstatistischen Angaben einen Einblick in die Höhe und Streuung der Einkommen. Auf eine detaillierte Interpretation der Daten kann hier verzichtet werden. Ein kurzer Überblick jedoch läßt bei den beiden ersten Variablen eine deutliche Gruppenbildung entsprechend den funktionalen Haupttypen der Städte erkennen. Diese Dreiteilung spiegelt sich in den Grundzügen auch im Anteil der weiblichen Erwerbstätigen wider, allerdings mit den entscheidenden Modifikationen einer vergleichsweise niedrigen Quote in den Garnisonstädten - sämtliche aktiven Militärpersonen wurden bei der Berufszählung erfaßt und beeinflussen damit die Erwerbsstruktur - sowie einer jeweils maximalen Erwerbsbeteiligung in den Textilindustriestädten. Von überraschender Aussagekraft sind auch die Ergebnisse der Steuerstatistik. So liegen die In-
62
63
Vgl. R. ENGELSING, Das häusliche Personal in der Epoche der Industrialisierung, in: DERS. (wie Anm. 53) S. 225-261. Die Variable „Anteil der Familienangehörigen an allen Haushaltsmitgliedern" ist in ihrer Aussagekraft nicht ganz eindeutig, da ihr Wert u.a. auch durch das Ausmaß der Untermiete und des Schlafgängertums beeinflußt wird. Letzteres ist im Jahre 1905 insbesondere in den Städten des Ruhrgebietes weit verbreitet. Vgl. hierzu NIETHAMMER (wie Anm. 5 3 ) S . 114ff.
80
Hans-Dieter Laux
dustriestädte mit Ausnahme der Textilstädte beim Anteil der steuerpflichtigen Erwerbspersonen an der Spitze, hinsichtlich des mittleren Steuerbetrages jedoch am Ende der Skala, während die Dienstleistungsgemeinden eine eher gegenteilige Tendenz zeigen. Als Zusammenfassung der vorangegangenen Überlegungen zu den Wechselbeziehungen zwischen funktionalem Stadttypus, sozialökonomischer Bevölkerungsstruktur und generativem Verhalten kann nun folgende Hypothese formuliert werden: Innerhalb des preußischen Städtesystems ist eine deutliche Differenzierung sowohl der ehelichen Fruchtbarkeit wie auch des Heiratsverhaltens in Abhängigkeit von der ökonomischen Struktur und Funktion der Städte zu erwarten; und zwar werden das Fruchtbarkeitsniveau und die Heiratsfrequenz einerseits um so höher sein, je stärker die industrielle Prägung der Siedlungen ist, und andererseits um so niedriger ausfallen, je mehr der Dienstleistungssektor den Charakter der Städte bestimmt.
Tabelle 2 Ausgewählte Daten zur Sozialstruktur preußischer Städte 1880-1905 Städtetypen
weibl Dienstb o t e n p r o 100 Familienhaushaltungen
Anteil der Familienangehörigen an allen Haushaltsmitgliedern
F r a u e n in % der Erwerbstätigen (ohne Dienstboten)
Zens i t e n pro 100 Erwerbstätige
durchscbn. Einkommenssteuerbetrag pro Zensit (Mark)
1880
1905
1880
1905
1882
1907
1907
1907
1 1 Dienstleistungsstädte mit gem. Struktur 1 2 Handelsstädte 1 3 Verwaltungs- und Garnisonsstädte 1 4 Rentner- und Universitätsstädte 2 1 B e r g b a u - u. S c h w e r industriestädte 2 2 Texti I n d u s t r i e städte 2 3 Sonstige Industriestädte 3 1 Multifunkt. Städte ohne Schwerpunkt 3 2 Multifunkt. Städte Schwerpunkt Dienstleistungen 3 3 Multifunkt. Städte Schwerpunkt Indus t r i e u. G e w e r b e
28, 64
19, 54
82, 72
87, 12
22, 81
27, 94
37, 90
56,83
32, 23 29, 75
23, 16 21, 31
82, 73 83, 60
84,86 8 5 , 56
22, 58 18, 90
28, 11 24, 89
50, 22 30, 28
65, 28 55, 30
33, 34
25, 36
82, 72
84, 15
24,47
29, 48
38, 54
61, 38
18, 04
12, 77
90, 32
89,27
15,10
16, 27
61,18
28, 55
14, 22
12,60
91,80
91, 99
26, 53
32,61
44, 16
48,25
15, 67
11, 00
89, 99
90, 50
18, 35
22, 56
52,84
35, 12
23, 38
17, 91
86, 08
87, 91
23, 94
28, 26
44, 67
48, 76
21, 53
18, 09
86, 47
88,40
21, 79
30,68
37,13
53, 07
22, 01
15,40
87, 37
90, 29
22, 63
25, 95
42, 05
43,88
Städte
23, 95
17, 26
86, 33
88, 10
21, 70
26, 17
44 , 69
48, 28
insgesamt
Q U E L L E N : S t a t i s t i k d e s D e u t s c h e n R e i c h e s B d . 209; P r e u s s i s c h e S t a t i s t i k Bd. 66, 76/1, 190; H. S I L B E R G L E I T , P r e u s s e n s S t ä d t e , B e r l i n 1905, S. 426
ff.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
81
4.4. Empirische Analyse des generativen Verhaltens Bevor wir nun zur Betrachtung der natürlichen Bevölkerungsbewegung in den Städten kommen, sei noch einmal die von zahlreichen Autoren 64 herausgearbeitete beachtliche regionale Differenzierung des generativen Verhaltens in Deutschland hervorgehoben. Es ist natürlich zu erwarten, daß diese in soziokulturellen Unterschieden begründete Differenzierung sich auch im Verhalten der städtischen Bevölkerung der jeweiligen Region niederschlagen und damit die Wirksamkeit der lokalen sozialökonomischen Strukturen mehr oder weniger stark überlagern wird. Um die erwarteten regionalen Einflüsse zu prüfen und gegebenenfalls zu isolieren bzw. auszuschalten, wurde das Territorium Preußens auf der Basis der Provinzen in vier zusammenhängende Regionen unterteilt. Dabei wurde versucht, möglichst homogene Einheiten in ihrer historischen und kulturellen Tradition - wie z.B. in der konfessionellen Ausrichtung - zu bilden. Zugleich sollten diese Gebiete jedoch eine relativ gleiche Zahl von Städten umfassen. Nach einigen Versuchen wurde folgende Gliederung gewählt: Region I: Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Pommern, Schlesien; Region II: Berlin, Brandenburg, Sachsen; Region III: Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau und Region IV: Rheinland, Westfalen. Zur Analyse des generativen Verhaltens sollen im folgenden eine Reihe von demographischen Indices dienen, die von A. Coale 65 entwickelt wurden und seither in einer Reihe von Arbeiten erfolgreiche Anwendung fanden 66. Es sind dies im einzelnen ein „Index der Gesamtfruchtbarkeit" (If), ein „Index der ehelichen Fruchtbarkeit" (Ig), eine Maßzahl der „unehelichen Fruchtbarkeit" (Ih) sowie die „Verheiratetenquote" (Im). Diese vier Maßzahlen erlauben eine differenziertere Analyse des natürlichen Bevölkerungsgeschehens als dies mit den gängigen demographischen Kennziffern, wie etwa der rohen Heirats- und Geburtenrate oder auch der allgemeinen bzw. ehelichen Fruchtbarkeitsziffer, möglich ist. Die ausgezeichnete Vergleichbarkeit der hier verwendeten Indices wird durch die besondere Form der Standardisierung erreicht. Dabei wird die Fruchtbarkeit einer gegebenen Bevölkerung mit derjenigen der nordamerikanischen „Hutterer-Brüder" verglichen, d.h. einer Sekte, bei der aufgrund einer religiös motivierten Ablehnung jeglicher Geburtenregelung, die höchste Fruchtbarkeit einer geschlossenen Bevölkerungsgruppe beobachtet wurde 67. «4 Vgl. Anm. 21 und 22. 65 A. J. COALE, The Decline of Fertility in Europe from the French Revolution to World War II, in: S. J. BEHRMAN / L. CORSA / R. FREEDMAN (Eds.), Fertility and Family Planning, Ann Arbor 1969, S. 3-24, hierS. 4-6. 66 Hier sind insbesondere die umfangreichen Studien des „Office of Population Research" der Princeton University zum Bevölkerungswandel in Europa zu nennen. Vgl. z.B.: KNODEL (wie Anm. 22). - R. J. LESTHAEGHE, The Decline of Belgian Fertility, 1800-1970, Princeton, Ν. J. 1977. - Ε. VAN DE WALLE, The Female Population of France in the Nineteenth Century, Princeton, N. J. 1974. 67 L. HENRY, Some Data on Natural Fertility, in: Eugenics Quaterly 8,1961, S. 81-91. Ich danke Herrn Prof. R. Tilly für den kritischen Hinweis, daß die Werte der verwendeten Indices und damit u.U. auch die relativen Unterschiede in deren Ausprägung für die einzelnen Städte bzw. Städtetypen durch die jeweilige Wahl der altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten beeinflußt werden. Ein Test mit drei verfügbaren alternativen Sätzen von Fertilitätsraten - und zwar für Berlin 1880 und 1905 (Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 8 (1882), S. 26; 30 (1907), S. 35) sowie die sechs thüringischen Staaten, Oldenburg und Braunschweig 1876/80 (Statistik
82
Hans-Dieter Laux
Eine detaillierte Erläuterung der Indices und ihrer Berechnung liefert die Anlage 2. Zur Deutung der Ziffern mögen folgende Bemerkungen ausreichen: Der Index der Gesamtfruchtbarkeit (If) gibt an, bis zu welchem Ausmaß sich die Fertilität einer Bevölkerung dem Fruchtbarkeitsniveau nähert, das erreicht würde, wenn alle Frauen zwischen 15 und 49 Jahren dem generativen Verhalten der verheirateten Hutterer-Frauen folgen würden (If = 1). Die Indices der ehelichen (Ig) und der unehelichen Fruchtbarkeit (Ih) liefern die entsprechenden Werte für die Untergruppen der verheirateten und unverheirateten Frauen. Die Verheiratetenquote (I m ) ist schließlich als mittlerer gewichteter Anteil der in den Altersgruppen zwischen 15 und 49 Jahren verheirateten weiblichen Bevölkerung zu interpretieren. Anhand der Daten in Tabelle 3 läßt sich nun mit Hilfe der genannten demographischen Indices prüfen, ob die unterschiedlichen funktionalen Städtetypen auch durch differenzierte Formen des generativen Verhaltens gekennzeichnet sind und welche regionalen Variationen des natürlichen Bevölkerungsvorganges zu beobachten sind. Die Tabellen liefern das Ergebnis einer „multiplen Klassifikationsanalyse". Diese primär deskriptive Form der Varianzanalyse findet in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen eine zunehmende Anwendung 68 . Sie erlaubt es, den Einfluß einer oder mehrerer nicht-metrischer unabhängiger Variablen ( = Faktoren) - in unserem Falle der „funktionalen Städteklassifikation" sowie der „regionalen Gliederung" - auf die Variation von metrischen abhängigen Variablen, d.h. im konkreten Beispiel die jeweiligen Teilaspekte des generativen Verhaltens, quantitativ exakt zu beschreiben 69. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist folgendes zu beachten : Für jede der Variablen liefert die Tabelle die Mittelwerte der Städte in den einzelnen Kategorien der unabhängigen Faktoren, den Gesamtmittelwert des Städtesamples sowie die zugehörige Standardabweichung und den Variationskoeffizienten. Der „eta-Wert" ist als einfacher Korrelationskoeffizient zwischen dem jeweiligen Faktor und der abhängigen Variablen zu interpretieren. Demgegenüber gibt der „beta-Wert" als eine Art partieller Regressionskoeffizient Auskunft über den bereinigten Beitrag eines Faktors, der anzunehmen ist, wenn die von den übrigen unabhängigen Variablen ausgehenden Wirkungen kontrolliert bzw. gleichgehalten werden. Der multiple Korrelationskoeffizient und der Prozentsatz der erklärten Varianz schließlich dokumentieren den gemeinsamen Einfluß sämtlicher unabhängiger Faktoren. Auf eine detaillierte Interpretation der Ergebnisse sei hier zugunsten einiger zusammenfassender Bemerkungen verzichtet: (1) Sieht man von dem Merkmal der unehelichen Fruchtbarkeit ab, so zeigen die Faktoren „funktionaler Städtetyp" und „regionale Gliederung" wie aus den erklärten Varianzanteilen von generell über 65% zu erkennen ist gemeinsam einen beachtlichen und in beiden Stichjahren weitgehend ähnlichen Einfluß auf die Differenzierung des generativen Verhaltens innerhalb des preußischen Städtesystems.
68 69
des Deutschen Reiches, Bd. 44,1892, S. 142) - führte jedoch sowohl für 1880 und 1905 als auch hinsichtlich der Entwicklung zwischen diesen beiden Stichjahren zu in der Relation der Werte weitgehend identischen Ergebnissen. Vgl. H U B B A R D (wie Anm. 60) und die dort angeführte Literatur. Zur Erläuterung des Verfahrens vgl. N. H. NIE U.A., Statistical Package for the Social Sciences, New York 1975, 2. Aufl. Kapitel 22. Die Berechnungen wurden mit Hilfe der SPSS-Prozedur ANOVA am Regionalen Hochschulrechenzentrum der Universität Bonn durchgeführt.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
83
Tabelle 3 Multiple Klassifikationsanalyse: Generatives Verhalten 1880 und 1905 1880 Geaamtfruchtbarkeit I f St&dtetypen 1.1 DienatleiatungaetMdte mit gem. Struktur 1.2 Handel aatKdte 1 . 3 V e r w a l t u n g · - und Garniaonaatädte 1.4 Rentner- u. U n i v e r aitütaatKdte
1905 eheliche unehel. Frucht- Fruchtbarkeit barkeit I h I 9
Verheiratetenquote I m
Geaamtfruchtbarkeit I f
e h e l i c h e unehel. Frucht- Fruchtbarkeit barkeit I 9 I h
Verheiratetenquote I m
0 324
0 671
0 063
0 430
0 284
0 535
0 062
0 475
o . 308 0 315
0 630 0 671
0 069 0 057
0 428 0 422
0 237 0 278
0 434 0 555
0 056 0 052
0 475 0 453
0 297
0 661
0 058
0 400
0 257
0 528
0 055
0 432
0 487
0 803
0 043
0 583
0 508
0 783
0 043
0 625
0 405
0 783
0 047
0 493
0 267
0 508
0 038
0 494
0 453
0 759
0 054
0 566
0 340
0 542
0 055
0 589
0 352 3 . 1 M u l t i f u n k t . Sttidte ohne Schwerpunkt 3 . 2 M u l t i f u n k t . S t ä d t e Schwer • 0 386 punkt D i e n e t l e i e t u n g e n 0 373 3 . 3 M u l t i f u n k t . Sttidte I n d u s t r i e und 'Gewerbe
0 664
0 065
0 480
0 272
0 494
0 054
0 502
0 659
0 086
0 523
0 294
0 526
0 080
0 482
0 718
0 050
0 487
0 337
0 578
0 056
0 544
0 81 0 74
0 65 0 36
0 35 0 20
0 75 0 78
0 82 0 77
0 69 0 52
0 36 0 30
0 77 0 85
0 335
0 675
0 070
0 435
0 317
0 600
0 064
0 472
0 368
0 647
0 075
0 513
0 255
0 428
0 062
0 526
2 . 1 Bergbau- u. SchwerindustrieatUdte 2.2 T e x t i I n d u s t r i e städte 2.3 Sonatige Induatrieatädte
eta-Wert beta-Wert Regionen 1. Oatpreuaaen, Westpreuaaen, Poaen, Pommern, S c h l e s i e n 2. B e r l i n , Brandenburg, Sachsen 3. S c h l e a w i g - H o l s t e i n . Hannover, Hessen-Nassau 4. Rheinland, W e s t f a l e n
0 329
0 622
0 065
0 470
0 278
0 475
0 067
0 517
0 411
0 795
0 035
0 492
0 369
0 645
0 036
0 537
eta-Wert beta-Wert
0 45 0 17
0 81 0 68
0 64 0 68
0 36 0 32
0 49 0 27
0 72 0 57
0 46 0 50
0 33 0 31
Gesamtmittelwert
0 3680
0 7019
0 058
0 4784
0 3113
0 549
0 0552
0 5138
Standardabweichung
0 0765
0 0876
0 027
0 0802
0 0913
0 126
0 0287
Variationakoeffizient
20 79
multipler Korrelationek o e f f i z i e n t (R) e r k l ä r t e Varianz (%)
67 08
0 819
12 48 0 874 76 39
47 08 0 665 44 22
16 76 0 810 65 61
29 33 0 854 72 93
QUELLE· P r e u e e i a c h e S t a t i s t i k Bde. 56, £1, E6, £8 f U r 1880, Bde. 196, 200, 207 f U r 1905
22 97 0 863 74 48
51 99 0 553 30 58
0 0796 15 49 0 821 67 40
206,
(2) Die Einzelbeiträge der beiden Faktoren fallen von Variable zu Variable jedoch sehr unterschiedlich aus. Während die funktionalen Städtetypen ihren stärksten Einfluß auf die Verheiratetenquote nehmen (beta-Werte: 1880 = 0,78, 1905 = 0,85), wird die Höhe der ehelichen und unehelichen Fruchtbarkeit primär durch regionale Faktoren, wie z.B. die Konfessionsverteilung, und erst sekundär durch die wirtschaftliche Struktur der Städte bestimmt. Die Bedeutung dieses ökonomischen Faktors darf jedoch bei der ehelichen Fruchtbarkeit nicht unterschätzt werden, reicht seine Wirksamkeit doch zumindest im Jahre 1905 bis an den Einfluß der regionalen Zugehörigkeit heran. Das Niveau der Gesamtfruchtbarkeit - im wesentlichen eine Resultante aus ehelicher Fruchtbarkeit und Verheiratetenquote - wird schließlich sowohl im Jahre 1880 wie auch 1905 entscheidend durch den funktionalen Typ der jeweiligen Stadt beeinflußt (beta-Werte: 1880 = 0,74, 1905 = 0,77), während die regionalen Bestimmungsfaktoren für diese entscheidende Komponente des natürlichen Bevölkerungswachstums weitgehend bedeutungslos bleiben (beta-Werte: 1880 = 0,17, 1905 = 0,27).
84
Hans-Dieter Laux
(3) Die Ausprägung der Mittelwerte der Variablen für die einzelnen Städtekategorien sollte sowohl bei der ehelichen Fruchtbarkeit wie bei der Verheiratetenquote und damit auch der Gesamtfruchtbarkeit eine Gruppenbildung entsprechend den funktionalen Haupttypen der Städte erwarten lassen. Diese Erwartung wird für das Jahr 1880 weitgehend erfüllt: So zeigen die Industriestädte zumeist die höchsten Indexwerte, gefolgt von den multifunktionalen Siedlungen und den Dienstleistungsgemeinden mit den niedrigsten Werten. Als Extremfälle treten dabei charakteristischerweise die Bergbau- und Schwerindustriestädte auf der einen sowie die Rentner- und Universitätsstädte auf der anderen Seite in Erscheinung. Im Jahre 1905 ist dieses Muster nur mehr mit gewissen Einschränkungen erkennbar, die jedoch z.T. wegfallen, wenn die von den regionalen Effekten bereinigten Mittelwerte der Städtekategorien zugrundegelegt werden. Besonders auffallend ist jedoch das Verhalten der Textilindustriestädte mit ihrem für Industriesiedlungen überaus niedrigen Niveau sowohl der ehelichen wie der Gesamtfruchtbarkeit. Hierfür mögen u.a. das retardierte ökonomische Wachstum des Textilgewerbes mit seinen ungünstigen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung, deren relative - durch das Fehlen stärkerer Zuwanderung vom Lande und z.T. sogar durch Abwanderung hervorgerufene - Überalterung sowie die längere Tradition städtischer Lebensweise verantwortlich sein. (4) Die Entwicklung des generativen Verhaltens zwischen 1880 und 1905 wird in erster Linie durch einen starken Rückgang der ehelichen Fruchtbarkeit mit seinem - durch die Zunahme der Verheiratetenquote allerdings etwas abgemilderten - Einfluß auf das Niveau der Gesamtfruchtbarkeit gekennzeichnet 70. Dieser Rückgang, der sich im ungewichteten Mittel für die sowohl 1880 wie 1905 vertretenen Städte auf 23,7% beläuft, zeigt entsprechend den allgemeinen Entwicklungsmustern 71 von Region zu Region beachtliche Unterschiede, mit den stärksten Einbrüchen in Berlin sowie den Städten der Provinzen Brandenburg und Sachsen und eher moderaten Veränderungen im Rheinland und in Westfalen sowie insbesondere in den Ostprovinzen. Diese regional differenzierten Entwicklungsabläufe sind nicht zuletzt auch für die zwischen 1880 und 1905 deutlich zunehmende Variabilität der ehelichen Fruchtbarkeit innerhalb des preußischen Städtesystems verantwortlich zu machen. Aussagen über die Fruchtbarkeitsentwicklung bei den einzelnen, räumlich ungleichmäßig verteilten Städtetypen sind aufgrund der regionalen Effekte leider nur schwer möglich, abgesehen davon, daß die Kategorien 1880 und 1905 z.T. mit unterschiedlichen Städten besetzt sind. Hervorzuheben ist allerdings die Ausnahmestellung der Bergbau- und Schwerindustriestädte mit ihrem von 1880 auf 1905 nahezu konstanten Niveau der ehelichen Fruchtbarkeit und der Steigerung der Gesamtfruchtbarkeit. Neben der Konzentration auf Landesteile mit einem generell hohen Fertilitätsniveau sowie dem höchsten Katholikenanteil von allen Städtegruppen (1880: 59,4%, 1905: 62,8%)
70
Trotz des Rückganges der Gesamtfruchtbarkeit erhöht sich - aufgrund einer vergleichsweise stärkeren Abnahme der Mortalität - die jährliche Rate des natürlichen Bevölkerungswachstums im Mittel der Städte von 1 l,6%o (1880) auf 13,23%o (1905). Dabei treten allerdings im Jahre 1880 Schwankungen zwischen 0,15°/oo (Thorn) und 22,89%o (Bochum) und im Jahre 1905 zwischen l,34°/oo (Schweidnitz) und 33,04°/oo (Recklinghausen) auf.
71
V g l . d i e A b b i l d u n g e n b e i KNODEL u n d KULS ( w i e A n m . 2 2 ) .
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
85
dürften hierfür ohne Zweifel die spezifische Konstellation aus relativ günstiger ökonomischer Lage, frühem Heiratsalter, geringer Erwerbstätigkeit der Frauen, einer fortdauernden Zuwanderung aus ländlichen Gebieten sowie nicht zuletzt die vergleichsweise günstigen Wohnbedingungen in den Zechenkolonien dies allerdings nur im Ruhrrevier - verantwortlich sein. 72 . Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht überraschend, daß die Gruppe der Bergbau- und Schwerindustriestädte trotz starker Wanderungsgewinne im Jahre 1880 den viert- und 1905 den fünfthöchsten Anteil ortsgebürtiger Bevölkerung besitzt und dabei - mit einer Ausnahme im Jahre 1905 - sämtliche Kategorien der Dienstleistungsstädte hinter sich läßt. Soweit die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Analysen; sie lassen ohne Zweifel die beachtliche Differenzierung des natürlichen Bevölkerungsvorganges innerhalb des preußischen Städtesystems erkennen und zeigen deutlich, daß die Unterschiede des generativen Verhaltens in entscheidendem Maße durch die wirtschaftliche Funktion der Städte bzw. die sozialökonomische Struktur ihrer Bewohner bestimmt werden. Damit wird die Hauptthese dieser Arbeit bestätigt. 5. F u n k t i o n a l e S t ä d t e t y p e n demographische
und
Strukturen
Im abschließenden Teil der Untersuchung soll nun noch geprüft werden, ob und wie stark die einzelnen funktionalen Städtetypen auch durch voneinander abweichende demographische Strukturen, d.h. vor allem Unterschiede im Altersaufbau, der Sexualproportion und im Familienstand der Bevölkerung, gekennzeichnet sind. Hierzu einige Vorbemerkungen: Die Altersgliederung einer Bevölkerung wird bestimmt durch die zeitliche Entwicklung von Fruchtbarkeit und Sterblichkeit sowie den Ablauf von Wanderungsvorgängen 73 . Von den beiden Komponenten der natürlichen Bevölkerungsbewegung kommt dabei der Fruchtbarkeit eine weit stärkere Bedeutung für die Gestaltung des Altersaufbaus zu als den Prozessen der Mortalität 74 . Sind letztere nur bedingt von sozioökonomischen Strukturen abhängig, so wird die Fertilität - wie aus72
73
74
Vgl. u.a. L. BERGER, Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Beruf und Fruchtbarkeit unter besonderer Berücksichtigung des Königreichs Preußen, in: Zeitschrift des Königl. Preuß. Statist. Landesamts 52, 1912, S. 225-250, hier S. 243f. - W. KÖLLMANN, Die Bevölkerung Rheinland-Westfalens in der Hochindustrialisierungsperiode, in: W. KÖLLMANN, Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 229-249, hier S. 247f. - K N O D E L (wie Anm. 22) S. 117ff. - MOMBERT (wie Anm. 57) S. 244. Offenbar stellt die überdurchschnittlich hohe Fruchtbarkeit der Bergarbeiterbevölkerung ein internationales Phänomen dar. Vgl. hierzu auch: M. R. HAINES, Fertility, Nuptiality, and Occupation: A Study of Coal Mining Populations and Regions in England and Wales in the Mid-Nineteenth Century, in: Journal of Interdisciplinary History 8, 1977, S. 245-280. - M. R. HAINES, Fertility Decline in Industrial America: An Analysis of the Pennsylvania Anthracite Region, 1850-1900, Using „Own Children" Methods, in: Population Studies 32, 1978, S. 327-354. Die Auswirkungen einmaliger kurzfristiger Ereignisse, wie etwa von Kriegen, können für den hier untersuchten Zeitraum vernachlässigt werden. Vgl. G. FEICHTINGER, Bevölkerungsstatistik, Berlin-New York 1973, S. 134ff.
86
Hans-Dieter Laux
führlich gezeigt - in hohem Maße, das Ausmaß von Migrationsvorgängen aber nahezu ausschließlich von wirtschaftlichen Determinanten gesteuert. Die Sexualproportion einer Bevölkerung 75 ist abhängig von der relativ konstanten Geschlechterrelation der Neugeborenen, der unterschiedlichen Sterblickeit der Geschlechter sowie von selektiven Wanderungsbewegungen. Von diesen De-? terminanten werden nur die Migrationsvorgänge entscheidend durch ökonomische Faktoren, und zwar im wesentlichen durch die Struktur des lokalen Arbeitsmarktes, beeinflußt. Die Familienstandsgliederung, etwa das altersspezifische Verhältnis von Ledigen zu Verheirateten, wird bestimmt durch die Höhe des Heiratsalters und die Heiratshäufigkeit und damit von Variablen, die ihrerseits entscheidend von ökonomischen Bedingungen beeinflußt werden. Auch die Auswirkungen der Sexualproportion auf den Heiratsmarkt und damit die geschlechtsspezifische Familienstandsgliederung sind, wie oben gezeigt, letzthin von wirtschaftlichen Faktoren abhängig. Die unterschiedliche Alterssterblichkeit der Geschlechter, die etwa ab dem 40. Lebensjahr zum Tragen kommt 7 6 , beeinflußt im wesentlichen den Anteil der verwitweten Personen in den verschiedenen Altersklassen. Nach diesen Überlegungen ist also eine deutliche Prägung der demographischen Strukturen durch die funktionalen Städtetypen zu erwarten. Wie sich dies im einzelnen gestaltet, soll am Beispiel von sechs ausgewählten Indikatoren geprüft werden. Es sind dies folgende Variablen: der Altersstrukturindex nach Backé 77, die Anteile der verheirateten Männer und Frauen im Alter von 15-50 Jahren sowie drei verschiedene Varianten der Sexualproportion, und zwar diejenige der Gesamtbevölkerung sowie das Geschlechterverhältnis der Bevölkerung zwischen 15 und 45 Jahren mit und ohne Berücksichtigung der aktiven Militärpersonen. Die Einschränkung auf die Altersgruppen zwischen 15 und 45 bzw. 50 Jahren wurde gewählt, um die Gruppe der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung besonders hervorzuheben und zugleich den Einfluß der mit zunehmendem Alter überdurchschnittlichen Sterblichkeit der Männer auszuschalten. Die genannten Variablen wurden ebenfalls einer multiplen Klassifikationsanalyse unterzogen. Ihre Ergebnisse sind in der Tabelle 4 aufgeführt. Hier einige der wichtigsten Resultate: (1) Bei sämtlichen Merkmalen wird ein beachtlicher Anteil der Varianz durch die Kombination von Städtetypen und regionaler Differenzierung erklärt. Mit Ausnahme des Anteils der verheirateten Männer im Alter von 15-50 Jahren erleben dabei alle Variablen von 1880 auf 1905 einen Anstieg des Erklärungsmaßes. (2) Wie die jeweiligen „beta-Werte" zeigen, geht in allen Fällen der entscheidende Einfluß auf die Differenzierung der demographischen Strukturen von den funktionalen Städtetypen aus. Der Faktor der regionalen Zugehörigkeit bleibt damit weitgehend bedeutungslos. 75
77
Darunter wird hier die Zahl der Personen weiblichen Geschlechts auf j e 100 Personen männlichen Geschlechts verstanden. Vgl. hierzu die Sterbetafel für die Preußische Bevölkerung 1890/91, in: Preuß. Statistik, Bd. 188, Berlin 1904, S. 130-131. B. BACKÉ, Altersstruktur und regionale Bevölkerungsprognose, dargestellt am Beispiel des Landes Niedersachsen, in: Neues Archiv für Niedersachsen 20, 1971, S. 17-29. Der dort entwickelte Altersindex wurde in leicht abgewandelter Form übernommen: A I = Anteil Bevölkerung < 15Jahre/Anteil Bevölkerung), 40 Jahre χ Anteil Bevölkerung 15-40 Jahre. Zur Interpretation: j e jünger die Bevölkerung, um so größer der Indexwert und umgekehrt.
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
87
(3) Betrachtet man die Variablen im einzelnen, so ergibt sich - mit charakteristischen Modifikationen - eine von 1880 auf 1905 weitgehend gleichbleibende Gruppenbildung entsprechend den Hauptfunktionstypen der Städte. Dies gilt insbesondere für den Altersaufbau wie den Anteil verheirateter Männer und Frauen. So werden im Jahre 1880 die ausgesprochenen Industriestädte durch eine besonders junge Bevölkerung gekennzeichnet, während die Dienstleistungsgemeinden die stärkste Überalterung zeigen. Dieses Muster ist im Prinzip auch noch 1905 zu erkennen, allerdings mit der bemerkenswerten Ausnahme der Textilindustriestädte, die infolge stark reduzierter Fertilität und mangelnder Zuwanderung eine spürbare Überalterung aufweisen. Beachtliche Differenzierungen zeigen sich auch bei den Anteilen der verheirateten Männer und Frauen im Alter von 15-50 Jahren, so etwa zwischen der Spitzenstellung der Bergbau- und Schwerindustriesiedlungen und den niedrigen Werten in den Verwaltungs- und Garnison- sowie den Rentner- und Universitätsstädten. (4) Die Sexualproportion für die Gesamtbevölkerung weist im Mittel der Städte auf ein leichtes Übergewicht der weiblichen Einwohner hin, das jedoch, wie die Werte für die Altersgruppe von 15-45 Jahren zeigen, in erster Linie auf die höhere Lebenserwartung der Frauen zurückzuführen ist. Die Sexualproportion der 15-45jährigen läßt das nach Geschlechtern überaus differenzierte Beschäftigungspotential der einzelnen Stadttypen auch innerhalb der funktionalen Hauptkategorien eindrucksvoll hervortreten. Es genüge hier der Hinweis auf die Textilindustriestädte mit ihrem breiten Angebot an weiblichen Arbeitsplätzen einerseits sowie auf die Situation in den Bergbausiedlungen oder gar in den Garnisonstädten andererseits. Schaltet man den Einfluß der vornehmlich in den Dienstleistungsstädten konzentrierten Militärbevölkerung aus, so wird das differenzierte Angebot an Arbeitsplätzen für Frauen insbesondere in den Bereichen der häuslichen Dienstleistungen - in mancher Hinsicht noch deutlicher. (5) Besonders bemerkenswert ist schließlich die von Städtekategorie zu Städtekategorie unterschiedliche Kombination der einzelnen Strukturmerkmale. Dieser Sachverhalt kann als Ausgangsbasis für eine Definition von spezifischen „demographischen Städtetypen" dienen, eine Aufgabe, deren systematische Durchführung allerdings über die Zielsetzung dieser Arbeit hinausführt. 78 . Zum Abschluß der Untersuchung sollen stattdessen an vier ausgewählten Einzelbeispielen einige besonders charakteristische und durch die ökonomische Funktion der Städte entscheidend geprägte demographische Strukturtypen vorgestellt werden. Zu diesem Zwecke wurden jeweils für die Jahre 1880 und 1905 die Bevölkerungspyramiden der Städte Koblenz, Wiesbaden, 78
In einem ersten Versuch wurde mit Hilfe des Verfahrens der Diskriminanzanalyse (SPSSProzedur DISCRIMINANT, vgl. NIE U.A. (wie Anm. 70) Kapitel 23) geprüft, ob und in welchem Umfange die durch die funktionale Klassifikation vorgegebene Gruppeneinteilung auf der Grundlage der sechs ausgewählten demographischen Merkmale bestätigt wird. Demnach sind im Jahre 1880 43 von 69 Städten (62,3%) und im Jahre 1905 44 von 87 Siedlungen (50,6%) „korrekt" klassifiziert. Diese ohne Zweifel beachtliche Übereinstimmung zwischen ökonomischen und demographischen Stadttypen wird noch dadurch erhöht, daß 1880 von 26 Umgruppierungen 14 und 1905 von 43 Wechseln 13 innerhalb der funktionalen Grundkategorien vorgenommen werden. Darüber hinaus ist nur in einem einzigen Fall ein Wechsel zwischen den Gruppen der Industrie- und der Dienstleistungsstädte zu beobachten, d.h. die Umgruppierungen erfolgen im wesentlichen zwischen relativ ähnlichen Funktionstypen.
88
Hans-Dieter Laux
T a b e l l e 4a Multiple Klassifikationsanalyse : Ausgewählte Daten zur Bevölkerungsstruktur 1880 AltersSexualprostrukturportion index Gesamtbenach Backé völkerung
I) 1880
Städtetypen 1.1 Dienstleistungsstädte mit gem. Struktur 1.2 Handelsstädte 1.3 Verwaltungs- und Garnisonsstädte 1.4 Rentner- und Universitätsstädte
Sexualpro- Sexualproportion portion 15- 45 15-45 Jahre, ohne Militär Jahre
Anteil verheirateter Männer 15-50 Jahre
Anteil verheirateter Frauen 15-50 J a h r e
57, 58
103,33
94,12
119 34
39,30
44,91
61,90
103,52
96,64
117 61
40, 92
44, 56
63, 81
88,23
75, 14
119 65
31,44
43 , 61
55,23
104,07
99,63
118 79
38, 05
41, 77
2.1 Bergbau- und Schwerindustriestädte 2.2 Textilindustriestädte 2.3 Sonstige Industriestädte
89, 91
98, 91
95, 96
96 36
51,70
58,24
70,80
107,42
110, 60
112 18
51,41
50,82
79, 60
99,80
96, 66
100 23
50, 73
56,69
3.1 Multifunkt. Städte ohne Schwerpunkt 3.2 Multifunkt. Städte Schwerpunkt Dienstleistungen 3.3 Multifunkt. Städte Industrie und Gewerbe
62, 87
104,60
100, 20
115 21
46,07
49,12
68, 18
101,21
95, 36
113,98
46,15
53,16
64,53
104,54
103, 47
107 73
48,11
49, 85
0,75 0, 68
0,59 0, 61
0, 63 0, 67
0 61 0, 58
0, 66 0, 91
0,75 0, 78
60, 39
103,45
97, 06
116 73
41,06
45, 28
64, 88
99,05
92, 58
110 18
45,02
52, 05
44,16
48,11
eta-Wert beta-Wert Regionen 1. Ostpreussen, Westpreussen, Posen, Pommern, Schlesien 2. Berlin, Brandenburg, Sachsen 3. Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau 4. Rheinland, Westfalen eta-Wert beta-Wert multipler Korr.koeffizient
{R
64, 54
103,64
100, 16
115 78
75, 25
99, 83
96, 59
107 64
45,38
50,18
0, 46 0, 26
0,21 0, 28
0, 16 0, 25
0 36 0 21
0, 23 0, 20
0,35 0,31
0, 781
0, 641
0, 666
0 643
0,676
0,803
erklärte Varianz (%)
61, 00
41, 09
44, 62
41 34
76, 74
64,48
Gesamt^nittelwert
67, 26
101,20
96, 35
112 42
43, 98
49,00
QUELLE: Preussische Statistik Bd. 66
Bochum und Krefeld erstellt (vgl. Abbildung 1). Diese Siedlungen fallen in der genannten Reihenfolge - und zu beiden Stichjahren - in die Kategorien der Verwaltungs- und Garnisonstädte, der Rentner- und Universitätsstädte, der Bergbausiedlungen und der Textilindustriestädte. Beginnen wir mit der Bergbaustadt Bochum. Auffallend sind die - infolge des hohen Fruchtbarkeitsniveaus - überaus starke Besetzung der jüngeren Jahrgänge sowie das deutliche Übergewicht der männlichen Bevölkerung in den Altersklassen zwischen 15 und 45 Jahren (Sexualproportion: 1880 = 81,13, 1905 = 81,87) als Resultate einer durch die Struktur des Arbeitsmarktes verursachten überdurchschnittlichen Zuwanderung von Männern. Weiterhin charakteristisch ist der hohe Verheiratetenanteil insbesondere der weiblichen Bevölkerung. Die Entwicklung von 1880 bis 1905 ist im wesentlichen durch
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
89
T a b e l l e 4b Multiple Klassifikationsanalyse: Ausgewählte Daten zur Bevölkerungsstruktur 1905 AItersSexualprostrukturportion index Gesamtbenach Backe völkerung
II) 1905
Städtetypen 1.1 Dienstleistungsstädte mit gem. Struktur 1.2 Handelsstädte 1.3 Verwaltungs- und Garnisonsstädte 1.4 Rentner- und Universitätsstädte 2.1 Bergbau- und Schwerindustriestädte 2.2 Textilindustriestädte 2.3 Sonstige Industriestädte 3.1 MultifunV-. Städte ohne Schwerpunkt 3.2 Multifunkt. Städte Schwerp u n k t Dienstleistungen 3.3 Multifunkt. Städte Industrie u. Gewerbe eta-wert beta-Wert Regionen 1. Ostpreussen, Westpreussen Posen, Pommern, Schlesien 2. Berlin, Brandenburg, Sachsen 3. Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau 4. Rheinland, Westfalen eta-Wert beta-Wert multipler Korr.koeffizient
(R
Sexualpro- SexualproAnteil ver- Anteil verportion portion heirateter heirateter 15 -4 5 15-45 Jahre, Männer Frauen Jahre ohne Militär 15-50 Jahre 15-50 Jahre
58 10
104 71
99 02
117 78
45 37
48 43
52 55
110 02
107 53
118 59
48 66
48 56
57 24
92 35
78 00
121 18
34 88
46 67
49 35
106 44
100 47
116 2B
41 74
44 76
106 94
91 74
82 33
82 84
50 91
61 62
55 91
112 46
116 93
117 15
54 39
50 70
76 34
99 24
93 37
97 48
52 24
58 99
57 87
103 80
99 92
109 49
47 81
51 29
53, 06
108 84
104 75
120 78
47 96
49 50
65 02
102 46
99 02
106 08
50 88
54 97
0 83 0 73
0 70 0 73
0 73 0 75
0 79 0 72
0 80 0 86
0 76 0 84
58, 25
105 42
97 33
118 50
44 92
48, 30
53, 95
106 65
104 39
116 51
51 56
53, 44
59, 90
100 03
94 29
106 75
46 22
52, 79
81, 20
98 06
92 43
97 99
47 44
54, 21
0, 56 0, 31
0 39 0 40
0 31 0 28
0 56 0 37
0 35 0 32
0, 34 0, 33
0, 870
0 793
0 779
0 859
0 849
0, 815
erklärte Varianz (%)
75, 69
62 88
60 68
73 79
72 08
66, 42
Gesamtmittelwert
64, 64
102 44
96 96
109 49
47 54
52, 20
QUELLE: Preussische Statistik Bd. 206
ein Auffüllen der Altersgruppen zwischen 10 und 25 Jahren gekennzeichnet. Bei Krefeld weist die relativ ausgeglichene Form der Alterspyramide des Jahres 1880 mit einer starken Besetzung auch der oberen Altersklassen auf ein vergleichsweise stetiges und nur durch moderate Zuwanderungen gekennzeichnetes Bevölkerungswachstum hin. Das allerdings deutliche Übergewicht der weiblichen Bevölkerung in den Jahrgängen zwischen 15 und 35 Jahren spiegelt dabei das spezifische Beschäftigungspotential im Textilgewerbe wider. Mit diesem Übergewicht korreliert ein relativ niedriger Anteil von verheirateten Frauen. Die Entwicklung bis zum Jahre 1905 ist geprägt durch einen Rückgang der Geburtenzahlen sowie eine Verstärkung des Frauenüberschusses insbesondere in den Altersklassen zwischen 20 und 40 Jahren. Inwieweit hierfür gar eine konjunkturell bedingte Abwanderung von überwiegend männ-
90
Hans-Dieter Laux
Abbildung 1 Altersaufbau der ortsanwesenden Bevölkerung in den Städten Koblenz, Wiesbaden, Bochum und Krefeld 1880 und 1905 KOBLENZ
1905
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WIESBADEN
1880
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Quelle: Preußische Statistik, Bde. 66 und 206
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Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses
91
liehen Arbeitskräften verantwortlich ist, müßte genauer geprüft werden. Die seit 1890 anhaltend negative Wanderungsbilanz für die Gesamtbevölkerung läßt diese Vermutung zumindest plausibel erscheinen 79. Der Bevölkerungsaufbau der Rentnerstadt Wiesbaden ist zu beiden Stichjahren durch einen extremen Frauenüberschuß in allen Altersgruppen über 15 Jahren gekennzeichnet. Dabei weist insbesondere das starke Übergewicht unter den 15 bis 45jährigen auf das überdurchschnittliche Angebot an Arbeitsplätzen, vornehmlich im Bereich der häuslichen Dienstleistungen hin. In die gleiche Richtung deutet auch der niedrige Anteil an verheirateten Frauen in den genannten Altersgruppen (1880 = 38,4%, 1905 = 41,0%). Die Entwicklung zwischen 1880 und 1905 wird durch einen deutlichen Rückgang der Fruchtbarkeit sowie eine offensichtlich zunehmende Bedeutung der Migration für das Bevölkerungswachstum gekennzeichnet. Der Altersaufbau der Verwaltungs- und Garnisonstadt Koblenz wird durch den exzeptionell hohen Anteil der Männer im Alter von 20-25 Jahren, d.h. der aktiven Militärpersonen, besonders charakterisiert. Von dieser Gruppe abgesehen ist jedoch in allen übrigen Altersklassen von über 15 Jahren sowohl 1880 wie auch 1905 ein mehr oder weniger starker Überschuß an Frauen zu beobachten. Verbunden mit einer unterdurchschnittlichen Verheiratetenquote weist dieser Sachverhalt auf ein relativ umfangreiches Angebot an weiblichen Arbeitsplätzen vor allem im häuslichen Dienstleistungsbereich hin. Bemerkenswert ist weiterhin die schmale Basis der Pyramiden in den Altersgruppen unter 15 Jahren. Ein relativ niedriges Niveau der Gesamtfruchtbarkeit (If: 1880 = 0,262, 1905 = 0,250) ist hierfür ebenso verantwortlich wie eine starke Zuwanderung. Überraschend gering sind die Verschiebungen im Altersaufbau zwischen den Jahren 1880 und 1905. Soweit die Ergebnisse der empirischen Analysen. Wenngleich sie ohne Zweifel einen Einblick in die Variabilität des generativen Verhaltens sowie die Unterschiede des Bevölkerungsaufbaus innerhalb des preußischen Städtesystems während der Epoche der Hochindustrialisierung vermitteln, so bleiben zum Schluß dennoch eine Reihe von vertiefenden und weiterführenden Fragen offen. Diese beziehen sich auf die hier ausgeblendete Differenzierung der Mortalitätsphänomene, insbesondere der Säuglings- und Kindersterblichkeit, in Abhängigkeit von sozialökonomischen Determinanten ebenso wie auf den Einfluß des Wanderungsgeschehens auf das generative Verhalten städtischer Bevölkerungen. Nicht zuletzt aber liefert der räumlich und zeitlich differenzierte Rückgang der ehelichen Fruchtbarkeit gerade auch über den hier behandelten Zeitraum hinaus genügend Probleme und Ansätze für weiterführende Analysen.
79
Vgl. DITTMANN (wie Anm. 24) S. 53f. - H. BÖHM, Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Preußischen Rheinprovinz, in: Innsbrucker Geographische Studien 5, 1979, S. 173-198, hier S. 188.
92
Hans-Dieter Laux
Anlage 1 Übersicht der ausgewählten Städte 1880 und 1905 Städteauswahl
1905
Provinz
Stadt
140909 21400
Ostpreussen
Danzig Elbing Thorn
108551 35842 20617
Westpreussen
Berlin
Berlin
1122330
Königsberg Tilsit Insterburg Danzig Elbing Graudenz Thorn Berlin
Brandenburg
Frankfurt a.O. Potsdam Charlottenburg Spandau Brandenburg a.H . Guben Kottbus Landsberg a.W.
51147 48447 30483 29311 29066 25840 25584 23612
Pommern
Stettin Stralsund S t a r g a r d i.P. S t o l p i. P.
91756 29481 21816 21591
Pommern
Posen
Posen Bromberg
65713 34044
Posen
Posen Bromberg
Schlesien
Breslau Görlitz Liegnitz Königshütte Beuthen Schweidnitz Neisse
Schlesien
Sachsen
Magdeburg Halle a.S. Erfurt Halberstadt Neustadt-Magdeburg Nordhausen Mülhausen i.Th.
97539 71484 53254 31260
470904 Breslau Görlitz 83766 66042 Königshütte Gleiwitz 61326 60076 Beuthen 59706 Liegnitz 35772 Kattowitz 32690 Ratibor Oppeln 30765 30540 Schweidnitz 240633 Magdeburg 169916 Halle a.S. 98849 Erfurt 45529 Halberstadt M ü h l h a u s e n i.Th . 34359 3089 Weissenfeis 30568 Zeitz 29883 Nordhausen 27878 Aschersleben
SchleswigHolstein
Altona Kiel Flensburg
91047 43594 30956
Hannover
Hannover 122843 Osnabrück 32812 Hildesheim 25887 22384 L i n d e n i. H a n n .
Hannover
Westfalen
Dortmund Münster Bochum Bielefeld Hagen Witten Hamm
Westfalen
Städteauswahl
1880
Provinz
Stadt
Ostpreussen
Königsberg Tilsit
Westpreussen
Einwohner 1. 1 2 . 1 8 8 0
272912 50307 37157 27522 22811 22202 20507
Berlin Brandenburg
Sachsen
27090 26198 23478
66544 40434 33440 30679 26295 21554 20783
SchleswigHolstein
Einwohner 1. 1 2 . 1 9 0 5 223770 37148 28902 159648 55627 35953 31801 2040148
239559 Charlottenburg 153513 Rixdorf 141010 Schöneberg 70295 Spandau 64304 Frankfurt a.O. 61414 Potsdam Brandenburg a.H . 51239 46270 Kottbus 36934 Landsberg a.W. 36636 Guben 33752 Forst i.Laus. 224119 Stettin 31809 Stralsund 31154 S t o l p i.P. 26907 Stargard i.P.
Altona Kiel Flensburg Neumünster Hannover Osnabrück Linden i.Hann. Harburg a.Elbe Hildesheim Göttingen Lüneburg Dortmund Gelsenkirchen Bochum Münster Hagen Bielefeld Recklinghausen Hamm Witten Herne
136808 54231
168320 163772 53771 31439 250024 59580 57941 55676 4706 34081 26571 175577 147005 118464 81468 77567 71796 44396 38429 35841 33266
93
Demographische Folgen des Verstädterungsprozesses Hessen-Nassau
F r a n k f u r t a.M. Kassel Wiesbaden Hanau
Rheinland
Köln 144772 Barmen 95941 Düsseldorf 95458 Elberfeld 93538 Aachen 85551 Krefeld 73872 Essen 56944 Duisburg 41242 Mönchen-Gladbach 37387 Bonn 31514 Koblenz 30548 Remscheid 30029 Trier 24200 Mülheim a.Ruhr 22146 Viersen 20997 Wesel 20593 Mülheim a . R h e i n 20420
QUELLE: P r e u s s i s c h e
136819 58290 50238 23086
Statistik,
Hessen-Nassau
F r a n k f u r t a.M. Kassel Wiesbaden Hanau
334978 120467 100953 31637
Rheinland
Köln Düsseldorf Essen Duisburg Elberfeld Barmen Aachen Krefeld Mülheim a.Ruhr Bonn Remscheid Mönchen-Gladbach Koblenz Oberhausen Mülheim a . R h e i n Solingen Trier
428722 253274 231360 192346 162853 156080 144095 110344 93599 81996 64340 60709 53897 52166 50811 49018 46709
Bde. 66 und 206
Anlage 2 Demographische Indices nach A. CO ALE Index der Gesamtfruchtbarkeit
(index o f
Index der e h e l i c h e n F r u c h t b a r k e i t Index der unehel. F r u c h t b a r k e i t Verheiratetenquote
overall f e r t i l i t y ) :
(index of m a r i t a l f e r t i l i t y ) :
(index of i l l e g i t i m a t e
(proportion married):
If Ig
Swi-Fi Bl Z">rFi Bl Eui-Fi m F
fertility): Im
Σ i· i £wr
F
i
Es bedeuten: Β = j ä h r l i c h e Zahl der Lebendgeborenen B l = j ä h r l i c h e Zahl der e h e l i c h Lebendgeborenen Bi = j ä h r l i c h e Zahl der unehelich Lebendgeborenen wi = Zahl der Frauen i n der i - t e n 5 j ä h r i g e n A l t e r s g r u p p e zwischen 15 u. 49 Jahren mi = Zahl der v e r h e i r a t e t e n Frauen i n der i - t e n A l t e r s g r u p p e ui = Zahl der u n v e r h e i r a t e t e n Frauen in der i - t e n A l t e r s g r u p p e F i = F r u c h t b a r k e i t v e r h e i r a t e t e r Frauen der Hutterer-Brüder i n der i - t e n A l t e r s g r u p p e , ausgedrückt a l s Zahl der Geburten pro Frau pro Jahr. Dabei werden f o l g e n d e Werte a n g e s e t z t : 15 - 19 Jahre 0,300 35 - 39 Jahre 0,406 20 - 24 " 0,550 40 - 44 " 0,222 25 - 29 " 0,502 45 - 49 " 0,061 30 - 34 " 0,447 Zwischen den v i e r I n d i c e s b e s t e h t f o l g e n d e Beziehung: I f = Ig + ly Kann d i e uneheliche F r u c h t b a r k e i t v e r n a c h l ä s s i g t werden, so wird d i e Höhe der Gesamtf r u c h t b a r k e i t durch das Produkt aus e h e l i c h e r F r u c h t b a r k e i t und V e r h e i r a t e t e n q u o t e bestimmt: I
f
=
xg
'
^
Der Wert der V e r h e i r a t e t e n q u o t e I m wird durch d i e j e w e i l i g e A l t e r s s t r u k t u r der weibl i c h e n Bevölkerung b e e i n f l u ß t . Um diesen E f f e k t auszuschalten, l ä ß t sich eine k o r r i g i e r t e V e r h e i r a t e t e n q u o t e I m * berechnen: Im* =
">i i Σ Fi
S F l
w
Da I m und I m * nahezu v o l l s t ä n d i g miteinander k o r r e l i e r e n , l m * jedoch n i c h t in d i e o b i g e Gleichung einzubauen i s t , wurde dem Index I m der Vorzug gegeben. Q u e l l e n : A . J . COALE: The D e c l i n e of F e r t i l i t y in Europe from the French R e v o l u t i o n t o the World War I I . I n : F e r t i l i t y and Family P l a n n i n g . S . J . BEHRMAN, L . CORSA and R. FREEDMAN ( e d s . ) , Ann Arbor 1969, S. 3-24. - J . E . KN0DEL: The Decline o f F e r t i l i t y i n Germany, 1871-1939. P r i n c e t o n , N . J . , 1974, S. 3 3 f f .
SOZIALE UND DEMOGRAPHISCHE DER Z U W A N D E R U N G IN D E U T S C H E
STRUKTUREN GROSSTÄDTE
D E S S P Ä T E N 19. J A H R H U N D E R T S Von W a l t e r D e a n
Kamphoefner
Ein populäres amerikanisches Lied aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stellte einmal die schwerwiegende Frage: „How you gonna keep them down on the farm/After they've seen Paris?" Durch die bekannte amerikanische „Country Music" zieht sich bis heute wie ein roter Faden die Klage über das Los des Städtelebens. Typisch dafür sind Zeilen wie die folgenden: „Why did I leave from the plowing fields/And look for a job in the town?" Wie bei der „Popular Culture" in den USA ist es auch bei den Wissenschaftlern zu sehr unterschiedlichen Bewertungen und Erklärungen für die massenhafte Zuwanderung in die Städte des 19. Jahrhunderts gekommen, wobei die negativen Stimmen stets ein Übergewicht hatten. Auch in Deutschland läßt sich eine weit in die Vergangenheit zurückreichende intellektuelle Großstadtfeindschaft nachweisen. Merkwürdigerweise ist dies ein Punkt, in dem die Konservativen des späten 19. Jahrhunderts (Stichwort „Landflucht") und die Neue Linke des späten 20. Jahrhunderts (Stichwort „Entfremdung") offenbar voll übereinstimmen: Die Einwanderer in die Großstädte werden von oben herab als Deklassierte betrachtet und emotional als „Entwurzelte" oder als „Flugsand" bzw. „Treibholz" bezeichnet Anhaltspunkte für solche pessimistischen Betrachtungsweisen gibt es auf den ersten Blick genug. Sie finden sich in den überreichlich überkommenen städtischen „Elendsbeschreibungen" wie auch in dem statistischen Material über die Wohnbedingungen in den Großstädten. Wie repräsentativ diese zeitgenössischen Beschreibungen und Daten sind, geht aus diesen Quellen allerdings nicht hervor. Neue wissenschaftliche Fragestellungen und empirische Überprüfungen sind daher angebracht. Zunächst einmal ist es schwer zu verstehen, warum sich angesichts des viel beschriebenen städtischen Elends ein so großer Teil der ländlichen Bevölkerung auf die Wanderschaft begab und den Bedingungen einer Großstadt um die Jahrhundertwende wie etwa Berlin oder Gelsenkirchen unterwarf oder doch zumindest anzupassen suchte. Dabei war die städtische Wohnungsnot, verglichen mit heute, zunächst wirklich besorgniserregend. Wie Berechnungen 1
Einen Überblick über die Landflucht-Literatur bietet K L A U S B E R G M A N N , Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970. - Ein Beispiel für die neuere großstadtfeindliche Literatur bringt L U T Z N I E T H A M M E R / F R A N Z B R Ü G G E M E I E R , Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich?, in: Archiv für Sozialgeschichte, 16, 1976, S..61-134. Der ganze Aufsatz wird durch die Annahme geprägt, daß Wanderung und Wohnelend Hand in Hand gehen, wie zum Beispiel dieses Zitat am Schluß zeigt: „Im Wohnbereich bestand ein großer Unterschied zwischen den Mobilen, insbesondere den Neuzugewanderten, die zwischen Subsistenz und industrieller Disziplinierung lavierten, und den 'Arrivierten' unter den Arbeitern".
96
Walter Dean Kamphoefner
zeigen, verfügte z.B. um 1875 in Berlin die Hälfte aller Haushaltungen über Wohnungen mit nur einem heizbaren Zimmer, wobei durchschnittlich vier Personen zu einem Haushalt gehörten. 1910 waren es in der Reichshauptstadt immer noch über 47 v.H. aller Haushalte und knapp 40 v.H. der Berliner Bevölkerung, die unter solchen Bedingungen hausten. Die mittlere Haushaltsgröße ging zwar etwas zurück, aber bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges war immer noch etwa ein Fünftel der Berliner Haushalte zusätzlich mit Untermietern oder Schlafgängern belastet. In einer typischen Industriestadt wie Gelsenkirchen blieb die extreme Wohndichte (Personen pro qkm) zwar beträchtlich niedriger, die interne Wohndichte (Person pro Wohnraum und Untermieterbelastung) dafür aber höher 2 . Aus der Perspektive des heutigen Wohnstandards ist es schwer zu begreifen, warum soviele Menschen um die Jahrhundertwende in die Städte strömten. Man könnte die These aufstellen, die Leute auf dem Land seien zu wenig über das städtische Leben informiert gewesen und durch geschickte Werbung von städtischen Unternehmen zur Wanderung verleitet worden. Aber eine solche Erklärung übersieht, daß die Stadtwanderung vielfach durch soziale Bindungen vermittelt wurde. Typische Einwandererdörfer und -Stadtteile in Amerika wie auch die „Zechenkolonien" im Ruhrgebiet hatten lange Zeit einen ausgeprägt landsmannschaftlichen bzw. regionalen Charakter. Es läßt sich nicht übersehen, daß die alten dörflichen Kontakte bei der Wanderung vom Land in die Stadt eine ausschlaggebende Rolle spielen konnten. Überdies betrug das Volumen der Zu- und Abwanderung in die Großstädte oft das Acht- bis Zehnfache des tatsächlichen Wanderungsgewinns. Offensichtlich diente die temporäre Wanderung in die Stadt oftmals als Vorstufe für eine später dauernde Ansiedlung. Dadurch waren die künftigen Stadtbewohner schon verhältnismäßig gut über die Stadt informiert 3 . Die These, es seien naive, durch Einflüsterungen verführte Bauerntölpel in die Städte gekommen, steht auf schwachen Füßen. Um den Zustrom in die Städte um 1900 richtig bewerten zu können, darf man nicht den heutigen Standard an Wohnraum und Wohnqualität als
2
3
Wohnbedingungen in Berlin werden im Rahmen des Projekts „Wohnungsnot und Soziale Frage im 19. Jahrhundert" am Sonderforschungsbereich 164, Teilprojekt Β 5, untersucht. Erste Ergebnisse wurden von H.J. TEUTEBERG und C. WISCHERMANN, „The Housing Question in Late 19th Century Germany: A Contribution to Quantitative Urban Social History" auf dem „North-West Forum of Economic and Social History, Manchester, 7. Dec. 1979", vorgelegt. Siehe auch C. WISCHERMANN, Wohnungsnot und Städtewachstum. Standards und soziale Indikatoren städtischer Wohnungsversorgung im späten 19. Jahrhundert, in: WERNER C O N Z E U N D ULRICH ENGELHARDT (Hrsg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß: Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 201-26, für eine Klassifizierung von Städten nach Wohntypus. Zu den Ruhrgebietsstädten vgl. NIETHAMMER/BRÜGGEMEIER (wie Anm. 1) S. 89-107. STEVE HOCHSTADT, Migration and Industrialization: Another Look at the Evidence. (Unveröffentlichter Vortrag) Social Science History Association (SSHA) Meeting, Cambridge, Mass., November 1979; - DIETER LANGEWIESCHE, Wanderungsbewegung in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 63, 1977; ALLEN R. N E W M A N N , The Influence of Family and Friends on German Internal Migration, 1880-85, in: Journal of Social History, 13, 1979, S. 277-288. - Über Wanderungsketten in der deutschen Amerikawanderung siehe W. KAMPHOEFNER, Transplanted Villages: Regional Distribution and Patterns of Settlemen of Germans in America to 1870 (unveröffentlichter Vortrag) Social Science History Association (SSHA) Meeting, Cambridge, Mass., Nov. 1979.
Strukturen der Zuwanderung
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Vergleichsgröße heranziehen, sondern die Wohn- und Arbeitsbedingungen auf dem Lande. Ein Beispiel mag hier zur Verdeutlichung dienen: Im niederdeutschen Hallenhaus schliefen die Knechte nicht im Wohnteil des Hauses, sondern auf dem Heuboden über dem Pferde- oder Rinderstall. Die aufsteigende Körperwärme der Tiere konnte die Luft dort nur etwa 5 Grad über die Außentemperatur bringen. Die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land wurden durch das starke Einkommengefälle für die Unterschichten noch weiter verstärkt. Dabei waren die Löhne und Naturaleinkommen der Insten und Landarbeiter im ostelbischen Raum in der Regel schlechter als im westlichen Agrargebieten. Wie groß das Wohnungselend auf dem Lande im 19. Jahrhundert war, entzieht sich bis heute unserer genauen Kenntnis. Zwar wurde im Rahmen einer Katastererhebung schon um 1865 in Preußen eine erste genaue Gebäudezählung auf dem Lande durchgeführt, doch konnte das Ausmaß der ländlichen Wohnungsnot damit noch in keiner Weise erfaßt werden, weil das Gesinde, wie erwähnt, vielfach in den Ställen hauste. Die weiblichen Dienstboten in den Städten, die bekanntlich zumeist vom Lande kamen, hatten sicherlich bei ihrer „Herrschaft" in der Stadt allerlei auszustehen, aber sie brauchten nicht mehr zu melken und den Stall auszumisten. Auch die strengsten Dienstherren gestatteten meistens einen freien Nachmittag im Monat. Solche Freiräume für persönliche Betätigung kannte das ländliche Gesinde nicht, weil es in der täglichen Stallarbeit keinen Stellvertreter gab. Aber die vom Lande abstoßenden Faktoren dürfen nicht ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen Strukturen gesehen werden. Besonders in den ländlichen Gebieten Ostelbiens bestanden starke soziale Gefälle zwischen einer künstlich aufrechterhaltenen Elite der Rittergutsbesitzer und der abhängigen Klasse der ländlichen Tagelöhner. Die als Puffer funktionierende Mittelschicht war gerade dort gering ausgeprägt. Ausschlaggebend waren nicht nur die Lohnunterschiede zwischen Osten und Westen; ein Landarbeiter dürfte einem Arbeitgeber, der neben ihm auf dem Felde arbeitete, wohler gesonnen gewesen sein als einem, der vom Pferd herab kommandierte 4. Die ungeheure Anziehungskraft der Stadt darf aber nicht ausschließlich unter ökonomischem Blickwinkel gesehen werden. Die städtische Anonymität blieb gewiß eine zweiseitige Münze, aber sehr wichtig war doch der Umstand, daß die Stadt von den zumeist jugendlichen Zuwanderern zunächst einmal als willkommene Zuflucht vor der dörflichen Sozialkontrolle betrachtet wurde.
4
HERMANN KAISER, Herdfeuer und Herdgerät im Rauchhaus. Wohnen Damals (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, H. 2), Cloppenburg 1980, S. 32-37; - DIETMAR SAUERMANN (Hrsg.), Knechte und Mägde in Westfalen um 1900, Münster 1972; - D E R S . , Das Verhältnis von Bauernfamilie und Gesinde in Westfalen, in: Niedersächsisches Jb., 50, 1978, S. 27-44; - NIETHAMMER/BRÜGGEMANN (wie Anm. 1) S. 67, Anm. 30. Es wird argumentiert, die patriarchischen Verhältnisse in Ostelbien hätten auch Vorteile für die dortigen Untertanen geboten. Dieses Argument wirkt auf amerikanische Ohren wenig überzeugend und zeigt eine bestechende Ähnlichkeit mit den Behauptungen der weißen Pflanzer-Elite der Südstaaten nach dem Motto: „Meine" Neger haben es gut und wären zufrieden, bei mir zu bleiben, wenn es bloß nicht diese Unruhestifter von außen gäbe". - Für einen Vergleich dieser zwei konservativen Eliten siehe SHEARER DAVIS BOWMAN, Ante-bellum Planters and Vormärz Junkers in Comparative Perspective, in: American Historical Review, 85, 1980, S. 779-808. - Daß die Interessengemeinschaft von Landarbeitern und Bauern auch in Westdeutschland ihre Grenzen hatte, zeigen die oben zitierten Aufsätze von Sauermann.
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Walter Dean Kamphoefner
Eine wichtige Rolle unter den Wandermotiven spielten auch die sehr viel reicheren Kultur- und Vergnügungsangebote der Stadt im Vergleich zum L a n d s . i n der amerikanischen Urbanisierungsforschung ist dies recht anschaulich als „Bright lights"-Faktor bezeichnet worden. In einem aufschlußreichen Aufsatz hat Dieter Langewiesche die deutsche Binnenwanderung im späten 19. Jahrhundert wieder einmal in das wissenschaftliche Rampenlicht gerückt und dabei gezeigt, daß der in Städten der USA beobachtete hohe Wanderungsumschlag offensichtlich keine amerikanische Eigenart gewesen ist, sondern eher ein universales Merkmal der Großstadt in der Hochindustrialisierungsperiode. Sein Aufsatz behandelt ebenso wie eine nachfolgende Abhandlung aus dem Jahre 1979 in der Hauptsache aber nur das Phänomen der Wanderung und nur in geringem Umfang die Probleme der Wanderer selbst 6 . Hohe Wanderunsintensität bedeutete nicht per se einen Verlust von sozialen Bindungen oder gar gesellschaftliche Entwurzelung. Dies galt besonders für die saisonale Wanderung, die von vornherein nur zeitlich angelegt war und bei der der Wandernde oft zum jeweiligen Heimatort zurückkehrte. Ein großer Teil der Stadtwanderung im späten 19. Jahrhundert fiel unter diese temporär-saisonale Wanderung. So haben drei Viertel der städtischen Zuwanderer in dem Regierungsbezirk Düsseldorf vor 1865 weiterhin ihren bisherigen Hauptwohnsitz, vermutlich auf dem Lande oder in der Kleinstadt, beibehalten 7 . Unter die Kategorie der „zirkulären Wanderung" fällt der größte Teil der weiblichen Dienstboten. Sie arbeiteten überwiegend nur für eine befristete Zeit in der Stadt, um Geld für die Aussteuer zu sparen oder das elterliche Einkommen zu ergänzen. Ähnliches gilt für viele junge Männer vom Lande, die im Sommer etwa als ungelernte Bau- oder Gelegenheitsarbeiter in den Städten arbeiteten, um Mittel für einen Landkauf zu verdienen oder eine unzureichende landwirtschaftliche Existenz aufzubessern. Wie Langewiesche interessanterweise herausgefunden hat, waren im Sommer zwei Drittel aller deutschen Arbeitslosen in den Städten zu finden, im Winter dagegen der gleiche Prozentsatz auf dem Lande. Dies deutet auf ein wirtschaftlich rationelles Verhalten hin. Es wurde offenbar versucht, sowohl die höheren Verdienstmöglichkeiten in den Städten als auch die niedrigen Lebenshaltungskosten auf dem Lande wechselweise auszunutzen 8 .
5
6
7
8
Eine der wenigen Studien, die diesen Aspekt in Erwägung gezogen haben, ist die von H S I - H U E Y LIANG, Lower-Class Immigrants in Wilhelmine Berlin, in: Central European History, 3, 1970, S. 94-111. Wie er bemerkte, konnte nicht einmal der „Vorwärts" auf Werbungen für Tanzhallen verzichten. LANGEWIESCHE (wie Anm. 3). - DERS., Mobilität in deutschen Mittel- und Großstädten: Aspekte der Binnenwanderung im 19. und 2 0 . Jahrhundert, in: CONZE/ENGELHARDT (wie Anm. 2) S. 70-93. - Langewiesche nimmt dabei eine Forschungsrichtung auf, in der schon in den 30er Jahren bedeutende Fortschritte gemacht wurden durch die Arbeit von RUDOLF HEBERLE/FRITZ MEYER, (Hrsg.), Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung, Leipzig 1937. - In der Zwischenzeit war Wolfgang Köllmann einer der wenigen, die im großen Ausmaß auf diesem Feld tätig waren. Eine Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze ist veröffentlicht in W. KÖLLMANN, Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974. HOCHSTADT (wie Anm. 3) S. 17. Er betont nachdrücklich die Bedeutung der „circulatory migration". Nach 1865 wurden solche Wanderungsdaten nicht mehr im Reg.-Bez. Düsseldorf erhoben. LANGEWIESCHE ( w i e A n m . 3 ) S . 2 3 .
Strukturen der Zuwanderung
99
Die größere Last der Stadtwanderung wurde von Jüngeren und Unverheirateten getragen, den Gruppen also, deren Anpassungsfähigkeit am größten war und die die geringsten Sozialkosten hatten. Die höchsten Sozialkosten fielen andererseits bei Wanderern mit Frauen (und Kindern) an, die von Not und Arbeitslosigkeit getrieben, ziel- und mittellos von Stadt zu Stadt zogen. Wenn aber die zwischenstädtische Familienwanderung in der Hauptsache eine Qualifikationswanderung darstellte, d.h. wenn sie auf Gruppen beschränkt blieb, die die materiellen und psychischen Kosten am besten verkraften konnten, dürfte die soziale Belastung, die durch eine solche Migration entstand, nicht so groß gewesen sein, wie man bisher annahm. Der nachfolgende Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, die Art der Zuwanderungsgruppen anhand der Großstädte Berlin, Hamburg, München und Frankfurt/M. näher zu analysieren. Dabei geht es um folgende Einzelprobleme: 1. Es wird zunächst anhand der Volkszählungen die Nettozuwanderung erfaßt, wobei die städtischen und ländlichen Herkunftsgebiete nach Indikatoren aufgearbeitet werden. Es geht dabei a) um die Wanderungsmobilität, gemessen an der damaligen Bevölkerung des Herkunfsgebietes, b) um den Frauenanteil und c) um den Anteil der Kinder unter 15 Jahren an den städtischen Zuwanderern. 2. Der Zuwandereranteil und der Wanderungsumschlag in den verschiedenen Berufsgruppen wird mit der Berufsqualifikation und dem Prestige und verschiedenen Indikatoren sozialer Mißstände in Beziehung gesetzt. Anschließend wird auch mit den Stadtteilen als Aggregationsebene der Zusammenhang zwischen Zuwanderung, Wohnbedingungen und Sozialstruktur untersucht. Eine der entdeckten Regelmäßigkeiten bei der Stadtwanderung ist, daß bei gleicher Entfernung eine Stadt normalerweise stärker als ihr Umland an der Zuwanderung in eine andere Stadt beteiligt gewesen ist. Dies gilt trotz der eingebauten Unterbewertung aller städtischen Wanderungsziffern, die daraus resultiert, daß die Anzahl der meistens 20 bis 30 Jahre zuvor geborenen Zuwanderer mit der inzwischen stark angestiegenen städtischen Bevölkerungszahl in Beziehung gesetzt wird. Ein zweites Merkmal ist, daß die Zahl der städtischen Zuwanderer fast immer einen größeren Kinderanteil enthält als die der ländlichen Zuwanderer aus gleicher Entfernung. Drittens scheint der Frauenanteil bei den Stadt-Stadt Wanderern meistens höher gewesen zu sein als bei den Land-Stadt Wanderern und dies nicht nur wegen der Kinder, von denen bekanntlich fast genau die Hälfte weiblich ist. Es trifft auch für die Erwachsenen zu. Wie die Daten über Münchener Zuwanderer zeigen, sind diese allgemeinen Wanderungstendenzen auch bei kleineren Herkunfts-Städten zu beobachten. In den bayerischen Statistiken sind die unmittelbaren (kreisfreien) Städte getrennt vom Rest des übrigen Regierungsbezirks aufgeführt. Die in der Volkzählung von 1871 erfaßte Zuwanderung nach München aus den kreisfreien Städten Bayerns war zwei- bis viermal stärker als aus dem ländlichen Umland der Städte und enthielt auch stets einen größeren Frauenanteil. Das auffällige Übergewicht der Städte als Hauptversorger der Großstädte mit Zuwanderern dauerte noch bis 1890 fort, wobei der Vorsprung allerdings geringer wurde. Er betrug dann nur noch höchstens das Doppelte des „platten
100
Walter Dean Kamphoefner
Landes". In den beiden beobachteten Stichjahren 1871 und 1890 waren die Stadt-Land-Unterschiede am größten in Niederbayern sowie in Ober- und Unterfranken. Die von München weiter entfernt liegende Stadt Nürnberg fiel 1890 sogar unter den Wanderungsdurchschnitt für Mittelfranken und zeigte dementsprechend auch einen niedrigeren Frauenanteil bei den Abwanderern, was auch bei den Städten Niederbayerns und der Oberpfalz der Fall war 9 . Über Wanderungen aus den übrigen Teilen Deutschlands nach München 1871 sind weniger Informationen vorhanden. Für Bremen und Hamburg kann festgestellt werden, daß sie Mecklenburg bzw. Oldenburg an Wanderungsintensität sowie bezüglich des Fraaenanteils unter den Wanderern übertrafen. Im Jahr 1890 werden für 21 au£.îrbayrische Städte getrennte Wanderungsangaben aufgeführt. Nur sieben davon zeigen im Vergleich mit ihrer ländlichen Umgebung eine niedrigere Wanderungsintensität und niedrigeren Kinderanteil, sechs davon einen niedrigeren Frauenanteil bei den Zuwanderern nach München. Für Frankfurt am Main liegen für 1905 brauchbare statistische Angaben über die Zuwanderung vor. Von 27 getrennt in den Tabellen aufgeführten Herkunftsstädten hatten nur zehn eine niedrigere Wanderungsintensität und elf einen niedrigeren Frauenanteil als die ländlichen Gebiete, in denen sie lagen. Bei beiden Indices kamen fünf der Ausnahmen aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet, das weiter von Frankfurt entfernt lag als die südlichen Teile der Provinzen 10. Bei der Zuwanderung nach Hamburg hatten bis 1890 von 24 Herkunftsstädten nur Hannover und Altona einen niedrigeren Frauenanteil als die umliegenden ländlichen Provinzen und nur fünf Herkunftsstädte der Hamburg-Zuwanderer hatten eine niedrigere Wanderungsintensität als ihr Umland Die Hamburger Statistiker waren 1895 besonders fleißig und haben für jeden preußischen Kreis die Zuwanderungsziffer nach Hamburg errechnet. In der Regel wird die mit der Entfernung allgemein abnehmende „Wanderungsschwerkraft" bestätigt. Ausnahmen dieses „Gesetzes" bilden vor allem einige ostelbische Gebiete wie auch jene Gegenden, die über eine besonders gute See- oder Binnenschiffsverbindung mit Hamburg verfügten. Aber diese Hamburger Statistik ermöglicht für manche kleinere Stadt auch einen Vergleich mit ihrem Umland in Bezug auf die Wanderungsbereitschaft. In den 34 Fällen, wo Stadt- und Landkreise bei der Wanderung getrennt aufgeführt wurden, gab es nur vier, bei denen der Landkreis eine höhere Wanderungsziffer aufwies. Ausnahmen bildeten hier nur die Herkunftsstädte Harburg und Kiel sowie in geringerem Maß Breslau und Hildesheim. Auch gegenüber dem Provinzdurchschnitt gaben die Städte meist mehr Abwanderer an Hamburg ab. Dies ist z.B. der Fall für alle zehn getrennt aufgeführten Stadtkreise in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern und Schlesien. Das9
Die unmittelbaren Städte Bayerns schlössen im Vergleich zu preußischen kreisfreien Städten auch kleinere Gemeinden ein; ein paar davon hatten sogar weniger als 4.000 Einwohner. Datenquelle: Die Bayrische Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, Beiträge zur Statistik des Kgr. Bayern, H. 32, München 1876. Mittheilungen des Statistischen Amtes der Stadt München, 13, H. 1-2, 1893, S. 68-69. 10 Datenquelle: Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a.M., N.F., 8, 1908, 35-37. " Datenquelle: Statistik des Hamburgischen Staates, H. 16, 1894, S. 32-43, H. 19, 1900, S. 75-78, H. 24, 1909, S. 40ff.
Strukturen der Zuwanderung
101
selbe gilt für alle acht rheinischen Herkunftsstädte sowie vier von fünf westfälischen und zwei von drei sächsischen Städten. Nur in den Provinzen Hannover, Brandenburg, Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein, also im Nahbereich der Freien Hansestadt Hamburg, wo die unterschiedlichen Entfernungen das Bild etwas verfälschen, lagen die Wanderungsziffern aus den Städten oftmals hinter den Provinzialmittelwerten. Wie aus den Daten hervorgeht, scheint sich die Wanderungsbereitschaft der Stadt- und Landbevölkerung allmählich etwas angeglichen zu haben. Dieses ist 1905 in Hamburg zu beobachten, wo zwölf von 33 aufgeführten Herkunftsstädten eine Zuwanderungsziffer unter ihrem jeweiligen Provinzdurchschnitt zeigten. Darunter befanden sich nun vor allem aufstrebende Industriestandorte an Rhein und Ruhr und Städte in den Provinzen, die an das Hamburger Staatsgebiet grenzten. Die anderen aufgeführten Zuwanderungsmerkmale blieben aber konstant; nur bei zwei Herkunftsstädten war der Anteil der Kinder, nur bei fünf der Anteil der Frauen an den Hamburger Zuwanderern geringer als in ihrem Landesdurchschnitt. Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch bei den Berliner Zuwanderern: Im Jahr 1875 waren in den Volkszählungslisten nur die Hansestädte Hamburg und Bremen als einzige Herkunftsorte getrennt von den Provinzen und Bundesstaaten aufgeführt worden. Dabei übertraf die Stadt Bremen das Herzogtum Oldenburg und die Stadt Hamburg die Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein sowohl in der Wanderungsintensität als auch hinsichtlich des Frauenanteils unter den Berlin-Zuwanderern. Im Jahr 1890 liegen für Berlin dann getrennte Ergebnisse nach 22 Herkunfsstädten vor. Wie man nun erkennen kann, lag nur bei Zuwanderern aus Stettin und Königsberg der Frauenanteil unter dem Provinzdurchschnitt, und nur sieben Städte wiesen geringere Zuwanderungsziffern im Vergleich mit der Provinz auf 1 2 . Auch hier wird also noch einmal eindeutig die erwähnte Regelmäßigkeit bestätigt, daß die Stadt-Stadt-Wanderung die Land-Land-Wanderung überragte. Wie bei den anderen bisher besprochenen Städten hat sich auch für Berlin die Situation bis 1905 etwas verändert. 20 Herkunftsstädte mit höheren Zuwanderungsziffern als ihr Umland stehen 15 mit niedrigeren gegenüber. Unter den zuletzt genannten waren alle ostelbischen Herkunftsstädte mit Ausnahme der sächsischen, einige schnell wachsende Industriestädte und ein paar Städte, die wie Kiel und Frankfurt am Main relativ weit entfernt von Berlin lagen. Auch hier war der Kinder- und Frauenanteil bei den StadtStadt-Zuwanderern stets größer als bei den Land-Stadt-Migranten (siehe Tabelle 1). Alle diese Faktoren deuten in dieselbe Richtung: Die Stadt-Stadt-Mobilität bestand zu einem größeren Teil aus Familienwanderung als die Land-StadtWanderung bei gleichen Entfernungen. Welche dieser Gruppen beruflich höher qualifiziert war, läßt sich aus den Daten nicht eindeutig ablesen, obwohl bestimmte Datenkonstellationen Rückschlüsse erlauben. Die Wanderungs-
12
Datenquelle: Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1875 in der Stadt Berlin, H. 3-4, 1880, S. 27+-29+. Die Bevölkerungs- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1890 in der Stadt Berlin, H. 1 (1893), S. 34-43. Die Grundstücks-Aufnahme von Ende Oktober 1905 sowie die Wohnungs- und die Bevölkerungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1905 in der Stadt Berlin und 29 benachbarten Gemeinden, 2. Abt., 1911, S. 32-35.
102
Walter D e a n Kamphoefner
Ziffern waren im allgemeinen höher aus multifunktionalen Handelsstädten (wie etwa Köln) als aus reinen Industriestädten (wie etwa aus dem Ruhrgebiet). Das Gegenteil wäre zu erwarten gewesen, wenn die Stadt-StadtWanderung zum größten Teil aus Industrieproletariern bestanden hätte. Die Frauen- und Kinderanteile unter den aus Industriestädten Zuziehenden waren meistens kleiner, was wohl bedeutet, daß sich weniger Familien darunter befanden und die Berufsqualifikation geringer war. Eine andere, das bisher Gesagte nicht ausschließende Erklärung dieses Phänomens wäre die Etappenwanderung: Ein Teil der aus den Städten zugewanderten Kinder und vielleicht auch der Frauen gehörte zu Männern, die anderswo geboren waren und in der Stadt vorübergehend Station gemacht hatten. Für einen Sozialhistoriker ist es meistens ein Ärgernis, wenn statistische Behörden in der Vergangenheit die Erhebungsmethoden veränderten ; hin und wieder ist dies aber auch eine Gelegenheit zur Gewinnung neuer Erkenntnisse. Dies ist in Berlin der Fall, wo die Volkszählungen bis 1905 die Zugewanderten nach ihrem Geburtsort aufführten, ab 1910 dagegen den letzten Aufenthaltsort mitteilten und zusätzlich angaben, ob dieser mit dem Geburtsort identisch war. Daraus wurde für unsere Untersuchung ein zusätzlicher Beleg für das hohe Ausmaß an Etappenwanderungen in die Großstädte gewonnen 13. Die Anzahl der in der Berliner Volkszählung von 1910 erfaßten Zuwanderer, deren letzter Aufenthaltsort eine Stadt war, war gut doppelt so groß wie die Anzahl der Berliner Einwohner 1905 mit Städten als Geburtsort. 1910 gab es dagegen weniger Personen in Berlin mit ländlichen Gebieten als letztem Aufenthaltsort als 1905 mit einem ländlichen Geburtsort (vgl. Tab. 2), d.h. daß viele der in ländlichen Gebieten Geborenen vor ihrem Zug nach Berlin Zwischenstation in einer Stadt gemacht hatten. Dasselbe läßt sich aus einem Vergleich der Abwanderungsquote verschiedener Städte mit der ihres jeweiligen Umlandes für die Jahre 1905 und 1910 ablesen (vgl. Tab. 1, deren Ergebnisse in Tab. 2 zusammengefaßt wurden). Das außerordentlich hohe Ausmaß an Etappenwanderung bedeutet also, daß viele ländliche Abwanderer erst in dem ruhigen Stauwasser der kleineren regionalen Zentren Erfahrungen sammelten, ehe sie sich in den schnellen Strom der Großstädte wagten. Dadurch wurde vermutlich ein Kulturschock vermieden oder doch gemindert, Qualifikationen gewonnen und die Assimilation an die neue urbane Lebensweise erleichtert. Der Anteil der direkt vom Geburtsort nach Berlin Zuziehenden war generell höher aus Ostelbien und dem Nahbereich, dagegen niedriger aus dem Westen und aus den weiter entfernt liegenden Gebieten. Von allen Berliner Zuwanderern aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, der preussischen Provinz Sachsen, aber auch aus Mecklenburg, Anhalt und Thüringen kamen über die Hälfte direkt aus ihrem Geburtsort in die Reichsmetropole. Dagegen waren es bei den Zuziehenden aus Hannover, Westfalen, Hes-
13
Daten für 1910: Die Grundstücks-Aufnahme vom 15. Oktober 1910 sowie die Wohnungs- und die Bevölkerungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1910 in der Stadt Berlin und 44 Nachbargemeinden, 1. Abt., 3. Heft, 1916, S. 32-37. - Für alle Städte, die sowohl 1905 wie 1910 gesondert aufgeführt waren, wurden Zuwanderungsziffern im Verhältnis zur Bevölkerung von 1905 bzw. 1910 berechnet. Andere Städte wurden der Rest- oder ländlichen Bevölkerung der jeweiligen Provinz oder des jeweiligen Landes zugeschlagen.
Strukturen der Zuwanderung
103
sen-Nassau sowie aus der Rheinprovinz, dem Königreich Sachsen und Hessen nur noch 31-33 v.H., für Schleswig-Holstein, Baden, Elsaß-Lothringen war der Prozentsatz noch geringer. Dies scheint ein Indiz dafür zu sein, daß Etappenwanderer generell höher qualifiziert waren als direkte Zuwanderer und daß die Stadt-Stadt-Wanderung nicht unbedingt ein Anzeichen für materielle Not gewesen sein muß. Diese These bedarf aber noch einer weiteren Überprüfung anhand der berufsbezogenen Daten. Berlin bietet von allen deutschen Städten, soweit sich erkennen läßt, die vollständigsten Wanderungsstatistiken. Die periodisch alle fünf Jahre vorliegenden Volkszählungsergebnisse gliedern die Arbeiterschaft nach den preußischen Berufskategorien auf, außerdem differenziert nach Selbständigen und Abhängigen. Für jede Berufsgruppe läßt sich der Anteil der geborenen Berliner und der Zugewanderten nach Verweildauer und Altersklassen ermitteln. 1895 wird auch der Anteil der von der Stadt wegen Armut Unterstützten und 1900 die durchschnittliche Jahresmietbelastung bei den einzelnen Berufssparten aufgeführt. Da die Volkszählungen stets im Dezember, also am Tiefpunkt der jährlichen Wanderungsfluktuation, aufgenommen wurden, bieten zusätzliche Statistiken über den Wanderungsumschlag nach Berufen (allerdings nicht nach der Stellung im Beruf!) in Berlin eine wichtige Ergänzung 14. Nach Langewiesches Untersuchungen „stellen die Arbeiter absolut und bezogen auf ihren Anteil an der Bevölkerung den höchsten Anteil unter den Migranten, ohne daß sich aber durchgehend ein stringenter Zusammenhang zwischen beruflichem Qualifikationsniveau und Mobilitätsgrad belegen läßt!'15 Vor allem die letzte Einschränkung ist nach unseren gemachten Untersuchungen zu unterstreichen. Dies läßt sich am Beispiel der Berliner Erwerbstätigen um die Jahrhundertwende aufzeigen. Zwar waren nach der damaligen Volkszählung in fast jeder Berufsgruppe (außer in den Bereichen Bergbau und Hüttenwesen, Versicherung, private Verkehrsgewerbe und Chemische Industrie) mehr Abhängige als Selbständige neu zugewandert.
14
Datenquellen: Die Berliner Volkszählung von 1895, 1. Teil, S. 78-79. Die Berliner Volkszählung von 1900, 2. Abt.: Bevölkerungs-Aufnahme 1904, S. 91-119. - Daten über Wanderungsumschlag: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Jg. 14-32, 1889-1913. - Daten wurden für fünfjährige Schnitte zusammengefaßt und im Verhältnis zur durchschnittlichen Belegschaft nach den Volkszählungen am Anfang und Ende des Zeitschnitts gesetzt. - Die Mietangaben nach Beruf für 1900 wurden nach der folgenden Vorgehensweise ermittelt: Die Mietangaben waren in der Quelle in drei Kategorien aufgeteilt: a) Miete für Wohnungen ohne Gewerberäume. b) Miete für gewerblich benutzte Wohnungen mit getrennten Mietangaben für Wohn- und Gewerberäume, c) Miete für gewerblich benutzte Wohnungen o h n e Trennung der Mietwerte für Wohn- und Gewerberäume. U m die Kosten für die Gewerberäume möglichst auszuschalten und die reinen Wohnungskosten abzuschätzen, wurde bei Wohnungen mit getrennten Mietangaben für Gewerberäume der Prozentsatz der für Wohnräume bezahlten Miete an der Gesamtmiete berechnet und dieser Prozentsatz auf die Mietsumme für gewerblich benutzte Wohnungen ohne Trennung der Mietwerte (Kategorie C) angewandt, um die Miete für Wohnräume annähernd zu ermitteln. Die Mietangaben der Haushalte sind insofern nicht einwandfrei, als daß selbständige Familienmitglieder und andere Haushaltungsgenossen unter ihren eigenen Berufen statt unter denen der Haushaltsvorstände aufgeführt waren. Aber die etwaige Mietentlastung, die solche (nicht in der Tabelle erfaßten) Haushaltsmitglieder brachten, wurde durch ihre zusätzliche Wohnraumbelastung sicher ausgeglichen.
•5 LANGEWIESCHE ( w i e A n m . 3 ) S. 7 9 .
104
Walter Dean Kamphoefner
Tabelle 1 Demographische Merkmale, Wanderungsintensität und Ausmaß der Etappenwanderung der Berliner Zuwanderer nach Herkunftsgebiet 1905-1910
Ο σι •
R = Rest G = Gesamt
3 •CH 4-1 14 h 0 O O à o •ρ Β o »φH 3 0 «C l-l ftθφ h -Ρ φ •ΗΡ M φ Φ Ό ΓΗ Β m
H c 0) Η q 3 μ«ι a φ Χ 13 c o id o S c 0 Q> H i-l 0 , RH ια Β 0) Μ 3 αι m -u h c t. 3
TH n ωi o o σι o o o •Ρ M 0 0 {A M +J O) 3 Ha Φ κ a¥ Φ Ό aυ c S id ¡X C
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
0) h a 1-3 S = Stadt
» C
1-3 M 0) in -1 C CA «d ni ε c O H O φ ·-·φ h o "d h E 0< V s c φM 3 Φ id ρ Mc fa 3
in u> -H a M α) Ό •EΗ α *
2
C
α "4 ο ο Ο Ή en χ ι ιη ιη Ο Φ σι -—I —U I id tu a Β ω 3 \ Η Φ Ό φ ΕΡ «0 RH V 4 id Φ CU
Β Η Φ Η Μ φ φ ΒΌ «Ββ Β S 3 Ο Η Ο •Η Ό 0 C α, φ Ό ε Φ Μ 3 φ «Ρ Η Β 3
Β h φ 14 Φ ΗΌ φ Β Β Id β s Β 2 s3 φ < ο α id ο ft 4-1 ω ο Η Β 0< Φ Ό Β φ 3 Φ id 4-1 Η C B 3
Ρ IH c θ 4P IH Η Β ΛId •Η •o Ρ Β κ φ ο 4J Ό Ν Ρ Β Í3 φ ϊ I—( φ D< β 3
Ρ Η 0 CIÏ 4-1 U 3 Β XI •Η φ Ο •Ρ β Η 0 Όφ > C •Ρ id Μ S φ φ Η 0> -Η 3
(6)
(7)
(8)
(9)
(10)
>
M
-Η
Ν
Ό
Ν
(S (R (G
Königsberg Ostpreussen Ostpreussen
10 3 7
115 129 127
116 129 122
414 504 494
615 330 364
163 66 75
28 26 26
41 56 53
131 173 166
110 117 115
(S (R (G
Danzig Westpreussen Westpreussen
10 5 6
126 124 124
128 125 125
444 506 500
620 384 408
149 79 85
29 30 29
43 55 53
145 159 157
95 116 112
(S (R (G
Stettin Pommern Pommern
17 5 6
122 131 131
125 133 132
533 813 776
1001 610 663
198 76 87
32 28 29
36 58 53
132 168 162
95 123 115
(S (R (G
Posen Posen Posen
10 5 5
111 116 115
114 116 116
500 527 525
778 374 404
178 75 81
28 26 26
38 58 55
127 148 146
95 114 110
(S (R (G
Breslau Schlesien Schlesien
10 3 4
98 104 103
97 104 103
224 303 296
370 211 215
180 74 77
31 25 27
34 52 52
114 132 130
112 141 111
(S (S (R (G
Magdeburg Halle Sachsen Sachsen
13 13 5 5
102 107 102 102
103 107 102 103
228 159 294 280
338 267 209 224
157 179 73 83
36 40 32 33
34 32 59 54
108 132 136 133
77 85 92 88
(S (S (R (G
Altona Kiel Schleswig-Holst. Schleswig-Holst.
19 26 9 12
84 99 68 73
81 95 65 69
60 42 48 49
69 138 42 57
117 381 94 127
43 55 49 50
31 14 32 26
97 89 76 81
69 41 59 53
(S (R (G
Hannover Hannover Hannover
18 7 8
81 64 66
75 62 63
80 49 52
188 41 56
261 90 115
43 49 47
22 39 33
95 77 81
64 56 59
(S (S (S (R (G
Dortmund Gelsenkirchen Bochum Westfalen Westfalen
19 24 14 6 7
64 73 54 45 47
53 48 50 42 43
31 6 22 27 27
68 28 47 24 27
268 533 250 104 115
53 67 52 56 56
21 19 23 37 33
80 50 46 48 SO
44 42 45 46 45
(S (S (S (R (G
Kassel Frankfurt a.M. Wiesbaden Hessen-Nassau Hessen-Nassau
8 •19 14 4 7
77 67 68 52 57
72 62 67 50 55
69 38 37 42 43
110 96 104 28 50
175 287 303 71 126
41 50 51 50 49
26 21 19 50 33
86 74 80 55 64
65 53 90 54 59
Strukturen der Zuwanderung
105
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
(10)
(S) E l b e r f e l d (S) Barmen (S) K r e f e l d (s) Duisburg (S) K ö l n (S) A a c h e n (R) R h e i n l a n d (G) R h e i n l a n d
21 16 11 7 9 13 18 9 7 10
75 60 71 51 59 49 76 71 49 55
73 55 69 47 54 44 70 67 46 51
29 20 48 33 46 15 41 32 21 25
72 47 71 39 45 27 82 43 20 31
290 285 154 130 102 213 224 141 100 140
55 60 47 48 45 67 49 45 54 53
20 19 33 39 50 23 23 35 36 31
76 68 55 61 59 45 77 53 47 55
47 45 69 56 62 43 52 61 50 51
(S) Braunschweig (R) Braunschweig (G) Braunschweig
15 6 9
75 64 68
71 63 66
105 75 83
167 58 90
168 77 110
41 50 45
34 47 40
110 95 102
61 90 72
Dresden Leipzig Chemnitz P l a u e n i.V. (R) S a c h s e n (G) S a c h s e n
19 17 18 8 7 11
80 83 72 54 60 67
75 80 64 51 58 64
72 88 52 40 51 58
177 185 78 73 36 74
261 230 173 210 75 136
42 39 43 48 42 41
25 25 31 38 41 31
91 95 103 81 89 91
67 65 62 84 72 68
13 17 6 8
80 79 53 58
74 70 51 55
31 22 16 17
55 40 14 19
194 209 94 118
49 50 49 50
23 21 32 28
80 89 69 73
48 55 42 46
(S) S t u t t g a r t (R) W ü r t t e m b e r g (S) W ü r t t e m b e r g
13 4 6
50 42 43
46 40 41
28 16 17
41 9 12
164 56 76
55 52 53
27 43 37
50 56 54
39 34 36
(s) M ü n c h e n
18 12 4 6
78 50 60 61
73 48 59 59
19 18 13 14
50 37 9 14
295 233 77 107
56 55 48 51
23 26 44 35
90 62 76 77
48 45 60 53
(s) Strassburg
18 9 10
67 31 35
63 27 30
27 17 18
74 23 28
289 141 161
44 51 49
16 28 25
85 36 41
39 30 32
(S) D ü s s e l d o r f
(s) E s s e n
(s) (S) (S) (S)
(S) (S) (R) (G)
Karlsruhe Mannheim Baden Eaden
(S) N ü r n b e r g (R) Bayern (G) Bayern (R) E I s a s s - L o t h r i n g e n (G) E l s a s s - L o t h r i n g e n
QUELLE: Grundstücksaufnahme
(wie Anm.
13).
Tabelle 2 Zuwanderung nach Berlin nach Geburts- und Herkunftsorten 1905-1910 W a n d e r e r pro 10.000 Einwohner nach Ge- nach H e r burtsort k u n f t s o r t 1905 1910
UNGEWICHTET A. Städte B. Rest (ländlich) C. G e s a m t (A + B)
Durchim letzten d i r e k t v o m Zahl schnittliche Jahrfünft Geburtsort d e r Veränderung zugewandert zugewandert Fäl1905 - 1910 1910 1910 le (1905=100) (in %) (in i)
(1)
(2)
(3)
(4)
104 195 193
178 142 161
221 84 107
46, 2 42, 2 43,0
G E W I C H T E T n a c h Bevölkerungszahl 101 A. Städte B. Rest (ländlich) 162 C. G e s a m t (A + B) 153 QUELLE: G r u n d s t ü c k s - A u f n a h m e
der 179 117 127
Herkunftsgebiet« 227 84 109
(wie A n m .
13).
45, 9 42,7 43, 3
(5)
(6)
28,1 45,1 39,5
35 17 17
27,2 44, 5 38, 6
106
Walter Dean Kamphoefner
Trotzdem muß man den Selbständigen in gewisser Weise einen höheren Grad an Mobilität bescheinigen, da in den meisten Gewerbezweigen anteilsmäßig mehr Selbständige als Abhängige irgendwann einmal in die Stadt zugezogen waren. Dies kann in beiden Stichjahren bei der Metall-, Maschinen-, Chemie-, Papier- und Lederindustrie, aber auch dem Holz-, Bekleidungs-, Reinigungsund Druckgewerbe sowie bei Handel, Versicherungen, Gaststätten und dem Kunstgewerbe festgestellt werden. In der Textil-, Nahrungs- und Genußmittelindustrie sind keine nennenswerten Unterschiede zu verzeichnen. Nur im Bergbau und Hüttenwesen sowie bei der Industrie Steine und Erden, dem Bau- und privaten Verkehrsgewerbe steigt der Anteil der geborenen Berliner mit dem beruflich-sozialen Prestige. Bei den Beamtengruppen ist erwartungsgemäß die größte Seßhaftigkeit bei den unteren Diensträngen zu finden. Aber da nur höhere Beamte eine Versetzung über größere Entfernungen erlebten und hier eine Art erzwungene Wanderung stattfand, kann dieser Tatbestand nicht überraschen. Die Berliner Volkszählung von 1900 enthält auch Angaben, die es ermöglichen, die durschschnittlich gezahlte Wohnungsmiete nach Berufen annähernd zu ermitteln. Der durchschnittliche Mietwert für 42 Berufe in Industrie und Handel (21 Berufsgruppen unterteilt nach Selbständigen und Abhängigen) wurde mit dem Anteil der im letzten Jahr oder Jahrfünft Zugewanderten korreliert. Dabei stellte sich heraus, daß die Berufe mit höheren Mietausgaben zwar tendenziell weniger Neuankömmlinge aufwiesen, aber die Korrelationen recht niedrig waren: kein Koeffizient war höher als -0.25. Gewichtet nach Beschäftigtenzahl, um den Einfluß der kleinen Berufsgruppen zu relativieren, wurden die Korrelationen sogar positiv, aber noch niedriger. Dies bedeutet, daß sich praktisch kein Zusammenhang zwischen niedrigen Mieten bzw. schlechter Wohnqualität und einem hohen Anteil von Neuzugezogenen in den einzelnen Berufen herstellen läßt. Es gibt auch so gut wie keine Tendenz zu höheren Mietausgaben bei den Berufsgruppen, die einen größeren Anteil geborener Berliner aufwiesen 16. Die drei Gruppen, die Arbeiter ohne nähere Angaben, bei der Eisenbahn und im Baugewerbe gehörten zwar zu den niedrigsten Mietkategorien, doch lagen die Zuwandereranteile bei ihnen auch nur knapp über dem Durchschnitt aller erwerbstätigen Männer. Man kann also nicht sagen, es habe hier besonders viele Berlin-Zuwanderer gegeben. Bis 1900 wurde in der Volkszählung nur zwischen Selbständigen und Abhängigen differenziert, was gelegentlich irreführen könnte. So rangierte die kleine Gruppe der „Bergarbeiter" (in Wirklichkeit überwiegend Angestellte und technisches Personal) mit einer Jahresmiete um 1.000 M. innerhalb der obersten 5 v.H. aller Berliner Haushalte. Bei der Zählung 1905 wurden die Mietangaben der Arbeiter gesondert aufgeführt; die Berufszählung 1907 ermöglichte es, diese mit Herkunftsdaten zu ergänzen. Als Indikator des Lebensstandards wurde der Anteil der Haushalte genommen, die eine Jah-
16
Die genaue Korrelation von Miethöhe mit Zuwandereranteilen verlief folgendermaßen (ungewichtet/gewichtet nach Beschäftigungszahl): Zuwanderer: -0.08/-0.03; im letzten Jahrfünft Zugewanderte: -0.25/ + 0.12; im letzten Jahr Zugewanderte: -0.19/+ 0.09. Quelle: Berliner Volkszählung und Statistisches Jahrbuch (wie Anm. 14).
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resmiete unter 300 M. zahlten. Bei den 20 Arbeitergruppen in Industrie und Handel zeigt sich, daß ländliche und ostelbische Zuwanderer tendenziell schlechter wohnten, dagegen waren Zugezogene aus anderen Städten und aus den preußischen Westprovinzen und besonders geborene Berliner eher besser gestellt. Aber alle Korrelationen lagen recht niedrig zwischen -0.22 und +0.33. Nur Berufe mit einem hohen Wandereranteil aus dem agrarischen Osten (Ostund Westpreußen, Posen, Pommern und Schlesien) zeigten eine deutliche, wenn auch nicht überwältigende Neigung ( + 0.49) zu niedrigerer Wohnqualität. Auch hier bestätigt sich im wesentlichen die Nullhypothese 17. Was nicht mit den Mietkosten zu belegen war, konnte auch nicht mit der Armenfürsorgeunterstützung bewiesen werden. Die Berliner Volkszählung von 1895 ermittelte die von der Stadt Berlin wegen Bedürftigkeit Unterstützten anhand der Beschäftigten der jeweiligen Berufsgruppe. Bei sämtlichen Gewerbetreibenden wurden durchschnittlich etwa 1 v.H. als Fürsorgeempfänger ermittelt. Da die Selbständigen eine höhere Unterstützungsrate als die Abhängigen hatten, wurde solche Hilfe offenbar eher an Familien als an Einzelpersonen geleistet. Im übrigen stimmt die Verteilung der Fürsorgeempfänger auf die verschiedenen Berufe relativ gut mit dem allgemeinen Berufsprestige überein. Zwar waren die Abhängigen, was sowohl die Fürsorgeempfänger als auch die Zuwanderer betrifft, in Landwirtschaft, Gärtnerei und besonders in der Forstwirtschaft deutlich überrepräsentiert; aber dies waren nur verhältnismäßig kleine Berufsgruppen und gerade nicht das, was man normalerweise unter dem Berliner „Industrieproletariat" versteht. Nimmt man die besondere Berufsgruppe der Schauspieler heraus, dann bildet die Berufskategorie „Arbeiter ohne nähere Angabe" den größten Anteil aller Armenfürsorgefälle, nämlich 3 v.H. aller hier Erwerbstätigen. Aber gerade diese Gruppe hatte einen unterdurchschnittlichen Anteil an Berlin-Zuwanderern. Die einzigen anderen Berufsgruppen mit mehr als 2. v.H. Unterstützten waren Selbständige der Bekleidungs- und Textilindustrie sowie die Arbeitnehmer der zuletzt genannten Berufsgruppe. Auch diese Berufsgruppen hatten eine niedrige Zuwanderungsziffer. Sechs andere Berufsgruppen hatten mehr als 1. v.H. Armenfürsorgeempfänger: Es waren dies Arbeiter des Bekleidungsund Baugewerbes, Selbständige der Holzindustrie, Arbeitgeber und Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes und Dienstboten. Der Zuwandereranteil war bei vier dieser Berufsgruppen zwar verhältnismäßig hoch, aber bei den Bauarbeitern lag er knapp unter dem Durchschnitt, und bei der holzverarbeitenden Industrie blieb er äußerst niedrig. Die Vermutung liegt nahe, daß sich zur Zeit der Volkszählung im Dezember
17
Mietangaben wurden e n t n o m m e n aus: Die Grundstücks- sowie die Wohnungs- und die Bevölkerungsaufnahme von 1905, 2. Abt., S. 76-98; sie wurden kombiniert mit berufsbezogenen Geburtsortsangaben aus: Statistik des deutschen Reichs, Bd. 110,2. Die zwei Quellen erfassen nicht genau dieselbe Bevölkerung, da die Volkszählung die Person am Wohnort, die Berufszählung die Person und vor allem die Pendler am Arbeitsort erfaßte. Auch änderte sich die Belegschaft in den dazwischenliegenden einhalb Jahren, ebenso war die Sommerbelegschaft etwas anders als die des Winters. Trotzdem erscheinen diese Mängel geringfügig, da etwa dieselben sozialen und regionalen Gruppen, wenn auch nicht alle dieselben Individuen in den zwei Quellen erfaßt werden. Nur Haushaltsvorstände wurden in den Mietangaben berücksichtigt, doch ist eher anzunehmen, daß Berufe mit einem hohen Schlafgängeranteil auch in die billigeren Mietskategorien fielen, als daß die zwei in einer Wechselbeziehung standen.
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viele städtische Bau- und Gelegenheitsarbeiter am Kamin eines Bauernhofes wärmten. Jedenfalls waren ihre städtischen Berufsgenossen im Schnitt beachtlich älter und öfter verheiratet als sonsige Industriearbeiter. Wer ungebunden war, reiste bei Winterbeginn wohl ab. Deshalb bieten die Statistiken über Wanderungsumschlag eine wichtige Ergänzung zum Volkszählungsmaterial. Daraus ergibt sich, daß in Berlin „Arbeiter ohne weitere Angabe" eine der höchsten Umschlagziffern hatten, Bauarbeiter aber bloß um den Durchschnitt lagen - mit abnehmender Tendenz über die Zeit betrachtet (Tab. 3).
Tabelle 3 Durchschnittlicher jährlicher Wanderungsumschlag nach Berufsgruppen Männlich L a n d - und Forstwirtschaft, Gärtnerei, F i s c h e r e i B e r g b a u , Steine und Erden Metallverarbeitung M a s c h i n e n jnd Instrumente Chemie, H e i z - und L e u c h t s t o f f Textilindustrie P a p i e r und Leder H o l z - u n d Schnittstoffe N a h r u n g s - u n d Genussmittel Bekleidung Reinigung Baugewerbe D r u c k , K ü n s t l e r i s c h e Gewerbe H a n d e l und V e r s i c h e r u n g Verkehr Gastwirtschaft Schaustellungen P e r s ö n l i c h e Dienste A r b e i t e r o h n e nähere A n g a b e P o s t und E i s e n b a h n Heilpersonal Lehrer Künste L i t e r a t u r und Presse, S c h r e i b e r Kirche H ö h e r e Beamte S u b a l t e r n e und N i e d e r e Beamte Militär R e n t i e r s , Pensionäre In B e r u f s v o r b e r e i t u n g O h n e Beruf o d e r B e r u f s a n g a b e Alle Männlichen Erwerbstätigen
18861890
1891· 1895
106 32 40 21 26 20 29 24 61
Ì»
73 41 24 14 17 14 22 20 53
!»
65 25 a) 28 18 42
37 23 a) 26 6 39
52 37
72 56
68
41
)
)
!"
|β1
!"
!»
6 12 133 86 35
4 10 129 21 31
18961900 58 38 26 14 13 10 20 19 53 22 55 30 23 26 8 39 141 143 266 c) 9 57 25 101 30 26 66 16 4 9 121 24 33
19011905
19061910
59 42 25 17 16 10 19 20 55 19 54 33 21 31 11 40 148 146 89 10 70 28 86 33 73 107 24 7 23 261 35 33
52 36 27 14 16 11 19 22 50 18 48 30 22 31 9 40 54 267 74 11 54 53 153 47 70 1 39 7 16 240 38 33
Weiblich Bekleidungsgewerbe Dienstboten Alle weiblichen Erwerbstätigen
9 b) 72 41
9 b) 75 41
11 90 42
13 94 42
13 101 39
a) incl. Schaustellung b) incl. Reinigung c) Die h o h e Ziffer resultiert nicht aus einer h o h e n Zahl von W a n d e r e r n - sie ist fast d i e g l e i c h e w i e i n d e n folgenden zwei Perioden - sondern v i e l m e h r aus einer n i e d r i g e n Bezugszahl v o n Beschäftigten, b e d i n g t v i e l l e i c h t d u r c h d i e K o n junkturlage oder lediglich d u r c h eine v e r ä n d e r t e B e r u f s d e f i n i t i o n . Q U E L L E : Berliner V o l k s z ä h l u n g und Statistisches J a h r b u c h (wie A n m .
14).
Strukturen der Zuwanderung
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Allgemein gehörten die Industriearbeiter zu den Gruppen mit mittlerer bis niedriger Wanderungsziffer. Die höchsten Fluktuationen fanden sich bei Dienstboten und Gelegenheitsarbeitern. Auch die numerisch kleine Gruppe der „städtischen Landarbeiter" zeigte eine hohe Wanderungsbereitschaft. Arbeiter im Dienstleistungsbereich wie im Nahrungs- und Genußmittel-, Reinigungs- und Gastwirtschaftsgewerbe waren mobiler als der durchschnittliche Industriearbeiter. Trotz der bekanntlich ungünstigen Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie blieb die Wanderungsbereitschaft dort besonders niedrig. Auch in der Bekleidungsindustrie lag sie unter dem Durchschnitt. Obwohl Frauen im allgemeinen eine geringere Wanderungsbereitschaft zeigten als Männner, wiesen die weiblichen Erwerbstätigen insgesamt einen höheren Wanderungsumschlag als die männlichen auf. Spezifiziert man nach den Berufen, in denen Frauen am stärksten vertreten waren, wird der Grund dafür offensichtlich: Die weiblichen Mobilitätsziffern in den individuellen Berufen liegen durchaus parallel zu denen der Männer, jedoch etwas niedriger. Bei Dienstboten waren sie besonders hoch, bei Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie recht niedrig, genau wie bei den männlichen Berufsgenossen. Nur der hohe Anteil an Dienstboten bei weiblichen Erwerbstätigen verursachte ihre hohe Aggregatmobilität. Daten aus Frankfurt/M., die Langewiesche zitiert, zeigen die höchste Mobilität für Personen in den niedrigsten Steuer- und Verdienstklassen. Das ist nicht überraschend, da Zuwanderer sich überwiegend in den Altersklassen von 20 bis 35 Jahren konzentrierten und am Anfang ihrer Berufslaufbahn standen. Aber das gilt sowohl für die bürgerliche wie für die Arbeiterkarriere und auch für Personen im Dienstleistungsbereich. Eine rein proletarische Angelegenheit war Wanderung eben nicht 18 . Andere Daten aus Frankfurt erlauben es, das Muster der innerstädtischen Mobilität zu untersuchen und so zu überprüfen, inwiefern dieses bei Unterschichtsfamilien an die Stelle von regionaler Mobilität tritt. Die Umzugshäufigkeit, die nach Beruf, leider aber nicht nach Stellung im Beruf aufgeführt war, zeigt eine schwache Tendenz zur höheren Mobilität bei niedrigerem sozialen Status (Tab. 4). Beamte, Lehrer und Freiberufliche waren nur etwa halb so mobil wie die Erwerbstätigen in den Holz-, Metall- oder Baugewerben. An der Spitze der Mobilität standen jedoch Beschäftigte aus dem Nahrungsgewerbe, nicht etwa Industriearbeiter. Auch ein Gewerbe wie die Druckerei, das relativ hohe Qualifikationen verlangte, brachte daher kaum größere residenzielle Stabilität. Dagegen erwiesen sich die bestimmt zu den untersten sozialen Rängen gehörenden Beschäftigten in der Bekleidungs- und Reinigungsindustrie als residenziell äußerst stabil. Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, daß viele solche Haushaltsvorstände Frauen waren, die allgemein eine niedrigere Umzugshäufigkeit zeigten als Männer. Dieses würde aber wiederum der These entgegensprechen, es seien vor allem die sozial Schwachen, die zum häufigen Umzug gezwungen waren 19. Auch auf Stadtteilbasis in Frankfurt um 1890 war kaum ein Zusammenhang zwischen hohem Wanderungsumschlag und Ar-
18
LANGEWIESCHE ( w i e A n m . 3 ) S . 9 0 .
19
Tabelle 4 berechnet nach Angaben in: Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a.M., N. F. 1, 1895, Teil 2, S. XXXIV, XLVI-XLVII. Die Korrelationen auf Stadtteilbasis beruhen ebenfalls auf Daten aus diesem Band.
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beiterbezirken festzustellen: sie waren zwar positiv miteinander korreliert, aber nur zu einem unbedeutenden Grad (unter +0.26). Kurze Bezugsdauer war sogar viel eher für Eliten- als für Arbeiterviertel charakteristisch, hatte also mehr mit der Wahrnehmung eines günstigeren Wohnungsangebots als mit der Flucht vor katastrophalen Verhältnissen zu tun.
Tabelle 4 Die Umzugshäufigkeit selbständiger Haushaltsvorsteher nach Berufsarten Frankfurt 1890-1892 Berufsgruppen
Haushaltsvorstände Volkszählung 1890
Landwirte, Gärtner, Fischer Stein-, Erd- und Metallindustrie Textil-, Papier- und Lederindustrie Industrie der Holz- und Schnittstoffe Industrie der Nahrungs- und Genussmittel Industrie d e r Bekleidung und Reinigung Baugewerbe Druckereigewerbe Handel aller Art W i r t s c h a f t s g e w e r b e (bes. W i r t e , Köche, K e l l n e r ) H ä u s l i c h e D i e n s t e u n d L o h n a r b e i t w e c h s e l n d e r A rt B e a m t e , B e d i e n s t e t e und L e h r e r a l l e r A r t Arbeiter, Tagelöhner ohne nähere Bezeichnung Freie Berufe Alle Haushaltsvorsteher davon männlich davon weiblich QUELLE: Beiträge
zur S t a t i s t i k F r a n k f u r t
(wie A n m .
Umzüge in % 1891 - 92
705 1.836 758 1.260 859 6.011 1.760 564 7.729 1.058 2.144 3.980 2.826 839
28,1 62,7 56,6 62,7 53,3 27,7 60,3 58,0 37,6 67,0 51,1 36,2 62,4 33,6
36.984 29.930 7.054
43,7 51,6 21,9
19).
Nimmt man den Stadtteil statt des Berufs als Aggregationsebene, so ist immer noch kein enger Zusammenhang zwischen Wohnelend und einem hohen Anteil an Zuwanderern zu erkennen. Eine solche Analyse ist freilich nur sinnvoll, wenn die Geschlechter getrennt beobachtet werden: Zugewanderte Frauen waren in einem so hohen Maße Dienstboten, daß sie eher mit Nobelvierteln zu assoziieren sind, obwohl sie selbst zumeist alles andere als nobel wohnten. Aber auch bei männlichen Einwanderern ist so gut wie kein Zusammenhang zwischen Zuwanderern und niedrigerer Wohnqualität zu finden. Berliner Stadtteildaten über verschiedene Indikatoren von Mietkosten, Belegungsdichte, Wohnungsgröße sowie beruflicher und demographischer Struktur wurden in drei Querschnitten - 1875, 1890 und 1910 - ausgewertet. Die verschiedenen Indizien von Wohnelend sind zwar eng miteinander und mit Arbeiter- und Industrievierteln assoziiert, stehen aber eher im negativen Verhältnis zum Anteil der zugewanderten Männer in der Bevölkerung. Sogar wenn man nur die in den letzten fünf Jahren Angereisten als Variable nimmt (Tab. 5), korrelieren sie 1890 und 1910 negativ mit Arbeitern und Industrie, dagegen positiv mit Handel und freien Berufen. Auch waren solche Neuankömmlinge eher in Zimmerabmietervierteln als in Schlafgängerbezirken zu
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111
finden. Im Jahre 1875 waren Zuwanderer überhaupt kein prägender Faktor für innerstädtische Differenzierung, weder positiv noch negativ mit irgendeinem Indikator der Berufs- oder Wohnungsstruktur signigfikant korreliert. Nimmt man als Variable bei der 1890er-Datei den Anteil der ostelbischen Zuwanderer, verschwindet zwar der Zusammenhang mit den positiven Indikatoren, aber es zeigt sich auch keine enge Beziehung mit den negativen. Im Gegensatz dazu waren Zuwanderer aus den preußischen Westprovinzen im hohen Maße in den besseren Vierteln anzutreffen. Diese Erkenntnisse über Berlin werden von den Münchener Daten bestätigt und sogar verstärkt. Vor allem die ausserbayerische Wanderung nach München (in erster Linie aus Österreich und Preußen) war offensichtlich eine Qualifikationswanderung. Zusätzliche, nur für München vorhandene Indikatoren für soziale Mißstände, z.B. Sterblichkeits- und Armenunterstützungsraten, korrelieren sogar stark negativ mit dem Zuwandereranteil. Soviel ist klar: eine hohe Konzentration von Zugewanderten war keinesfalls gleichzusetzen mit dem Entstehen von besonderen Elendsvierteln in Berlin oder München 20. In diesem Zusammenhang scheint recht interessant, daß bei der Zuwanderung in deutsche Großstädte im späten 19. Jahrhundert keine besonderen sozio-ethnischen Segregationen entstanden sind, wie sie bei der Einwanderung in amerikanische Städte oder bei den Gastarbeitern in der heutigen Bundesrepublik zu beobachten sind. Die Tatsache, daß sich (mit Ausnahme der „Polenkolonien" im Ruhrgebiet) keine besonderen Zuwandererviertel in den Städten herausbildeten, hat sicher auch den mehrfach beschriebenen Anpassungsprozeß erleichtert. Auch dies läßt sich quantitativ nachprüfen: Die Verteilung männlicher Zuwanderer aus Mecklenburg über die verschiedenen Hamburger Stadtteile im Jahr 1895 zeigt z.B. eine verhältnismäßig gleichmäßige Streuung. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß diese überwiegend vom Lande kommende Zuwanderergruppe beruflich nicht hoch qualifiziert war. Eine wohnmäßige Zusammenballung dieser landsmannschaftlich und beruflich zusammengehörigen Gruppe hätte eigentlich erwartet werden können. Stattdessen zeigen 16 der 24 Hamburger Stadtteile nur Indexzahlen zwischen 80 und 125 v.H. einer gleichmäßigen Verteilung. Ebenfalls war in Berlin um 1890 eine Segregation der männlichen Bevölkerung nach Herkunftsgebieten kaum zu beobachten. Nach dem Berliner Volksmund gab es eine Konzentration schlesischer Zuwanderer in der Nähe ihres Ankunftsorts, dem Görlitzer Bahnhof. In der Tat war der Anteil der Schlesier am höchsten im dortigen Stadtviertel: der südöstlichen Luisenstadt.
20
Die Korrelationen in der Tabelle basieren auf Querschnitten aus Daten der jeweiligen Berliner Volkszählungen, (wie Anm. 12, Anm. 13). Ferner wurden für 1890 die Ergebnisse der Wohnungszählung aus: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 16-18, 1893-1894, herangezogen. - Für M ü n c h e n sind die entsprechenden Datenquellen: Mitteilungen des Statistischen Amtes der Stadt München, Bde. 13, 15, 20. - Der 1890er Berliner Querschnitt mußte ergänzt werden mit Angaben von 1885 über den Bevölkerungsanteil der Dienstboten, Zimmermieter und Schlafgänger, wobei die Stadtteilgrenzen während des Zeitraums unverändert blieben. Ebenfalls wurde der Münchener Querschnitt von 1890 durch Angaben aus der Berufszählung von 1895 ergänzt, auch bei gleichbleibenden Stadtteilgrenzen. Die Berufskategorie „Beamte und Freiberufler" gilt dabei ohne die Militärbevölkerung. Weiteres darüber siehe WALTER KAMPHOEFNER, Zur Wohnsituation in Berlin 1875-1910. Arbeitspapier, SFB 164, Projekt Β 5, Mai 1980. D i e Münchener Querschnitte wurden ähnlich wie die Berliner konstruiert.
Walter Dean Kamphoefner
112
Tabelle 5 ο G Μ1 t" C M
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3 3
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3 c: ω Ν ci: 3 Ol o C er η >< 3 14 J. 13 (13) RENTNER Personen, die von eig. Vermögen, Renten, Pensionen leben / 1000 der ortsanwes. Bevölkerung 3. Sozialökonomischer 14 (14) ARBEITER (1890) (1910) 15 (15) DIENSTB 16 (16) ERWST 3.1 17 (17) ERWST 3.2 18 (18) FREIBRF SELBST (1890) (19) SELBST
Status Arbeiter ohne näh. Angabe der Berufsklasse / 1000 Erwerbst. gelernte u. angelernte Arbeiter, ungelernte Arbeiter / 1000 Erwerbst. gelernte u. angelernte Arbeiter, Dienstpers. / 1000 Erwerbst. Dienstboten / 1000 Erwerbst. Erwerbstätige in Handel u. Verkehr / 1000 Erwerbst. Erwerbstätige in Militär-, Hof-, Bürgerl. u. Kirchl. Diensten, sog. freie Berufe / 1000 Erwerbst. sog. Freie Berufe / 1000 Erwerbst. Selbständige / 1000 Erwerbst. Selbständige / 1000 Erwerbst.
4. Segregation 19 (20) AUSLAEND Ausländer / 1000 ortsanwes. Bevölkerung 20 (21) POLEN Pers. mit Geburtsort in preuß. Kreisen mit überw. polnisch Sprech. Bevölkerung / 1000 ortsanwes. Bevölkerung (1890, 1910) Pers. mit Polnisch als Muttersprache / 1000 ortsanwes. Bevölkerung 21 (22) JUDEN Jüdische Bevölkerung / 1000 ortsanwes. Bevölkerung 22 (23) ZUGEZOG Pers., zwischen 1870 u. 1875 nach Berlin zugezogen / 1000 ortsanwes. Bevölkerung Pers., zwischen 1885 u. 1890 nach Berlin zugezogen / (1890) 1000 ortsanw. Bevölkerung (1910) Pers., zwischen 1905 u. 1910 nach Berlin zugezogen / 1000 ortsanwes. Bevölkerung 5. Wohnen 23 (24) WHGAUSR
(1890) (1910)
24 (25) 25 (26) 26 (27) 27 (28) 28 (29)
(
WHNGR WHNR/E EIGWHG UNTERM MIETE (1890) (1910)
Wohnungsausrüstung: % der bewohnten Wohnungen mit besond. Küche % der bewohnten Wohnungen mit Gas % der bewohnten Wohnungen mit Wasserleitung Wohnungsausrüstung: % der bewohnten Wohnungen mit besond. WC % der bewohnten Wohnungen mit besond. Badeeinrichtung Wohnungsausrüstung: % der bewohnten Wohnungen mit Abort zur alleinigen Benutzung % der bewohnten Wohnungen mit Badezimmer % der bewohnten Wohnungen mit Warmwasserversorgung % der bewohnten Wohnungen mit elektrischer Leitung mittlere Zahl der heizbaren Zimmer / bewohn. Wohnung mittlere Zahl der heizbaren Zimmer / Bewohner bewohnte Eigentümerwohnungen / 1000 bewohn. Wohnungen bewohnte Aftermieterwohnung / 1000 bewohn. Wohnungen mittlere Miete / J a h r der Mieterwohnungen mittlere Miete / J a h r f ü r bewohn. Wohnungen mit u. ohne Wohnungen mittlere Miete / J a h r der Mieterwohnungen
) = Variablen-Nr. des Vergleichsjahres 1910
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Heinrich Joh. Schwippe
In dieser Studie, die mit sekundärstatistischem Material arbeitet, kann es bei der Festlegung der Analyseeinheiten ausschließlich darum gehen, unter den gegebenen Aggregationsniveaus das günstigste auszuwählen. Die an sich notwendige und in der soziologischen Literatur auch immer wieder geforderte Vorgehensweise, ausgehend von kleinsten räumlichen Einheiten, etwa dem Gebäude, der Blockseite, entsprechend dem jeweiligen Forschungsinteresse größere, räumlich zusammenhängende Einheiten zu aggregieren, muß unterbleiben, da die Datenlage eine solche Vorgehensweise nicht erlaubt 42 . Von den drei zur Verfügung stehenden räumlichen Bezugseinheiten scheidet die Stadtbezirksebene aufgrund der unzureichenden Datenlage als Bezugsbasis von vornherein aus. Für die Wahl der Stadtteilebene als räumliche Bezugsbasis ist ausschließlich der Aspekt der räumlichen Ausdehnung von Bedeutung gewesen, denn hinsichtlich des Veröffentlichungsprogrammes bestehen zwischen der Stadtteils- und der Standesamtsbezirksebene keine Unterschiede. Die Verwendung der Stadtteile als Bezugseinheit ist aber trotzdem mit erheblichen Problemen behaftet, die sich in erster Linie aus den unterschiedlichen Größenverhältnissen und der dadurch bedingten inneren Heterogenität der Stadtteile ergeben. (1) Die Einteilung der Stadt Berlin in Stadtteile ist historisch zu erklären. Trotz der vorgenommenen Grenzverschiebungen spiegeln sich in der administrativ-statistischen Gliederung insbesondere der inneren Stadt noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ebenso auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Stadtentwicklungsphasen der voraufgegangen historischen Perioden wider. Historisch gewachsene Stadtteile, wie die Berliner Stadtteile, unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der Größe als auch hinsichtlich ihrer Funktion deutlich von den statistischen Erhebungseinheiten in den Städten Nordamerikas. Bei historisch gewachsenen administrativen Stadtgliederungen ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß sie eben nicht nur rein administrative Zwecke erfüllen, sondern auch im Bewußtsein der Bevölkerung in irgendeiner Weise verankert sind. Es ist auch für das 19. Jahrhundert darum anzunehmen, daß ähnlich wie auch in der Gegenwart, die Bewohner mit den Namen der Stadtteile gewisse Vorstellungen in Bezug auf den Charakter der Bevölkerung, der Wohnsituation usw. verbinden«. Die Verwendung einer historisch bestimmten Raumgliederung als Bezugsbasis für statistische Daten bringt wegen des größeren Realitätsbezuges sicherlich erhebliche Vorteile gegenüber etwa einem rein geometrischen Bezugsnetz (Planquadrate) oder auch gegenüber der schematischen Gliederung nordamerikanischer Städte in ,census tracts' Bei dieser Art von Bezugsbasis läßt sich aber nicht ausschließen, daß räumliche Konzentrationsgebiete bestimmter Art und Struktur von den Grenzen der Bezugsräume durchschnitten und auf mehrere Teilräume aufgeteilt 42
43
44
D.W.G. TIMMS, The urban Mosaic. Towards a Theory of Residential Differentiation, Cambridge 1971, S. 39 ff. vgl. auch D.S. CARTWRIGHT, Ecological Variables, in: E.F. BORGATTA (Hrsg.), Sociological Methodology 1969. San Francisco 1969, S. 155-218, hier S. 159. Es sei in diesem Zusammenhang etwa an das Berliner Scheunenviertel zwischen Stadtbahn, Münzstraße, Lothringer Straße, der Alten Schönhauser Straße und der Prenzlauer Straße oder an das Voigtland in Berliner Norden erinnert vgl. hierzu die Ausführungen zum Begriffder ,natural area' in 1.3.
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
255
werden. Solche Erscheinungen bleiben mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ohne Einfluß auf das spätere Analyseergebnis 45. (2) Auch in dieser Studie werden, wie übrigens in der überwiegenden Mehrzahl bisheriger ökologischer Untersuchungen, ausschließlich Aggregatdaten verwendet. Ihre Benutzung ist jedoch nicht unproblematisch Es ist allgemein davon auszugehen, daß der Grad der Homogenität bzw. der Heterogenität eines Stadtteiles direkt abhängig ist von dessen Größe; je größer ein Stadtteil ist, desto größer ist wahrscheinlich auch dessen Heterogenität. Nun aber beschreiben die Zensusdaten die Stadtteile lediglich in Form von Durchschnitts- oder An teils werten. Die innerhalb der Bezugseinheiten etwa bestehenden strukturellen Unterschiede bleiben auf diese Weise völlig unberücksichtigt, es sei denn, es gelänge, an Stelle des Mittelwertes andere, die Streuung innerhalb einer Bezugseinheit besser beschreibende statistische Masse zu verwenden. Aber auch hier sind aufgrund der Tatsache, daß es sich bei dieser Untersuchung um eine Sekundäranalyse handelt, enge Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, andere Maße an Stelle von Durchschnittswerten in die Analyse einzubeziehen. Dies aber bedeutet, daß die oft erheblichen strukturellen Unterschiede innerhalb der Stadtteile unberücksichtigt bleiben, und die Untersuchung letztendlich darauf hinausläuft, anstatt der Gruppierung homogener städtischer Teilräume solche Raumeinheiten zusammenzufassen, die hinsichtlich der Aggregatdaten gleich oder ähnlich sind. Für die anstehende Untersuchung besitzt das Problem Homogenität - Heterogenität aber auch noch aus einem anderen Grunde eine besondere Bedeutung: Lichtenberger und Herlyn stellen als Kennzeichen der räumlichen Organisation der Stadt in der vorindustriellen Periode die verhältnismäßig geringe räumliche (horizontale) soziale Separierung bei einer gleichzeitigen außergewöhnlichen großen sozialen Differenzierung innerhalb eines Gebäudes oder auf einem Grundstück heraus 47 . Diese sozialräumliche Strukturierung der Stadt ist begründet in der „herrschenden patriarchalischen Haushaltsstruktur, [die] nicht nur das Heer der Dienstboten, sondern auch die Mehrheit der gewerblichen Hilfskräfte in die Großhaushalte der Gewerbeherrn bzw. der Oberschicht" 48 integriert. In Zusammenhang mit der Industrialisierung werden nun aber gerade diese Strukturen nach und nach aufgelöst, indem die industriell-gewerblichen Hilfskräfte freigesetzt werden. Es stellt sich darum nun die Frage, in welchem Umfang mit einer Auflösung dieser sozialen Strukturen unmittelbar auch Veränderungen räumlicher Organisationsformen
45
46
47
48
Auf das Problem der Abhängigkeit faktorialökologischer Analysen von der inneren wie äußeren Gliederung des Untersuchungsgebietes haben F.L. SWEESTER, Factorial Ecology, in: Demography 1,1960, S. 372-386 und TIMMS (wie Anm. 42) S. 62 aufmerksam gemacht. vgl. hierzu J. FRIEDRICHS, Stadtanalyse, Reinbeck 1977, S. 354ff.; W.S. ROBINSON, Ecological Correlations and Behavior of Individuals, in: American Sociological Review IS, 1950, S. 351-357. Vgl. U . HERLYN, Wohnquartiere und soziale Schicht, in : U . H E R L Y N (Hrsg.), Stadt- und Sozialstruktur, München 1974, S. 16-41, hier S. 19 ff., E. LICHTENBERGER, Die europäische Stadt - Wesen, Modelle, Probleme, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung. Österr. Gesellschaft für Raumforschung und Raumplanung 16, 1972, S. 3-25; zur Raumstruktur der vorindustriellen Stadt. Vgl. auch G. SJOBERG, The Preindustrial City. Past and Present, Glencoe, III 1960. E. LICHTENBERGER, Die sozialökologische Gliederung Wiens - Aspekte eines Stufenmodells, in: Institut für Österreichkunde (Hrsg.), Geschichte und Literatur 17,1973, S. 25-49, hier S. 35.
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Abbildung 1 Das Gemeindegebiet der Stadt Berlin : Eingemeindungen und administrative Gliederung
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
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Heinrich Joh. Schwippe
einhergehen in der Weise, daß sich die soziale Mischung innerhalb eines Hauses auflöst, oder in welcher Form sie auch weiterhin noch bestehen bleibt. Eine Beantwortung dieser Frage ist aber auf der Basis großräumiger statistischer Einheiten solange nicht möglich, wie keine Informationen über die kleinräumige Homogenität bzw. Heterogenität vorliegen. In welchem Umfang .traditionelle' Strukturen noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Berlin bestanden haben wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bei der Zählung des Jahres 1867 von den nicht-selbständigen Erwerbstätigen nur etwa 30% über eine eigene Wohnung verfügten, fast 29% immer noch bei ihren Arbeitgebern und ungefähr 25% in Untermiete lebten 49. Gerade in Berlin darf auch der Einfluß der Wohnungsbau-Strukturen (Berliner Mietskaserne) auf die kleinräumige soziale Heterogenität nicht übersehen werden. Die sozialen Unterschiede zwischen den Bewohnern der Vorder- und der Hinterhäuser wie auch innerhalb eines Gebäudes waren in allen Berliner Stadtteilen mehr oder weniger deutlich ausgeprägt. Die sozialen Unterschiede zwischen den Bewohnern der Vorder- und Hinterhäuser waren, dies zeigen die Ergebnisse der Zählung des Jahres 1861, in den Berliner Stadtteilen keineswegs gleich: „Der Gesamt-Betrag der Differenz, d.h. der Gegensatz zwischen Vorderhäusern und Hofgebäuden, verhält sich in jedem Stadtteil parallel seiner Stelle in der socialen Rang-Ordnung: er ist desto größer, je höher die Rangstufe ist, welche der Stadtteil einnimmt" 50 . Die horizontale Differenzierung zwischen Vorder- und Hinterhaus wie auch die vertikale Differenzierung innerhalb eines Gebäudes hinsichtlich der Größe der Wohnungen und ihrer Ausstattung, die sich in Berlin mit den ersten Miethausbauten durchsetzte, führten zu einer Durchmischung verschiedenster sozialer Schichten in den Großwohn-Bauten und wirkten im Grunde räumlichen Segregationstendenzen entgegen. Angesichts dieser kleinräumigen sozialen Differenzierung stellt sich die Frage danach, ob soziale Segregation immer und ausschließlich eine räumlich-horizontale ist. Es ist ferner zu fragen, in welchem Ausmaß sozial homogene Wohnquartiere sich zusammensetzen aus sozial homogenen Wohngebäuden oder aus Wohngebäuden gleicher oder ähnlicher sozialer Heterogenität 51 . (3) Ein besonderes Problem bei der Untersuchung innerstädtischer sozialräumlicher Strukturen stellen die erheblichen Veränderungen in der kleinräumigen Gliederung (vgl. Abb. 1) dar. Sie erschweren sozialräumliche Vergleichsuntersuchungen und lassen Längsschnittanalysen nur mit Einschränkungen oder erst nach umfangreicher Neuaggregation der Daten auf ein für alle Querschnitte gleichermaßen gültiges Bezugsnetz zu. Eine solche Neuaggregation kann in der vorliegenden Studie nicht durchgeführt werden. 49
50
51
Die Berliner Volkszählung vom 3. December 1867. Bericht der städtischen VolkszählungsCommission über die Ausführung der Zählung. Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867. Bearbeitet, erläutert und graphisch dargestellt von H. Schwabe. Berlin 1869, S. XCIX. Die Berliner Volkszählung vom 3. December 1861. Bericht der städtischen Central-Commission für die Volks-Zählung über die Mitwirkung der Commune an der Zählungsausführung und an den Resultaten. Teil I. Berlin 1863, S. 43. Vgl. zu dieser Fragestellung auch von H.D. FRIELING, Räumlich soziale Segregation in Göttingen. - Zur Kritik der Sozialökologie. Textband. Kassel 1980, S. 22 ff. (Urbs et Regio 19).
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
III. Der Gang der
259
Untersuchung
Der klassische Analysestrang sozialökologischer Untersuchungen teilt sich auf in zwei Schritte: (1) Informationskonzentration und (2) Gruppierung der städtischen Raumeinheiten. Die Faktorenanalyse mit ihren verschiedenen Modellen wird in der Regel in einem ersten Analyseschritt zur Konzentration und Reduktion der Daten eingesetzt, während die Gruppierung der städtischen Teilräume mit Hilfe clusteranalytischer Verfahren durchgeführt wird. Beide Verfahren bieten, wenn sie qualifiziert angewandt werden, beträchtliche Vorteile gegenüber vielen bisher verwendeten Methoden. In der Verwendung der Faktorenanalyse lassen sich durch den Einschluß zahlreicher Merkmale, die zu Faktoren zusammengefaßt werden, die verschiedenen Dimensionen eines Untersuchungsproblems entschieden präziser erfassen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Merkmalen lassen sich durch ihre Zusammenfassung zu Faktoren einfacher überblicken als durch die gesonderte Betrachtung jedes einzelnen Merkmals. Die Clusteranalyse bietet gegenüber den in Zusammenhang mit Typisierungsproblemen häufig benutzten Verfahren wie der sog. Schwellenwert-Methode oder auch der Gruppierung im Strukturdreieck erhebliche Vorteile 52 . Beiden multivariat-statistischen Verfahren gemeinsam ist ein hoher Grad an Objektivität. 1. I n f o r m a t i o n s k o n z e n t r a t i o n : d i e
Faktorenanalyse
Das Hauptziel der Faktorenanalyse besteht in der Zusammenfassung der Ausgangsvariablen zu wenigen Faktoren. Dies ist besonders vorteilhaft für den räumlichen Vergleich der sozioökonomischen Struktur, denn die Anzahl der Merkmale ist für eine überschaubare Beschreibung der städtischen Teilräume zu groß. Ferner ist, dies ist für die Charakterisierung der Stadtteile ebenso wichtig, davon auszugehen, daß die Variablen wechselseitig voneinander abhängig sind und aus diesem Grunde sich eine isolierte Interpretation der räumlichen Verteilungsbilder der Variablen verbietet. In diesem Sinne leistet die Faktorenanalyse einen entscheidenden Beitrag zur Reduktion der Daten auf wenige, den Datenraum ausreichend beschreibende Grunddimensionen; dabei wird das Ergebnis in aller Regel um so übersichtlicher, je kleiner die Zahl der extrahierten Dimensionen ist. Die untere Grenze der zu extrahierenden Faktoren wird vorgegeben durch den Informationsverlust, den zuzugestehen man bereit ist. Die Faktoren analyse ist neben dem sicherlich sehr praktischen Einsatz als Verfahren zur Datenreduktion in erster Linie aber ein statistisches Verfahren, welches zum vertieften inhaltlichen Verständnis der ausgewählten Variablen besonders dann, wenn wie in diesem Fall, die Variablenauswahl nicht ohne theoretischen Bezug erfolgt - beitragen kann. Die Faktorenanalyse untersucht die statistischen Zusammenhänge zwischen den Variablen und bringt diese in der Faktorenlösung zusammenfassend zur Darstellung. Diese statistischen
52
Vgl. hierzu etwa H.H. BLOTEVOGEL, Methodische Probleme der Erfassung städtischer Funktionen und funktionaler Stadttypen anhand quantitativer Analysen der Berufsstruktur 1907, in: W. EHBRECHT (Hrsg.), Voraussetzungen und Methoden geschichtlicher Städteforschung. Köln/ Wien 1979, S. 217-269 (Städteforschung Bd. A 7).
260
Heinrich Joh. Schwippe
Zusammenhänge sind aber in gewisser Weise auch Abbildung inhaltlicher Zusammenhänge. Aus der Faktorenlösung ergeben sich somit Hinweise auf die inhaltlichen Grunddimensionen, die dem Datenraum zugrunde liegen. Unter dem Begriff Faktorenanalyse wird nun aber nicht ein einziges Verfahren verstanden, der Begriff faßt vielmehr eine Gruppe ähnlicher, verwandter Techniken zusammen. Es sind vor allem zwei Probleme, die zu diskutieren sind: (1) die Wahl des faktorenanalytischen Modells, (2) die Wahl des Rotationsprinzips. Hier beschränkt sich die Wahl des faktorenanalytischen Modells auf die Frage: Hauptkomponentenanalyse oder Hauptachsenanalyse (Faktorenanalyse im engeren Sinne)? Für die Fragestellung dieser Untersuchung erscheinen beide Verfahren gleichermaßen geeignet; darum sind auch beide Verfahren gleichermaßen zur Anwendung gekommen. Es werden allerdings nur die Ergebnisse der Hauptkomponentenanlyse genauer dargestellt. Im Rahmen einer Sozialraum-Analyse ist die Frage zu stellen, ob es sich bei den Grunddimensionen des Shevky-Bell-Modells tatsächlich um unabhängige Dimensionen handelt, oder ob diese Dimensionen in Wirklichkeit nicht miteinander mehr oder weniger korrelieren. Dazu stellt B. Hamm fest: „Wer die Ergebnisse seiner Faktorenanalyse nur einer Varimax-Rotation unterzieht, der will - implizit oder explizit - von einander möglichst unabhängige Faktoren extrahieren. Das mag dann gerechtfertigt sein, wenn wir vor einem Problem der Ableitung sozialer Indikatoren stehen ; dann aber sollten nur die Variablen mit den höchsten Ladungen interpretiert und die Kommunalitäten angegeben werden. Wenn wir aber Dimensionen sozialräumlicher Differenzierung untersuchen, dann können wir nicht a priori davon ausgehen, daß die Faktoren nicht untereinander korreliert seien. In den allermeisten Fällen wären deshalb schiefwinklige Rotationen angebracht, die allein uns darüber Auskunft geben können" 5 3 . Um zu prüfen, ob das in der Hauptkomponentenanalyse mit der Varimax-Rotation erzeugte Faktorenmuster der Datenstruktur tatsächlich entspricht, oder die extrahierten Faktoren nur rein verfahrensbedingte unabhängige Größen darstellen, wird eine zusätzliche schiefwinklige Rotation durchgeführt 54 . »
B . HAMM ( w i e A N M . 3 4 ) S . 8 0 .
54
Zur Untersuchung des sozialräumlichen Differenzierungsprozesses in Berlin wird eine Hauptkomponentenanalyse sowohl mit anschließender Varimax-Rotation als auch mit schiefwinkliger Rotation nach dem direkten Oblimin-Verfahren (vgl. G. ARMINGER, Faktorenanalyse, Stuttgart 1979, S. 100 ff.) durchgeführt. Wegen der nicht vollständigen Identität der drei Variablensätze muß auf einen statistischen Vergleich der Querschnittsanalysen verzichtet werden. Bei der Interpretation der Analyseergebnisse werden die Begriffe Faktor, Hauptkomponente und Dimension synonym gebraucht. - Einen ersten Versuch zur Prüfung der Unabhängigkeit der Dimensionen der Sozialraumanalyse unternimmmt W. BELL, Economic Family and Ethnic Status: An Empirical Test, in: American Sociological Review 20, 1955, S. 45-52. Aus dem deutschsprachigen Bereich sind die Untersuchungen von F.J. KEMPER, Die Anwendung faktorenanalytischer Rotationsverfahren in der Geographie des Menschen, in : E. GIESE (Hrsg.), Symposium „Quantitative Geographie" Gießen 1974, Gießen 1975, S. 34-47 (Gießener Geographische Schriften Heft 32) oder M. S A U B E R E R / K . CSERJAN, Sozialräumliche Gliederung Wien. Ergebnisse einer Faktorenanalyse, in: Der Aufbau. Zeitschrift für Planen, Bauen, Wohnen 27, 1972, S.284-306. - Ferner siehe auch R . J . JOHNSTON, Some Limitations of Factor Ecologies and Social Area Analysis, in: Economic Geography 47,1971, S. 314-323 . Auf die Notwendigkeit verschiedene faktorenanalytische Modell durchzutesten hat auch A.A. HUNTER, Factorial Ecology: A Critique and some Suggestions, in: Demography 9, 1972, S. 107-117 hingewiesen: „If a factor emerges across a set of very disporate factor models, the probability that it is a statistical artifact will be minimized." (S.l 10).
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
2. G r u p p i e r u n g s k o n z e p t : d i e
261
Clusteranalyse
Geht man davon aus, daß bei den in der vorliegenden Untersuchung zu behandelnden Fragestellungen die Annahme von disjunkten Klassen sinnvoll und vernünftig ist, dann ergeben sich als mögliche clusteranalytische Lösungswege die Anwendung (1) hierarchisch-agglomerativer und (2) nichthierarchischer (in der Regel iterative) Analyseverfahren. Aus der Vielzahl der hierarchischen bzw. der iterativen Verfahren hat sich unter den hierarchischen Verfahren der Algorithmus von Ward, der bei jedem Gruppierungsschritt „diejenigen beiden Gruppen zusammenfaßt, welche das Varianzkriterium am wenigsten vergrößern" 55 und unter den nicht-hierarchischen iterativen Verfahren das sog. Austausch verfahren, welches ebenfalls mit dem Ziel einer direkten Verbesserung des Varianzkriteriums durch systematisches Umgruppieren der Untersuchungsobjekte eine vorgegebene Anfangsgruppierung iterativ solange verbessert, bis schließlich ein stabiler Zustand, d.h. zumindest ein - lokales - Optimum, erreicht ist, als die leistungsfähigsten Klassifikationsverfahren erwiesen 56 . Hierarchische Verfahren besitzen gegenüber den iterativen Verfahren erhebliche Nachteile: während bei den iterativen Verfahren die Zuordnung von Objekten zu Gruppen durch wiederholtes Umgruppieren mit dem Ziel der direkten Optimierung eines Gütekriteriums erfolgt, wobei auch eine frühere, sich später als schlecht erweisende Zuweisung iterativ korregiert wird, sind die hierarchischen Verfahren dazu aufgrund ihrer anderen Vorgehensweise nicht in der Lage. Hierarchische Verfahren vollziehen die bestmögliche Zuordnung von Objekten bzw. Gruppen für eine gegebene Gruppierung immer auf der Basis der voraufgegangenen Gruppierungsschritte, sie können somit nur immer stufenweise optimale Lösungen erreichen 57 . Iterative Verfahren setzen allerdings die Vorgabe einer Anfangspartition voraus, die insbesondere bei nicht gut separierten Gruppen nicht ohne Einfluß auf das Klassifikationsergebnis ist. Damit wird die Erzeugung einer optimalen Ausgangsklassifikation - darin eingeschlossen ist selbstverständlich die Bestimmung auch der ,richtigen' Gruppenanzahl - zu einem zentralen Problem innerhalb eines clusteranalytischen Lösungsweges. Aufgrund der unterschiedlichen Vor- und Nachteile beider Verfahrensweisen werden darum in dieser Untersuchung beide in Kombination eingesetzt: In einem ersten Untersuchungsschritt wird mit Hilfe der hierarchischen Klassifikation (Verfahren Ward) mit der quadrierten euklidischen Distanz als Ähnlichkeitmaß ein erster Überblick über die Struktur der Untersuchungsobjekte gewonnen. Das im Ward-Verfahren erzeugte Dendrogramm gibt dabei erste Anhaltspunkte zur vorhandenen Gruppenstruktur:
55
56
57
D . STEINHAUSEN/K. LANGER, Clusteranalyse. Einführung in Methode und Verfahren der automatischen Klassifikation, Berlin, New York 1977, S. 81. Die Leistungsfähigkeit gerade des Austauschverfahrens haben STEINHAUSEN-LANGER (wie Anm. 56) S. 125 deutlich herausgearbeitet. Zur Clusteranalyse vgl. allgemein H. SPÄTH, ClusterAnalyse-Algorithmen zur Objektklassifikation und Datenreduktion. München 1975. - H.H. BOCK, Automatische Klassifikation. Theoretische und praktische Methoden zur Gruppierung und Strukturierung von Daten, Göttingen 1974. - W. SODEUR, Empirische Verfahren zur Klassifikation, Stuttgart 1976. Vgl. SODEUR (wie Anm. 5 7 ) S. 143-144, - STEINHAUSEN/LANGER (wie Anm. 5 6 ) S . 74ff.
262
Heinrich Joh. Schwippe
Klassen, die über mehrere Fusionsstufen nicht oder nur unwesentlich verändert werden, können als gut separiert angesehen werden; Ausreißer sind daran zu erkennen, daß sie erst relativ spät zugeordnet werden. Anhand der Distanzen bzw. der Distanzsprünge ergeben sich erste Hinweise auf die ,richtige4 Gruppenzahl, ohne daß es allerdings möglich ist, auf diese Weise die Gruppenzahl exakt anzugeben 58 . In diesem Sinne wird die hierarchische Klassifíkation in dieser Untersuchung als Vorstufe für die iterative Gruppierung verwendet. Dabei werden hierarchische und iterative Verfahren jedoch keinesfalls ungeprüft aneinandergekettet, sondern die Ergebnisse der hierarchischen Klassifikation werden zunächst unter inhaltlichen Gesichtspunkten geprüft, gegebenenfalls modifiziert, ehe sie als Anfangspartition in das iterative Verfahren eingehen.
IV. Die E n t w i c k l u n g der B e v ö l k e r u n g Vor der faktorialökologischen Analyse ist es sinnvoll, zunächst eine Untersuchungn der räumlichen Unterschiede des Bevölkerungswachstums im Untersuchungszeitraum durchzuführen. 1. D a s B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m in d e r z w e i t e n H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s bis zum Ersten Weltkrieg. Durch den Ausbau der zentralörtlichen Funktionen Berlins als politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum zunächst Brandenburg-Preußens und dann ab 1871 des Deutschen Reiches, zeigt die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen zwar durch politische und wirtschaftliche Krisen mehrfach gehemmten, insgesamt aber kontinuierlichen Anstieg der Wohnbevölkerung bis zum Jahre 1912. In diesem Jahr ist mit 2.095.030 Einwohnern die höchste Bevölkerungszahl Berlins erreicht. Von diesem Zeitpunkt an sinkt die Bevölkerung, beschleunigt noch durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges, kontinuierlich ab (vgl. Abb. 2). Von 1864, dem ersten Volkszählungsjahr nach den umfangreichen Eingemeindungen von 1861 bis zum Jahre 1910, der letzten Zählung vor dem Ersten Weltkrieg, ist die Bevölkerung Berlins um mehr als das Dreifache angewachsen. Der Zuwachs zwischen den einzelnen Volkszählungen ist in der Tabelle 2 aufgeführt. Diese in fünfjährigem Abstand erhobenen Daten lassen deutlich die großen Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung erkennen. Der Zeitabschnitt von 1864 bis 1890 ist durch fast gleichbleibend hohe Zuwachsraten gekennzeichnet. Die folgenden Jahrfünfte zeigen eine deutlich abgeschwächte Entwicklung, die Zuwachsraten sind erheblich niedriger und weisen starke
58
Bock sieht die Einsatzmöglichkeiten für hierarchische Verfahren darin, „daß sie einen Überblick über jene Objektmengen liefern, die bei variierenden Homogenitätsforderungen sinnvollerweise als ,Gruppe' angesehen bzw. eingerichtet werden können. Die Hierarchie zeigt, wie diese verschiedenen Gruppen miteinander zusammenhängen, ob sie durch sukzesive Fusion von Klassen vergleichbarer Größenordnung entstehen (intensive Gruppenstruktur) oder durch sukzessive Adjunkation benachbarter Einzelobjekte (schwache Gruppenstruktur)" BOCK ( w i e A n m . 5 7 ) S . 3 5 8 .
263
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
Schwankungen auf. Wie stark differenziert das Bevölkerungswachstum Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg ist, läßt sich aus der graphischen Darstellung der jährlichen Zuwachsraten, ermittelt auf der Basis der fortgeschriebenen Jahresendbevölkerung erkennen (vgl. Abb. 2). Tabelle 2 Bevölkerungsentwicklung in Berlin 1864 bis 1910 Jahr 1864 1Θ67 1871 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910
Bevölkerung a)
1 1 1 1 1 2 2
632 702 825 966 122 315 578 677 888 040 071
Zuwachs absol ut
379 43 7 937 858 330 287 794 304 848 148 257
70 123 140 155 192 263 98 211 151 31
058 500 921 472 957 507 510 544 300 109
« 11 17 17 16 17 20 6 12 8 1
1 6 1 1 2 0 2 6 0 5
a) einschliesslich der Schiffsbevölkerung
Abbildung 2
Abbildung 3
Die Entwicklung der Bevölkerung
Die Komponenten der Bevölkerungs-
in Berlin 1850 - 1917
entwicklung in Berlin 1850 - 1917
W o h n b e v ö l k e r u n g In T a u s e n d
pro 1 0 0 0 der Wohnbevölkerung
264
Heinrich Joh. Schwippe
Die 50er Jahre waren gekennzeichnet durch einen kontinuierlichen Anstieg der jährlichen Wachstumsraten. Diese Entwicklung wurde in den 6oer Jahren in dieser Form nicht fortgesetzt, sondern abgelöst von sehr stark schwankenden Zuwachsraten. Die Jahre 1861, bedingt durch die Eingemeindung und 1871 weisen dabei die höchsten Wachstumsraten auf. Im Gegensatz zum voraufgegangenen Jahrzehnt waren die Zuwachsraten in den 70er und 80er Jahren nicht mehr diesen starken Schwankungen unterworfen. Von 1871 bis 1878 ging die Zuwachsrate deutlich zurück und stieg dann mit kleinen Unterbrechungen (1883) bis 1888 leicht an. Von diesem Jahr an ging die Kurve erneut steil zurück und erreichte in den Jahren 1892 - 1894 einen Tiefpunkt. Bis zur Jahrhundertwende folgte ein erneuter Anstieg der Zuwachsraten, aber bereits 1901/02 erfolgte wiederum ein Einbruch. Noch einmal stieg die Zuwachsrate bis 1905 an, um dann ein weiteres Mal steil abzufallen und 1908 zum ersten Mal seit 1860 einen negativen Wert zu erreichen. Nach einer sich anschliessenden Phase von vier Jahren mit positiven Wachstumsraten waren ab 1913 die Werte erneut negativ. Das Ausmaß der Zuwachsrate und die Schwankungsstärke variierten erheblich ; die Gründe dafür sind recht vielfältiger Natur und können in dieser Untersuchung nicht erarbeitet werden. Auf einen Aspekt soll aber an dieser Stelle hingewiesen werden: der Verlauf der Bevölkerungszuwachsrate, die Auf- und Abschwünge scheinen offenbar Konjunkturzyklen zu folgen. Solche Zusammenhänge auch für Berlin zu vermuten liegt nahe, seit Langewiesche diese für die Wanderungsbewegung in deutschen Städten allgemein nachgewiesen hat 59 .
2. D i e K o m p o n e n t e n d e r
Bevölkerungsentwicklung
Anders als bei einer Vielzahl deutscher Großstädte ist der Einfluß von Eingemeindungsmaßnahmen auf das Wachstum der Bevölkerung im Falle Berlins äußerst gering gewesen. Entscheidend für das außergewöhnliche Bevölkerungswachstum der Stadt sind die Geburten- und Wanderungsgewinne. In dem Zeitraum von 1871 bis 1910 hat Berlin durch natürliche Bevölkerungsvermehrung allein 563.805 Einwohner und durch räumliche Bevölkerungsbewegung insgesamt 670.515 Einwohner gewonnen. Sieht es bei der Betrachtung des gesamten Zeitraumes zunächst auch so aus, als ob die Zuwanderung die entscheidende Wachstumskomponente im Bevölkerunggeschehen ist, so ändert sich dieses Bild schon, wenn man den Gesamtzeitraum auf zwei Perioden unterteilt (vgl. Tabelle 3). Für die Zeit 1871 bis 1890 steht einem Geburtenüberschuß von 232.933 Personen noch ein mehr als doppelt so großer Wanderungsüberschuß gegenüber (509.924). In der folgenden Periode 1890 bis 1910 kehrt sich dieses Bild in das genaue Gegenteil um; einem Geburtenüberschuß von 330.872 steht nur noch ein Wanderungsgewinn von 151.591 gegenüber. Bis zur Jahrhundertwende zeigt sich bei der Entwicklung der Geburtenüberschüsse ein kon-
59
D. LANGEWIESCHE, Wanderungsbewegung in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914, in: VSWG 64, 1977, S. 1-40, hier S. 9ff.
265
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
tinuierlicher Anstieg, der lediglich unterbrochen wird von einem kurzen unbedeutenden Rückgang in den 80er Jahren. Die Entwicklung der Wanderungsbilanz ist dagegen sehr viel uneinheitlicher. Die Werte sind starken Schwankungen unterworfen, so daß sich zeitliche Entwicklungstrends nur schwer feststellen lassen. Soviel läßt sich aber auch aus diesen Daten erkennen: die 90er Jahre stellen für die Entwicklung der räumlichen Bevölkerungsbewegung eine entscheidende Trendwende dar. Vor diesem Zeitpunkt liegt der Anteil des Wanderungsgewinns an der gesamten Bevölkerungszunahme stets zwischen 60 und 80%, danach geht er im Durchschnitt auf unter 50% zurück. Erstaunlicherweise bleibt die Entwicklung der Geburtenüberschüsse von dem sich in den 90er Jahren verändernden gesamtstädtischen Bevölkerungswachstum unberührt: sie steigen absolut bis zur Jahrhundertwende noch weiter an. Sieht man die zeitliche Entwicklung der Geburten- und Sterberaten sowie der Fortzugs- und Zuzugsraten auf Jahresbasis, so wird die sich ändernde Bedeutung der beiden Komponenten, der natürlichen und der räumlichen Bevölkerungsbewegung, für die Entwicklung der Berliner Bevölkerung besonders deutlich (vgl. Abb. 3).
Tabelle 3 Komponenten der Bevölkerungsentwicklung 1851 bis 1905 in Berlin Bevölkerung am A n f a n g d e r Periode 1851 1856 1861 1866 1871 1876 1881 1886 1891 1896 1901
a)
_ -
-
1855 1860 1865 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905
418733 434243 497429 528876 657678 774498 964539 1123749 1315665 1578516 1678924 1888313
a)
Geburtenüberschuss
17869 21503 21503 25739 25568 34316 69031 61017 77867 81173 85030 81433
Bevölkerungszunahme durch Eingemeindung
Wanderungsbilanz
-2539 37683 73130 103063 91252 155725 90179 130899 184984 19235 124359 73567
1861:
A n t e i l der Wanderungss a l d e n an d e r B e v ö l k e rungszunahme -15 63 77 80 78 81 56 68 70 19 59 47
.2 .7 .3 .0 1 .9 .6 .2 .4 1 .4 5
35447
(1) Von den 50er Jahren steigt die Geburtenrate mit einigen Unterbrechungen bis 1878 an und erreicht in diesem Jahr mit 43.7 Geburten pro 1000 Einwohner ihren Höhepunkt. Von diesem Jahr an sinkt die Kurve bis zum Ende des Beobachtungszeitraumes, beschleunigt in den Jahren des Ersten Weltkrieges, auf einen Wert von 10.7 pro 1000 ab. Besonders in ihrem Verlauf ab 1877 unterscheidet sich die Berliner Kurve sehr deutlich von der Geburtenrate des Deutschen Reiches. Der heftige Rückgang der Geburtenrate ab 1876 führt dazu, daß die Geburtenquote Berlins immer stärker hinter den Durchschnitts-
266
Heinrich Joh. Schwippe
werten für das Deutsche Reich zurückbleibt 60 . Der Verlauf der Sterberate - in ihrem Verlauf spiegeln sich im übrigen auch die Auswirkungen kriegerischer Ereignisse sehr deutlich wider - zeigt ab 1876 ebenfalls deutlich sinkende Tendenz (auch die Sterberate liegt niedriger als die Durchschnittswerte des Deutschen Reiches), ihr Rückgang ist allerdings keineswegs so stark wie der der Geburtenrate, deren Rückgang sich gerade zu Anfang des 20. Jahrhunderts schnell verstärkt. Zwar ist für den gesamten Beobachtungszeitraum, wenn man von den Jahren mit kriegerischen Auseinandersetzungen einmal absieht, ein Geburtenüberschuß vorhanden, dieser, das zeigt die graphische Darstellung der Geburten- und Sterberate sehr deutlich, geht im Laufe der 90er Jahre und besonders im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts deutlich zurück. (2) Die Zuzugs- und die Fortzugsrate, die sehr viel stärkeren Schwankungen unterliegen als die Geburten- und Sterberate, zeigen vom Ende der 70er Jahre an, abgesehen von einigen kurzfristigen, wohl konjunkturell bedingten Einbrüchen gerade bei der Zuwanderungsrate einen ansteigenden Trend. Diese steigt allerdings sehr viel langsamer als die Fortzugsrate. Die 80er Jahre sind noch von einem durchgehend hohen Wanderungsgewinn gekennzeichnet, aber schon in den 90er Jahren und dann erst recht nach der Jahrhundertwende tritt an die Stelle eines Wanderungsgewinns ein Wanderungsverlust, zunächst nur für zwei Jahre, schließlich zwischen 1900 und 1910 sogar für fünf Jahre. In den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ist die Wanderungsbilanz sogar negativ. Der Bedeutungszuwachs der natürlichen Bevölkerungsbewegung für das Gesamtwachstum ist also keineswegs auf eine Zunahme (absolut und relativ) der Geburtenüberschüsse, sondern auf die Abnahme der Wanderungsgewinne, die schließlich ja sogar in Wanderungsverluste übergehen, zurückzuführen.
3. A s p e k t e d e r r ä u m l i c h e n
Bevölkerungsentwicklung
Das starke Wachstum der Bevölkerung in Berlin ist als ein räumlich stark differenzierter Prozeß zu betrachten, in dem recht früh schon gegenläufige Tendenzen sichtbar werden: der Entleerung der zentralen Stadtteile auf der einen Seite steht eine starkes Wachstum in den Randbezirken bzw. in den Gemeinden außerhalb des Gebietes der Kernstadt gegenüber (zu den Grundzügen der räumlichen Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung vgl. Tabelle 4). Die innerhalb der ehemaligen Zollmauer gelegenen zentralen Stadtteile zeigen in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes insgesamt eine positive Bevölkerungsentwicklung. Um 1890 erreichen sie mit über 660.000 Einwohnern ihre Kulmination Die anschließenden Jahre sind von einem kontinuierlichen Rückgang der Bevölkerung gekennzeichnet. Gemessen an der Einwohnerzahl des Jahres 1890 geht die Bevölkerung bis 1910 um 28.8% zurück. Innerhalb des übrigen Stadtgebietes, außerhalb der Zollmauer, ist über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg eine anhaltende Zunahme der Einwohner festzustellen. Die Zuwachsraten flachen also zum Ende des Un-
« Vgl. Stat. Jahrbuch für das Dt. Reich 1931. 61 Von 1864 gerechnet entspricht das einer Zunahme von217.003 Einwohnern oder 48.7%.
267
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
tersuchungszeitraums hin deutlich ab. Im Vergleich der Entwicklung der Bevölkerungsanteile dieser beiden Teilräume, des dichtverbauten inneren Stadtquartiers und des zunächst noch offenen Randgebietes, wird das gesamte Ausmaß der innnerhalb von nur einem halben Jahrhundert vor sich gegangenen Umschichtung der Wohnbevölkerung deutlich: von 1864 bis 1910 kommt es zu einer völligen Umkehrung der Bevölkerungsanteile. Diese, für Berlin zunächst auf der Basis einer nur recht groben Raumgliederung festgestellte Entleerung (zunächst bis 1890 nur relativ, dann auch absolut) der inneren dichtverbauten Stadtquartiere und die Verdrängung der Wohnbevölkerung an die Peripherie, vor allem wohl durch sich verstärkt ausdehnende tertiäre Nutzungen, gilt als eines der Hauptcharakteristika der modernen Stadtentwicklung 62.
Tabelle 4 Grunddaten der Randwanderung in Berlin 1861 - 1910 Jahr
1861 1864 1867 1871 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910
Gebiet innerhalb der ehem. Z o l l mauer abs. %
übriges Stadtgebiet
400286 445670
123292 162989
76.4 73.2
abs.
-
-
-
-
-
-
576894 590646 634714 662673 620604 -
582454 511665
59.9 52.7 48.4 42.1 37.1
386076 529141 678001 912340 1053139
-
-
28.6 24.7
1454300 1559592
B e r l i n a)
% 23.6 26.8 -
40.1 47.3 51.6 57.9 62.9 -
71.4 75.3
523678 b) 608659 b) 699981 822935 962970 1119787 1312715 1575013 1673743 1885901 2036754 2071257 c)
Q U E L L E : F. L E Y D E N , G r o s s - B e r l i n , G e o g r a p h i e einer W e l t s t a d t . B r e s l a u 1933,
S.26.
a) o r t s a n w e s e n d e B e v ö l k e r u n g o h n e S c h i f f s b e v ö l k e r u n g b) Z i v i l - B e v ö l k e r u n g o h n e d i p l o m a t i s c h e s Corps (für 1861 f e h l e n 253 P e r s o n e n , d i e o f f e n s i c h t l i c h zum Z e i t p u n k t d e r Zählung v o r ü b e r g e h e n d abwesend waren) c) e i n s c h l i e s s l i c h S c h i f f s b e v ö l k e r u n g
Dieser Prozeß der Verdrängung der Wohnbevökerung aus den zentralen Stadtteilen ist, dies zeigen verschiedene Untersuchungen «keinesfalls nur auf die Weltstädte beschränkt, sondern läuft, allerdings mit unterschiedlicher
62
63
Vgl. B. SCHÄFERS, Phasen der Stadtentwicklung und Verstädterung. Ein sozialgeschichtlicher Überblick unter besonderer Berücksichtigung Mitteleuropas, in : Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 11,1977, S. 243-268. S. SCHOTT, Die Citybildung in deutschen Großstädten seit 1871. in: Statistisches Jahrbuch Deutscher Agglomerationen des Deutschen Reiches 1871-1910. Breslau 1912 (Schriften des Verbandes Deutscher Städtestatistiker H. 1). - H. SCHMIDT, Citybildung und Bevölkerungsdichte in Grossstädten. München 1909. - Zur Entleerung der Berliner Innenstadt im Rahmen der Citybildung vgl. auch Die Citybildung. Berliner Wirtschaftsberichte 9, 1932, S. 150-153, 159-162.
268
Heinrich Joh. Schwippe
Intensität, in allen Großstädten ab. Nach den Angaben bei Schott 64 ging, bezogen jeweils auf den Gebietsstand von 1900, in Hamburg der Anteil der Wohnbevölkerung der City an der gesamten Bevölkerung der Stadt von 518.8 pro 1000 im Jahre 1871 auf 197.5 pro 1000 im Jahre 1900 zurück. Im gleichen Zeitraum verringerte sich der Bevölkerungsanteil der City in Frankfurt von 498.9 pro 1000 auf 208.8 pro 1000, und in München belief sich der Rückgang auf 107 Punkte (von 194 pro 1000 auf 87.9 pro 1000). Die aus den bisherigen Daten und Ausführungen ersichtliche räumliche Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung impliziert auch erhebliche innerregionale Unterschiede bei den beiden Komponenten der Bevölkerungsentwicklung, der natürlichen und räumlichen Bevölkerungsbewegung. Da aber in der amtlichen Statistik sowohl die Geburten- und Sterbefälle als auch die Zuwanderungs- und Fortzugsfälle nicht auf der Ebene der Stadtteile vorliegen, sondern lediglich auf der Gemeindeebene, ist es nicht möglich, für die kleinräumigen städtischen Teilbereiche die entsprechenden Residualwerte zu errechnen. Insgesamt zeigt sich in der räumlichen Entwicklung der Bevölkerung Berlins eine deutliche Asymmetrie: das Wachstum der Bevölkerung erstreckt sich zunächst auf die nördlich, nordwestlich und südlich der Innenstadt gelegenen Stadtteile. Diese Stadtteile behalten, sofern sie außerhalb der ehemaligen Zollmauer liegen, die starke Bevölkerungszunahme bis etwa zur letzten Vorkriegszählung bei (1910). Erst in den 90er Jahren beginnt dann auch eine starke Bevölkerungszunahme in den großen, östlich der Innenstadt gelegenen Stadtteilen. In der Innenstadt selbst, insbesondere in den Stadtteilen Berlin, Alt- und Neukölln, Friedrichswerder und Friedrichstadt, nimmt die Bevölkerung sehr stark ab. Diese intensiven Dezentralisierungstendenzen beschränken sich erwartungsgemäß nicht auf das Berliner Stadtgebiet, sondern wirken weit in das Berliner Umland hinein. Das Wachstum der Bevölkerung im Berliner Raum konzentrierte sich, wie übrigens auch in allen übrigen Agglomerationsräumen des Deutschen Reiches 65 bis in die 90er Jahre hinein auf die Kernstadt. Bezogen auf die Bevölkerung innerhalb der Grenzen des Großberliner Zweckverbandes lebten 1864 (im Jahre der ersten Zählung und der umfangreichen Eingemeindung von 1861) immerhin 72.7% der Bevölkerung innerhalb Berlins, über die Hälfte sogar noch innerhalb der ehemaligen Zollmauer Bis zum Jahre 1890 war der Berliner Bevölkerungsanteil um 2 Prozentpunkte auf 74.6 % angestiegen, allerdings schon bei beträchtlicher innerstädtischer Gewichtsverlagerung. Im gleichen Zeitraum hatte sich der Anteil der Bevölkerung mit Wohnsitz innerhalb der Grenzen des weiteren Polizeibezirks gut verdoppelt, er stieg von fast 5% auf über 12% an. Diese erste Phase des Wachstumsprozesses mit überwiegender Konzentration des Bevölkerungswachstums auf den Kernstadtbereich bedingte eine außerordentlich hohe Verdichtung der Bevölkerung : die zu ihrem überwiegenden Teil noch innerhalb der Zollmauer liegenden westlichen Quartiere der Luisenstadt jenseits des Kanals erreichten 1890 mit fast 700 Einwohnern pro ha die höchste Verdichtung, ähnlich hohe Dichtewerte waren auch im westlichen Stralauer Viertel und im Spandauer Viertel anzutreffen. 64
SCHOTT ( w i e A n m . 64) S . 3 6 f f .
65
Vgl. hierzu die Untersuchungen bei SCHOTT (wie Anm. 64).
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
269
Ab 1890 und dann erst recht nach der Jahrhundertwende griff das Wachstum in stärkerem Maße über die Kernstadt hinaus auf den umliegenden Raum über. Von diesem Zeitpunkt an war es nämlich nur noch in beschränktem Maße möglich, die wachsende Bevölkerung innerhalb des Gemeindegebietes der Kernstadt unterzubringen, da größere zusammenhängende unbebaute Flächen lediglich noch im äußeren Königs- und Stralauer Viertel zur Verfügung standen. Innerhalb von nur 15 Jahren verschob sich die Bevölkerungsverteilung um annähernd 15 Prozentpunkte zugunsten der Außenzone (Polizeibezirk). Bis 1910 war der Anteil der innerhalb der Berliner Gemeindegrenzen lebenden Bevölkerung auf 52.5% zurückgegangen, das einem Rückgang um 20% gegenüber den Werten von 1864 entsprach 66. Auf die Phase der Konzentration des Bevölkerungswachstums auf den Kernstadtbereich folgte also in den 90er Jahren die Periode einer verstärkten Bevölkerungssuburbanisierung. Diese Änderungen des räumlichen Wachstums Berlins waren gebunden an die Entwicklung eines leistungsfähigen Nahverkehrsnetzes, das mit der Stadt- und Ringbahn, einem ausgebauten Netz von Vorortbahnen (1891 wurde ein gesonderter Vororttarif eingeführt), der Straßenbahn und den Omnibussen ab den 90 er Jahren zur Verfügung stand 67. Die Entwicklung eines leistungsfähigen Nahverkehrsnetzes wiederum blieb nicht ohne Einfluß auf das Standortverhalten der Industrie. Die Fertigstellung der Stadtbahn 1882 löste eine erste Welle von Standortverlagerungen von Industriebetrieben aus, dabei orientierten sich von einigen Ausnahmen abgesehen die Standorte der verlagerten bzw. neugegründeten Betriebe am Verlauf der Ringbahn (die Anwanderung erfolgte bis zu einer Entfernung von 5 km vom Zentrum) mit besonderer Konzentration im Bereich des Wedding, in dem nördlichen Charlottenburger Gemeindegebiet zwischen Landwehrkanal und Spree und im Bereich des Schlesischen und Mühlentores (Luisenstadt, Stralauer Viertel, Lichtenberg, Rummelsberg) 68 . Diese sog. erste Randwanderung der Industrie ließ die relativ enge Beziehung zwischen Wohngebieten und Industriestandorten zwar noch bestehen 69 , allein die Vergrößerung der Betriebe zwang aber immer mehr Arbeiter in größerer Entfernung zu den Arbeitsstätten zu wohnen. So entstanden weitere Wohngebiete nördlich des Stralauer Viertels und südlich der Luisenstadt. Ein wesentlicher Schritt in 66
67
68
«
Vgl. zur Bevölkerungsentwicklung im Berliner Raum D. DEISSMANN, Die Veränderung der Bevölkerungsverteilung in Berlin - Brandenburg 1875 - 1925. Stuttgart 1936 (Berliner Geographische Arbeiten H. 11) und A. SCHWERMER, Der Einfluß Berlins auf die Bevölkerungsverhältnisse der benachbarten Landkreise. Bielefeld 1937 (phil. Diss. Berlin). Auf die Bedeutung des Nahverkehrsnetzes für die Bevölkerungssuburbanisierung macht auch F. LEYDEN, Gross-Berlin. Geographie einer Weltstadt, Breslau 1933, S. 99. aufmerksam. - Vgl. zur Geschichte des ÖPNV in Berlin auch D. RADICKE, Die Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehres in Berlin bis zur Gründung der BVG, im Berlin und seine Bauten. Teil X Bd.B. Berlin 1979, S. 1-14 , und zusammenfassend bis 1914 U. KOPPENHAGEN, Zur Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs in Gross-Berlin von 1865 - 1914. Berlin 1961. Zur Veränderung des Standortmusters der Industrie vgl. R. HEILIGENTHAL, Berliner Städtebaustudien, Berlin 1926, hier bes. S.l-9; A. TIMM, Die Entwicklung des Industriestandortes Berlin, Berlin 1959 und neuerdings zusammenfassend auch J.-M. KREE, Die Industriestandorte in mitteleuropäischen Großstädten. Ein entwicklungsgeschichtlicher Überblick anhand der Beispiele Berlin sowie Bremen, Frankfurt, Hamburg, München, Nürnberg und Wien, Berlin 1977 (Berliner Geogr. Studien. Bd. 3), hier bes. S.35 ff. V g l . TIMM ( w i e A n m . 6 9 ) S . 8 4 .
270
Heinrich Joh. Schwippe
Richtung auf eine stärkere Trennung von Wohnen und Arbeiten bedeutete sicherlich die Einführung von billigeren Arbeiterwochenkarten auf Stadt- und Ringbahn im Jahre 1883 70. Die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz brachte jedoch die abermalige Randwanderung der Industrie, welche neue Industriestandorte weit außerhalb der politischen Grenzen Berlins in 12 bis 20 km Entfernung von der Innenstadt entstehen ließ. Trotz einer Verstärkung der Wohnbautätigkeit im Rahmen dieser neuen Standorte führte diese veränderte räumliche Struktur der Industrie nicht zu einer umfassenden Neuverteilung der Bevölkerung71. V. D i e ö k o l o g i s c h e S t r u k t u r d e r S t a d t B e r l i n 1875, 1890 u n d 1910 Aus Gründen der Vergleichbarkeit der drei Analysen wurden unter Verwendung des sog. Eigenwertkriteriums (Eigenwert größer 1.0) einheitlich 5 Faktoren extrahiert. Für das Jahr 1875 erklären diese 5 Faktoren 90.6% der Gesamtvarianz. Dieser Prozentsatz der Varianzaufklärung sinkt allerdings im Laufe des Untersuchungszeitraumes, wenn auch nur geringfügig, ab: 1890 wird durch eine 5 - Faktorenlösung noch 87.6% der Gesamtvarianz erklärt, und 1910 sind es schließlich noch 86.9%. Diese geringe Abnahme der Varianzaufklärung ist als erstes Anzeichen dafür zu werten, daß sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes die Relationen unter den Variablen, die in die Analyse eingegangen sind, verändert haben. Veränderte Realationen unter den Variablen wiederum sind zu werten als Ausdruck räumlich-struktureller Veränderungen. 1. G r u n d d i m e n s i o n e n d e r s o z i a l r ä u m l i c h e n
Struktur
Bei einem Erklärungsanteil von 86% bis 90% an der Gesamtvarianz der 28 bzw. 29 Variablen können die drei Lösungen mit je 5 extrahierten Faktoren als sehr gut angesehen werden. Nach Varimax-Rotation stellen sich die Varianzanteile der Faktoren wie folgt dar: Tabelle 5 Varianzanteile der Faktoren 1875, 1890 und 1910 Analyse jähr 1875 1890 1910
70
I 42,2 35,0 29,1
V g l . HEILIGENTHAL ( w i e A n m . 6 9 ) S . 2 .
71 V g l . T I M M ( w i e A n m . 6 9 ) S . 1 2 1 .
II 21,6 19,3 28,8
Faktor III 13,2 15,7 16,7
IV 7,9 11.2 7,0
V 5,6 6,4 5,3
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
271
Wie die tabellarische Zusammenstellung der Varianzanteile zeigt, erfolgt von der ersten Analyse (1875) bis zur dritten (1910) eine Angleichung unter den Faktoren dadurch, daß der zweite und der dritte Faktor einen zunehmend höheren Varianzanteil erklären. Die Abnahme der erklärten Varianz in der 5-Faktorenlösung spiegelt sich deutlich in den Kommunalitäten der Variablen wider. In der Analyse für 1875 haben noch 18 der 28 Variabein eine Kommunalität von größer 0.9. Für 1910 sind es nur noch 15 von 29 Variablen, deren Kommunalität größer 0.9 ist. Die Abnahme der erklärten Varianz ist zu einem großen Teil auf die Variable Polen zurückzuführen. Betrachtet man die drei Querschnittslösungen, so ist festzustellen, daß diese Variable in allen Fällen die niedrigste Kommunalität besitzt, ihr Wert sinkt von 0.738 in 1875 auf 0.449 in 1910. Diese geringe Kommunalität der Variablen Polen legt die Vermutung nahe, daß neben den für 1910 extrahierten fünf Faktoren noch ein weiterer sechster Faktor existierten muß, der inhaltlich weitgehend von diesem Merkmal bestimmt wird. Diese Vermutung bestätigt sich bei Erhöhung der Faktorenzahl : es ergibt sich ein Faktor, der ausschließlich von der Variable Polen bestimmt wird. Hieraus wird ersichtlich, daß für das Jahr 1910 die räumliche Verteilung der polnischen Bevölkerung innerhalb Berlins im Vergleich zu 1875 und 1890 nur noch wenige Gemeinsamkeiten mit anderen Untersuchungsvariablen hat.
Sozialstatus I Der in der Querschnittanalyse für das Jahr 1875 an erster Stelle extrahierte Faktor weist eine recht komlexe Variablenzusammensetzung auf. Die inhaltliche Bedeutung der Faktoren ergibt sich aus den hohen Faktorladungen. Allerdings reichen diese für die Interpretation in allen Fällen nicht aus : immer dann, wenn Beobachtungseinheiten in Bezug auf geringer ladende Variablen Extremwerte aufweisen und auf diese Weise ein extrem hoher Faktorwert auftritt, ist es erforderlich, die Gesamtheit der Ladungen der Variablen auf einem Faktor zu betrachten. Darum sind auch alle Variablen mit Ladungen > 0.3 in die entsprechenden Tabellen aufgenommen worden 72 . Die bipolar hoch ladenden Variablen (vgl. Tabelle Nr. 6) repräsentieren sowohl die Dimension „Sozialer Rang" nach dem Shevky-Bell-Modell als auch die Dimension „Urbanismus/Spezialisierung" im Sinne der Neuinterpretation von B. Hamm. Eindeutig der Sozialstatus-Dimension zuzurechnen sind die hochladenden Merkmale zur Erwerbstätigkeit und zum Mietzins - mit positiver Ladung Rentner, freiberuflich Erwerbstätige, Miete und mit negativer Ladung Arbeiter. Zuordnungsprobleme ergeben sich bei der Variablen Ausländeranteil. Nach nordamerikanischen Untersuchungen ist diese Variable der Dimension Sozialer Rang des Sozialraum-Modells zuzurechnen. B. Hamm hat in seinen Untersuchungen zu Bern allerdings den engen Zusamenhang mit der Dimension Urbanismus/Spezialisierung festgestellt 73 . In ähnliche Richtung
72
Vgl. hierzu auch O. SCHLOSSER, Einführung in die sozialwissenschafliche Zusammenhangsanalyse. Reinbeck 1976, S. 262. (vgl. zur Interpretation der Faktoren Tabelle 6,7,8).
« Vgl. HAMM, (wie A n m . 35) S. 145ff.
272
Heinrich Joh. Schwippe
bewegen sich auch die Ergebnisse von Kemper am Beispiel Bonns 74 oder die von O'Loughlin-Glebe zu Düsseldorf 75 . In der vorliegenden Untersuchung ist die Ausländervariable wohl wegen der besonderen inneren Struktur dieser Bevölkerungsgruppe der Dimension Sozialer Rang zuzurechnen. Leider gestattet der Zensus von 1875 keinen Einblick in die Berufs- und Erwerbsstruktur der Ausländergruppe, sodaß die Frage nach dem sozialen Status dieser Gruppe und dem Grad ihrer Homogenität nicht beantwortet werden kann. Denkbar ist, daß es sich bei dieser Bevölkerungsgruppe um eine sozialstatushohe Gruppe (Diplomatisches Corps) oder aber um nicht deutsche Bedienstete in den Haushalten sozialstatushoher Gruppen handelt, die in Folge der Integration in den "Arbeitgeber"-Haushalt kein deutlich von den oberen sozialen Schichten abweichendes Wohnverhalten aufweisen. Die hohe positive Ladung der Variablen Dienstboten auf den Faktor widerspricht keineswegs einer Interpretation als Sozialstatus-Dimension, denn für die Gruppe der Dienstboten bleibt noch lange Zeit das Prinzip der Integration' in den „Arbeitgeber"-Haushalt bestehen, auch dann noch, wenn es bei der Mehrzahl der Berufe längst überwunden ist. Aus der besonderen Struktur gerade dieser Berufsgruppe, sie besteht zu 70% aus Frauen, leitet sich auch die hohe positive Ladung auf den Variablen Geschlechterproportion und weiblicher Erwerbsquote ab. Die Erwerbstätigkeit der Frauen ist im Jahre 1875 auf nur wenige Berufsgruppen konzentriert. Fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen (47.3%) ist als Dienstpersonal beschäftigt, und ein knappes Drittel arbeitet im Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe. Alle übrigen Gewerbezweige sind als Tätigkeitsbereiche für Frauen weitgehend unbedeutend. Diese Einseitigkeit der weiblichen Erwerbstätigkeit besteht über den gesamten Untersuchungszeitraum. Im Jahre 1890 ist der mit Abstand größte Teil der Frauen auch weiterhin als Dienstpersonal tätig, ihr Anteil ist allerdings deutlich gegenüber 1875 zurückgegangen. Wie schon 1875 stellt das Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe auch 1890 die zweite hauptsächliche Erwerbsquelle für Frauen dar. Auch zwanzig Jahre später, 1910, sind immer noch gut 30% der erwerbstätigen Frauen als Dienstpersonal tätig. Das Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe stellt erneut den zweiten Schwerpunkt weiblicher Berufstätigkeit dar; im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren hat sich ein weiterer Schwerpunkt weiblicher Berufstätigkeit herausgebildet: der Handel. Zwischen 1875 und 1910 hat die weibliche Erwerbstätigkeit eine beträchtliche Steigerung erfahren. Die weibliche Erwerbsquote ist in dieser Zeit um 71 Punkte auf 324 %o angestiegen, in gleichem Zeitraum nahm die Erwerbsquote der männlichen Bevölkerung, die 1875 bei 692 %o lag, nur noch um 13 Punkte zu. In der starken Altersabhängigkeit der weiblichen Erwerbstätigkeit ändert sich allerdings in diesen 35 Jahren nur wenig. Die Steigerung der weiblichen Erwerbsquote resultiert aus einer besonders starken Zunahme bei den jüngeren Altersgruppen. Geringe Steigerungen sind aber auch bei den älteren Jahrgangsgruppen festzustellen. Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen bleibt über den gesamten Untersuchungszeitraum ein Sonderfall. 1890 sind von den 74 75
KEMPER ( w i e A n m . 5 4 ) . J . O ' L O U G H L I N / G . GLEBE,
Faktorökologie der Stadt Düsseldorf - Ein Beitrag zur Urbanen Sozialraumanalyse. Düsseldorf 198o ( = Düsseldorfer Geographische Schriften 16).
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
273
erwerbstätigen Frauen nur 5.1% verheiratet. Im Kontext dieses Faktors ist die weibliche Erwerbsquote damit auch nicht, wie nach dem Sozialraum-Modell zu erwarten gewesen wäre, als eine Variable der Spezialisierungsdimension zu interpretieren, sondern sie stellt sich im Zusammenhang mit den Variablen Dienstboten und Geschlechtsproportion als eindeutig zur Sozialstatus-Dimension gehörig dar. Aus der Tatsache, daß die Dienstboten größtenteils im Haushalt des „Arbeitgebers" leben, ist auch die enge Korrelation zur Haushaltsgröße herzuleiten. Es zeigt sich im übrigen, daß ähnlich wie bei den Untersuchungen Beils 76 in Berlin Erwerbstätigkeit der verheirateten Frau unbedeutend ist (Korrelation zwischen Fruchtbarkeit und weiblicher Erwerbsquote -0.920). Als Sozialstatus-Dimension trennt der erste Faktor Stadtbereiche mit hohem sozialen Status von solchen mit niedrigem Sozialstatus. Zusätzlich werden aber auch die Stadtgebiete mit hohem sozialen Status charakterisiert durch hohe (ebenfalls positive) Ladungen auf Variablen, die die Wohnstruktur beschreiben (Belegungsdichte, Wohnungsgröße, Eigentümerwohnungen und Wohnungsausstattung). Offensichtlich leben die Bewohner dieser Stadtquartiere in größeren, besser ausgestatteten Wohnungen, bei denen es sich sogar noch recht häufig um Eigentümerwohnungen handelt. Die engen Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Qualität der Wohnungen werden also recht deutlich. Es zeigt sich an dieser Stelle aber auch die enge Beziehung zwischen der Dimension Sozialer Rang und der Dimension Urbanismus/ Spezialisierung, wenn man bedenkt, daß im allgemeinen die Variablen zur Charakterisierung der Wohnsituation, der Miet- und Eigentumsverhältnisse der Spezialisierungsdimension zugerechnet werden. Diese enge Beziehung zwischen den beiden Dimensionen stellt sich besonders deutlich bei der Variablen Schlafgänger dar, die den Faktor hoch negativ lädt. Die Vermietung von Zimmern an sog. Chambregarnisten und die Unterbringung von Schlafleuten, die nach Thienel der „Ausdruck krassester Wohnungsnot im Berlin des 19. Jahrhunderts" 77 ist, hat im Jahre 1875 bereits beträchtlichen Umfang angenommen; in rund 180 von 1000 privaten Haushalten leben Zimmerabmieter und/oder Schlafgänger. Dabei ist die räumliche Verteilung innerhalb der Stadt äußerst unterschiedlich: die Stadtviertel mit dem höchsten Anteil sind die Luisenstadt jenseits des Kanals und Moabit, während die geringsten Werte in der unteren Friedrichstadt und am Königsplatz auftreten. Die Gruppe der Schlafgänger und/oder Zimmermieter ist nach Thienel sozial keineswegs homogen. Während die Gruppe der Chambregarnisten größtenteils von „Witwen oder Mietern größerer Wohnungen aufgenommen werden, die einen Zuschuß zur Miete brauchen", und sich aus allen sozialen Schichten der Bevölkerung zusammensetzt, handelt es sich bei den Schlafgängern „um die untersten Schichten der Bevölkerung" wobei auch die Vermieter von Schlafplätzen ebenfalls der gleichen Schicht angehören. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Haushalte mit Schlafgängern zum überwiegenden Teil in den kleinen Wohnungen untergebracht 76
BELL ( w i e A n m . 54).
77
I. THIENEL, Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel Berlin. Berlin 1973 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Berlin Bd. 33), S. 213.
274
Heinrich Joh. Schwippe
sind 78. Die enge Beziehung dieses Faktors zur Spezialisierungsdimension zeigt sich auch in den beiden Altersvariablen (Personen über 70 Personen und Personen unter 15 Jahren), die den Faktor mit unterschiedlichen Vorzeichen laden. Diese beiden Variablen und die negativ ladende Variable Fruchbarkeit bringen die enge Beziehung des Faktors zur Stellung im Lebenszyklus zum Ausdruck, wobei die Variable Fruchtbarkeit auf junge Familien mit Kindern bis zu 5 Jähren verweist. Nach der Art der Variablenzusammensetzung kennzeichnet dieser Faktor den sozial-ökonomischen Status der Stadtteile. Er trennt Gebiete mit hohem sozialen Status von solchen mit niedrigem, wobei die Raumeinheiten eine zusätzliche Charakterisierung durch Wohnstrukturvariablen erfahren. Als erster Faktor wird auch in der Analyse für 1890 ein Sozialstatusfaktor extrahiert. Die diesen Faktor ladenden Variablen sind zum größten Teil identisch mit denjenigen aus der Analyse zum Jahre 1875. Abweichungen gegenüber der Struktur von 1875 ergeben sich daraus, daß Variablen wie Zugezogene, Erwerbstätige in der öffentlichen Verwaltung, in der Gesundheitsvorsorge, der Rechtspflege,... und Ausländer hoch laden. Diese Veränderungen dürften aber wohl auf das geänderte räumliche Bezugsnetz der Daten zurückgeführt werden (vgl. Tabelle 7). Tabelle 6 Berlin 1875: Matrix der Faktorenladungen - Varimax-Rotation Faktoren II
I 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
78
DICHTE PERS-15 PERSI 5 - 2 5 PERS 70+ GESCHIED GESCHLPR FRUCHTB EINPERSHS SCHLAFG HSGR ERWERQ W. ERWERB RENTNER ARBEITER DIENSTB ERWST3.1 ERWST3.2 FREIBRF AUSLAEND POLEN JUDEN ZUGEZOG WHGAUSR WHNGR WHNF/E EIGWHG UNTERM MIETE
. - 0 . 557 0 583 0 . 921 - 0 . 747
0 -0 0 0 0
798 690 776 553 64 5
821 897 677 953
0 .416 - 0 575
IV
V
. 0.482
0 367
0 . 387
54 7 521
-0.553
- 0 607 0 827
- 0 . 905 0 . 562 0. 0. -0. 0.
III
0 747 0 444
-0 -0
0 . 333 -0
669
0 877 - 0 934 - 0 379 -0 .429
0 . 782 0 . 790 0. 0. 0. 0 0. 0.
420 453 896 947 956 762
0 877
0 431 0 512
0 . 307 -0.335 -0.718 -0.655
- 0 .812
-0.354 -0.936 -0.312
(wie Anm. 7 7 ) S. 212ff., vgl. auch die Untersuchungen von W . VON KALCKSTEIN, Das Einlogierwesen in deutschen Städten. Auf Grund des amtlichen statistischen Materials, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 83,1904, S, 662-681, hier S. 669ff. THIENEL
275
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
Tabelle 7 Berlin 1890: Matrix der Faktorenladungen - Varimax-Rotation Faktoren
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
DICHTE PERS-15 PER15-25 PERS 70 + GESCHIED GESCHLPR FRUCHTB EINPERSH SCHLAFG HSGR ERWERQ W.ERWERB RENTNER ARBEITER DIENSTB ERWST3.1 ERWST3.2 SELBST AUSLAEND POLEN JUDEN ZUGEZOG WHGAUSR WHNGR WHNR/E EIGWHG UNTERM MIETE
I
II
III
0 .744 -0 787
-0 515 0. 403 0 807 0. 869
0 . 379 -0 . 347
0 660
-0. 553 0. 717 0. 668
0 .433
IV
V -0.870
-0 . 974
-0 602 -0 .627 -0 650 -0 596 0 870 -0 758 -0 .334 -0 903
0 . 304 0 .409
0. 527 0. 503
-0 . 550 -0 .478 -0 .493
0. 604
0 329 -0 .382 -0 .641
0. 659
-0 .661
0. 396
-0 656 -0 730
-0.386 0.318
-0 746 -0 .478
-0 888 -0 935 -0 671 -0 800 -0 536 0 582 -0 825
-0 330 -0 372 -0. 705 0. 346
-0 588 -0 412 -0 300
-0 574 -0.54 3 -0 .415
Tabelle 8 Berlin 1910: Matrix der Faktorenladungen - Varimax-Rotation Faktoren
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
DICHTE PERS-15 PERI 5-2 5 PERS 70+ GESCHIED GESCHLPR FRUCHTB EINPERSH SCHLAFG HSGR ERWERQ W.ERWERB RENTNER ARBEITER DIENSTB ERWST3.1 ERWST3.2 FREIBRF SELBST AUSLAEND POLEN JUDEN ZUGEZOG WHGAUSR WHNGR WHNR/E EIGWHG UNTERM MIETE
I
II
0. 345 0. 808 -0. 685 -0 550
-0 446 -0 399
0. 814 -0. 821 -0. 524
-0 385 0 922 -0 459
-0 482 -0 .400 0 .664 0 733 -0 .623 -0 317 -0 313
0. 419
-0. 526 -0. 528 -0. 399 -0.609 -0. 377
0.417
0 . 675 0 694 0 369 0 484 0 898 -0 .744 0 937
-0. 864 -0. 300 -0. 862 -0. 744
V
-0 .437 0 347
-0 887 -0. 830
IV
III
0 654 -0 471 0 413
-0 430 0 . 308 0 .936 0 563 0 301 -0 386
0 326
0 0 0 0
0 329
0 . 394
0 672 0 805 0 782 0 .912 0 812 0 .599
0 .469 493 310 410 307
0. 374
-0.522 -0 . 414
276
Heinrich Joh. Schwippe
In der Querschnittsanalyse für 1910 ergibt sich an zweiter Stelle ein Faktor, der von der Struktur der ihn ladenden Variablen als Sozialstatusdimension zu interpretieren ist (vgl. Tabelle 8). Auch in diesem Fall ist die weitgehende Übereinstimmung mit der Struktur von 1875 festzustellen. Als wichtige Änderung gegenüber den beiden anderen Analysen ist zu werten, daß als neue, bisher in diesem Zusammenhang nicht erscheinende Variable das Merkmal Polen auf dem negativen Zweig auftritt, während das Merkmal Schlafgänger weggefallen ist (Die Variable fehlt auch schon 1875 auf diesem Faktor.). In diesen Veränderungen deuten sich offensichtlich Änderungen im räumlichen Verhalten dieser beiden Bevölkerungsgruppen an.
Spezialisierung Wie Faktor I besitzt auch der Faktor II der Analyse für das Jahr 1875 einen bipolaren Charakter. Der positive Pol wird bestimmt (1) durch Variablen zur Charakterisierung der Erwerbstätigkeit, (Erwerbstätige in Handel und Verkehr, weibliche und allgemeine Erwerbsquote), (2) durch Variablen zur Beschreibung der Altersstruktur (Anteil der über 70 Jährigen, Anteil der 15 bis 25 Jährigen), (3) durch Variablen zur Kennzeichnung der Segregation jüdischer und polnischer Bevölkerungsgruppen. Der positive Pol wird ferner bestimmt von der Variablen Einpersonenhaushalte. Den negativen Pol bestimmen Variablen, die übrigens alle auch auf dem ersten Faktor hohe Ladungen besitzen: Arbeiter, Fruchtbarkeit und Personen unter 15 Jahre ( vgl. Tabelle 6). Was schon beim ersten Faktor (1875) festgestellt werden konnte, gilt auch für den zweiten Faktor: Variablen, die nach dem Shevky-Bell-Modell die Dimension Sozialer Rang repräsentieren, laden gemeinsam mit Variablen, die nach den Modellvorstellungen eigentlich der Urbanisierungs-/Spezialisierungsdimension zugerechnet werden müßten, den Faktor. Während bei der Interpretation des ersten Faktors der Sozialstatus-Dimension eine größere inhaltliche Bedeutung gegenüber der Spezialisierungsdimension eingeräumt wurde, ist es im Falle des zweiten Faktors umgekehrt: der Faktor II ist als Spezialisierungsfaktor zu bezeichnen. Über die drei mit unterschiedlichen Vorzeichen diesen Faktor ladenden Altersvariablen und die Variable Fruchtbarkeit wird der enge Zusammenhang zwischen Spezialisierung und Lebenszyklus deutlich. Der Faktor trennt Stadtgebiete in der Weise, daß auf der einen Seite die Stadtquartiere stehen, mit jungen, expandierenden Familien, und auf der anderen Seite die Stadtbereiche, deren Bevölkerung einerseits durch einen hohen Anteil alter, wenig mobiler Menschen und andererseits durch einen hohen Anteil der 15 bis 25-Jährigen geprägt wird.
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
277
EXKURS Die ökologische
Expansion,
der Prozeß der s o z i a l r ä u m l i c h e n
Differenzierung
u n d d i e r ä u m l i c h e n U n t e r s c h i e d e in d e r A l t e r s s t r u k t u r Bei der Analyse des Prozesses der innerstädtischen sozialräumlichen Differenzierung kommt den Altersvariablen - wie auch bereits die Interpretation der Faktoren gezeigt hat - eine zentrale Stellung zu. Im Rahmen dieser Studie ist davon auszugehen, daß die räumliche Differenzierung in der Altersstruktur der Wohnbevölkerung eine Konsequenz der räumlichen Stadtentwicklung und ein Ausdruck innerstädtischer Migrationsströme ist. Der in vielen modernen Untersuchungen bestätigte Zusammenhang zwischen Alter der Wohnbebauung der Stadtteile und der Altersstruktur der Wohnbevölkerung ist auch in dieser Untersuchung anzunehmen. Veränderungen in der Altersstruktur innerhalb eines Wohnquartiers laufen ab (1) über die Alterung der Wohnbevölkerung selbst,(2) über einen Prozeß der Herauslösung der erwachsen werdenden Kinder aus den elterlichen Haushalten, d.h. in der Regel durch den Wegzug jüngerer Bevölkerungsgruppen aus den Stadtquartieren, (3) über Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen von ausserhalb. Hieraus ergeben sich spezifische innerstädtische Migrationsnetze, deren Richtung und Stärke Burgess in seinem bekannten Modell der konzentrischen Zonen eindrucksvoll beschrieben hat. „Danach ist die Zuwanderung am größten in den zentrumsnahen Wohngebieten der transitorischen Zone, wo die mobilste Gruppe der Bevölkerung, junge Erwachsene ohne eigene Familie, die am Anfang ihrer berufliche Karriere stehen, Kleinwohnungen zu relativ günstigen Mieten übernimmt. Mit Familiengründung und beruflichen Aufstieg steigen die Wohnbedürfnisse, und damit beginnt ein Prozeß der Binnenwanderung, der sich sukzessive bis in die Pendlerzone fortsetzt. Bekanntlich zieht dieses Migrationsmuster der Bevölkerungsverluste der Kernstädte das Wachstum der suburbanen Agglomerationsräume ... nach sich" 79 . Diese vom Zentrum an die Peripherie gerichteten Migrationsströme werden im sozialökologischen Forschungsansatz begriffen als Prozeß der ökologischen Expansion. „Expansion meint die zentrifugale Bewegung von einem räumlich bestimmten Siedlungszentrum weg, ohne daß der Bezug zu diesem Zentrum aufgegeben würde. Expansion setzt eine genügende Entwicklung des Zentrums voraus, um die wechselseitigen Beziehungen innerhalb eines sich ständig ausdehnenden Territoriums sicherzustellen" 80 . Ökologische Expansion bedeutet zunächst die räumliche Reorganisation von Bevölkerung, ausgelöst durch Migration, durch Veränderungen in der Erreichbarkeit von Wohnstandorten, z.B. als Folge der Entwicklung von Nahverkehrssystemen und einer ganzen Reihe anderer Faktoren 81 . Die räumliche Reorganisation der TO HAMM ( w i e A n m . 3 4 ) S. 7 1 . 80
R.D. MCKENZIE, Industrial Expansion and the Interrelations of Peoples, in: E.B. REUTER (Hrsg.), Race and Cultural Contacts, New York 1933, hier zitiert nach der Übersetzung von
81
B. Hamm hat in diesem Zusammenhang auf die Brauchbarkeit des sog. ökologischen Komplexes als Erklärungsansatz für die ökologische Expansion hingewiesen. HAMM (wie Anm.
HAMM, ( w i e A n m . 3 4 ) S . 7 1 .
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Heinrich Joh. Schwippe
Bevölkerung beschränkt sich keineswegs allein auf eine quantitative Umschichtung, sondern beinhaltet auch in gleichem Maße qualitative Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur. In diesem Sinne bedeutet ökologische Expansion gleichzeitig auch funktionale Spezialisierung. Auf den engen Zusammenhang zwischen ökologischer Expansion und funktionaler Spezialisierung hat Kasarda 82 aufmerksam gemacht. Somit beschreibt ökologische Expansion einen Vorgang bei dem „unterschiedliche Nutzungsarten ... auf Kosten subordinierter Nutzungen expandieren. Dienstleistungsnutzungen in zentralen Geschäftsbezirken verdrängen die Wohnnutzung, und an der Peripherie verdrängt die Wohnnutzung die noch schwächere landwirtschaftliche Nutzung. Die Stadt dehnt sich von innen nach außen aus, gesteuert durch die Vorgänge im Zentrum, und diese wiederun sind in engem Zusammenhang zu sehen mit dem Wachstum der Bevölkerung und der Verkehrserschließung" 83 . Wenn aber das Burgess-Modell der konzentrischen Zonen als Modell zur Beschreibung der Migrationsströme aufgegfaßt wird, dann in dem Sinne des engen Zusammenhanges von Expansion und funktionaler Spezialisierung. Für das Verständnis des Burgess-Modells bedeutet dies schließlich, daß es nicht ein Modell sozialer Segregation, sondern ein Modell funktionaler Spezialisierung darstellt 84 . Die funktionale Differenzierung mit Tendenzen zu räumlichen konzentrischen Verteilungsmustern führt schließlich über die räumliche Struktur des Wohnungsbestandes und des hochgradig segmentierten Wohnungsmarktes zur räumlichen Reorganisation der Bevölkerung, zur sozialen Segregation. 85 . In der Untersuchung der räumlichen Differenzierung des Bevölkerungswachstums im Berliner Raum hat sich im Grunde genau das räumliche Wachstumsmuster bestätigt, das im sozialökologischen Forschungsansatz unter dem Begriff der ökologischen Expansion beschrieben wird: die Verlagerung von Wohnbevölkerung aus dem Zentrum an die Peripherie des Agglomerationsraumes. Allerdings konnten bisher diese Unterschiede in der räumlichen Bevölkerungsentwicklung mit Migrationsströmen nicht in direkten Zusammenhang gebracht werden. Ebenso ist es bisher nicht gelungen, die Folge von Invasion und Sukzession von Bevölkerung für die verschiedenen städtischen Teilräume selbst nachzuweisen, ein Nachweis, der im Falle einer sekundärstatistischen Analyse,wenn überhaupt,dann nur indirekt zu erbringen
82
34) S. 72, vgl. auch H A M M , (wie Anm. 35) S. 76ff. J.D. K A S A R D A , The Theory of Ecological Expansion. Social Forces 51, 1972, S. 165-175, nachgedruckt unter dem Titel Metropolitan expansion and central-city organization: a test of the theory of ecological expansion, in: B . J . L . B E R R Y / J . D . K A S A R D A (Hrsg.), Contemporary Urban Ecology. New York, London 1977, S. 195-209.
83
HAMM ( w i e A n m . 3 4 ) S . 7 4 .
84
Vgl. hierzu H A M M (wie Anm. 35) S. 40 ff. und H A M M , (wie Anm. 34) S. 74. Nach B. Hamm vollzieht sich die innerstädtische sozialräumliche Differenzierung in einem dreistufigen Prozeß dessen steuernde Parameter Bodenpreis, Miete, Einkommen und .symbolische Identifikation' sind. Der räumlich-strukturelle Wandlungsprozeß in der Stadt ist aufzufassen als Funktion von Spezialisieung von Nutzungen und Segregation von Bevölkerung, dabei beschreibt der Bodenpreis als primärer Verteilungsmechanismus die Spezialisierung der Nutzungen. Sekundärer Verteilungsmechanismus ist das Verhältnis von Miete und Einkommen, durch welches soziale Segregation objektiv determiniert ist. Die symbolische Identifikation' erbringt als tertiärer Verteilungsmechanismus die endgültige Verteilung der sozialen Schichten, vgl. H A M M (wie Anm. 35) S. 128 ff., in leicht erweiterter und veränderter Form auch
85
i n HAMM ( w i e A n m . 3 1 ) S . 1 8 3 u n d
187.
Soziairäumliche innerstädtische Differenzierung
279
ist, zum Beispiel über die Analyse der raum-zeitlichen Entwicklung der Stellung der Bevölkerung im „Lebenszyklus", deren enge Korrelation zum räumlichen Verhalten herausgestellt worden ist und die über die Variablen Haushaltsstruktur und Altersstruktur zu operationalisieren ist. Der Grad der kleinräumigen Unterschiede in der Alterszusammensetzung der Wohnbevölkerung ist, wie die Analyse mit Hilfe des Segregations- und Dissimilaritätsindex für alle drei Querschnittsjahre zeigt, in Berlin recht beträchtlich. Es zeigt sich, daß trotz der starken Veränderungen der räumlichen Bezugseinheiten das Segregationsmuster der Altersgruppen sich in den Grundzügen nicht verändert: für alle Untersuchungsquerschnitte besteht ein etwa gleich gelagerter Zusammenhang zwischen Altersgruppenzugehörigkeit und ökologischer Segregation 86. Charakteristisch ist auch für die Alterssegregation der U-förmige Verlauf der Segregationskurve 87 . Erwartungsgemäß sind sowohl 1875, als auch 1890 und 1910 die räumlich isolierten Altersgruppen die 0-bis 15-Jährigen und die über 60-Jährigen. Am gleichmäßigsten über die Stadt verteilt ist die Gruppe der 30-bis 40-Jährigen. Daß die Segregation der Altersgruppen kein eindimensionales Phänomen - jung gegen alt - ist, bestätigt sich in der Betrachtung der Dissimilaritätsindizes. In allen Querschnitten zeigt es sich, daß die Gruppe der Kinder (0 bis 15 Jahre) sowohl zu den 15- bis 30-Jährigen wie zu den über 45-Jährigen und besonders gegenüber den über 60-Jährigen deutliche Segregationstendenzen aufweist. Umgekehrt ergeben sich für die Gruppe der älteren Menschen (6o Jahre und älter) erwartungsgemäß deutlich erhöhte Dissimilaritätswerte gegenüber der Gruppe der Kinder (bis 15 Jahre) aber auch erstaunlicher Weise gegenüber der Gruppe der 30- bis 40-Jährigen, während im Verhältnis zur Altersgruppe 15 bis 30 Jahre offensichtlich keine so deutliche Segregation besteht. Für dieses generationsbedingte Muster der räumlichen Alterssegregation spielt ohne Zweifel die Tatsache eine große Rolle, daß , wie auch bereits oben dargestellt, die in die Stadt zuwandernden jungen Erwachsenen größtenteils in die baulich wie demographisch älteren Stadtquartiere einziehen, so daß von daher eher eine räumliche Nähe zu den älteren Generationen besteht als zu den Bevölkerungsgruppen, die in der sog. 'Kinder-Phase' des Lebenszyklus stehen. Diese differenzierten Dissimilaritätswerte für die Altersgruppen zeigen noch einmal in aller Deutlichkeit, daß im Zusammenhang mit einer räumlich ungleichgewichtigen Verteilung der Altersgruppen eher von einer Lebenszyklus- als von einer Alterssegregation gesprochen werden sollte. Ein abschließender Vergleich der kleinräumigen Unterschiede in der Alterszusammensetzung der Wohnbevölkerung Berlins über die kartographische Darstellung der räumlichen Verteilung von Altersgruppen zeigt für die drei
86
87
Zwischen 1875 und 1910 kommt es in Berlin zur beträchtlichen Veränderung in der Alterszusammensetzung der Gesamtbevölkerung: noch 1880 zeigt die graphische Darstellung der Altersstruktur das für eine wachsende Bevölkerung typische Bild einer Pyramide, gekennzeichnet durch immer größer werdende Geburtsjahrgänge, bis 1910 hat sich diese Darstellung so verändert, daß sie deutliche Ähnlichkeit der für eine stationäre Bevölkerung typischen Glockenform hat. Die Berechnung des Segregationsindexes erfolgt in dieser Studie nach O.D. DUNCAN/B. DUNCAN, Residential Distribution and Occupational Stratification, in: American Journal of Sociology 60, 1955, S. 493-505. In dieser Veröffentlichung finden sich auch erstmalig Hinweise auf typische Segregationsmuster von Berufsgruppen.
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Heinrich Joh. Schwippe
Abbildung
4
Die räumlichen Unterschiede in der Alterstruktur der Bevölkerung in Berlin 1875 und 1910 Berlin 1875 Anteil der Kinder (0-15 J.) an der Wohnbevölkerung (0/00)
186
104 227 233 203 280 354
2.3
7.3
1.1 20.3 27.0 41.0
Flflchenprozente
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
FIBcnenprozente
Berlin 1910 Anteil der älteren Menschen (70J.) an der Wohnbevölkerung (0/00)
17 .
0
20
24 5
27 5
31 3
Anzahl pro Klasse
38 7
282
Heinrich Joh. Schwippe
Querschnitte gleiche konzentrische Verteilungsmuster. Der Anteil der jungen Personen (Kinder bis 15 Jahre) ist im Zentrum wie erwartet am geringsten und nimmt zum Rande in deutlich ringförmigen Mustern zu. Umgekehrt zeigen sich für die älteren Bevölkerungsjahrgänge gemeinsam mit der Gruppe der 15bis 30-Jährigen die höchsten Werte im Zentrum (vgl. Abb. 4). Diese in der Altersgliederung der Wohnbevölkerung zum Ausdruck kommende innerstädtischen, vom Zentrum zur Peripherie gerichteten Wanderungsströme setzen sich über die engen Berliner Stadtgrenzen hinaus in den umliegenden Agglomerationsraum hinein fort. Wie die von O. Kürten auf der Basis von Zensusmaterial der Jahre 1905 und 1910 durchgeführten Untersuchungen zeigen, geschieht die Zuwanderung in den Berliner Agglomerationsraum in der Regel über die Kernstadt. Von dort erfolgt dann nach kurzem Aufenthalt die Migration an die Peripherie des Ballungsgebietes 88 . Die dominante Stellung der Kernstadt Berlin innerhalb des gesamten Agglomerationsraumes 89 zeigt sich in der deutlichen Ausrichtung des Pendlernetzes auf eben diese Kernstadt. Die Bedeutung Berlins als Standort bedeutender Arbeitsstätten ist auch trotz deutlicher Industriesuburbanisierung unbestritten 90. Eine weitere Variable, die die Spezialisierungsdimension ebenfalls hoch positiv lädt, ist die Variable Anteil der Einpersonenhaushalte. Diese Variable, die in modernen Untersuchungen gern als Indikator für räumlich-strukturellen Wandel Verwendung findet, ist im Kontext mit den anderen Spezialisierungsmerkmalen auch für 1875 in diesem Sinn zu interpretieren. Von den 212.554 privaten Haushaltungen (ohne Schiffshaushalte), die 1875 in Berlin vorhanden sind, sind 5.4% Einpersonenhaushalte (diese Einpersonenhaushalte bestehen zum überwiegenden Teil aus Frauen: 1875 54.6%; 1890 59.0%; 1910 69.6%), die sich in den inneren Stadtteilen konzentrieren. Berlin, Altund Neucölln, der Friedrichswerder, die Dorotheenstadt und die Friedrichstadt sind 1875 die Stadtteile mit den höchsten Anteilswerten. An diesem räumlichen Verteilungsbild ändert sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes grundsätzlich nichts (vgl.Tabelle 9). Vor dem Hintergrund der relativen Zunahme der Einpersonenhaushalte und dem gleichzeitig starken Bevölkerungsrückgang in den inneren Stadtteilen schon zwischen 1875 und 1890 wird das Ausmaß der dort stattfindenden strukturellen Veränderungen deutlich sichtbar. In diesem Sinn beschreibt der Faktor II deutlich den Prozeß des Nutzungswandels im zentralstädtischen Raum, der in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Berliner City steht. R. Eberstadt hat diesen Prozeß der Citybildung in seinen wesentlichen Elementen in folgender Weise beschrieben: „Das Zentrum unserer Städte galt bis in unsere Zeit als der beste Wohnbezirk; neuerdings dagegen wird die Innenstadt gerade von den wohlhabenden Schichten verlassen, und die Außenbezirke werden als Wohngegend bevorzugt. Parallel mit dieser Verschiebung im Wohnungswesen verwandelt
88
89 90
O . K Ü R T E N , Die Herkunft der (Groß-Berliner) Wohnbevölkerung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 114,1920, S. 151-167, vgl. besonders S. 155ff. Vgl. zum Begriff der Dominanz H A M M (wie Anm. 35) S. 180ff. Zum Prozeß der Industriesuburbanisierung im Berliner Raum vgl. zusammenfassend TIMM (wie Anm. 68).
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Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
sich ein Teil des Zentrums zur Geschäftsstadt. Diese doppelte Bewegung aber und hierin liegt ihre allgemeine Bedeutung für das Wohnungswesen - vollzieht sich nicht auf einen Zug, sondern stückeweise, in Abschnitten und in einer auf Jahre und Jahrzehnte verteilten Umwandlung, die in einer bestimmten Stadt niemals zum endgültigen Abschluß gelangt. In dieser Umbildung entwickeln sich einzelne Straßen zu Laufstraßen, Geschäftsstraßen und Hauptverkehrsstraßen, in denen für Läden und Geschäftsräume die höchste Miete bezahlt werden. Hier werden die alten Wohngebäude, wenn auch nicht an einem Tage, so doch in rascher Folge abgerissen und durch neue ertragreichere Gebäude ersetzt. Unmittelbar daneben finden sich Straßen und Gassen mit älteren Häusern, die z.T. von seßhaften Altstadtbewohnern eingenommen werden ; zu einem großen Teil werden sie aber in Erwartung baldigen Abbruchs oder mangels besserer Mieter einer minderguten Mieterschaft überlassen und geraten in Verwahrlosung. Es gibt keine City in der alten und neuen Welt, die nicht in ihrer nächsten Umgebung Prostitutionsviertel und minderwertige Wohnbezirke besitzt. Der Wohnungsverfall der zentralen Bezirke ist eine allgemeine, in der Verschiebung der Bodenwerte begründete Erscheinung" 91.
Tabelle 9 Der Anteil der Einpersonenhaushalte in ausgewählten Berliner Stadtteilen 1870, 1890, 1910 Haushalte abs.
gesamt
Haushalte abs.
1 8 9 0 a) davon Einpersonenh. %
1910 Hausdavon Einhalte personenh. abs. %
6009 3453 1436 1840 3376 15679 14577
7.51 9.93 8.36 8.80 8.29 7.54 5.87
4928 2999 1440 1264 2679 14704 17142
8. 20 11. 27 8. 33 11. 31 9. 53 7. 82 7. 81
2780 2060 740 745 1464 9560 13843
17.70 19.90 13.38 13.96 13.41 10.20 11.97
212554
5.38
368105
6. 27
555387
10.16
Berlin Altcöln Neucöln Friedrichswerder Dorotheenstadt Friedrichstadt Spandauer Viertel Berlin
1875 a ) davon Einpersonenh. %
a) 1875 u n d 1 8 9 0 ohne
Schiffsbevölkerung
Auf den Faktor der räumlichen Spezialisierung und des Nutzungswandels laden erwartungsgemäß dann auch solche Variablen, die religiöse/ethnische bwz. sprachliche Bevölkerungsminderheiten betreffen (Polen und Juden). Die sehr kleine, aus überwiegend polnisch sprechenden Kreisen Ost- und Westpreußens bzw. Oberschlesiens stammende Bevölkerungsgruppe hat ihre höchsten Anteile in zentralen Stadtteilen, besonders in Berlin und Friedrichswerder aber auch im der nördlich daran anschließenden Spandauer Viertel, genauso aber auch in den 'vornehmen' Vierteln, dem Königsplatz und der unteren Friedrichvorstadt. Ein ähnlich differenziertes Verteilungsbild ergibt sich auch für die jüdische Bevölkerung: auch sie ist in den inneren Stadtteilen und im
91
R. EBERSTADT, ( w i e A n m . 2 ) S. 2 8 9 - 2 9 0 .
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Heinrich Joh. Schwippe
Spandauer Viertel stark vertreten, gleichzeitig aber auch in den 'besseren' Wohnvierteln in den südwestlichen Stadtquartieren. Dieses differenzierte Verteilungsbild der polnischen und der jüdischen Bevölkerungsgruppe läßt vermuten, daß beide Gruppen in sich wenig homogen sind. Die in dieser Hinsicht unzureichenden Quellen erlauben jedoch nicht, dieser Frage genauer nachzugehen 92. Faßt man zusammen, so kann der Faktor II als typische Spezialisierungsdimension charakterisiert werden, allerdings erfaßt er besonders stark den prozessualen Aspekt des Nutzungswandels. Der Faktor beschreibt die Stadtteile, die vom Prozeß der Citybildung erfaßt bzw. tangiert werden. Ein Faktor mit gleicher inhaltlicher Ausrichtung wird für 1890 ebenfalls an zweiter Stelle extrahiert (vgl. Tabelle 7). Die Veränderungen gegenüber 1875 beschränken sich im wesentlichen auf Verschiebungen zwischen den Variablen aufgrund anderer Faktorladungen. Änderungen in der inhaltlichen Ausrichtung dieses Faktors ergeben sich daraus nicht. Neu auf diesem Faktor lädt das Merkmal Schlafgänger, das 1875, wie bereits beschrieben, noch auf der Sozialstatus-Dimension vertreten war. Geändertes Standortverhalten dieser Gruppe kann als Ursache dafür angesprochen werden. In der Analyse für das Jahr 1910 ergibt sich bereits an erster Stelle ein Faktor, der von seiner Variablenstruktur her der Spezialisierungsdimension des Sozialraum-Modells entspricht. Neu hinzu kommen gegenüber 1875/1890 die Merkmale Ausländer, Untermieter und Zugezogene, während das Merkmal Polen aus dem Variablenkanon ausscheidet. Diese Veränderungen bewirken aber keine grundsätzlich veränderte inhaltliche Ausrichtung dieses Faktors (vgl. Tabelle 8).
Sozialstatus II In der Analyse für 1875 wird an dritter Stelle ein Faktor extrahiert, der aufgrund der Struktur der ihn hoch ladenden Variablen ebenfalls die Dimension Sozialer Status repräsentiert. Anders als der erste Faktor (1875) stellt dieser die Erwerbstätigen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, der Rechtspflege und der Gesundheitsvorsorge besonders in den Vordergrund. Die große Mobilität innerhalb gerade dieser Berufsgruppe kommt ebenfalls in der Variablenstruktur zum Ausdruck (vgl. Tabelle 6). Die diesen Faktor ladende Variable Ausländer repräsentiert in diesem Fall das Botschaftspersonal. Von daher ist die Zuordnung dieser Variablen zur Dimension Sozialer Status an dieser Stelle gegeben. Im räumlichen Verteilungsbild zeigen die in diesem Faktor angesprochenen Erwerbstätigengruppen eine deutliche Konzentration in den südwestlichen Stadtteilen. Die höchsten Erwerbstätigenanteile im gesamten öffentlichen Dienst haben die Dorotheeenstadt (257.1 Erwerbstätige %o Erwerbstätige), die FriedrichWilhelm-Stadt (206.6 Erwerbstätige %o), das Viertel um den Königsplatz (172.9 %o), die höchsten Anteile freiberuflich Tätiger finden sich in der
92
Die Inhomogenität der jüdischen Bevölkerungsgruppe findet ihren Ausdruck auch darin, daß sie wenn auch mit geringer Ladung auf dem Faktor I vertreten ist.
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
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Friedrich-Wilhelm-Stadt (23.4 %o), der oberen Friedrichvorstadt (26.2 %o), dem Königsplatzviertel (23.3 %o), der unteren Friedrichvorstadt (21.1 %o) und in der Friedrichstadt (20.1 %o). Die strukturellen Unterschiede zwischen diesen Stadtteilen sind jedoch recht beträchtlich. Von den sechs Stadtteilen ist die Friedrichstadt, das zeigen die geringen Anteilswerte für die Erwerbstätigen in der öffentlichen Verwaltung, dem Verteidigungsbereich, weniger einseitig geprägt in der Erwerbsstruktur ihrer Bevölkerung: ein knappes Viertel aller Erwerbstätigen ist in Handel und Verkehr tätig. Die inhaltliche Ausrichtung dieses Faktors wird weiter bestimmt von zwei demographischen Variablen, deren Nähe zur Urbanismus/Spezialisierungsdimension unübersehbar ist: Zugezogene zwischen 1871 und 1875 und Personen zwischen 15 und 25 Jahren. Die Bedeutung der räumlichen Bevölkerungsbewegung für die Bevölkerungsstruktur Gesamtberlins, wie auch für die innerstädtischen sozialräumlichen Unterschiede wird über diese beiden Variablen noch einmal besonders betont. Von den 966 858 Einwohnern Berlins im Jahre 1875 sind immerhin 27.4% innerhalb der letzten 5 Jahre zugewandert, die sich über das Stadtgebiet höchst unterschiedlich verteilen: die Dorotheenstadt, das Königsplatzviertel, die Schöneberger Vorstadt und die Friedrich-Wilhelm-Stadt sind die Stadtviertel mit den höchsten Zugezogenenquoten. Nur geringfügig höher liegt der Anteil der innerhalb der letzten 5 Jahre zugewanderten Personen im Jahre 1910 (29.4%). Große Veränderungen im räumlichen Verteilungsbild dieser Zugewanderten hat es auch nicht gegeben: Dorotheenstadt, Friedrich-Wilhelm-Stadt, die untere Friedrichvorstadt haben die höchsten Anteilswerte. Unter dem Gesichtspunkt der Erwerbstätigkeit dieses Personenkreises ist eine deutliche Konzentration auf wenige Berufe festzustellen: Unter in den den letzten fünf Jahren vor 1875 zugewanderten Personen stellt die Gruppe der Dienstboten mit rund 27% die mit Abstand größte Zuwanderergruppe dar. Die größten Zuwanderungsgruppen innerhalb des gewerblich-industriellen Bereichs finden sich in der Bekleidungsindustrie und im Baugewerbe. Besonders auffallend ist der hohe Anteil zugewanderter Personen in der Gruppe der keiner industriell-gewerblichen Tätigkeit zuzuordnenden sog. Arbeiter ohne genaue Tätigkeitbeschreibung. Im Dienstleistungssektor ist neben den schon erwähnten Dienstboten auch im Bereich des Handels ein großer Teil der erwerbstätigen Personen erst im Laufe der letzten fünf Jahre nach Berlin zugewandert. Ein besonders hoher Anteil Zugewanderter findet sich unter den Erwerbstätigen im Bereich des öffentlichen Dienstes (über 50%). Dieser hohe Zuwanderungsanteil ist im wesentlich zurückzuführen auf das Militär (Zuwanderungsquote 86%) und die Staatsverwaltung einschl. Dipl. Corps, mit einer sogar noch höheren Zuwanderungsquote von 93.5%. Dieser hohe Anteil zugewanderter Personen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, der Verteidigung bewirkt die hohe Ladung der Variablen Zugezogene auf diesen Faktor. Auch für 1890 bleibt diese Einseitigkeit in der Erwerbstätigkeit unter den zugewanderten Personen erhalten, die sich folglich auch in der Struktur der Faktoren entsprechend ausdrückt. Eine Analyse der Erwerbstätigkeit der zugewanderten Personen für 1910 ist auf der Basis des veröffentlichten
286
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Zensusmaterials nicht möglich. Aufgrund der Faktorenstruktur der Analyse für 1910 ist allerdings zu vermuten, daß auch zu diesem Zeitpunkt eine starke Konzentration der Zuwanderergruppe auf nur wenige Berufsgruppen vorhanden ist. Von der Gesamtheit der ladenden Merkmale her läßt sich der dritte Faktor (1875) eindeutig der Dimension Sozialer Rang des Shevky-Bell-Modells zuordnen. Er verbindet die Stadtteile mit hohem Anteil Erwerbstätiger in der öffentlichen Verwaltung, in der Rechtspflege, im Gesundheitsdienst, in Kunst, Bildung und Wissenschaft. Aufgrund der für 1890 geänderten administrativen, kleinräumigen Gliederung in Berlin ergibt sich für dieses Jahr auf dem ersten Blick kein Faktor, der dem dritten Faktor von 1875 voll inhaltlich entsprechen würde. Es zeigt sich aber bei genauerer Durchsicht der Ladungsmatrix von 1890, daß ein Teil der Variablen, die erwartungsgemäß auf der zweiten Sozialstatus-Dimension vertreten sein müßten, die erste Sozialstatus-Dimension hoch laden, während Variablen von der ersten auf die zweite Sozialstatus-Dimension gewechselt sind (vgl. Tabelle 7). Für 1910 ergeben sich diese Schwierigkeiten der Zuordnung inhaltlich enstprechender Faktoren nicht. Der dritte extrahierte Faktor entspricht voll der zweiten Sozialstatus-Dimension (vgl. Tabelle 8). Gegenüber 1875 hat er eine Erweiterung seines Variablenkanons um zwei Wohnungsmerkmale (Miete, Wohnungsgröße) erfahren. Der bipolare Charakter dieser Dimension ist im Vergleich zu 1875 deutlicher ausgeprägt: neben den beiden demographischen Variablen des Jahre 1875 finden sich 1910 noch weitere demographische und insbesondere sozioökonomische Merkmale (Polen, Arbeiter), die in ihrer Gesamtheit die inhaltliche Ausrichtung dieses Faktors als Sozialstatus-Dimension noch deutlicher hervortreten lassen. Anderseits zeigt aber auch die signifikant hohe Ladung der Variable Zugezogene an, daß auf dieser Komponente sich im Grunde zwei Dimensionen des Sozialraum-Modells überlagern: Sozialstatus und Migration.
Segregation Der Faktor IV aus der Querschnittsanalyse von 1875 kann als Segregationsdimension angesprochen werden. Die Variablen Juden -0.672 und Polen -0.663 zeigen die höchsten negativen Ladungen. Gleichfalls noch relativ hoch laden diesen Faktor auch zwei Variablen, wenn auch mit geringeren Werten, die zunächst gar nicht im Zusammenhang mit den beiden Leitvariablen erwartet werden: Eigentümerwohnungen -0.362 und Miete -0.354. Die in diesem Faktor zusammentreffenden Merkmale reflektieren gewisse Zusammenhänge zwischen spezifischen religiösen/ethnischen bzw. sprachlichen Bevölkerungsgruppen und der Wohnstruktur (vgl. Tabelle 6). In der räumlichen Verteilung der jüdischen und der polnischen Bevölkerungsgruppe, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung relativ gering ist 93 , die aber mit Abstand die größten religiösen/ethnischen bzw. sprachlichen
« 1875: Juden = 47.0 %o, Polen = 32.4 %o; 1890: Juden = 50.2 %o, Polen = 10.0 %o; 1910: Juden = 43.5 %o, Polen = 18.2 %o.
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Minderheiten darstellen, zeigen sich einige auffällige Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Die höchsten Anteile an der Wohnbevölkerung sowohl für die jüdische als auch für die polnische Gruppe finden sich in Berlin und im Spandauer Viertel. Die Dorotheenstadt und das Viertel um den Königsplatz haben ebenfalls gleiche überdurchschnittliche Anteile bei beiden Bevölkerungsgruppen zu verzeichnen. Im Falle der unteren Friedrichvorstadt sieht dieses jedoch ganz anders aus: während die polnische Bevölkerungsgruppe nur einen gering überdurchschnittlichen Anteil an der Bevölkerung hat, ist der jüdische Anteil in diesem Stadtteil fast viermal so groß (139.4 %o). Dieses abweichende räumliche Verhalten der jüdischen Bevölkerungsgruppe zeigt deutlich deren interne soziale Differenzierung: auf der einen Seite die Gruppe der Juden, die in der den vornehmeren Stadtquartieren zuzurechnenden unteren Friedrichvorstadt leben 94, und auf der anderen Seite die in den zentralen Stadtteilen, insbesondere in Berlin und dem nördlich anschließenden Spandauer Viertel lebenden Juden. Diese Gruppe lebt im Vergleich zur ersteren unter äußerst schlechten Wohnbedingungen. Das räumliche Verteilungsbild der jüdischen Bevölkerungsruppe bleibt in seiner Grundstruktur bis 1910 erhalten, es wird durch Veränderungen der kleinräumigen administrativen Gliederung sogar noch deutlicher. 1910 sind im Bereich der Innenstadt die Stadtteile Berlin, Neu-Kölln, das südwestliche Königs-Viertel sowie das Spandauer Viertel die Stadtteile mit den höchsten Anteilen jüdischer Bevölkerung. Im Bereich der südwestlichen, vornehmeren Wohnquartiere haben das Tiergarten-Viertel und die untere Friedrichvorstadt die höchsten Werte. Ähnlich sieht das Verteilungsmuster auch im Jahr 1890 aus. Im Vergleich der räumlichen Verteilungsmuster der Jahre 1890 und 1910 zeigt sich, daß die Grundstruktur des räumlichen Verteilungsmusters mit zwei voneinander getrennten Konzentrationsgebieten unverändert bleibt, daß zwischen den Stadtteilen der Innenstadt allerdings umfangreiche Verschiebungen stattgefunden haben, die dazu geführt haben, daß in den nördlich und östlich an die zentralen Stadtbezirke anschließenden Quartieren, im Spandauer Viertel, im südwestlichen Königsviertel und auch in der südlichen Rosenthaler Vorstadt die Anteile jüdischer Bevölkerung stark angestiegen sind, während in den zentralen Stadtteilen die ohnehin hohen Quoten leicht zurückgegangen sind. Für das Jahr 1875 wurde eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen der räumlichen Verteilung der jüdischen Bevölkerung und den polnischen Zuwanderern festgestellt. Auf der Grundlage von Zensusmaterial des Jahres 1880 ist es möglich, dieses ähnliche räumliche Verhalten der beiden Bevölkerungsgruppen in einigen Aspekten zu erläutern. Die im Jahre 1880 53.916 Personen zählende jüdische Minderheit besteht zu 65.6% aus Personen, die von außerhalb nach Berlin zugezogen sind. Unter diesen Zugezogenen, die vornehmlich aus dem preußischen Bereich (84.6%), zu einem geringeren Teil aus den übrigen Bundesstaaten des Deutschen Reiches (5%) und zu einem noch geringerem Teil aus dem Ausland zugewandert sind, lassen sich deutlich Schwerpunkte in der Herkunftsregion feststellen : der größte Teil der jüdischen Zuwanderer aus Preußen kommt aus den Provinzen Posen, Ost- und West-
* Vgl. hierzu Faktor I 1875.
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preußen und Schlesien ( 7 0 . 2 % ) 9 5 . Unter den Herkunftsgebieten außerhalb des Deutschen Reiches stellt der nord-osteuropäische Raum (Rußland, Polen/ Finnland) den mit Abstand größten Anteil ( 5 5 . 9 % ) . Diese Differenzierung der jüdischen Bevölkerungsgruppe nach ihren Herkunftsgebieten, aus den östlichen preußischen Provinzen bzw. aus osteuropäischen Staaten stammen 43.5% der jüdischen Bevölkerungsgruppe, drückt sich u.a. auch in dem unterschiedlichen räumlichen Verhalten aus. Die Erwerbstätigkeit dieser jüdischen Bevölkerungsgruppe, die Erwerbsquote liegt mit 399 %o um 59 Punkte niedriger als die allgemeine Erwerbsquote, konzentriert sich auf den Bereich Handel und Kreditwesen - fast die Hälfte der Erwerbstätigen ist im Warenhandel beschäftigt, in Geld- und Kreditgeschäften, in Speditions- und Maklergeschäften sind weitere 10% tätig - und auf das Bekleidungs- und Wäschegewerbe im gewerblichen Bereich (11% der Erwerbstätigen). Diese Beschränkung der Erwerbstätigkeit auf nur wenige Gewerbezweige gilt gleichermaßen auch noch 1890. Bei einer Erwerbsquote, die mit 406 %o auch weiterhin unterdurchschnittlich ist, konzentriert sich die Erwerbstätigkeit auf den Bereich des Handels (599 %o) und das Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe (133 %o). Diese Einseitigkeit in der Erwerbsstruktur der jüdischen Bevölkerung findet ihren Ausdruck in der Struktur des dritten Faktors der Analyse von 1890. Für die Querschnittanalyse 1875 wird diese enge Beziehung dagegen bereits in den Variablenladungen des Faktors II deutlich. 1910 wird dieser Zusammenhang ebenfalls auf der Spezialisierungsdimension (Faktor I) abgebildet. Ähnlich einseitig wie bei der jüdischen Bevölkerungsgruppe ist die Erwerbstätigkeit auch unter der polnisch-sprechenden Bevölkerung ausgeprägt, die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sind aber recht beträchtlich. So ist der Bereich des Handels, der bei der jüdischen Bevölkerungsgruppe eine dominierende Stellung innehat, bei der polnischen Gruppe als Erwerbszweig völlig unbedeutend. Stattdessen sind es gerade die Berufe, die kein besonders hohes soziales Prestige besitzen, in denen die Polen vestärkt Beschäftigungsmöglichkeiten finden: neben den persönlichen Diensten ( 2 1 . 5 % ) mit einem erwartungsgemäß hohen weiblichen Anteil sind dies das Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe ( 1 9 . 2 % ) sowie der Komplex der Industriearbeiter ohne eindeutige Zuordnung ( 2 3 . 7 % ) . Im übrigen ist die Erwerbsquote der polnischen Bevölkerung außergewöhnlich hoch, sie liegt um 168 Punkte über der allg. Erwerbsquote von 470 %o. Im räumlichen Verteilungsbild dieser Bevölkerungsgruppen kommt es zwischen 1875 und 1910 zu deutlichen Veränderungen: die 1875 festzustellende Übereinstimmung der Wohngebiete der polnischen Bevölkerungsgruppe mit zumindest einem Teil der jüdischen Bevölkerungsgruppe hat sich 1910 aufgelöst. Die polnisch sprechende Bevölkerung findet sich nun verstärkt in den Wohnquartieren der dichtbebauten südöstlichen Stadtviertel, in der Luisenstadt jenseits des Kanals, im Stralauer Viertel ebenso wie in dem westlichen Viertel von Moabit. Die alten Wohnstandorte in der Innenstadt bleiben allerdings bestehen. Die geänderten Wohnquartiere der polnischen und der jüdischen Bevölkerungsgruppe bleiben nicht ohne Auswirkungen auf das 95
Die Bedeutung dieser östlichen Provinzen als Herkunftsgebiet der jüdischen Bevölkerung wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß bezogen auf die Gesamtheit der Zuwanderer diese Provinzen nur einen Anteil von 34.9% stellen.
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Faktorenmuster. 1890 erscheinen beide Variablen gemeinsam als Leitvariablen auf dem an dritter Stelle extrahierten Faktor. Im Gegensatz zu 1875 wird die Dimension nun noch stärker durch Erwerbsstrukurmerkmale (Selbständige, Erwerbstätige in Handel und Verkehr) inhaltlich bestimmt (vgl. Tabelle 7). Bis 1910 hat sich dann, wie bereits beschrieben, die enge Verflechtung zwischen den Wohnquartieren der beiden Bevölkerungsgruppen aufgelöst. In der Variablenstruktur des vierten Faktors kommt dieses geänderte räumliche Verhalten darin zum Ausdruck, daß die Polen ausgeschieden sind (sie treten auf dem 2. und 3. Faktor auf) und auch sonst erhebliche Änderungen im Variablenkanon auftreten: an die Stelle der Erwerbsstrukturmerkmale sind Merkmale zur Wohnsituation getreten, die bereits 1875 auf diesem Faktor vertreten waren ebenso wie die Ausländervariable, die 1910 auch wiederum diesen Faktor lädt; neu auf dem Faktor ist das Merkmal Zugezogene. Durch diese Veränderungen in der Variablenstruktur wird die inhaltliche Richtung dieser Dimension allerdings nicht entscheidend verändert: die Dimension beschreibt auch weiterhin den Prozeß der Segregation von Bevölkerungsgruppen. Die Bevölkerungsgruppen, die dieser Faktor beschreibt, sind allerdings andere geworden: es ist die jüdische Gruppe und die Gruppe der Ausländer (vgl. Tabelle 8).
Wohnen : Miet- und Eigentumsverhältnisse Der an fünfter Stelle in der 1875er Analyse extrahierte Faktor wird inhaltlich durch die hoch negativ ladende Variable Untermieter (vgl. Tabelle 6) als eine Dimension zur Beschreibung eines ganz speziellen Aspekts der Wohnsituation, die Miet- und Eigentumsverhältnisse, festgelegt. Zwischen 1875 und 1910 kommt es in Berlin zu recht deutlichen Verschiebungen zwischen den verschiedenen Anteilswerten. Über den gesamten Untersuchungszeitraum stellen die sog. Mieter-Wohnungen mit den höchsten Anteilswerten (1890: 91.7%; 1910: 93.1%) die wichtigste Wohnungsgruppe dar. Beträchtliche Verschiebungen sind bei den sog. Eigentümerwohnungen zu verzeichnen. Ihr Anteil sinkt von 4.5% im Jahre 1875 auf 3.3% im Jahre 1890, und schließlich bis 1910 sogar auf 2.1%. Diese Abnahme ist in den verschiedenen Stadtteilen keineswegs gleichmäßig erfolgt. Eine besonders starke Abnahme haben die Stadtteile in der inneren Stadt (Berlin, Alt- und Neu-Kölln, Friedrichswerder) zu verzeichnen, während gleichzeitig in der Dorotheenstadt und besonders im Tiergarten-Viertel dieser Wohnungstyp deutlich zunimmt (Dorotheenstadt 6.8%; Tiergarten 6.0%). Die Stadtteile, die 1890 die geringsten Anteile an Eigentümerwohnungen haben, sind im Südosten die Luisenstadt jenseits des Kanals, das Stralauer Viertel und im Norden die Rosenthaler Vorstadt. Zwischen den verschiedenen Wohnungstypen bestehen beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf die Ausstattung und die Wohnungsgröße. Im Durchschnitt umfaßt 1890 eine Eigentümerwohnung in Berlin 5.7 Wohnräume. Die Unterschiede zwischen den Wohnvierteln sind recht groß : im Tiergarten hat eine Eigentümerwohnung im Schnitt mehr als 8 Wohnräume und auf dem Wedding nur 4.4 Wohnräume - und eine Aftermieterwohnung durchschnittlich nur 1.4 Wohnräume - die räumliche Unterschiede sind dabei sehr gering. Diese Aftermieterwohnungen, deren Belegungsdichte extrem hoch liegt (1890 fast
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zwei Personen pro Wohnraum) konzentrieren sich auf die südöstlichen Stadtteile, die Luisenstadt jenseits des Kanals und das Stralauer Viertel und im Norden auf die Rosenthaler Vorstadt aber auch auf einige Stadtteile im Zentrum (Berlin, Neu-Cölln, Friedrichswerder). Dieses Verteilungsmuster, das in dieser Form auch schon 1875 bestanden hat, verändert sich bis 1910 durch einen räumlich sehr unterschiedlichen Rückgang der Untermieterwohnungen (in Berlin sinkt der Anteil der Untermieterwohnungen zwischen 1890 und 1910 von 18 pro 1000 um 2 Drittel auf 6 pro 1000); von diesem Rückgang sind die südwestlichen und zentralen Stadtteile sowie die Viertel am südöstlichen Rand der Innenstadt weniger betroffen. Dieses geänderter Standortmuster führt dazu, daß die Wohngebiete der Schlafgänger und der Untermieter, die 1890 weitgehende Übereinstimmung gezeigt haben, räumlich auseinanderfallen. Noch in der Analyse für 1890 haben diese Variablen gemeinsam (in gleicher Richtung) den 5. Faktor bestimmt. Für 1910 legen zwar auch diese beiden Merkmale den Faktor fest, allerdings als Folge geänderter räumlicher Verteilungsmuster in gegensätzlicher Richtung (vgl. Tabelle 7 und 8).
2. V e r g l e i c h d e r
Grunddimensionen
Betrachtet man die Faktorenstruktur der Vergleichsjahre 1875, 1890 und 1910 im Zusammenhang, so zeigen sich in der Zusammensetzung und der Bedeutung der einzelnen Faktoren deutliche Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Querschnitten wie auch mit den im Modell der Sozialraumanalyse postulierten Dimensionen. Die faktorialökologischen Untersuchungen für 1875, 1890 und 1910 ergeben in allen drei Querschnitten jeweils drei Hauptdimensionen und eine Nebendimension. Die erste Hauptdimension ist die Sozialstatus-Dimension, die in allen drei Analysen in einen Hauptfaktor (Sozialstatus I) und einen Nebenfaktor (Sozialstatus II) aufgespalten ist. Der Hauptfaktor der Sozialstatus-Dimension wird 1875 und 1890 an erster Stelle extrahiert. Seine Bedeutung kommt darin zum Ausdruck, daß sein Anteil an der erklärten Varianz fast doppelt so hoch ist wie der erst an zweiter Stelle extrahierten Spezialisierungsdimension. Allerdings ist eine Abnahme des erklärten Varianzanteils bis 1910 festzustellen, so daß diese Dimension dann nach der Spezialisierungsdimension an zweiter Stelle extrahiert wird. Die zweite Hauptkomponente beschreibt die Spezialisierungsdimension des Sozialraum-Modells. In dem Maße wie der Varianzanteil der ersten Sozialstatus-Dimension abnimmt, wächst ihr Anteil an der erklärten Gesamtvarianz. Im Längsschnittvergleich wird deutlich, daß diese beiden Hauptkomponten einen hohen Grad an inhaltlicher Invarianz aufweisen. Diese Bedeutungsinvarianz ist dagegen bei der dritten Dimension, die in allen Vergleichsjahren ermittelt wird, in dieser Klarheit nicht gegeben. Von 1875 bis 1910 ist eine deutliche Verschiebung in den Schwerpunkten der Aussagerichtung dieser Dimension festzustellen. In den Analysen 1875 und 1890 beschreibt dieser Faktor die räumliche Segregation der jüdischen und der polnischen Bevölkerungsgruppe in Berlin. 1910 wird dagegen nur noch die
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
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eine dieser beiden Minoritäten, nämlich die Juden auf diesen Faktor in ihrem räumlichen Verhalten berücksichtigt. Der Bedeutungswandel dieses Faktors drückt sich auch darin aus, daß nun auch noch Merkmale zur Beschreibung der Wohnsitiation auf diesem Faktor signifikante Ladungen haben. Damit verliert bis 1910 dieser Faktor seine eindeutige Bedeutung als Segregationsdimension und erfährt eine inhaltliche Erweiterung um Aspekte aus dem Bereich der Sozialstatus-Dimension. Die graduellen Verschiebungen in der Bedeutung der Dimension lassen erkennen, daß zwischen den Vergleichsjahren 1875 und 1910 sich die gesellschaftlichen Bedingungen zur räumlichen Segregation gewandelt haben. Die Zugehörigkeit zu bestimmten religiösen bzw. auch sprachlichen Bevölkerungsgruppen hat im Laufe des Untersuchungszeitraumes zunehmend an Bedeutung verloren. Bei der Wohnstandortwahl spielt dieser Aspekt offenbar eine zunehmend geringere Rolle als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Über diese drei klassischen Dimensionen der Sozialraum-Analyse hinaus wird als Nebendimension in allen drei Querschnitten ein Wohn-Faktor mit einer speziellen Ausrichtung auf Miet- und Eigentumsverhältnisse extrahiert. Sein Varianzanteil ist über alle drei Querschnitte konstant gering, so daß er bei den weiteren Überlegungen übergangen werden kann. Der sinkende Anteil der extrahierten Komponenten an der erklärten Gesamtvarianz und die Verschiebung der Varianzanteile zwischen den Faktoren lassen vermuten, daß sich zwischen 1875 und 1910 Veränderungen in den innerstädtischen räumlichen Strukturen abspielen. Die Ergebnisse der Faktorenanalysen geben nun aber bekanntlich nur Auskunft darüber, wie sich die Beziehungen zwischen den Variablen verändert haben ; damit können sie auch nur Aussagen über die generelle Richtung der räumlich-strukturellen Veränderungen in den städtischen Teilräumen liefern. So kann auf Grund der sinkenden Bedeutung des Hauptfaktors der Sozialstatus-Dimension von 1875 bis 1910 vermutet werden, daß die Berliner Stadtteile hinsichtlich der diesen Faktor bestimmenden Sozialindikatoren einander ähnlicher geworden sind. Einen möglichen Erklärungsansatz liefert die seit 1890 sich verstärkende Suburbanisierung. Es ist offenbar so, daß die höheren sozialen Schichten in sehr viel stärkeren Umfang von Berlin in die Vororte des Umlandes abziehen als die unteren Schichten 96 . Auf die Abwanderung wohlhabender Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang der Ausdehnung der City in die südwestlichen Stadtteile hinein verweist auch Leyden 9 7 . Diese Vorgänge führen offenbar zu einer stärkeren Nivellierung der Wohnquartiere, die sich in der Verschiebung der Varianzanteile der extrahierten Faktoren ausdrückt. Die für alle drei Querschnitte durchgeführte schiefwinklige Rotation nach dem direkten Oblimin-Verfahren zeigt, ohne daß wesentliche Änderungen in der inhaltlichen Aussage der extrahierten Faktoren zu beobachten sind, leichte Korrelationen zwischen den Dimensionen insbesondere zwischen den beiden Teilkomponenten der Sozial-Status-Dimen-
96
Vgl. hierzu auch H A M B U R G E R , Denkschrift über die Beziehungen zwischen Berlin und seinen Nachbarorten. Berlin 1913, bes. S. 65 ff. In diesem Gutachten verweist Hamburger u. a. auch auf die verstärkte Abwanderung von Mitgliedern höherer sozialer Schichten aus Berlin in die Vororte.
97
V g l . LEYDEN ( w i e A n m . 6 7 ) S. 1 0 3 .
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Heinrich Joh. Schwippe
sion 9 8 sowie zwischen der Segregationsdimension und beiden bzw. einer der beiden Teilkomponenten des Sozialstatus " . Leichte Korrelationen existieren ebenfalls zwischen der Spezialisierungsdimension und der Hauptkomponente des Sozialstatus I0°. Diese Korrelationen zwischen den extrahierten Faktoren sind deutlich geringer als die von Bell für Los Angeles (1940) ermittelten Korrelationen zwischen den drei Grunddimensionen des Sozialraum-Modells 101, sie liegen aber geringfügig über den in der Düsseldorf-Studie von O'Loughlin und Glebe 102 ermittelten Werten. Die Ursachen für diese Abhängigkeit zwischen den Faktoren sind darin zu sehen, daß eine größere Zahl von Merkmalen mit verschiedenen Faktoren gleichzeitig korreliert. Die eindeutige Zuordnung der Variablen zu den Grunddimensionen des Sozialraum-Modells ist im Falle Berlins für die Vergleichsjahre 1875, 1890 und 1910 nicht gegeben. Timms hat versucht, in einer schematischen Darstellung diese Zuordnung der sozialökonomischen Merkmale zu den Grunddimensionen des Sozialraum-Modells in Abhängigkeit von sieben städtischen Entwicklungstypen 104 darzustellen. Dabei stellt er fest, daß erst in der sog.,Modern City' die Eindeutigkeit in der Zuordnung der Sozialindikatoren und der Sozialraumdimensionen gegeben ist. Im Falle des in dieser Analyse besonders interessiernden Typ der ,Industrializing City' postuliert Timms größere Überschneidungen aufgrund der Variablenstruktur zwischen den Dimensionen Sozialer Rang und Urbanismus/Spezialisierung >°5. Genau diese von Timms für die Stadt im Industrialisierungsprozeß postulierte Faktorenstruktur ergibt sich für Berlin zwischen 1875 und 1910: zwischen den die Hauptdimensionen des Sozialraum-Modells repräsentierenden Kompontenten bestehen leichte Korrelationen, zwischen diesen Komponten sind größere Überschneidungen in der Variablenstruktur festzustellen.
3. D a s r ä u m l i c h e V e r t e i l u n g s m u s t e r d e r
Dimensionen
Ein wichtiger Aspekt sozialökologischer Untersuchungen ist das räumliche Verteilungsmuster der extrahierten Faktoren. Drei räumliche Grundmuster konzentrische Ringe, Sektoren und Zellen - haben sich als charakteristische Verteilungsmuster der Grunddimensionen des Sozialraum-Modells herausgestellt. Nach Murdie und Hamm ist zu erwarten, daß die SozialstatusDimension dahin tendiert, ein sektorales Verteilungsbild zu zeigen, während die Spezialisierungsdimension ein konzentrisches Verteilungsmuster besitzt I06 . »8 Für Delta = 0.1 betragen die Korrelationskoeffizienten 1875: 0.275, 1890: 0.388 und 1910: 0.125. » 1875:0.219/0.205, 1890:0.388 und 1910:-0.393. io» 1875:0.235, 1890:0.395 und 1910:0.264. ΙΟΊ BELL ( w i e A n m . 5 4 ) S. 4 9 .
102 O'LOUGHLIN/GLEBE ( w i e A n m . 75) S. 118-119. 103 V g l . TIMMS ( w i e A n m . 4 2 ) S. 1 3 8 f f . , b e s . S. 1 4 6 . 104
Timms unterscheidet die folgen städtischen Entwicklungstypen: Feudal City, Colonial City, Immigrant City, Pre-industrial City, Industrializing City, Modern City. 105 „In transitional societies the structure ... may be anticipated: social rank and family status will emerge as separate dimensions of differentiation, but they will exhibit a substantial intercorrelation. It may be that some indicants of the one exhibit higher item-factor correlations with the other than they do with their own referent." TIMM (wie Anm. 42) S. 147. ios Hamm entwickelt (vermittelt über den Bodenwert) ein konzentrisches Muster für die Spezialisierungsdimension, für die Sozial-Status-Dimension postuliert er ebenfals ein sektorales
Sozialräumliche innerstädtische Differenzierung
293
Die Analyse der räumlichen Verteilungsmuster erfolgt ohne aufwendige statistische Verfahren; die von Hamm vorgeschlagene Vorgehensweise, in Anwendung ökologischer Distanzmaße (Zeit-Kosten-Relationen) 107 erscheint aufgrund der zur Verfügung stehenden recht groben kleinräumigen Gliederung wenig sinnvoll. Auch ohne diese statistischen Analyseverfahren zeigen die Faktorenwerte der Dimensionen deutliche Übereinstimmungen mit den drei postulierten räumlichen Grundmustern. Die Hauptdimension Sozialstatus zeigt ein ausgesprochen sektorales Anordnungsmuster (vgl. Abb. 5 und 6). Die südwestlich der Innenstadt gelegenen Stadtviertel heben sich deutlich als Wohnquartiere höherer sozialer Schichten ab. Im Norden, Osten bis in den Südosten finden sich dagegen die Wohnviertel unterer bis mittlerer sozialer Schichten. Dieses Verteilungsmuster, das in allen drei Analysen in seinen Grundzügen gleichermaßen deutlich sichtbar wird und das sich in die Vororte hinein erstreckt 108 weist eine außerordentliche Konstanz auf. Bereits in der auf der Basis von Daten des Zensus von 1861 durchgeführten Klassifikation der Stadtteile nach „ihrem socialen Rang" 109 wird der nach Südwesten gerichtete Sektor vornehmer Wohnquartiere deutlich: als ranghöchste Stadtviertel sind die Dorotheenstadt, der Friedrichswerder und die Friedrichstadt eingestuft. Die Viertel mit dem geringsten Rang sind die Luisenstadt, das Spandauer Viertel und die Königstadt sowie die unter dem Begriff ,Neues Weichbild' zusammengefaßten, 1861 eingemeindeten Stadtviertel Wedding, Moabit im Norden und Tempelhofer und Schöneberger Vorstadt im Süden 110 . Ein gleiches, durch eine neue Einteilung der Stadtteile etwas deutlicheres Bild ergibt sich auch für 1871. Die auf der Basis von Bevölkerungsdichte, Dienstpersonalanteil, Erwerbstätigkeit und Steueraufkommen gebildeten sog. „Wohlhabenheitsbezirke" zeigen wiederum eine deutliche sektorale Anordnung der vornehmeren Wohnquartiere.
Muster. Das zellenartige Verteilungsbild der Segregationsdimension ergibt sich bei Hamm aus dem speziellen Wohnstandort-Wahlverhalten höherer sozialer Schichten, es ist aber ohne Schwierigkeiten auf Minderheiten mit ihrem besonderen räumlichen Verhalten übertragbar, vgl. H A M M (wie Anm. 34), Sozialräumliche Differenzierung, S. 77ff. - Vgl. ferner R.A. M U R D I E , Factorial Ecology of Métropolitain Toronto, 1951 - 1961 : An Essay on the Social Geography of the City, Chicago 1969 (Department of Geography. Reserarch Paper N o 116), S. 6ff. ' (in Mark/Soll-Werte) 1 Jahr
3
2 Verwaltung allgemein b)
4
6
5
Verwaltung Hoch- und der Gewerbe- Tiefbauund Verkehrs- verwaltung anstalten c) d)
Strassenreinigung Feuerwehr Fuhrwesen
7
Kr ankenpflege u Sozialwesen e)
Bildung f)
0 R D I Ν A R I U M 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1887/88 1888/89 1889/90. 1890/91 1891/92 1892/93 1893/94 1894/95 1895/96 1896/97 1897/98 1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2
982 096 111 191 163 197 194 27 5 371 606 671 545 479 583 674 804 054
221 616 754 650 092 684 282 047 323 556 844 696 508 546 303 819 397
149 157 154 181 213 330 531 546 617 649 764 727 762 787 755 896 1.005
8
071 698 761 988 547 904 281 939 748 655 220 793 632 842 480 300 484
1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 3 2
259. 730 261 232 366. 835 508. 350 469. 693 852. 897 685 571 873. 136 924. 414 134 752 179 867 397 138 619 747 771 576 997 381 168 387 355 051
10
9
483. 845 496. 835 505. 281 548. 799 605. 141 612. 437 626 186 624 320 659. 006 747 691 1.067. 910 1.029 701 810 277 920 567 931. 523 980 755 1.023 958
11
12
538 578 727 855 934 901 911 921 987 1 005 1 030 1 155 1 186 1 184 1 283 1 490 1 .566
786 212 027 318 992 359 547 345 635 650 800 989 527 475 866 974 768
13
E Χ Τ R A _ 0 R D I Ν A R I U M
Jahr
1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1887/88 1888/89 1889/90 1890/91 1891/92 1892/93 1893/94 1894/95 1895/96 1896/97 1897/98
Sonstiges g) 53 131 100 103 138 263 161 92 94 95 99 116 320 338 545 495 560
612 042 755 649 413 874 720 284 572 395 938 058 688 847 32 7 796 404
Schulden InfraSchulden- tilgungs- struktur- Schulden- Sonstiges leistung investi- tilgung tilgung i) pro Einw. tionen h) 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3
817 894 998 98 7 066 237 426 452 478 545 622 817 S50 177 258 462 544
537 647 791 295 096 866 613 336 883 387 903 440 874 745 528 266 499
10,16 -
10,25 -
10, 70 -
19,15 -
3 5 7 8 8 5 3 3 3 5 7 6 7 6 5 7 7
837. 561 516. 892 558. 337 352. 154 109. 959 508 164 488. 260 577. 504 247. 399 411 369 105. 073 351 758 437 978 621 086 322 487 324 470 950 402
_ -
73. 610 191 769 161 975 183. 675
-
750.000 750.000 750.000 750.000 750.000 -
750.000 750.000
2. 100 88. 050 52. 050 252 050 201 050 300 050 300 050 300 050 430 050 530 050
1 735 269 1 749 290 1. 936 .958 2. 022 843 2. 060 456 2. 085 .690 2. 191 325 2 244 .930 2. 422 .751 2. 453 350 2. 534 .052 2. 983 .864 3. 089 663 3. 146 .974 3. 330 .292 3 689 .241 3. 848 549 14 ORDINARIUM EXTRAORDINARIA Gesamtausgaben j ) 10.877.485 13.074.233 15.622.474 16.935.721 16.701.389 15.062.485 13.962.781 14.359.941 14.641.181 17.451.855 20.078.057 19.326.487 20.957.944 20.832.708 20.399.237 24.493.058 25.205.212
QUELLE: Haushalts-Etat der Stadt Frankfurt für die Jahre 1880/81-1897/98; Dieter REBENTISCH (wie Anm. 1) S. 96, Tabelle 8. a) Die Tabelle "Ausgaben der Stadt Frankfurt" musste wegen der Inkonsistenz der Haushaltssystematik zwischen 1870 - 1914 aufgeteilt werden. In den Jahren vor 1880/81 konnten die Verwaltungsausgaben geschlossen rubriziert werden. b) Die Spalte 2 schliesst die Titel "Zentral-Verwaltung, Grundbesitzverwaltung, Rechnungs- und Kassenwesen, Polizei" ein. Die Schuldentilgung findet sich in Spalte 12.
414
Walter Steitz
c) Hier ist die V e r w . der H ä f e n , H a f e n b a h n , später S t r a s s e n b a h n e n , des S c h l a c h t h a u s e s , des V i e h h o f e s , des M a r k t w e s e n s , d e r ö f f e n t l i c h e n W a a g e n u.a.m. e i n g e schlossen. d) Es h a n d e l t sich hier nur u m die V e r w a l t u n g s k o s t e n d e r B a u ä m t e r . Die 1881 - 83 noch getrennt aufgeführten Kosten für d e n Titel W a s s e r l e i t u n g e n w u r d e n für d i e s e Jahre h i e r e i n g e s c h l o s s e n . H i e r z u g e h ö r e n a u c h die E r s a t z - u n d E r w e i t e rungsinvestitionen im L e i t u n g s b a u . Ab 1883/1884 w e r d e n solche K o s t e n z.T. im E x t r a o r d i n a r i u m in den H o c h - u n d T i e f b a u r u b r i k e n , d a m i t in d e n I n f r a s t r u k t u r a u s g a b e n a u s g e w i e s e n . A u s s e r d e m enthält dieser Titel a u c h die laufenden S t r a s senbau-, K a n a l i s a t i o n s - u n d B e l e u c h t u n g s k o s t e n , die z.T. als I n f r a s t r u k t u r a u s g a b e n zu b e t r a c h t e n sind. e) Unter S o z i a l w e s e n ist h a u p t s ä c h l i c h die traditionelle A r m e n p f l e g e u n d die F r i e d h o f s v e r w a l t u n g erfasst. f) Die Rubrik Bildung s c h l i e s s t Schul-, K i r c h e n w e s e n , W i s s e n s c h a f t s - u n d K u l t u r e i n r i c h t u n g e n ein. g) Hier sind v o r n e h m l i c h die L e i s t u n g e n an d e n Staat u n d d e n K o m m u n a l v e r b a n d e r fasst. h) Hier sind nur die N e u - , E r w e i t e r u n g s - u n d E r s a t z i n v e s t i t i o n e n e r f a s s t . E i n T e i l der laufenden Investitionen - z.B. W a s s e r l e i t u n g s a n s c h l ü s s e etc. - fin den sich in d e n e i n z e l n e n Rubriken. i) D i e s e Rubrik erfasst h a u p t s ä c h l i c h die Titel K a s s e n w e s e n u n d S t a d t k ä m m e r e i . j) Die G e s a m t a u s g a b e n s u m m e d i f f e r i e r t v o n der in der Quelle a n g e g e b e n e n , da h i e r nur die v o l l e n M a r k b e t r ä g e f e s t g e h a l t e n w u r d e n .
T a b e l l e 9b Ausgaben des ordentlichen Haushalts der Stadt Frankfurt am Main 1898-1905 (in Mark) 1
2
Jahr
1) Verwaltung
1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905
6 6 8 9 10 10 11 14
210 895 114 383 036 350 52 5 504
3
383 340 056 834 990 620 543 792
Hoch und Tiefbau 4 .502. 918 4 .914. 335 4 .684. 897 4 .642. 23 5 4 .744. 881 5 .237. 352 5 . 763 .130 6 .401. 491
4
7
5
8
Soziales Erziehung Zuschüsse Sonstiges und 2) und 3) an städt. Gesundheit Bildung Betriebe
Gesamtausgaben
2 .587. 609 2 .680. 678 3 .099. 887 3 .349. 742 3 744. 019 3 .954. 347 4 .253. 599 4 .749. 797
19 21 23 24 26 27 29 34
QUELLE: S t a t i s t i s c h e s H a n d b u c h
4 . 296 5 . 006 5 .217 5 . 522 5 .659 6 . 109 6 .447 7 . 069
432 1. 004. 458 557. 503 220 909. 472 728. 237 634 957. 165 1 063 .295 761 913. 215 955 .121 902 1 088. 163 1 094. 603 389 962. 700 979. 730 615 . 551 1 125. 897 766 551 329. 646 1 398. 748
159 134 136 766 368 594 731 454
303 282 934 908 558 138 486 025
(wie bei T a b e l l e 1) S. 289.
1) Diese Spalte fasst die T i t e l : H a u p t v e r w a l t u n g , G r u n d b e s i t z v e r w a l t u n g , F i n a n z v e r w a l t u n g , G e w e r b e - u n d V e r k e h r s w e s e n zusammen. Im T i t e l : F i n a n z v e r w a l t u n g ist die S c h u l d e n t i l g u n g e i n g e s c h l o s s e n . 2) D i e s e Spalte umfasst die T i t e l : F ö r d e r u n g gemeinnütziger Zwecke, F r i e d h ö f e , K r a n k e n - u n d W o h l t ä t i g k e i t s a n s t a l t e n u n d das V e r k e h r s w e s e n . 3) H i e r sind die T i t e l : K i r c h e n - u n d S c h u l w e s e n , K u n s t u n d W i s s e n s c h a f t enthalten.
415
Kommunale Wohnungspolitik im Kaiseneich
T a b e l l e 9c Die Ausgaben für den Hoch- und Tiefbau im außerordentlichen Haushalt der Stadt Frankfurt 1898-1910 (Sollwerte/in Mark) Jahr 1898/99 1899/1900 1900/01 1901/02 1902/03 1903/04 QUELLE: H a u s h a l t s - E t a t
der
Ausgaben
Jahr
3.277.637 4.745.300 3.477.003 3.792.800 6.327.600 5.941.070
1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10
Stadt
Frankfurt
für die
Jahre
Ausgaben 4.243.220 4.322.220 3.718.750 6.777.250 12.925.150 7.290.100 1898 -
1910.
Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen ist nun die tatsächliche Wohnungspolitik der Stadt Frankfurt anhand des anfangs dargelegten Katalogs zu analysieren. Während einige Städte im Reich kommunale Verordnungen über die Wohnungsinspektion erlassen haben, und diese dann in eigener Regie durchführten, liegt die Kompetenz der Wohnungsaufsicht in Frankfurt in den Händen der Preußischen Polizeiverwaltung, die die Wohnungsinspektion eigentlich nicht durchführte, sondern mit Polizeiverordnungen lediglich einige Mißstände zu beseitigen suchte 69 . Im Jahre 1899 wurde zwischen der Stadt und dem Königlichen Polizeipräsidium vereinbart, daß eine Verordnung über die Beschaffenheit und Benutzung von Wohnungen erlassen werden sollte. Der Erlaß unterblieb, weil das Polizeipräsidium bezweifelte, ob genügend geeigneter Wohnraum vorhanden sei, den die Bewohner zu räumender Wohnungen beziehen könnten 70. Die weitere Behandlung der Frage stockte, da man hoffte, daß der 1903 veröffentlichte Entwurf eines Preußischen Wohnungsgesetzes den Gemeinden die Wohnungsaufsicht in Aussicht stellte. Das Wohnungsgesetz kam jedoch nicht zustande. Allerdings hat die Stadt im Jahre 1902 auf Initiative der städtischen Gesundheitskommission in einzelnen Stadtteilen Erhebungen über die Wohnungsverhältnisse durchgeführt. Schließlich richtete sie nach dem Scheitern des Preußischen Wohnungsgesetzentwurfes eine Wohnungsnachweisstelle ein, dessen Beamte jede zu vermietende Wohnung zu besichtigen hatten, womit diese bereits Funktionen einer Wohnungsinspektion übernahmen. Ähnliche Aufgaben führte die Baupolizei aufgrund der eingehenden Bauordnungen der Stadt Frankfurt 71 durch, in dem sie im gegebenen Fall die Baugenehmigung 69
Polizeiverordnung vom 30.7.1892 zur Regelung des Kost-, Quartier- und Schlafgängerwesens: Polizeiverordnung für den Regierungsbezirk Wiesbaden betr. Arbeiterwohnungen. Amtsblatt für den Stadtkreis und den Landkreis Frankfurt a.M., Nr. 39 vom 24.9.1904. Hier wurde lediglich auf die Unterbringung von Arbeitern durch die Arbeitgeber Bezug genommen. Bei Neufassung der Polizeiverordnung vom 8.10.1910 war beabsichtigt, Kellerwohnungen auszuschließen: Magistratsakten Τ 833 Erdgeschoß, Kellerwohnungen. - Siehe die Stellungnahme der städtischen Baupolizei betr. Eingabe des Architekten Geldmacher vom 12.10.1910. - Vgl. W. VON KALCKSTEIN, Die im Deutschen Reiche erlassenen Vorschriften über Benutzung und über Beschaffenheit von Wohnungen, Bremen 1907. Vgl. auch ADLER (wie Anm. 12) S. 6 Iff. 70 Magistratsakten Τ 776 II, Beschaffung und Benutzung der Wohnungen und Inspektion. Gesetz zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse. 1903-1910. Entwurf eines Schreibens des Magistrats an das Königliche Polizeipräsidium vom 17.12.1910. 71 Wohnungsfürsorge in den deutschen Städten, bearbeitet im Kaiserlichen Statistischen Amte, Abteilung für Arbeiterstatistik, Berlin 1910 (Beiträge zur Arbeiterstatistik, Nr. 11). S. 174. Die baurechtlichen Bestimmungen für Frankfurt finden sich in folgenden Polizeiverord-
416
Walter Steitz
versagte. Zudem haben einige gemeinnützige Baugesellschaften eigene Wohnungsinspektoren eingesetzt, die allerdings nur für die von der Gesellschaft errichteten Wohnungen zuständig waren 72 . Bauordnungen und einige Polizeiverordnungen haben jedoch bewirkt, daß in Frankfurt Kellerwohnungen und Mietskasernen weitgehendst fehlen 7 3 und daß der Anteil der Hinterhauswohnungen in Frankfurt unter dem anderer vergleichbarer Städte liegt. Auf dem Gebiet der Bauordnungen, der Bebauungs- und Stadterweiterungspläne hat die Stadt Frankfurt schließlich eine herausragende Rolle eingenommen 74 . Berühmt wurde das Umlegungs- und Enteignungsgesetz, nach seinem Initiator ,Lex Adickes' genannt, welches für den ganzen preussischen Staat Geltung erhalten sollte und als Fortschreibung des Preußischen Enteignungsgesetzes aus dem Jahre 1874 und des Fluchtliniengesetzes von 1875 angesehen wurde. Dieses Gesetz erlangte 1902 schließlich nur für die Stadt Frankfurt Gültigkeit und erwies sich aufgrund der Entschädigungsbestimmungen (§ 13) als nachteilig für die Gemeinden, Es wurde in dieser Hinsicht novelliert 75 . Eine wesentliche Rolle spielte die Eingemeindungspolitik Frankfurts, da diese auch unter dem Gesichtspunkt durchgeführt wurde, Baugelände zur Herstellung gesunder Wohnungen zu günstigen Preisen zu erlangen; denn die Frankfurter Vorortgemeinden waren nicht geneigt, „für eine großzügige Ansiedlung Minderbemittelter Gelände zu erschließen und Baugenehmigungen zu erteilen, weil sie naturgemäß die Folgelasten für den Gemeindehaushalt bedachten." 76. Bauordnungen, Bebauungspläne, Enteignungsgesetze und Eingemeindungen stehen nur zum Teil direkt mit der Wohnungsfürsorge in Verbindung, und sie gehören in den weiteren Rahmen der Wohnungspolitik, wie etwa in den des Ausbaus der Infrastruktur. Die nicht-kommunalen Träger des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Frankfurt beklagen allerdings - und dies ist ein direkter Bezug zur kommunalen Wohnungspolitik - , daß die Bauordnungen der Stadt und die vorgeschriebenen Baufluchtlinien die Baukosten und damit die Mietpreise
72
73
74
75
76
nungen: Polizeiverordnung betreffend den Erlaß einer Bauordnung vom 27.3.1896, novelliert in den Polizeiverordnungen vom 15.3.1901 und 14.2.1902, Polizeiverordnung betreffend das Bauen in der Außenstadt Frankfurt a.M. vom 2.7.1897, 26.5.1899, 16.9.1902, 12.5.1903, 25.3.1904 und 24.5.1907, Polizeiverordnung vom 1.7.1900 betreffend die Einführung der Frankfurter Baupolizeiverordnungen in Oberrad, Niederrad und Seckbach, zugleich anderweitige Abgrenzung der äußeren Zone, Polizeiverordnung vom 28.10.1902 betreffend Ergänzung der Polizeiverordnung über das Bauen in der Außenstadt, Nachtragspolizeiverordnung vom 24.5.1907. Berühmt wurden die davor liegenden Bauordnungen vom 15.7.1884. Die Zonenbauordnung von 1891. - Vgl. auch FRIEDRICH BOTHE, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, 3. Aufl. Frankfurt 1929, S. 326. Z.B. Magistratsakten Τ 2056 I, Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen, Bd. 1. 1889-1908: Bericht des Wohnungsinspektors der Gesellschaft. Siehe Anm. 69. Die Bauordnung von 1891 hat der Entstehung von Mietskasernen einen Riegel vorgeschoben. Magistratsakten Τ 833, Erdgeschoß, Kellerwohnungen. Denkschrift von Stadtbauinspektor Frühwirth über die Frankfurter Stadterweiterung. Stellvertretend ist hier Adickes Bebauungsplan in den 1890er Jahren und dann der Generalbebauungsplan von 1912-13, der das veraltete Diagonal-Ringstraßen-System aufhob, genannt. Vgl. BERGER-THIMME (wie Anm. 1) S. 13-20: Berger-Thimme ist der Ansicht, daß dieses Gesetz weniger der Wohnungsfürsorge als der Erweiterung der Planungskompetenz galt. REBENTISCH (wie Anm. 1) S. 107. - Vgl. auch Magistratsakten Τ 2056 II: 21. Bericht der Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen, Frankfurt 1910, S. 7.
Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich
417
ansteigen lassen, wenn auch die Wohnungen, die aufgrund solcher baupolizeilichen Vorschriften erstellt wurden, wegen der weiten Hofflächen und geringen Gebäudehöhen wesentliche Vorzüge gegenüber denen, „die auf Grund der für die inneren Stadtteile gültigen Bauordnungen erbaut sind", bieten 77 . Hierbei geht es - anders ausgedrückt - immer um die auseinanderklaffende Schere zwischen kostendeckender Miete und der Miete, die das Einkommen eines Durchschnittsarbeiters tragen kann 78 . Auch spielt die infrastrukturelle Entwicklung der Stadt Frankfurt - hier besonders der Nahverkehr - eine nicht unmaßgebliche Rolle 79 . Gerade die Eingemeindungspolitik Frankfurts warf die Frage der günstigen Transportmittel zwischen Wohnort und Arbeitsstätte auf. Man wies von seiten der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften mehrfach darauf hin, daß man für ausreichende Transportkapazitäten zu sorgen habe, wenn man Arbeiterwohnungen im weiteren Umkreis der Stadt fördern oder errichten lasse 80 . Dies hat die Stadt auch für einige Projekte der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen direkt geleistet. Es ist hier nicht Aufgabe, den gesamten Raum der oben genannten Aspekte der Wohnungspolitik zu erarbeiten, zumal die ihnen zugrundeliegenden Intentionen der Stadt und ihre Auswirkungen zum größten Teil nicht der städtischen Wohnungsfürsorge alleine gelten. Ähnliches gilt für die kommunale Bodenpolitik. Bereits die Eingemeindungen (s. Tabelle 10) waren zum Teil, wie oben angemerkt, unter dem Gesichtspunkt erfolgt, Baugelände für den Bau von Kleinwohnungen zu erlangen, und sind deshalb als bodenpolitische Maßnahme der Stadt anzusehen. Nun hat Frankfurt, wie alle anderen Großkommunen des deutschen Reiches, den kommunalen Grundbesitz nicht allein unter wohnungspolitischen Gesichtspunkten erworben. Dies allein wird schon durch die Finanzierung der Infrastrukturausgaben, wie sie hier gezeigt wurden, deutlich. Es läßt sich darüber hinaus nicht nachweisen, ob und in welchem Ausmaß Baugelände für den Kleinwohnungsbau angekauft wurde 81 .
77
Magistratsakten Τ 2056 II, Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen 1909. 20. Bericht des Vorstandes dieser Aktiengesellschaft. - Vgl. hierzu auch: Verhandlungen auf dem 12. Verbandstage des Verbandes der Baugenossenschaften Deutschlands zu Frankfurt a.M. am 19.7.1907, Magistratsakten Τ 2067. S. 16. 78 Die Wohnungsverhältnisse der ärmsten Klassen in Frankfurt a.M. und ihre Reform durch kommunale Fürsorge. Nach den Ergebnissen einer statistischen Erhebung des Frankfurter Mietervereins im Jahre 1898, hrsg. vom Vorstand, Frankfurt 1899, S. 37: „Wenn z.B. in dem Wohnviertel der äußeren Zone der Bauordnung ein Haus mit Parterre und zwei Obergeschossen errichtet wird, welches in jedem Stockwerke je zwei Wohnungen enthält, so dürfen nach der jetzigen Bauordnung nur 2/10 dieser Fläche bebaut werden. 8 / 1 0 müssen als Hof frei liegenbleiben. Das geht entschieden zu weit. Durch solche Vorschriften müssen die Wohnungen erheblich verteuert werden. Das schlimmste aber an diesen Vorschriften ist, daß sie direkt eine Prämie auf Nichterrichtung kleiner Wohnungen setzen." 79 Die Wohnungsverhältnisse der ärmsten Klassen (wie Anm. 78) S. 4Iff. so Magistratsakten Τ 2065 I, Bericht des Vorstandes der Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen 1910, S. 7. 81 Es heißt in einer Schrift des Frankfurter Mietervereins, die anhand einer statistischen Erhebung über die Wohnungsverhältnisse erstellt wurde, S. 40: „Dank der großen Ankäufe, welche Stadt und Stiftungen seit einer Reihe von Jahren systematisch gemacht haben, sind sie jetzt in allen Richtungen in der nächsten Umgebung der Stadt überaus reichlich angesiedelt."
418
Walter Steitz
T a b e l l e 10 Eingemeindungen Frankfurts 1877-1910 Gemarkungsname Frankfurt
Tag der Eingemeindung
1870
Bornheim Bockenheim Niederrad Oberrad Seckbach Rödelheim Hausen Praunheim Heddernheim Ginnheim Eschersheim Eckenheim Preungesheim Niederursel Bonames Berkersheim Frankfurt
1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1. 1.
1.1877 4.1895 7.1900 7.1900 7.1900 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910 4.1910
1910
QUELLE: Dieter
REBENTISCH
(wie A n m . 1) T a b e l l e
Fläche in h a
E i n w o h n e r z a h l im J a h r der Eingemeindung
7.005
84.700
445 590 291 273 808 479 131 434 244 358 356 379 368 683 316 317
11.300 20.978 8.877 8.407 3.098 10.067 2.050 1.413 5.729 2 .695 3.567 3.445 2.643 1. 026 1.261 441
13.477
414.576
10, S.
99.
Maßgebend bleibt vielmehr, ob, in welchem Ausmaß und zu welchen Bedingungen die Stadt Frankfurt städtischen Grund und Boden für den Kleinwohnungsbau, bzw. für den gemeinnützigen Wohnungsbau abgegeben hat, um eben u.a. der viel beklagten Bodenspekulation, die die Baugeländepreise in die Höhe treibt, zu begegnen 82 . Wie Tabelle 11 ergibt, hat Frankfurt - in einer zweiten Phase seiner Wohnungspolitik (vgl. weiter unten) beginnend ab 1900 insgesamt 122.716 qm städtischen Bodens für den Kleinwohnungsbau an gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, -vereine oder an die Eisenbahnverwaltung abgegeben. Frankfurt liegt damit, von der Fläche her gesehen und Berlin ausgenommen, an dritter Stelle der von Richard Kuczynski 1916 ausgewählten Städte: so vergab Stettin von 1901-1913 178.570 qm und Köln im gleichen Zeitraum 128.513 qm 83 . Leider gibt es keine Daten, die etwas über den Verkaufspreis aussagen. Lag er unter dem ortsüblichen, in dem jeweiligen Stadtbezirk herrschenden Preis? Da die gemeinnützigen Baugesellschaften immer wieder auf Abgabe städtischen Baugeländes drängten, scheinen die Preise hierfür unter den allgemeinen Marktpreisen gelegen zu haben. Ein weiterer Hinweis für die preisgünstige Abgabe städtischen Baugeländes bietet die oft artikulierte Intention des Magistrats, mit dieser Vergabe von Baugelände für den Kleinwohnungsbau der Bodenspekulation zu begegnen und damit den Kleinwohnungsbau erst zu ermöglichen.
82
83
Vgl. stellvertretend für viele Äußerungen auf diesem Gebiet: Magistratsakten Τ 2066, Volks-, Bau- und Sparverein 1901-1930, Erster Geschäftsbericht 1901. Τ 2068 I Aktiengesellschaft Hellerhof 1901-1904. Denkschrift Adickes: „Wie können städtische Geldmittel und städtischer Kredit der Förderung des Wohnungswesens in zweckmäßiger Weise dienstbar gemacht werden?" 1900. R . KUCZYNSKI, Das Wohnungswesen und die Gemeinden in Preußen, 2 . Teil, Städtische Wohnungsfürsorge, Breslau 1916, S. 34 (Schriften des Verbandes deutscher Städtestatistiker, H. 4).
419
K o m m u n a l e Wohnungspolitik im Kaiserreich
Jedenfalls hat die Stadt mit dem Verkauf in einigen Fällen weitere Vergünstigungen eingeräumt. So wurden beim Verkauf eines Geländes von 3.120 qm an die Frankfurter Gemeinnützige Baugesellschaft im Jahre 1906 im Kaufpreis die Beiträge für die Straßenanlage und -Unterhaltung sowie für die Kanalbaukosten eingeschlossen (s. Übersicht Nr. 1)84. Auf der anderen Seite werden in den Kaufverträgen Bau- und Benutzungsvorschriften eingeschlossen. Die Stadtkämmerei behält sich über die baupolizeiliche Prüfung hinaus die Genehmigung der Baupläne der auf den von der Stadt abgegebenen Baugrundstücken zu errichtenden Wohnungsbauten vor 85 . Und die städtische Baubehörde ist berechtigt, die entsprechende Bauausführung zu kontrollieren 86 . Der Käufer muß die Bauwerke in ordnungsgemäßem Zustand erhalten 87. T a b e l l e 11 Verkauf städtischen Geländes für den Kleinwohnungsbau in Frankfurt a.M. 1901-1913 Jahr Grösse des in Verkaufs qm 1901 1905 1909
Käufer
5.499
Beamtenwohnungsvereiη
1903 1910
5 . 522
Aktienbaugesellschaft f ü r k l e i n e Wohnungen
1906
3 .120
F r a n k f u r t e r gemeinnützige Baugesellschaft
1908 1909
54.648
1913
3.548
1913 1913 Summe
222.740
Wiederkaufsrecht
4 0 , 51
nein
nein
2 6 4 . 512
4 7 , 90
nein
nein
700.000
224,36
nein
nein
V o l k s - , B a u - und S p a r - 1 2 4 4 . 6 2 0 verein Frankfurt
2 2 , 78
nein
ja
F r a n k f u r t e r gemeinnützige Baugesellschaft
117.793
3 3 , 20
rein
nein
39.554
Gemeinnützige Bauges e l l s c h a f t Griesheim
197.770
5, 00
nein
nein
10.625
Κ gl.Eisenbahndirektion Frankfurt
411.350
3 8 , 00
nein
nein
127.716
QUELLE: R i c h a r d KUCZYNSKI
84
Verkaufspreis Baugelder der Stadt i n Mark i n s g e s a m t p r o gm
( w i e Anm. 8 3 ) ,
S.
36.
KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 44. - Vgl. Magistratsakten Τ 2054, Frankfurter Gemeinnützige
Baugesellschaft. KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 55. - Magistratsakten Τ 2053-55, Τ 20561, II, Τ 2070-71, Τ 2073 I. β« KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 56. Vgl. Fußnote 53. 87 KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 57. Vgl. Fußnote 53.
420
Walter Steitz Übersicht 1 Städtische Wohnungsfürsorge in Frankfurt
Städtischer
1904 - 1913: 4 Häuser m i t zimmerzahl: 4 a)
Kleinwohnungebau
V e r k a u f von s t ä d t i s c h e m Baugel ä n d e f ü r Kleinwohnungsbau Vergabe städtischen Erbbaurecht
Geländes
32 Wohnungen;
Hcchst-
1901 - 1913; 128.382 qm an v e r s c h i e d e n e nützige Baugesellschaften. V e r k a u f s p r e i s : 3 . 1 6 1 . 0 5 1 Mark b)
gemein-
gemeinnützige Baui n : 181.581 qm an v e r s c h i e d e n e g e s e l l s c h a f t e n und p r i v a t e Beamte. E r b b a u z i n s : i n s g e s a m t 182.283 Mark c)
E r r i c h t u n g von H y p o t h e k e n - , G r u n d r e n t e n a n e t a l t e n o d e r anderen Darlehnskassen
1900 E r b b a u d a r l e h n s k a s s e c ) 12. 9.1913 Errichtung e i n e s s t ä d t i s c h e n Hypothekenamtes mit der Beteiligung der Stadt an d e r B e s c h a f f u n g von z w e i t e n Hypotheken d ) . D i e D a r l e h e n wurden nur f ü r den Kleinwohnungsbau v e r g e b e n . e)
H e r g a b e von s o n s t i g e n H y p o t h e ken f ü r den Kleinv.ohnungsbau
7 . 6 0 2 . 3 2 1 M. Hypotheken für Erbbaugebäude c ) . 1901 - 1913 wurden gemeinnützigen Bauvereinen und - g e n o s s e n s c h a f t e n 2.249.095 Mark und von 1903 - 1913 an 184 Beamte, L e h r e r und P r i v a t p e r s o n e n 5 . 5 5 4 . 7 2 5 M. a l s Hypothek v e r g e b e n , f )
Erwerb von A k t i e n o d e r A n t e i l s c h e i n e n von g e m e i n n ü t z i g e n Bau- und Wohnungsvereinen
499.750 Mark Aktienübernahme von Baugesellschaften, g)
E r l e i c h t e r u n g von Z a h l u n g s b e dingungen und Ermässigung von Strassenbau-, Kanalbaukosten, - g e b ü h r e n , W a s s e r g e l d , Baupol i z e i g e b ü h r e n , Grund- und Ums a t z s t e u e r ermässigung
Der E r b b a u b e r e c h t i g t e trägt keine Eeiträge S t r a s s e n e r h a l t u n g s k o s t e n und K a n a l b a u k o s t e n ,
Bau- und
Die Stadtkämmerei b e h ä l t s i c h v o r - u n b e s c h a d e t d e r b a u p o l i z e i l i c h e n P r ü f u n g - d i e Baupläne d e r auf B a u g e l ä n d e , das d i e S t a d t zum K l e i n w o h n u n g bau i n E r b b a u r e c h t v e r g e b e n h a t , zu g e n e h m i g e n . Zudem h a t d i e S t a d t das R e c h t , d i e p l a n m ä s s i g e und s o l i d e Bebauung zu k o n t r o l l i e r e n ; d e r K ä u f e r hat e i n e Feuerversicherung a b z u s c h l i e s s e n . i) Bei Verkauf d e s Baugeländes an den V o l k s - B a u und S p a r v e r e i n wurde d i e G e n e m i g u n g s p f l i c h t f ü r die Parzellierung auferlegt j ) . Feuerversicher u n g s p f l i c h t f ü r Erbbaupächter, k) Verpflichtung privater E r b b a u p ä c h t e r E i n - oder Z w e i f a m i l i e n h ä u s e r zu e r r i c h t e n . 1 )
Benutzungsvorschriften
W i e d e r v e r k a u f s r e c h t und V e r kaufsbeschränkungen
gemeinnützigen
zu h)
Das W i e d e r v e r k a u f s r e c h t kann e r s t m a l s nach 25 J a h r e n , dann j e w e i l s von 5 zu 5 Jahren g e l t e n d gemacht w e r d e n . Vor dem 51. Jahr s o l l das Wied e r v e r k a u f s r e c h t e r s t dann ausgeübt werden,wenn e i n besonderes ö f f e n t l i c h e s I n t e r e s s e v o r l i e g t . F r a n k f u r t h a t i n einem V e r t r a g d i e Rückkaufsumme f e s t g e l e g t .
a ) V g l . Tab. N r . 1 D i e 1904 e r b a u t e n 3 Dreizimmerwohnungen k o s t e t e n 564, 588 und 600 Mark M i e t e : Kuczynski ( w i e Anm. 8 3 ) , S. 12. Baukosten i n s g e s a m t 906.823 M. b ) V g l . Tab. N r . 2. K a u f p r e i s s c h l i e s s t B e t r ä g e f ü r S t r a s s e n a n l a g e n , - u n t e r h a l t , K a n a l b a u k o s t e n e i n . - K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S, 44. c ) V g l . Tab. N r . 3. Die V e r g a b e i n Erbbau w i r d i n F r a n k f u r t durch d i e im J a h r e 1900 g e g r ü n d e t e E r b b a u d a r l e h e n s k a s s e f i n a n z i e r t . K u c z y n s k i ( w i e Anm.83) S . 6 9 . F r a n k f u r t g e w ä h r t i n d e r R e g e l e i n D a r l e h e n b i s zu 75%, K u c z y n s k i ( w i e Anm.83 S. 9 1 . V g l . auch Tab. 1 2 . D i e D i f f e r e n z z w i s c h e n Ü b e r s i c h t 1 und d i e s e r T a b e l l e konnte n i c h t a u f g e k l ä r t werden. d ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 147. e ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 191. f ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 294. H i e r w i r d b e i K. n i c h t d e u t l i c h , ob d i e Hypotheken f ü r d i e Beamten, L e h r e r und P r i v a t p e r s . n i c h t dem Eigenheimbau d i e n t e n g ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 325. j ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 6 3 ) S . 59. h ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 109. k ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 99, 101. i ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 55, 56, 1 0 0 . 1 ) K u c z y n s k i ( w i e Anm. 8 3 ) S . 104.
Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich
421
Beim Verkauf von 54.648 qm an den Volks-, Bau- und Sparverein zur Errichtung kleiner Wohnungen wird die Aufteilung der Bauparzellen und der Wohnräume sowie ihre qualitative Ausgestaltung vorgeschrieben 8 ». Schließlich hat die Stadt Frankfurt im vorgenannten Vertrag mit dem Volks-, Bauund Sparverein ein Wiederkaufsrecht mit festgelegtem Rückkaufspreis und Zeitpunktgrenze festgelegt 89 . Da auf dem Wege des Verkaufs nach Ansicht der städtischen Behörden die Bau- und Bodenspekulation nicht verhindert würde und wahrscheinlich maßgebend unter dem Einfluß Adickes, der im Jahre 1900 die Errichtung einer Erbbaudarlehnskasse forderte und die Bedingungen der Vergabe von städtischem Grund und Boden im Erbbaurecht formulierte 90 , förderte die Stadt Frankfurt nach 1900 den Klein Wohnungsbau vorwiegend durch Vergabe von städtischem Baugelände im Erbbaurecht. Mit der Beschränkung des Kredits auf diejenigen, die ein Erbbaurecht auf städtischem Boden erworben haben, sollte der Erbbaudarlehnskasse die nötige Kreditsicherung zu Teil werden 91 . Für die Vergabe im Erbbaurecht formulierte man allgemeine Vergabebedingungen : „Für die Bemessung des Erbpachtzinses ist eine 2 l/2%ige Verzinsung des Grund und Bodens (einschließlich der Freilegungskosten) und eine 3 l/2%ige Verzinsung der Straßenherstellungskosten und der Kanalbeiträge maßgebend; die Baugelder sind mit 3 1/2 bzw. 4% zu verzinsen und mit 0,51% bzw. 0,42% zu amortisieren (...). 1/4 (bei Beamten und Lehrern ein 1/10) des Baukapitals ist vom Erbbauberechtigten selbst aufzubringen. Diese Baugelder werden abzüglich eventueller Entschädigungsansprüche der Stadt bei Ablauf der Erbpacht zurückgezahlt, seit Mitte 1902 nur unter der Bedingung einer l/2%igen Ansammlung. (Zur Sicherung des Darlehns haben die Schuldner der Stadtgemeinde an dem Erbbaurecht eine erste Hypothek zu übernehmen, deren Eintragung im Grundbuch einschließlich der Unterwerfung unter die Zwangsvollstreckung von den Vertragsschließungen zu beantragen und zu bewilligen ist.) Im übrigen fallen die Bauwerke beim Erlöschen des Erbbaurechtes ohne Entschädigung an die Stadt. Diese ist berechtigt nach Ablauf von 15 Jahren und alsdann von jeweils 5 zu 5 Jahren gegen Übernahme der hypthekarischen Belastung und des aus eigenem Vermögen bestrittenen Teils des Baukapitals (seit Mitte 1902 unter der Bedingung einer 1/2% igen Ansammlung) die Gebäude zurückzuerwerben; außerdem hat sie das Vorkaufsrecht (...). Die Bebauung hat sofort nach vorzulegendem Plane zu geschehen. Die Mietpreise werden vertragsmäßig festgesetzt und dürfen nicht erhöht werden. Die Gebäude sind während der Erbbauzeit in einem guten Zustande zu erhalten. Außerdem hat sich die Stadt bei einzelnen Gesellschaften das 88
89 90
KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 59. - Magistratsakten Τ 2066, Volks-, Bau- und Sparverein. Generalversammlung vom 24.3.1909, S. 7, Bericht der Stadtkämmerei vom 15.9.1909, Nr. 9160. Siehe Anm. 56. - KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 65f. Magistratsakten 2068, Aktiengesellschaft Hellerhof. Denkschrift Adickes vom 7.7.1900. Hiernach soll u.a. die zu errichtende Baukasse den Bauträgern, welche städtisches Baugelände im Erbbaurecht erwerben, die Beschaffung des Baugeldes erleichtern. Die Erbbauberechtigten sollen etwa 1/10 Kapital nachweisen; die übrigen 4 / 1 0 der zweiten Hälfte des Baugeldes werden von der Kasse „gegen Begründung auf das Erbbaurecht" als Darlehn vergeben. Hierbei sei dahingestellt, ob und in welchen Fällen die Kasse auch die ersten 5/10 ihrerseits verleiht oder bezüglich derselben auf andere Hypothekengeber, z.B. auf die städtische Sparkasse verweist. Vgl. Anm. 26
422
Walter Steitz
Vorrecht auf Ermietung von Wohnungen für ihre Angestellten gesichert."92. Das stipulierte Rückkaufsrecht der Stadt war auf etwa 30 Jahre festgelegt, um nicht der Spekulation doch wieder Tür und Tor zu öffnen 93. Die Dauer der Erbbauverträge ist in der Regel auf 60 Jahre, in geeigneten Fällen auf 80 Jahre zu bemessen 94 . Die Baupläne der Erbbauberechtigten unterliegen der Genehmigung des städtischen Hochbauamtes, das die Bebauung überwachen darf 95 . Zum Teil wurde den Erbbauberechtigten die Verpflichtung zum Kleinwohnungsbau auferlegt, allen aber die Auflage gemacht, Wohngebäude zu errichten 96. Wie Tabelle 12 ergibt, hat Frankfurt in der Zeit von 1901 bis 1913 165.145 qm (die Differenz zu Übersicht Nr. 1 konnte nicht aufgeklärt werden) im Erbbaurecht verpachtet. Die Stadt gewährte an Hypothekendarlehen 7.155.022 Mark an die Erbbauberechtigten97. Aus Tabelle 13 wird das Verhältnis dieser Summe zu den Einnahme- und Ausgabedaten des städtischen Haushalts sichtbar. So betrug der Anteil der Hypothekendarlehen an den außerordentlichen Ausgaben der Stadt Frankfurt im Jahre 1902 2,86%, 1903 2,85%, 1904 37,00% und 1905 5,16%. Für den Anteil dieser Darlehen an den direkten Steuern stellen sich die Zahlen wie folgt dar: 1902 5,5%, 1903 5,5%, 1904 73,9% und 1905 9,9%. Der hohe Anteil des Jahres 1904 kann nicht als Leistungsgröße für dieses Jahr angesehen, sondern muß auf die Jahre vorher und nachher verteilt werden. Zu diesen Darlehen kommen Befreiungen von Straßenherstellungs- und Unterhaltungskosten und Kanalisationsgebühren98. Auf der anderen Seite hat die Stadt bei einigen Erbbauverträgen die Höhe der Mieten festgelegt " . Die in Tabelle 12 aufgeführten Hypothekendarlehnssummen flössen zum Teil nicht direkt aus dem städtischen Haushalt, sondern wurden aus Sonderfonds bzw. hauptsächlich von der 1900 gegründeten Erbbaudarlehnskasse finanziert, die zudem Zugang zum freien Kapitalmarkt hatte 10°. Aber dieses Verhältnis zeigt doch das zum Teil (1904) erhebliche Engagement der Stadt im Kleinwohnungsbau, denn die Kredite wurden ja preisgünstig, d.h. zinsgünstig vergeben, so daß der Anteil der vom freien Kapitalmarkt bezogenen Summe gering gewesen sein dürfte. Allerdings muß man einräumen, daß ein nicht geringer Teil der erstellten Wohnungen den Bediensteten der Stadt vorbehalten war.
92
Statistisches Handbuch der Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt 1907, S. 161, 163. - Vgl. auch KUCZYNSKI ( w i e A N M . 8 3 ) S . 9 1 .
«
KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 8 7 .
«
KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 8 1 .
95
KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 1 0 2 . KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 1 0 5 .
»7 KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 2 9 4 . 98
KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 1 0 9 .
99
Magistratsakten Τ 2o76, Frankfurter Wohnungsgenossenschaft, Schreiben der Stadtkämmerei vom 21.7.1902. Magistratsakten Τ 2066, Volks-, Bau- und Sparverein 1901. Magistratsakten Τ 2066, Brief des Volks-, Bau- und Sparvereins vom 13.8.1902 an den Magistrat mit der Bitte, die festgelegten Mieten erhöhen zu dürfen, da durch die Ausstattung der Räume die alte Miethöhe nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte. Magistratsakten Τ 2073 I, Mietheim-Aktiengesellchaft. Schreiben der Stadtkämmerei vom 15.10.1909.
Ι«» KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S . 8 9 .
Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich
Tabelle
423
12
Vergabe von städtischem Gelände im Erbbaurecht in Frankfurt a.M. 1901-1913 . , G r ö s s e Pachtin qm dauer Jahre
Zahl Jahr Erbbaupächter der der Fäl- Her1e g abe 1
1901
Frankf.Gemeinnutz.Bauges.sch.
6. 083
78
1
1901
AG
2 175
62
1
1902
Volks-,Bau- und
1 633
1
χ902
Frankfurter
1
1902
Aktienbauges.f.kleine
1
1903
Volks-,Bau- und
14 11
1903
Beamte und Lehrer Privatpersonen
1
χ904
Volks-,Bau- und
32 5
1904
B e a m t e und Lehrer Privatpersonen
1
1905
Volks-,Bau- und
11 14
1905
Beamte und Lehrer Privatpersonen
1
1906
4 5
Erbbauzins in Mark insgesamt pro qm 66
b)
2.044,41
94
c)
63
1.428,88
88
225.000
2. 204
61
2.479,50
113
229.320
W o h n u n g e η 1 296
71
5.000,—
386
300.000
61
1.360,—
88
139.500
61 61 d) 2 7 . 9 9 3 , —
70145
645.500
88
129.600
"Frankenallee" Sparverein
Wohnungs-GmbH
Sparverein ) )
1 541 11 943
4.000,—
Hypotheken darlehen v. d. Stadt
1 278
61
1.124.—
14 276
61 61
e)
3 654
61
4.384,—
5 860
61 61
e)
Frankf.Wohnungsgenossenschaft
2 071
61
2.400,—
1906
Beamte und Lehrer Privatpersonen
3 407
61 61
e)
32 4
1907
Beamte und Lehrer Privatpersonen
13 421
61 61
14.588,—
70145
1.158.840
2
1908
Beamte und
860
61
1.119,—
130
72.810
1
1909
Mietheim - A.G.
6 050
71
5.627,—
93
3
1909
Privatpersonen
33 557
61
49.570,—
59-150
3 4
1911
Beamte und Lehrer Privatpersonen
13 408
61 61
4.968,—
10-145
1
1912
Volks-,Bau- und
3 674
60
3.674,—
100
324.900
χ
1912
Frankf.Wohnungsgenossenschaft
784
60
1.067,—
136
111.375
1
1912
Str.bahner
1 948
60
2.143,—
110
192.600
15 9
1912
B e a m t e und Lehrer Privatpersonen
15 392
61 61
16.607,—
Χ
1913
Str.bahner
2 097
61
3.460,—
17 9
1913
B e a m t e und Lehrer Privatpersonen
61 61
19.622,—
Summe
Sparverein ) )
Sparverein ) )
) )
Lehrer
Bau-
Bau-
) )
Sparverein
u.Sparverein ) )
u.Sparverein ) )
16
533
165 145
e) 120
970.400 138.000 397.000
e) 116 e)
85-165 165
70.000 188.000
f)
157.670
612.740 388.800
70220 1.352.765 7.155.022
a) D a s g e s a m t e b i s z u m 3 1 . M ä r z 1 9 1 3 v o n F r a n k f u r t i n E r b b a u r e c h t v e r g e b e n e G e lände ( e i n s c h l i e s s l i c h d e s n i c h t für W o h n h ä u s e r b e s t i m m t e n ) hatte zu d i e s e m Zeitpunkt einen Wert von 4.200.826 Mark. b ) D i e S t a d t h a t t e 117 A k t i e n zu 1 . 7 0 0 M u n d z w e i A k t i e n zu 4 2 5 M m i t 1 9 9 . 7 5 0 M übernommen. c) D i e S t a d t h a t t e d i e G a r a n t i e f ü r 2 . 1 0 0 . 0 0 0 M O b l i g a t i o n e n ü b e r n o m m e n . A u s s e r d i e s e m G e l ä n d e h a t t e d i e G e s e l l s c h a f t n o c h 20.481 q m vom W a i s e n h a u s ' in Erbpacht . d) F ü r 1 9 0 3 - 1 9 0 6 . e) B e i 1 9 0 3 i n b e g r i f f e n . f) D i e S t a d t h a t t e d i e G a r a n t i e f ü r 6 1 2 . 0 0 0 M O b l i g a t i o n e n ü b e r n o m m e n .
424
W a l t e r Steitz
T a b e l l e 13 Verhältnis der städtischen Hypothekendarlehensumme an Erbbauberechtigte auf städtischem Grund und Boden zur Förderung des Kleinwohnungsbaus zu den Einnahme- und Ausgabegrößen des städtischen Haushalts in Frankfurt a.M. für die Zeit 1902-1905 (in Mark/%) 1 Jahr
2 Hypothekendarlehen
1902 754.320 785.000 1903 1904 1 . 1 0 0 . 0 0 0 1905 535.000
4
3 Direkte Steuern
Hyp.darl. in % der direkten Steuern
13.836.444 14.397.486 14.886.377 18.087.868
QUELLE: Statistisches Handbuch
5,5 5,5 7,4 3,0
5
6
7
8
Summe aller Hyp.darl. Ausgaben Hyp.darSteuereinin % der Geder 1 ehen n a h m e n und s a m t s t e u e r · Stadt in % der Gebühren einnahmen (Ordin.) A u s g a b e n 16.894.508 17.567.329 19.200.350 22.684.087
4,5 4,5 5,7 2,4
26.368.558 27.594.138 29.731.486 34.454.025
2,86 2,85 3,70 1,55
(wie b e i T a b e l l e 1) S. 26,283 u n d Tab. 7, 96 h i e r
Zusätzlich zur genannten Erbbaudarlehnskasse errichtete die Stadt 1913 ein Hypothekenamt, dem von der Frankfurter Hypothekenbank jährlich 2.000.000 Mark zur Verfügung gestellt wurde. Da dieses Amt seine Tätigkeit erst nach 1914 aufnahm, fällt eine weitere Erörterung seiner Wirkung hier weg 101. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich die Stadt Frankfurt durch Übernahme von Aktien an gemeinnützigen Wohn- und Baugesellschaften. So übernahm sie von der Gemeinnützigen Baugesellschaft Aktien im Gesamtwert von 199.500 Mark, von der Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen 200.000 Mark und von der Aktiengesellschaft „Hellerhof" 100.000 Mark 102. Ein weitgreifendes Engagement der Stadt zeigt der Vertrag mit der Internationalen Baugesellschaft in Frankfurt aus dem Jahre 1901. Das Bauvorhaben erreichte die Summe von 4,3 Millionen Mark, die wie folgt aufgebracht werden sollten. Es wurde eine besondere Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 900.000 Mark gegründet, die „Wohnungsgesellschaft Hellerhof" (§ 3) 103 . Die Internationale Baugesellschaft übernimmt Aktien im Werte von 800.000, die Stadt im Werte von 100.000 Mark. Die Stadt Frankfurt zahlt für diese Aktien lediglich 34.000 Mark, übernimmt aber für die Restsumme ( = 75%) die Herstellung der Straßenkanäle. Für die restliche Bausumme von 3,4 Millionen nimmt die Wohnungsgesellschaft Hellerhof eine Anleihe auf, die die Stadt garantiert und deren Verwendung genau vorgeschrieben wird. Der Reingewinn soll wie folgt verteilt werden: 1.1 Zunächst ist daraus die Einlage in den gesetzlichen Reservefonds zu bestreiten ; 1.2 sodann ist eine feste Summe von 6000 M an die Stadt abzuführen, jedoch nicht länger als bis zum Schlüsse des Geschäftsjahres 1933 ;
'0' KUCZYNSKI ( w i e A n m . 8 3 ) S. 155, s. 182. 102 KUCZYNSKI ( w i e A n m . 83). - M a g i s t r a t s a k t e n Τ 2 0 5 6 II u n d Τ 2 0 6 8 I. - Vgl. F ü n f z i g Jahre A k t i e n g e s e l l s c h a f t H e l l e r h o f ( 1 9 0 2 - 1 9 5 2 ) , Frankfurt u n d B e t z b a c h 1952. - S e c h z i g Jahre A k t i e n g e s e l l s c h a f t f ü r k l e i n e W o h n u n g e n . Frankfurt a m M a i n 1 8 9 0 - 1 9 5 0 , F r a n k f u r t 1950. 103 M a g i s t r a t s a k t e n Τ 2 0 6 8 I. Vertrag z w i s c h e n der S t a d t g e m e i n d e F r a n k f u r t u n d d e r Intern a t i o n a l e n B a u g e s e l l s c h a f t z u F r a n k f u r t 1901.
Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich
425
1.3 alsdann ist eine Dividende auf die Aktien bis zum Höchstbetrag von 4 1/2% zu zahlen, während 1.4 der Rest wiederum an die Stadt abzuführen ist. 2. Die Stadt ist verpflichtet, die ihr nach 1.2 und 1.4 zukommenden Zahlungen in einen zu begründenden städtischen Aktien-Erwerbungsfond zu legen und alljährlich die gesamten Mittel dieses Fonds einschließlich der auf die so erworbenen Aktien entfallenden Dividenden zum Ankauf von Aktien zu verwenden, wie andererseits die Aktionäre statutarisch zur Uebereignung ihrer durch das Loos bestimmten Aktien an die Stadt zu verpflichten sind. Sobald die Stadt auf diese Weise in den Besitz von 350 Stück Aktien - außer den ihr nach § 3 zufallenden 100 Stück - gelangt ist, ist sie verpflichtet, zum weiteren Ankauf von Aktien alljährlich mindestens einen Betrag zu verwenden, welcher = 4 1/2% vom Nominalbetrage der bereits erworbenen Aktien + 13.000 M. ist, gleichviel welche Dividende auf die Aktien zur Vertheilung gelangt und ohne Rücksicht auf die im städtischen Aktien-Erwerbungsfond vorhandenen Geldmittel" ,04 . Damit erwirbt die Stadtgemeinde allmählich die Wohnungsgesellschaft Hellerhof, ein Finanzierungsmodus, den Preußen bei der staatlichen Unterstützung des Eisenbahnbaus in den Jahrzehnten vorher ebenso anwandte. Es wurde allerdings kritisiert, daß die Stadt Frankfurt mit diesem Vertrag zu hohe Baupreise, die sich in der 4%igen Dividende niedergeschlagen haben, akzeptiert habe 105 . Garantieleistungen übernahm die Stadt auch in zwei anderen Fällen: für das Obligationskapital der Akteingesellschaft Frankenallee in Höhe von 2,1 Millionen Mark, für die Zinszahlung und Amortisation dieses Kapitals und für die Obligationen der Miethausaktiengesellschaft in Höhe von 612.000 Mark i06. Gegenüber der oben beschriebenen Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus nimmt sich der städtische Eigenbau recht bescheiden aus, berücksichtigt man nicht die für die städtischen Bediensteten errichteten Wohnungen. In den Jahren von 1904 bis 1913 hat die Stadt für den allgemeinen Kleinwohnungsbau insgesamt 32 Wohnungen errichtet, deren Mieten durchweg nicht immer niedriger lagen als die der nichtstädtischen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften; der Gesamtkostenpreis, also einschließlich Bodenpreis betrug 906.823 Mark (s. Tabelle 14). Im gleichen Zeitraum wurden von nichtstädtischen Bau- und Wohnungsgesellschaften oder -vereinen 2.754 Wohnungen errichtet (s. Tabelle 17). Für den gesamten, hier untersuchten Zeitraum ergibt sich folgende Relation: die nichtstädtischen Gesellschaften und Vereine bauten von 1868 bis 1914 6.558 Wohnungen (s. Tabelle 15). Die Stadtgemeinde errichtete von 1887 bis 1914 477 Wohnungen (s. Tabelle 16). In dieser Zahl sind allerdings die für die städtischen Bediensteten errichteten Wohnungen eingeschlossen 107. 104 Magistratsakten Τ 2068 I, Vertrag zwischen der Stadtgemeinde Frankfurt und der Internationalen Baugesellschaft zu Frankfurt, S. 2 und S. 3. '°5 Magistratsakten Τ 2068 I, Aktiengesellschaft Hellerhof 1901-1904. Offener Brief von I.H. Hebler an die Stadtverordneten, Frankfurt den 8. August 1904. ιοί Magistratsakten Τ 2073 I, Mietheim-Aktiengesellschaft, Schreiben der Stadtkämmerei vom 15.10.1909. - KUCZYNSKI (wie Anm. 83) S. 327. 107 Für den gesamten hier untersuchten Zeitraum, nämlich 1870 bis 1914 liegen keine Zahlen über die für die Allgemeinheit durch die Stadt errichteten Wohnungen vor.
426
Walter Steitz
T a b e l l e 14 Städtischer allgemeiner Kleinwohnungsbau in Frankfurt a.M. 1904-1913 Erbau- Zahl Bewohn- Zahl der Wohnungen Jährlicher Gesamtmietpreis iings- der te Ge- mit ... Wohnräumen der Wohnungen mit jahr Hau- schösse (einschliesslich ... Wohnräumen (einschl. ser Küche) Küche) in Mark 1912 2
3
4 16. However, most of the L.C.C, area was fully built-up and the idea of a London park strategy was quickly forgotten. The French began to hear of the American achievement via the reports of Forestier and Benoît-Lévy in the early 1900s. One of the earliest articles in "Der Städtebau", in 1905, was a long, eulogistic review of the American park achievement by a German official 117 . By this time, the City Beautiful movement as a whole was beginning to attract European attention, if only for its paper qualities. We have already observed the impact of American monumental design on certain British architects, but the interest of German planners was an even bigger tribute. Werner Hegemann, of course, was a constant source of information,
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J. STUBBEN, Vom Städtebau in England. In: J. BRIX and F. GENZMER (eds)., Städtebauliche Vorträge, vol.IV, no. 8,1911, p. 8. See A. FALUDI, 'Vienna's green belt', Transactions of the Bartlett Society, vol.VII, 1968-9, pp. 101-25.
The Garden City, new series, vol.1, 1906, pp. 59-60. "7 Der Städtebau, vol.11, 1905, pp. 113-23.
Urban Planning in Europe and North America
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but the reputation of American planning did not depend upon his advocacy alone. The lavishly produced and profusely illustrated American planning report, designed to inspire a sceptical public, created a strong impression in Germany where "Städtebau" had become so much a dull routine. Betterinformed observers were aware how much of these publications was simply window-dressing, but exhibition organisers loved to give prominence to the intricate plans and stunning views which America could provide. Burnham's Chicago plan of 1909 made the strongest impression of all. It was not simply, however, the superficial side of American planning which made an impact in Europe. The idea of city-wide development plans for established urban areas, of which the Washington and San Francisco schemes were early examples, was a particularly valuable inspiration to those who were struggling to drag Berlin out of the nineteenth century. The density and efficiency of public transport in American cities also suggested how Berlin's residential densities might be broken down. The influential pamphlet, "GroßBerlin", published in 1906 by the city's two architectural associations, drew attention to American planning development 118 . Thereafter, the Berlin planning campaign, partly under Hegemann's guidance, incorporated several American features. The whole idea of holding an exhibition to stir up public concern was American-inspired, and it was no coincidence that Hegemann, who had already helped to put on planning exhibitions in New York and Boston, was invited to organise it. The accompanying planning competition was, of course, typical of German practice, but the brief restricted entrants to the questions of open spaces and communications in the Berlin area. The debate which surrounded the competition had a distinctly transatlantic tone, and some of the entries incorporated American features. Perhaps the most striking innovation proposed in any entry was Rudolf Eberstadt's scheme for a system of green wedges, or interlocking open spaces running from the edge of the city into its very heart, which clearly drew on the American example 119 . With Hegemann's massive report on the Berlin competition giving lavish, indeed effusive, praise to almost everything American, the reputation of American planning in Germany was at its highest yet when war broke out: "Eine objective Betrachtung muß ergeben, daß Deutschland, namentlich aber Groß-Berlin, auf dem Gebiete des Verkehrs- und Freiflächenwesens weit hinter den anglosaxonischen Ländern zurückgeblieben ist (...). Weniger nationale Armut als die Unfähigkeit, ohne Nachhilfe mit dem französisch-absolutistischen Krückstock auszukommen, scheint die Ursache dafür zu sein, daß Deutschland die Führerrolle an die selbstverwaltungsfähigen Angelsachsen abtreten mußte" 12°. For the French, the main lesson to be drawn from American planning was the civic-improvement campaign. In the absence of effective legislation, French urban reformers faced much the same problem as the Americans in trying to stir up public opinion. Although American urban aesthetics, as a gargantuan interpretation of vaguely Beaux-Arts principles, did not impress the French, the idea of an aesthetically-based appeal to the upper classes was very
>'8 IBID., v o l . V I , 1909, p. 127.
Town Planning Review, vol.1, 1910, p. 168. 120 HEGEMANN, o p . c i t . ( 1 9 1 3 ) , p. 3 9 4 .
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appropriate to French, and especially Parisian, circumstances. Georges Benoît-Lévy gave a full report on these methods to the "Section d'hygiène urbaine et rurale" in 1908 121, and the Musée's Parisian open-space and planning campaign was partially modelled on this information. Also consciously based on the American example were the "Société française des espaces libres et des terrains de jeu", founded in 1911122, the "Société des Amis de Paris" and their journal, "Les Amis de Paris", launched in 1911 123, and the unofficial Nancy extension plan 124. Though the British also drew on this example, improvement campaigns like the 'Beautiful Bolton' movement were untypical of a reform activity which continued to concentrate on housing, an area in which America had almost nothing to offer. Chicago-type plans were far too ambitious to be considered, given the paucity of British planning powers even after 1909, and open spaces were not seriously considered outside the context of small residential areas. The poverty of the London planning debate, in comparison with that of Berlin, hindered full recognition of the breadth of American planning, and only in Liverpool, where City Engineer John A. Brodie was working on a city-wide system of planted boulevards linked to parks, were recognisably American techniques brought into use. Nor is this influence surprising, given that Brodie had joined the Liverpool University Department of Civic Design in 1909 125. In fact, wherever we encounter American influence in Britain between about 1905 and 1914, it is almost always linked to the efforts of a school of neo-classicist architects and landscape architects to secure a bigger role in British urban design. This motive very largely accounts for the big American presence secured for the R.I.B.A. Town Planning Conference in 1910, and the lavish praise showered on American efforts at a number of points in its proceedings 126. In relations between Britain and the United States, cultural affinity was outweighed by distance. It was much easier for the British planner to visit Germany than the United States, and only a few leading figures were able to view American efforts at first hand before 1914. Distance also affected the American view of Europe by making news of urban reform heavily dependent on the efforts of intermediaries such as Frederic C. Howe and Charles Mulford Robinson. Until the turn of the century some of the most influential intermediaries were British visitors, including James Bryce, the trenchant critic of urban corruption, and W.T. Stead, the slum reformer. From the 1840s the philanthropic housing movement in New York was closely linked to that of London 127 and the settlement houses were partly staffed by British emigrants or people with long stays in Britain behind them. From the 1890s, however, American urban reform began to pursue a more independent path, with American investigators travelling in greater numbers to Europe. Britain remained an important point of reference, but for physical planning visitors were >2' MUSEÊE SOCIAL, 122 123 124 125 126 127
Annales, vol.XIII, 1 9 0 8 , p. 3 3 0 . Musée Social, Mémoires et Documents, 1912, no.l 1, p. 349. Town Planning Review, vol.11, 1911, p. 235. G. HOTTENGER, Nancy et la question d'extension des villes, Nancy 1913, p. 35. G.E. CHERRY, The Evolution of British Town Planning, Leighton Buzzard 1974, p. 54. See e.g. Royal Institute of British Architects, op.cit., p. III. See R. W . DE FOREST and L . VEILLER (eds.), The Tenement House Problem, vol.1, 1903, pp. 69-118.
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increasingly tempted to study Germany, while young architects were drawn to Paris rather than London. Thus largely secure from the direct intrusion of European ideas, at a time when economic prosperity was eroding American deference to Europe in all but the aesthetic sphere, the leading American reformers could dictate the extent of American exposure to European ideas. An early example of this method was provided by De Forest and Veiller's 1903 report on the New York tenement problem. The authors explained that they had, in line with previous housing inquiries, devoted much attention to European conditions and regulations. They had come to the conclusion, however, that the New York tenement-house problem was the worst in the world, and they therefore proposed that conclusions and remedies should be sought primarily in the history of the tenement house in New York 128. This partial detachment from Europe may do something to explain the deficiencies of American planning, especially with respect to housing; in 1911, for instance, when Raymond Unwin, Thomas Adams and T.H. Mawson were invited over for the Third National Conference on City Planning, they found that, in the absence of the customary strong contribution from Benjamin C. Marsh, they were the only ones to emphasize the social side of planning 129. It also explains how a very precise control mechanism, the Staffelbauordnung, could be adopted in New York in 1916 without its justifying housing-reform ideology. When German example was used in support of reforms to which American traditions were inimical, such as municipal land-ownership and land taxation, it had very little impact. Only in aesthetics did the Americans remain susceptible to European currents which they could not control. This sense of inferiority was succinctly expressed by Burnham when, during the 1901 European tour which he had forced on his colleagues in the Washington Plan Commission, he wrote to his wife: "We have much to learn and much to live out before we equal old England or any place in Europe" 13°. This cringing deference could, however, lead directly to grotesque bravado, as on the occasion when Burnham's committee planning the Chicago exhibition buildings broke up in mad self-congratulation after Augustus St. Gaudens, the sculptor, had suggested that it was "the greatest meeting of artists since the fifteenth century" 1 3 T h i s bravado had its strongest expression in some of the civic-centre schemes of the early 1900s, nearly all of which included a massive dome inspired by St. Peter's or the Invalides. The Chicago exhibition had in fact led to the establishment of an American Academy in Rome, allowing American products of the Ecole des Beaux-Arts, excluded from the Prix de Rome, nevertheless to dog the footsteps of the leading French urban designers. Burnham found as much inspiration in Rome as he did in Paris, and his extraordinary six-hundred-foot high dome in his Chicago civic-centre project formed a direct link between Brunelleschi and Albert Speer. But in Progressive America, as in Nazi Germany, dreams of an ultimate world architecture surpassed the resources available to build it.
'28 IBID., p. 4.
Town Planning Review, vol.11, 1911, p. 213. 130
HINES, o p . c i t . , p. 147.
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j. W. REPS, The Making of Urban America: A History of City Planning in the United States, Princeton 1965, p. 501.
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Planning, even in the New World, had to be content with more modest achievements. 5. Conclusion Our examination of the links between the planning movements of these four heavily urbanised countries has suggested a considerable degree of crossfertilisation. However, it should not obscure the considerable national divergences within the world planning movement. These divergences, to a large extent, grew out of differences in the urbanisation phenomenon, and in institutions, from country to country. For instance, France's general retardation in urban planning must principally be explained by its low level of urbanisation in the later nineteenth century, which prevented urban problems from becoming matters of serious national concern. In the United States, the federal system of government ruled out the possibility of strong, nátional promotion of town planning on the lines which bore fruit in Britain in 1909. In Germany, too, the imperial government was not directly interested in urban planning, but an alternative dynamic was provided by the pre-industrial administrative instrument of the "Stadterweiterungsplan". When, from the 1890s, the "Stadterweiterung" procedure was combined with an at first purely local innovation, the "abgestufte Bauordnung", which emerged from Germany's unusually high building densities, German planning, sustained by that country's prolific urbanisation process, was able to move quickly towards maturity. Planning thus emerges from our examination as principally a national phenomenon, but the processes of innovation diffusion and foreign influence certainly contributed greatly to the rapid generalisation of the planning idea and of modes of planning practice in the last years before the First World War.
S T A D T P L A N U N G IN P O L N I S C H E N 1815 -
GEBIETEN
1914
Von A n d r z e j W y r o b i s z
Der Titel des Beitrags spricht von Städten „in polnischen Gebieten" und nicht „in Polen", denn im 19. Jahrhundert hat Polen als souveräner Staat mit einem bestimmten Territorium nicht existiert. Als Ergebnis der drei von Österreich, Preußen und Rußland in den Jahren 1772, 1793 und 1795 durchgeführten Teilungen wurde der polnische Staat aufgelöst und seine Länder den Gebieten der drei Mächte einverleibt. Die Zeit der napoleonischen Kriege brachte zwar die Bildung des aus annektierten preußischen Landesteilen im Jahre 1807 gebildeten, quasi-souveränen Herzogtums Warschau, das im Jahre 1809 um einen Teil des von Österreich annektierten Gebiets vergrößert wurde. Der Wiener Kongreß 1815 hat das Herzogtum Warschau aber schon wieder liquidiert und die Teilung Polens zwischen Österreich, Preußen und Rußland definitiv besiegelt. Die damals vorgezeichneten Grenzen haben bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs keine Änderungen erfahren. Die Aufteilung der polnischen Gebiete zwischen den drei Mächten war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Städte in diesen Gebieten. Zwar wurden die annektierten polnischen Provinzen nicht sofort in die fremden Staatsgebiete integriert, sie behielten ziemlich lange sogar gewisse Eigenarten, nicht nur was den Charakter der nationalen und sittlichen, sondern auch der wirtschaftlichen, kulturellen und rechtpolitischen Traditionen anbelangt, aber die Entwicklung der polnischen Städte in einer für die Städteplanung so wichtigen Zeit, wie es das 19. Jahrhundert war, verlief doch in den Grenzen dreier unterschiedlicher Staatsorganismen, die sich stark hinsichtlich der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Strukturen unterschieden. Diese Entwicklung unterlag damit den Prozessen der Verstädterung, die für jeden dieser Staaten kennzeichnend waren. Die Sache wurde zusätzlich durch die Tatsache kompliziert, daß aus einem Teil der Gebiete, die zu Rußland kamen, das sog. Kongreßpolen gemacht wurde, das sich in den Jahren 1815-1830 einer ziemlich großen Autonomie erfreute. Es hatte eine eigene Gesetzgebung hinsichtlich der Städte und des Bauwesens, doch gehörte es zum Bestand des russischen Staates und unterstand den Zentralbehörden in Petersburg. Krakau bildete in den Jahren 1815-1846 mit seiner allernächsten Umgebung die formal souveräne Freistadt Krakau mit eigenen Machtbehörden und Gesetzgebung unter dem Schutz der drei Teilungsmächte, bis es 1846 endgültig Österreich einverleibt wurde. Die annektierten großen polnischen Städte, wie Posen, Danzig oder Krakau, die vorher eine bedeutende Rolle gespielt hatten, wurden zu Provinzstädten herabgewürdigt. Das mußte sich natürlich auf die Stadtplanung in jedem Teilgebiet auswirken. Bis heute sind gewisse Unterschiede in der Planung und Bebauung zwischen den Städten in den ehemals russischen, preußischen und österreichischen Teilungsgebieten sichtbar.
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Andrzej Wyrobisz
Karte 1
Freistaat Krakau0815-1848)
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Grenzen des Polnischen Staates vor 1772
·
Grenzen seit dem Wiener Kongreß 1815
In jedem Teilungsgebiet galten andere Bauvorschriften. Anfänglich wichen sie zwar wenig von den Rechtsnormen der polnischen Städte vor den Teilungen ab, mit der Zeit begannen sie sich aber zu differenzieren. Ein grundsätzlicher Umbruch auf dem Gebiet der rechtlichen Regulierung des Bauwesens trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Die starke Entfaltung des Baurechts wurde hervorgerufen durch eine bisher unbekannte Intensität der Industrialisierungs- und städtebaulichen Prozesse. Das damalige Baurecht zielte einerseits auf die Sicherstellung der Freiheit in der Entwicklung der Industrie und wirtschaftlichen Tätigkeit ab, andererseits aber auf die systematische Einschränkung dieser Freiheit im Interesse des Staates und der öffentlichen Belange. Die geltenden Bauvorschriften in den einzelnen Teilungsgebieten unterschieden sich voneinander. Im preußischen Gebiet wurden die Bauvorschriften durch Verordnungen für die einzelnen größeren Städte, ja sogar für kleinere Städte geregelt. In Galizien, d.h. im österreichischen Teilungsgebiet, wurde diese Frage dagegen nur durch lokale Baugesetze
Stadtplanung in polnischen Gebieten 1815 - 1914
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erledigt, die für Krakau, für Lemberg, für 29 größere Städte und 131 größere Ortschaften erlassen wurden. In den Jahren 1815-1846 gab die Freistadt Krakau eigene Bauvorschriften heraus. Für die polnischen Gebiete des russischen Teilungsgebietes wurde im Jahr 1900 ein neues Baugesetz eingeführt, aber in dem Teil, der Kongreßpolen gebildet hatte, blieben die veralteten Vorschriften vom Jahre 1820 in Kraft. Diese Differenzierung haben besondere Gesetze noch weiter vertieft. Sie wurden für Industrie, Feuerschutz, Wasserleitungs- und sanitäre Anlagen, für die von den Festungen eingenommenen Gelände, Bauten in der Nähe der Eisenbahn und von Straßen erlassen - das alles führte zu zusätzlichen Einschränkungen der Baufreiheit. Die Beseitigung dieser ausnehmend komplizierten Rechtslage erfolgte erst im Jahre 1928, als der einheitliche Text des Baurechts im wiedererstandenen polnischen Staat verabschiedet wurde Ein Beispiel der drastischen Inkongruenz der Teilungsmächte in der Stadtplanung der polnischen Städte war der aus Petersburg zugesandte Regulationsplan der russischen Stadt Krasne, den der schottische Architekt Wilhelm Geste noch im Jahre 1815 entworfen hatte, und der als verpflichtendes Muster beim Umbau sämtlicher Städte in Kongreßpolen dienen sollte. Abgesehen vom Inhalt dieses Modells, das sich von Anfang an durch keine Vorzüge auszeichnete und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon gänzlich überaltert und für die polnischen Städte unzweckmäßig war, die doch andere Traditionen der Stadtplanung als russische Städte hatten, war dies ein Versuch, den polnischen Städten eine neue Form der Entwicklung aufzuzwingen, die den militärischen und polizeilichen Anforderungen Rußlands entsprach. Das sollte gleichzeitig ein Element der Unifikationspolitik Kongreßpolens mit dem Russischen Kaiserreich sein. Dieser Schritt der zaristischen Regierung hat jedoch keinerlei konkrete Ergebnisse gebracht 2 . Dagegen läßt sich im Regulationsplan des rechts der Weichsel liegenden Stadtteils von Warschau (Praga) vom Jahre 1864 ein deutlicher Einfluß der russischen Regulationspläne wahrnehmen 3 . Die Zertrennung des Territoriums des einstigen polnischen Staates durch die neuen Staatsgrenzen der Teilungsmächte führte noch eine andere Entwicklung der Städte herbei. Einige der alten polnischen Städte fanden sich nämlich nun dicht an der Grenzlinie wieder. Die vom bisherigen Hinterland abgetrennten Städte verkamen meistenteils (zum Beispiel Sandomierz, Radziejòw). Zuweilen erwuchs auf der anderen Seite der Grenze eine neue Zwillingsstadt, die in dieser Region den Verlust des einstigen städtischen Mittelpunkts kompensieren sollte. Eine solche Lage entstand im Jahre 1772 im Rayon Krakau, das nach der ersten Teilung Polens von dem rechts der
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C. KRAWCZAK, Prawo budowlane na ziemiach polskich od potowy XVIII wieku do 1939 roku (Das Baurecht in polnischen Gebieten von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1939), Poznañ 1975. Zbiòr przepisòw administracyjnych Kròlestwa Polskiego (Sammlung der Verwaltungsvorschriften Kongreßpolens), T. I: Gospodarstwo miejskie (Städtische Wirtschaft) Bd. II, Warszawa 1866. - K. DUMAIA, Przemiany przestrzenne miast i rozwòj osiedli przemyslowych w Kròlestwie Polskim w latach 1831-1869 (Räumliche Umwandlungen der Städte und Entwicklung der Industrieansiedlungen in Kongreßpolen in den Jahren 1831-1869) Wroclaw 1974, S. 8 9 - 1 0 2 .
3
DUMAIA ( w i e A n m . 2 ) S . 1 3 9 , A b b . 7 2 u n d 7 3 .
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Weichsel liegenden Terrain abgetrennt wurde. Gegenüber von Krakau haben die österreichischen Behörden im Jahre 1784 eine neue Stadt, Podgòrze, angelegt, die sogar dann, als Krakau zum österreichischen Teilungsgebiet kam, weiter als selbständige Stadt existierte und erst 1915 als Stadtteil von Krakau eingemeindet wurde 4 . Die Grenze des ersten preußischen Teilungsgebiets von 1772, die im Jahre 1815 auch die Grenze zwischen Kongreßpolen und dem von Preußen annektierten Land bildete, hat die Stadt Golub von der am anderen Ufer der Drwçca liegenden Vorstadt Dobrzyñ abgetrennt. Dobrzytì erhielt bald danach (1789) Stadtrecht und begann als selbständige Stadt zu funktionieren (die Vereinigung von Golub mit Dobrzyñ erfolgte erst im Jahre 1950)5. Die an der Grenze gelegenen Zwillingsstädte, die für die annektierten polnischen Landesteile so kennzeichnend sind, haben nie einen hohen Stand der Entwicklung erreicht. Hier siedelten meistens Schmuggler oder Menschen, die sich damit befaßten, den politischen Flüchtlingen aus Kongreßpolen den illegalen Grenzübertritt zu erleichtern. Eine Folge dieser Entwicklung war die verhältnismäßig große Anzahl der Städte in den polnischen Gebieten und die erhebliche Dichte des dörflichen Netzes. In der Mehrzahl bildeten sich kleine Städte mit geringerer Einwohnerzahl und halblandwirtschaftlichem Charakter. Ein bedeutender Prozentsatz davon waren „Privatstädte", eine für die feudale Struktur der Gesellschaft und Wirtschaft damals charakteristische Erscheinung, die mit dem Großgrundbesitz zusammenhing. Sie bildeten nämlich die Verwaltungszentren des Bodenbesitzes und Mittelpunkte des lokalen Marktes. In Kongreßpolen, das die zentralen Gebiete der einstigen Adelsrepublik mit einer Fläche von 128.500 km 2 umfaßte, gab es im Jahre 1821 441 Städte, d.h. eine Stadt entfiel auf 290 km2. Von diesen hatten aber 383 Städte (87 %) weniger als 3.000 Einwohner, und 53% bildeten Privatstädte (in allen polnischen Landesteilen unter fremder Herrschaft war zusammengenommen dieser Prozentsatz noch höher, nämlich 64 %). Alle kleinen Städte repräsentierten natürlich primitive Stadtanlagen, die sich im allgemeinen auf den viereckigen Marktplatz und die von den Ecken auslaufenden Straßen beschränkten; die Bebauung wies im Prinzip noch einen dörflichen Charakter auf. Ihre städtischen Einkünfte und demzufolge die Möglichkeiten eines Ausbaus oder Umbaus waren außerordentlich bescheiden. Die mittleren und großen Städte haben meistenteils die mittelalterliche Planung und den Typ der Bebauung beibehalten. Nur wenige Städte, und zwar ausschließlich die kleinen und mittleren Privatstädte, machten in der Renaissance und im Barock eine Modernisierung durch. Alle Großstädte, die einst königliche und im 19. Jahrhundert Regierungsstädte waren, hatten die für Polen typische mittelalterliche Planung der Kolonisationsstädte: im Zentrum der viereckige Marktplatz mit den öffentlichen Gebäuden (Rathaus, Markthallen) und ein sehr regelmäßiges Netz von schmalen Straßen. Sowohl die rechtliche Lage als auch die bestehenden räumlichen Strukturen entsprachen durchaus nicht den Anforderungen des Zeitalters der Industrialisierung, d.h. dem schnellen demographischen Wachstum, der in-
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F. BARDEL, Miasto Podgòrze, jego powstanie i pierwszych SO lat istnienia (Die Stadt Podgòrze, ihre Entstehung und die ersten 50 Jahre ihrer Existenz) Krakòw 1901, S. 20-27. Miasta polskie w tysi§ cleciu (Polnische Städte im Jahrtausend) Bd. I, Wroclaw 1965, S. 320-321. - Katalog zabytkòw sztuki w Polsce (Katalog der Kunstdenkmäler in Polen) Bd. XI, H. 6, S.13
Stadtplanung in polnischen Gebieten 1815 - 1914
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tensiven Entwicklung des Verkehrs und der Ausdehnung der Funktion der Städte auf immer neue Gebiete des gesellschaftlichen Lebens. Noch vor der Aera der Industriellen Revolution und gewaltsamen Verstädterung, die auf polnischem Boden erst in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann, wurden Versuche einer Änderung dieser Lage unternommen, besonders in der sog. Konstitutionsphase Kongreßpolens in den Jahren 1815-1830. In staatsrechtlicher Hinsicht wurde versucht, die Lage zu bereinigen, indem man den kleinen Städten, die tatsächlich keine wirtschaftliche Funktion erfüllten, das Stadtrecht entzog. Dies löste den Widerstand der Einwohner aus, die befürchteten, daß der Verlust des Stadtrechts in einer Zeit, da die feudalen Verhältnisse auf dem polnischen Dorf unangetastet verblieben und die Abschaffung der Leibeigenschaft in den einzelnen Teilungsgebieten allmählich durchgeführt und in Kongreßpolen erst 1864 mit dem Erlaß des Zaren abgeschlossen wurde, sie in die Kategorie der Bauern verdrängen würde, die der Patrimonialgerichtsbarkeit unterstanden. Infolgedessen wurde in den Jahren 1807-1864 nur in 28 Kleinstädten die städtische Verwaltung liquidiert, während in den Jahren 1869-1870 schon ohne Widerstand 338 (75 %) der einstigen Kleinstädte Kongreßpolens in Siedlungen umgewandelt wurden ; Stadtrecht behielten nur die wirklichen Städte 6 . In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts unternahmen die Behörden Kongreßpolens eine energische Aktion zur Regulierung der Stadtgebiete, vor allem durch die Beseitigung sämtlicher Bauten auf den Marktplätzen, einschließlich der alten Rathäuser, und ihre Umwandlung in offene, öffentliche Plätze, sowie durch die Vereinfachung des Straßennetzes, die Verbreiterung der Straßen und den Bau neuer Verkehrsstraßen. Für ca. 140 Städte (30 %) in Kongreßpolen wurden damals sehr zweckbewußte und modern gedachte Regulationspläne erarbeitet. In vielen Städten ist es gelungen, diese gänzlich oder teilweise zu realisieren. In einer „Regierungskommission für Innere Angelegenheiten" wurde ein Bauamt ins Leben gerufen, das sämtliche Bauprojekte in den Städten sowie die Pläne ihres Umbaus begutachten sollte. Zusammenarbeit mit dem Bauamt pflegten hervorragende Architekten (u.A. Antonio Corazzi, Henryk Marconi, Alexander Groffe), die den Grundsätzen des Klassizismus huldigten und dessen Kanon im Städtebau und in der Architektur Kongreßpolens 1815-1830 zur Pflicht machten. Übereinstimmend mit den Regeln des klassizistischen Städtebaus wurde in die devastierte und erbärmliche Bebauung der Städte nun Elemente der Ordnung und Organisation eingeführt. Ein wesentliches Merkmal der Regulierung der Städte Kongreßpolens in dieser Zeit war, daß gleichzeitig mit der neuen Planung die architektonische Gestaltung entworfen wurde. Ein Feld wohlgelungener Stadt-
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R. KoioDZiEJCZYK, Zamiana miast na osady w Kròlestwie Polskim (Umwandlung der Städte in Siedlungen in Kongreßpolen): „Kwartalnik Historyczny" 68, 1961, Nr. 1, S. 191-200. - J. MAZURKIEWICZ, O likwidacji stosunkòw dominialnych w miastach Kròlestwa Kongresowego w 1866 roku (Über die Beseitigung der Dominialverhältnisse in den Städten Kongreßpolens im Jahre 1866): „Rocznik Lubelski" 9, 1966, S. 26S-27S - DERS., Likwidacja ustroju miejskiego mniejszych miast w Ksiçstwie Warszawskim i Kròlestwie Polskim w okresie przed masow^ zamian? miast na osady (1807-1864) (Die Liquidierung der städtischen Verfassung kleinerer Städte im Herzogtum Warschau und Kongreßpolen in der Zeit vor der massenhaften Umwandlung der Städte in Siedlungen 1807-1864): „Rocznik Lubelski" 10,1967, S. 211-225.
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reformen waren die Städte Radom, Kalisz [Kalisch], Lublin, Wloclawek [Leslau], Augustòw und Rawa Mazowiecka 7. Abbildung 1 Czçstochowa (Tschenstochau) 1823. Schema des Stadtplans
(1) Mittelalterliche Stadt, (2) Paulinenkloster gegründet im 14. Jh., (3) Neustadt gegründet im 18. Jh., (6) Allee vorgezeichnete im Jahre 1823. Quelle: Nach W. Kalinowski.
' W. TRZEBIÑSKI/ P. SZAFER, Projekty przebudowy Augustowa 1815-1830 (Entwürfe für den
Umbau von Augustòw 1815-1830): „Prace Instytutu Urbanistyki i Architektury" 2, 1953, Nr. 3, S. 9-31 ; W. KALINOWSKI/ S. TRAWKOWSKI, Przebudowa Lublina w Kròlestwie Kongresowym (w latach 1817-1820) (Der Umbau von Lublin in Kongreßpolen in den Jahren 1817-1820): „Ochrona Zabytkòw" 7, 1954, Nr. 3 (26), S. 161-169; W. KALINOWSKI, Przebudowa rynku w Gòrze Kalwarii w pierwzej polowie XIX wieku (Der Umbau des Marktplatzes in Gòra Kalwaria in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts): „Biuletyn Instytutu Urbanistyki i Architektury" 1955, Nr. 3 (34), S. 3-4; DERS., Rozbudowa Radomia w latach 1815-1830 (Ausbau von Radom in den Jahren 1815-1830): „Studia ζ historii budowy miast", Warszawa 1955, S. 143-180; W. KALINOWSKI/ S. TRAWKOWSKI, Przebudowa Rawy Mazowieckiej w okresie
konstytucyjnym Kròlestwa Polskiego (1815-1830) (Umbau von Rawa Mazowiecka in der Konstitutionsphase Kongreßpolens - 1815-1830): „Studia ζ historii budowy miast", Warszawa 1955, S. 183-207; DIES., Uwagi o urbanistyce i architekturze miejskiej Kròlestwa Kongresowego w pierwszej polowie XIX wieku (Bemerkungen über den Städtebau und die städtische Architektur in Kongreßpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts): „Studia i materialy do teorii i historii architektury i urbanistyki" 1, Warszawa 1956, S. 59-152; W. TRZEBIÑSKI, Rozwòj przestrzenny Suwalk od narodzin osady po okres awansu na miasto wojewòdzkie (Baugeschichte von Suwalki von den Anfangen der Siedlung bis zur Zeit ihrer Beförderung zur Wojewodschaftsstadt): „Studia i materialy do dziejòw Suwalszczyzny", Biafystok 1965, S. 196-209; T.P. SZAFER, DzialalnoàC urbanistyczna Henryka Marconiego w Augustowie (Die städtebauliche Tätigkeit von Henryk Marconi in Augustòw): „Studia i materialy do dziejòw Pojezierza Augustowskiego", Bialystok 1967, S. 327-345; Β. LENARD/ K.K. PAWIOWSKI, Plan przebudowy Radziejowa ζ 1820 r. (Plan für den Umbau von Radziejòw aus dem Jahr 1820): „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 13,1968, Nr. 1., S. 31-42.
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In Czçstochowa [Tschenstochau) wurde im Jahre 1818 eine Straße zwischen Stara und Nowa Czçstochowa abgesteckt, die diese beiden Städte in einem Organismus vereinte und die Achse der neuzeitlichen Entwicklung der Stadt bildete; das war wohl das beste Werk im polnischen Städtebau dieser Zeit 8 . Der bedeutende Architekt Jakob Kubicki stellte im Jahre 1817 einen mit großem Schwung bearbeiteten Entwurf für die Regulierung des rechtsseitigen Warschau (Praga) vor. Die Idee dieser städtebaulichen Komposition lag in der engen Verflechtung der beiderseits der Weichsel liegenden Stadtteile von Warschau. Der Plan von Praga stützte sich auf fünf strahlenförmig auseinanderlaufende Alleen, deren Achsen im mittleren Teil des Königsschlosses zusammenliefen. Das war eine echt barocke Konzeption. Aus finanziellen Gründen hat man diesen Plan nicht realisiert, ähnlich wie den nächsten Plan vom Jahre 1826, beide waren aber hervorragende städtebauliche Ideen 9 . Hingegen wurden damals in Warschau einige gute Regulationsarbeiten in kleinerem Maßstab durchgeführt: Schloßplatz, Theaterplatz, Ewangelicki Plac, Warecki Plac, Plac Trzech Krzyzy, Plac Bankowy, Plac Zelaznej Bramy und Plac Grzybowski; abgesteckt wurde die Jerozolimskie-Allee, eine der wichtigsten Arterien der Stadt 10 . Im altpolnischen Industrierevier entstanden einige große Betriebe der Metallindustrie und dazugehörige Siedlungen mit sehr schönen und vom Gesichtspunkt des Städtebaus wertvollen räumlichen Anordnungen; keine dieser Siedlungen hat sich jedoch in eine Stadt verwandelt (die Industriebetriebe selbst sind ziemlich schnell verkommen) n . In der Freistadt Krakau befaßte man sich in dieser Zeit mit der Aktion „Verschönerung der Stadt", die nicht allein Krakau, sondern auch andere Städte (Chrzanòw, Trzebinia, Jaworzno) umfaßte. Die größte Intensität dieser Städtereform entfiel auf die Jahre 1817-1828 und 1835-1846/47. Sie wurde vom Bauamt und dem 1817 ins Leben gerufenen „Bauwirtschaftlichen Beirat"
8
9
10
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J . BRAUN, Czçstochowa. Rozwòj urbanistyczny i architektoniczny (Czçstochowa. Städtebauliche und architektonische Entwicklung), Warszawa 1959, S. 52-53. E. SZWANKOWSKI, Kubickiego plan regulacji Pragi (Kubicki's Regulationsplan für Praga): „Biuletyn Historii Sztuki i Kultury" 10,1946, Nr. 2, S. 161-166. J . ZACHWATOWICZ, Regulacja placu Bankowego w Warszawie wedlug projektu Corazziego (Die Regulierung des Plac Bankowy in Warschau nach einem Entwurf von Corazzi): „Biuletyn Historii Sztuki i Kultury" 2, 1934, Nr. 3, S. 174-179; P. BIEGAÑSKI, Koncepcja placu Teatralnego w twòrczoàci Antoniego Corazziego (Die Konzeption des Theaterplatzes im Schaffen von Antonio Corazzi): „Biuletyn Historii Sztuki i Kultury" 5, 1937, Nr. 3/4, S. 255-264; A.J.M. KARCZEWSKI, Ζ dziejòw trasy Belweder - Zamek - ¿oliborz (Zur Geschichte der Route Belweder - Königsschloß - ¿oliborz): „Studia ζ historii budowy miast", Warszawa 1955, S. 129-134; E. SZWANKOWSKI, Warszawa. Rozwòj urbanistyczny i architektoniczny (Warschau. Städtebauliche und architektonische Entwicklung) Warszawa 1952, S. 163-168; Z.BOBROWSKI, Projekt regulacji placu Zamkowego w Warszawie wykonany przez Stanislawa Kostkç Potockiego (Entwurf für die Regulation des Schloßplatzes in Warschau, ausgeführt von Stanislaw Kostka Potocki): „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 1,1956, Nr. 3, S. 273-276. W. OSTROWSKI, Budownictwo przemyslowe Zaglçbia Staropolskiego w okresie Kròlestwa Kongresowego (Industriebau im Altpolnischen Industrierevier zur Zeit Kongreßpolens): „Prace Instytutu Urbanistyki i Architektury" 1,1951, H. 2, S. 71-87; J. PAZDUR, Zaktady metalowe w Biatogonie 1614-1914 (Die Metallbetriebe in Bialogon 1614-1914) Wroclaw 1957; J . JEDLICKI, Nieudana pròba kapitalistycznej industrializacji (Mißlungener Versuch der kapitalistischen Industrialisierung) Warszawa 1964; A. REY, Geneza i rozwòj ukladòw przestrzennych zakladòw hutniczych w Zaglçbiu Staropolskim (Ursprung und Entwicklung der Hüttenbetriebe im Altpolnischen Industrierevier): „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 11, 1966, Nr. 2, S. 193-223.
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geleitet. In Krakau umfaßten die Arbeiten vor allem den Marktplatz und andere Plätze, die wichtigsten Straßen wurden zur Verbesserung des Verkehrs begradigt, desgleichen die in den Vorstädten, was zuweilen mit einer gänzlichen Änderung des Straßenverlaufs und der Eigentumsverhältnisse verbunden war. Bearbeitet wurde ein Projekt zur Verbindung der einst selbständigen Satellitenstädte Kazimierz und Kleparz in einen Organismus mit Krakau. Nicht geplant wurde dagegen die Entstehung neuer Stadtviertel, auch entstand kein einheitlicher Sanierungsplan für die ganze Stadt n . Die Verstädterung der polnischen Gebiete nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zu, insbesondere in den letzten dreißig Jahren des Jahrhunderts. Das war mit den gesellschaftlichen Wandlungen auf dem Dorf (Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern), mit der Wanderung vom Dorf in die Stadt und mit dem gewaltigen Bevölkerungsanstieg der Städte sowie mit der Entfaltung und Übernahme neuer sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Funktionen der Stadt verbunden. Die größte polnische Stadt war damals Warschau, das sich nicht nur durch die größte Einwohnerzahl, sondern auch durch die Dynamik des demographischen Anstiegs auszeichnete und ein großer Mittelpunkt der Industrie sowie Sitz der höheren Verwaltungsbehörden und ein kulturelles Zentrum war. LòdÈ [Lodz] konnte sich in der Einwohnerzahl mit Warschau nicht messen, übertraf aber alle polnischen Städte in der Dynamik des Wachstums. Im Unterschied zu Warschau war Lòdi lediglich ein großer Mittelpunkt der Textilindustrie und erfüllte keinerlei verwaltungsmäßige oder kulturelle Funktionen. Die übrigen polnischen Städte traten hinsichtlich der Einwohnerzahl erheblich hinter Warschau und Lòdi zurück, manche allerdings zeichneten sich ebenfalls durch starke Dynamik im Wachstum aus, wie beispielsweise Bialystok, ein wichtiger, obwohl erheblich primitiverer Mittelpunkt der Textilindustrie als Lòdi (siehe Tabelle 1). Die Verstädterung der polnischen Landesteile im ganzen 19. Jahrhundert, auch in seinen letzten drei Jahrzehnten, als sie besonders intensiv war, vollzog sich fast ausschließlich in Anlehnung an die Entwicklung der alten Städte. Gänzlich neue Städte sind damals nur wenig entstanden. Eine von diesen war Zyrardòw, ein großer Mittelpunkt der Textilindustrie, der sich rings um die im Jahre 1833 von dem französischen Ingenieur Philippe de Girard angelegte Flachsspinnerei herausgebildet hat. Die eigentliche Entwicklung der Stadt Zyrardòw erfolgte jedoch erst nach 1857. Zyrardòw war eine typische Arbeitersiedlung neben einer Fabrik. Der Plan von Zyrardòw war sehr rationell, mit zonaler funktioneller Differenzierung seiner Teile und entbehrte nicht gewisser ästhetischer Vorzüge. Der Plan dieser großangelegten Siedlung fußte auf der rechteckigen Aufteilung des Geländes und war der kompositorischen Hauptachse untergeordnet, die gleichzeitig die Symmetrieachse war. Die Bebauung der Fabrik und die im Zentrum geplante Kirche akzentuierten diese Achse. Die Fabrik wurde von der Wohnsiedlung durch eine breite Baumallee abgetrennt (anfänglich bestand hier sogar eine isolierte Grünfläche, die später beseitigt wurde). Vorgesehen waren Plätze für eine Schule und ein Kran-
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M. BOROWIEJSKA-BIRKENMAJEROWA/ J. DEMEL , Dzialalnoàt urbanistyczna i architektoniczna Senatu Wolnego Miasta Krakowa w latach 1815-1846 (Die städtebauliche und architektonische Tätigkeit des Senats in der Freien Stadt Krakau in den Jahren 1815-1846): „Studia i materialy do teorii i historii architektury i urbanistyki" 4, 1963, S. 46-175.
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kenhaus. Für das höhere technische Personal der Fabrik wurden einige spezielle Wohngebäude gebaut, die einen von der Arbeitersiedlung abgetrennten räumlichen Komplex bildeten, in dessen Nähe sich das kleine Palais des Fabrikbesitzers befand, umgeben von einem Landschaftspark. Die Aufnahmefähigkeit der Siedlung wurde streng an die Zahl der in der Fabrik beschäftigten Arbeiter angepaßt, aber die Möglichkeit einer notwendigen Vergrößerung durch neue Elemente war in dem geplanten Schema vorgesehen. Der Plan von Zyrardòw, dessen Autor bisher nicht ermittelt werden konnte, war die bedeutendste Errungenschaft auf dem Gebiet der Stadtplanung in Polen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wohl auch einer der interessantesten im Europa jener Zeit. Stadtrecht erhielt Zyrardòw aber erst im Jahre 191613.
Tabelle 1 Bevölkerung einiger polnischer Städte im 19. Jahrhundert (Absolute Zahlen in Tausend; 1870 = 100) 18 Stadt Warszawa Lodz Lwów Krakow Gdansk Poznan Bialystok Lublin Kalisz Radom
18
1 0
in Index 1000 78 0,5 -
25 37 16 4,1 7 7 1,7
28 1 -
46 42 29 24 24 47 15
E
I 2 5
Ν
W 0 Η 1 8 4 8
Ν
E R Ζ 1 8 7 0
A
H L 1 9 0 0
in Index 1000
in Index 1000
in Index 1000
in Index 1000
126 0,9
167 20 68 43 65 40 14
276 50 87 54 89 56 17 29 15 11
684 315 160 115 140 117 66 50 24 30
-
30 50 28 8,6 13 11 4
46 2 -
56 56 50 51 45 73 36
60 40 78 80 73 71 82
-
-
-
-
-
-
100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
248 630 184 213 157 209 388 172 160 272
19
1 0
in Index 1000 895 424 207 174 170 156 80 65 54 44
324 848 238 322 191 279 471 224 360 400
LòdÈ war keine gänzlich neue Stadt, denn dieses halbagrarische Städtchen, das einst zum Güterkomplex der kujawischen Bischöfe gehört hatte, existierte schon im 15. Jahrhundert, doch das heutige LòdÈ ist faktisch ein Gebilde des 19. Jahrhunderts und der stürmischen Entwicklung der Textilindustrie in dieser Zeit . Den Kern der Stadt bildeten die in den Jahren 1821-1828 angelegten Handwerkersiedlungen Nowe Miasto (Neustadt) und Lòdka sowie die im Jahre 1840 gebildete Nowa Dzielnica. Das damals herausgebildete Netz der Straßen und Plätze, vor allem der achteckige Neue Markt und die von ihm ausgehende sechs Kilometer lange Piotrkowska-Straße, die die städtebauliche Kompositionsachse von Lòdi bildet, hat keine wesentlichen Änderungen erfahren und bestimmt bis heute die grundsätzliche Anordnung der Straßen in der Stadtmitte. Anfänglich war es eine übersichtliche und sehr rationelle Anordnung, welche die zonale Differenzierung der Bebauung befolgte, durch die Trennung der Wohngebäude von den Industriebauten, die sich entlang des 13
T.P. SZAFER/ W. TRZEBIÑSKI, Geneza ukladu przestrzennego ¿yrardowa (Genese des Stadtplans von Zyrardòw): „Biuletyn Instytutu Urbanistyki i Architektury" 6, 1954, S. 8; DUMAU (wie Anm. 2) S. 281-292; A. GRYCIUK, Rozwòj przestrzenny osady w ¿yrardowie w latach 1829-1916 (Die Entwicklung der Siedlung Zyrardòw in den Jahren 1829-1916) Warszawa 1978 (masch. Diss., Historisches Institut der Universität Warschau).
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Flüßchens Jasieñ konzentrierten, das den Wasserantrieb für die Maschinen lieferte. In späterer Zeit wurde diese Anordnung zerstört, denn mit dem Ersetzen der Wasserkraft durch die Dampfmaschine begann man überall, Fabriken zu bauen. Gleichzeitig jedoch entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die für LòdÈ so charakteristischen Fabrikkomplexe und Arbeitersiedlungen, die separate Elemente der städtebaulichen Komposition darstellen. Sofern in der frühen Periode der räumlichen Entwicklung dieser Industriestadt ein rationeller städtebaulicher Gedanke zu sehen war, so wurde er in späterer Zeit von dem ungestümen Ausbau überlagert, wenn auch nicht total vernichtet, der vor allem übereinstimmend mit dem Interesse der Fabrikanten und Hausbesitzer verlief>4. Abbildung 2 Lòdi, 1823-1826: Schema des Stadtplans
Quelle: Nach W. Kalinowski (wie Anm. 7).
Rings um Lòdi entstand ein Revier der Textilindustrie mit neuen Industriesiedlungen, von denen manche später den Status einer Stadt erreichten. Ihre überwiegend sehr regelmäßige Planung mit dem rechtwinkligen Stras14
W. BALD, H . JAWOROWSKI/ I. POPIAWSKA, Lòdi - zabytkowy uklad przestrzenny. Ocena wartoàci (Lòdi - altertümlicher Stadtplan. Ein Werturteil): „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 18, 1973, Nr. 2, S. 127-160; M. KOTER, Geneza ukladu przestrzennego Lodzi przemyslowej (Genese des Stadtplans im industriellen Lòdi), Lòdi 1970, S. 53-108; DUMAÍA (wie Anm. 2) S. 191-226.
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sennetz ergab typische Arbeitersiedlungen. Durch Originalität zeichnete sich der Plan der Stadt Tomaszòw Mazowiecki aus, die aus drei Quartieren bestehen sollte, die radial um das industrielle Zentrum und den romantischen Park mit dem Sitz des Fabrikbesitzers situiert waren, das Ganze umgeben von einem Komplex von Trabantensiedlungen, die mit der Stadt nach dem Grundsatz der Arbeitsteilung im Rahmen eines einheitlichen Wirtschaftssystems zusammenwirken sollten. Das war sozialpolitisch und wirtschaftlich eine utopische Konzeption, aber in der Sphäre der Planung verband sie harmonisch Elemente des klassischen Städtebaus (radial angelegte Perspektiven, abgeschlossen durch architektonische Schwerpunkte oder offene Wasserspiegel) mit den Elementen des romantischen Städtebaus (Landschaftspark im Mittelpunkt) 15 . Eine interessante städtebauliche Erscheinung war die Entstehung der städtischen Agglomeration von D^browa in Schlesien (in dem in den Grenzen von Kongreßpolen liegenden Streifen). Sie bildete sich aus einem Komplex von Kohlegruben und Zink-Erzgruben sowie aus den mit diesen Bergwerken verbundenen metallerzeugenden und -verarbeitenden Betrieben und Wohnsiedlungen für die Arbeiter dieser Unternehmen (Vor allem die Kolonie Reden, die Huta Bankowa, die Kolonie Ksawery und das Dorf D^browa). Ein Teil dieser Agglomeration entstand spontan. Die einzige Gesetzmäßigkeit, die man hièr wahrnehmen kann, war die Standortwahl der Industriebetriebe und der Wohnsiedlungen in Abhängigkeit von der Lagerstätte der Bodenschätze. Ein Teil jedoch war planmäßig und nach einer überlegten städtebaulichen Konzeption angelegt. Die in den Jahren 1818-1835 erbaute Kolonie Reden, insbesondere Huta Bankowa und die neben dieser im Jahre 1840 errichtete Siedlung, waren ein interessanter Versuch der Stadtplanung eines großen Industriekomplexes mit Wohnsiedlung für die Arbeiter. Im Jahre 1874 wurden diese regellos im Gelände zerstreuten Kolonien und die nahen Dörfer verwaltungsmäßig in eine Gemeinde mit dem Sitz in D^browa vereint. Erst im Jahre 1916 erhielt sie Stadtrecht. So entstand die Stadt D^browa Gòrnicza 16 . Die Mehrzahl der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Städte in den polnischen Landesteilen waren, wie bereits gesagt, alte Städte. Sie stammten überwiegend noch aus dem Mittelalter und breiteten sich jetzt in die Höhe und Breite aus. Dieser Ausbau konnte in einigen Varianten erfolgen: Entweder behielt die alte Stadt ihren Charakter und sämtliche Funktionen der Stadtmitte und des zentralen Stadtteils, umrankt von neugebauten Stadtvierteln (wie Krakau oder Lemberg), oder die alte Stadt verblieb abseits der modernen Bebauung, verlor zwar ihre zentrale Lage, behielt jedoch viele Funktionen der Stadtmitte (Posen). Es passierte aber auch, daß die alte Stadt gänzlich am Rande der neuzeitlichen räumlichen Entwicklung verblieb; sie büßte alle Attribute des Zentrums ein und war nur noch peripherer Stadtteil von '5 16
(wie Anm. 2), S. 258-268. Kolonia Reden w Dfbrowie Gòrniczej - najstarsze osiedle gòrnicze w Zaglçbiu D^browskim (Die Kolonie Reden in D^browa Gòrnicza - die erste bergmännische Siedlung im Kohlenrevier Dfbrowa): „Kwartalnik Historii Kultury Materialnej" 3, 1955, Nr. 1, S. 99-112; K . DUMAIA, Poczftki d^browskiej aglomeracjii przemyslowej. Uktad przestrzenny i formy budownietwa (Die Anfange der industriellen Agglomeration von Dçbrowa. Stadtplanung und Formen der Bebauung): „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 18, 1973, Nr. 1, S. 51-60 und 313-345. DUMAIA
M . ZYWIRSKA,
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ausschließlich historischer Bedeutung, in welchem das arme Volk wohnte (Beispiel: Warschau). In allen diesen Varianten traten dieselben Prozesse der Entwicklung auf : der Ausbau der Wohnviertel, der Bau von Industrieanlagen, eventuell die Entstehung von Industrievierteln, der Umbau des Verkehrssystems und seine Anpassung an die neuen Anforderungen durch Verbreiterung der alten Straßen, die Anlage neuer Straßen, die Einführung der Eisenbahn, die Herausbildung neuzeitlicher Viertel als Zentren des Handels und Bankwesens, die Universitätsviertel, die architektonischen Komplexe der Museen und Theater usw. Die Differenzierung im Wohnungsbau der Städte in Abhängigkeit von der sozialen Struktur, der Vermögenslage, vom Beruf und sogar von der Nationalität und dem Bekenntnis der Einwohner war kein Merkmal des 19. Jahrhunderts. Dies war schon von der Soziotopographie der präindustriellen Städte bekannt und trat ebenfalls in den altpolnischen Städten auf. Im 19. Jahrhundert gewann sie jedoch eine neue Dimension und gewisse neue Merkmale. Es begannen bisher unbekannte besondere Wohnviertel zu entstehen, wie Arbeiterviertel, Wohnviertel der Intelligenz und freien Berufe, die exklusiven Wohnviertel der Geldaristokratie. In den Jahren 187(M900 entstand und entwickelte sich in Kongreßpolen ein neuer T^rp der Wohnviertel in Städten, nämlich die von den Fabrikbesitzern gebauten Familienhäuser dfer Arbeiter, die vorwiegend mit der Fabrik, zuweilen aber auch mit dem Palaßt des Fabrikanten gekoppelte Komplexe einer geschlossenen räumlichen Komposition bildeten. Solche Arbeitersiedlungen entstanden in Lòd2 bei den Fabriken von K. Scheibler, I. K. Poznañski, J. Heinzel und der Widzewir Manufaktur (einzelne Häuser oder kleinere Komplexe haben auch anderje Fabrikanten gebaut). Auch in anderen Industriestädten baute man Arbeitersiedlungen geringeren Umfangs. Im Grunde genommen war ganz Zyrardòw eine solche mit der Fabrik verknüpfte Siedlung. Auch in Warschau wurden ähnliche Initiativen aufgenommen, die aber nicht verwirklicht worden sind 17. Manche dieser Arbeitersiedlungen bildeten eine geschlossene Bebauung, andere bestanden aus frei stehenden Häuserblocks, noch andere schließlich waren einfach ebenerdige Kolonien von hölzernen Einfamilienhäusern. Vom städtebaulichen Gesichtspunkt besonders interessant war die von Scheibler errichtete Siedlung Ksiçzy Mlyn und die Siedlung am Wasserring in Lòdi 18. Ebenfalls in Lòdi wurde in den achtziger Jahren ein im Städtebau des 19. Jahrhunderts ungewöhnlicher Komplex von Wohnhäusern erbaut, der nach dem Namen des Initiators dieser Investition, des Großindustriellen Ludwik Meyer. „Pasaz Meyera" genannt wurde. Dies war eine im Zentrum der Stadt gelegene Staße,' umbaut von luxuriösen einstöckigen Villen mit Gärten.
17
O. SOSNOWSKI, Projekt parcelacji i zabudowy gruntòw Andrzeja Zamoyskiego na Powiàlu Warszawskim w 1862r. (Projekt für Parzellierung und Bebauung der Grundstücke des Andrzej Zamoyski im Warschauer PowiSle im Jahre 1862), „Biulctyn Historii Sztuki i Kultury", Bd. IV (1936), Nr. 4, S. 278-280. - K. DUMAIA, wie Anm 2, S. 152-155. 18 1. POPIAWSKA, Budownictwo domòw robotniczych w Lodzi w drugiej polowie XIX w. (Der Bau von Arbeiterhäusern in Lòdi in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" Bd. IX (1964), Nr, 4, S. 295-311. - I. POPIAWSKA, Zespòl fabryczno-rezydencjonalny Ksiçzy Mlyn w Lodzi (Der Fabrik- Residenzkomplex Ksiçzy Mlyn in Lòdi). - IBIDEM, Bd. XVII (1972), Nr. 4, S. 295-303.
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Abbildung 3 Lòdi, 1887-1913. Siedlung Ksiçzy Mtyn
Nach I. Poptawska (wie Anm. 18).
Ein nicht großes Wohnviertel von sehr exklusivem sozialen Charakter, das jedoch im Hinblick auf die Grünflächen und die ästhetische Komposition des Architekten Hilary Majewski eine sehr wertvolle Errungenschaft im Städtebau der Industriestadt darstellte 19. 19
M. AUGUSTYNIAK, Pasaz Meyera w Lodzi. Ζ dziejòw dziewiçt nastowiecznej zabudowy miasta (Die Passage Meyer in Lòdi. Zur Geschichte der Bebauung der Stadt im 19. Jahrhundert), „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" Bd. XXII (1977), Nr. 1, S. 53-69.
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Ein gänzlich neuer Faktor, der das Antlitz der europäischen Städte im 19. Jahrhundert gestaltete, war die Eisenbahn. Auf polnischem Boden trat dieser Faktor erst in der Mitte dieses Jahrhunderts und eigentlich erst in seinem letzten Viertel in Erscheinung, als man in allen drei Teilungsgebieten das Eisenbahnnetz intensiv auszubauen begann. Weil aber jeder der Teilstaaten hier eine andere Politik verfolgte, wirkte sich der Einfluß der Bahnlinien auf die räumlichen Anordnungen jedesmal anders aus. Die Unterschiede in der Einstellung der Mächte zum Eisenbahnbau auf polnischen Gebieten illustriert treffend der Stand des Bahnnetzes in den drei Teilungsgebieten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Im preußischen Teilungsgebiet entfielen fast 12 km Bahnlinien auf je 100 km 2 , im österreichischen nur 5,3 km und in Kongreßpolen 2,7 km. Die russischen Behörden interessierten sich für die Eisenbahn ausschließlich unter militärischen Gesichtspunkten. Das Eisenbahnnetz in Rußland, also auch in Kongreßpolen und den übrigen polnischen Gebieten unter russischer Herrschaft, war spärlich und nicht an die wirtschaftlichen Anforderungen angepaßt. Die Bahnlinien umgingen häufig die großen Städte und wichtige Industriemittelpunkte - ein solches Beispiel war Lòdi, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Industriestadt, die abseits der ältesten und wichtigsten Bahnlinie im westlichen Kongreßpolen, der Warschauer-Wiener Bahn, verblieb. Die russischen Behörden befolgten die Regel, die Bahnlinien nicht an die Staatsgrenze heranzuführen, damit nach Ansicht des russischen Generalstabs im Falle von Kriegshandlungen der Feind sie nicht für den Transport und die Versorgung von Militäreinheiten benutzen könne ; deshalb hatte vor dem Ersten Weltkrieg das Bahnnetz Kongreßpolens nur an sechs Stellen Verbindungen mit den preußischen Eisenbahnen. Nur an einer Stelle überschritt es die österreichische Grenze 20 . Für die räumliche Entwicklung der Städte war die Anordnung der russischen Behörden sehr wichtig, daß die Bahnlinien wie auch der Bau von Bahnhöfen in einer großen Entfernung vom Stadtzentrum und überhaupt nicht in Bezirken mit geschlossener Bebauung durchgeführt werden durften. Die Bahnhöfe wurden in einer Entfernung von einigen und sogar mehreren Kilometern von der Stadtmitte lokalisiert. Wenn die Stadt wirtschaftlich schwach war, blieb diese Lage eine lange Zeit unverändert. Wenn sie jedoch ein sich dynamisch entwickelnder Mittelpunkt war, der einen Bahnanschluß nötig hatte, dann begann sich die Stadt in Richtung Bahnhof auszubauen. Die Verbindungsstraße zwischen der Stadt und dem Bahnhof, die in unbebautem Gelände oder solchem mit offener Bebauung verlief, verwandelte sich in eine städtische Straße und wurde zur Achse eines neuen Stadtviertels mit neuen Quer- und Seitenstraßen; am Bahnhof selbst entstand ein Eisenbahnviertel mit Wohnhäusern für die Eisenbahner, mit Lager und Geschäftsstellen der Speditionsfirmen, ferner Ho-
20
M. KRZYSICA, Rola czynnikòw wojskowo-politycznych w budowie kolei zelaznych w Kròlestwie Polskim (Die Rolle der militärpolitischen Faktoren im Bau der Eisenbahnen in Kongreßpolen), in: Studia ζ dziejòw kolei zelaznych w Kròlestwie Polskim (1840-1914), Hrsg. R. KOIODZUCZYK, Warszawa 1970, S. 9-44. Vgl. auch M . BOCHENEK, Stanowisko paftstwa wobec kolei zelaznych ζ uwzglçdnieniem szczegòlnych stosunkòw zachodzçcych w Austrii (Einstellung des Staates gegenüber den Eisenbahnen unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Österreich), Krakòw 1869, sowie T. LUEWSKI, Rozwòj sieci kolejowej Polski (Entwicklung des Eisenbahnnetzes Polens), „Dokumentacja Geograficzna" 1959, H. 5.
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tels, Restaurants, manchmal auch einer Grünanlage oder einem Spazierpark 21 . In den Städten im preußischen und österreichischen Teilungsgebiet näherten sich die Bahnlinien in der Regel dem Stadtzentrum, durchtrennten schon dicht mit Wohnhäusern oder Industriebauten bedecktes Gelände. Die Einführung der Eisenbahn und der Bau von Transitlinien und Ringbahnen schuf eine neue Lage und neue Schwierigkeiten in der räumlichen Entwicklung der Städte. In Kongreßpolen wurden nur in einigen Städten die Bahnlinien an das Stadtzentrum herangeführt. In Warschau hat der Bau von Kopfbahnhöfen in der Stadtmitte keinen wesentlichen Einfluß auf ihre Gestaltung ausgeübt. Der einzige Effekt war die beschleunigte Entwicklung der Marszalkowska-Straße und der Jerozolimskie-Allee, die die wichtigsten Zufahrtsstraßen zum Bahnhof der Warschauer-Wiener-Bahn und später auch der Kalischer Bahn_ waren 22. Im rechts der Weichsel liegenden Teil von Warschau durchtrennten die Bahnlinien das schon vorher herausgebildete Straßennetz und haben den rationellen Ausbau der Stadt erheblich gestört 23 . In Lodt, das schließlich eine Bahnverbindung in Form der im Jahre 1866 eröffneten Abzweigung der Warschauer-Wiener-Bahn erhielt, wurde anfänglich eine Transitbahn durch die Stadt geplant, aber realisiert wurden nur einige blind endende Bahngleise, die sich mit einigen wichtigen Straßen kreuzten, was den Verkehr zwischen dem nördlichen und südlichen Teil der Stadt sehr erschwert und sich negativ auf die räumliche Anordnung ausgewirkt hat 2 4 . Nur in Czçstochowa, wo man den Bahnhof in der Nähe der Hauptverkehrsader der Stadt errichtete, wurde eine sehr moderne und glückliche Lösung angewandt: eine zweistöckige Kreuzung der Bahn mit der Stadt, die das normale Leben der Stadt nicht stört 25 . Die Standortbestimmung des großen Bahnknotens in Biatystok indessen (Kreuzung der Warschauer-Petersburger-Linie mit der Bahn Odessa-Kowel-Brest-Königsberg, abgesehen von einigen lokalen Bahnlinien) stimulierte die Entwicklung der Stadt in Richtung des Bahnhofs, verursachte aber gleichzeitig die Desintegration der Stadt, die in einige durch Bahngleise voneinander getrennte Glieder zerspalten war 26. Ähnlich war es in der Städten des preußischen und österreichischen Teilungsgebiets. In Posen trennten die Bahngleise einige Vorortsgemeinden (Gòrczyn, Lazarz, Jezyce) von der Stadtmitte ab und teilten die Stadt in einige besondere topographische Einheiten. In Krakau wurde die Hauptbahnlinie in einer geringen Entfernung von der Altstadt ausgeführt, was zwar eine sehr bequeme Verkehrslage schuf (der Hauptbahnhof war in der Nähe der Stadtmitte), aber den Ausbau von Krakau in östlicher Richtung komplizierte, weil Unterführungen in der Stadt nötig 21
K. DUMAIA, (Anm. 2), S. 66, beschrieb das Beispiel von Piotrkòw [Petrikau]. Eine ähnliche Lage entstand in vielen anderen Städten, z.B. in Wloclawek, Lublin, Radom, Biatystok. Ähnlich war es in Inowroclaw [Hohensalza] im preußischen Teilungsgebiet, in Chrzanòw im österreichischen Teilungsgebiet. 22 S. HERBST, Ulica Marszalkowska (Die Marszalkowska-Straße), 1. Ausg., Warszawa 1949, 2. Ausg., Warszawa 1978, S. 73,75, 83-85. Η E. SZWANKOWSKI, Praga w latach 1814-1880 (Praga in den Jahren 1814-1880), in: Dzieje Pragi, Warszawa 1970, S. 171. K. DUMAIA, (Anm. 2), S. 209-211 ; A. RYNKOWSKA, Ulica Piotrkowska (Die Piotrkowska-Straße),
Lòdi 1970, S. 104. " Κ . DUMAIA, ( A n m . 2), S. 75. 26
W. KUSIÑSKI, Rozwòj przestrzenny miasta Bialegostoku (Territoriale Entwicklung der Stadt Bialystok), „Studia i materialy do dziejòw miasta Bialegostoku", Bd. 1, Bialystok 1968, S. 45.
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waren, worunter der Stadtverkehr litt. Der Einfluß der Eisenbahn auf die Entwicklung der polnischen Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wird von allen Historikern des Städtebaus wahrgenommen, allerdings hat bisher niemand spezielle Studien zu diesem Thema aufgenommen. Indem wir uns hier ausschließlich mit der Raumplanung und Problemen des Städtebaus befassen, berühren wir natürlich nicht die Fragen des Einflusses des Bahnnetzes auf die Entwicklung oder den wirtschaftlichen Niedergang der Städte, auf die Entstehung gänzlich neuer Städte im Zusammenhang mit dem Bau neuer Bahnlinien, Knotenpunktbahnhöfe und Eisenbahnwerkstätten. Die Großstädte im industriellen Zeitalter schufen gänzlich neue Probleme im Städtebau. Eines dieser Probleme waren die städtischen Grünanlagen, die den Einwohnern der immer größer und immer enger bebauten Städte entsprechende Flächen zur Erholung sowie Pflanzenbestände zur Erhaltung der Reinheit der Luft sicherstellen sollten. Das Planen öffentlicher Parks wurde zu einer der wichtigsten Aufgaben der Städtebauer. Die Tendenz zur Anlegung öffentlicher Gärten in den polnischen Städten zeichnete sich bereits im 18. Jahrhundert ab. In der Aktion zur Ordnung und Regulierung der Städte in den Jahren 1815-1830 bildeten die Parks und Promenaden ein festes Element dieser Arbeiten. In Kielce enstand 1815 der Stadtgarten, in Radom wurde 1820 ein Spaziergarten projektiert, desgleichen in Sieradz 1825 und in Czçstochowa 1826. Im Jahre 1827 wurde der mißglückte Versuch unternommen, einen großen städtischen Garten in Lublin einzurichten 27. In LòdÈ wurde bereits im Jahre 1827, also schon am Anfang der Entwicklung dieses Industriezentrums, ein Spazierpark angelegt 28 . Der erste moderne Komplex einer städtischen Grünanlage im großen Maßstab, der die Postulate einer städtebaulichen Komposition erfüllte, war die „Planty" in Krakau, anfänglich ein System von Verkehrs- und Spaziergangsalleen, später ein malerischer Landschaftspark, der die alte Stadtmitte von Krakau wie ein Ring umgab, realisiert nach 1821 an Stelle der geschleiften mittelalterlichen Festungsanlage. Es war eine der besten Lösungen städtischer Grünanlagen im 19. Jahrhundert in der ganzen Welt, die noch heute ihre Rolle ausgezeichnet erfüllt. Ebenfalls in Krakau entstand der von Dr. Jordan im Jahre 1888 gegründe erste Garten für Bewegungsspiele der Kinder und Jugend 29. Eine ähnliche Lösung wie die Krakauer „Planty" waren die „Waly Gubernatorskie" in Lemberg, aber in kleineren Ausmaßen und nicht so konsequent wie in Krakau eingerichtet. Größere Bedeutung für Lemberg hatte der im Jahre 1879 angelegte Park Stryjski, eine der schönsten städtischen Grünanlagen in Polen. Zusammmen mit den anderen damals angelegten Parks und Grünflächen belegten die öffentlichen Parkanlagen an
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G. CIOIEK, Ogrody Lublina w XIX wieku (Lublins Gärten im 19. Jahrhundert), „Ochrona Zabytkòw" 7, 1954, Nr. 4 (27), S. 263-270; W . KALINOWSKI, Rozbudowa Radomia (Anm. 7), S. 156. 28 A. RYNKOWSKA, (Anm. 24), S. 21-22. 29 F. KLEIN, Planty Krakowskie (Die Krakauer Planty), Krakòw 1911; J. DOBRZYCKI, O krakowskich Plantach (Über die Krakauer Planty), In: Zieleft Krakowa, Krakòw 1955, S. 9-22; J. LEPIARCZYK, O krakowskich ogrodach i parkach (Über die Krakauer Gärten und Parks), ebd., S. 37-38; B. STÇPNIEWSKA, Ogrody Krakowa (Die Krakauer Gärten), Krakòw 1977, S . 149-156, 171-177; M . BOROWIESKA-BIRKENMAJEROWA, J. DEMEL, (Anm. 12), S. 81-87.
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der Neige des 19. Jahrhunderts in Lemberg eine Fläche von ca. 100 ha, d.h. ein Drittel der ganzen Stadt, was in keinem der damaligen Großstädte angetroffen wurde 30 . In Warschau bildete eine interessante Lösung die Umwandlung der Ujazdowskie-Allee (einstiger Kalvarienweg) in eine Spazierstraße, die in den Jahren 1724-1731 abgesteckt worden ist und eine wichtige Verbindung zwischen Schloß Belvedere und dem Königsschloß darstellte (im 19. Jahrhundert Sitz der Statthalter des Zaren und der russischen Generalgouverneure). Diese Strecke umfaßte auch Lazienki, die einstige Sommerresidenz des letzten polnischen Königs mit dem ausgedehnten Landschaftspark und den 1818 angelegten Botanischen Garten, den Garten Dolina Szwajcarska aus dem Jahre 1827, ferner zahlreiche kleine Paläste und Villen der Aristokratie und der Finanzkapitalisten mit den umliegenden Gärten und schließlich den in den Jahren 1893-1896 angelegten Park Ujazdowski. Gleichzeitig brachte das 19. Jahrhundert in allen polnischen Städten die Liquidierung der Friedhöfe an den Kirchen und ihre Verlegung außerhalb der Bebauung. Die neuen Lebensverhältnisse in den Städten brachten neue Probleme auf dem Gebiet der Krankenpflege und des Gesundheitsschutzes. Zu einer neuen Erscheinung in den Städten des 19. Jahrhunderts wurden die Krankenhäuser, die nicht mehr wie einst Stätten karitativer Bestrebungen, sondern der Heilbehandlung waren. Sie befanden sich in Anbauten neben den Klöstern oder in einzeln abgesonderten Gebäuden, waren aber noch keine Krankenhäuser im heutigen Sinne, die in besonderen Gebäudekomplexen untergebracht sind, zuweilen ganze Stadtviertel bilden und in der räumlichen Planung der Stadt einen exponierten Platz einnehmen. Der bekannte Architekt Henryk Marconi bearbeitete einen normalisierten Modellentwurf für Kreiskrankenhäuser. Nach diesem Entwurf wurde u.a. das Krankenhaus in Lçczyca im Jahre 1842 errichtet; von einem isolierenden Grünstreifen umgeben, belegte es ein ganzes Stadtviertel von Lçczyca. In Wieluft wurde das monumentale Krankenhausgebäude nach einem Entwurf desselben Architekten in den Jahren 1837-1848 außerhalb der geschlossenen Bebauung errichtet und durch eine Aussichtsallee mit dem Stadtinneren verbunden 31 . In den Jahren 1842-1845 baute man nach dem typischen Entwurf von Marconi das Krankenhaus in LòdÈ, und zwar übereinstimmend mit den damaligen städtebaulichen und sanitären Beweggründen fern vom Zentrum der Stadt, am sog. Fabrikmarkt 32 . In den Jahren 1833-1855 wurden in ganz Kongreßpolen 48 Krankenhäuser angelegt. In Krakau hat der Komplex von Krankenhäusern und Kliniken, die sich entlang der Kopernik-Straße konzentrierten, ein Krankenhausviertel gebildet, das vom Rest der Stadt ziemlich gut isoliert war 33 . Ein ähnliches Krankenhausviertel entstand in den neunziger Jahren in Lemberg (Lyczakòw) 34 . Das ausgedehnte Gelände des ehemaligen Swiçtokrzyski-Gutshofes in Warschau an der No-
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K . K . PAWIOWSKI, Narodziny miasta nowoczesnego (Die Geburt einer neuzeitlichen Stadt), in: Sztuka drugiej potowy XIX wieku, Warszawa 1973, S. 73. K. DUMAIA, (Anm. 2.), S. 66-67. J. FUAIEK, Pierwszy szpital w Lodzi w latach 1845-1884 (Das erste Krankenhaus in Lòdi in den Jahren 1845-1884), „Rocznik Lòdzki" Bd. XX(V) (1959), S. 91-127; A. RYNKOWSKA, (Anm. 24), S. 59-62. J. PURCHLA, Jak powstal nowoczesny Krakòw (Wie entstand das moderne Krakau) Krakòw 1979, S. 116.
M K . K . PAWIOWSKI, ( A n m . 3 0 ) , S . 7 2 .
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wogrodzka-Straße belegte im Jahre 1901 das Krankenhaus vom Kindlein Jesu, das als Universitätsklinik diente 3S . Eine neue Erscheinung um die Mitte des Jahrhunderts war die Gründung der ersten Kurorte auf polnischem Boden. Noch im 18. Jahrhundert entstand der in der Zeit der Freien Stadt Krakau ausgebaute, städtebaulich und architektonisch interessante Komplex in Krzeszowice, mit seinen in einem Park gelegenen speziellen Kurortgebäuden. Im Jahre 1836 wurden die Badeanstalt und der Kurpark in Busk dem Gebrauch übergeben. Der Kurort wurde ca. 1 km südlich der Stadt angelegt und mit ihr durch eine Allee verbunden, die an der südöstlichen Ecke des Marktplatzes ihren Anfang nahm. In demselben Jahr entstanden die ersten Badeanstalten in Ciechocinek, damals ein Dorf, das sich sehr schnell in einen modernen Kurort mit der charakteristischen Architektur und ausgedehnten Straßenpromenaden verwandelte; Stadtrecht erhielt Ciechocinek erst im Jahre 1916. Im Jahre 1875 wurde in Inowroclaw eine Badeanstalt eingerichtet und mit dem Ausbau eines Kurort- und Wohnviertels westlich der mittelalterlichen Stadt begonnen, das überwiegend aus Sommervillen und Pensionen bestand 36 . Ein wichtiger Faktor, der sowohl die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur wie auch die Bebauung und Stadtplanung der polnischen Städte im 19. Jahrhundert gestaltete, waren die Garnisonen. Auf polnischem Boden begannen Festungsstädte erst im 19. Jahrhundert zu entstehen, früher gab es sie nicht. Im 19. Jahrhundert haben die Teilungsmächte viele polnische Städte in Festungen umgewandelt oder als Standorte für große Truppeneinheiten bestimmt. In der Bebauung und in der Stadtplanung fand dies seinen Niederschlag in der Entstehung ganzer Kasernenviertel, was besonders häufig im preußischen Teilungsgebiet vorkam. Manche Städte wurden von einem System der Zitadellen und Forts umgeben, was die räumliche Entfaltung sehr erschwerte und störte. Neue Stadtteile konnten erst in einer beträchtlichen Entfernung vom Festungsgürtel entstehen, also losgelöst vom Zentrum der Stadt, während die Bevölkerungsdichte in der Bebauung innerhalb des Festungsgürtels anormal anstieg. In der in eine Festung umgewandelten Stadt Posen erreichte in den neunziger Jahren die Bevölkerungsdichte die im ganzen Deutschen Reich höchste Kennziffer - 515 Einwohner je ha 3 7 . Im Schatten der Festung verblieb im ganzen 19. Jahrhundert die Stadt Graudenz, die von der preußischen Regierung als ein befestigtes Lager behandelt wurde. Posen begann man in den Jahren 1829-1839 zu befestigen, um 1869 war es gänzlich von einem Befestigungsgürtel umgeben, der erst im Jahre 1900 teilweise abgetragen worden ist 38 . Die in den Jahren 1832-1836 an der Stelle einer
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Nowy szpital Dzieciatka Jezus i dorn wychowawczy w Warszawie (Das neue Krankenhaus vom Kindlein Jesu und das Erziehungsheim in Warschau), Monographie bearbeitet von P . GAIECKI und anderen, Warszawa 1901. 36 W. KALINOWSKI, S. TRAWKOWSKI, Uwagi o urbanistyce (Anm. 7), S. 99; M. BOROWIEJSKA-BIRKENMAJEROWA, J . DEMEL, (Anm. 12), S. 154 und Anm. 1 9 ; J . BRZEZICHOWA, Przeobrazenia gospodarcze miasta w okresie zaboru pruskiego (1815-1919) (Wirtschaftliche Wandlungen der Stadt im preußischen Teilungsgebiet 1815-1919), In: Dzieje Inowroclawia Bd. I, Warszawa 1978, S. 306; Katalog zabytkòw sztuki w Polsce (Katalog der Kunstdenkmäler in Polen), Bd. III, H. 1., S. 7; Bd. XI, H. 1, S. 3-5; H. 8, S. 8-9 u. 17. 37 T . RUSZCZYÑSKA, A . SIAWSKA, Poznañ (Die Stadt Posen), Warszawa 1 9 5 3 , S . 1 3 4 . 3 « EBD., S. 123-126,141.
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speziell abgetragenen Wohnsiedlung erbaute und im Krim-Krieg 1854-1856 sowie später in den Jahren 1857-1875 weiter ausgebaute Zitadelle hemmte die Entwicklung Warschaus in nördlicher Richtung, und erst nachdem das Verbot der Bebauung innerhalb des Festungsgürtels 1911 aufgehoben wurde, war der Ausbau der Stadt Warschau in nördlicher Richtung möglich. Es konnten nun dort neue Wohnsiedlungen entstehen, was aber erst nach Beendigung des Ersten Weltkrieges erfolgte. Die Entwicklung Warschaus in westlicher und südlicher Richtung haben weitere Festungswerke unterbrochen, die in den Jahren 1883-1886 errichtet worden sind 39 . Intensive Befestigungsarbeiten rings um Krakau wurden in den Jahren 1850-1855 und 1863-1865 durchgeführt. Diese hemmten wirksam 50 Jahre lang die Bautätigkeit in Krakau, um so mehr, als im Jahre 1859 die österreichischen Militärbehörden innerhalb der Festungslinien zwei Zonen vorzeichneten : in der ersten waren Änderungen im Stand der vorhandenen Bebauung streng verboten, in der zweiten Zone mußten die Hausbesitzer die sog. Demolationsverfplichtungen unterzeichnen, laut welchen sie zur Zerstörung der Häuser auf jederzeitigen Befehl verpflichtet waren. Das hat natürlich nicht zu soliden Bauvorhaben angeregt und war die Ursache, daß hier eine schludrige und chaotische Bebauung entstand. Dies war um so fühlbarer, als in dieser Zeit andere Städte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, wie Wien, Szegedin, Oradea, sich der Festungsanlagen entledigten und die Voraussetzungen für eine freie Entwicklung erzielten 40. Ein besonderes Beispiel der Einwirkung militärischer Faktoren auf die Planung einer Stadt war der Bau von Terespol nach 1854. Im Zusammenhang mit dem Ausbau der Festung Brest-Litowsk und ihrer Verstärkung bei Ausbruch des Krimkriegs wurde die Bereinigung des Vorfeldes dieser Festung und die Liquidierung des dort liegenden Städtchens Terespol und seine Verlegung an eine andere Stelle angeordnet. Das neue Terespol wurde nach einem regulären quadratischen Plan gebaut, mit rechtwinkeligem Marktplatz, umgeben von den öffentlichen Gebäuden und einem schachbrettartigen Strassennetz 41 . Eine besondere Frage war die Standortbestimmung der Bahnhöfe unter dem Schutz der Festungen, was zur Durchführung der Bahnlinien auf eine für die Stadt ungünstige Weise zwang. So wurde mit dem Hauptbahnhof in Posen und auch mit dem Danziger Bahnhof in Warschau verfahren. Der Einfluß der Befestigungen auf die Entwicklung der polnischen Städte im 19. Jahrhundert ist bisher von Historikern des Städtebaus nicht näher untersucht worden, für diese Fragen interessierte man sich hauptsächlich vom Gesichtspunkt der „architectura militaris" 42. 39
S. DZIEWULSKI, Rozwòj terytorialny miasta Warszaw w ciagu wiekòw (1230-1930) (Territoriale Entwicklung der Stadt Warschau im Laufe der Jahrhunderte - 1230-1930), „Kronika Warszawy" 9,1933, Nr. 3, S. 130-132; K. DUMAIA, (Anm. 2), S. 157-159. TO J. PURCHLA, (Anm. 33), S. 16-17. K . DUMAIA, (Anm. 2), S. 110-113. 42 E. WAWRZKOWICZ, Cytadela aleksandrowska w Warszawie (Die Alexander-Zitadelle in Warschau), Warszawa 1920; H.J. MOSCICKI, Cytadela warszawska, zarys historii budowy (Die Warschauer Zitadelle, geschichtlicher Abriß des Baus), Warszawa 1963; J. BOGDANOWSKI, Fortyfikacja austriacka na polskich ziemiach w latach 1850-1914 (österreichische Befestigungsanlagen auf polnischem Boden in den Jahren 1850-1914), „Studia i Materialy do Historii WojskowoSci" Bd. XII, T. 1 (1966), S . 70-105; J. STANKIEWICZ, Ze studiòw nad fortyfikacjami
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Der Ausbau der modernen polnischen Städte in Anlehnung an ältere, häufig noch aus dem Mittelalter stammende Stadtanlagen schuf Probleme des Denkmalschutzes. Dieses Problem gab es in Lòdi, einer Stadt, die im 19. Jahrhundert fast ganz neu erbaut wurde, so daß sie jeglicher Relikte der älteren Architektur entbehrte, nicht. Auch in Warschau war es kein ernstes Problem, da sich die moderne Stadt eigentlich unabhängig vom alten Zentrum entwickelt hat; letzteres verblieb gänzlich am Rande, es störte nicht den Ausbau neuer Stadtteile, war von Abtragungen oder Umgestaltungen nicht bedroht (es existierte ein glücklicherweise nicht verwirklichtes Projekt, eine neue Verbindungsstraße vom Königsschloß, als Sitz des Statthalters, zur Zitadelle, eben durch die Gebiete der Altstadt durchzustechen) 43 . Die Fragen des Schutzes der altertümlichen Bebauung und städtischen Anlagen gewannen aber in solchen Städten an Bedeutung wie Krakau 44 , Thorn, Posen, Danzig und in vielen anderen kleinen Städten, wo die mittelalterlichen Stadtviertel weiterhin die Funktion eines Zentrums erfüllten und auf irgendeine Weise in den Organismus einer neuzeitlichen Stadt eingeschlossen und den neuen Funktionen angepaßt werden mußten. So entstand das Problem der Verbreiterung der zu schmalen altstädtischen Straßen, um den zunehmenden Verkehr zu erleichtern. Alte öffentliche Gebäude mußten abgetragen oder modernisiert werden, am Ende des Jahrhunderts wurde der Straßenbahnverkehr eingeführt usw. Schon in den Jahren 1815-1830 wurden viele Rathäuser im Stil der Gotik, Renaissance und des Barock sowie Markthallen im Rahmen einer Aktion zum Ordnen der Marktplätze und ihrer Umwandlung in offene Plätze abgetragen. Abgerissen wurden damals viele mittelalterliche städtische Festungsgürtel. Unmittelbar nach der Einnahme von Krakau begannen die österreichischen Behörden im Jahr 1796 mit der Niederreißung der mittelalterlichen Wehrmauern; diese Aktion wurde in den Jahren 1810-1814 endgültig abgeschlossen. Glücklicherweise wurde das Gelände der abgetragenen Krakauer Befestigungen nicht bebaut, sondern in die „Planty" umgewandelt, einen herrlichen Park, der, wie schon erwähnt, die Stadt umgürtet und bis heute eine Oase des Grüns im Zentrum von Krakau darstellt. Tatsache bleibt jedoch, daß die altertümlichen Wehrmauern, mit Ausnahme eines geringen Teils am Tor Brama Floriañska mit der Barbakane, unwiederbringlich zerstört worden sind. Obwohl schon am Anfang des 19. Jahrhunderts aufgeklärte Bürger die Notwendigkeit eingesehen haben, den historischen Nachlaß unter Schutz zu stellen, wurde die Rettung der Baudenkmäler durch den Mangel irgendwelcher gesetzlicher Vorschriften und einer kompetenten Dienststelle erschwert. In Preußen ist bereits 1843 ein Konservator der Kunstdenkmäler
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pruskimi na ziemiach polskich (Aus Studien über die preußischen Befestigungsanlagen auf polnischem Boden), ebd. S . 106-152; E. TOMCZAK, Twierdza Toruñ (Die Festung Thorn), ebd. S . 185-197; A. GRUSZECKI, Twierdze rosyjskie na ziemiach polskich (Russische Festungen auf polnischem Boden), ebd. S. 198-230; A. GILEWICZ, Twierdza Przemyäl w XIX i XX w. (Die Festung Przemyäl im 19. und 20. Jahrhundert), „Rocznik Przemyski" Bd. XII (1968), S. 149-171; J. STANKIEWICZ, Twierdza grudzi?dzka (Die Festung Graudenz), „Rocznik Grudzi^dzki" Bd. V-VI (1970), S. 125-209. S. KIENIEWICZ, Pomysíy urbanistyczne margrabiego Wielopolskiego Ζ 1 8 6 2 roku (Städtebauliche Ideen des Markgrafen Wielopolski vom Jahre 1 8 6 2 ) , „Prace Instytutu Urbanistyki i Architektury" Bd. II ( 1 9 5 3 ) , H . 3 , S. 1 - 8 ; K . DUMAÍA, (Anm. 2 ) , S. 1 4 6 . M. BOROWIEJSKA- BIRKENMAJEROWA, J. DEMEL, (Anm. 12), S. 108-127.
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eingesetzt worden, aber in den Preußen einverleibten polnischen Gebieten erfolgte erst nach 1891 die Einsetzung von Provinzialkonservatoren. Relativ besser stellte sich die Lage im österreichischen Teilungsgebiet, wo schon seit 1848 die Abteilung Kunst und Archäologie der Krakauer Wissenschaftlichen Gesellschaft in der Denkmalpflege tätig war. Im Jahre 1856 hat die drei Jahre zuvor ins Leben gerufene „K.K. Zentralkommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmäler" die ersten Konservatoren eingesetzt, und in den Jahren 1888-1890 entstanden zwei Kreise von Konservatoren - für Ostgalizien in Lemberg und für Westgalizien in Krakau. Am schlimmsten sah die Frage des Denkmalschutzes in Kongreßpolen aus, wo es bis zum Jahr 1906 (Entstehung der Gesellschaft für Denkmalpflege, als ein Effekt der Revolution vom Jahre 1905), praktisch keine staatliche noch gesellschaftliche Dienststelle für Denkmalpflege gab; die zaristischen Behörden interessierten sich überhaupt nicht für das Schicksal der polnischen Denkmäler 45 . Sämtliche Konzeptionen und Maßnahmen vor dem Ersten Weltkrieg betrafen jedoch nur einzelne Architekturdenkmäler und weder Komplexe noch ganze historische Stadtanlagen. Nicht nur die Architekten und Städtebauer in der Zeit des Eklektizismus, sondern auch die damaligen Konservatoren zeigten kein Verständnis für den Wert der altertümlichen Architektur- und städtebaulichen Komplexe, sie schätzten nur einzelne wichtige Gebäude. Die Idee der komplexen Wiederherstellung altertümlicher Städte und des Schutzes ihrer Stadtanlagen ist erst im 20. Jahrhundert entstanden. Der Umbau und Ausbau der polnischen Städte in allen drei Teilungsgebieten im 19. Jahrhundert verlief überwiegend spontan und ohne allgemeingeltende städtebauliche Konzeptionen. Eine Ausnahme bildete der Bau von Zyrardòw und der Arbeitersiedlungen in Lòdi, obgleich letztere in der chaotischen Bebauung der ganzen Stadt untergingen. In Warschau wurde 1856 ein „Komitee für die Anfertigung eines allgemeinen Regulationsplans der Straßen und Plätze" ins Leben gerufen, aber niemals wurde eine Regulationsplan für ganz Warschau bearbeitet und geplante Arbeiten höchstens in kleinem Maßstab durchgeführt. Der Ausbau Warschaus umfaßte vor allem sämtliche Vorstädte, er beruhte auf der Verdichtung und Erhöhung der Bebauung sowie der Einbeziehung weiterer neuer Grundstücke in die geschlossene Bebauung, doch alles dies verlief ausschließlich spontan und ohne Plan. Trotz der Durchführung vieler neuer Straßen wurde kein einziges städtebauliches Werk in großen Ausßmaßen errichtet, auch keine einzige Magistrale oder gut komponierte Anlage. Nicht ausgenutzt wurde die einmalige Chance zur Regulierung des Straßennetzes von Warschau, wie es die Möglichkeit des Baus von Boulevards an der Weichsel war (solche gut geplanten repräsentativen Lösungen wurden damals in vielen europäischen Hauptstädten, z.B. Petersburg, Paris, Budapest realisiert). Die einzige großangelegte Unternehmung zur Regulierung der Stadtmitte von Warschau war die Parzellierung des Geländes, das nach der Versetzung der Gebäude des Krankenhauses vom Kindlein Jesu an eine andere Stelle verblieben war. Ein Entwurf, der einen ganzen Stadtteil rechts der Weichsel (Praga) betraf, war der 45
J. FRYCZ, Restauracja i konserwacja zabytkòw architektury w Polsce w latach 1795-1918 (Restauration und Konservierung der Baudenkmäler in Polen in den Jahren 1795-1918), Warszawa 1975, S. 11-12.
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im Jahre 1864 bestätigte Regulationsplan für Praga, der jedoch nur zum Teil realisiert wurde. Indessen wurde die chaotische Erweiterung der Industriebetriebe zugelassen, was eine ungünstige Vermengung der Wohn- mit der Industriebebauung zur Folge hatte. Den im modernen Städtebau so wichtigen Grundsatz der zonalen Differenzierung der Bebauung, der in gewissem Maß in Zyrardòw und in den Fabriksiedlungen in Lòdè zur Anwendung kam, hat man in Warschau nicht respektiert 46 . Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Lage in Lemberg günstig ab, wo es zwar ebenfalls an einer allgemeinen städtebaulichen Konzeption und Koordinierung der Bauarbeiten fehlte, aber wo dank der gänzlich freien territorialen Entwicklung (keine Festungsanlagen) und dem relativ geringen Druck seitens der Industrie, ferner dank der starken autonomen Städtebehörden und der bedeutenden Investitionsmittel im Zusammenhang mit den von Lemberg ausgeübten Funktionen einer Hauptstadt Galiziens viel bessere Resultate als in den übrigen polnischen Städten erzielt worden sind: Manche Partien der Stadt wurden anläßlich der Errichtung neuer öffentlicher Gebäude (Landtag, Statthalterei, Stadttheater) modern umgebaut, die alte mittelalterliche Stadtmitte wurde entlastet, indem man die Sitze für einige Banken an einer anderen Stelle errichtete und ein neues Zentrum bildete, die neuen Stadtviertel rings um die Altstadt wurden ausgebaut, aber große Flächen für geschlossene Grünanlagen belassen 47. Normale Bedingungen für die Entwicklung von Krakau und Warschau entstanden erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach der Schleifung der Festungen in den Jahren 1909-1911. Mit der erzielten Freiheit in der territorialen Expansion war jetzt die Entstehung großen Unternehmungen in der Stadtplanung möglich. Das war die Geburt des modernen polnischen Städtebaus. Einen starken Einfluß auf diesen übten die städtebaulichen Gedanken Österreichs, Deutschlands, Rußlands, Frankreichs und Englands aus, wo mangels eigener polnischer Lehranstalten für Architektur (Bauakademien) die polnischen Architekten ihre Studien und Praktiken absolvierten. Eine bahnbrechende Rolle in der Geschichte des polnischen neuzeitlichen Städtebaus spielte der im Jahre 1909 ausgeschriebene Wettbewerb für einen Regulationsplan von Groß-Krakau. Das Reglement des Wettbewerbs unterstrich den Grundsatz der zonalen Einteilung der Stadt (also besondere Wohn-, Handels- und Industrieviertel usw.). In den zum Wettbewerb eingesandten Arbeiten kamen Konzeptionen sämtlicher großer Schulen des europäischen Städtebaus zu Worte: deutscher Funktionalismus, französischer Geometrismus, aber auch die englische Idee der Gartenstadt 48 . Sensationelle Ergebnisse brachte auch im Jahre 1912 der Wettbewerb auf einen Parzellationsplan des Bodenbesitzes von Adam Roniker in Zabki bei Warschau. Den
(Anm. 10), S . 179-268; K . DUMAIA, (Anm. 2), S . 132-172; idem, Ζ badañ nad rozwojem przestrzennym i budowlanym Warszawy w latach 1831-1867 (Aus Untersuchungen über die Baugeschichte Warschaus in den Jahren 1831-1867), In: Warszawa XIX wieku, H. 3, Warszawa 1974, S. 127-151; M. NIETYKSZA, W. PRUSS, Zmiany w uktadzie przestrzennym Warszawy (Änderungen in der räumlichen Anordnung von Warschau), In: Wielkomiejski rozwòj Warszawy do 1918, Hrsg. I. PIETRZAK-PAWIOWSKA, Warszawa 1973, S. 21-43. K.K. PAWIOWSKI, (Anm. 30), S. 61-77. K . K . PAWIOWSKI, Poczatki polskiej nowoczesnej mySli urbanistycznej (Die Anfänge des modernen städtebaulichen Denkens in Polen), in: Sztuka okoto 1900, Warszawa 1969, S. 70-78.
« E . SZWANKOWSKI,
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ersten Platz gewann die Arbeit von Tadeusz Totwitìski, die der Entwurf einer Gartenstadt war 49. Die Geschichte der räumlichen Entwicklung der Städte im 19. Jahrhundert ist schwach erforscht. Nicht nur in Polen, auch in anderen Ländern. Eine der Ursachen dieses Sachverhaltes ist die unter den Historikern des Städtebaus herrschende Überzeugung, daß das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet des städtebaulichen Gedankenguts eine unfruchtbare Epoche war und der Aufmerksamkeit des Forschers nicht würdig sei. Kann man jedoch auf eine solche Weise die Zeiten bestimmen, in welchen Eugène-Georges Haussman Paris umgebaut hat, in Wien die Ringstraße mit ihren Monumentalbauten, Denkmälern, Alleen und Gartenanlagen enstand, Tony Garnier die revolutionäre Idee einer "Cité industrielle" entwarf, und Ebenezer Howard in England mit seiner Konzeption der Gartenstadt Aufsehen erregte, ferner in New York der später überall in den Vereinigten Staaten nachgeahmte Gridiron-Plan entstand, der wohl monoton war und vieler Werte entbehrte, die gegenwärtig von der rationellen Stadtplanung gefordert werden, aber dennoch neu und originell gewesen ist? Nach Polen gelangte nur ein Nachhall der erwähnten städtebaulichen Konzeptionen. Aber auch in den polnischen Städten hat man im 19. Jahrhundert interessante Initiativen aufgenommen, die das Antlitz der neuzeitlichen Städte im Industriezeitalter gestaltet haben. Ihre wissenschaftliche Untersuchung hat erst begonnen. Die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler haben vor allem die interessantesten und wertvollsten Unternehmungen im Städtebau erregt, also die Regulierung der Städte in der Zeit Kongreßpolens, sowie der Bau und der Ausbau der beiden größten und am stärksten industrialisierten polnischen Städte: Warschau und Lòdi 5 0 . Sehr wenig wissen wir über die Entfaltung so großer und wichtiger polnischer Städte wie Posen, Krakau, Lemberg, Lublin, Wilna. Noch weniger ist uns darüber bekannnt, was auf dem Gebiet des Städtebaus in kleineren Städten geschah, die im übrigen - übereinstimmend mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Städte im industriellen Zeitalter - im 19. Jahrhundert an den Rand des Geschehens zurückgedrängt wurden, aber doch als ein charakteristisches Element im polnischen städtischen Landschaftbild bis jetzt verblieben sind.
« Ebd. S. 83-84. 50 Den aktuellen Stand der Forschungen über die Geschichte des polnischen Städtebaus im 19. Jahrhundert veranschaulicht die in obigen Anmerkungen zitierte Bibliographie. Außerdem gibt es viele historische Monographien einzelner Städte, in welchen auch die Entwicklung dieser Stadtanlagen erörtert wird; wenn es jedoch keine Spezialstudien sind, und sie keine neuen Feststellungen zur Geschichte des Städtebau beitragen, wurden sie hier nicht berücksichtigt. Allgemeine Erörterungen des Stands der Forschungen siehe W . KALINOWSKI, S. TRAWKOWSKI, (Anm. 7); S. HERBST, Zadania i potrzeby polskiej urbanistyki historycznej (Aufgaben und Bedürfnisse des polnischen historischen Städtebaus), „Prace Instytutu Urbanistyki i Architektury" Bd. I (1951), H. 2, S. 7; W. KALINOWSKI, Badania nad historic budowy miast polskich w trzydziestoleciu (Untersuchungen zur Geschichte des Baus polnischer Städte in den dreißiger Jahren Volkspolens), „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki" 20, 1975, Nr. 2, S. 101-127.
P L A N N I N G FOR S T O C K H O L M By G ö r a n
1923-1958
Sidenbladh
"Facts, as I said... is a poor story teller. It starts a story at haphazard long before the beginning, rambles on inconsequently, and tails o f f , leaving loose ends hanging about, without a conclusion. " Somerset Maugham (Collected Short Stories vol. 3) This is not a summary in the strict sense of the word. It is not a carefully-balanced and condensed version of the Swedish text What I have tried to do is to tell the story of planning for Stockholm in such a way as to interest an English-speaking person with some knowledge and more curiosity about the City of Stockholm. The time span is from the end of the post-World War I crisis at the beginning of the 1920's up to the late 1950's. These time limits were set by the publisher, which is kommittén för Stockholms Forskning ( = the committee for Stockholm Studies), and my story is a minor part of a vast publishing project. When the City Council was about to celebrate its 100 years of existence - which took place in 1963 - it wanted a series of books on the history of Stockholm from 1850 to 1950. The planning history has been split into three parts. The first is Gösta Selling's "Esplanadsystemet och Albert Lindhagen. Stadsplanering i Stockholm 1857-1877" (Stockholm 1970). Selling is working on a continuation which will cover the time up to 1923. This is the third part. In order to get the most out of the reading of this book, it is advisable to have a map of Stockholm at hand. There is one in the telephone directory and the local traffic system - SL - sells one which is easier to carry around in the pocket. Introduction As an introduction to non-Swedish readers, something has to be said about the pattern of local administration and government. Those with a deeper interest are recommended to read the chapter on Stockholm in "Great Cities of the World", edited by William A. Robson and D.E. Regan 2 . The ultimate political power in the City was and is vested in the City Council. Originally, there were 1
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Es handelt sich um die Zusammenfassung eines in schwedischer Sprache erschienenen Buches, das alle weiterführenden Quellen- und Literaturangaben enthält. Vgl. G Ö R A N SIDENBALDH, Planering för Stockholm, 1923-1958, Monografier utgivna av Stockholms kommunalförvaltning 22 :V, Stockholm 1981. WILLIAM A. ROBSON / D.E. REGAN (eds.) Great Cities of the World, London 1972.
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100 members but 1969 this number was increased to 101. The members are elected directly - formerly for a period for four years but now for three. During most of the period with which we are dealing, there have been four political parties, namely: - Conservatives - Liberals. Before 1935, there were two such parties - Social democrats - Communists. In 1966 the former agrarian party entered city politics, calling itself Center Party. The two first-mentioned parties vote together in most cases and so do the two socialist ones. In all situations, it is important to know which block has the majority. During the period dealt with here, the Council met regularly twelve times a year (not in July and August but twice in December and June). Decisions were made by simple majority, but before 1948 a qualified majority was needed for all new "economic engagements". Such a large body could not exercise actual political power. This was entrusted to the Central Administrative Board ( = Stadskollegium) where top politicians (mostly twelve in number) met every Thursday afternoon. Here, the different parties were represented according to their strength in the Council. If the Board was unanimous there was almost never debate in the Council. This took place only when in the Board there had been a difference of opinion. From 1920, the daily administrative work was headed by "professional politicans", as distinct from "spare time politicane". The former are here called aldermen. In the U.S. they would correspond to commissioners. Originally they were four in number - from 1954 nine. Most of them have been elected from amongst the top politicians in different parties according to the strength of these. Thus the City has had "coalition governments". Since 1940, the alderman for Finance has come from the biggest party within the majority block. It was only between 1946 and 1950 that the communists had so many seats in the Council that they could qualify for a post as alderman. During the rest of the time, the aldermen have come from the other three parties. The aldermen have always been present at the meeting of the Board, but most of the time they could not vote there. In the Stockholm administration, there is no person corresponding to a mayor in an U.S. city. Since the late 40's, the City has been governed through negotiations between the leaders of the three big parties, sometimes with the help of a few others. Earlier, the decisions were made literally on the floor of the Council. It was not until the votes were counted that it was known for certain which "block" had won. Sometimes before 1960 the actual political mechanism changed to become less open to hazards. The individual parties had separate closed meetings on the Thursday evening before the Council was due to meet on the following Monday. There the party's standpoints were worked out. In most cases all the members agreed to support them. - On Friday and Saturday morning, the last compromises between the different parties could be made. The decision in the Council, therefore, were to confirm standpoints already taken and known to its members. The debates, however, could take a very long time. Sometimes the speaker seemed to address himself, or herself, not only to the shorthand recording - later to be printed - but also to the galleries for the
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press and public. The Council meetings were and are open to them, which the meetings of the Board are not. RespQnsible for the continous administration in different fields are commissions, each with five to nine members and with an alderman in the chair. They meet once or twice a month. Formally, the members are elected by the Council, but in reality each party knows how many seats it can have and itself decides who will occupy them. Most members of any commission are also members - present or future - of the Council. During the early years dealt with here, the Conservatives sometimes elected "non-political" members of a commission. In the commission for physical planning, there has been a number of architects, sometimes as deputy chairmen. The deputy chairman and the alderman in the chair belong to opposing parties. In a way, this is a guarantee that any political substance in an issue will be brought up for consideration at an early stage. To conclude this preamble on principles governing administration, it may be noted that during these times there was nothing in our laws equivalent to the "public hearings" used in the U.S. 1. P o s t - w a r y e a r s a n d b o o m
period
Sweden had stayed out of World War I, but, of course, the economic consequences affected the country deeply. The old German Reich had been our number one partner in trade as well as in cultural relations. Before war and revolution, Stockholm had lively contacts with Petersburg/Petrograd in the fields of commerce and industry. In the early 20's, there was a strong common endeavour to bring back "normal conditions" in the economic life generally and for builders in particular. With this in view, in 1920 the National government revaluated the currency, which had far-reaching and somewhat unexpected calamitous consequences. However, by 1923 the crisis was considered overcome and building of dwellings increased steadily. The housing crisis, apparent since 1917, had been the subject of various political and administrative measures by the National as well as the local administration. Certain measures only had been reasonably successful. By the year 1923, housing policy had been reduced to as someone put it - "a branch of the City's care of the poor". Something of what had come about during this period was to remain. A City Planning Commission began to function from 1921. Co-operative-housing societies bloomed and took over a large part of the building for the lower middle class. Two such societies dominated, SKB (Stockholms Kooperativa Byggnadsförening) started in 1916 and HSB (Hyresgästernas Sparkasse- och Byggnadsförening) in 1923. During the 1920's, detailed plans were prepared for most blocks in the densely built-up area of the City. These plans were to guide new construction so that living conditions there could be improved. Streets 12 meters wide were to be increased to 18 meters. Originally almost each building lot had had its own separate courtyard. Now these were to be joined, the ultimate goal being one large courtyard for the common use and enjoyment of all the people living in the whole block. This policy was initiated and pursued by Sigurd Westholm,
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City Architect 1916-41. As early as 1908, the "Garden Cities of Stockholm" had been started on land owned by the City. During the 1920's, the activity was expanded and, from 1927, included "self-build cottages". Instead of paying in cash the sum still remaining to be found over and above possible loans, the prospective owner-families made a working contribution. They dug and constructed foundations to receive the bare framework and then - by means of prefabricated units and standardized equipment - finished the house themselves, with the exception of such work as the installation of water, heating and electricity. 2. T h e f u n c t i o n a l s t y l e At the end of the 1920's, new influences, mainly from Germany and France, brought about changes in architecture as well as in city planning. As early as 1928 a few individual buildings of this kind were started and classified as "functionalistic". A grand opening of a new "era in architecure" was the Stockholm Exhibition of 1930. The main volume of this was mostly devoted to industrial arts and crafts, but the exhibition halls themselves and a number of furnished dwellings provided fuel for an intense debate: "Was functional architecture a style?" Or was it a new working method in designing buildings, cities, furniture and so on? The new thinking was applied in a number of housing schemes at the edge of the existing densely built-up city as well as in suburbs. Earlier city-owned suburban areas had been developed almost exclusively with one family houses, but from 1931 on, large areas were built with multi-family houses. They had very narrow blocks - less than 10 meters - which was two-thirds of what had hitherto been the normal width. The buildings had only three stories. This Chapter tells also about the new schools built in "functionalistic style". In addition, it contains a review of the parks which, from 1938 to 1971, were in the charge of Holger Blom. 3. T h e s t a t e i n t h e c i t y Often parliaments are in conflict with the cities which accommondate them. There are tensions between the National and local governments. In Stockholm this has been plain for everyone to see - even when both have sprung from the same political party. Conflicts of this kind came repeatedly to the surface when the National government was selling Crown land no longer needed for military use to speculative builders, as well as when the National Railway System was affected by City planning measures. There were also minor problems, for example, when both the National and the local administration claimed title to the same land and when Parliament discovered that the City ought to pay for the public's use of the so-called Royal Parks. Almost continuously, during all the time covered by my story, representatives of the Crown and of the City have been negotiating about land, trying to trade land against land in order to avoid paying with money as this could affect the market prices.
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Map 1 Traffic planning for Stockholm by a proposal of 1958
LEGEND: Central Business Area Boundary of Inner Town District Main Railways local Railways Underground Railways
Gala Led Lank Karta Väg
= = = — =
Street Route Link Map Road,Avenue
A circel of Highways should surround Stockholm in the boundaries of 1900. The western part Essingleden was realised 1959-66, while decision of building the eastern connection passing the harbour Osterleden later was given up, also the building of the east-west Main Street, passing the down town area, Ràdmannsieden. In the seventies initiative and responsibility for traffic planning was transferred from the community to the "Landsting".
A very important land agreement was made in 1928, when the City - among other things - obtained a stretch of land which could be developed along lake Mälaren, the western part of Norr Mälarstrand. The National government in turn was able to sell out to private builders a first part of an open field, Gärdet, which, for some hundred years, had been used for drilling and parading the
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Royal Guards and some less noble regiments. It was the very same field to which the Labour-Party marched each 1st May to call for "justice, freedom and bread". Citizens from different social levels disliked the idea of the field being built upon, whilst the representatives of Parliament simply wanted to make as much money as possible. The regiments were to have new barracks built further out and they must be paid for. The major agreement of 1928 was followed by a number of minor ones, each fiercely debated, until 1936 when Henning Leo, Director-General of the National Government Building Board, discovered that the land not yet sold might be needed for governmental public buildings. He was able to stop further development on Gärdet and, ten years later, he was active in leasing for 50 years 100 hectares of open land to the City as park in exchange for the municipal airport Bromma, which the National government wanted to extend to meet new civil aviation demands after the war. Two years later, the City was able to buy, as an addition to the leased field, more Crown land on Djurgarden - Kaknäs - to be preserved as park. Elsewhere there was Crown land which was planned for development. Some of it was built according to the plans, some was not. One area of the latter kind was Marieberg, on outer Kungsholmen, which, in 1934-36, was planned for dwellings. Only a few multi-family buildings were ever erected. There were difficulties in clearing the land until the early 1960's and then it was sold to two newspapers which were moving out of Nedre Norrmalm and to the Soviet Embassy, which was in need of larger and more dignified accommodation. Two old parks in the City, Kungsträdgärden ( = King's Garden) and Humlegárden ( = Hopgarden) were both originally Crown land. In the old days they were fenced in and closed at night. The latter was opened to the public in 1765 and the former in 1818. Since the beginning of this century both parks have been maintained by the City's Park Department and a small ground rent paid to the Crown. However, from 1971, the City has become owner of Kungstrôdgàrden. To celebrate the City's 700-year Jubilee, Kungsträdgärden was transformed in 1953 from a rather soulless ornamental park to one intended to be used by the people, with a stage for song and music, skating rink, chessboard and opportunities to eat and drink. Just outside the densely built-up areas to the north and northeast, there were, and still are, wide stretches of Crown land, offering citizens very attractive recreation possibilities - for many within walking distance. The largest area is Djurgârden ( = Deergarden), once royal hunting ground. Gördet, already mentioned, is part of that area. Since 1926, the City bears some of the cost of maintaining that area. The same is the case with the park at Haga, although it is outside the city limits. 4. T r a f f i c b e f o r e t h e m o t o r c a r From 1877 to 1971 the City administration had been engaged in public transportations as owner of a tram company. To start with, there were other tram companies as well, but by 1920 the City had bought them all. This meant that all lines serving areas inside the City limits - and one outside line - were owned and operated as public transport. In 1929, buses were added. Some
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outside suburbs were and are served by trains run by the National Railway System. Before 1971, this system ran buses also and there were numerous other bus lines. They have all been taken over by the County Council and from 1971 it has been responsible for all passenger traffic. This merger of the Greater Stockholm traffic took place after the period dealt with in this book, but has been referred to very shortly. The critical negotiations were led by Nils Hörjel and concluded in 1964. The solution with only one traffic organization owned by the County Council (apart from the National Railways) was made possible as the City of Stockholm joined the County Council. Many debates had taken place within the City Council on the subject of public transport, such as on fare levels and on subsidizing the suburban traffic. This last item had strong ties with the housing policy, which indluded the building of new suburbs. Trolley buses were used from 1941 to 1964. The Trams - with the exception of one suburban line - were done away with on the night of 3rd September, 1967, when Sweden changed from left-hand to right-hand driving. Nowadays some say that they regret that we scrapped the trams. Since that date, public transport in Stockholm offers local railways running mostly below ground - rarely above - and diesel buses in the streets. Up to 1965, the City of Stockholm built its underground system with no outside assistance. No National money was involved. This is the greatest venture ever undertaken by the City. It is dealt with separately in chapter 7. The critical traffic problem in the City of Stockholm has always been bound up with the traffic moving north and south passing Staden Mellan Broarna, that is "the City between the Bridges", or "The Old Town". Up to 1929, all ships from the Baltic into lake Mälaren had to pass the lock at Slussen, where bridges for street traffic - from 1921 including trams - had to be opened. All railway trains passed nearby on another very low bridge. In 1929, an alternative route for ships was opened and, in 1935, a north-south connecting high bridge was ready at the western fringe of the densely built-up area as mentioned later. But still the traffic situation at Slussen remained difficult. It was "the wasp's waist". Solutions had to show how traffic was to reach the main land to the north, Norrmalm. The problem was to find or create enough room for traffic without covering too much water surface or doing too much harm to historical or other buildings in "The Old Town". Projects form a continous chain through all the years from 1864 up to the present time - and so do agreements and contracts between the City and National authorities. The "connecting railway", over the central waters and a few meters from the church where most Swedish kings are buried, has always been an eyescore. By the turn of the century, a line far out to the west was proposed. With this project, the Central station could be rebuilt as a terminus with a big hall open to the south, to the sun, to the water and to the City Hall. But ever since 1923, the National Railway Board has persistently refused to engage itself financially in this project. However, the possibility was kept open up to 1937. After a long series of negotiations, the present railway bridges were built with two tracks only. The main part was opened in 1954, parallel to and a little to the west of the old line.
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This was done to make room for a six-lane bridge for street traffic and, over the southern water, a five-track municipal local railway. In 1953, these new bridges caused a heated debate on the subject of sacrificing the beauty of the cityscape for the rapidly-expanding city traffic. More about this is told in chapter 11. Notable bridges were built elsewhere. Àrstabron was built 1925-29 for the National railway crossing over the then new habour connection. It was planned to have an upper level for street traffic, but this was never built. The vertical clearance was made 26 meters which became a standard rule for most bridges built later. Another important bridge was Västerbron, already mentioned, opened in 1935. Still another was Tranebergsbron to serve the rapidly-growing western suburbs in Bromma - with further expansion then planned in Spânga. It was opened in 1934 and was then the widest concrete arch in the world. These traffic arteries had all been referred to in a Master Plan for the central part of Stockholm, prepared in 1928 by the then new planning director, Albert Lilienberg. He was a highly efficient man. For the past twenty years, he had been planning director in Göteborg (Gothenburg). He moved to Stockholm in 1927 and, in fifteen months' time, he presented the Planning Commission with this Master Plan. With this plan as a basis, he persuaded the Commission to decide on a number of far-reaching measures and principles decisions, which proved later to be vastly premature. Lilienberg had prepared the Master Plan almost entirely by himself. He did not collaborate well, neither with those within his office - which, until that time, had been responsible for projects - nor with certain other technical departments of the City. He had a disagreeable conflict with some of the most gifted architects in his office, and they left in 1929. Between Lilienberg, who was a civil engineer by education, and the architects there remained an animosity that lasted until 1944 - when he left the City administration - and almost up to the time of his death in 1967. The most spectacular traffic improvement of this time, however, was the planning and construction of the "cloverleaf intersection" at Slussen. This was a long and complicated affair, accomplished by Yngve Larsson, alderman for Public Works, and not by Lilienberg or the Planning Commission, which was under another alderman. Yngve Larsson was able to form the "1930 Traffic Committee" with himself as chairman and with the main task of proposing a system of local rail communications. However, the Committee understood that for any such systems to be approved and constructed, it must be preceded by a permanent improved solution of the traffic problems at Slussen. For decades these problems, and proposals to escape the, had been a kind of serial story in the City Hall. They were now solved by Gösta Lundborg and Tage William-Olsson in eleven months. The "cloverleaf was built quicker and more cheaply than calculated and was opened in 1935. This Chapter also deals with the landing facilities for civil aviation. From 1921 to 1936, these existed only on water. In 1936, Bromma airport was opened and, after ten years, leased to the National government for a period of 50 years. In addition, the City has been involved in two minor airfields. In 1957, Parliament decided finally to build an international airport - now Arlanda. By 1962, all flights to places outside Sweden had moved from Bromma to that airport.
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5. L o w e r N o r r m a l m u n t i l
1945
Lower Norrmalm is now the Stockholm CBD, that is to say, Central Business District. In the 1920's, at the beginning of this story, streets containing high-class shops and offices formed a ring. From Gustav Adolfs torg this high-value zone went along Drottninggatan up to Kungsgatan - which, in 1911, had been cut through high ground - down to Stureplan, Biblioteksgatan, Hammngatan and Regeringsgatan and back to Gustaf Adolfs torg. In the middle of this ring was the southern part of a high gravel ridge. With the exception of Brunkebergstorg - a triangular open space with strong individual character - all streets here were narrow and steep and thus unattractive to good business. For a long time past, it had been generally understood that it was important to renew this somewhat worn-down area. One reason was that the CBD tended to sprawl out and to become too large. Anyway, that was a common belief. A new east-west arterial street ought to be cut through and, from the north a late 19th century boulevard, Sveavägen, should be extended into the area. In his Master Plan of 1928, Lilienberg proposed to bring Sveavägen all the way down to Gustav Adolfs torg. Unfortunately for him, the line of Sveavägen did not coincide with the centre of the square, the Norrbro and the Royal Palace. This meant that Sveavägen would land in the north-eastern corner of the square. Another unfortunate thing was that Regeringsgatan had a slightly different bearing from that of Sveavägen and where these two streets would have crossed the building sites would have very acute angles. Before continuing this story, it may be necessary to answer the question: Was there no-one who wanted to save existing buildings and streets? (The street system was about 300 years old and a result of a grand redevelopment of the area in the middle of the 17th century). The answer is NO ONE. The problem was touched upon in 1934, but it was said that all money for conservation was needed in the medieval part, "The Old Town". Most of the buildings on lower Norrmalm were presumed to be late 19th century, a period in architecture not held in very great esteem in the 1930's. It was not until 1951 that someone said that buildings from that period were worth saving. But that story belongs to Chapter 10. Back to 1928. Lilienberg's proposals for lower Norrmalm met with many objections. In order to make progress, an international competition was held in 1931-33. One argument against Lilienberg was that his Sveaväg was "a heavy gun with traffic aiming at the Royal Palace". From then on, right up to the winter of 1945, the City and interested citizens muddled about with this plan. Lilienberg had left his post in 1944, but the City Planning Office and the majority of the members of the Planning Commission fought for the idea of bringing Sveavägen all the way down. Yngve Larsson, since 1940 alderman for Planning as well as for Public Works, was in the minority in the Planning Commission and in deep disagreement with Lilienberg. To have an alternative plan prepared, Yngve Larsson engaged Paul Hedqvist, then professor and one of the architects who had left Lilienberg's office in disgust in 1929. Together with the Public Works
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Department the alternative plan was prepared and, on 18th June 1945, Yngve Larsson was victorious in the City Council with 56 votes to 35. This was the end of the beginning. A new planning director, Sven Markelius, had been appointed some months earlier. His was the task of preparing basic documents for demolition and reconstruction. That story is told in Chapter 10. 6. W a r a n d p o s t - w a r
years
To prepare a big city for war is a huge task. Reluctantly the City Council started it in 1937, but almost nothing was really made or constructed until the fall of 1939. Then came programs for building shelters, organizing civil defence and preparing for emergency water supply. Fortunately, these were never put seriously to the test. During the Korean crisis, programs were activated and, from 1952, new shelters were blasted in the form of big tunnels deep down in the granite rock. In peacetime, they were and are used as garages. The last one of these was not ready until 1960. These shelter-garages are what remains of these wartime efforts. To prepare a big city for peace is a huge task also. The zeal and earnest efforts put into the reconstruction of Europe's war-damaged cities affected us too. The 1943 and 1944 plans for London were studied eagerly. In 1942, Lewis Mumford's "The Culture of Cities" was translated and published in Swedish. The New Towns Committee of Great Britain visited Stockholm in 1946. Neighbourhood unit planning became the fashion. Yngve Larsson initiated modern master planning. From 1944, it was led by the new planning director, Sven Markelius. Two publications came out of it. In June 1945, an extended program for a General Plan was called "Stockholm in the Future. Principles of the Outline Plan of Stockholm" (with 13 pages in English). In 1952 came "A General Plan for Stockholm" (with 19 pages in English). During the later years, the "principal" for this planning was the socalled Investment Committee, consisting of the really influential people in the City Hall. This Committee spent eleven long sessions discussing the plan. In the end, however, it took no stand of its own and neither did any other political body. The plan was published as presenting the views of the Planning Department. Within this, it served as basis for further work and, to those outside, it might have shown how different activities are interdependent, how action or no action in one sector had effects in others. Many have thought, both then and later on, that the years 1939-45 meant a pause in building and rebuilding the City. This was not the case. There were several activities going on then, bridging the boom period of the late 30's with the post-war intensive building which started in 1946. Thus, a number of new suburbs were built, where the neighbourhood ideas were tested, with varying degrees of success: Àrsta, Björkhagen and Högerstensäsen. Later, the latter was studied by Edmund Dahlström, sociologist. 7. T h e
underground
Never before in history has a metropolis so small as Stockholm taken a
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decision to build itself a rail transit system - mainly underground - as was done in 1941. How did this come about? The traffic from the suburbs to the City center, where a vast majority of all people worked, had to pass bottlenecks, mostly on bridges at the limits of the densely builtup area, near the old toll-gates. There was one bridge only to connect the City with all the western suburbs and three altogehter to connect it with those in the south and south-east. Early in the century - before the arrival of buses and private cars - the City had engaged in projects for suburban railways. In the inner city, these were to avoid the narrow streets by going underground. In 1941, when the population was only 600,000, the City decided to build a system of this kind: Lines coming from the southern suburbs and passing Skanstull should go below ground there, through the entire inner city and thereafter continue to the western suburbs. In the fall of 1945, constructions was started. The City paid for the right of way, the "hole" and structures; the remainder was to be converded by fares. It was not until after 1965 that National funds came in to help. When construction was under way, the capacity of the line was checked against calculated population growth. It was then found that it was necessary to build for longer trains, with eight cars instead of six. If, in the future, passengers from the southwestern suburbs were to use the underground north of Slussen, that part of the system must be built with four tracks and if the two extra tracks were to be used within the next ensuing 20 years, it would be economical to build them at once. So it was done. Part of the underground was opened from 1950. On the night of 23rd November, 1957 - after twelve years of construction - a party for 1600 guests, mostly workmen, was held in one new station. The next day the King cut the ribbon and the trains started running through the first complete underground system. Only seven years later a second system was opened. 8. N e w
suburbs
During the post-war years housing policy was renewed. A financing system began to function, based on loans and guarantees from the National government. Facing a population growth much stronger than anticipated, the City started to build - on its own land - new, rather compact suburbs. They had to be located outside the ring of pre-war suburbs which consisted of one-family houses and cottages. Already in the 1930's developers had been granted leases of the land for housing purposes. From 1943 onwards, this was done in the case of industries also. All dwellings were let through the City Housing Office. As in many other cities, the first plans contained neighbourhood units for about 10 000 inhabitants. Seven or eight units of this kind were build during the latter part of the 1940's. In one of them the company responsible for the major part of the development Svenska Bostäder (Swedish Dwellings) - in spite of its name the City was its sole owner - found that the commercial and civic center was too small to function satisfactorily. To the west of the City's suburban district, Bromma, lay the Spânga rural district, where, around 1930, the City had bought very large areas of land, most
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of it belonging to the Hässelby and Ràcksta estates. In 1949, after lengthy and tedious negotations, the City was able to incorporate most of the rural distict, at any rate the areas it already owned. A Master Plan was drawn up. It included a large center to be named Vällingby, which was to serve not 10 000 but 20 000 people living within walking distance, together with another 40 000 in nearby neighbourhoods. In close contact with representatives of the Chamber of Commerce, this center was planned in detail and build by Svenska Bostäder, already mentioned. The Vällingby Center was opened in November 1954, and, on the same day. the western branch of the underground started its operations from the station there. Vällingby was the major planning achievement of Sven Markelius together with the reconstruction of Lower Norrmalm - see chapter 10. It was the big step forward in suburban planning. It has been studied intensively both at home and from abroad. The best book on the subjects is, in my opinion, David Popenoe's, The Suburban Environment, Sweden and the United States (The University of Chicago Press, 1977). Vällingby set the example for several new suburbs elsewhere in the Stockholm region. To the south, the City built Farsta and Högdalen, opened in 1960 and 1959 and, in 1968, it opened Skärholmen. Similar developments have been made in other municipalities, such as Täby and Botkyrka and, inside the City limits, on Järvafältet, where the latest and probably the last big center, Kista, was opened in 1975. All these centers were built by the City simultaneously with the reconstruction of the CBD - Lower Norrmalm - as described in chapter 10. 9. P l a n n i n g f o r i n d u s t r y Generally speaking, the political planning debate is dominated by housing problems. Planning for places of work should be equally important if a well-balanced result is to be achieved. Even before the first World War, when the rural districts of Brännkyrka and Bromma were incorporated, it was said to be important that new industrial areas should be planned near new dwellings. However, there was then little success, if any, so far as industry was concerned. In the late 1920's, the geographers at the Stockholm University, led by Hans Wison Ahlmann, started intensive studies of the urban geography of the city. This resulted in a series of publications, the most well-known being by Tage William-Olsson. In addition, from 1934-37, the City Department of Real Estate made extensive studies of industrial location and land use. In the 1952 General Plan and in the parallel planning and building of the Vällingby area there was talk about the "ABC-town", where A stood for arbete ( = work), Β for bostäder ( = dwellings) and C for centrum ( = centre). The City was fairly successful in having places of work established in Vällingby and in other new suburban disticts. However, some disappointment was felt when it was discovered that of the gainfully-employed persons living in an area, the majority had not availed themselves of the opportunity of working there. A large share of the places of work was taken by others commuting into the ABC-towns.
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During the 1950's, permanent contacts were established between the financial and physical planners of the City on the one hand and the Företagsekonomiska Forskningsinstitutet, FFI ( = The Business Research Institute) at Handelskögskolan i Stockholm ( = The Stockholm School of Economics) on the other. The work started with an analysis of the flow of goods through the municipal harbour to customers of various kinds. From there, the studies were extended to include other objects for municipal investments. It culminated with "Studies in the Structure of the Stockholm Economy" by Roland Artie (Stockholm, 1959). As far as we knew, it was the first "input-output" study for any metropolitan area. Within the investment programs of the City reviewed in this chapter are market facilities for fish, vegetables, fruit and flowers. Included also are the various habour investments. The remarkable rise in traffic with ferries to and from Finland is described, although it came about after the period dealt with elsewhere in this book. 10. R e c o n s t r u c t i o n of L o w e r N o r r m a l m
started
Based on the decision of 1945 - see chapter 5 - Sven Markelius prepared "the 1946 Plan" in ten months. Two men helped him wholeheartedly - David Helldén as designer and C.F. Ahlberg as overall planner. As the inspiring force behind the 1945 winning design, Paul Hedqvist was asked to help, but he made only small contributions and later jointed the "opposition forces". In spite of considerable public support "the 1946 Plan" met with solid opposition from various departments and committees in the city administration. Even after the plan had been reduced in size, it became obvious that there was no chance of its approval by the City Council. It has therefore never been adopted by any political body. "The 1946 Plan" proposed a widened east-west street which was to continue over the central railway station area and Klara sjö to Kungsholmen. Sveavägen should be continued to the south until it reached this arterial street. Parallel to Sveavägen a pedestrian mall was proposed to connect the ancient market-place Hötorget ( = Haymarket) with a new central open space, now Sergelstorg. Between Sveavägen and the mall there should be five tall buildings. To the west of the mall there were to be low buildings with a municipal theatre - later reduced to a cinema - and, under all this, the central link of the new underground together with parking garages. Everyone sees the similarity of this project with the contemporary plan for the center of Rotterdam with Lijnbaan to the west of Coolsingel. Markelius and van Traa, the Rotterdam planning director, and their offices were in continuous contact with each other. There were, of course, differences. In Rotterdam, the Germans had done much to clear the land and the tall buildings there were for dwellings. A consequence of the Stockholm plan was that 158 buildings would have to be evacuated, the occupants re-housed, the buildings pulled down and, in most cases, the street lowered and built under with three levels for traffic, deliveries and parking, as well as for pipes and ducts of various kinds. To many it came as a shock to find that the City owened only 63 of these buildings. Some pieces of property were Crown land and the rest were in
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private hands. The then existing rules for expropriation were found to be "blunt tools". In 1953, after long discussions, the National Parliament consented to the request of the City and approved more effective legislation, called Lex Norrmalm. An important improvement was that the City could ask for the right to expropriate before a plan was even made public, much less approved. Earlier, it had been the other way round. Moreover, so-called prior admittance could be used, that is the City could take private property and use it soon after the Government had given the right to expropriate, in spite of the fact that the Court had not yet decided how much the City would have to pay for it. Obviously, a new administrative order was needed. The Planning Commission on its own was too weak in organization to push plans through. In 1951, a special commission was founded for this purpose. The alderman in charge of Planning, Helge Berglund, was made chairman and round the table he gathered representatives from all the city departments seriously involved, namely, the aldermen for Finance and Real Estate together with the nonpolitical directors for Real Estate, Planning, Transport, Public Works and Finance, plus the City Architect. However, this commission was formed of people who were all far too busy to be involved in the day-to-day reconstruction work. Therefore, under the commission, Berglund formed a "working expert party" with people from second or third levels in the administrations. It was for them to push plans through. Two top-ranking people, David Anger and Anders Nordberg were released from their normal duties to be able to work on the reconstruction of Norrmalm only. This organization was really a hit. As time went by, several major planning problems of the City were given over to it to be solved. In 1959 it was split into a political part and a non-political one. The first was enlarged to include all leaders of the political parties. The second gathered in all chief administrators and, under it, was the working party. This last group was dominated by three men - sometimes referred to as the troika - and as long as they agreed they were unbeatable. The three were Anders Nordberg, "chief administrator" of the reconstruction, Âke Hedtjärn, chief of the Norrmalm section of the Office of Real Estate and Torsten Westman, chief planning architect of the Department of Planning. For years, this organization on three levels proved to be the pivot on which essential parts of the planning process of the City turned. For six years, from 1945 on, very little had happened with the Lower Norrmalm plan, but then the new organization produced a number of detailed plans, of which the first three are reviewed in this book. The plan that bears the signature for the reconstruction as a whole is the second one with the five buildings along Sergelgatan - that is, the mall. On its way to approval, there arose the first discussion of an alternative with a view to preserving certain old buildings. This was in 1951. Within the area, there were two notable buildings, the 18th century house of the sculptor, Sergei and the first "free church" of Sweden, built in 1840. The buildings were not saved, but the debate showed what was to be expected in the future. Earlier, in the CBD, developers had always built on land which they owned, but, from now on, practically all had to accept the necessity of building on land leased from the City. TTiere was no time limit for the expiration of the
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leases, but the annual payment to the City could be reviewed after the first ten years and later after every twenty years. The private developers did not like this. The two first new buildings were built by the City itself. Some of the reasons for this were political. The first non-public developer which dared to accept the conditions offered by the City was a Savings Bank, Stockholms läns Sparbank. Such banks do not follow the capitalistic "rules of conduct" as strictly as other banks and companies do. However, that "broke the ice" and soon after new construction by private firms got going. Around 1960, a number of new contracts were signed. A first opening ceremony had been held in April, 1959. This was the "end of the beginning" of the reconstruction of Lower Norrmalm. It continued up to 1975 when the City Council approved a new set of rules for action and non-action. Hopefully, the story from 1960 to 1975, so full of crises and surprises, will be told elsewhere. One version of that story is told by Thomas Hall: The Central Business District, Planning in Stockholm 1928-1978; in: Growth and Transformation of the Modern City, p. 181-232 (Swedish Council of Building Research, Stockholm 1979). 11. B e g i n n i n g of t h e m o t o r a g e For a very long time, we thought that generous spending on public transport above all on an underground railway system - would result in a relatively slow growth of traffic with private cars. We were wrong. In the 1952 General Plan, we had to make assumptions as to the probable growth of motor traffic. However, we had only pre-war figures to start from. During the war, scarcity of petrol and rubber had reduced the number of cars and it was not until 1950 that the pre-war figure was again reached in Stockholm. In 1948 we said - as a practical and not very sophisticated presumption - that, by 1965, the relative number of cars would be doubled and have reached 100 cars to 1000 people. When that year came, the figure was 205 cars. The 1952 General Plan stated definitely that in the central part of the Stockholm urban area it would not be possible to build streets as many and as wide as would accomodate all traffic wishing to use them. As in so many other plans for metropoli, the central part - the city from 1913 - was to be surrounded by a high-capacity ring road. A concrete plan of this kind was issued in 1958, and the western part of that ring, Essingeleden, was begun the year after. Inside the ring, there would be restrictions on parking, ballances by better public transport. The most restricted area would be the CBD. There the plans proposed only 70 % of the number of parking spaces which, in 1956, had been calculated to correspond to the "needs". Later, in the 70's, this number was reduced still further. It was not until then that the anti-car movement met with enough political response.
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12. T e c h n i q u e s f o r t h e
environment
By law and by tradition cities are responsible for some of the quality of the environment. This chapter reviews what the City has done to offer its citizens plenty of good water and cheap energy in the form of gas, electricity and hot water via district heating. It tells also how sewage is collected, pumped and treated, how garbage is burnt and how some of the debris from a city in transformation is dumped into artificial hills, covered with grass and made attractive for skiers. Most of the techniques employed in these different fields are international. Every big city tries to use the latest improved methods. Few problems are local. However, in Stockholm the water conditions may be special. Stockholm has abundant water resources in lake Mälaren system. Through the archipelago to the east, there is a slow natural movement of water out into the Baltic. This stream has always carried waste waters. However, it is balanced by another deeper current of colder water that moves in the reverse direction. With certain temperatures and winds, these two currents may be inverted. Earlier this meant that water with sulphurated hydrogen came to the surface. During the past 30 years of so, ill-effects of this kind have been reduced by increasingly sophisticated treatment of the sewage. Until the later part of the 1920's, it was possible to swim in the central waters of Stockholm. Then the health authorities found that the water was too polluted and the public bathing places were closed. After treatment of all sewage in Stockholm and its western neighbours, lake Mälaren was again opened for swimming and other sports form 1976. This makes citylife more attractive. 13. S t o c k h o l m a n d i t s n e i g h b o u r s By the turn of the century, the urban sprawl had passed the existing city limits. The first counter-measure was to move out the city borderline. In 1913 and 1916, rural districts to the south and west were incorporated. However, some of the neighbouring municipalities preferred to be masters of their own destinies and turned themselves into "country-towns" or regular townships. Some other remained rural districts. By the mid-1920's, the "provincial governor" of the province ( = län ) around Stockholm found it necessary to have an inter-municipal, that is, a regional plan prepared. (The City as national capital was not part of but surrounded by the province). By 1929, work on a plan of this kind was started and by 1936 the plan was approved - by the Stockholm City Council also. It was made to regulate land use and had been very much inspired by British and German contemporary plans. Public transport was another field where intermunicipal planning was needed. No municipality except the City of Stockholm was interested or engaged. Outside the city limits, the National Railways operated railways as well as bus lines, but the majority of the developments there were served by private bus companies. There were also a few private railways and many boatlines. From 1949 to 1957, an ad hoc study was made of the Greater Stockholm traffic problems. It had but little practical consequences. In 1952, work on a new Regional Plan was started, based on rules contained
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in the 1948 Building Act. This work ran parallel to the traffic study just mentioned and the Regional Plan - very classic in structure - benefited from it. The Plan was presented by 1958 and approved two years later. During recent years, co-operation between the City and the sourrounding municipalities has become broader and deeper. At the same time, the small rural districts in the province have been merged into larger units better able to take care of administrative problems. The number of primary municipal units has thus been reduced from over 90 in 1950 to 23 today. Since 1971, the City and these municipalities are all contained within one governmental province. The City has been persuaded to join the County Council. This authority is now responsible for hospitals and medical care, for all traffic, except the National Railways, and for regional planning, within the Stockholm region. Since 1955, one alderman - out of nine - in the City Hall has been in charge of relations between Stockholm and its neighbours. Epilogue Is there a moral to be drawn from the story now told? Has Stockholm a planning lesson to offer? Perhaps it has. Consciousness of the fact that administration for planning and its implementation must include all the City departments concerned, runs like an underground current through most of the chapters. It may be all right to have a diverse administration to keep the City running, but, in planning, a system of that kind would not work. With an isolated planning department, other departments could and would switch projects over to side tracks leading only to dead ends. In planning, there must be one responsible body, where differences of opinion can be dealt with immediately and at their source. The ultimate proof of this principle is offered in chapter 10, where the story of the "Lower Norrmalm Commission" is told. To be sure, this type of organization is in conflict with modern beliefs - but, of course, there is a choice. In city planning, what is the most effective way of reaching certain goals? Or what is the proper way to proceed? Perhaps it does not matter if the journey takes twice as long, or if you never succeeed in reaching your goal, so long as you behave as you ought to, securing decentralized decision power and continous citizen participation? Methodology may have overtaken ideology and become ideology itself. A second moral, noticeable almost everywhere, is the importance of municipal land ownership. Neither the vast system of suburban units nor the reconstruction of the CBD would have been possible had the City not owned or made itself owner of the land. It is a common belief that effective expropriation laws are sufficient to guarantee a city the possibility of implementing plans made. The analysis of Torkel Öste, referred to in chapter 8, indicates that a city should buy the land ten years before it needs it. When reasons for expropriation have matured, it is too late - then prices are too high. Perhaps what is said in chapter 3 about the relationship between the National authorities and the local administration applies equally to other national capitals. In Sweden and in the other Nordic countries, municipal self-governments is stronger then elsewhere, but still other authorities with power vested in them by Cabinet or Parliament can, to a large extent, do as
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they see fit. They can develop land for their own use or sell it to developers. However, it may be noted that, after 1962, the National Government did not itself develop the former military land, Järva but sold it to the municipalities concerned to be developed by them. As a comment to the two chapters on traffic - number 4 and 11 - one may point to the importance of merging different enterprises. In Stockholm, the number of "traffic companies" has been reduced from more than ten to two. Both are public, that is to say one is owned by the County Council and the other is the National Railways. The enormous sums spent on the underground system have not taken away presure for traffic space for cars. The fact is, and always has been, that travelling time from door to door is shorter if you go by car than if you go by public transport. In the 1970's, opposition to the private motor car made it very inopportune for politicians to promote investments in arterial routes. One must be content that, before such opposition arose, Stockholm was able to build in the early 30's the "clover-leaf at Slussen and, in the early 60's Essingeleden, the western part of the Ring. Without these, what traffic jams would we have had? Between 1950 and 1975, the very core of the CBD was totally rebuilt. Would we have done it, if, by 1950, we had known what we were up to? Such questions are perfectly silly. If it takes 25 years to implement a plan, one can never know before-hand. One may have hopes and fears. If a program of this kind had been launched today, would it be accepted? Most probably not. The interest in preserving existing buildings is far too widespread. Besides - and this is the right answer - there is no economic growth to justify that kind of plan. I am glad Stockholm did renew its center while it was still possible. Even the era of big new suburban developments has passed. Now smallscale additions to existing units are the mode. During the period dealt with in this book, the housing shortage was obviously so acute that it was necessary to build rnany dwellings quickly. Thus, in the individual dwellings were made rather small and located in multifamily houses. In 1950, the plan for building Vällingby was new and four years later, the result was news. It was good. Not all later and similar developments have had the same quality. However, the people living there think the new suburbs are far better to live in than has been reported by a number of the visitors to them. One more point. As the metropolitan area of Stockholm has grown far outside the city limits, co-operation between municipal administrations has become necessary. Moreover, it has proved right to transfer authority to the County Council, whose area and fields of responsibility have been adjusted to coincide with the metropolitan area. Administrative reforms of this kind are necessary everywhere. Such are the lessons of the Stockholm planning.
GOVERNMENT
BUILDINGS
I N E U R O P E A N C A P I T A L S 1870 -
1914
By B a r b a r a M i l l e r L a n e
Until very recently, the period from 1870 to 1914 has been neglected by architectural historians in both Europe and the United States. These are years in which the great majority of buildings were eclectic in stylistic detailing; for the most part architectural historians have been more interested either in the origins of the modern movement, or in the more straightforward historical revivals of the earlier nineteenth century. But in the last few years a few historians have begun to find, in the architecture of the forty-five years before the first World War, major and significant developments in form and function. My own work on this period has dealt, in a very general way, with the impact of urban growth on European building. I have argued that around 1900 tendencies toward "miniaturization" or "dematerialization" in the major urban buildings from about 1880, were supplanted by a "new monumentality" - by a tendency toward more massive buildings, sharply defined within the cityscape l . This major change, I have argued, was in part simply a response to the réalités of scale in the new metropolis, and in part a response to complex changes in the social and political order. In this paper, I would like to explore these changes in a narrower framework, by looking at a variety of European government buildings built between 1870 and 1914. Within this time-span there were two significant periods. From 1870 to about 1900, major government buildings were far larger and in many cases far more complex in function than had been the case previously, and this increase in scale and complexity was expressed architecturally in ways which departed significantly from the models of the past. While many of the interior spaces of these buildings were extremely grandiose, other aspects of their design, including stylistic detailing, the treatment of materials and decorative features, and the arrangements for access and overall siting, worked against a monumental effect. From 1900 to 1914, in contrast, more and smaller government buildings, of more limited function, were built throughout European cities, and the increasing simplicity of function was expressed in a greatly increased simplicity of interior arrangements. At the same time, the buildings of this period were in many senses more "monumental" than their predecessors, and they display a new set of historical references, with strong ideological overtones. Moreover, they laid the basis, in both plan and exterior design, for the main developments in government buildings during the first half of the twentieth century.
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B A R B A R A M I L L E R L A N E , Changing Attitudes to Monumentality: An Interpretation of European Architecture and Urban Form 1880-1914, in: Growth and Transformation of the Modern City, Stockholm 1979, pp. 101-114. Further discussion of the historiography of this period can be found in the article.
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To set the argument in context, it will be useful to look back for a moment at developments in government buildings in the first seventy years of the century. These were years of rapid population growth and rapid urbanization in all of Europe. Already, then, the development of a complex industrial and urban society can be observed, paralleled by the beginnings of the modern democratic nation-state. Governments responded at every level with extensive building programs. New city halls, arsenals, parliament buildings, ministries and law courts, as well as a variety of public buildings devoted to the service of "culture" including museums, theaters, universities and schools, resulted from the development of representative institutions, or at least the melioration of autocracy, from the increasing complexity of government, and from a growing need, on the part of all European governments, to provide increased public services. While these developments occurred at all levels of political organization, municipal and regional as well as "national", they were most strongly marked at the level of central government. In England, France, Austria-Hungary, and in the still particularist states of what would be Germany and Italy, this period witnessed extraordinary growth in the power of the state, in the level of political awareness, and, even where they could not yet be realized, in a longing for nationalist goals. Thus the most interesting developments in government building took place in Europe's capital cities. In both number and variety of new government buildings, London led the European capitals during this period, but with the beginning of the Ringstrasse project in the 1850's, Vienna began to catch up. Paris, heir to the extensive building projects of the revolutionary and Napoleonic periods, tended during the first half of the century to reuse these older buildings, or in many cases those of the ancien regime. Under Napoleon III and Baron von Haussmann, these older buildings were enlarged and remodelled, a variety of new ones added, and, far more important, the whole was welded together in a series of Baroque-inspired radial axes, as part of Haussmann's massive street reconstruction program. The lesser (and for the most part more autocratic) states tended to build museums, theaters and educational structures in the earlier part of the century, beginning to build a range of new structures of central government only in the era of unification. The great majority of new government buildings in the period 1800-1870 were relatively modest in scale 2. In plan, except for the museums and theaters, they resembled either the Renaissance palazzo, the sixteenth century chateau, or the late medieval town hall, but with new functions grafted upon these earlier models. Day-to-day public services replaced the town hall market or the palazzo's offices on the ground floor; formal meeting rooms replaced the audience rooms and ballroom of the chateau on the piano nobile or belle étage, and what had once been the private apartments of aristocratic householders now became the offices of clerks and archivists 3 . In exterior style, 2
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From the 1840's onward, a few very large buildings can be observed. Even the earliest of the Ringstraße buildings were very large, and Barry's Houses of Parliament, 1839-52, stretched more than 250 meters along the Thames. The late medieval town hall already drew upon certain late medieval palaces as models: the meeting hall for city councillors, located on the second level and usually facing the street, was apparently derived from the audience room or banquetting hall of such palaces as Goslar (mid-eleventh century) and Brunswick (late twelvth). See NIKOLAUS PEVSNER, A History of Buildings Types, Princeton, N.J. 1976, p.27.
Government Buildings in European Capitals
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these buildings of 1800-1870 reflected for the most part the awe of archaeology of the mid-century: their detailing was scrupulously neo-Greek, or neoRenaissance, or neo-Gothic, or, in a few cases, neo-Baroque. In addition to the admiration for history and "culture" displayed by such revivals, they also conveyed, to some at least, an ideological message, about the historical roots of the nation, and about the particular character of its politics. Ludwig I of Bavaria, for example, saw the Doric Temple form of his "Walhalla" as appropriate to a monument which was both nationalist and monarchist. The equally scrupulous Ionic portico of the British Museum, in contrast, had associations, for educated Englishmen, of primitive and "pure" democracy. The only generalization about the ideological implications of these buildings which can be made with confidence, is that one needed considerable education to understand them 4 . Beginning in the 1870's, or even in the late 1860's, a new wave of government building occurred in the European capitals, with the greatest volume of building in the new capitals of the newly unified states of Germany and Italy. Many town halls, ministries, law courts, and in Germany and Italy new parliament buildings were built or rebuilt between 1870 and 1900. These buildings were much larger than those of the first two-thirds of the century, and most of them played a new role in the cityscape. Their plans introduced significant innovations in accomodating new functions, and even when they were based extensively on earlier models, were different in use and in effect upon the viewer. Their eclectic formal vocabularies departed almost entirely from archaeologically-based historicism. When, around 1900, a major reaction set in among architects and patrons against these buildings, they were vilified for their size, their ostentation, and lack of faithfulness to their historic models; for the qualities, that is, that helped to make them what they were. The modern movement also adopted a hostile stance to these buildings, adding to earlier criticisms a rejection of any historical detailing at all. Recent historical scholarship has inherited the views of both sets of critics, so that these buildings of 1870-1900 have remained among the most disliked and the least understood buildings in the history of architecture 5 . For the period up to 1900,1 will confine my dicussion entirely to an analysis 4
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On contrasting interpretations of Greek architecture, especially in Germany and England, see, among others, PETER COLLINS, Changing Ideals in Modern Architecture, Montreal 1967, Chapter 7, "The Greek Revival". - On the Walhalla, Ludwig I and his architect Klenze, see O. HEDERER, Leo von Klenze, Munich 1964, p.303; and THOMAS NIPPERDEY, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, p. 133-173, especially p. 148-153. - Similarly conflicting associations, of course, attached to the gothic: see especially COLLINS, Chapter 9, "Gothic Nationalism". I have, however, greatly oversimplified the whole matter: besides the archaelogical enthusiasm I have described, there were from early in the century a series of architects who saw historicist architecture as almost empty of meaning for "modern" society; on the ideas of these men see NEIL LEVINE, The Romantic Idea of Architectural Legibility: Henri Labrouste and the Neo-Greec, in: ARTHUR DREXLER (ed.), The Architecture of the École des Beaux-Arts, New York 1977, p.325-416. Also suggestive is KLAUS DÖHMER, In welchem Stil sollen wir bauen? Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, Munich 1976. Recent guidebooks illustrate this view extremly well. See, for example, the BLUE G U I D E , Paris and Environs, London 1977, p. 133, which speaks of "the degraded official taste in architecture of the period...".
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of city halls and central law court buildings. Both types of buildings are of special interest because they were rapidly evolving, and both shared in a more widespread evolution in style and interior design. To a considerable extent, these two building types also reflect the centralizing tendencies of the time: the city halls of Europe's capital cities were endowed with particular significance by central government, and expanded their functions even more rapidly than lesser town halls during these years, while the new central law court buildings constructed in most European capitals in the last third of the century drew together and modernized older courts which had earlier resided in many separate places 6 . As examples, I will be discussing Théodore Ballu and Pierre Deperthes' new Hôtel de Ville in Paris, 1874-84; Friedrich von Schmidt's Vienna Rathaus, 1872-83; Joseph Poelaert's Palais de Justice in Brussels, 1868-1883; George Edmund Street's Royal Courts of Justice in London, 1874-1882; and Guglielmo Calderini's Palazzo di Giustizia in Rome, 18801911. All these buildings shared certain characteristics: they were very large in ground plan; on the interior they contained many very large and grandiose formal spaces along with many new spaces for more mundane activities. These spaces interpenetrated to an unusual extent, as did the different levels of the buildings. The overall form was that of a rectangular spatial envelope, and the siting of the buildings marked a turning away from the traditions of neoBaroque radial planning. The apparent size and mass of the buildings was decreased for the observer from the exterior by a number of different techniques. But in the details of the treatment of internal circulation, location of functions and relation to historic models, the buildings differed considerably, and must be described separately. I will begin with the town halls, since these evolved most clearly out of earlier models. The Hôtel de Ville of 1874-84 was located on the right bank of the Seine, opposite Notre Dame, on the same site as the historic building burnt down by the Communards in 1871 7 . The new building was a very large (85 χ 140m), rectangular structure, and was built in a manner reminiscent of the French Renaissance 8 (fig. 1). The building as a whole was organized around three central courtyards, of which the center courtyard provided a focal point for 6
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City halls go back to the later middle ages in all of the major cities of the continent; in most capital cities the revolutions of 1848 produced reforms which required much larger town halls; many were planned beginning in the 1850's, but in most cases their execution lagged until the 1860's and 1870's. In wholly new states, such as Belgium after 1831, or Germany and Italy after 1870, the new central law court buildings were needed to house new legal systems, based on new constitutions. Elsewhere, law courts were drawn together from dispersed locations in the Royal Palace, city hall, and in a few cases, some supplementary locations. The effort of the Communards to destroy the old Hôtel de Ville was almost entirely successful. Only a major portion of the east facade toward the Place Lobau, a few fragments of the other facades, and the foundations of the older building, parts of which dated back four centuries, remained. The Place Lobau facade dated from a major rebuilding of 1846, but it had attempted to harmonize with the early 17th century building. On the history of the Hôtel de Ville, see MARIUS VACHON, L'hôtel de ville de paris 1535-1905, Paris 1905.
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In rebuilding the ancient structure, Ballu and Deperthes attempted to create a new building which was at the same time linked to the past. The east facade was reconstructed in its earlier, mid-nineteenth century form, and some small portions of the early sixteenth century structure were reconstructed exactly. Around these reconstructed segments of the building, a new and much larger one was erected which added many new internal spaces and which differentiated old and new on the exterior by careful distinctions in detailing. See VACHON (ann. 7) p.34-83.
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those parts of the building which contained large formal meeting rooms and major circulation areas, while the north and south courtyards were bounded by wings primarily reserved to offices (fig. 2-4). There were thus, in effect, three wings: a central one, consisting of the central portions of the east and west fronts, and the connecting wings around the central court; and two U-shaped side wings, separated from the central one by the north and south court. Because of the complexity and variety of its interior arrangements, the Hôtel de Ville varied from three and four stories in its central wings to six stories in the north and south wings. These different stories and levels were, however, all bounded by an exterior which gave the appearance of a solid, rectangular block. The central "wing" contained, at a level slightly above ground level, two large vestibule-like spaces (the Salle St. Jean and the Salle des Prévôts), both about 9m high; above them was a second level containing the deliberative chamber of the municipal council (on the west), and the municipal festival hall (on the east). Along the south wing at this level were located a suite of formal reception rooms for the Prefect of the Seine. The municipal council chamber and the Prefect's rooms were, like the spaces below, about 9m high; the Salle des Fêtes, however, some 50m long, reached a full two stories, to 12.5m. These rooms at the second level of the central wing all corresponded to functions which had appeared on the second level or "prémier étage" of earlier town halls, and they had occupied a similar position in the earlier Hôtel de Ville. These spaces were now, however, inflated to vast proportions in size and height 9 . In general, the formal spaces of the central wing, with their grandiose proportions and inflated circulation areas, formed a kind of building within a building inside the Hôtel de Ville. Tied together by impressive and elaborate staircases and circulation areas, the complex of spaces in the central wing offered a grandiose spectacle with little precedent outside the most elaborate of royal palaces. Circulation within the Hôtel de Ville was varied and complex. To reach the formal rooms of the "prémier étage" one passed through one of the two high arches which on both the east and west facades led into the main courtyards, but turned aside before entering the courtyard, into either the Salle St. Jean or the Salle des Prévôts. From here one ascended grand staircases leading to vast and formal circulation areas on the second level. From these areas, a further series of impressive vestibules led to the Conseil Municipal, to the Salle des Fêtes, and also to the state dining room and reception rooms of the Prefect 10 . The side wings of the Hôtel de Ville were each divided into six levels, and, in addition to the offices of the Prefect mentioned above, contained a wide range of offices and public services. Access to these wings could also be achieved by entering the arches into the main courtyards ; from these arches a complex series of corridors and staircases led, in an often labyrinthine manner, 9
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The Salle St. Jean had an older prototype, much smaller and originally differently positioned, which "sert habituellement de salle pour les examens scolaires de la ville de Paris", VACHON (ann. 7) p. 106. The Salle des Prévôts was altogether new. These reception rooms of the Prefect had a second major access route as well: a subsidiary grand staircase led from the ground floor level on the southwest corner of the building, the site of some of the Prefect's offices, through the entresole, the site of his private apartments, up to the major reception areas of the prémier étage.
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to the offices of title deeds, the offices of the Municipal debt and their archives, the offices of public accountants, and many others. Subsidiary entrances to some of these offices also existed on the north and south facades, and the west facade included a subsidiary entrance to the offices of Post and Telegraph, wedged in between the Salle des Prévôts and the south arched entry. In general these subsidiary entrances were not marked off architecturally, but detailed almost as window embrasures, so that the arches into the courtyards were emphasized, visually. The Hôtel de Ville was one of the largest government buildings of its time; certainly it was the most complex. Yet many features of its design worked to scale it down for the viewer. The horizontal string courses on the exterior unify the facade and make it appear that the building houses only three levels. The overscaled arched entryways contribute to the impression, as do the overscaled roof and chimneys. At the same time, projecting bays and decorative details (including some 200 attached statues), together with the deeply cut window embrasures, churn up the surface to such an extent that the solidity of the walls is to a certain extent called into question for the viewer. These are techniques I have described elsewhere as "miniaturization" and "dematerialization". When they are found in a building so massive, so profligate of space, and so complex internally, as the Hôtel de Ville, the visual result is very ambiguous. The Vienna Rathaus, built by Friedrich von Schmidt from 1872-1883 on a new site made available by the Ringstrasse project, replaced an older complex of buildings in the old city, dating from the 15th to the early 19th century. Schmidt's building, executed in dark red brick and in a neo-Gothic style, presented to the Ringstrasse a light and airy facade, with lacy arched windows above and a ground floor arcade which recreated at a much larger scale the open ground floor of the old central European town hall (fig. 5). Like the other new buildings on the Ringstrasse, the Rathaus was very large, occupying approximately 18,700 qm of ground area, and ranging from four to six stories in height. But within its simple rectangular outline, the Rathaus contained one great courtyard and six smaller ones, so that, although it occupied perhaps 50 percent more ground than the Hôtel de Ville, it contained approximately the same amount of floor space. The internal arrangements of the Vienna Rathaus were similar to those of the Hôtel de Ville, but somewhat less complex, and in the formal circulation areas, somewhat more grandiose. The middle sections of the front and rear wings of the building, together with the longitudinal wings which joined them around the central court, constituted a separate part of the building given over to circulation areas and vestibules at the ground level (fig. 6) connected by grand staircases to the two-storey chambers of the municipal council and a two and a half storey Festsaal. The Rathaus also included at the upper level Imperial reception rooms in addition to those of the mayor and City Council. As at the Hôtel de Ville, municipal offices were housed primarily in the U-shaped side wings (and in the lateral wings separating the three courtyards on each side), in six levels of much lower height than the levels in the central section Again as in the Hôtel de Ville, access to the office wings could be 11
The Vienna Rathaus did not include offices for post and telegraph; but it housed some municipal court functions, absent in the Hôtel de Ville, and an office of conscription. The best mordern history is ULRIKE PLANNER-STEINER und KLAUS EGGERT, Friedrich von Schmidt,
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achieved via the "main" entrances at front and rear, or from side entrances, not as visible. To an even greater extent than in the Hôtel de Ville, the architect of the Rathaus tried to make the building appear as a single unified structure, built around the Festhalle as its main feature on the "second" level. This effort produced many complications in circulation from the Ringstrasse facade. The middle wing of this facade was pulled forward to give prominence to the Festsaal, and thus the arcade below appears to give access to the whole building in a direct fashion. Yet the open arcade masked a complicated system of seven entries. The central entry, under the main tower, opened directly into the great arcaded Volkssaal; from this vestibule-like space one could, by turning and going out its ends, enter, first, an arcade leading around the central court, and next, the great stair hall leading to the upper level. From the outside, two pairs of entries, one on each side of the central entry, led into the arcades and stairhalls at the two ends of the Volkssaal; the entries to the arcades were marked by the first pair of towers flanking the central tower. At the very ends of the projecting bay of the facade arcade, two further entries, also marked by towers, led directly into the side wings, blocked off at this point from the stair halls. Behind the projecting bay, the arcade was prolonged across the facades of the office wings, where it gave direct access to a few municipal offices, and also, at the ends, to flights of stairs leading to a mezzanine level. On the opposite side of the building, an open porch led into a central vestibule, which in turn gave directly onto corridors leading to the sides, and onto the arcades leading around the central court. While these circulation arrangements were by no means simple, and while considerable segregation existed between the different types of wings, some visual continuity was provided by the arcades in front, and the loggias and corridors in the rear offered real continuity. In addition, because of the arcades surrounding both the main ground floor vestibule or "Volkshalle", and the "Festsaal" above, it is possible to argue that Schmidt tried to achieve an interpénétration among formal circulation areas, vestibule types of spaces, stairhalls, and the formal reception rooms above. If indeed this was Schmidt's intent, it gives us some insight into the profligate use of space, both for meeting rooms and circulation, in the buildings of this era. For if the two kinds of areas overlapped, visually, then the circulation spaces were ennobled by the proportions of state reception rooms, while the state reception rooms took on at least some elements of the passageway, accessible to the public. Ulrike Planner-Steiner, author of the most recent study of the Vienna Rathaus, says that the functions of the various parts of the building can be "read" from the facade >2. While it is true that in both the Vienna Rathaus and the Hôtel de Ville, the presence of high rooms at the "second" level of the
Gottfried Semper, Carl von Hasenauer. Die Wiener Ringstraße; Bd. 8, Die Bauten und ihre Architekten: 2 , Wiesbaden 1 9 7 8 . See also FRIEDRICH SCHMIDT, Das neue Wiener Rathaus, Wien 1872. 12
(ann.ll), p.47. It was one of the complaints of the "modern movement" that exterior form did not reveal internal function in these buildings; Planner-Steiner is responding to that point of view. PLANNER-STEINER
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principal facade is clearly indicated by the fenestration, what cannot be discerned from the facades is the real level of these rooms (more or less the fourth in both cases). Nor is it possible to know, from looking at the facades, what the relation is between these ceremonial chambers and the rest of the building, a problem which exists, as we have seen, on the interior as well. In both cases, although the buildings are superficially quite different in appearance, this masking of the floors is a major element in the architects' attempt to scale them down so that from the exterior they appeared far smaller and less monumental than they really were. The Rathaus supplements this effort by its extensive fenestration, which is at the same time relatively shallow, so that despite the inflated proportions of some of its interior spaces, the external effect of the Rathaus, like that of the Hôtel de Ville, is not a massive one 13. This reluctance to accentuate the mass and monumentality of the buildings is reflected also in their siting. No long Haussmannesque radial leads to the Hôtel de Ville 14, and only the short Avenue Victoria leads directly into the Place and toward the main facade. The principal approaches lead one into the short ends of the Place, so that the building is almost always seen at an angle. In Vienna, a short axis led across the Ringstrasse from the Burgtheater to the Rathaus, but the dominant access route throughout the Ringstrasse project was the Ringstrasse itself. The Rathaus, like the Hôtel de Ville, would therefore almost always be seen at an angle. In addition to the ambiguities of their internal circulation and external massing, these two town halls thus also played an ambiguous role in the cityscape. Although they were far larger and more elaborate than all but a very few government buildings of the past, their siting, like their external detailing, denied them the opportunity of becoming focal points within the urban fabric 15 . In contrast to the new city halls, the new central law courts of the last third of the nineteenth century were more specialized. Built in nearly every European capital during this period, the new central court buildings gathered together the highest courts, together with their associated offices 16. The need 13
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The character and iconography of interior decoration in these buildings is far beyond the scope of the present study. But it is important to realize that the interiors of both buildings were extremly elaborate, with rich and colorful surfaces created by contrasting materials, wall paintings, bas reliefs and sculpture. The themes of sculpture and painting in both buildings tended to emphasize the role of the arts and learning in municipal history, and in both buildings this emphasis is continued on the exterior as well, in a profusion of statuary. For our present purposes, it is perhaps sufficient to note that the decoration enriches but does not delimit internal and external surfaces. Presumably, this was a conscious omission. The site of many instances of republican resistance, the Hôtel de Ville was not dear to Napoleon III. During his reign, the place d'Hôtel de Ville and neighboring streets were widened and straightened, and a group of new barracks were built across from its east facade, but no great new radial axis was brought to focus on the ancient structure. The Third Republic moved very rapidly to rebuild the building after it was burned by the Communards, but avoided constructing Hausmannesque-boulevards, now too reminiscent of Napoleon III. In Vienna the organization of the new Ringstrasse dominated the siting of a large series of new public buildings; the tensions set up between access from the curving Ringstrasse and the short axes which crossed it were very numerous, and must have been well-understood at the time. On the implications for Viennese society and politics, see CARL SCHORSKE, Fin-de-Siècle Vienna, Politics and Culture, New York 1980. On the continent, there were four or five high courts during this period, while in England, after
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for such new central law court buildings arose in part from the expansion of the individual courts themselves - as the state gained a larger role in a more complex society, and as, in a liberal-democratic era, the populace in turn became litigious, the business of the courts increased. In many countries too, constitutional or other types of legal reform sought to rationalize and centralize the administration of justice. And, given the central importance of the idea of the "rule of law" within liberal doctrine, it is not surprising that most European governments decided to house these newly centralized and ever more active courts in magnificent new buildings 17. One would therefore expect these new law court buildings to achieve, through massing and siting, a monumental and impressive effect upon the viewer. One would also expect, because of their more specialized functions and also because of contemporary views about the rationality of the law, that these buildings would be far simpler and more logical in their interior arrangements than the town halls discussed above. Of the three examples I will be discussing, the Palais de Justice in Brussels does indeed emphasize, and even exaggerate, its mass ; in the Palazzo di Giustizia in Rome, however, extensive surface detailing detracts from a massive appearance, while the Royal Law Courts in London were broken up, on the exterior, into so many different elements that they screly appear to be a single building. On the interior, all these buildings included vast and grandiose central spaces and circulation areas; like their counterparts in the city halls, however, these spaces were showy rather than logical. The arrangements of the courtrooms and offices themselves was, in the first two cases, dictated not by logic or by functional separation, but by the constraints of exterior form and a symmetrical plan. The best known of these new central law court buildings, and in some respects the most lastingly influential, was Joseph Poelaert's Palais de Justice in Brussels, 1868-1883 (figs. 7,8). The Kingdom of Belgium was only thirty-seven years old in 1868 ; as a new nation, with a new constitution (one of the most liberal in Europe), it had a particular need for such a building, and its second king, Leopold II, pressed for it urgently and saw to it that no expense was spared 18. Poelaert's mammoth building (ca. 140m χ 180m) exemplified in scale, layout, and treatment of its historic models, some features which would continue to be typical of central law court buildings for the next thirty years. The building was relentlessly eclectic: a mixture of inflated Greek, Roman and distantly neo-Baroque motifs which were made to cohere by giant orders and by the extraordinarily high "entrance". Above the rectangular outline of the
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the Judicature Act of 1873, there were four, with a Court of Criminal Appeal added in 1907. (The House of Lords remained, of course, the highest court of appeal.) PEVSNER (ann.3) p.53, traces the beginning of "separate monumental buildings for law courts" back to the end of the 18th century, but his account is rather confused. Before the late 1860's, there appear to have been the following "separate buildings" housing law courts: L.P. BALTARD, Palais de Justice, Lyons 1835ÍT; St. George's Hall, Liverpool 1840ff; - A. W A TERHOUSE, Assize Courts, Manchester 1859-64. - The Inns of Court in London, and the several Palais de Justice, in Rouen (1499-1533), Rennes (1618-26) and Paris (143Iff, remodelled extensively 18th century, additions 1857-68 and 1911-14) were of course much older but originally had a very different function from the 19th century law courts. Cf. M A X JUDGE, An English Study of the Palais de Justice, Brussels, in: Architectural Record, 41 (February, 1917) p.183-86; - J. POELAERT, Le Nouveau Palais de Justice de Bruxelles, Brussels, Paris nd. [ca. 1883].
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building, a tower of unprecedented size and novel shape, topped by a dome, rose to a level of approximately 90m. The Palais de Justice thus resembled neither any actual historic building, nor any of the imitative buildings of the first half of the nineteenth century 19 . Unlike many other government buildings of its time, however, the building makes an extremely monumental impression on the observer, an impression which derives not only from its actual size and height, but also from the use of the giant order, from the inflated proportions of the main "entrance", and from the siting of the building. Located at one of the highest points of the "upper town", above the old city, and at the end of a major street axis which linked it with the Royal building misled the viewer, for it appeared that there was a single great entrance, which led to a unified interior. Instead, the building contained many law courts, with separate hearing rooms and offices attached to each; subsidiary entrances at the sides and rear of the building led to these law courts in a more direct manner than did the central one on the front facade. Yet the layout of the Palais de Justice set some precedents. The internal spaces were grouped around a single great hall, the "Salle des Pas Perdus", which was approximately 90m long and open all the way up to the great dome above. Around this central space were the rather small courtrooms, separated by eight large courtyards; the courtrooms could therefore be reached either from the central hall or from the corridors of the external wings. Offices and hearing rooms were located along these exterior wings, in positions dictated by the symmetrical arrangement of the plan, although they were placed in some general proximity to the law courts which they served. The location of the law courts within the building, with the lesser courts (Court of Assize, Tribunal of the First Instance, Court of Appeals, and Offices of the Judges of Instruction) on the main entry floor and the higher courts (Commerce, Cassation, Higher Court of Appeals) on the second floor, was consistent with the tradition which reserved functions of greater importance to the upper floor. Much more innovative was the location of the Salle des Pas Perdus, which, historically, had always been a formal meeting or waiting room on an upper level 20 . Now this room was turned into a general circulation area for the ground floor, with easy access from the street. Paired with these innovations in design in the Brussels Palais de Justice were the same kind of inflated circulation areas observed in the city halls. Behind the central entrance feature on the main facade was a huge open portico, within which major and elaborate staircases led to the upper floor. Behind this open portico was a long internal gallery leading to the side wings, and at its center this gallery opened onto a large vestibule leading to the Salle 19
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M A X JUDGE (ann. 1 8 ) writing in 1 9 1 7 , was still at a loss to categorize the stylistic vocabulary of the exterior, "based as it seems to be", he wrote, "on some lost masterpiece of Assyria...", p. 183. "Salle de Pas Perdus" was originally a synonym for one of the major meeting rooms of the city council in early modern city halls: see PEVSNER (ann. 3) p.33. The term appears also in the 17th century, applied to an antechamber to the courtrooms located on an upper level of the Paris Palais de Justice. This antechamber is said to have evolved from the great hall of the medieval palace originally on this site. The Paris Palais de Justice was of course not a law court in the modern sense in the 17th century, but rather the meeting place of the Parlements. But this room, as a formal antechamber on an upper level, was widely copied in the late 18th and early 19th centuries. By the end of the 19th century the term had come to mean any kind of vestibule leading to a law court. Cf. Handbuch der Architektur, Bd. IV. 1, Die architektonische Composition, Darmstadt 1883, p.208.
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des Pas Perdus. This enormous central space was flanked by vast overscaled quadruple staircases, which provided a very formal means of access to the upper floor. Actual access to the upper floor was probably more often than not via one of the several secondary staircases at sides and rear (also very elaborate), which led directly to the individual law courts. Yet by placing some of its formal spaces on the ground floor and by locating its grandest circulation area at that level, the Palais de Justice was more "modern" than the two City Halls. Like Belgium, Italy built an ambitious new central law court not long after the foundation of the new state. Calderini's Palazzo di Giustizia, which stretched some 175 meters along the Tiber, and occupied a site of more than 27,000 qm, was even larger than Poelaert's building, and larger too than most of the buildings of its era 21 . This great blocky structure, which ranged from three stories in the center to two on the side wings22, housed four major courtrooms on each of its principal floors; as at Brussels these courtrooms were located in interior wings, which were separated from one another and even overshadowed by a series of immense courtyards (figs. 9, 10). Again as at Brussels, the lesser courts of Assize, together with the offices of the Judges of Instruction and a variety of other offices, were located on the ground floor, while the higher courts, the Court of Cassation and the Court of Appeals, occupied the piano nobile. On both principal floors the separate courts, together with their most closely associated offices, occupied different quadrants of the building, and were reached by one of a number of separate entrances, and by separate staircases 23. Unlike the Palais de Justice, however, the Rome courts contained no Salle des Pas Perdus, but rather a set of giant ambulatories 24, stretching across the front and rear of the building and across the middle of the building laterally, and ranging in size from 17m χ 94m to 26m χ 151m. These ambulatories served as waiting rooms, conference areas, and as part of the internal circulation system. The main ceremonial stair to the second level was located behind the main facade, in a great open courtyard; the front ambulatory on the ground floor opened onto this courtyard, and the passageways around its sides were arcaded. In the warm Roman climate, this courtyard may, like the ambulatories, have served some of the same functions as the Salle des Pas Perdus.
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Giuseppe Sacconi's monument to Vittorio Emanuele II, 1 8 8 5 - 1 9 1 1 , was considerably larger, but this monument was unique in its era, both in size and style. The best discussion of Roman architecture for this period is MARCELLO PIACENTINI, Le vicende edilizie di Roma dal 1 8 7 0 ad oggi, Rome 19S2; - Modem surveys have not improved upon Piacentini's history, although IRENE D E GUTTRY'S Guida di Roma moderna dal 1 8 7 0 ad oggi, Rome 1 9 7 8 , provides a great deal of accurate information. On Calderini, see GUGLIELMO CALDERINI, Il palazzo della Giustizia in Roma, Rome 1890; G.B. MILANI, Le opere architettoniche de Guglielmo Calderini, Milan 1 9 1 7 ; and PAOLO MARCONI, Calderini, Rome ca. 1 9 7 5 . Some mezzanines were worked into the external wings. In addition to the "main" entrance toward the Tiber, there were five additional entrances: one in the center of the rear, or northwest facade, toward the Piazza Cavour, and two at each end of each of the side wings. In addition to the great stair in the central court, six major staircases led to the upper floor: one on each side of the central court, two in comparable positions on the north-west side of the building, and one in the middle of each of the side wings. There were also a number of smaller, subsidiary stairs. Three on the ground floor and two on the piano nobile.
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In addition to this central courtyard, there were ten smaller courtyards. Of the vast area occupied by the Palazzo di Giustizia, 30% was therefore taken up by "empty" spaces (the courtyards), 40% by spaces designed for movement, and only about 30% by the offices and courtrooms themselves. But although the Palazzo di Giustizia was profligate with space, and although its walls were clad in expensive marble, demonstrating the willingness of the new government to spend freely to endow its courts with a magnificent building, other aspects of its form and siting work against the awesome implications of its size and impressive materials. The effect, for example, of extensive rustication of the marble columns, as one looks along the great passageways of the interior, is that the walls appear almost tho shimmer (fig. 11), so that the definition of exterior and interior appears blurred. On the exterior, similar rustication, combined with decorative panels and with multiple layers of stone around the windows, produce an appearance of a lightweight screen from most angles of view. In this screenlike exterior, it is often difficult to be sure where the entrances are in relation to the windows, and, as on the interior, the heavy marble appears light, and the distinction between surface and openings is rendered uncertain (fig. 9). Although in its stylistic details the building is generally neo-Baroque, the manipulation of surface I have described has little precedent in any historic style. The Palazzo di Giustizia was originally conceived as part of a grandiose new Haussmannesque plan for the area to the east and northeast of St. Peter's ; in this conception it was to be located astride a long axis leading from the Piazza Navona in the old city across the Tiber to the Piazza d'Armi (now the Piazza Mazzini), northeast of St. Peter's. From the north side of Calderini's building, several radiais through the whole surrounding district were projected 25. Of this elaborate conception, worthy of the traditions of Roman Baroque planning, only the Ponte Umberto, the Piazza Cavour and the Via Cicerone remain. But as a result of the peculiarities of design already described, when the Palazzo di Giustizia is viewed at a distance, straight on from these axes, it appears not as a massive Baroque monument, but rather as a light and lacy theatrical curtain. Closer up, where the building is almost always seen at an angle, these impressions are enhanced. Thus the message of mastery inherent in the scale and layout of the building was at best an ambiguous one, and was clothed in a new style, without an obvious pedigree. George Edmund Street's Royal Courts of Justice, built between 1874 and 1882, were needed to house the new superior tribunals created by the Judicature Act of 1873 26. Under this act, the many older courts of original and 25
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The Piazza d'Armi was a new square planned for the right bank of the Tiber. In 1911, it was the site of an international exposition. Italian planners, trying to construct a new, secular capital for the new state, hoped that the Piazza d'Armi, together with the new Piazza Cavour on the north side of the Palazzo di Giustizia, would form a complex of urban spaces which would overshadow nearby St. Peters. See ANTONINO TERRANOVA, Architettura e urbanistica per roma capitale: Dal palazzo di Giustizia al quartiere di Piazza d'Armi, Controspazio IV (1972), p.2-21. See also ALBERTO M . RACHELI, Le sistemazioni urbanistiche di Roma per l'Esposizione Internazionale del 1911, in Roma 1911, Rome (Galleria Nazionale d'Arte Moderna) 1980; and VALTER VANNELLI, Economia dell'Archittettura in Roma Liberale, Rome 1979. The planning for the new central court began in the 1860's, however. In 1866, an architectural competition was held; first prize was shared by Street and Sir Charles Barry, but Street eventually got the commission. Street's building of 1874 was smaller and different in many details from his competition drawings. See G.E. STREET, The New Law Courts, London 1869,
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appellate jurisdiction were centralized into four main courts, and moved from their previous dispersed locations to a single site on the Strand, across from the Temple. Street's building, like the earlier courts discussed, was very large (approximately 134m χ 168m), and consisted of a great central hall, surrounded by wings for courtrooms and offices, ranging from four to six stories high (figs. 12, 13). The principal access was from the Strand into the great central hall, 24.4m high, which, though detailed to resemble the nave of a Gothic cathedral, performed a function similar to Poelaert's Salle des Pas Perdus 27. From this great hall, a series of lateral corridors led to large and rather formal staircases, each of which gave access to the courtrooms above 28 . Closely related offices were grouped above and below these courtrooms, along double-loaded corridors, an arrangement more economical of space than either the Brussels or Rome buildings. A secondary entrance, also from the Strand, led into a single "great quadrangle"; from this space one could gain access to a second wing of the complex which was reserved almost entirely to offices, again along double-loaded corridors. This functional differentiation represented a bold and original attempt at a dual system of circulation, and in this sense was prophetic for the future 29. It is clear that Street was attempting to arrive at a relatively brisk and businesslike response to one of the most difficult architectural problems of his era - the problem of moving large numbers of people through large, multi-purpose structures. Yet the result, in the great hall, was just as grandiose as the formal spaces of the continental buildings, and although the subsidiary circulation areas avoided the profligate extremes of Poelaert's or Calderini's buildings, the result was extremely complex and at least as labyrinthine as the Hôtel de Ville. On the exterior, when viewed from Carey Street, the Bellyard, or the Strand itself, Street's Law Courts resemble nothing quite so much as a small town. The profusion of towers, turrets, projecting wings and multiple entrances looks like a large complex of relatively small buildings, rather than a single large building. And this effect was apparently sought for its own sake; the internal arrangements of the plan are very regular, yet the arrangements of windows, bays and towers on the exterior are very irregular30. The "style" of the building was of course neo-Gothic, but of an ornate and complicated sort which used Gothic detailing almost as an auxiliary to rich and varied surfaces and
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and STREET, The New Courts of Justice: Notes in Reply to some Criticisms, London 1872. - On the competition, see Sir JOHN SUMMERSON, The Law Courts Competition of 1866-67, Journal of the Royal Institute of British Architects, 77 (1970), p.11-18, and M . H . PORT, The New Law Courts Competition, Architectual History, 11 (1968), p.75-93. PEVSNER (ann. 3) p.56-57, calls the great hall a "Salle des Pas Perdus", though this term appears nowhere in the plans. At the courtroom level there were nineteen courtrooms, with eight major stairs leading to them from the level of the great hall. There were many subsidiary staircases as well. According to Summerson, the program required the architect to "segregate the various users". In The New Court of Justice, STREET (ann. 2 6 ) offered the following explanation: "The position and surroundings of the new Law Courts, in great degree, as it seems to me, settle what the treatment of the design ought to be. Three out of the four fronts ... are to be built in comparatively narrow thoroughfares, where neither at present nor in future will any distant view be possible ... The elevation of the Law Courts ... will always have to be seen bit by bit, or in a very foreshortened perspective, and if it were uniform and regular, would be at the same time utterly tame and uninteresting" (p. 1 9 - 2 0 ) .
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outlines. Like many other architects of his day, when confronted with the requirements of a very large scale secular building, Street sought to reduce the apparent size for the viewer, even though this meant obscuring the location and arrangments of the interior functions. There was, I would argue, a theatrical impulse at work, both in the elaboration of the interior spaces, and in the illusionist treatment of the exterior. To a large extent the buildings of 1870-1900 were unprecedented - unprecedented in size, in their combination of multiple uses, in their treatment of interior spaces, and in the architectural means employed to express their internal functions. Some aspects of earlier models were used - some spaces from earlier city halls, and some of the formal and circulation areas of the traditional European palace. But these spaces were adapted, increased in number, and inflated in size and proportions, in a search for grandeur; the only models for such inflated proportions, in such a large number of areas designed for movement, were the grandest of royal palaces. Yet in the buildings of 1870-1900, especially those with an unprecedented function (the central law court buildings), these spaces were used in new ways. By extending them toward the ground floor and in some cases toward the street, and by overlapping them on the interior with the less ceremonious functions of government, the architects of this period began to "democratize" these spaces. The view of history implicit in these buildings was a new and thoroughly eclectic one. When elements of the plan of many older types were used, they were adapted in ways which obscured any direct identification with earlier city halls, law courts, or other buildings of central government, including the royal palace. The same kind of attitude prevailed with regard to the historic styles. Elements of earlier stylistic detailing were employed, but to a very large extent they were employed in new ways and for new purposes. The result of these uses of the past was a new kind of architectural iconography, which relied less on explicit historical associations to impart its meaning, and more on architectural form itself, than had been the case in the earlier nineteenth century. The architects of this period were relatively un-selfconscious about the meaning of their work. They spoke of themselves as attempting to find new solutions to new tasks, and a few wrote of combining these solutions with a suitable new "style" 31 . But implicit in their buildings was a rather clearcut view of government which corresponds to the political climate of the time. In these buildings, the processes of government are treated as festive and colorful, ceremonious and formal, comprehensive and central, but rather accessible. At the same time, both by obscuring the relation of mundane and ceremonious activities on the interior, and by working against a monumental effect on the exterior, these buildings suggest that government, while powerful, is not overwhelming in its power. Siting, in most cases, reinforces these implications. Turning now to the period around 1900, when a second set of decisive changes occured in government buildings, it should be noted at the start that the proliferation of functions in government buildings and the increasing volume of building activity now entered a new phase. Most of the major
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See, for example,
STREET,
(ann. 26) The New Courts of Justice, p.10-11.
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buildings for the principal functions of central government had already been built; after 1900 supplementary office buildings were added to these older buildings, to house the growing bureaucracy. At the municipal level of government supplementary city halls were also needed in many cases, and at the same time buildings for the separate functions of municipal government were built to ease congestion in the older city halls. This is therefore a time of very extensive building for limited function: buildings for the central administrations of police, fire, post and telegraph, jails, state or municipal insurance, and railroad and naval transport, where these were state-owned, now appeared in European capitals and in many lesser municipalities. Such buildings also now proliferated at the lower levels of borough, parish, or ward 32 . Most of the government buildings of this period are smaller, more compact in plan, simpler in profile, and in general more businesslike-looking than the great buildings of the previous era. Undoubtedly some of these changes can be accounted for by their supplementary and more specialized character. Yet architects responded to these modified tasks by abandoning many of the formal ambiguities of the previous era, by obliterating most distinctions between formal and mundane activities, by siting their buildings differently, and most obviously, by turning away from earlier eclecticism, and introducing new and aggressively ideological forms of historicism. Two main new "styles" evolved in government building during the years 1900-1914; one or the other of them dominated most of Europe's government building up to 1945. One was a simplified, streamlined and very severe neo-classicism, which has come to be known as "stripped" or "starved" classicism; the other combined pseudomedieval forms and rustic materials in a new manner which has come to be described as "national romanticism". Both were based on imaginary rather than real prototypes to a large extent so that they do not, for the most part, resemble the more archaeologically correct imitations of the mid-century. Both were in fact quite new in appearance; some writers see them as designed for a mass audience in an age of rampant nationalism 33 . Whether or not one subscribes to this view, it is clear in the architectural journals of the period that these buildings were intended to embody a political symbolism, which was in both cases nationalist or imperialist in character. I will deal, rather briefly, with each style separately, and then attempt to generalize about them. One of the most significant and widely-admired examples of "starved classicism" was Ludwig Hoffmann's "Stadthaus" in Berlin. This large municipal office building, which occupied an entire block of approximately 11,000 qm in area between Klosterstrasse and Judenstrasse, was built between 1902 and 1911, as a supplement to the older and now too confining Rathaus 34 . While the Stadthaus was much smaller in ground plan than the law courts of London and Rome or the town halls of Vienna and Paris, and smaller in total floor area than any but the Palazzo di Giustizia, the building appears larger, and far more "monumental" (fig. 14). This impression 32 33 34
Cf. KLAUS KONRAD WEBER Staats- und Kommunalbauten, Berlin und seine Bauten, p.3. Cf. ALAN ELLENIUS, Den offentliga konsten och ideologierna, Stockholm 1971. The earlier Rathaus, begun in 1859 and completed in 1870, was by Herrmann Friedrich Waesemann (1813-1879). It was located a short distance away, also on the Judenstrasse.
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is created in several ways : the building outline is sharply defined, the materials are monochromatic and appear very heavy, and this appearance is enhanced by the rustication of the first two floors. TTie simplified neo-classical pilasters act as giant orders, unifying the exterior and leading the eye to a heavy stepped hip roof, of South German Baroque origin. Because of these relatively heavy and simple features, and because the building is built right out to the building line, Hoffmann's Stadthaus appears as a massive and solid block-sized building. In part, the effect is of a businesslike office building, and this effect is enhanced by the siting and the treatment of the entrance. The position of the entrance is, to be sure, marked out by the massive tower above, but the entrance itself thereby appears even more diminutive than it is. No street axis leads to this entrance, and it is also diminutive in comparison to the great porticos of the eighties and nineties. At the same time, it was set down almost at street level, and, for the visitor with business inside, must have appeared more penetrable and less confusing than the complex entryways of the earlier buildings. The exterior of this massive office building was widely imitated both in Germany and Austria. In most of its later versions, such as Ludwig Baumann's War Ministry in Vienna and the Reichsmarineamt by Reinhardt and Süssenguth, Hoffmann's rustication was abandoned in favor of simplified neoclassical pilasters running almost to ground level (fig. 17)35. In plan and in interior design, however, Hoffmann's building was most suggestive for the future. On the interior, the only formal and multi-story space - the "Stadthalle" - is brought down to ground level and located in a separate (central) wing, where it serves almost as a passageway (figs. 15, 16). Far less interior space than in the past is reserved to circulation; and the staircases, even the most formal ones, are offset from the corridors so that they play a minor role visually. The majority of the internal space is reserved to offices, which are as before arranged in single-loaded corridors around a series of courtyards, five in number. These office corridors are long and regularly shaped, however, and all of the same height. The functions of the interior are therefore extremely "legible" to the visitor, partly because of the clear-cut differentiation between formal and business functions, and partly because of the regularity and predictability of the office wings. The interior detailing introduced a particularly severe form of neo-classicism which was to become very pervasive in later government buildings. Doorways and niches were framed with very shallow pilasters and simplified columns ; simplified pilasters also framed the arcade about the Stadthalle (fig. 16). No gold or polychromy adorned these flat and assertive surfaces in gray limestone; free-standing sculptures and a series of flat and highly geometricized bas reliefs replaced the complex imagery and ornate surface treatments of the 80's and 90's. Materials and ornamentation were even more utilitarian in the office wings, but the Stadthalle itself reflects the logic and legibility of the building. Here there can have been little of the "play of light and shadow" or the "feeling of endless space" which characterized the interior
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Vienna War Ministry, 1909-13; Heinrich Reinhardt and Georg Süssenguth, Reichsmarineamt, Berlin, ca. 1914.
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of the Vienna Rathaus 36 . This very simplified and geometricized neo-classicism, which leads to sharp definition of masses and volumes, but is at the same time very bleak and colourless, was enormously influential. It began to prevail in a variety of buildings and among a wide assortment of architects in Europe around 1910. In the work of Otto Wagner, Auguste Perret and Peter Behrens, it has been argued, it prefigured the modern movement in architecture. Before 1914, few government buildings adapted these stylistic features for their exteriors 37 , but in the 1920's and 1930's Hoffmann's reduced classicism became very pervasive. The new war ministry on Whitehall, in construction throughout the 1920's and 1930's; the new Trocadero in Paris from the 1930's, and much of Speer's work for Hitler, all bear the impress of this "starved classicism". A related development can be observed in a number of the Italian ministries begun before the first world war and finished in the later twenties, and particularly in Pompeo Passerini's Ministero dei Lavori Pubblici, 1911-26, and Pio Piacentini's Ministero di Grazia e Guistizia, 1913-26. These buildings then provided the models for some of the structures erected under Mussolini. Around 1910, architectural writers explained the virtues of the kind of neo-classicism I have been describing in one of two ways: some argued that contemporary architecture had lost touch with any common vocabulary, and that neo-classicism, being the most universal historical tradition, could provide such a common vocabulary 38. This kind of argument often also referred to the "showiness" and the "confusing individualism" of the buildings of the 80's and 90's, and saw great virtue in the simplicity and geometry of a reduced kind of neo-classicism. Another group of writers, while subscribing to these views, added a political argument: a simplified neo-classicism could be understood by all levels of society, and by the peoples of many different countries. Thus it was seen as the appropriate style for Empire in a democratic era 39 . A second major stylistic development in government buildings, beginning around 1900, has been termed "national romanticism". Whatever the merits or defects of this label, it is clear that a large number of small buildings share in a kind of pseudo-medieval revival at about this time. This development can in fact be traced back to the 1890's; to H.P. Berlage's Bourse in Amsterdam, 1898-1902, and Martin Nyrop's City Hall in Copenhagen, 1894-1905; and to competitions for various national monuments in Germany 40. A fondness for
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The phrases are PLANNER-STEINER'S (ann. 1 1 ) p.48. Except for the interesting and rather idiosyncratic work of Sir E D W I N COOPER, especially his Marylebone Town Hall, London 1911-14, and his Port of London Authority, London 1912-22, which prefigure much postwar building in England. See the Architectural Review, 47 (1920), p. 120-25,147-51, and 52 ( 1922, July-Dec.), p. 160-68. See the discussions in REYNER BANHAM, Theory and Design in the First Machine Age, New York 1960. - JACQUES PAUL, German Neo-Classicism and the Modern Movement, in: Architectural Review, 152 (1972) p.176-180. - JOAN CAMPBELL, The German Werkbund: The Politics of Reform in the Applied Arts, Princeton 1978. See especially PAUL MEBES, Um 1800: Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert, Munich 1908, vol. 1, p.20-21 ; vol. 2, p.12-14. On Berlage, see P. SINGELENBERG, H.P. BERLAGE: Idea and Style, Utrecht 1972, and BANHAM (ann. 38). - On Nyrop, see OLOF CERVIN, The City Hall at Copenhagen, in: Architectural Record, 18 (1905), p.183-299; and Kobenhavns raadhus, opfert 1894-1905, in: Arkitekten, 50 (Jubilee issue, 1948), p.5-10.
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rough-cut masonry, heavy, massive appearing walls, relatively low ceilings, squatty arches and thick, pseudo-Romanesque columns, is characteristic of these buildings 41 . Such buildings were, like their neo-classical counterparts, sharply defined in mass and building profile, and most of them were built out to the building line and were designed without a major street axis leading to them. Most, like Nyrop's and Berlage's buildings, used their courtyard or yards, glass-roofed, as the only space for the activities of large groups of people, and as in the Stadthaus, these were now located on the ground floor, with direct access from the street. In Germany the evolution of this type of massing and treatment of materials began with the monuments to Wilhelm I and to Bismarck in the 1890's, and continued to be widely favored for monuments, churches and synagogues 42. But it also appears in a number of smaller civic buildings such as Julius Kohte's Polizeidienstgebäude in Cologne, 1904-07 (figs. 18, 19), and in some city-owned musems 43 . These tendencies, in a somewhat different version, achieved great popularity for a time in Sweden, where they are represented in Carl Westman's Râdhuset of 1909 (fig. 20), Torben Grut's Olympic Stadium buildings of 1910-12, and Erik Lallerstedt's Tekniska Högskolan of 1914-40 44 These Swedish buildings used a reddish brick on the exterior rather than the rough-cut masonry favored by
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American archtectural historians have tended to credit these buildings almost entirely to the influence of H.H. Richardson. See DIMITRI TSELOS, Richardson's Influence on European Architecture, in: Journal of the Society of Architectural Historians, 1970, p. 156-62. - LEONARD K . EATON, American Architecture Comes of Age, Cambridge Mass. 1972. - RAINER HANS TOLZMANN, Objective Architecture: American Influences in the Development of Modern German Architecture, Diss., University of Michigan 1975. - In my opinion, indigenous traditions were at least as important as Richardson's influence. In Germany, for example, it is possible to find a lively interest in early Romanesque architecture in the architectural journals as early as the 1870's, and this emphasis increases steadily in the 1880's, when a number of excavation reports and reconstructions of early churches and castles were published. See, for example, two article-series in the Zentralblatt der Bauverwaltung, III (1883): "Die Kirche in Idensen", and "Burg Dankwarderode". Competitions for monuments to Wilhelm I began in the early 1890's; to Bismarck, in the later 1890's. Especially important were: Bruno Schmitz, Kaiser Wilhelm Monument auf dem Kyffhäuser, 1890-96; Wilhelm Kreis, Burschenschaftsdenkmal, Eisenach 1901; Hugo Lederer und Emil Schaudt, Bismarck Monument, Hamburg 1906. On these and other monuments see NIPPERDEY (ann. 4) p.l42ff and ELLENIUS (ann. 3 3 ) , Den offentliga konsten, passim. Important examples of churches, synagogues and later monuments were: Franz Schwechten, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1891-96; Christoph Hehl, Evangelische Garnisonskirche, Hannover, 1891-96; Theodor Fischer, Erlöserkirche, Stuttgart, 1908; H. Albrecht, Gedenkhalle, Gravelotte, ca. 1905; A.C.G. Wienkoop, War Monument, Wachenburg, 1906-13; Edmund Körner, Synagogue, Essen, 1913. See, for example, Wilhelm Kreis' Museum in Halle, 1911-16, and Fritz Schumachers Museum in Hamburg, 1913-20. The same characteristics are displayed in the early versions of Ragnar östberg's City Hall for Stockholm, but the building which eventually resulted, built from 1911-23, was rather different. When the project was first conceived, in 1905, Stockholm planned a City Hall which would house both the municipal law courts and the meeting rooms of the City Council. Shortly thereafter, however, the two functions were separated: Westman's building then served primarly the first, östberg's primarly the second. Östberg's building has often been described as "national romantic", but although it does use heavy masonry and Romanesque arches, it does not share in the developments in plan which I have been discussing. It became a building very extensively given over to ceremonies, with interiors of inflated proportions and labyrinthine circulation. For östberg's orginal plans, see RAGNAR ÖSTBERG, Stockholms nya Rádhus, Stockholm 1905.
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most of the buildings already discussed, and some of them employed a short tower derived from indigenous fourteenth century buildings. But the proportions and interior detailing are strikingly similar to continental buildings (figs. 21, 22), and Westman's plan resembles Hoffmann's on a smaller scale (fig- 23)45.
Again contemporary writers - architects and architectural critics - spoke of these buildings in a variety of ways. Berlage, as is well-known, espoused the "simplicity" of natural materials and contrasted them to the artificiality of the past. He also sought, in a medieval geometry, a path to a wholly new style. Others praised civic buildings such as Berlage's for their "democratic" character, which apparently resided in the simplicity of the internal arrangements as well as in that of the external massing. Similar arguments appear in Germany and the Scandinavian countries too, but here there was also an effort to find in a distant and little-known past,symbols for a new and more popular nationalism 46. And it was primarily in Germany that "national romanticism" retained great influence in government buildings up to 1945 47. How can we account for the turn to a "new monumentally" and a new historicism in government buildings around 1900? To begin with, it must be emphasized that the changes in mass, in the use of materials, in the arrangements of interior spaces, in proportion, and in the siting of buildings which I have described were part of a much broader context. Similar developments can be observed in private and commercial buildings as well during the first decade of the twentieth century, and this profound and widespread set of changes took place not only throughout Europe but also in the United States. These changes can therefore not be explained, or at least not altogether explained, by the rivalries of European governments during the last years before the first world war, or by the various popular ideologies cha-
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On Westman, See HAKON AHLBERG, Carl Westman och nationalromantiken, in: Bygmästeren (Upplaga A: Arkitektur), 33 (1954), p.254-57. In this municipal court building, the courtrooms, located at the corners of the main wings, are reduced in size and proportions to the point where they resemble the offices which surrounded them, a significant reversal of the interiors of the central law court buildings of the 70's and 80's. From a very early date in German architectural writings, discussion of early medieval architecture was linked with the search for an original "Germanic" architecture. See, in addition to the articles in the Zentralblatt der Bauverwaltung, III (1883) (ann. 41), G. VON BEZOLD, Die Ornamente vom Grabmal des Theodorich von Ravenna, in: Zeitschrift für Baukunde, 1870, p.433-36; Unsere Hünengräber, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 1891, p. 157-58. A.E. BRINCKMANN, Älteste Architekturformen in Quedlinburg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 1891, p.233-35. F. SEESELBERG, Die früh-mittelalterliche Kunst der germanischen Völker, Berlin 1897. JOSEF STRZYGOWSKI, Zur früh-germanischen Baukunst, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur, 1 (1907-08), p.247-250. - JULIUS KOHTE, Die Peterskirche in Leitskau, der älteste Steinbau östlich der Elbe, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur, 2 (1908-09), p.275-80. - By 1907, a good deal of this discussion focused on the grave of Theodoric in Ravenna: see, in addition to VON BEZOLD, above, the articles by ALBRECHT HAUPT and BRUNO SCHULZ in the Zeitschrift für Geschichte der Architektur, 1 (1907-08), p. 10-26; 33-35; 197-220; 295-297. I know less about the development of these arguments in the Scandinavian countries, but they are very prominent in RAGNAR ÖSTBERG, Die Schwedische Architektur der Gegenwart, Stockholm 1908; for other references, see AHLBERG (ann. 45) and HAKON AHLBERG, Moderne Schwedische Architektur, Berlin 1925. In war memorials from 1918 on; in the work of Fritz Schumacher and Paul Bonatz, among many others in the twenties, and in the Nazi Ordensburgen. See my Architecure and Politics in Germany, 1918-1945, Cambridge Mass. 1968.
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racteristic of an imperialistic era. The changing scale of the modern city, and of most aspects of life, led to a widespread affection for clarity and efficiency in the interiors of buildings and to a pervasive desire to reorder the architectural parts of the metropolis into more intelligible sub-units 48 . Some of the arguments for neo-classicism or for "national romanticism" had little to do with politics or government, but dealt with these questions of scale and of intelligibility to a broad population. But it is obvious that government buildings shared in these phenomena, and may even have played a leading role. The themes of practicality, logic, accessibility, solemnity and power mingle in these buildings to a degree never before approached in western history. At the same time, they give a sense of rootedness in history which can be understood without a detailed knowledge of the past. It is therefore perhaps not surprising that long after the "modern movement" had conquered domestic and commercial architecture in the twentieth century, both abstracted neo-classical forms, and "national romantic" ones, continued to dominate the design of government buildings in both Europe and the United States.
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This point is explained at greater length in my "Changing Attitudes to Monumentality" (ann. 1), especially p. 104-110.
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Illustrations and their sources Figure 1: Théodore Ballu and Pierre Deperthes, Hôtel de Ville, Paris, 1874-84, exterior. From Michel Fleury, Paris Monumental, Paris 1974. Figure 2: Hôtel de Ville, plan of ground floor, from Marius Vachon, L'Hôtel de Ville de Paris, 1535 - 1905, Paris, 1905. Figure 3: Hôtel de Ville, plan of main upper floor, from Vachon. Figure 4: Hôtel de Ville, section north to south, northern half, from Vachon. Figure 5: Friedrich von Schmidt, Rathaus, Vienna 1872 - 1883, exterior. From Friedrich Schmidt, Das neue Wiener Rathaus, Vienna, 1884. Figure 6: Rathaus, vestibule. From Schmidt. Figure 7: Joseph Poelaert, Palais de Justice, Brussels, 1868-83, main entry facade. From Joseph Poelaert, Le Nouveau Palais de Justice de Bruxelles, Brussels/Paris, n.d. (ca. 1883). Figure 8: Palais de Justice, plan of ground floor, from Poelaert. Figure 9: Guglielmo Calderini, Palazzo di Giustizia, Rome, 1880 - 1911, exterior. From G.B. Milani, Le Opere Architettoniche di Guglielmo Calderini, Milan, 1917. Figure 10: Palazzo di Giustizia, plan of ground floor, from Milani. Figure 11 : Palazzo di Giustizia, corridor, from Milani. Figure 12: George Edmund Street, Royal Law Courts, London, 1874-82, Strand elevation, western half. From The Building News and Engineering Journal (London), 43 (July-December 1882). Figure 13: Royal Law Courts, plan, from Building News, loc. cit. Figure 14: Ludwig Hoffmann, Stadthaus, Berlin, 1902 - 1911, exterior from the Judenstrasse. From Deutsche Bauzeitung, 45 (1911). Figure 15: Stadthaus, plan, from Deutsche Bauzeitung, loc. cit. Figure 16: Stadthaus, view of the Stadthalle, from Deutsche Bauzeitung, loc. cit. Figure 17: Heinrich Reinhardt and Georg Siissenguth, Reichsmarineamt, Berlin, ca. 1914, exterior. From Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 1 (1914/15). Figure 18: Julius Kohte, Polizeidienstgebäude, Cologne, 1904 - 1907, exterior. From Zentralblatt der Bauverwaltung (Berlin), 27 (1907). Figure 19: Polizeidienstgebäude, plan, from Zentralblatt, loc. cit. Figure 20: Carl Westman, Râdhuset, Stockholm, 1909, exterior. From Deutsche Bauzeitung (Berlin), 57 (1923). Figure 21 : Râdhuset, ihterior, from Zentralblatt der Bauverwaltung, 36 (1916). Figure 22: Polizeidienstgebäude, interior, from Zentralblatt, 27 (1907). Figure 23: Râdhuset, plan, from Zentralblatt, 36 (1916).
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Figure 6 : Rathaus, Vienna, vestibule
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Figure 8 : Palais de Justice, plan of ground floor
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Figure 10: Palazzo di Giustizia, plan of ground floor
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Figure 11 : Palazzo di Giustizia, corridor
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Figure 14: Stadthaus, Berlin, 1902-11, entry facade
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Figure 15 : Stadthaus, plan
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Figure 18: Polizeidienstgebäude, Cologne, 1904-07, exterior
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