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German Pages 293 [294] Year 2017
B E I H E F T E
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Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 35 43 Band
Textgenese Perspektivenund derdigitales Edition Edieren musikdramatischer Wolfgang Koeppens JugendTexte im Kontext der Editionsphilologie Herausgegeben von Thomas Betzwieser, Norbert Dubowy und Andreas Münzmay Herausgegeben von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo unter Mitarbeit von Markus Schneider und Eckhard Schumacher
De Gruyter
Gefördert mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung, Frankfurt am Main.
ISBN 978-3-11-054818-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054981-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054832-7 ISSN 0939-5946 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Vorwort. Anmerkungen zum Stand einer musikwissenschaftlichen Librettoeditorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Bernhard Jahn Braucht die Germanistik Librettoeditionen? Ein Forschungsbericht mit polemischen Untertönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bodo Plachta Genug Respekt vor dem Operntext? Librettoedition aus literaturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Rüdiger Nutt-Kofoth Autorschaft, Werk, Medialität. Editionstheoretische Annäherungen an pluriautorschaftliche und plurimediale Werkkomplexe – mit einem germanistischen Blick auf das Phänomen Oper/Libretto . . . . . . . . . . . . . 25 Esbjörn Nyström Literaturwissenschaftliche Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Christine Siegert Die Integration von TEI in MEI. Zu Codierungsmöglichkeiten italienischer Operntexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Silvia Bier Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor . . . . . . . . . . . 69 Sylvie Bouissou Le poème d’opéra, de la source littéraire au livret: le cas des Opera omnia de Rameau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Anna Laura Bellina Metastasio e Goldoni. Due pesi e due misure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
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Inhaltsverzeichnis
Helga Lühning Beethoven als fünfter Librettist des Fidelio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Solveig Schreiter und Joachim Veit Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen . . . . . . . 125 Alessandro Roccatagliati Überlegungen zu Ekdotik und Libretto ausgehend von Bellini . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Albert Gier Alles fließt. Probleme der Edition von Operettenlibretti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Herbert Schneider Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti? . . . . . . . . . . . . . . . 183 Dörte Schmidt Der Text und die Komposition. Editorische Perspektiven auf die Texte zu Bühnenwerken und Vokalkompositionen im Werk von Bernd Alois Zimmermann mit einem Schwerpunkt auf dem Libretto der Oper Die Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Autorinnen und Autoren der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Vorwort Anmerkungen zum Stand einer musikwissenschaftlichen Librettoeditorik
Die Textsorte Libretto, der zu vertonende oder vertonte dramatische Text, stellt für die Editorik eine besondere Herausforderung dar. Dies gilt im Besonderen dann, wenn die Verbindung mit der Musik philologisch mitberücksichtigt und zur Darstellung gebracht werden soll. „Sag’ mir, wie du mit dem Libretto umgehst, und ich sage dir, was für eine Opernedition du machst …“ – so ließe sich salopp zugespitzt vielleicht die aktuelle musiktheaterphilologische Situation auf einen – wenn auch sicherlich nicht auf den – Punkt bringen. Die Frage nach dem editorischen Umgang provoziert indes weitere Fragen: Ist das Libretto eine Gattung? Wenn ja, eine (rein) literarische? Und wenn nein, ist dann zumindest von einer Textsorte zu sprechen? Als Hintergrund und Vergleichsfall interessant scheint die Debatte, die aus literaturwissenschaftlicher wie musikwissenschaftlicher Sicht um das Lied – Stichwort ‚musikoliterarische Gattung‘ – geführt wurde, vor allem um Hermann Danusers Vorwort zu dem Band Musikalische Lyrik (2004) innerhalb der Reihe Handbuch der musikalischen Gattungen (Band 8)1. Nun hat freilich im Falle des Librettos, anders als bei dem in vieler Hinsicht ähnlich gelagerten Problemfeld ‚Lied/musikalische Lyrik‘, bis dato noch niemand einen vergleichbaren Ersatzterminus vorgeschlagen (etwa in Richtung ‚musiktheatrales Drama‘). Der Grund dafür könnte letztlich weniger in der Machart und in den Funktionen librettistischer Texte, sondern vielmehr in der vergleichsweise stark kodifizierten äußeren Form des Librettos als ‚Büchlein‘ liegen. Hier setzten in der jüngeren Forschungsgeschichte allerdings sehr wohl terminologische Auseinandersetzungen rund um die Problematik des Verhältnisses von ‚Literaturtext‘ und ‚Partiturtext‘ ein (Gier, Breig, Nyström u. a.2). Befeuert wurden diese Auseinandersetzungen bemerkenswerterweise nicht nur aus abstrakt-gattungstheoretischen Erwägungen heraus (und vor dem Hintergrund der ‚Werbung‘ für eine ernsthafte literaturwissenschaftliche Berücksichtigung dieser ver1
Vgl. hierzu Rezensionen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wie Bernhard Jahn: „Lied“ oder „musikalische Lyrik“? Zu einem neuen Entwurf einer musikoliterarischen Gattung. Rezension zu: Musikalische Lyrik. Hrsg. v. Hermann Danuser. 2 Bde. Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen. 8,1/8,2). In: IASL online, 25.7.2006, oder Jörg Krämer: „Lied“ oder „Musikalische Lyrik“? Ein problematischer Versuch, eine Gattung neu zu konzipieren. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 10, 2006, H. 39, S. 81–88. 2 Zu den einzelnen Positionen siehe Janine Droese, Norbert Dubowy, Andreas Münzmay und Janette Seuffert: Musik – Theater – Text. Grundfragen der Musiktheaterphilologie im Spiegel der OPERA-Hybridausgaben. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 27, 2013, S. 72–95.
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Vorwort
meintlich randständigen und ‚uninteressanten‘ Literatur), sondern sie entzündeten sich ganz besonders dann, wenn es um die Frage nach ihrer editorischen Aufarbeitung ging (was vielleicht einen charakteristischen Unterschied zu der Diskussion um das Lied darstellt). Im größeren Rahmen einer auf die Gattung Oper/Musiktheater als komplexes textuelles Gesamtsystem gerichteten Betrachtung erscheint eine Einstufung des Librettos als ‚Textsorte‘ oder vielleicht ‚Texttyp‘ durchaus attraktiv – so lässt sich das taxonomische Paradox einer ‚Gattung in der Gattung‘ vermeiden (vgl. wieder das Lied, auch hier kann nicht ohne Weiteres von einer literarischen Gattung Lied ausgegangen werden, die im Vertonungsfall in der Gattung musikalisches Lied ‚aufginge‘). Und mit einer solchen eher technischen Einstufung lassen sich zugleich die medialen (‚Büchlein‘), kommunikativen (zum Komponieren der Oper; zum Mitlesen der Oper im Theater; zum Voraus- und Nachlesen; zur Dokumentation und kulturellen Speicherung der Oper) und formalen (Akt-, Szenen-, Strophen-, Versstrukturen; charakteristische Darstellungsmodi für Arien vs. Rezitative, für gebundene vs. ungebundene Sprache; sprachenübergreifend überaus starke Kodifizierung der Notierungsweise von Bühnenanweisungen) Grundeigenschaften des Librettos sicherlich besser in den Fokus rücken als mit einem emphatischen Gattungsbegriff, der wahrscheinlich immer auch inhaltliche Implikationen mit sich brächte. Das operntypische Kernproblem lässt sich dahingehend beschreiben, dass nicht nur das ‚Büchlein‘ selbst, sondern auch der vertonte, unter die Noten geschriebene, gesungene Text aufgrund der Kontiguitätsbeziehung zum Inhalt des ‚Büchleins‘ metonymisch als ‚Libretto‘ bezeichnet werden kann. Die Gretchenfrage lautet deshalb: In welchem Verhältnis stehen die ‚beiden Libretti‘ – ein und derselben Oper – zueinander? Wie autonom sind beide, einschließlich der damit verbundenen individuellen Autorschaften respektive Autorenrechte? Dies dürfte für jede Edition eines musiktheatralen Werkes, die ‚das Libretto‘ philologisch vollgültig mit einzuschließen gedenkt, die gleichermaßen drängendste wie intrikateste Frage darstellen. Als knifflig erweist sich diese Frage schon insofern, als die beiden Textsorten (oder Texttypen) in der äußeren Form völlig inkongruent sind (z. B. Versumbrüche in Librettodrucken vs. fortlaufend lineare Notierung in Partituren; ganze Verse in Libretti vs. Möglichkeit von Teilversen, Abspaltungen usw. in Partituren). Zudem stimmt auch der Wortlaut in der Regel nicht dergestalt überein, dass von einem Text gesprochen werden könnte. Gerade in Bezug auf Operntexte ist also immer mit diffizilen und von Werk zu Werk, von Konstellation zu Konstellation je individuellen Quellenbewertungen zu rechnen.3 Dabei muss zur Differenzierung in der Regel zu-
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Natürlich können viele Editionsreihen, namentlich Komponisten-Werkausgaben, mit apriorischen Editionsrichtlinien festlegen, wie mit ‚dem‘ Libretto umgegangen wird; dies war in der Vergangenheit aber vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie einen Werkbegriff zugrunde legten, welcher die Oper als literarisches Werk als nachrangig betrachtete. Der Komponist wurde dabei implizit zum ‚eigentlichen‘ Autor stilisiert, der Librettist dabei als eine Art Zuarbeiter gesehen.
Vorwort
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nächst zwischen den Textsorten ‚Partitur‘ und dem Texttyp ‚Libretto‘ eine (imaginäre oder explizit erklärte) Demarkationslinie installiert werden. Überdies sind solche Musiktheatergattungen, in denen nicht nur gesungen, sondern auch gesprochen oder gar hauptsächlich gesprochen (Melodram; Schauspiel mit Musik) wird, in Bezug auf die beteiligten Textsorten und ihre Wechselverhältnisse gesonderten Befragungen zu unterziehen. Dies ist ein in der bisherigen wissenschaftlichen Librettodiskussion vergleichsweise unterbelichtetes Feld. In dieser Hinsicht ist jedoch in jüngerer Zeit Bewegung zu verzeichnen: Zu nennen ist beispielsweise die sowohl in der Literatur- wie auch in der Musikwissenschaft regelrecht aufblühende Melodramforschung, die von den Beteiligten ganz dezidiert und offensiv als interdisziplinäres Arbeitsfeld betrachtet und propagiert wird. Auch hier könnte eine genuin interdisziplinär konzipierte Philologie/Editorik zu einem wichtigen Motor der Forschung werden. Und schließlich sind historische respektive kulturwissenschaftlich konturierte Fragekomplexe zu berücksichtigen: Die Text- und Repräsentationsgestalt des Librettos variiert erheblich im Laufe der Musiktheatergeschichte, gleichermaßen haben sich die Routinen der Kollaboration zwischen Literaten und Komponisten historisch verändert. Dies gilt auch für die Produktions- und Publikationsroutinen von Textbüchern und Partituren (mit oder ohne Dialogtext). Der Intention einer vollständigen Werkwiedergabe auf Seiten des Formats Partitur steht die (lange) Tradition des Formats Ariendrucke im Bereich des Librettos gegenüber; nicht zu vergessen die vielen interessanten Hybride: Libretti, die auch Musik enthalten (Arienanhänge; notierte Airs, musikanaloge Darstellung von Ensembles), Klavierauszüge oder Partituren mit vorangestelltem Libretto etc. Die musikwissenschaftlichen historisch-kritischen Ausgaben sind besonders dieser Tradition der Hybride verpflichtet – oft wurde traditionell der Partitur ‚das vollständige Libretto der Oper‘ vorangestellt oder auch ein Faksimile z. B. des Librettoerstdrucks.4 Die neuesten Entwicklungen auf dem Feld der digitalen Edition führten auf breiter Linie dazu, dass diese Tradition, das Libretto ‚irgendwie‘ mit zu berücksichtigen, aufgegriffen und dahingehend umgedeutet respektive aufgewertet wurde, dass dem Libretto sehr viel mehr Raum und in philologischer Hinsicht ein sehr viel höherer Stellenwert zugewiesen wurde. (Libretti in der Digitalen Mozart-Edition, in der Weber-Gesamtausgabe oder im Projekt OPERA.) Der bedeutsamste technologische Sprung besteht dabei zweifellos darin, dass Verlinkungen und Verschaltungen textsortenübergreifend möglich sind – nicht taxonomisch, sondern gewissermaßen kreuz und quer, das heißt jede sachlich vorhandene Kontiguität (z. B. „Librettovers X findet seine Vertonung in den Takten Y bis Z der Partitur“) kann präzise repräsentiert, ja sogar: ediert werden, ohne dass deshalb eine philologische Vermischung der Textsorten notwendig würde.
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Nicht unerwähnt darf an dieser Stelle natürlich die Existenz kritischer (Libretto-)Editionen jenseits von Musikerausgaben bleiben, man denke nur an die Ausgaben der Werke Pietro Metastasios oder Hugo von Hofmannsthals.
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Vorwort
In diesem Sinne sollten der vorliegende Band bzw. die Referate der zugrundeliegenden Tagung ein möglichst breites Panorama von editorischen Problemata abbilden. Intendiert war eine Mischung aus grundsätzlichen theoretischen Überlegungen und gattungs- wie projektbezogenen Fallbeispielen, die offenbart, wie weit gefächert das Problemfeld letztlich ist und wie stark jeder editorische Lösungsansatz von individuellen Sachlagen, aber auch wissenschaftskulturell geprägten Denkarten und Gepflogenheiten geprägt ist. Gerade letztere erscheinen aus unserer Sicht besonders instruktiv, da sich eben beim Libretto musikwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Edi tionstraditionen der verschiedenen Wissenschaftskulturen und Disziplinen überlagern. Vor diesem Hintergrund wird in Zukunft eine Frage virulent bleiben: nämlich ob sich im weiten Spektrum der europäischen, interdisziplinären Librettoeditionen übergreifende methodische Kategorien und Paradigmen abzeichnen. Den Diskurs darüber anzuregen, war erklärtes Ziel der Tagung in Bayreuth im November 2012. All denen, die an dem Diskurs teilnahmen und fürderhin weiter teilhaben werden, sei an dieser Stelle noch einmal gedankt. Detmold, Frankfurt a. M., Salzburg – Mai 2017
Andreas Münzmay, Thomas Betzwieser und Norbert Dubowy
Bernhard Jahn
Braucht die Germanistik Librettoeditionen? Ein Forschungsbericht mit polemischen Untertönen
Entscheidungsfragen wie die im Titel dieses Beitrags provozieren eine knappe Antwort.1 Vor zwanzig Jahren, als ich, in damals vielleicht noch jugendlichem Enthusiasmus, zusammen mit Bodo Plachta in Wolfenbüttel ein groß angelegtes Librettoeditionsprojekt präsentierte,2 hätte ich auf die so gestellte Frage umstandslos mit Ja geantwortet, war ich doch davon überzeugt, dass die Germanistik zu ihrem Fortkommen nichts nötiger bräuchte als gerade solche Librettoeditionen. Die damals anhand der Lektüre zahlreicher Libretti gewonnene Einsicht, dass auch Operntexte dicht gefügte Texte sind, mithin für literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen ebenso geeignet wie die traditionellen Texte der Germanistik, ja für einige Epochen und Fragestellungen vielleicht sogar noch ergiebiger als die kanonisierten Werke, diese Einsicht führte für mich geradezu zwingend zu der Notwendigkeit, die Germanistik mit Librettoeditionen beglücken zu wollen. Missionarischer Eifer mag dabei auch mit im Spiel gewesen sein. Zwanzig Jahre später ist der Enthusiasmus verschwunden und eine gewisse Skepsis eingekehrt, so dass ich nicht so recht weiß, was ich auf die Entscheidungsfrage des Titels antworten soll. Ein überzeugtes Ja kann es nicht mehr sein. Im Folgenden möchte ich anhand eines Forschungsüberblicks, der vor allem den Bereich der Germanistik umfasst, meine Skepsis ein wenig grundieren und darüber nachdenken, warum es Librettoeditionen in der Germanistik schwer haben und ob es überhaupt möglich ist, das Fach für Libretti zu interessieren. Wenn in diesem Zusammenhang so ganz im Allgemeinen von Libretti gesprochen wird, dann sind damit nicht jene Kanon-Libretti gemeint, für die sich die Germanistik schon immer interessierte, weil sie kanonisierte Autoren zum Verfasser haben. Es geht also nicht um die Operntexte Hugo von Hofmannsthals3 oder Ingeborg Bachmanns, nicht um Goethes Der Zauberflöte zweyter Theil4 und nicht um die Musikdramen
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Die Vortragsform wurde beibehalten, ebenso, da es sich um eine subjektiv gefärbte Einschätzung der Forschungssituation handelt, auch die Ich-Perspektive. 2 Vgl. Bernhard Jahn, Bodo Plachta: Zur Edition deutschsprachiger Opernlibretti (1660–1740). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meinecke. 2 Bde. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe. Beihefte zum Daphnis. 24/25), hier Bd. 1, S. 231–245. 3 Allein die germanistische Sekundärliteratur zum Rosenkavalier hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, man vergleiche die jährlich aktualisierte Bibliographie im Hofmannsthal-Jahrbuch. 4 Unter den zahlreichen Studien zu Goethes Musiktheater seien hier besonders hervorgehoben: Tina Hartmann: Goethes Musiktheater: Singspiele, Opern, Festspiele, Faust. Tübingen 2004; Andreas
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Bernhard Jahn
Richard Wagners5, allesamt Texte, mit denen man sich als Germanistin oder Germanist beschäftigen darf, ohne in den Verdacht zu geraten, absonderlichen und für das Wohl des Faches irrelevanten Neigungen nachzugehen. Nun wird man mir entgegen halten, dass die Zeiten für die Librettoforschung in den Literaturwissenschaften nie goldener gewesen seien als heute. Nimmt man einmal, durchaus beliebig herausgegriffen, Klaus Günther Justs Aufsatz Das deutsche Opernlibretto6 aus dem Jahre 1975 als zeitliche Markierung, ein Aufsatz, der das ganze Elend der damaligen Librettoforschung auf den Punkt bringt und betrachtet, was sich seither getan hat, dann wird man auch als Pessimist nicht umhin können, einen wenn schon nicht gewaltigen, so doch deutlich wahrnehmbaren Aufschwung in der Librettoforschung zu konstatieren. Es liegt nicht nur mit Albert Giers Studie zur Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung7 erstmals seit Edgar Istels Buch8 aus dem Jahre 1914 wieder ein der Gattung insgesamt gewidmetes Überblickswerk vor, sondern es gibt darüber hinaus zahlreiche Einzelstudien. Selbst bei einer Konzentration auf den germanistischen Bereich sind so viele Titel zu nennen, dass man sich dem Luxus der Auswahl hingeben muss: Es sind Studien vorgelegt worden, die von stoffgeschichtlichen Aspekten ausgehen wie etwa die Dissertation von Olga Artsibacheva9 zum Orpheus-Mythos, von Gesine Manuwald10 zu Nero-Opern oder von Christian Seebald11 zur Rezeption von Mittelalterstoffen in der barocken Oper; wir finden librettobasierte Studien zu einzelnen Spielstätten wie die Arbeit von Sara Smart12 zu Wolfenbüttel und Braunschweig, von Michael Ritter13 zu Wien oder Laure Gauthier14 zu Hamburg; es
Meier: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffes auf der europäischen Musikbühne. Frankfurt/Main 1990. 5 Vgl. etwa die jüngst erschienene Studie von Martin Schneider: Wissende des Unbewussten. Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners. Berlin, Boston 2013 (Studien zur deutschen Literatur. 199). 6 Klaus Günther Just: Das deutsche Opernlibretto. In: Poetica 7, 1975, S. 203–220. 7 Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998. 8 Edgar Istel: Das Libretto. Wesen, Aufbau und Wirkung des Opernbuchs nebst einer dramaturgischen Analyse des Libretto [!] von Figaros Hochzeit. Berlin, Leipzig 1914. 9 Olga Artsibacheva: Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit. 132). 10 Gesine Manuwald: Nero in Opera. Librettos as Transformations of Ancient Sources. Berlin, New York 2013 (Transformationen der Antike. 24). 11 Christian Seebald: Libretti vom ‚Mittelalter‘. Entdeckungen von Historie in der (nord)deutschen und europäischen Oper um 1700. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit. 134). 12 Sara Smart: Doppelte Freude der Musen. Court Festivities in Brunswick-Wolfenbüttel 1642–1700. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. 19). 13 Michael Ritter: „Man sieht der Sternen König glantzen“. Der Kaiserhof im barocken Wien als Zentrum deutsch-italienischer Literaturbestrebungen (1653 bis 1718) am besonderen Beispiel der Libretto-Dichtung. Wien 1999. 14 Laure Gauthier: L’Opéra à Hambourg (1648 [sic!] – 1728). Naissance d’un genre, essor d’une ville. Paris 2010. Zur Hamburger Oper vgl. auch die Aufsätze in dem Band: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hrsg. von Johann Anselm Steiger und Sandra Richter. Berlin 2012.
Braucht die Germanistik Librettoeditionen?
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gibt thematische Analysen etwa zum Bild der Frau oder zu Liebeskonzepten von Anette Guse15, Sarah Colvin16 oder Anna Stenmans17. Doch auch von Seiten der Musikwissenschaft wird dem Text einer Oper seit den 1970er Jahren mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Vorbei sind die Zeiten, oder sie sollten es wenigstens sein, in denen sich die Analyse des Librettos auf eine Inhaltsangabe mit einigen stoffgeschichtlichen Hinweisen beschränkte oder auf die Betrachtung metrisch-rhythmischer Strukturen. Vielmehr dominieren nun, wenn ich mich auf Studien zum 17. und 18. Jahrhundert beschränke, Fragen nach der politischen Funktion der Opern, etwa die von Sebastian Werr18 zu München, Susanne Rode-Breymann19 zu Wien oder Dorothea Schröder20 zu Hamburg. Die Kulturtransferforschung gibt wichtige Impulse, jüngst etwa mit der Arbeit von Ulla Karen Enßlin21 zur Rezeption von Aubers La Muette de Portici in Deutschland. Hinzu kommt nun zweitens, was die Situation der Librettoforschung weiter ‚vergoldete‘, eine im Vergleich zu 1975 weit fortgeschrittene Grundlagenforschung. Die Kataloge von Schröder und Hans Joachim Marx22 zu Hamburg und von Michael Maul23 zu Leipzig sowie die gigantische Bibliographia dramatica et dramaticorum24 von Reinhart Meyer erleichtern die Arbeit für den deutschen Sprachraum. Inzwischen ist es üblich, in der Hallischen Händel-Ausgabe ebenso wie in der Telemann-Auswahl-Aus-
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Anette Guse: Zu einer Poetologie der Liebe in Textbüchern der Hamburger Oper (1678–1738). Eine Fallstudie zu Heinrich Elmenhorst, Christian Friedrich Hunold und Barthold Feind. Diss. Kingston, Ontario 1997. Sarah Colvin: The Rhetorical Feminine. Gender and Orient on the German Stage, 1647–1712. Oxford 1999. Anna Stenmans: Penelope in Drama, Libretto und bildender Kunst der Frühen Neuzeit. Transformationen eines Frauenbildes. Münster 2013. Die Arbeit von Stenmans bietet gegenüber traditionellen Librettostudien, die sich auf die Operntexte beschränken, den Vorteil, dass hier die Figur der Penelope auch im Kontext der anderen Künste betrachtet wird. Sebastian Werr: Politik mit sinnlichen Mitteln. Oper und Fest am Münchner Hof (1680–1745). Köln u. a. 2010. Susanne Rode-Breymann: Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677–1705. Hildesheim u. a. 2010. Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690–1745). Göttingen 1998. (Abhandlungen zur Musikgeschichte. 2). Ulla Karen Enßlin: „Wenn die Tyrannen fallen, sind wir frei“ – Studien zur Rezeptionsgeschichte von Aubers La Muette de Portici. Hildesheim u. a. 2012. Zum Thema Libretto und Kulturtransfer vgl. auch: Librettoübersetzung. Interkulturalität im europäischen Musiktheater. Hrsg. v. Herbert Schneider und Rainer Schmusch. Hildesheim u. a. 2009. Hans Joachim Marx, Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995. Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720). 2 Bde. Freiburg 2009. Reinhart Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. 1. Abteilung: Werkausgaben, Sammlungen, Reihen. 3 Bde. Tübingen 1986; 2. Abteilung: Einzeltitel. 34 Bde. Tübingen 1993–2011; vgl. ferner auch ders.: Schriften zur Theater- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Matthias J. Pernerstorfer. Wien 2012. Die Arbeiten Meyers zum Theater des 18. Jahrhunderts sind paradigmatisch für das Scheitern, wenn es um den Versuch geht, die Germanistik für die Literatur jenseits des Kanons zu gewinnen.
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Bernhard Jahn
gabe, der Gluck-Ausgabe25 oder den Operneditionen des ortus-Verlags, die Libretti zu faksimilieren und der Partituredition beizufügen. Die Bayerische Staatsbibliothek und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel digitalisieren ihre Librettobestände, so dass die Textbücher zunehmend online lesbar sind. Die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek plant Gleiches für ihre Librettosammlung. Libretti sind so leicht zugänglich wie noch nie, und die traditionelle Ausrede des Literaturwissenschaftlers, er habe nicht gewusst, dass es so etwas (scilicet Libretti) gebe, verliert langsam an argumentativer Kraft. Auch in den Opernhäusern hat sich ein anderer Umgang mit dem Operntext durchgesetzt, ein Umgang, der die gestiegene Wertschätzung des Librettos verdeutlicht. Selbst Aufführungen deutschsprachiger Opern werden inzwischen mit Übertiteln versehen, so dass der Zuschauer dem Text folgen kann. Vorbei sind die Zeiten, in denen das Ignorieren des Textes den Königsweg zur Oper bedeutete. Hinzu kommt schließlich der Boom der Barockopern auf der Bühne wie auf CD und DVD. Wer hätte vor dreißig Jahren zu prognostizieren gewagt, dass einmal alle Opern Vivaldis in Einspielungen erhältlich sein werden? Die in den Booklets zu den CDs abgedruckten Libretti – ich weiß nicht, wie die Hörer der CDs damit umgehen, ob sie den Text zur Oper mitlesen, oder wenigstens einmal lesen, oder aber gar nicht –, diese Libretti jedenfalls gehören rein verkaufstechnisch betrachtet zu den Bestsellern der barocken Literatur. Libretti wie das zu L’Incoronazione di Poppea oder zu Händels Giulio Cesare sind in diesem Sinne in einer Auflage von über 100.000 Exemplaren auf dem Markt, was wiederum bedeutet, dass sie in einer Auflagenhöhe präsent sind, die zumindest die der deutschsprachigen sogenannten Barockliteratur um das mindestens Zehn- wenn nicht Hundertfache übersteigt. Auch wenn ich mir durchaus darüber im Klaren bin, dass diese Opern wegen der Musik und nicht wegen ihres Textes den heutigen Hörer ansprechen, und auch wenn ich sehe, dass die alte Vorstellung vom minderwertigen Libretto in den Köpfen der Regisseure und der Bookletschreiber fröhlich fortlebt, so ist doch die wenigstens materielle Präsenz des Opernbuches deutlicher wahrnehmbar als noch in den 1970er Jahren und somit die statistische Wahrscheinlichkeit höher, wenigstens rein physisch über einen Operntext zu stolpern. Das Libretto betritt auf diese Weise durch die Hintertür das Haus der Literatur und konterkariert Heinz Schlaffers26 pointierte These in seiner kurzen Geschichte der deutschen Literatur. Geht man von einer breiteren Rezeption der Libretti via CD-Booklets aus, dann wird man entgegen Schlaffer die Literatur des deutschsprachigen Raumes doch schon vor der Klassik beginnen lassen müssen, nur bewegen wir uns dann eben nicht mehr im Gebiet des germanistischen Literaturkanons.
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Im Rahmen der Gluck-Ausgabe ist sogar ein eigener Band mit Libretti erschienen: Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke. Abt. 7, Bd. 1: Libretti: Die originalen Textbücher der bis 1990 in der GluckGesamtausgabe erschienenen Bühnenwerke; Textbücher verschollener Werke. Hrsg. von Klaus Hortschansky. Kassel u. a. 1995. 26 Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002.
Braucht die Germanistik Librettoeditionen?
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Wenn es aber so ist, dass die Zahl der qualitätsvollen Librettostudien in Literaturund Musikwissenschaft deutlich zugenommen hat, wenn dem so ist, dass die Operntexte selbst leichter greifbar sind und schließlich, was mindestens die Texte des 17. und 18. Jahrhunderts betrifft, auch verstärkt in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt sind, dann, ja sind wir dann nicht endlich im goldenen Zeitalter und Paradies der Librettoforschung angelangt? Um die Frage zu beantworten, muss neben dem Blick ins Paradies nun aber auch der Blick in die Hölle gewagt werden. Die Hölle, das sind natürlich auch in der Librettoforschung die anderen, eben nicht jene Germanisten, die sich trotzdem für Libretti interessieren und den Mut haben, darüber zu publizieren, sondern es ist jene ungleich größere Gruppe, die es sich leisten kann, Operntexte prinzipiell aus ihren Forschungen auszublenden. Ich behaupte, dass sich, trotz all der eben aufgezählten positiven Rahmenbedingungen, im Kernverhalten oder in der Grundeinstellung des Faches Germanistik nicht viel seit Klaus Günther Justs Zeiten geändert hat. Zwar wird heute kein Germanist mehr Libretti als minderwertige Literatur bezeichnen, doch das liegt nicht daran, dass die Operntexte nun von der Forschung wertgeschätzt würden, sondern vor allem daran, dass aufgrund des kulturwissenschaftlichen Turns die Dichotomie von hoher und trivialer Literatur so nicht mehr existiert. Nach wie vor dominiert in der Germanistik, wenn es um das Theater geht, von ein paar Ketzern27 abgesehen, eine geradezu augustinisch anmutende Zwei-Reiche-Lehre, der zufolge es das Sprechtheater und das Musiktheater gibt. Doch anders als im Modell des Augustinus sind die beiden Reiche in der Germanistik strikt getrennt. Pointiert gesagt: Es gibt Tagungen zu Schillers Dramen und es gibt Tagungen zu Metastasios Libretti. Es gibt aber keine Tagungen zu Schiller im Kontext der metastasianischen Dramatik und gab nur eine zu Metastasio im Kontext der deutschen Aufklärung.28 Da hilft es wenig, wenn jeweils aus Alibigründen ein Germanist bei Metastasio und ein Musikwissenschaftler bei Schiller mit von der Partie ist. Das dient lediglich der Interdisziplinarität, und dieses Wort ist ein Euphemismus für disziplinäre Abgrenzung. Nach wie vor, um beim Beispiel Schiller zu bleiben, scheint mir, trotz Peter Michelsens Bruch mit der Vater-Welt 29 oder dem von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack herausgegebenen Sammelband Schiller und die höfische Welt 30, die eigentliche Kontextualisierung des schillerschen Frühwerks wie überhaupt des Sturm und Drang immer noch auszustehen. Nach wie vor, auch in neuen Schiller-Biographien31, wird der Stuttgarter Hof distanzlos aus der
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Unter den Ketzern ist Reinhart Meyer an erster Stelle zu nennen, außerdem Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur. 149/150). Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Bericht über das Symposium Potsdam 1999. Hrsg. von Laurenz Lütteken und Gerhard Splitt. Tübingen 2002. Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers Räubern. Heidelberg 1979 (Beihefte zum Euphorion. 16). Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack. Tübingen 1990. Vgl. etwa Peter-André Alt: Schiller: Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000.
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Bernhard Jahn
Perspektive des jungen Schiller beschrieben, als ob wir uns noch in der Anfangsphase der Absolutismuskritik befinden würden. Die Musikwissenschaft wiederum, wenn es um Jommelli geht,32 und die Tanzwissenschaft, wenn es Jean Georges Noverres Reformen betrifft,33 präsentieren uns einen ganz anderen Stuttgarter Hof, einen Hof, der sich den erstaunlichsten Theaterexperimenten verschrieben hatte. Und schon sind sie wieder anwesend, die zwei Reiche, säuberlich auf die Fachrichtungen verteilt. Wer indes weiß, wie Theaterabende im 18. und noch im 19. Jahrhundert strukturiert waren, wer weiß, dass die meisten Theater Sprech-, Tanz- und Musiktheater mit einem Ensemble unter einem Dach präsentierten, wer weiß, welche Rolle Schauspielmusiken spielten, der kann nicht versuchen wollen, das Theater in Deutschland zwischen 1550 und 1850 vorab fein säuberlich in Musik- und Sprechtheater zu trennen. Er wird vielmehr davon ausgehen müssen, dass jeder Dichter, der sich mit dem Theater beschäftigte, zwangsläufig auch den Anteil des Tanz- und des Musiktheaters am Theater kennenlernte. Wenn aber die traditionelle Germanistik aufgrund der festgefügten Grenzen ihrer Disziplin kein wirkliches Interesse für die Libretti aufbringen kann, wenn sie nicht bereit ist, die Operntexte ins Allerheiligste des Kanons aufzunehmen, dann könnte ja der Blick auf jene neueren Richtungen der Germanistik, für die das Fach in seiner Turn-Freude so berühmt wie berüchtigt ist, lohnend sein. Wie hält es die kulturwissenschaftlich oder medienwissenschaftlich ausgerichtete Germanistik mit der Oper und dem Operntext? Müssten nicht gerade diese fachlichen Ausprägungen aus unterschiedlichen Gründen mit einem besonderen Interesse an der Oper aufwarten? Betrachtet man kulturwissenschaftlich ausgerichtete Studien, die sich speziell dem Phänomen Oper widmen, wie etwa Immacolata Amodeos Das Opernhafte34 oder Doris Koleschs Studie Theater der Emotionen35, dann fällt auf, welch geringe Rolle die Analysen einzelner Opern bzw. Libretti in diesem Zusammenhang spielen. Die Oper wird eher wie eine Black Box behandelt, um dann zu beschreiben, wie die Umwelt auf sie reagiert. Hinzu kommt, dass kulturwissenschaftlich ausgerichtete Studien, obwohl es ihrem Ansatz widersprechen sollte, sehr stark auf kanonisierte Texte fixiert sind und auf diese Weise stärker von der traditionellen germanistischen Literaturwissenschaft abhängen, als es die Abgrenzungs- und Profilierungsversuche nahelegen. Aber auch in einer medienwissenschaftlich erweiterten Germanistik sieht es nicht viel besser aus. Obwohl sich heute weitgehend ein nicht-technizistischer Medienbegriff
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Vgl. Heinrich Deppert: Musik im aufgeklärten Absolutismus. In: Geschichte als Musik. Hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg durch Otto Borst. Tübingen 1999, S. 105–128. Zu Jommellis Stuttgarter Opern liegt nur eine ältere Studie vor: Audrey L. Tolkoff: The Stuttgart Operas of Niccolo Jommelli. Ann Arbor (Mich.) 1974. 33 Sibylle Dahms: Der konservative Revolutionär: Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts. München 2010. 34 Immacolata Amodeo: Das Opernhafte. Eine Studie zum ‚gusto melodrammatico‘ in Italien und Europa. Bielefeld 2007. 35 Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt/Main, New York 2006.
Braucht die Germanistik Librettoeditionen?
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durchgesetzt hat, tendieren medienwissenschaftliche Untersuchungen doch eher zu den neuen Medien. Das neue Paradigma Intermedialität wird daher eher am Film als an der Oper ausprobiert. Wer etwa Irina Rajewskys36 Systematisierungsversuch intermedialer Phänomene zur Hand nimmt, wird feststellen, dass die Oper dort nicht vorkommt, obwohl die Systemstelle für die Oper immerhin vorhanden ist. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass die Musikwissenschaft im Vergleich zur Medienwissenschaft eine ungleich ältere Disziplin ist, mit etablierten eigenen Analysemethoden und eigenen Analysetraditionen? Wer ein Computerspiel auf seine intermediale Dimension hin untersucht, hat weniger disziplinäre Traditionen zu berücksichtigen und deren Einsprüche zu befürchten, als derjenige, der dies mit einer Oper versucht. Ist also die Musikwissenschaft schuld, dass die Germanisten keine Libretti lesen? Ja, sagen die Gutwilligen unter den Verächtern der Librettistik, gern würden wir Libretti in unsere Analysen mit einbeziehen, aber wir verstehen zu wenig von Musik und wollen uns als musikalische Dilettanten in der Fachöffentlichkeit nicht lächerlich machen. 1994 hätte ich auf diesen Einwand mit dem Hinweis geantwortet, dass Libretti zumindest in der Frühen Neuzeit auch als Lesetexte konzipiert waren und deshalb in eigenen, von Aufführungen unabhängigen Ausgaben publiziert wurden. Obwohl ich diesen Hinweis unter historischen Gesichtspunkten nach wie vor für richtig halte, überzeugt er mich als Argument in der Debatte um die Librettistik nicht mehr so wie einst. Zwar gibt es viele auch als literarische Kunstwerke perfekte Libretti, aber die durch das Hinzutreten der Musik entstehende intermediale Verbindung stellt eine gerade auch für die Analyse viel zu verlockende Herausforderung dar, als dass man auf sie in Zeiten des Intermedialitätsparadigmas verzichten könnte. Deswegen halte ich Versuche, bei der Opernanalyse ohne Musikwissenschaftler bzw. musikwissenschaftliche Ansätze auszukommen, für verfehlt. Vielmehr wäre wohl noch einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, wie eine Zusammenarbeit von Musik- und Literaturwissenschaft aussehen könnte. Betrachtet man den Band Musikalische Lyrik 37 in der Reihe Handbuch der musikalischen Gattungen, einen Doppelband, in dem immerhin jedes Thema von einem Literatur- und einem Musikwissenschaftler bearbeitet wurde, dann sieht man deutlich, wie die Disziplinen nahezu ohne Kontakt nebeneinander her schreiben – und das in ein und demselben Band. Angesichts solcher Bände wäre es notwendig, noch einmal von vorne anzufangen, um Interdisziplinarität neu zu definieren. Ein solcher Neuanfang müsste beim Selbstverständnis der Fächer ansetzen, dürfte aber dort nicht stehenbleiben.
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Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen, Basel 2002. Ebenfalls ohne Musiktheater kommen aus: Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. Hrsg. von Joachim Paech und Jens Schröter. München 2008; Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Hrsg. von Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller. Göttingen 2006. 37 Musikalische Lyrik. Hrsg. von Hermann Danuser. 2 Bde. Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen. 8,1/8,2). Vgl. dazu meine Rezension in iasl-online.
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Bernhard Jahn
Wie kann unter diesen Umständen eine sinnvolle Librettoedition überhaupt aussehen? Zunächst einmal: Wie darf sie nicht aussehen? So schön es auch ist, wenn die Partitur editionen ein Faksimile des Librettos voranstellen: Kein Germanist wird auf die Idee kommen, eine solche Ausgabe in die Hand zu nehmen. Die Werkausgaben der Komponisten stehen nicht nur nicht in germanistischen Institutsbibliotheken, sie gehören dort nach dem unausgesprochenen Verständnis des Faches prinzipiell nicht hin und sind in Zeiten universitären Sparens auch schlicht zu teuer. Ebenfalls weitgehend unbeachtet werden reine Librettoeditionen bleiben. Als Prototyp mag die schon 1980 vorgelegte, sich in der äußeren Aufmachung etwas schlampig gebende Faksimile-Edition einiger Hamburger Libretti38 von Reinhart Meyer dienen, die sich in vergleichsweise vielen germanistischen Bibliotheken findet. Sieht man einmal von dem Spezialfall ab, dass ein Germanist ein Seminar zu Hamburger Opernlibretti anbietet, dann gibt es mindestens vier durch den germanistischen Kanon erzeugte Kontexte, in denen Germanisten auf den Gedanken kommen sollten, zu dieser Ausgabe zu greifen, was de facto dann aber meistens doch unterbleibt: Erstens ist das der Kontext der kanonisierten schlesischen Barockdramatik, der sich aus den Dramen eines Andreas Gryphius, Daniel Casper von Lohenstein, Johann Christian Hallmann und Christian Weise zusammensetzt. Hier wäre zu fragen, welche Rolle die Dramen der Schlesier für die Hamburger Oper spielen oder aber eben auch: nicht spielen. Denn der Einfluss der Schlesier auf das barocke Musiktheater ist nicht so groß, wie man angesichts des kanonisierten Status der schlesischen Dramatiker erwarten würde. Eher richteten sich die Hamburger wie auch die anderen Opernbühnen an Venedig und Wien, später auch an Paris aus. Zweitens die Frage nach dem Drama in der Frühaufklärung. Die gelegentlich in der germanistischen Forschung konstatierte, de facto aber durch die Vorgaben des Kanons selbst erst erzeugte Lücke39 in der deutschen Literatur nach den Schlesiern und vor dem Auftreten Gottscheds lässt sich im Bereich des Theaters leicht schließen, wenn man das Musiktheater mitberücksichtigt.40 Die in dieser Zeit auf die Bühne gebrachten Opern bieten vielfältige Anschlussmöglichkeiten an die Diskurse der Aufklärung. Drittens wäre im Zusammenhang mit dem Theater der Aufklärung, wenn es um Lessing und das Hamburgische Nationaltheater geht, der Kontext der Musiktheatertradition in Hamburg zu berücksichtigen.41
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Reinhart Meyer: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. 4 Bde. München 1980. 39 Vgl. dazu Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam, Atlanta 2001, S. 12–25. 40 Vgl. Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005, S. 1–4. 41 Vgl. Wolfgang Hirschmann, Bernhard Jahn: Oper und Öffentlichkeit. Formen impliziten Aufklärens an der Hamburger Gänsemarktoper um 1700. In: Um 1700: Die Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung. Hrsg. von Daniel Fulda und Jörn Steigerwald. Berlin, Boston 2016 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung. 559), S. 184–197.
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Viertens schließlich der Komplex des galanten Diskurses und die Rolle des Musiktheaters in diesem Diskurs. Wenigstens beim Thema Galanterie sollte der Rekurs auf Operntexte unvermeidlich sein, empfehlen doch die zeitgenössischen galanten Poetiken etwa eines Erdmann Neumeister die Oper als die galanteste Form der Poesie. Kann man ein Buch über Galanterie mit einem umfangreichen Kapitel über Menantes schreiben, ohne ein einziges Opernlibretto zu berücksichtigen? „Yes, we can“, wie das 2011 erschienene Werk Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft42 demonstriert. Kann man ein Buch über Abweichungen von der barocken Regelpoetik schreiben, ohne eine einzige Librettovorrede der Hamburger Libretti zu berücksichtigen? Auch das ist möglich43 und zeigt stellvertretend für hundert andere Beispiele, dass es nicht genügt, wenn es Librettoeditionen gibt und diese sich sogar in den germanistischen Institutsbibliotheken befinden. Was in der Germanistik allenfalls Erfolg haben könnte, wären Editionen, an denen ein prototypisch normaler Germanist, der sich im Rahmen der kanonischen oder einer kulturwissenschaftlich erweiterten Germanistik bewegt, nicht vorbei gehen kann. Ich sehe im Moment wenig Möglichkeiten, wie dies ins Werk zu setzen wäre. Es müssten Editionen sein, die sich parasitär des kanonischen Diskurses der Germanistik bedienen, um sich auf diese Weise in ihn einzuschmuggeln und ihre Leser unter der Hand zum Zusammendenken des Musik- und Sprechtheaters zwängen. Sie müssten dabei allen Anschein des Musikalischen oder gar Musikwissenschaftlichen vermeiden. Stoffgeschichtliche Sammelbände wie die in den 1960er Jahren im Verlag Langen Müller erschienene Reihe Theater der Jahrhunderte, in der es Bände zu Medea, Orpheus, Orest etc. gab, die immer auch Opernlibretti enthielten, wären eine Möglichkeit, sind aber vielleicht nicht effektiv genug angelegt, um Libretti unter Germanisten zu bringen. Warum also nicht Gottscheds Sterbenden Cato mit Metastasios Catone in Utica zusammen edieren, Schillers Räuber mit Metastasios Demofoonte in der Stuttgarter Fassung, die Schiller selbst sah, oder Brechts Dreigroschenoper mit dem Hamburger Jahr-Marckt von Johann Philipp Praetorius, und das alles möglichst jeweils als Reclam-Heft? Gleichermaßen notwendig wären thematische Sammeleditionen, die Material zu aktuellen Turns bereitstellten. So erfreulich es ist, dass die Postcolonial Studies Verdis Aida in ihre Analysen mit einbeziehen, hier wäre auch an deutschsprachige Libretti zu denken, etwa an Spohrs Jessonda. Ob diese Strategie des Zusammen-Edierens dann allerdings tatsächlich dazu führt, dass die auf solche Weise eingeschmuggelten Libretti von prototypischen Germanisten 42
Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650– 1710). Heidelberg 2011. Dass es auch anders geht, zeigt Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin, Boston 2012 (Frühe Neuzeit. 167), S. 276–297. 43 Stefanie Stockhorst: Reformpoetik: kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008. Zur gerade auch poetologischen Relevanz der Librettovorreden vgl. Albert Gier: Werkstattberichte. Theorie und Typologie des Argomento im italienischen Opernlibretto des Barock. Bamberg 2012.
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auch wirklich zusammen mit den Kanon-Texten gelesen werden, steht freilich dahin. Das Gelesen-Werden aber bleibt auch in Zeiten der Digitalisierung der Prüfstein und die raison d’être für jede Librettoedition.
Bodo Plachta
Genug Respekt vor dem Operntext? Librettoedition aus literaturwissenschaftlicher Sicht
1912 schreibt Hermann Hesse an den Schiller-Biographen und Philologen Reinhard Buchwald: „Was ich an unsern Literaturhistorikern schätze, ist vor allem die Treue im Behandeln der Texte, also die Editorenarbeit. Im Beurteilen des Künstlerischen finde ich unsre Literaturgeschichten alle sehr schwach; das Destillieren der ‚Klassiker‘ hat das lesende Volk besorgt, nicht die Wissenschaft, und auf vielen Gebieten ist diese hinter dem Volk noch um viele Schritte Wegs zurück.“1 Ignorieren wir diese Wissenschaftsschelte zunächst einmal, denn hundert Jahre später sieht die Situation natürlich wesentlich anders aus. Das „Beurteilen des Künstlerischen“ hat in der literaturwissenschaftlichen Realität inzwischen einen völlig anderen Stellenwert und eine andere Qualität als Hesse dies dem Fach zeitbedingt wohl zugestehen mochte. Aber Hesses Blick auf die wissenschaftliche Edition ist in unserem Zusammenhang interessanter und durchaus bemerkenswert, wenn auch aus der wissenschaftsgeschichtlichen Rückschau kaum überraschend.2 Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wurden wichtige Editionen in Angriff genommen, und zwar Gesamtausgaben zu Wieland, Stifter oder Grillparzer. Gleichzeitig waren ebenso wichtige Editionen abgeschlossen worden bzw. standen vor dem Abschluss: Lachmann/Munckers Lessing-Ausgabe, Goedekes Schiller-Ausgabe, Suphans Herder-Ausgabe und vor allem die Weimarer Goethe-Ausgabe, ganz zu schweigen von den vielen Editionsreihen und Klassikereditionen der damaligen Publikumsverlage. In dieser Zeit wurden wichtige methodische Prinzipien und Verfahrensweisen festgelegt, die lange nachwirkten. Insofern hat Hesses Wertschätzung der „Editorenarbeit“ heute noch Bestand. Die methodische und praktische Stärke der germanistischen Editionswissenschaft ist nach wie vor die „Treue im Behandeln der Texte“, wie es Hesse formuliert hat. Gunter Martens hat 1992 als handlungsleitenden Aspekt kritischen Edierens sogar einen „Rückzug auf den Text“3 festgestellt: Ziel
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Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrsg. von Ursula und Volker Michels. 3 Bde. Frankfurt/Main 1973–82, Bd. 1, S. 215. 2 Vgl. hierzu die Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition (hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta), die seit 2005 erscheint. 3 Gunter Martens: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11.–13. Juni 1992 Berlin). Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994 (Beihefte zu editio. 6), S. 71–82, hier S. 74.
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kritischen Edierens sei eine „möglichst ‚autoritätsfreie‘ Dokumentation“4 des Textes, in der die Autorintention eine nachgeordnete Rolle spiele, der „Schatten des Herausgebers“5 aber stets erkennbar bleiben müsse, wenn der Editor überhaupt und dann nur äußerst zurückhaltend in einen historischen Text eingreife. Inzwischen sei die Wiedergabe varianter Fassungen anstelle einer einzigen ‚endgültigen‘ Textversion die Regel, wobei methodisch erkennbar zwischen „Befund und Deutung“6 getrennt werde. Weiter nannte Martens die besondere Aufmerksamkeit für die Textgenese in allen ihren Dimensionen als konstitutiv für die germanistische Editorik, wobei zunehmend die Einsicht vorherrsche, Text und Apparat seien als Einheit zu begreifen und die Textgenese sei als Bestandteil eines sich dynamisch entwickelnden Textes zu betrachten. Diese Stichworte mögen genügen, um in Erinnerung zu rufen, dass die „Faktizität der Texte“7 Konsens unter den germanistischen Editoren ist und auch für die vielfältigen neuen Formen von Texteditionen – ob in Buchform, digital oder als Hybridedition, mit oder ohne Faksimilebeigabe – keineswegs an Bedeutung verloren hat. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass der einzelne Editor die argumentativen Akzente seiner jeweiligen literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen Vorannahmen, die seiner Edition zugrunde liegen, sicherlich je anders setzen würde. Trotz aller unbezweifelbaren editorischen Kompetenz in der germanistischen Literaturwissenschaft und dem erkennbaren Bemühen, sich den editorischen Methoden und Lösungsansätzen anderer Disziplinen – besonders denen der Musikeditoren auf elektronischem Gebiet – zu öffnen, stehe ich als germanistischer Editor noch immer mit leeren Händen vor Kolleginnen und Kollegen, deren ‚Hauptgeschäft‘ die Librettoedition ist. Wir müssen noch immer eine Situation konstatieren – wie es Gabriele Buschmeier schon 1998 getan hat –, dass Literaturwissenschaftler und Musikwissenschaftler jeweils etwas anderes unter der Edition von Operntexten verstehen.8 Einerseits ist es nicht gelungen, das Libretto stärker als bislang geschehen als ein interessantes Phänomen mit ebenso komplexen wie variablen multimedialen Parametern9 im editorischen Methodendiskurs zu verankern. Es fehlen immer noch interdisziplinär tragfä-
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Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 185. Martens 1994 (Anm. 3), S. 73. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89. Herbert Kraft: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft, S. 4–12, hier S. 5. Gabriele Buschmeier: Zur Problematik der Edition von Operntexten im Rahmen musikalischer Ausgaben am Beispiel der Gluck-Gesamtausgabe. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8), S. 157–168, hier S. 157. Vgl. Cristina Urchueguía: Richard Wagners plurale Autorschaft. Überlegungen zur Edition von Richard Wagners Libretti am Beispiel von Tannhäuser. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 293–306, hier S. 294.
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hige terminologische Differenzierungen zwischen „Literaturtext“ und „Partiturtext“10 und deren Abgrenzungen für das „Werkganze“ eines Librettos als Voraussetzung für eine editionswissenschaftliche Librettotheorie und -methodologie, wie Esbjörn Ny ström beklagt hat.11 Andererseits fühlen sich germanistische Editoren noch immer nicht wirklich kompetent für die Edition von Libretti, weil sich unter den kanonischen und damit editionswürdigen Autoren nur wenige befinden, die einen Text nach den Wünschen eines Komponisten geschrieben haben bzw. Texte an musikalischen oder dramaturgischen Erfordernissen des Musiktheaters ausrichteten. Doch die Libretti von Autoren des Barock, von Wieland, Goethe, E. T. A. Hoffmann, Hofmannsthal, Brecht oder Ingeborg Bachmann sind natürlich solche Ausnahmen und blenden die Tatsache aus, dass das Libretto eigentlich ein Massenphänomen ist und unter den dramatischen Formen eine zahlenmäßige Dominanz aufweist, der editorisch kaum beizukommen ist. Als Bernhard Jahn und ich 1997 über eine kommentierte Reprint-Edition von deutschsprachigen Libretti des 17. und 18. Jahrhunderts nachgedacht haben, waren wir zwar davon ausgegangen, dass eine solche Edition nur exemplarisch auswählend verfahren könne, aber auch diese Einschränkung führte nicht zur Realisierung des ehrgeizigen Projekts,12 über das schon bald der Digitalisierungshype hinweggerauscht war. Die Schwierigkeit, ein solches Projekt zu konzipieren und zu realisieren, hatte freilich auch mit der Hilflosigkeit der Literaturwissenschaft gegenüber dem Libretto als einer vorgeblich allein dienenden literarischen (Neben-)Gattung zu tun; von diesem Libretto-„bashing“13 hat sich die Literaturwissenschaft mit ihrer Öffnung für kulturelle und mediale Phänomene inzwischen verabschiedet, was eine Vielzahl von substantiellen Publikationen zu eigentlich allen Facetten des Librettos illustriert. Aber es ist nicht nur die fehlende praktische Erfahrung, die hier zu Buche schlägt. Auch traditionelle gattungsspezifische und literaturhistorische Aspekte üben Einfluss aus. Gattungsspezifische Aspekte insofern, als sich zwischen dem Lesetext und dem aufgeführten Text zwangsläufig eine Varianz auftut, die zum einen nicht nur schwer zu dokumentieren ist und die zum anderen dem Bereich der interpretierenden Rezeption zugewiesen wird, der wiederum nicht zum traditionellen Kernbereich der Edition zählt. Noch 1980 be10
Vgl. die definitorische Unterscheidung bei Werner Breig: Überlegungen zur Edition von Richard Wagners musikdramatischen Texten. In: Der Text im musikalischen Werk (Anm. 8), S. 284–311, hier S. 286. Siehe hierzu auch den Beitrag von Esbjörn Nyström im vorliegenden Band. 11 Esbjörn Nyström: Wann gehören Partiturtexte zum ‚Werkganzen‘ eines Opernlibrettos? In: editio 26, 2012, S. 108–122. Vgl. auch Reinhard Strohm: Partitur und Libretto. Zur Edition von Operntexten. In: Opernedition. Bericht über das Symposion zum 60. Geburtstag von Sieghart Döhring. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend unter Mitarbeit von Peter Niedermüller und Katja Schmidt-Wistoff. Mainz 2005 (Schriften zur Musikwissenschaft. 12), S. 37–56. – Ein auch für Literaturwissenschaftler interessanter Ansatzpunkt sind die vier Thesen zu einer Librettophilologie von Lorenzo Bianconi: Hors-d’œuvre alla filologia dei libretti. In: Il Saggiatore musicale II, 1995, Nr. 1, S. 143–154, bes. S. 152–154. 12 Bernhard Jahn, Bodo Plachta: Zur Edition deutschsprachiger Opernlibretti (1660–1740). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meincke. 2 Bde. Amsterdam, Atlanta/GA 1997 (Chloe. Beihefte zum Daphnis. 24/25), Bd. 1, S. 231–245. 13 Reading Opera. Hrsg. von Arthur Groos und Roger Parker. New Jersey 1988, S. 2.
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findet Siegfried Scheibe in dem einzigen mir bekannten Grundsatzbeitrag zur Dramen edition, dass Theaterfassungen und Bühnenmaterial nur dann überlieferungsgeschichtliche Relevanz haben, wenn die Mitarbeit des Autors nachzuweisen ist.14 Scheibe sieht in den Texten, die etwa aus Anlass einer Aufführung gedruckt wurden und für die Libretti paradigmatisch stehen, „faktisch eine getrennte Überlieferung“,15 die kaum editorische Relevanz hat und die das Lesedrama allenfalls ergänzt, wenn der Autor etwa seinen Dramentext durch Publikumsreaktionen oder eigenes Erleben einer Aufführung verändert. Letztlich seien sie als Teil der Textgenese ebenso zu behandeln wie Vorabdrucke von Romanen, Erzählungen oder Gedichten in Periodika und erforderten mithin „keine kategorial anderen editorischen Verfahrensweisen“.16 Schon gar nicht seien sie editorisch zu privilegieren. Dreh- und Angelpunkt dieser Editionsauffassung ist das auf den Autor bezügliche Werk in der Vorstellung, im Buchdruck verfestigen sich Werk und Autorintention. Insofern bestimmt stets die Kategorie Autor, in welchem Kontext die „Faktizität der Texte“ (Kraft) zum Tragen kommt. In der editorischen Realität bedeutet dies das Ausblenden wesentlicher Performanzaspekte eines Dramentextes wie Regiebemerkungen,17 Hinweise zum Bühnenbild oder aufführungsspezifische Textänderungen, die ja ebenfalls Teil dieser Faktizität sind. Allerdings macht es die Theatergeschichte im 18. und 19. Jahrhundert nicht leicht, editorische Lösungen zu entwickeln, die nicht nur den Sonderfall abbilden wollen. Wir haben es in der Theatergeschichte mit einer erheblichen Diskrepanz zwischen den seinerzeit häufig gespielten, heute vielfach vergessenen oder marginalisierten Erfolgsautoren wie Kotzebue oder Iffland und den dagegen hoch geschätzten Bühnendichtern wie Kleist, Grabbe oder Büchner zu tun, die zu ihrer Zeit wenn überhaupt und dann nur mit Mühe auf die Theaterbühne gelangten.18 Die von Zensur, strukturellen Mängeln, unzureichender Kompetenz und mannigfachen Kabalen geprägte Theaterpraxis und die daraus resultierende Verstümmelung vieler aufgeführter Dramen stand immer wieder im krassen Gegensatz zum autorisierten, abgeschlossenen und verschriftlichten Lesedrama, das entscheidend die Wahrnehmung von Theaterliteratur prägte und damit auch ein ästhetisches Paradigma formte. Solche Phänomene beeinflussten auch die Edition von Dramen. Obwohl mit Lessing, Schiller, Goethe oder Grillparzer Dramenautoren in den großen Editionen des 19. Jahrhunderts dokumentiert wurden, konzentrierte sich die Edition ausschließlich auf das gedruckte Lesedrama, wohingegen überliefertes Auf14
Siegfried Scheibe: Benötigen wir eine eigene Theorie der Edition von Dramen? Einige Bemerkungen zur Einheit der Textologie. In: editio 3, 1989, S. 28–40, hier S. 32f. 15 Scheibe 1989 (Anm. 14), S. 31. 16 Rüdiger Nutt-Kofoth: Editorik und Gattung. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart, Weimar 2010, S. 48–50, hier S. 48. 17 Hierzu die grundlegende Studie von Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (Theatron. 54). 18 Vgl. Hartmut Steinecke: Schauspielmusik und Dramenedition. In: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Bericht über die Tagung der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz am 26. und 27. November 1998. Hrsg. von Dagmar Beck und Frank Ziegler. Mainz, London, Madrid, New York, Paris, Tokyo, Toronto 2003 (Weber-Studien. 7), S. 279–283.
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führungsmaterial wie Bühnenmanuskripte oder Rollen- und Soufflierbücher als Teil der Rezeption betrachtet und nicht als Teil der Produktion untersucht wurden. Und das galt auch für Autoren wie Goethe und Schiller, die als Dramaturg, Regisseur und Theaterleiter das Theatergeschäft und dessen Konsequenzen für den Dramentext kannten, die jedoch in ihren eigenen Ausgaben nur Lesetexte veröffentlichten. Allerdings konnte es geschehen, dass in deren Überarbeitung oder Neupublikation durchaus Erfahrungen aus Aufführungen eingingen; diese konnten aber ebenso wieder rückgängig gemacht werden. Daher war es durchaus folgerichtig, wenn die jeweilige Fassung letzter Hand als Editionsgrundlage gewählt wurde, auch dies in Verantwortung gegenüber der Dignität des sich vollendenden literarischen Textes. Damit rückte die Publikation eines Aufführungstextes in noch weitere Ferne, für die man überdies die Theaterwissenschaft in der Pflicht sah. Karl Goedeke bildete hier mit seiner Schiller-Ausgabe nicht nur eine Ausnahme, weil er Schillers Dramen nach den Erstdrucken edierte, sondern 1867 beispielsweise auch auf die Existenz des Soufflierbuches der Räuber hinwies, auf dessen Grundlage der Text der legendären Mannheimer Uraufführung vom Januar 1782 rekonstruiert werden kann. Goedeke verzeichnete sogar die Varianz zwischen der gedruckten Mannheimer Fassung (sog. Trauerspiel-Fassung) von 1782 und dem Soufflierbuch, wobei er durchaus textgenetisch mit dem handschriftlich überlieferten Textmaterial umging.19 Es sollte dann aber noch einmal bis 1959 dauern, bis die Textfassung des Soufflierbuches erstmals vollständig ediert wurde;20 und erst 2009 gelang es, alle drei für die Entstehung und Uraufführung der Räuber relevanten Fassungen in einer Edition zusammenzuführen,21 nachdem die Schiller-Nationalausgabe nur die beiden gedruckten Versionen edierte und die Mannheimer Soufflierbuchfassung unbenutzbar in Varianten auflöste.22 Mit der Vorstellung von „Theatralität als kulturelle[m] Modell“, wie sie etwa Erika Fischer-Lichte propagiert hat,23 änderten sich auch editorische Perspektiven. Seit den 1980er Jahren hat die Schiller-Nationalausgabe ihre „defensive Haltung“ gegenüber Theaterhandschriften korrigiert und geht nun vorbild-
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Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, im Verein mit A. Ellissen, R[einhold] Köhler, W[ilhelm] Müldener, H[ermann] Oesterley, H[ermann] Sauppe und W[ilhelm] Vollmer [hrsg.] von Karl Goedeke. 15 Tle. Stuttgart 1867–1876, T. 2, S. 207–335. Schillers Räuber. Urtext des Mannheimer Soufflierbuches. Hrsg. von Herbert Stubenrauch und Günter Schulz. Mannheim 1959. Friedrich Schiller: Die Räuber. Studienausgabe. Hrsg. von Bodo Plachta. Stuttgart 2009. – Vgl. auch Bodo Plachta: Schillers Räuber auf dem Mannheimer Nationaltheater (1782). In: „Das Theater glich einem Irrenhause“. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob. Heidelberg 2012, S. 115–132. Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums hrsg. von Julius Petersen und Hermann Schneider. Bd. 3: Die Räuber. Hrsg. von Herbert Stubenrauch. Weimar 1953, S. 357–385. Theatralität als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat. Tübingen, Basel 2004, S. 7–26 (Erika FischerLichte: Einleitung).
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lich mit Bühnenfassungen und Aufführungsmaterial mit dem Ziel um, die „Kommunikationsstrategie“ zwischen Autor und Theater offenzulegen und zu dokumentieren.24 Ähnlich lange hat es im Fall der Possen Johann Nestroys gedauert, ehe wir über eine Ausgabe verfügen konnten, die dem Protagonisten des Wiener Volkstheaters wirklich gerecht wurde.25 Im Falle Nestroys haben wir es mit einer äußerst prekären Textüberlieferung zu tun. Etwa 45 Prozent der überlieferten Textträger zu seinen Possen sind Spiel- bzw. Theatermanuskripte von häufig erheblich variierender Textqualität und -funktion. Sie gehen vielfach nicht auf den Autor, sondern auf unterschiedliche an der Theaterproduktion beteiligte Akteure zurück.26 Für alle diese Textträger muss im Einzelnen die Autorisation bzw. ihre Authentizität im Rahmen der Theaterproduktion kritisch geprüft und beschrieben werden, um ein verantwortliches Editionsergebnis zu erzielen, das außerdem den inhärenten Performanzcharakter der Possen und der sie bestimmenden Kontexte – etwa der Einfluss der Theaterzensur – nicht einebnet. Die historisch-kritische Nestroy-Ausgabe hat hier oft philologisches Neuland betreten und darüber hinaus in mancher Hinsicht Pilotcharakter bei der Dokumentation von Überlieferungssituationen erlangt, deren multimedialer Werkstattcharakter evident ist. Trotz aller Vorbildlichkeit hat auch diese Edition Defizite, und zwar bei der Dokumentation des Notenmaterials für die Liedeinlagen, das deshalb eine untergeordnete Rolle spielt, weil sich die Nestroy-Ausgabe als literaturwissenschaftliche Edition versteht.27 Aber entschuldigt die Vorgabe, man ediere aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, einen eindimensionalen Umgang mit musikgebundenen Texten? Und wo bleibt das oftmals beschworene methodische Prinzip der „Faktizität der Texte“, das bei der Librettoedition aufgrund des immer wieder zu beobachtenden „mangelnde[n] Interesse[s] am Text als Libretto“28 außer Kraft gesetzt zu sein scheint? Ich möchte den Blick exemplarisch auf zwei Editionen richten, die sich prominenten Operntextproduzen-
24 Horst
Nahler: Zur editorischen Behandlung von Bühnenfassungen und Rollenhandschriften. Forschungsprobleme und Darbietungsmöglichkeiten in einer Ausgabe von Schillers Fiesko-Drama. In: editio 3, 1989, S. 98–113, hier S. 112. Allmählich kommen auch Überlegungen zu einer „Theaterhermeneutik“ zum Tragen, in der „Dichtungstext mit Rollenanalysen und Bildpräsentationen“ verknüpft werden und man auch „Skizzen, Zeichnungen und Kupferstiche historischer Aufführungen einbezieht“ (Alexander Košenina: Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik aus Rollenanalysen und Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert. In: Aufführungsdiskurse im 18. Jahrhundert. Bühnenästhetik, Theaterkritik und Öffentlichkeit. Hrsg. von Yoshio Tomishige und Soichiro Itoda. München 2011, S. 41–74, hier S. 43). 25 Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und Edgar Yates. 42 Bde. Wien 1977–2012. 26 Jürgen Hein: Sind Johann Nestroys Possentexte autorisiert und authentisch? In: Autor – Autorisation – Authentizität (Anm. 9), S. 277–285, hier S. 278. 27 Jürgen Hein, Dagmar Zumbusch-Beisteiner: Probleme der Edition „musikalischer Texte“ im Wiener Dialekt, dargestellt am Beispiel Johann Nestroys. In: Der Text im musikalischen Werk (Anm. 8), S. 212–232, hier S. 228. 28 Esbjörn Nyström: Libretto im Progress. Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aus textgeschichtlicher Sicht. Bern u. a. 2005 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 6), S. 107. – Das Zitat bezieht sich in erster Linie auf die spezifische Situation der Brecht-Forschung, die die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny regelmäßig als Sprechdrama behandelt hat.
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ten widmen, und zwar Hugo von Hofmannsthal und Christoph Martin Wieland, um diesen prekären, wenn auch nicht unüblichen Umgang mit Operntexten noch einmal ins Bewusstsein zu rufen. Beide Fälle eignen sich deshalb, weil wir es hier mit einer typischen Überlieferung zu tun haben, bei der wir jeweils auf eine Lesefassung, ein Textbuch sowie entsprechendes Notenmaterial (Partitur, Klavierauszug) zurückgreifen können. Das Ergebnis der Betrachtung ist kaum überraschend und liegt nach meinen Vorbemerkungen auf der Hand: Beide Editionen wählen als Textgrundlage für die Edition den Text, der dem Autor am nächsten ist. Keine Edition präsentiert den Text des Librettos, der der Aufführung zugrunde lag;29 Librettotexte sind allenfalls aus Varianten zu rekonstruieren. Indem dem Lesetext eine eigenständige Funktion als dichterisches Sprachkunstwerk zugestanden wird, wird der Operntext aus seinem spezifischen Kontext gelöst30 und in Varianten atomisiert. Daraus resultiert die prinzipielle Frage, ob die gängige Editionspraxis, Operntexte isoliert als Lese- oder als Spieltext zu präsentieren, überhaupt sinnvoll ist, weil auf diese Weise das autonome Sprachkunstwerk und der Funktionstext Libretto gegeneinander ausgespielt werden, obwohl sie sich in der Textrealität immer in Koexistenz begegnen, was konsequenterweise auch in einer Edition – etwa in der Edition mehrerer Textfassungen – geschehen sollte. Dass das „lesende Volk“ – wie Hesse es in dem eingangs zitierten Brief bezeichnet – auch als Opernbesucher, der ja das Libretto als Lesetext benutzt, außen vor bleibt, gehört zu den weiteren Widersprüchen der Editionspraxis. Betrachten wir zunächst die Rosenkavalier-Edition im Rahmen der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, die wohl ambitionierteste literaturwissenschaftliche Edition eines deutschsprachigen Operntextes. Diese Edition, erarbeitet in den 1970er Jahren und 1986 publiziert,31 ist insofern ambitioniert, als sie konsequent das Prinzip der Textdynamik, wie es Gunter Martens konzipiert hat, umsetzt. Sie ist also ein typisches Kind ihrer Zeit, einer Zeit, in der sich die methodische Diskussion in der germanistischen Editionswissenschaft forciert zwischen den Polen des Beißner’schen Genesemodells auf der einen und dem befundorientierten Modell Hans Zellers sowie der Faksimile gestützten Frankfurter Hölderlin-Ausgabe auf der anderen Seite bewegte. In diesem Kontext32 wollte die Ausgabe Position beziehen. So neu die Dokumentation der Überliefe-
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Vgl. hierzu Esbjörn Nyström: Nur ein Teil eines Ganzen? Kleiner Denkanstoß zur libretto-, drehbuchund drameneditorischen Debatte. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Hrsg. von Thomas Bein. Berlin, Boston 2015 (Beihefte zu editio. 39), S. 247–258, bes. S. 256f. 30 Welche komplizierten (ja sogar absurden) Textverhältnisse dadurch produziert werden, erläutert Ulrich Konrad am Beispiel der kritischen Edition von Hofmannthals Der Bürger als Edelmann und Ariadne auf Naxos: Der Bürger als Edelmann und Ariadne auf Naxos von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Editionsprobleme bei einer „sehr ernsthaften Spielerei“. In: Opernedition (Anm. 11), S. 161– 177, hier S. 164. 31 Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Rölleke, Ernst Zinn. Bd. 23: Operndichtungen 1. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann und Willi Schuh. Frankfurt/Main 1986. 32 Zu diesem Kontext vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Text. 3., erg. und aktualis. Aufl. Stuttgart 2013, S. 33–43.
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rung des Rosenkavalier-Texts als sich ablösende textgenetische „Stadien“ im Kontext „einer schöpferischen Zusammenarbeit“33 zwischen Librettist und Komponist auch war, so traditionell war die Wahl der Textgrundlage. Man entschied sich für den Druck der von Hofmannsthal veranstalteten Buchfassung, die ebenso vor der Uraufführung am 26. Januar 1911 erschien wie Libretto, Klavierauszug und Partiturdruck, an denen Hofmannsthal ebenfalls mitgearbeitet und die dortigen Textversionen autorisiert hatte. Textbuch, Klavierauszug und Partiturdruck repräsentieren nicht nur die tatsächlich gespielte Uraufführungsfassung mit zusätzlichen Szenenanweisungen, die der Lesefassung naturgemäß fehlen, sondern in gewisser Weise auch eine Weiterentwicklung des Textes, die auf verschiedene zensorische Einreden des Dresdner Hofopernintendanten und auf vermeintliche Empfindlichkeiten des Publikums Rücksicht nimmt. Bereits Mitte August 1910 hatte Hofmannsthal dem Komponisten vorgeschlagen: „Diese Milderungen wollen wir aber dann gleichmäßig für alle Theater akzeptieren, denn zweierlei Textbücher herstellen wäre sehr mißlich, und wozu durch die paar Stellen, die in der gemilderten Form ungefähr ebensogut sind, unnötig Teile des Publikums vor den Kopf stoßen!“34 Die Textredaktion kommentiert Strauss am 31. August 1910: „Im Textbuch habe ich vieles gemildert, was ich teils im Klavierauszuge, alles in der Partitur habe stehen lassen. Dies ist gut, um den ersten Schreck der Philister, die doch zuerst das Textbuch in die Hand bekommen, zu mildern. In der Ausgabe bei Fischer kann ebenfalls das ungemilderte Original bleiben. Wozu diese ewigen Wassersuppen!“35 Daraus lässt sich ableiten, welchen Stellenwert Librettist und Komponist der Uraufführung zumaßen. Sie überwachten, dass die „Premierenform als Modell für Folgeaufführungen“ wirksam blieb.36 Hofmannsthal hat außerdem am 24. Oktober 1910 gegenüber dem Verleger des Textbuches Otto Fürstner betont, es erscheine ihm „besonders wertvoll“, dass man auch das Textbuch mit seinem „literarischen Namen“ verknüpfe.37 Es ist richtig – wie Dirk Hoffmann festgestellt hat –, dass sich diese Fassungen nicht aufgrund ihres Autorisationsgrades unterscheiden, sondern allein im Hinblick auf ihre Funktion. Er fasst zusammen: „Die Buchfassung bietet wohl den für Hofmannsthal ‚dichterisch sten‘ Text, der Text der Partitur den bühnengemäßesten, der auch besonders den musikalischen Bedürfnissen entspricht, und der Librettotext den – um es euphemistisch auszudrücken – genetisch am weitest entwickelten Text, denn er enthält vor allem alle Einwände der Zensur.“38 Deshalb kann man sich doch viel eher einen edierten Text vorstellen, der stärker den Aufführungsaspekt betont und von dem ich nicht glaube, dass er – nach der Lektüre aller Entstehungszeugnisse im Umfeld der Uraufführung – Hofmannsthal weniger „am Herzen“39 gelegen hätte als das Lesedrama. Wenn die 33 34 35 36 37 38 39
Dirk Hoffmann: Das dynamische Textverständnis – die Basis der kritischen Edition des Rosenkavalier. In: editio 3, 1989, S. 130–144, hier S. 131. Zit. nach Hofmannsthal, Rosenkavalier (Anm. 31), S. 642. Zit. nach ebd., S. 648. Konrad 2005 (Anm. 30), S. 170. Zit. nach Hofmannsthal, Rosenkavalier (Anm. 31), S. 658. Hoffmann 1989 (Anm. 33), S. 137. Ebd., S. 137.
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Editoren sich jedoch für ein derartiges Editionskonzept entschieden hätten, wäre der Aspekt der Textdynamik nicht so leicht umsetzbar gewesen, und es war doch gerade ihr Anliegen die methodische und praktische Leistungsfähigkeit dieses Prinzips unter Beweis zu stellen, wenn vielleicht auch damit die „Faktizität der Texte“, die sich m. E. bei Operntexten gerade in ihrer Performanz zeigt, ins zweite Glied zurücktreten musste. Wie inkonsequent die Rosenkavalier-Edition verfährt, illustriert auch die Tatsache, dass das bereits 1910 veröffentlichte, von Alfred Roller erarbeitete Regiebuch zur Uraufführung vollständig mit allen Skizzen abgedruckt wird,40 vermutlich deshalb, weil Hofmannsthal – also wiederum der Autor – an seiner Entstehung interessiert Anteil genommen hat. Es gehört zu den Gepflogenheiten germanistischer Edition, als Textgrundlage die Fassung ‚früher Hand‘ zu wählen, weil diese Fassung meistens den ersten Abschluss eines Werkes und mit dessen Übergabe an die Öffentlichkeit auch seinen „Werkcharakter“41 markiert. Dass dies allerdings auch die Aufführung sein kann, die den Prozess der Rezeption in Gang setzt, steht dabei nicht in Frage. Die neue Ausgabe der Werke Christoph Martin Wielands verschärft dieses Erstdruck-Prinzip noch einmal, in dem die Edition das chronologische Prinzip als generelle Richtschnur der Anordnung nimmt.42 Die Texte werden nicht mehr nach Gattungen oder Publikationszusammenhängen gruppiert, sondern strikt nach ihrem ersten Erscheinungstermin. Dieses Verfahren macht es beinahe zwangsläufig unmöglich, dass das Textbuch der Aufführung Grundlage einer Edition sein kann, denn die Überlieferung von Wielands Libretti begann stets mit einer veröffentlichten Lesefassung. Werfen wir einen Blick auf Wielands Singspiel Alceste.43 Wenn die Abweichungen zwischen Lese- und Spielfassung im Fall der am 28. Mai 1773 erstmals mit der Musik von Anton Schweitzer aufgeführten Alceste kaum tiefgreifend sind und offensichtlich einer Textstraffung, Angleichung bzw. Verdeutlichung aus musikalischen Gründen geschuldet sind und ansonsten nur im Fehlen eines Personenverzeichnisses in der Lesefassung niederschlägt, so repräsentiert der Spieltext doch eine Aufführung, die weit über die Grenzen des Uraufführungsortes Weimar Beachtung fand. Wielands Alceste ist einer der Schlüsseltexte in der Debatte über das Singspiel.44 Manchen galt oder gilt Alceste noch immer als erste wirkliche ‚deutsche‘ Oper. Dazu haben Wielands
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Zur Intention dieses Regiebuches schreibt Hofmannsthal am 12. Oktober 1910 an Strauss: „und es entsteht ein Regiebuch, an dessen Hand der trottelhafteste Provinzopernregisseur eigentlich kaum eine Stellung oder Nuance verfehlen kann“; zit. nach Hofmannsthal, Rosenkavalier (Anm. 31), S. 656. 41 Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearb. und erw. Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001, S. 35. 42 Vgl. http://www.wieland-edition.uni-jena.de/Oßmannstedter+Ausgabe/Konzeption+und+Editionsricht linien/Konzeption+der+Ausgabe.html (gesehen: 17.9.2012). 43 Inzwischen habe ich ebenfalls eine Alceste-Edition vorgelegt: Alceste. Ein Singspiel in fünf Akten. Text von Christoph Martin Wieland. Musik von Anton Schweitzer. Text und Dokumentation. Hrsg. von Bodo Plachta. München 2013 (Opernlibretti – kritisch ediert. 2). 44 Vgl. die detaillierte Analyse von Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Tle. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur. 149), T. 1, S. 202–260.
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begleitende Aufsätze im Teutschen Merkur über die Stofftradition und über die Prinzipien eines deutschen Singspiels beigetragen, in denen er sein Singspiel Alceste als Musterstück einer Opernreform propagierte. Wielands Alceste war zweifellos ein Höhepunkt in der Kultur- und Musikpraxis des Weimarer ‚Musenhofes‘. Wieland hatte mit seinem ernsten, empfindsam-heroischen Singspiel nicht nur zeitgenössische Reformansätze „gebündelt und synthetisiert“, wie sie Gluck repräsentierte, sondern konzipierte gleichzeitig ein wirkungsvolles, wenn auch polarisierendes Gegenmodell zu den populären komischen Singspielen von Weiße und Hiller.45 Ihm gelang es darüber hinaus in der Zusammenarbeit mit Schweitzer, die Weimarer Opernpflege auf ein neues, weithin beachtetes Niveau zu heben. Was spräche also dagegen, anstatt eines konventionellen Lesetextes einen Spieltext als Dokument einer Opernaufführung, als Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Librettist und Komponist und überdies als Text mit weitreichender Wirkung zur Textgrundlage einer Edition zu wählen? Eigentlich nichts, obwohl Wieland den Operntext stets als der Gattung Drama zugehörig verstand und keine Differenzierung hinsichtlich seiner Funktion als Kompositionsgrundlage für notwendig hielt. „M u s i k und A c t i o n “, notiert er 1775 im Aufsatz Versuch über das Teutsche Singspiel, und einige dahin einschlagende Gegenstände, „sind im Singspiel bloße O r g a n e n , durch welche die Poesie auf unsere Seele würkt.“46 Der Text der Alceste war bereits Monate vor der Komposition fertig und publiziert, so dass Schweitzer allenfalls punktuell Einfluss auf die Textgestaltung nehmen konnte; er war ganz im Sinne Wielands nur noch ausführendes „Organ“. 1774 erschien mit ausdrücklicher Billigung Wielands ein Particell, das offensichtlich erheblich zur Verbreitung des Singspiels beitrug, dem gedruckten Text also gleichberechtigt war. Als Wieland das Libretto für seine Ausgabe letzter Hand (Sämmtliche Werke, 1794–1811) noch einmal überarbeitete, rubrizierte er es zwar in einem eigenen Band mit Singspielen, bearbeitete es aber noch stärker hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur Gattung Drama – etwa durch eine durchgängige Aufteilung in Szenen und präzisere Szenenhinweise. Er gab der Alceste damit mehr das Ansehen eines klassischen Dramas als das eines musikalischen Funktionstextes und unterstrich nochmals ihre mustergültige literarische Bedeutung. Rezipiert wurde natürlich dieser Text und nicht der des Librettos. Obwohl das Libretto für Aufführungen andernorts nachgedruckt wurde,47 verschwand das Singspiel nach anderthalb Jahrzehnten des Bühnenerfolgs um 1790 wieder aus dem Repertoire. Diese Zuspitzung zwischen Lesefassung und Aufführungstext muss eine Edition abbilden.48 Sie sollte dabei auch berücksichtigen, dass der Dramentext erst durch „die Action einen grossen Grad des Lebens erhalten, und also das Ergötzen und die Rührung 45
Vgl. Tina Hartmann: Kapitel 3. Dramatische Werke. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 172f. 46 Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe [Oßmannstedter Ausgabe]. Hrsg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York [seit 2011: Berlin, Boston] 2008ff., Bd. 12.1, S. 332. 47 Vgl. die Zusammenstellung bei Krämer 1998 (Anm. 44), T. 2, S. 860f. 48 Ein gelungenes Beispiel für eine Librettoedition, in der Varianten der Drucküberlieferung und die mehr textgenetischen Varianten des handschriftlich überlieferten Spieltextes getrennt und für den Leser anschaulich als Fußnoten unter dem edierten Text präsentiert werden, finde ich bei Giorgio Pagannone: La
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unendlich erhöhet wird“, wie Wieland 1758 im Vorbericht zu seinem Trauerspiel Lady Johanna Gray feststellte49 und damit ein bemerkenswertes Votum für den Spieltext abgab. Wie die neue Wieland-Ausgabe mit diesem Problemkomplex umgehen wird, ist noch nicht abschließend zu beurteilen. Zunächst liegt Alceste nur in der Lesefassung vor; geplant ist wohl eine Dokumentation, die die Varianz zu Libretto und Ausgabe letzter Hand im Apparat verzeichnet und auch das Particell im Faksimile präsentieren wird, doch der Leittext wird das erstveröffentlichte Lesedrama bleiben. 1965 hat Hans Zeller in seiner Zürcher Antrittsvorlesung das Konzept einer „offenen“ Edition als Alternative zum Typus einer „endgültigen Edition“ vorgestellt, dessen Ziel lange die Rekonstruktion eines idealen Autortextes war, die die Verwerfungen der Überlieferung kaschiert oder durch Interpretation bzw. durch einen „Hang zur Synthese“ zu überwinden trachtet.50 Zeller ging es darum, diese Verwerfungen in der Edition offenzulegen; er stellt fest: „Die Edition soll offen sein, sie hat nicht um jeden Preis eine Lösung, noch viel weniger eine runde Lösung zu geben, sondern die Möglichkeit zu Lösungen, indem sie das Material vermittelt.“51 1991 hat Walther Dürr mit „sieben Thesen“ ebenfalls das Konzept einer „offenen“ Edition für die Neue Schubert-Ausgabe skizziert. Dürr stützt sein Konzept auf ähnliche, naturgemäß stärker auf die Musikpraxis ausgerichtete Kriterien wie Zeller, wenn er ausführt: Eine Ausgabe, die Varianten und Parallelfassungen anbietet, [...] die auch die Überlieferungsgeschichte einbezieht, wird nicht versuchen, einen „besten Text“, gar einen „Urtext“ zu edieren, dessen Autorität der Interpret sich zu unterwerfen hat, sondern sorgfältig aufbereitetes und kommentiertes „authentisches“ Material vorlegen, das den Interpreten zu eigener Entscheidung herausfordert; sie wird sich als offene Ausgabe verstehen, die damit in Beziehung tritt zu einem veränderten Werkbegriff, wie er sich etwa in Umberto Eccos „opera aperta“ spiegelt.52
Mit Blick auf die Edition von Operntexten hat Dürr allerdings 2005 eingeräumt, dass die Umsetzung eines solchen Konzepts nicht immer einfach ist, weil wir es häufig mit variierenden „Werkgestalten“ zu tun haben, die aus der disziplinüberschreitenden Zusammenarbeit von Librettisten und Komponisten herrührt.53 Aber gerade deshalb bietet sich eine „offene“ Edition an, um zu verhindern – wie Ulrich Konrad betont –, dass das
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Pia de’ Tolomei di Salvadore Cammarano. Editione genetico-evolutiva. Firenze 2006 (Studi e testi per la storia della musica. 14). Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1909–1972 (abgebrochen), Abt. I, Bd. 3, S. 147. Hans Zeller: Edition und Interpretation. Antrittsvorlesung (1965). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 279–288, hier S. 287f. Ebd., S. 288. Walther Dürr: Sieben Thesen zu Edition von Musik und musikalischer Praxis. In: Österreichische Musikzeitschrift 46, 1991, S. 522–524, hier S. 524. Walther Dürr: Opernedition und Aufführungspraxis: Konzepte einer ‚offenen Ausgabe‘. In: Opernedition (Anm. 11), S. 83–98, hier S. 83f.
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„Wortkunstwerk“ immer dort Autonomie beansprucht, wo „die Funktion der Dichtung als Vorlage für musikalische Adaption konstitutiv ist.“54 Dass eine solche Edition kein theoretisches Konstrukt ist, sondern sich sinnvoll auch für den Nicht-Editor, also den Leser, realisieren lässt, zeigt die neue Reihe Opernlibretti – kritisch ediert, die von Irmlind Capelle und Joachim Veit herausgegeben wird. Als erster Band erschien eine kritische Edition des Freischütz-Textbuches,55 die die Entstehung der Textvorlage Friedrich Kinds und deren tiefgreifende Umarbeitung für die Opernkomposition Webers gerade aus unterschiedlichen editorischen Perspektiven anschaulich dokumentiert. Zeugnisse und Kommentar erschließen das Libretto in seinen wechselnden Funktionen und seiner Multimedialität bis hin zur Uraufführung, wodurch die Edition auch unterschiedliche – musik-, literatur- und theaterwissenschaftliche – Interessen bedient. Dass sich diese Edition dem tatsächlichen Text der Uraufführung nur rekonstruierend annähert, indem eine breite Quellenbasis geboten wird, halte ich für eine der Stärken dieser Edition.56 In ähnlicher Weise verfahren die Editoren im Falle der Libretti E. T. A. Hoffmanns in der Ausgabe der Bibliothek Deutscher Klassiker, indem sie je nach Funktion der Textträger variable Präsentationsformen wählen und – wie es frühere Editionspraxis war – vermeiden, Text aus dem Textbuch mit dem der Partitur zu mischen, also einen ‚besten‘, im Ergebnis jedoch kontaminierten Text herzustellen.57 Zwar präsentiert auch diese Edition keinen Notentext, doch die edierten Texte basieren auf präziser Quellenkritik und markieren je nach Funktion den edierten Text im Kontext von Textproduktion und Kompositionsvorgang. Im Fall der Oper Undine, deren Text eigentlich ein Gemeinschaftswerk von De la Motte Fouqué und Hoffmann ist, wird die Hoffmann’sche Überarbeitung der Fouqué-Vorlage ediert, die Varianz zusätzlich verzeichnet.58 Die Edition versteht sich gerade wegen ihrer literarischen Ausrichtung – besonders im Fall der Undine – ausdrücklich als Ergänzung zur Edition der Hoffmann’schen Partitur von Jürgen Kindermann, die den Schwerpunkt auf die Aufführung legt.59 Disziplinäre Arbeitsteilung liefert im Fall von Hoffmann sinnfällige Ergebnisse, die aufeinander bezogen sind, obwohl sie an unterschiedlichen Stellen publiziert wurden.60 Die ‚Offenheit‘ einer Edition erlaubt aber auch die Reduktion anstelle von Vollständigkeit. Im Fall
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Konrad 2005 (Anm. 30), S. 171f. Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von Friedrich Kind. Musik von Carl Maria von Weber. Kritische Textbuch-Edition in Zusammenarbeit mit der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe hrsg. von Solveig Schreiter. München 2007 (Opernlibretti – kritisch ediert. 1). 56 Vgl. ebd., S. 15f. 57 E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold und Ursula Segebrecht. Frankfurt/Main 1985–2004, Bd. 1, S. 1341. 58 Zur komplizierten Überlieferung der Undine aufgrund von Handschriftenverlusten und zu den Editionsprinzipien vgl. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden (Anm. 57), Bd. 2,2, S. 668. 59 E. T. A. Hoffmann: Ausgewählte musikalische Werke. Hrsg. von Georg von Dadelsen im Auftrage der Musikgeschichtlichen Kommission e. V. Bd. 1–3: Undine. Hrsg. von Jürgen Kindermann, Georg von Dadelsen. Mainz 1971–72. 60 Vgl. zu diesem Komplex Thomas Kohlhase: Undine von Fouqué und Hoffmann. Bemerkungen zur Partitur und ihrer Edition. In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 8), S. 247–256. 55
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von Wagners Textbüchern zum Ring des Nibelungen61 hat sich Egon Voss bei deren Edition im Reclam-Verlag dafür entschieden, den ‚Literaturtext‘ in der Fassung letzter Hand (1872) und nicht den der Partitur als Textgrundlage zu wählen, weil die Textbücher – wie er überzeugend ausführt – „eine eigene Spezies“ als „Dichtungen“ darstellen und der komponierte Text oftmals Wortlaut, Metrik und Rhythmus der ursprünglichen Vorlage unterlaufe.62 Dass Voss in Fußnoten zum edierten Text ausgewählte Varianten des Partiturtextes mitführt, macht den textkritischen Mehrwert dieser Librettoedition aus, die sich immerhin an ein breites Publikum wendet, das sich nun ein Bild von Ausmaß und Qualität der Veränderungen und Umarbeitungen im Vergleich mit dem komponierten Text machen kann. Diese drei Beispiele mögen die Flexibilität eines offenen Editionskonzepts andeuten, was aber nicht heißen soll, der Beliebigkeit sei Tür und Tor geöffnet. Missverstanden wäre ich aber auch, wenn man hinter einem solchen Konzept die methodische Illusion vermuten wollte, wir könnten auf diese Weise eine Aufführung edieren. Die philologischen Operationen einer genauen Sichtung der Überlieferung und die Prüfung der Entstehungs- und Textgeschichte kann der „Faktizität der Texte“ zu ihrem Recht verhelfen, was im besten Fall dazu führt, dass wir die textlichen Grundlagen einer Aufführung kennenlernen. Und dann bewahrheitet sich zweifellos die Feststellung Christian Dietrich Grabbes in seiner „Große[n] Oper“ Der Cid aus dem Jahr 1835: „Doch – was ein Operntext doch kann!“63
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Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur. Hrsg. von Egon Voss. [4 Bde.] Stuttgart 1997–1999. 62 Ebd., [Bd. 1:] Das Rheingold, S. 114. 63 Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearb. von Alfred Bergmann. Emsdetten 1960–1973, Bd. 2, S. 542.
Rüdiger Nutt-Kofoth
Autorschaft, Werk, Medialität Editionstheoretische Annäherungen an pluriautorschaftliche und plurimediale Werkkomplexe – mit einem germanistischen Blick auf das Phänomen Oper/Libretto Die Musikwissenschaft hat des Öfteren betont, dass der textkritische und editionsphilologische Zugriff auf ihre Werke vielfach aus germanistischen editionswissenschaftlichen Überlegungen hergeleitet sei.1 Wenn nun im Folgenden die germanistische Perspektive im Hinblick auf ein zugleich musikwissenschaftliches Anliegen mit in Anschlag gebracht wird, geschieht dies allerdings gerade nicht in der Absicht, solche – vielleicht auch nur scheinbaren – Abhängigkeiten fortzuschreiben. Die Musikwissenschaft hat schließlich insbesondere in den letzten Jahrzehnten nachdrücklich vorgeführt, dass sie eigene, den germanistischen Ansatz modifizierende und dem musikwissenschaftlichen Objektfeld adäquate Zugangsmöglichkeiten entwickelt.2 Nicht zuletzt in der Diskussion um die editorische Behandlung der differenten Ausprägungen textueller Zeichen, nämlich des Notentextes, also der musikalischen Notation, und des Worttextes, der etwa bei Lied oder Oper hinzutritt, hat sich gezeigt, dass die textuellen Phänomene musikalischer Werke einen anderen, vielleicht gar höheren Komplexitätsgrad haben als diejenigen in der Literaturwissenschaft. Das Libretto als ‚musikoliterarische Gattung‘, wie Albert Gier das Genre in seinem grundlegenden Buch von 1998 genannt hat,3 bildet gewissermaßen einen Schnittpunkt der Diskurse um die Zeichensysteme des musikalischen Werks und ihre editorische Repräsentation. Insofern eignet es sich als Ausgangspunkt zu einigen grundsätzlichen Überlegungen. Albert Gier hat von drei Zeichensystemen gesprochen, deren sich die Oper bediene: zweier akustischer Codes für Sprache und Musik und eines visuellen Codes für die szenische Realisierung. Das Libretto schaffe die Vorgaben für die Umsetzung dieser Codes in der Oper und sei daher als ‚plurimedial‘ zu charakterisieren.4 Esbjörn Nyström hat 2005 modifizierend den Begriff einer „implizierten Plurimedi-
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Siehe etwa Walther Dürr: Überlegungen zur Edition von Musik und Text am Beispiel vertonter Texte. In: editio 8, 1994, S. 39–52, hier S. 39f.; siehe auch ders.: Notenbild und Textkritik – zu Besonderheiten der musikalischen Philologie. In: editio 18, 2004, S. 1–18, hier S. 2. 2 Siehe etwa die grundsätzlichen Bemerkungen bei Gabriele Buschmeier: Zur Problematik der Edition von Operntexten im Rahmen musikalischer Ausgaben am Beispiel der Gluck-Gesamtausgabe. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8), S. 157–168, hier S. 157f. 3 Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998. 4 Ebd., S. 15.
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alität“5 vorgeschlagen und somit die Optionalität dieser Codes als Spezifikum des Librettos hervorgehoben. Dies sind wichtige Klassifizierungen, doch ist noch nicht ganz ersichtlich, welchen Stellenwert sie haben, wenn auf der anderen Seite diese ‚Plurimedialität‘, wie etwa bei Gier, auch ganz allgemein dem Drama als literarischer Gattung zugeschrieben wird6 oder etwa Nyström die „Librettotheorie […] am sinnvollsten als eine Untergattung der Dramentheorie betrachtet“ sehen will.7 Die Rückführung der medialen Klassifikation des Librettos auf das Drama soll natürlich nicht bestritten werden, doch scheint mir die Anwendung des Medialitätsbegriffs ertragreicher, wenn er nicht zur Markierung der Optionalität des Librettos benutzt, sondern stattdessen zur Ordnung des Zeichensystems Oper herangezogen wird, innerhalb dessen der Librettotext dann natürlich seine Rolle spielt.8 Die folgenden Überlegungen gehen daher nicht von den medialen Ermöglichungsformen (etwa des Librettos), sondern von den medialen Realisierungen aus, nämlich etwa den Materialisierungen in den differenten Notationssystemen für die im Werkkomplex9 Oper zusammentreffenden Codes für Musik und für Sprache. Die überlieferten Repräsentanten sind die Träger dieser Notationen, etwa als Handschriften oder Drucke. Sie enthalten in der Notenschrift und der Buchstabenschrift die materialen Ausprägungen, die zur Grundlage der Edition werden; etwa für Fassungen/Versionen bzw. – um den von Walther Dürr vorgeschlagenen Begriff zu wählen – für „Werkgestalten“.10 Die performative Realisierung, z. B. als vom Komponisten (und Librettisten) vorbereitete Aufführung des Opernwerkes, kann nur dann Objekt der Edition werden, wenn sie materialisiert ist, etwa auf Bild- oder Tonträgern.11 Das ist aus technikgeschichtlichen 5
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Esbjörn Nyström: Libretto im Progress. Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aus textgeschichtlicher Sicht. Bern u. a. 2005 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 6), S. 118; Zitat im Original kursiv. Gier 1998 (Anm. 3), S. 5: „Ein wesentliches Merkmal dramatischer Texte ist ihre Plurimedialität, die Verbindung von optischen und akustischen (in der Regel: sowohl sprachlichen wie nichtsprachlichen) Ausdrucksmitteln.“ Nyström 2005 (Anm. 5), S. 114. Esbjörn Nyström (Esbjörn Nyström: Wann gehören Partiturtexte zum ‚Werkganzen‘ eines Opernlibrettos? In: editio 26, 2012, S. 108–122, hier S. 110) wählt für sein Frageinteresse eine gegensätzliche Herangehensweise: „eine germanistische Editionstheorie hat jedoch die umgekehrte Perspektive, hat also nicht die Oper als Werk, sondern das Libretto als Werk und dessen Abgrenzung zu untersuchen.“ Der hier medial verstandene Begriff ‚Werkkomplex‘ ist nicht gleichzusetzen mit der bei Gunter Martens (Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. In: editio 18, 2004, S. 175–186, hier S. 182) vorgeschlagenen Bedeutung von ‚Werkkomplex‘ als „Reihe von in sich eigenständigen Werken, die vom Autor in einen thematischen oder auch strukturellen Zusammenhang gestellt und in einer von ihm bestimmten festen Anordnung veröffentlicht wurden.“ – Der Werk-Begriff harrt allemal einer wissenschaftlichen Bestimmung; vgl. dazu ausführlich und kategorisierend Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11, 2007, S. 276–344. Walther Dürr: Werkgestalten. Zur Edition von Rossinis La gazza ladra und Schuberts Alfonso und Estrella. In: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993. Hrsg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch. Bd. 1: Hauptrefe rate, Symposien, Kolloquien. Kassel u. a. 1998, S. 275–280, besonders S. 275. Dagegen erscheint der Notentext vor allem funktionalisiert in der Wertung von Helga Lühning: Vorwort. In: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hrsg. von ders.
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Gründen für ältere Opern nicht der Fall und somit für die folgenden allgemeinen Überlegungen eher nachrangig. Daher soll nun im Fokus stehen, wie ein auf das Phänomen Oper zielendes Medialitätsverständnis editorisch gewinnbringend sein und zugleich Vorstellungen der Plurimedialität von Werkkomplexen befördern kann. Das setzt voraus, Modifikationen an einigen zentralen Elementen in der Ordnung des Literatur- bzw. erweitert des Kunstsystems vornehmen zu dürfen, nämlich zunächst jenen von Autor und Werk. Dabei kann helfen, dass das Textgenre ‚Libretto‘ sowohl dem Objektfeld der Musikwissenschaft als auch demjenigen der Literaturwissenschaft angehört. Insofern sei es gestattet, zunächst einige Betrachtungen vorzustellen, die an den Bereich der Literaturwissenschaft anknüpfen.
1. Autorschaft und Werk: Goethe/Schiller, Xenien Ein wesentliches Ordnungselement des Literatursystems oder des literarischen Felds ist der Autor. Zwar hat die Diskussion um den Autor im Zusammenhang poststrukturalistischer Positionen dessen Wertigkeit vorübergehend ins Schwanken gebracht – erinnert sei etwa an Roland Barthes’ Formel vom „Tod des Autors“ 1967/6812 –, doch 30 Jahre später (1999) war die „Rückkehr des Autors“ ausgerufen,13 und es wurde wieder festgestellt: „Der Autor ordnet das Feld der Literatur.“14 Zugleich lässt sich in hermeneutischem Interesse ‚Autorschaft‘ als „eine maßgebliche Funktion bei der Vermeidung und dem Ausschluss von anachronistischen Interpretationen“ fassen, wie Carlos Spoerhase festgestellt hat.15 Im Sinne eines Parameters,16 dem sich z. B. Werke zuweisen lassen, hat der Autorname schon immer den Zugriff der Editorik auf das „Feld der Literatur“ bestimmt. Zumindest in der Neugermanistik gibt es keine histo-
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Tübingen 2002 (Beihefte zu editio. 17), S. VIIf., hier S. VII: „Der Notentext bzw. seine Edition vermittelt zwischen der Komposition und der Aufführung.“ Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193; zuerst 1967 in englischer Übersetzung als The Death of the Author, dann 1968 im französischen Originaltext als La mort de l’auteur publiziert. Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 71). – Siehe auch die kurz darauf erfolgte Publikation: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart, Weimar 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 24). Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko: Einleitung. Autor und Interpretation. In: Texte zur Theorie der Autorschaft 2000 (Anm. 12), S. 7–29, hier S. 7. Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin, New York 2007 (Historia Hermeneutica. Series Studia. 5), S. 7. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft 2000 (Anm. 12), S. 198– 229, hier S. 210: „ein Autorname [...] besitzt klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander“ (zuerst französisch 1969).
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risch-kritische oder kritische Ausgabe und auch so gut wie keine Studienausgabe,17 deren Grenzziehung für die Werkauswahl nicht der Autorname wäre. Das hat natürlich auch mit dem editorischen Konzept der ‚Autorisation‘ zu tun, das – in seinem engeren oder weiteren Verständnis18 – Qualitäten von Texten auf bestimmten Textträgern im Hinblick auf die Autorbeteiligung bewertet und diese so als relevant oder irrelevant für die Aufnahme in die autororientierte Edition bestimmt. In Schwierigkeiten kommt diese gängige Ordnung des literarischen Feldes immer dann, wenn ihre Voraussetzungen nicht gegeben sind, also – und so ließe sich die Problematik vorläufig benennen – wenn die Struktur des zu betrachtenden bzw. zu edierenden Werkes diese Ordnung unterläuft. Das kann etwa bei anonymen Werken der Fall sein, aber auch bei Werken, die durch mehrere Autoren hergestellt wurden. Hierfür sei als ein Beispiel Goethes und Schillers Xenien-Komplex herangezogen. Diese Sammlung von 414 Distichen erschien 1796 in dem von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach für das Jahr 1797.19 In wechselseitiger Arbeit und redaktioneller Durchsicht stellten Goethe und Schiller die als scharfe Polemik gegen den Literaturbetrieb der Zeit angelegte Sammlung her, die große Aufregung in der literarischen Öffentlichkeit verursachte. Sie erschien im Musen-Almanach ohne Autornennung. Die handschriftliche Überlieferungslage20 erlaubt es zudem nicht, die Anteile Goethes und Schillers zu trennen – außer bei jenen Texten, die die Autoren später in ihre eigenen Werkausgaben aufnahmen. Das hat Schiller für 81 Xenien-Texte getan, Goethe für sechs.21 Für die übrigen gibt es aus den eruierbaren Entstehungsumständen keine stichhaltigen Argumente für eine sichere Zuordnung eines Distichons zu einem der beiden Autoren. Die Autoren haben zudem selber die innere Zusammengehörigkeit der Textsammlung hervorgehoben und den Xenien-Komplex als nicht nach Autoren
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Eine der wenigen Ausnahmen ist die – unter den spezifischen Bedingungen des Reihenkonzeptes innerhalb der Bibliothek deutscher Klassiker realisierte – Ausgabe: Bibliothek der Kunstliteratur. Hrsg. von Gottfried Boehm und Norbert Miller. 4 Bde. Frankfurt/Main 1992–1995 (Bibliothek deutscher Klassiker. 126–128 und 79). 18 Rüdiger Nutt-Kofoth: Der ‚echte‘ Text und sein Autor. Ansätze zu einem funktionalen Authentizitätsbegriff vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von ‚Autorisation‘ und ‚Authentizität‘ in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 51–63. 19 Xenien. In: Musen-Almanach für das Jahr 1797. Hrsg. von [Friedrich] Schiller. Tübingen [1796], S. 197–302. – Die ausführlichste Darstellung ist Franz Schwarzbauer: Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Abhandlungen. 72). 20 Ein Überblick über die Überlieferungslage in Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 4,1: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791–1797. I. Hrsg. von Reiner Wild. München 1988, S. 1124–1130. Siehe auch: Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. von Erich Schmidt und Bernhard Suphan. Mit einem Facsimile. Weimar 1893 (Schriften der Goethe-Gesellschaft. 8), S. V–XXXVI und 219–226. 21 Vgl. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abth. I]. Bd. 5, Zweite Abtheilung. Weimar 1910, S. 294.
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auftrennbares Gesamtwerk verstanden. So findet sich in Eckermanns Sammlung der Gespräche mit Goethe etwa folgende Äußerung Goethes: Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede sein!22
Gegenüber Wilhelm von Humboldt betont Schiller am 1. Februar 1796: Bey aller ungeheuren Verschiedenheit zwischen Göthe und mir wird es selbst Ihnen öfters schwer, und manchmal gewiß unmöglich seyn, unsern Antheil an dem Werke zu sortieren […]. Es ist auch zwischen Göthe und mir förmlich beschlossen, unsre Eigenthumsrechte an den einzelnen Epigrammen niemals auseinander zu setzen, sondern es in Ewigkeit auf sich beruhen zu lassen; welches uns auch, wegen der Freyheit der Satyre, zuträglich ist. Sammeln wir unsere Gedichte, so läßt jeder diese Xenien g a n z abdrucken.23
Letzteres ist bekanntlich nicht geschehen. Für den Editor bleibt aber das Problem bestehen, wie er die Xenien in den herkömmlichen, nach Autoren organisierten Editionen unterbringt. Die jüngeren Goethe- und Schiller-Ausgaben verfahren nach dem von Schiller im Brief an Humboldt angekündigten Verfahren, den Xenien-Komplex vollständig ohne Auftrennung nach Autoren zu präsentieren und die Co-Autorschaft im Kommentar entsprechend zu erläutern. Aus einer editionssystematischen Perspektive betrachtet, unterläuft ein solches Verfahren allerdings die autorbezogene Ordnung des editorischen Feldes. Die spezifische pluriautorschaftliche Werkstruktur der Xenien, die nicht nur nach Ausweis der Überlieferung dem Werk inhärent ist, sondern von den Autoren im Selbstkommentar als Kennzeichen des Werks betont wurde, fordert im Prinzip andere editorische Ordnungsoptionen als diejenigen nach dem (Einzel-)Autor. Die Ordnungskategorie wäre hier also eher ‚Werk‘ statt ‚Autor‘.
2. Werk und Medialität: Döblin, Berlin Alexanderplatz Was sich so am Verhältnis von Autorschaft und Werk für bestimmte Konstellationen als problematisch erweisen kann, sei nun von einer anderen Seite befragt, nämlich derjenigen des Verhältnisses von Werk und Medialität. Als Beispiel hierfür kann Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf herangezogen 22
Unter dem Datum des 16.12.1828; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. Abt. II: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl zusammen mit Volker C. Dörr u. a. Bd. 12: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/Main 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker. 167), S. 293. 23 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 28: Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.7.1795–31.10.1796. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 182.
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werden. Dass der Roman 1929 zunächst in Teilen in der Frankfurter Zeitung erschien und dabei auf den Zeitungsleser zugeschnitten war, so also etwa Passagen mit der literaturgeschichtlich innovativen Montagetechnik aussparte und diese in Gänze erst im Buchdruck des gleichen Jahres sichtbar wurden,24 wirft zwar schon ein Licht auf mediumspezifische Erscheinungsformen des literarischen Werkes, doch bietet Berlin Alexanderplatz zudem das Beispiel eines kunstformübergreifenden Medienwechsels. Zwei Jahre nach Erscheinen des literarischen Textes war der Roman nämlich schon verfilmt: Regisseur Phil Jutzi legte mit Berlin Alexanderplatz einen der ersten deutschen Tonfilme vor, der Romanautor Döblin war neben Hans Wilhelm Verfasser des Drehbuchs.25 Schon für den Roman wurde festgestellt, dass er „entschieden […] aus der Perspektive des Films erzählt wird“,26 was auch die zeitgenössische Filmkritik in der Besprechung des Films herausstellte.27 Dass der Film in den Augen der Kritiker dann nur teilweise überzeugen konnte, etwa nach dem filmästhetisch gelungenen Anfangsstück das Thema Großstadt zurücknimmt und dagegen stärker Heinrich George in einer – nach Herbert Iherings Urteil – „grandiose[n] Solonummer“28 in der Rolle des Franz Biberkopf in den Vordergrund rückt, muss hier nicht weiter bewertet werden. Bedeutsam für die Fragestellung dieses Beitrags ist, dass der Autor Döblin an der medialen Transformation des Romans zum Film aktiv beteiligt war. Und nicht nur an dieser. Döblin legte zeitgleich das Manuskript einer Hörspielfassung unter dem Titel Die Geschichte vom Franz Biberkopf vor.29 Mit prominenter Besetzung (Heinrich George als Biberkopf und Hilde Körber als dessen Geliebte Mieze) wurde 1931 die Funkfassung hergestellt, allerdings nie gesendet, weil Döblin mit der akustischen Umsetzung noch nicht zufrieden war.30 Festzuhalten ist aus diesem Beispiel also, dass der Autor sein Werk in unterschiedlichen Medien aufbereitet, wobei die jeweiligen Realisierungen nicht etwa im Sinne einer Rangordnung von primärer Zeitungs- bzw. Buchtextproduktion und nachgeordneter Verfilmung bzw. Vertonung verstanden werden sollten, sondern – wie Harro Segeberg verdeutlicht hat – als je eigenständige literarische, filmische oder akustische Versionen begriffen werden können. Segeberg hat dieses Werkganze unter den Begriff
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Vgl. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hrsg. von Werner Stauffacher. Zürich, Düsseldorf 1996 (Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg †. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters hrsg. von Anthony W. Riley), S. 850. 25 Siehe Berlin Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Mit einem einführenden Essay von Fritz Rudolf Fries und Materialien zum Film hrsg. von Yvonne Rehhahn. München 1996 (FILMtext); Abdruck der Typoskriptfassung S. 23–208. 26 Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt 2003, S. 85. 27 Vgl. mit mehreren Originalzitaten ebd., S. 87f. 28 Herbert Ihering in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 472, vom 9.10.1931; zitiert nach Berlin Alexanderplatz, Drehbuch 1996 (Anm. 25), S. 228. 29 Manuskriptfassung in: Alfred Döblin: Drama, Hörspiel, Film. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. München 1983 (Döblin, Ausgewählte Werke, Anm. 24), S. 273–317. 30 Zu Überlieferung und Entstehung s. Döblin, Drama, Hörspiel, Film 1983 (Anm. 29), S. 557–559. – Vgl. Segeberg 2003 (Anm. 26), S. 95f.
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des „mehrmedialen Berlin-Alexanderplatz-Komplex[es]“ gefasst und Döblin explizit als „Medienautor“ klassifiziert.31 Das Beispiel von Berlin Alexanderplatz kann also vorführen, dass nicht allein – wie etwa im Fall von Goethes und Schillers Xenien – die Funktion ‚Autorschaft‘ die traditionelle Vorstellung von der Ordnungsposition der Kategorie ‚Werk‘ im Literatursystem in Frage stellt, sondern die ‚Werk‘-Kategorie nun durch das – in den verschiedenen, auch materialiter greifbaren Fassungen sich je unterschiedlich ausprägende – Spezifikum ‚Medialität‘ einen plurimedialen Charakter erhält und aufgrund dessen innerhalb der Ordnung des Kunstsystems eine die Einzelkünste übergreifende Position zugewiesen bekommen kann. Für eine Edition von Döblins Berlin Alexanderplatz kann nach solchen Überlegungen dann füglich in Zweifel gezogen werden, ob die Darbietung allein des Romantextes das Werk Berlin Alexanderplatz adäquat repräsentieren kann oder ob dem plurimedialen Werk nicht eher eine – heute ja technisch mögliche – multimediale Edition gerecht werden könnte.
3. Autorschaft, Werk, Medialität: Hofmannsthal/Strauss, Der Rosenkavalier An einem dritten Beispiel soll nun deutlich gemacht werden, wie die drei in Rede stehenden Begriffe von Autorschaft, Werk und Medialität nicht nur jeweils paarweise, sondern in ihrer Gesamtheit und ihrem wechselseitigen Bezug herkömmliche Ordnungsvorstellungen des Kunstsystems unterlaufen können. Dieses Beispiel ist dem Bereich Oper/Libretto entnommen und führt nun die erörterte Problematik in den Kern der Fragestellung des vorliegenden Bandes zurück. An dem Beispiel mag sinnträchtig werden, dass die plurimediale Konstellation ‚Oper‘ ganz eigentlich den Prüfstein für die vorherigen Erörterungen darstellen kann, da in ihr regelhaft auftritt, was in den vorgenannten Fällen eventuell noch als bloße Ausnahmen einer pluriautorschaftlichen oder mehrmedialen Werkkonzeption abzutun wäre. Der Oper – bzw. erweitert der allgemeinen musiktheatralen Gattung – sind nämlich genau jene eben befragten Elemente inhärent, die als disparat zur Ordnung des Kunst- und Literatursystems erscheinen mögen. Sie weist im Regelfall eine doppelte Autorschaft von Textdichter und Komponisten auf. Sie führt verschiedene Zeichensysteme zusammen, nämlich ein alphabetisch-schriftsprachliches und ein notenspezifisch-musikalisches.32 Sie ist zudem gegenüber den zuvor genannten Fällen plurimedial im gesteigerten Sinne, denn in ihr findet sich das Werk nicht in medial differente Versionen geteilt, sondern sie führt die
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Segeberg 2003 (Anm. 26), S. 85 und 81; erstes Zitat im Original kursiv. – Siehe auch Erich Kleinschmidt: Zwischenwege. Döblin und die Medien Film, Rundfunk und Fotographie. In: Wirkendes Wort 51, 2001, S. 401–419. 32 Dass auch hier Weiterungen zu bedenken sind, lässt sich an der mehrmedialen Konstellation von Text, Musik und Bild (160 Kupferstiche) für Joseph Franz von Goez’ und Peter von Winters Melodram Lenardo und Blandine beschreiben; s. Thomas Betzwieser: Text, Bild, Musik: die multimediale Überlieferung des Melodrams Lenardo und Blandine (1779). Eine Herausforderung für die Editionspraxis. In: editio 25, 2011, S. 74–100.
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Plurimedialität in einer Version zusammen, in der sich die textlichen und die musikalischen Elemente zu einer mehrmedialen Einheit verbinden. Als Beispiel hierfür mag der Rosenkavalier dienen. Diese im Januar 1911 uraufgeführte Oper entstand in enger, aktweise fortschreitender Zusammenarbeit zwischen dem Textdichter Hugo von Hofmannsthal und dem Komponisten Richard Strauss.33 Die vier 1910/11 gedruckten Schriftträger zeigen in ihrer medialen Differenz auch die jeweils veranschlagte Autorgewichtung an. Die Titelei der Buchfassung zielt allein auf den Textdichter: „Der Rosenkavalier | Komödie für Musik von Hugo von Hofmanns thal“. Der Partiturdruck jedoch führt nur Strauss’ Namen im Titel auf: „Richard Strauss | Der Rosenkavalier“. Dagegen ist der Klavierauszug mit beiden Autornamen überschrieben: „Der Rosenkavalier | Komödie für Musik von Hugo von Hofmannsthal | Musik von Richard Strauss | Op. 59“. Und auf dem Titelblatt des Librettos heißt es ähnlich: „Der Rosenkavalier | Komödie für Musik in drei Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal | Musik von Richard Strauss“.34 So bieten die Schriftträger das Abbild einer Autorschaftsgemengelage, in der die Autorschaftszuweisung je nach Publika tionskontext modifiziert erscheint. Hofmannsthal hat sich allerdings mehrfach ausdrücklich zur textlichen und musikalischen Einheit des Rosenkavaliers bekannt. An Ottonie Gräfin Degenfeld schreibt er am 30. Januar 1911 kurz nach der Uraufführung: „Die tiefste Freude ist das Werk selbst, daß es in so unglaublicher Weise e i n G a n z e s geworden ist, als ob es gar nicht von 2 Menschen wäre.“35 In dem im März 1911 im Merker erschienenen Ungeschriebenen Nachwort zum „Rosenkavalier“ kennzeichnet Hofmannsthal den Zusammenhang von Text und Musik als einen unauftrennbaren: Ein Werk ist ein Ganzes und auch zweier Menschen Werk kann ein Ganzes werden. Vieles ist den Gleichzeitig-Lebenden gemeinsam, auch vom Eigensten. Fäden laufen hin und wieder, verwandte Elemente eilen zusammen. Wer sondert, wird Unrecht tun. Wer eines heraushebt, vergißt, daß unbemerkt immer das Ganze entklingt. Die Musik soll nicht vom Text gerissen werden, das Wort nicht vom belebten Bild. Für die Bühne ist dies gemacht, nicht für das Buch oder für den Einzelnen an seinem Klavier.36
In solcher Perspektive besteht die Werkeinheit aus den beiden medialen Komponenten von Text und Musik, das Ziel aus einer gemeinsamen Realisierung in der Auf-
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Eine Übersicht von Willi Schuh in Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss: Der Rosenkavalier. Fassungen Filmszenarium Briefe. Hrsg. von Willi Schuh. Frankfurt/Main 1971, S. 7–19; s. auch die Entstehungsgeschichte in Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Rölleke, Ernst Zinn. Bd. 23: Operndichtungen 1. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann und Willi Schuh. Frankfurt/Main 1986, S. 105–113. – Zur Zusammenarbeit von Hofmannsthal und Strauss bei ihren verschiedenen Projekten s. Françoise Salvan-Renucci: „Ein Ganzes von Text und Musik“. Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Tutzing 2001 (Dokumente und Studien zu Richard Strauss. 3). 34 Hofmannsthal, KA, Bd. 23 (Anm. 33), S. 151–153. 35 Zitiert nach ebd., S. 682. 36 Zitiert nach ebd., S. 547.
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führung. Einem solchen Anliegen gemäß ist auch der Umstand, dass schon während der Entstehung der Textdichtung, nämlich ab Mai 1909, auf Anregung Hofmannsthals Alfred Roller, der Leiter der Wiener Kunstgewerbeschule, die szenische Gestaltung des Rosenkavaliers mitentwickelte. Das Ergebnis war ein schließlich zeitgleich zu den anderen genannten Drucken von 1910 erschienenes Regiebuch von Roller, das neben ausführlichen Regiebemerkungen und Anweisungen zu Bühnenbild, Kostüm und Dekorationen eine umfangreiche Reihe an Farblithografien der Figurinen enthält.37 Insofern hat – und das wäre zunächst festzuhalten – neben Hofmannsthal und Strauss auch Roller eine bestimmte Rolle innerhalb der Autorenkonstellation des Rosenkavalier-Werkes inne.38 Nur als scheinbarer Widerspruch zu dem von Hofmannsthal hervorgehobenen einheitlichen Ganzen der Oper stehen dann die einleitenden Worte Rollers im Regiebuch: „Die folgenden Bemerkungen widersprechen vielfach den szenischen Anmerkungen des Klavierauszuges und des Textbuches, sind jedoch von den Autoren des Werkes akzeptiert.“39 Es ist nämlich nur daran zu erinnern, dass Hofmannsthal trotz der Charakterisierung des Rosenkavaliers als einer Einheit aus Text und Musik ja etwa neben dem Libretto noch eine eigene Buchveröffentlichung des Textes auf den Weg brachte, die nur unter seinem Namen erfolgte und allemal seiner eigenen Forderung, dass die „Musik […] nicht vom Text gerissen werden“ solle, entgegensteht. Auch enthalten die verschiedenen Drucke von 1910 ja nicht den gleichen Worttext. Beispielhaft sei nur jene Stelle herausgegriffen,40 an der Sophie im zweiten Akt ihr Standesbewusstsein als verheiratete Frau nach eigener Aussage „mit Ohrfeigen“ zu verteidigen bereit sei. Mitte August 1910 hatte Hofmannsthal dazu an Strauss geschrieben: Akt II, Seite 9 „mit O h r f e i g e n ihr beweisen“ hab’ ich in der zweiten Fassung a u s d r ü c k l i c h g e s t r i c h e n , als den Charakter der Sophie vergröbernd. Ich habe es jetzt ersetzt durch „meiner Seel ihr beweisen“, das ja im gleichen sehr energischen Ton gesungen werden kann. Die Ohrfeigen haben d u r c h a u s aus dem Text zu verschwinden (auch aus der Partitur, bitte vielmals!).41
Hofmannsthal hatte mit dem Änderungswunsch auf eine Kritik Harry Graf Kesslers an dieser Stelle reagiert. Strauss jedoch folgte der Aufforderung Hofmannsthals nicht, hatte zu diesem Zeitpunkt wohl auch diese Stelle schon auf den „Ohrfeigen“-Text hin komponiert und dürfte gerade das komische und plastische Element geschätzt haben,
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Abgedruckt in ebd., S. 550–587. Im Prinzip setzt Rollers Regiebuch das Verfahren fort, das Helga Lühning (Helga Lühning: Gehören Operndialoge in eine „Werk“-Ausgabe? In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 2), S. 169– 183, hier S. 176) für die Gegebenheiten der Oper bis ins 19. Jahrhundert beschreibt, nämlich dass Regieanweisungen nicht in der Partiturhandschrift, sondern im Soufflierbuch der Oper ihren Ort hatten. 39 Roller, Regiebuch, in: Hofmannsthal, KA, Bd. 23 (Anm. 33), S. 550. 40 Vgl. Dierk Hoffmann: Das klingende Buch. Text, Musik und Technologie. In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 2), S. 385–400, hier S. 394–396. 41 Zitiert nach Hofmannsthal, KA, Bd. 23 (Anm. 33), S. 643. 38
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wie Dierk Hoffmann vermutet hat.42 Daher enthalten alle unter Strauss’ direkter Verfügungsgewalt entstandenen Schriftträger an dieser Stelle die „Ohrfeigen“, während sich in Hofmannsthals Buchpublikation des Worttextes dann der gewünschte neue Wortlaut findet.43 So zeigt sich durchaus die Spannung zwischen der intendierten oder gar erklärten Werkgestalt in Hofmannsthals emphatischer Ganzheitsklassifikation des Opernwerkes und seiner realen, materialisierten Überlieferung. Der im vorliegenden Beitrag vorgebrachte autorschaftsfernere, dafür medial orientierte Werkbegriff kann und darf diese Spannung nicht auflösen, sondern nur in dokumentierenden und erschließenden Verfahren beschreiben – und zwar als die realen Ausprägungen des pluriautorschaftlichen und mehrmedialen Werkes. Nun ist mit der Musik-Text-Konstellation die Plurimedialität des Rosenkavaliers allerdings noch nicht erschöpfend beschrieben. Zu ihr gehört nämlich noch der Stummfilm, der zwischen Juni und August 1925 unter der Regie von Robert Wiene, u. a. Regisseur des Stummfilmklassikers Das Kabinett des Dr. Caligari (1919), hergestellt wurde.44 Hofmannsthal hatte sich seit 1923 mit Überlegungen zur Verfilmung beschäftigt. Mit der Wiener Pan-Film A.G. wurde er schließlich Anfang 1925 einig und konnte auch Strauss für das Unternehmen gewinnen. Nicht zum Geringsten dürften hierbei finanzielle Argumente eine Rolle gespielt haben. Strauss waren 10 000 Dollar für das Arrangement der Orchesterbegleitmusik in Aussicht gestellt, Hofmannsthal und Otto Fürstner, dem Verleger der Partitur, des Klavierauszugs, des Librettos und des Roller’schen Regiebuches, jeweils 5000 Dollar.45 Hofmannsthal fertigte einen Entwurf zum Film an,46 der sich gegenüber den drei Akten der Oper nun in fünf Akte gliedern sollte. Allerdings hat Hofmannsthal nur die beiden ersten Akte umfangreicher ausgearbeitet, zu den letzten drei Akten liegt nur eine kurze stichwortartige Skizze vor. Für die Besetzung hatte Hofmannsthal genaue Vorstellungen, die bekanntesten Schau-
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Hoffmann 1998 (Anm. 40), S. 394. Vgl. Hofmannsthal, KA, Bd. 23 (Anm. 33), S. 318. 44 Vgl. zum Folgenden Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 416), S. 476–501, und die Entstehungsgeschichte zu Hofmannsthals Filmentwurf in Hofmannsthal, KA (Anm. 33), Hrsg. von Rudolf Hirsch †, Mathias Mayer, Christoph Perels, Edward Reichel und Heinz Rölleke. Bd. 27: Ballette, Pantomimen, Filmszenarien. Hrsg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel. Frankfurt/Main 2006, S. 837–843, sowie Günter Krenn: „Augenblicklich und ewig“. Bemerkungen zum ROSENKAVALIER-Film. In: „Ein sonderbar Ding“. Essays und Materialien zum Stummfilm DER ROSENKAVALIER. Hrsg. von Günter Krenn. Wien 2007, S. 11–53; s. auch die Feststellung ebd., S. 37: „Filmhistorisch hat sich der rosenkavalier aufgrund der Einzigartigkeit etlicher Umstände rund um seine Entstehung seinen Stellenwert abseits ästhetischer Bewertung längst gesichert.“ – Siehe zum Vergleich von Oper und Film auch Marion Saxer: Zeit der Oper – Zeit des Films. Der Rosenkavalier im Stummfilm. In: Musik & Ästhetik 15, 2011, H. 57, S. 42–61. 45 Vgl. die Briefe von Johannes Oertel (Fürstner Verlag) an Hofmannsthal vom 8.1.1925 und Hofmannsthals Brief an Otto Fürstner vom 11.1.1925 in Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 858f., sowie Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 480. 46 Abgedruckt in Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 205–242. 43
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spieler wurden in Betracht gezogen. So plante er laut überlieferter Besetzungsliste47 z. B. Asta Nielsen in der Rolle der Feldmarschallin, Werner Krauss als Feldmarschall und Emil Jannings, Michael Bohnen oder Heinrich George als Ochs von Lerchenau. Aus dieser Gruppe übernahm jedoch nur Michael Bohnen, der den Ochs auch auf der Opernbühne gespielt hatte, die Rolle. Hofmannsthal wird im Film schließlich als Drehbuchautor neben Louis Nerz, dem künstlerischen Leiter und Dramaturg der Pan-Film A.G., und Regisseur Robert Wiene genannt, obwohl er zum eigentlichen Drehbuch kaum noch einen Beitrag leistete, allerdings wahrscheinlich die Zwischentitel durchgesehen hat.48 Heinz Hiebler hat darauf hingewiesen, dass Stellen des Filmszenars Hofmannsthals Bewusstsein filmästhetischer Mittel dokumentieren, etwa wenn in der Notiz „Ochs’ Bild nimmt Octavians Züge an“ das Stilmittel der Überblendung evoziert ist oder wenn der Stummfilmästhetik mit konventionellem Slapstick entsprochen wird, etwa mit der Szenenidee: „Flucht des Barons in einem Fiaker, dessen Boden einbricht. | Liegenbleiben des Barons auf der Landstrasse.“49 Jedenfalls sind einige Elemente aus Hofmannsthals Filmentwurf, etwa Veränderungen in der Handlungsstruktur durch die Einführung von Nebenhandlungen, verschiedenster Schauplätze und neuer Figuren, wie die des Feldmarschalls von Werdenberg oder diejenige der Stiftsdame Freiin Ochs von Lerchenau, in den Film eingegangen. Auch Strauss hatte seinen Anteil am Film. Er arrangierte die Filmmusik mit Teilen aus der Oper, vier älteren Kompositionen und einem neuen Militärmarsch für die Szene im Feldquartier des Feldmarschalls; wahrscheinlich wurde das Arrangement jedoch von Karl Alwin oder Otto Singer vorgenommen, auch wenn Strauss beide Fassungen, die Partitur für großes Orchester und die Salonorchester-Fassung, mit seinem Namen autorisierte.50 Am 10. Januar 1926 fand die Premiere des Films in der Dresdner Sem peroper statt,51 genau dort also, wo 1911 der Rosenkavalier als Oper uraufgeführt worden war. Das hundertköpfige Orchester der Filmpremiere dirigierte Strauss persönlich. In Strauss’ Arrangement dominierte allerdings die Musik den Film, reduzierte ihn zur „bildlichen Illustrierung eines Konzertes“,52 indem sich die dem Filmbild asynchrone Musik verselbständigte. Die Filmkritik sprach davon, dass Strauss den Film in Fetzen [zerriss], nur um seine musikalischen Motive, unbekümmert um die Länge der einzelnen Filmszenen, zu Ende führen zu können. Diese Art ist seiner Komposition natürlich außerordentlich zugute gekommen. Aber der Film selbst verlor alle Zusammenhänge. Denn wenn zwischen einzelnen Szenen sich die Leinwand auf Minuten verdunkelt, wenn der nach Schluß der Blende immer noch einige Meter weiterlaufende Projektor wichtigste
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Ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 840. Ebd., S. 214f.; vgl. Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 488. Vgl. Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 840f., und Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 491, Anm. 290. Siehe auch Peter Laupenmühlen, Björn Rückert: Das Filmorchester als Kraftwerk der Gefühle – Be obachtungen zur Umarbeitung der Oper in eine instrumentale Filmmusik. In: „Ein sonderbar Ding“ 2007 (Anm. 44), S. 181–191. Das Programmheft ist abgedruckt in Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 866–868. S-r, in: Der Film, Nr. 3, 17.1.1926, S. 16; zitiert nach Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 870.
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Episoden ganz verschluckt, so fehlen nötigste Verbindungen und das Urteil über eine Arbeit könnte getrübt werden, die ernsten Anspruch darauf macht, als Hochleistung gewertet zu werden.53
Nicht eingehender muss im Folgenden die weitere Geschichte des Films und seiner Musik entfaltet werden, nicht dass Strauss nur noch bei der englischen Erstaufführung in London am 12. April 1926 selbst dirigierte, nicht dass für die eigentliche Kinopremiere in München am 16. Januar 1926 die Filmmusik eingekürzt wurde, nicht dass Strauss andere als seine Musik zu dem Film untersagt hatte, nicht dass eine geplante Tournee des Films durch die USA mit Strauss am Dirigentenpult am Aufkommen des Tonfilms scheiterte, nicht dass Hofmannsthal mit dem Umgang des Regisseurs mit seinem Filmskript unzufrieden war und den Film in privaten Äußerungen als „den stümperhaftesten und plumpsten Film, den man sich denken kann“,54 bezeichnete, nicht dass die PanFilm sich an dem Projekt letztlich überhoben hatte und später in Konkurs ging, nicht dass der Film lange verschollen war und bis heute nur in unvollständigen Versionen mit tschechischen oder englischen Zwischentiteln wiederaufgefunden worden ist.55 Auch dass Hofmannsthal im Juni/Juli 1929 – wenige Wochen vor seinem Tod – noch einmal einen Anlauf zu einem Rosenkavalier-Film, nun als Tonfilm, nahm, das Projekt aber mit seinem Tod hinfällig wurde, soll nicht weiter erörtert werden.56 Sichtbar werden sollte nur, dass die Werkkonstruktion auch der Oper nicht auf die ihr allemal schon inhärente medienübergreifende Text-Musik-Kombination beschränkt zu sein braucht, sondern zu ihr auch noch mediale Weiterungen gehören können, wie sie ganz ähnlich etwa den Fall von Döblins Berlin Alexanderplatz charakterisieren. Der von Hofmannsthal und Strauss mitrealisierte Rosenkavalier-Film würde in diesem Sinne einen Teil des mehrmedialen Rosenkavalier-Werkkomplexes ausmachen, zu dem zugleich die Oper und innerhalb dieser wiederum die Partiturfassung, die Klavierauszugfassung, die Librettofassung und die Textbuchfassung neben ihren jeweiligen Vorstufen sowie das Regiebuch Alfred Rollers gehören würden. Die Edition – würde sie dem hier veranschlagten Werk-Begriff folgen – müsste dann all diese Ausprägungen des Werkes zu ihrem Gegenstandsbereich rechnen. Aus dieser Perspektive kann allerdings das Verfahren der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe nicht befriedigen, die die Sprachtexte des Rosenkavaliers in dem in Hinblick auf das textgenetische Mo-
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Dr. M.-L.: Richard Strauß dirigiert den „Rosenkavalier“. In: Lichtbildbühne, Jg. 19, Nr. 8, 11.1.1926, S. 1 und 3, hier S. 1; zitiert nach Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 490. – Saxer 2011 (Anm. 44), S. 53, weist jedoch auf einzelne „exponierte[ ] Synchronpunkte“ zwischen Musik und Film hin; s. auch ebd., S. 44f. 54 Brief an Willy Haas vom 19.11.1927; Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 875. 55 Es fehlen etwa zehn Minuten bzw. 625 von 3000 Filmmetern am Ende des Films; vgl. Hofmannsthal, KA, Bd. 27 (Anm. 44), S. 842, und Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 500f. – Zum überlieferten Filmmaterial und zu den Problemen der Rekonstruktion s. innerhalb des Begleitbandes zur jüngsten rekonstruierten Fassung des Films Nikolaus Wostry: Defekte und Dignität. Die filmische Rekonstruktion des rosenkavalier-Films. In: „Ein sonderbar Ding“ 2007 (Anm. 44), S. 139–163. 56 Zum Rosenkavalier-Tonfilmprojekt vgl. Hiebler 2003 (Anm. 44), S. 511–513.
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dell hochambitionierten57 Band 23 vorlegt und die Filmentwürfe zum Rosenkavalier in Band 27 mit den Filmskripten ediert, also nach der traditionellen Grundanlage einer Ausgabe autorbezogen und gattungssystematisch ordnet und dabei die Notentexte sowie den Komponisten Strauss als auch den realisierten Film aus dem Fokus verlieren muss. Dierk Hoffmann, der Editor des Rosenkavalier-Bandes in der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, hat mit Bezug auf den Opernteil des Rosenkavalier-Werkkomplexes schon 1998, 12 Jahre nach dem Erscheinen des Bandes, bemerkt: Im Grunde gehört eine „Rosenkavalier“-Edition weder zu Strauss’ noch Hofmannsthals „Gesammelten Werken“, sondern zu einer neuen Kategorie. Nicht Autor-Editionen, sondern Werk-Editionen sollten das erstrebenswerte Ziel sein […]. Und die E-Edition wird solche kollaborativen und interdisziplinären Ausgaben erleichtern.58
4. Conclusio Literaturwissenschaftler müssen nach den vorgestellten Überlegungen wohl kaum mehr davor gewarnt werden, sich mit Libretti zu beschäftigen, wie längere Zeit gemeint worden ist.59 Auch zögern Musikwissenschaftler ja nicht – wie der vorliegende Band und erst recht das hinter ihm stehende einzelwerkbezogene Opern-Editionsprojekt60 belegen –, sich dieses Textgenres anzunehmen. Das Libretto muss nicht mehr als – wie Christopher Hailey formuliert hat – „Zwittergattung“ im „musikalischen und literarischen Niemandsland“61 verstanden werden. Stattdessen ermöglicht die Perspektivierung des Librettos als des Elements eines plurimedial verstandenen Opern-Werkbegriffs nun auch diesen in seiner ganzen medialen Ausdifferenzierung in den Blick zu nehmen. So ließe sich auch besser eine Antwort auf die etwa von Reinhard Strohm 2005 aufgeworfene Frage nach dem problematischen ‚Ganzen‘ der Oper62 finden, eine Frage, die Ulrich Konrad im gleichen Jahr in Hinblick auf die Sinnträchtigkeit einer „isolierte[n] Edition von Libretti“ zugespitzt hatte, einer „Edition, welche die Autono-
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Siehe Dirk O. Hoffmann: Die konsequent synoptische Methode. Zur Edition des Rosenkavalier im Rahmen der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 80–93; Dirk Hoffmann: Das dynamische Textverständnis – die Basis der kritischen Edition des „Rosenkavalier“. In: editio 3, 1989, S. 130–144. 58 Hoffmann 1998 (Anm. 40), S. 396. 59 Vgl. zur historischen Begründung einer solchen Annahme die Erörterungen bei Bodo Plachta: Ein „Tyrann der Schaubühne“? Stationen und Positionen einer literatur- und kulturkritischen Debatte über Oper und Operntext im 18. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 17. 60 Siehe die Webseite des Projekts OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen: http://www.opera.adwmainz.de (gesehen 4.3.2016). 61 Christopher Hailey: Zwischen Wort und Ton. Franz Schrekers Operntexte und die Zwittergattung des Textbuches. In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 2), S. 312–327, hier S. 312. 62 Reinhard Strohm: Partitur und Libretto. Zur Edition von Operntexten. In: Opernedition. Bericht über das Symposion zum 60. Geburtstag von Sieghart Döhring. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend unter Mitarbeit von Peter Niedermüller und Katja Schmidt-Wistoff. Mainz 2005 (Schriften zur Musikwissenschaft. 12), S. 37–56, hier S. 37.
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mie des Wortkunstwerks dort beansprucht, wo die Funktion der Dichtung als Vorlage für musikalische Adaption konstitutiv ist“.63 Daher ließe sich nun der Ort der Oper im Kunstsystem in Gänze betrachten – ein Ort, dessen Situierung den gängigen Ordnungen nach dem Autor oder einer einzigen medialen Ausprägung im Sinne von Text oder Musik notwendig zuwiderlaufen und der dennoch aufgrund der medialen Struktur des Werkes bestimmt werden muss. Dass diese Problematik nicht nur den Musterfall Oper betrifft, sondern überhaupt Erscheinungsformen von Werken in kollaborativer Autorschaft oder inter- bzw. mehrmedialen Versionen, also letztlich ein Grundproblem aller Kunstformen sein kann, sollten die herangezogenen Fälle zeigen. Sie werden sich vielfach nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit erschließen lassen64 – und das gilt dann erst recht für die Herstellung von Editionen solcher plurimedialer Werkkomplexe.
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Ulrich Konrad: Der Bürger als Edelmann und Ariadne auf Naxos von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Editionsprobleme bei einer „sehr ernsthaften Spielerei“. In: Opernedition 2005 (Anm. 62), S. 160–177, hier S. 171f. 64 Vgl. Gier 1998 (Anm. 3), S. 15: „In der Praxis führt die institutionelle Trennung von Literatur-, Musikund Theaterwissenschaft dazu, daß Arbeiten zur Oper gewöhnlich eine der drei Komponenten privilegieren; auch wenn die beiden anderen mit einbezogen werden, bedeutet das eine nicht unproblematische Verkürzung und Verzerrung der Perspektive, da das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.“
Esbjörn Nyström
Literaturwissenschaftliche Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten
Eine Wiedergabe von Varianten1 zwischen zwei Texten setzt voraus, dass diese mit einander vergleichbar sind und also zunächst größere identische Abschnitte aufweisen. Ist diese grundlegende Textidentität vorhanden, sind die meisten Unterschiede bei der Definition, Identifizierung und Wiedergabe von Varianten editorisch handhabbar. In der literaturwissenschaftlichen und der musikwissenschaftlichen Editionspraxis wird bei Opernlibretti offensichtlich vorausgesetzt, dass auch der Vergleich zwischen einem Textbuch und einer Partitur möglich und relativ unproblematisch ist. Variantenapparate und Variantenverzeichnisse werden hergestellt, und zwar im Hinblick auf das den beiden Textträgern gemeinsame Element: den verbalsprachlichen Text. Im Folgenden benenne ich zwei prinzipiell zu unterscheidende Erscheinungsformen eines Opernlibrettos: „Literaturtext“ und „Partiturtext“. Die Termini wurden 1998 von Werner Breig in einem Aufsatz zu Wagner geprägt.2 „Literaturtext“ steht für eine alphanumerische Zeichensequenz3 bzw. einen verbalsprachlichen, dramatischen Text, der als solcher für sich steht (es gibt hier keine Sequenz musikalischer Notenschrift), unabhängig davon, ob es sich dabei um ein gedrucktes Textbuch, eine Leseausgabe, eine handschriftliche oder maschinenschriftliche Kompositionsvorlage oder Druckvorlage, Skizzen oder Entwürfe des Librettisten handelt.
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Grundlegend in der germanistischen Begriffsdiskussion ist Siegfried Scheibes strenge Definition von Textvarianz: Diese „besteht zwischen Werkteilen verschiedener Fassungen eines Werks, wenn sich die Teile in Buchstaben und Satzzeichen nicht entsprechen“. Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier S. 18f. Die geläufige Unterscheidung zwischen Autorvarianten und Fremdvarianten wird oft (und zwar nicht ohne Sinn) als Differenzierung hinzugefügt; allerdings muss daran erinnert werden, dass in der germanistischen Editionswissenschaft die Autorisation von ganzen Texten/Textschichten und nicht die von einzelnen Textstellen als Grundsatz zählt. 2 Werner Breig: Überlegungen zur Edition von Richard Wagners musikdramatischen Texten. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8), S. 284–311, hier S. 286. 3 In den Begriff des Alphanumerischen werden hier auch die mit den Buchstaben und Ziffern direkt zusammenhängenden Satzzeichen miteinbezogen. Vgl. die etwas vorsichtigere Definition des Terminus ‚Text‘ durch Bezugnahme auf das Alphanumerische bei Henrikson, wo von einer „hauptsächlich alphanumerischen Zeichensequenz“ (meine Übersetzung und Hervorhebung; im Orig.: „huvudsakligen alfanumerisk[ ] teckensekvens“) die Rede ist. Vgl. Paula Henrikson: Texthistorisk utgivning. Råd och riktlinjer. Stockholm 2007, S. 31.
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Ein „Partiturtext“ ist eine ebenfalls alphanumerische Zeichensequenz bzw. ein verbalsprachlicher dramatischer Text, der allerdings rein oder vornehmlich von musikalischer Notenschrift umgeben steht; damit liegt ein komplexes Zusammenspiel des Partiturtextes mit einer parallel erscheinenden Sequenz eines anderen Zeichensystems vor. Der Partiturtext stellt deshalb auch nur einen Teil eines aus zwei Zeichensystemen bestehenden Gesamtkommunikats4, und zwar der Partitur, dar. Der Terminus „Partiturtext“ wird im Folgenden unabhängig davon verwendet, ob es sich im Einzelnen um eine Orchesterpartitur, einen Klavierauszug, um Chorstimmen, um ein Particell oder um Kompositionsskizzen handelt; wenn von Partituren die Rede ist, sind in den meisten Fällen auch die anderen erwähnten Formen mitgedacht. Der isolierbare Parti turtext als Vergleichsobjekt zum Literaturtext wird hier zunächst als ein provisorisches Denkmodell verwendet, welches auch die Editionspraxis widerspiegelt; eine derartige Isolierbarkeit ist jedoch eine durchaus anfechtbare Idee bzw. könnte (radikaler ausgedrückt) sogar als eine Illusion betrachtet werden. Auf die Frage der Abgrenzung und Abgrenzbarkeit des Partiturtextes wird im Laufe der folgenden Diskussion mehrmals zurückgegriffen werden. Im Folgenden stehen einige Aspekte der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten vor allem aus editionstheoretischer Sicht im Mittelpunkt, die hier als Bestandteile einer Editionstheorie des Opernlibrettos vorgelegt werden. Es handelt sich dabei – und dies ist auch für das richtige Verständnis des Folgenden essentiell – um eine literaturwissenschaftliche, und noch spezifischer germanistische5 Editionstheorie, die ihr Augenmerk teils auf die Abgrenzung von Autorschaft und Werk, teils auf die häufig zweigeteilte (eben in die zwei Sorten „Literaturtexte“ und „Partiturtexte“) schriftliche Überlieferung von Libretti konzentriert. Die Frage des „Werkganzen“ bei Libretti habe ich an anderer Stelle bereits diskutiert.6 Jener Artikel kann als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen betrachtet werden; aus dieser germanistischen Perspektive ist der unten zu besprechende Vergleich zwischen Literaturtext und Partiturtext nicht bei jedem vertonten Libretto sinnvoll. Die Edition von Opernlibretti als ein Bereich, an dem sich sowohl die Musikwissenschaft als auch (mehrere) Literaturwissenschaften beteiligen, wäre für metaeditorische Untersuchungen zweifellos ein ergiebiger Fall, da sie die unterschiedlichen Sichtweisen und Herangehensweisen der verschiedenen Disziplinen illustriert. Musikwissenschaft-
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Der Terminus „Gesamtkommunikat“, der in diesem Zusammenhang die Partitur (bzw. den Klavierauszug usw.) als Ganzes – mit musikalischer Notenschrift und verbalsprachlichem Text – bezeichnet, wird von Hartmut Stöckl übernommen, der ihn in Bezug auf die Gesamtheit von Sprache und Bild z. B. in Werbung anwendet. Vgl. Hartmut Stöckl: Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen – Am Beispiel der Werbung. In: Mediale Transkodierungen. Metamorphosen zwischen Sprache, Bild und Ton. Hrsg. von dems. Heidelberg 2010, S. 145–172, hier S. 168. 5 Neben der theoretischen Orientierung an neugermanistischer Editionstheorie, die in anderen Publikationen ausführlicher dargelegt wird, ist die germanistische Perspektive auch insofern entscheidend, als es hier ausschließlich um die Edition deutschsprachiger Texte geht. 6 Esbjörn Nyström: Wann gehören Partiturtexte zum ,Werkganzen‘ eines Opernlibrettos? In: editio 26, 2012, S. 108–122.
Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten
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liche und germanistische Editorik unterscheiden sich bekanntlich von ihrer Methode wie auch von ihren Ausgangspunkten her. Aus meiner Perspektive liegt in der Tatsache, dass die germanistische Editorik ihr Augenmerk nicht auf etwaige ‚Spielbarkeit‘, sondern auf die möglichst authentische und wissenschaftlich zuverlässige Wiedergabe der Gestalt der textlichen Befunde selbst richtet, der große Vorteil der Germanistik gegenüber der Musikwissenschaft, die oft mit mehreren Zielen operiert, die miteinander mitunter nicht leicht in Einklang zu bringen sind. Der Vorteil wird umso deutlicher, wenn es, wie in meinen Überlegungen, um Literaturtexte als Edierte Texte, also um die Edition verbalsprachlicher deutschsprachiger Texte bzw. um das ureigene Gebiet der germanistischen Editorik, geht. Dabei müssen aber die Gattungsspezifika des Librettos und die dort oft vorzufindende geteilte Überlieferung teils als Literaturtext, teils als Partiturtext mit der Problematik, die dies vor allem bei der Variantenwiedergabe mit sich bringt, berücksichtigt werden. Die Ergebnisse der musikwissenschaftlichen Librettoeditorik sind aber selbstverständlich relevant, auch wenn sich deren Ausgangspunkte, wie oben angedeutet, von denen der Germanistik in vielen Fällen unterscheiden. Das übergreifende Ziel meines Projekts ist es vor diesem Hintergrund, eine germanistische, gattungsspezifische Editionstheorie des Librettos im Dialog auch mit früherer literatur- und musikwissenschaftlicher Editorik zu entwerfen. Im vorliegenden Aufsatz werden einige Grundgedanken, Beobachtungen und Systematisierungsversuche vorgestellt.
Vorläufige Betrachtungen zur Ontologie des Partiturtextes Editionen, die Varianten aus Textträgern mit vornehmlich musikalischer Notenschrift in einen Variantenapparat aufnehmen, haben immer ein implizites Verständnis davon, welche Elemente in solchen Textträgern zum Partiturtext gehören und welche nicht. Niemand würde den Partiturtext mit der Gesamtheit alphanumerischer Elemente, mit dem gesamten verbalsprachlichen Inhalt einer Partitur gleichsetzen, also einschließlich aller musikalischen Anweisungen, Instrumentenkürzel, Takt- und Metronomangaben und so weiter. Es werden nur gewisse verbalsprachliche Elemente einer Partitur mit einbezogen, vor allem der gesungene Text sowie Handlungsmomente in Form von Regiebemerkungen – Elemente, die sich in Literaturtexten finden und andererseits in Partituren rein instrumentaler, nicht-szenischer Musik nicht vorhanden sind. Im Folgenden wird deshalb notgedrungen die Frage der Grenzen des Partiturtextes aus literaturwissenschaftlicher, editionstheoretischer Sicht problematisiert. Es ist oben schon festgestellt worden, dass ein Partiturtext einen Teil eines hauptsächlich durch die musikalische Notenschrift getragenen Ganzen darstellt, und insofern immer an dieses Gesamtkommunikat gebunden ist. Diese Eigenschaft, diese grundsätzliche Unselbstständigkeit, ist in den letzten Jahrzehnten von musikwissenschaftlicher Seite von Seiten der Wagner-Philologie in Theorie und in Praxis unterstrichen worden. In Fragen der Librettoedition allgemein weit fortgeschritten, hat die Wagner-Philologie verdienstvoll und überzeugend dafür argumentiert, dass Partitur-
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Esbjörn Nyström
texte nicht als Textgrundlage bei der Edition in Literaturtextform7 verwendet werden sollten; diese Praxis kommt sonst häufig vor.8 Werner Breig erinnert zu Recht daran, dass durch die Übertragung von einem Partiturtext in einen auf editorischem Weg konstruierten Literaturtext „eine Textgestalt kreiert wird, die für den Autor in dieser Form nicht existierte und die alles andere als selbstverständlich und problemlos ist“.9 Breig fordert zwar nicht den völligen Verzicht auf Ausgaben eines Partiturtextes in der Form eines Literaturtextes, wohl aber, „daß die Herausgeber solcher Editionen sich selbst und den Benutzern Rechenschaft darüber ablegen, nach welchen Grundsätzen sie den Partitur- in einen reinen Sprachtext umgewandelt haben“.10 Dieser Wunsch dient hier als Anleitung, dann aber nicht auf die Herstellung eines Edierten Textes, sondern nur auf die Variantenwiedergabe bezogen. Im Zusammenhang mit der Problematisierung der besprochenen Praxis wurden von Breig und anderen Wagner-Forschern prinzipiell interessante Diskussionen zur Vergleichbarkeit von Partiturtext und Literaturtext geführt, die die Möglichkeit eines etwaigen Partiturtextabdrucks noch stärker in Frage stellen. Cristina Urchueguía, Editorin der Ausgabe des Tannhäuser-Librettos innerhalb der Sämtlichen Werke, hat etwa treffend festgestellt, dass aus einer Partitur editorisch abstrahierte Partiturtexte bzw. Partiturtextteile „einen Teil ihrer semiotischen Bedeutung ein[büßen]“,11 wenn sie ohne musikalische Notenschrift erscheinen. Egon Voss hat dieses Verhältnis eingehend erklärt, als er Argumente für seine Wahl, bei der Ausgabe von Wagners Ring bei Reclam nicht von Partiturtexten auszugehen, geliefert hat: Die Veränderungen am Wortlaut sind nur eine und vor allem nicht die wichtigste Form von Veränderung, die der Text durch die Komposition erfährt. So setzt sich die Vertonung mit Regelmäßigkeit über die Versgliederung des Textbuchs hinweg und schafft neue Gruppierungen; […] die vielleicht wichtigste Änderung, die die Komposition am Text vornimmt,
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Solche Textausgaben, die einen Partiturtext als Textgrundlage haben, ahmen also die Form eines Literaturtextes nach; diese Form und mehrere ihrer Einzelelemente sind jedoch entweder aus einer anderen Quelle übernommen (Quellenkontamination) oder aber Konstruktionen des Editors. Die Musikwissenschaftlerin Katharina Hottmann begründet ihre Wahl der Strauss’schen Partitur von 1910 als (hauptsächliche) Textgrundlage für ihre Rosenkavalier-Ausgabe bei Reclam 2008 damit, jener Text gebe „das Stück in der Form wieder, die den Opernbesucherinnen und -besuchern begegnet“; Katharina Hottmann: Nachwort. In: Richard Strauss: Der Rosenkavalier. Komödie für Musik in drei Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal. Textausgabe. Hrsg. von ders. Stuttgart 2008, S. 147–162, hier S. 161. Eine Begründung, die eine szenische Aufführung und eine Literaturtextausgabe unter Bezugnahme auf ein Drittes (und von beiden in semiotischer Hinsicht völlig Verschiedenartiges), einen Partiturtext, aneinander anzunähern versuchen, ist in der Geschichte der Librettoausgaben also bis in die Gegenwart häufig vorzufinden. Breig 1998 (Anm. 2), S. 294. Ebd., S. 294. Cristina Urchueguía: Richard Wagners plurale Autorschaft. Überlegungen zur Edition von Richard Wagners Libretti am Beispiel von Tannhäuser. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 293–306, hier S. 296.
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nämlich die präzise Festlegung des Rhythmus, läßt sich unabhängig von Partitur oder Klavierauszug nicht darstellen. Nicht darstellbar ist auch die Gestalt, die der Text in Ensemblestellen durch die Komposition erhält. Die lineare Form üblicher Textwiedergabe wird mehrstimmiger Vertonung, sofern diese nicht homorhythmisch ist, nicht gerecht. […] Ebenfalls nicht darstellbar ist der unmittelbare Bezug von Regiebemerkungen zur Musik […].12
Hier streicht Voss einige der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Erscheinungsformen an, auf die ich unten zurückkomme. Es ist aber zu betonen, dass Voss sowohl in den einzelnen Librettoausgaben bei Reclam als auch als Hauptherausgeber der Sämtlichen Werke Wagners die grundsätzliche Möglichkeit eines Vergleichs zwischen Literaturtext und Partiturtext bejaht, da in beiden Fällen Varianten zwischen beiden Formen verzeichnet werden.13 In dieser Möglichkeit, die ich nicht bestreiten, dagegen sehr wohl problematisieren möchte, liegt ein Angelpunkt der folgenden Diskussion.
Editorische Problembereiche Die folgende vorläufige Einteilung in besonders interessante editorische Problembereiche richtet sich nach möglichen Formen von Varianz zwischen den beiden Erscheinungsformen Literaturtext und Partiturtext. Von Interesse ist selbstverständlich auch die übergreifende Frage der Varianz zwischen dem lange Zeit geradezu normalen Fall einer Partitur einerseits, die gar keine oder sehr wenige Regiebemerkungen und/oder keine Sprechdialoge enthält (bzw. höchstens die letzten Worte vor einer musikalischen Nummer), und einem vollständigen Literaturtext (der die genannten Elemente enthält) andererseits; sie in diesem Kontext der in engerem Sinn relevanten Problembereiche zu behandeln, würde allerdings zu weit führen. Eine ähnliche Varianz in der Frage der Vollständigkeit kann auch innerhalb der jeweiligen Erscheinungsform und zwischen autorisierten und sogar gedruckten Texten derselben Form auftreten.14 Darüber hinaus treffen einige der Kategorien, wie zum Teil spezifizierend angegeben, nicht auf jede Beziehung zwischen autorisierten Partiturtexten und autorisierten Literaturtexten zu. Die Aufzählung der Problembereiche bewegt sich auf einer editionstheoretischen Ebene; durch sie wird noch nichts über die praktische Umsetzung in einer germanistischen Librettoedition gesagt.
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Egon Voss: Nachwort. In: Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Erster Tag: Die Walküre. Textbuch mit Varianten der Partitur. Hrsg. von Egon Voss. Stuttgart 1997, S. 113–128, hier S. 125f. 13 Die Librettoeditionen der späteren Dokumente-Bände innerhalb der Wagner-Ausgabe sind generell gesehen auch aus meiner germanistischen Perspektive vorbildhaft, wenn nicht ganz ohne Probleme. Sie unterscheiden sich aber auch von ihrer Methodik her voneinander; die folgenden Überlegungen können in vielen Aspekten der sich auch „germanistischen Konzepten verpflichtet [fühlenden]“ (Urchueguía 2004 [Anm. 11], S. 306), 2007 erschienenen Tannhäuser-Edition von Cristina Urchueguía nahe liegen. 14 Man vergleiche etwa die Erscheinung der sog. Arienbücher, die lediglich einzelne Nummern von Libretti in Literaturtextform enthalten.
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A. Übergreifende Problembereiche 1. Darstellungen von zeitlichen Verläufen und Verhältnissen (insbesondere Simultaneität), die in Partiturtexten genauer sind. 2. Abweichende Interpunktion (in Partiturtexten häufig vereinfacht). B. Figurenrede 1. Die Verszeilengliederung, die in den Partiturtexten fehlt (betrifft gesungenen Text in Verslibretti), ein Umstand, der auch zu weiteren orthographischen Varianten führen kann.15 2. Wiederholungen von einzelnen (gesungenen) Textsegmenten, die in Partiturtexten, jedoch oft zumindest nicht in derselben Form in Literaturtexten, vorkommen. 3. Das Singen bzw. Summen auf einzelnen Vokalen, Konsonanten oder Silben in Partiturtexten, das in Literaturtexten oft fehlt. 4. Der in Partiturtexten oft abweichende Wortlaut in einzelnen Chorstimmen. 5. Die Silbentrennung in Partiturtexten (bei gesungenen Textsegmenten), die dort weitaus häufiger anzutreffen ist als in Literaturtexten.16 C. Andere Textteile 1. Die unsichere Grenzziehung zwischen Regiebemerkungen und musikalischen Vortrags-, Tempo- und Dynamikanweisungen in Partiturtexten. 2. Eindeutig zeichensystemübergreifende Varianz, wobei ein Handlungsmoment in einer Regiebemerkung des Literaturtextes durch alphanumerische Zeichen (verbale Sprache), im Partiturtext dagegen durch die grafischen Zeichen der musikalischen Notenschrift ausgedrückt wird. 3. Die unterschiedliche Gestaltung von Sprecherbezeichnungen. Das obige Verzeichnis librettoeditorischer Problembereiche ist mit Reinhard Strohms Einteilung in Textteilsorten zu vergleichen; Strohm verzeichnet als Kategorien „,deskriptive‘ Worttexte“, „präskriptive Texte“ und „vorgetragene, ‚mimetische‘ Texte“ bzw. (in allen drei Fällen) eigentlicher Textteile.17 Der Unterschied zwischen deskriptiven und präskriptiven (Wort-)Texten18 bzw. Textteilen ist meines Erachtens nicht in jedem Fall einfach aufrechtzuerhalten und er ist (aus der Perspektive der obigen Systematik) kein editorischer Problembereich an sich, obwohl dieser Unterschied manchmal auch für die hiesigen Fragestellungen sinnvoll ist. 15
Vgl. Urchueguía 2004 (Anm. 11), S. 305. Die Silbentrennung wird auch in der Editionspraxis bei rein verbalsprachlichen Texten normalerweise als nicht signifikant und als editorisch irrelevant erachtet; vor diesem Hintergrund könnte die Anführung dieser Kategorie in Frage gestellt werden. 17 Reinhard Strohm: Partitur und Libretto. Zur Edition von Operntexten. In: Opernedition. Bericht über das Symposion zum 60. Geburtstag von Sieghart Döhring. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend unter Mitarbeit von Peter Niedermüller und Katja Schmidt-Wistoff. Mainz 2005 (Schriften zur Musikwissenschaft. 12), S. 37–56, hier S. 43. 18 Strohm rechnet auch „die musikalische Notation im großen und ganzen“ der Kategorie präskriptiver Texte zu. 16
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Die folgenden Überlegungen befassen sich hauptsächlich mit vier der oben genannten Kategorien (A1, B2, C1, C2).
Darstellungen von zeitlichen Verläufen und Verhältnissen Zu den übergreifenden Unterschieden zwischen der Partitur und dem Literaturtext gehört, dass die erstgenannte imstande ist, das zeitliche Verhältnis zwischen einzelnen Textteilen – einzelnen Regiebemerkungen wie Repliken (Passagen der Figurenrede) – genauer darzustellen. Eine Voraussetzung dafür ist selbstverständlich die Plurilinearität der musikalischen Notenschrift im Unterschied zur Monolinearität des Literaturtextes. Die zeitliche Exaktheit der Regiebemerkungen und Repliken wird immer nur im Zusammenspiel mit dieser musikalischen Notenschrift möglich, die den zeitlichen Rahmen überhaupt setzt. Partiturtexte können – eben durch die Eigenarten der plurilinearen Notenschrift und das Zusammenspiel der beiden Zeichensysteme verbale Schriftsprache (oder eigentlicher: Sprachschrift) und musikalische Notenschrift – die Simultaneität von mehreren Repliken unproblematisch darstellen. In den normalerweise monolinearen Literaturtexten werden bei solchen Textstellen bekanntlich oft die Schweifklammer und andere ähnliche zusammenbindende Zeichen angewandt; auch das Aufstellen von simultan gesungenen Texten in zwei parallelen Spalten kommt zur Veranschaulichung von Simultaneität vor. Aber im Vergleich zum Partiturtext greift jede solche Parallelstellung zweifellos zu kurz. Die Parallelität ist in Partiturtexten naturgemäß wesentlich präziser, und sie kann Silbe für Silbe verfolgt werden. Die größere zeitliche Exaktheit betrifft also nicht nur Repliken, sondern auch Regiebemerkungen. Egon Voss führt zur Verdeutlichung der diesbezüglichen Unterschiede zwischen Literaturtext und Partiturtext im Falle der Wagner’schen Walküre eine Regiebemerkung aus der Partitur an, die, wie Voss zu Recht festhält, „nur sinnvoll in der Verbindung mit der zugehörigen Stelle in der Musik“19 ist. „Hier bricht die lichte Flackerlohe aus“, lautet die betreffende Regiebemerkung in der Partitur.20 Kon stitutiv für diese Regiebemerkung ist einerseits eine deiktische Bezugnahme auf eine bestimmte Stelle in der musikalischen Notenschrift, andererseits die räumliche Nähe zwischen der Regiebemerkung und dieser Stelle. In einem Literaturtext sind ähnliche
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Voss 1997 (Anm. 12), S. 126. In der Gesamtausgabe der Werke Wagners zu finden in Richard Wagner: Sämtliche Werke. Bd 11. Der Ring des Nibelungen: ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Erster Tag: Die Walküre: WWV 86 B: Dritter Aufzug und kritischer Bericht. Herausgegeben von Christa Jost. Mainz 2005, S. 267. Es handelt sich dabei um eine Kombination von mehreren Regiebemerkungen und anderen Elementen (zu vermerken ist nicht zuletzt die zeitlich genaue Markierung der drei Stöße Wotans mit seinem Speer auf einen Stein, vgl. ebd., S. 265f.), die zusammen einer Regiebemerkung im veröffentlichten Literaturtext Wagners entsprechen: „Bei der letzten Anrufung schlägt er [Wotan] mit der Spitze des Speeres dreimal auf den Stein, worauf diesem ein Feuerstrahl entfährt, der schnell zu einem Flammenmeere anschwillt, dem WOTAN mit einem Winke seiner Speerspitze den Umkreis des Felsens als Strömung zuweist.“ Zit. nach Wagner 1997 (Anm. 12), S. 108.
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Fälle, wo eine verbalsprachliche Formulierung mit lokaler oder auch temporaler Deixis („hier“, „jetzt“, „nun“ und so weiter) zusammen mit räumlicher Nähe eine Verbindung zwischen verbalsprachlichem Partiturtext und musikalischer Notenschrift herstellt, selbstverständlich nicht möglich. Wenn man ein „hier“, „jetzt“ oder „nun“ in einem Literaturtext vorfindet, beziehen sich jene deiktischen Ausdrücke zwangsläufig auf ihren unmittelbaren verbalen Kontext, Repliken oder Elemente von Regiebemerkungen. Eine Exaktheit wie die in Partiturtexten durch die Bezugnahme auf die musikalische Notenschrift ist dagegen nie gewährleistet, und deiktische Ausdrücke wie die genannten haben daher in Partiturtexten eine konkretere Bedeutung als in Literaturtexten. Zeichensystemübergreifende Bezugnahmen dieser Art müssen allerdings nicht unbedingt mit verbalsprachlicher Deixis arbeiten. Sie werden auch – und dies kommt in Partiturtexten wesentlich häufiger vor – durch die räumliche Nähe allein ermöglicht, indem eine Regiebemerkung genau wie die für Gesang vorgesehenen Repliken in die musikalische Notenschrift integriert wird.21 Die präzise Platzierung des Beginns einer Regiebemerkung markiert im Allgemeinen den Zeitpunkt für das betreffende Handlungsmoment bzw. dessen Beginn, wobei nicht der verbalsprachliche Text, sondern die musikalische Notenschrift den zeitlichen Rahmen dafür setzt. Der Bezug auf präzise Taktteile oder Einsätze gewisser Instrumente kann eventuell noch mit Strichen oder Pfeilen verstärkt werden. In Literaturtexten ist Ähnliches durch die Platzierung von Regiebemerkungen im Verhältnis zu Repliken und anderen Regiebemerkungen, etwa durch Zeilenumbruch und besondere Formen von Gruppierungen möglich, aber auch solche Formen räumlicher Nähe bzw. Distanz gewährleisten nicht die in Partiturtexten hervorgebrachte zeitliche Exaktheit. In Stefan Zweigs Libretto Die schweigsame Frau – und zwar sowohl im gedruckten Textbuch als auch in einer frühen Handschrift Zweigs22 – wird der Eintritt der Operntruppe Vanuzzi bei Morosus in einem einzigen Textblock, innerhalb einer einzigen Klammer dargestellt. Der letzte Teil dieser Regiebemerkung zu den Mitgliedern der
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Bei allen Unterschieden zwischen den betreffenden Zeichensystemen ist bei diesen zeichensystemübergreifenden Bezugnahmen eine Parallele zum Verhältnis Text-Bild und zur Theoriebildung auf dem Gebiet zu ziehen; Roland Barthes sprach in einem wichtigen Vorgängerartikel von ähnlichen Erscheinungen als „relais“; Roland Barthes: Rhétorique de l’image. In: Communications 4, 1964, S. 40–51, hier S. 45. Hartmut Stöckl expliziert Barthes’ Kategorie auf Deutsch folgendermaßen: sie umfasse „die Fälle, bei denen eine reziproke Beziehung zwischen Bild und Text vorliegt in dem Sinn, daß sowohl Bild als auch Text einen eigenen Anteil an der Konstituierung der Gesamtbotschaft haben. Dies ist so zu verstehen, daß der Text bei Auslassung des Bildes an logischer Schärfe und kommunikativem Nachdruck verliert, ja sogar in einigen Fällen unverständlich wird“. Hartmut Stöckl: Der „picture relation type“ – ein praktischer Analysemodus zur Beschreibung der vielfältigen Einbettungs- und Verknüpfungsbeziehungen von Bild und Text. In: Papiere zur Linguistik 46, 1992, H. 1, S. 49–61, hier S. 56. 22 [Stefan Zweig:] Die schweigsame Frau. Eine heitere Oper (nach einem Motiv von Ben Jonson) für Richard Strauss, I. Akt, S. 14. Eingesehen als Farbdigitalisat im Österreichischen Theatermuseum, Wien, Signatur des Originals: VM 475 Zw. Das Titelblatt enthält ferner die eigenhändige Datierung „begonnen September 1932 | beendet 17. Januar 1933“.
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Truppe lautet: „Sie treten gravitätisch ein, die Frauen machen devote Kratzfüße.“23 Im Klavierauszug wird diese Formulierung dagegen aufgebrochen; „Sie treten gravitätisch ein“ gehört noch zur längeren, zusammengehaltenen Regiebemerkung, während der darauffolgende Teil „die Frauen machen devote Kratzfüße“ hier in einer eigenen, gesonderten Klammer einige Takte später auftaucht.24 Die Aufspaltung der Regiebemerkung in den Partiturtexten ist in editionstheoretischer Hinsicht ebenfalls eine Abweichung, eine Variante, und ein Variantenverzeichnis zu Zweigs Libretto müsste sie verzeichnen.
Wiederholungen Bei der Kategorie der Wiederholungen ist zuerst zu fragen, inwieweit es eigentlich die semiotischen Unterschiede zwischen Literaturtext und Partiturtext sind, aus denen sich diese Varianten ergeben. Ähnliche Zweifel gelten auch für A2, die Interpunktion.25 Bei den meisten anderen Punkten, unter anderen den oben und weiter unten besprochenen, treten die diesbezüglichen grundlegenden Unterschiede zwischen den Erscheinungsformen wesentlich direkter hervor. Die semiotischen Unterschiede spielen insofern indirekt eine Rolle, als im Literaturtext, sofern es sich um Verslibretti handelt, durch die Verszeilengliederung generell ein stärkerer Nachdruck auf die Versstruktur gelegt wird, aus der die metrischen Grundlagen der Librettodichtung hervorgehen. Insofern liegt eine Verbindung zwischen dieser Kategorie B2 (und potentiell auch B3 und B4) mit B1, der in Partiturtexten fehlenden Verszeilengliederung, vor. Auf Wiederholungen von Textsegmenten in der als Gesang gekennzeichneten Figurenrede wird in zahlreichen literatur- wie musikwissenschaftlichen Librettoeditionen verzichtet. In vielen, älteren wie neueren Editionen sucht man vergeblich nach einer Begründung dieser editorischen Entscheidung. Andere geben wiederum Gründe an, wie etwa Albrecht Bergold in der Mörike-Ausgabe in Bezug auf Die Regenbrüder, vertont von Ignaz Lachner: „[…] nicht berücksichtigt wurden die wegen der Komposition notwendigen Wiederholungen von einzelnen oder mehreren Wörtern bzw. ganzen Textteilen“.26 23
Stefan Zweig: Die schweigsame Frau. Komische Oper in drei Aufzügen frei nach Ben Jonson von Stefan Zweig. Musik von Richard Strauss. Op. 80. [Textbuch] Berlin 1935, S. 21. 24 Richard Strauss: Die schweigsame Frau. Komische Oper in drei Aufzügen. Frei nach Ben Jonson von Stefan Zweig. Musik von Richard Strauss. Opus 80. Klavierauszug mit Text von Felix Wolfes. Berlin 1935, S. 74. 25 Zum Problem der Interpunktion, und dass auch diese (zumindest bei gesungenem Text) von der jeweils aktuellen Erscheinungsform abhängig ist, vgl. Manfred Hermann Schmid: Worte im Zeichen von Musik. In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 2), S. 11–21, hier S. 17–21. Schmid belegt anhand seines Interpunktionsbeispiels aus Don Giovanni den Standpunkt, dass „gleicher Text in wechselndem Zusammenhang unterschiedlich dargeboten werden muß“ (ebd., S. 21). 26 Albrecht Bergold: Lesarten. In: Eduard Mörike: Werke und Briefe. Bd. 7: Idylle vom Bodensee. Dramatische Schriften. Vermischte Schriften. Hrsg. von Albrecht Bergold. Stuttgart 2008, S. 484–491, hier S. 485 (im Original kursiv).
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Wegen der Komposition notwendig bzw. durch sie bedingt sind jedoch zweifellos auch andere Varianten, die sehr wohl verzeichnet werden; Rhythmus, Taktart und gesangliche Phrasierung beeinflussen auch Wortstellungen und Formulierungen weit über die Wiederholungen hinaus. Außerdem können Wiederholungen auch in Literaturtexten, sowohl in Kompositionsvorlagen als auch in durch die Vertonung beeinflussten späteren Fassungen, markiert sein, etwa durch besondere Zeichen oder durch Abkürzungen wie „usw.“ oder „etc.“. Darüber hinaus folgt das Verhältnis zwischen Partiturtexten und Literaturtexten nicht immer dem angegebenen Muster. In Hugo von Hofmannsthals Ariadne auf Naxos, in der Fassung des Edierten Textes der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, tritt folgende Textpassage auf: Als ein Gott kam jeder gegangen, Jeder wandelte mich um, Küßte er mir Mund und Wangen, Hingegeben war ich stumm! Hingegeben war ich stumm! Hingegeben war ich stumm! Kam der neue Gott gegangen, Hingegeben war ich stumm!27
Auch in der Kompositionsvorlage und im Erstdruck findet sich der Satz „hingegeben war ich stumm!“ dreimal unmittelbar aufeinander.28 In den veröffentlichten Partiturtexten von Richard Strauss dagegen (mit eigenen Wiederholungen) kommt dieser Satz von Zerbinetta nirgends dreimal nacheinander vor.29 In diesem Fall liegt also in den Literaturtexten eine Wiederholung vor, die in den Partiturtexten in dieser Form fehlt. Die Varianz ist sicher musikalischen Gründen zuzuschreiben; sie dürfte aber nichtsdestotrotz librettoeditorisch relevant sein. Das Gleiche betrifft auch Fälle, in denen ein Partiturtext von im Literaturtext gekennzeichneten Wiederholungen abweicht, und umgekehrt selbstverständlich auch die wesentlich häufiger vorkommenden Fälle, in denen in einem Partiturtext vorzufindende Wiederholungen ohne Entsprechungen im Literaturtext sind.
27
Hugo von Hofmannsthal: Ariadne auf Naxos: Oper in einem Aufzuge nebst einem Vorspiel. Neue Bearbeitung. In: Ders.: Sämtliche Werke. XXIV. Operndichtungen 2. Hrsg. von Manfred Hoppe. Frankfurt am Main 1985, S. 7–48, hier S. 33. 28 [Manfred Hoppe:] Varianten und Erläuterungen. Ariadne auf Naxos. In: Hofmannsthal 1985 (Anm. 27), S. 57–257, hier S. 122. Vgl. auch den Erstdruck des Literaturtextes: Hugo von Hofmannsthal: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauss. Zu spielen nach dem Bürger als Edelmann des Molière. Berlin, Paris 1912, S. 128f. 29 Vgl. Richard Strauss: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge nebst Vorspiel von Hugo von Hofmannsthal. Opera in One Act with a Prologue by Hugo von Hofmannsthal. Op. 60 (II). Studien-Partitur / Study Score. Wien 1996, S. 169–174. Vgl. auch eine gedruckte Quelle der ersten veröffentlichten Fassung: Richard Strauss: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauss. Op. 60. Zu spielen nach dem Bürger als Edelmann des Molière. Vollständiger Klavier-Auszug zu zwei Händen mit Hinzufügung der Gesangstexte und der szenischen Bemerkungen von Otto Singer. Berlin, Paris 1912, S. 107–115.
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Eine weitere Begründung zur Auslassung von Wiederholungen bei Variantenwiedergaben hat mit dem Maß an inhaltlichem Wert dieser Varianten zu tun; so meint z. B. Solveig Schreiter in ihrer Edition des Freischütz-Librettos, „im Variantenverzeichnis […] alle sinntragenden Abweichungen zwischen Handexemplar und Partitur verzeichnet“30 (meine Hervorhebung) zu haben. In jenem Verzeichnis fehlen die Wiederholungsvarianten, die hier folglich nicht als sinntragend betrachtet werden. Diese Sichtweise ist alles andere als ungewöhnlich.31 Die Wiederholungen können jedoch große inhaltliche Verschiebungen mit sich bringen. Wer Osmins Arie im III. Akt von Stephanies und Mozarts Die Entführung aus dem Serail im gedruckten Textbuch32 und dieselbe Arie in der Partitur Mozarts vergleicht, wird das Wort „schnüren“ im Textbuch lediglich einmal abgedruckt finden, während es in der Partitur nicht minder als 48mal vorkommt.33 Die exzessive Wiederholung dieses Einzelwortes allein wie auch der ganzen betreffenden Verszeile „und die Hälse schnüren zu“ ist ohne Zwei-
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Solveig Schreiter: IV. Quellenbeschreibung. In: Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von Friedrich Kind. Musik von Carl Maria von Weber. Kritische Textbuch-Edition in Zusammenarbeit mit der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe hrsg. von ders. München 2007 (Opernlibretti – kritisch ediert. 1), S. 179–211, hier S. 192. 31 An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es auch Ausnahmen von der geläufigen Praxis gibt: Katharina Hottmann erwähnt im Nachwort ihrer Rosenkavalier-Ausgabe mit einer Partitur als Textgrundlage, dass die Wahl dieser Textgrundlage dazu führe, „die in Opern gängigen Textwiederholungen in EnsemblePassagen abzudrucken“, wodurch aber wegen der wenigen derartigen Fälle im Rosenkavalier „der Lesefluss“ nicht „wesentlich beeinträchtigt“ werde; Hottmann 2008 (Anm. 8), S. 161f. Auch Reinmar Emans befürwortet in seinen Überlegungen zur J. S. Bach-Edition prinzipiell den „zeilengenau[en]“ synoptischen und vollständigen Abdruck von Kompositionsvorlage und vertontem Text und nennt dies „die philologisch korrekte Verfahrensweise, so ungewohnt dann das Texterscheinungsbild auch ausfallen mag“; Reinmar Emans: Probleme der Textedition bei J. S. Bach. In: Der Text im musikalischen Werk 1998 (Anm. 2), S. 87–97, hier S. 95. Ähnlich verfuhr der erste erschienene Band in der OPERA-Ausgabe; vgl. Giambattista Casti, Antonio Salieri: Prima la musica e poi le parole. Divertimento teatrale in un atto/Operetta a quattro voci. Music Edition by Thomas Betzwieser, Text Edition by Adrian La Salvia, Editorial Supervisor Christine Siegert. Kassel 2013 (OPERA. Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historisch-kritische Hybridausgaben. 1). Vgl. Raffaele Viglianti, Joachim Veit: Mind the Gap. A Preliminary Evaluation of Issues in Combining Text and Music Encoding. In: Die Tonkunst 5, 2011, S. 318–325, hier S. 320. Hottmann, Emans und die Editoren der Casti-Salieri-Oper vertreten also einerseits eine Sichtweise, nach der ein Partiturtext von seinem Gesamtkommunikat loszulösen und in der Form eines Literaturtextes als ein eigenständiger Text abzudrucken sei; andererseits aber betrachten sie Wiederholungen als integralen Teil der in Frage kommenden Partiturtextgestalt. Letzteres, dagegen nicht Ersteres, stimmt auch mit den von mir verfochtenen Thesen überein. 32 Die Entführung aus dem Serail. Ein Singspiel in drey Aufzügen, nach Bretznern frey bearbeitet, und für das k.k. Nationalhoftheater eingerichtet. In Musik gesetzt von Herrn Mozart. Aufgeführt im k.k. Nationalhoftheater. Wien 1782, S. 57. Zitiert nach dem Faksimile in: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Faksimile-Ausgabe zur Geschichte des Librettos: Bretzner (Libretto 1781), Mozart (Autograph 1781), Bearbeitung durch Stephanie d.J./Mozart (Libretto 1782). Hrsg. von Gerhard Croll und Ulrich Müller. Anif/Salzburg 1993 (Wort und Musik. Reihe Libretti. 2). 33 Streng genommen – und ich möchte das keinesfalls unterschlagen bzw. unterbewerten – ist das Wort „schnüren“ in Mozarts Partiturautograph nur 34mal ausgeschrieben zu finden; 14mal wird es durch ein „÷“ repräsentiert. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. K. 384. Facsimile of the Autograph Score. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Biblioteka Jagiellońska Kraków (Mus. ms. autogr. W.A. Mozart 384). Los Altos, California 2008, S. 409–432.
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fel sinntragend: Der Schwerpunkt der Arie liegt im Partiturtext damit auf dem Element der physischen Gewalt und nicht mehr wie im Literaturtext auf Rachsucht allgemein. Aus editionstheoretischer Sicht vermögen die Argumente gegen die Aufnahme von Wiederholungen im Gesangstext als Varianten nicht zu überzeugen. Anders steht es wohlgemerkt in editionspraktischer Hinsicht, denn es ist ohne Zweifel eine sehr relevante Frage, wie diese Variantendarstellung im Detail aussehen mag, ohne dass sie gleichzeitig zu einem Abdruck von ganzen Partiturtexten ausufert. Auf diese Frage, sowie auf eine besondere Systematik der Wiederholungen, wird in meiner Monografie ausführlicher eingegangen werden.
Regiebemerkungen und musikalische Anweisungen Regiebemerkungen34 sind in vielen Fällen von verbalsprachlichen musikalischen Anweisungen, insbesondere für den Gesang, schwer zu unterscheiden. Werner Breig führt zum Beispiel an, dass Wagner beide Sorten von Textsegmenten in Partituren zusammen als einen „Gesamtkomplex“ betrachtet haben könnte.35 Soll man hier also überhaupt eine Grenzlinie ziehen? Es liegt intuitiv nahe zu meinen, dass solche Anweisungen, die auch in Partituren rein instrumentaler, nicht szenischer Musikstücke vorkommen, wie Dynamik- und Tempoangaben und auch gewisse Arten von Vortragsanweisungen, geschweige denn Instrumentenangaben und Spielanweisungen für einzelne Instrumente, nicht zum Partiturtext gehören. Bei vielen Komponisten, die deutschsprachige Libretti vertont haben, werden zumindest gewisse standardisierte Anweisungen für den Gesang (um sich vorläufig darauf zu beschränken) in italienischer Sprache wiedergegeben. Der Sprachwechsel wäre also vielleicht ein weiteres mögliches Kriterium. Allerdings können zumindest Tempo- und Vortragsanweisungen sehr wohl in deutscher Sprache formuliert sein. In gedruckten Partituren können gewisse der musikalischen Anweisungen in einer anderen Schriftart erscheinen und dadurch rein visuell von den Regiebemerkungen abgehoben sein; dieser Unterschied ist aber in handschriftlichen Partituren oft nicht auszumachen. Wenn diese Art von Anweisungen ausgeklammert wird, kann der Vergleich zwischen Literaturtext und Partiturtext mitunter problematisch werden. In der Arnold-Schön-
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„Regiebemerkung“ wird hier wie bei Detken als Terminus der Ingarden’schen Prägung „Nebentext“ vorgezogen. Vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (Theatron. 54), S. 7f. Eine Regiebemerkung ist meinem Begriffsverständnis zufolge ein verbalsprachliches Textsegment, das keine Figurenrede darstellt, sondern meist Handlungsmomente nicht verbalsprachlicher Art, auftretende Figuren oder den Ort, an dem sich die Handlung abspielt, beschreibt oder schildert bzw. (auf einer anderen Fiktionsebene) verschiedene Angaben zu einem Bühnenraum und einer implizierten Aufführung enthält (dagegen sind z. B. Sprecherbezeichnungen bei mir als separate Kategorie zu verstehen). Zur sinnvollen Unterscheidung zwischen den dabei in Frage kommenden Erzählperspektiven vgl. den Beitrag von Gerhard Tschauder: Wer „erzählt“ das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 22, 1991, H. 68, S. 50−67. 35 Breig 1998 (Anm. 2), S. 289.
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berg-Ausgabe werden Literaturtext und edierter Partiturtext von Pappenheims und Schönbergs Erwartung einander synoptisch gegenübergestellt, in zwei parallelen Spalten. Die Regiebemerkung „(Leiser)“36 kurz vor dem Ende des Librettos ist ein solches Beispiel. Sie bezieht sich auf die folgende Replik der Frau. In der Spalte für den Partiturtext steht kein einziges Zeichen als Entsprechung für das Wort „(Leiser)“ im Literaturtext: stattdessen eine Leerzeile. Im normalen Fall einer synoptischen Textwiedergabe würde man also damit rechnen, dass diese Regiebemerkung im betreffenden Text einfach fehlt und keine Entsprechung hat. Geht man aber zur edierten Partitur, erweist sich sofort, dass dort eine Entsprechung, sogar eine verbalsprachliche Entsprechung, sehr wohl vorhanden ist: Hier findet sich die Dynamikanweisung „ppp“.37 Aus editionstheoretischer Sicht wäre die Stellung dieser Dynamikanweisung als Entsprechung von „(Leiser)“ im Literaturtext, also als eine Variante, einleuchtend. Ähnlich, hier aber eher mit der Vertonung im Blickpunkt, hat schon Cristina Urchueguía in Bezug auf ihre Librettoedition von Tannhäuser argumentiert: „Daß sich […] dynamische[ ] Angaben auf Regieanweisungen des Wortlauts ‚leise beginnend‘ zurückführen lassen, stellt eine textgenetisch relevante Information dar“.38 Der Eindruck vom Variantenverzeichnis der Schönberg-Ausgabe ist es dagegen, dass die Regiebemerkung „(Leiser)“ im Vergleichsobjekt, der Partitur bzw. dem Text in der Partitur, einfach ersatzlos weggefallen sei. Nun liegt, besonders in einem literaturwissenschaftlichen Kontext, der Einwand nahe, dass diese Dynamikanweisung zwar verbalsprachlich, aber in einer anderen natürlichen Schriftsprache (dem Italienischen) als der eigentliche Partiturtext formuliert ist und als integrativer Teil des Zeichensystems musikalische Notenschrift zu betrachten ist. Dieses Zeichensystem besteht nämlich sowohl aus im engeren Sinne notenschrifteigenen grafischen als auch aus alphanumerischen, verbalsprachlichen Zeichen verschiedener Art39, wozu auch unter anderem konventionalisierte Dynamikanweisungen wie
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[Ullrich Scheideler]: „Textgenese und Textvergleich“. In: Arnold Schönberg: Sämtliche Werke. Unter dem Patronat der Akademie der Künste, Berlin, begründet von Josef Rufer, hrsg. von Rudolph Stephan unter Mitarbeit von Reinhold Brinkmann, Richard Hoffmann, Leonard Stein † und Ivan Vojtěch. Abteilung III: Bühnenwerke. Reihe B, Band 6, Teil 2. Bühnenwerke I. Erwartung op. 17: Kritischer Bericht. Skizzen. Textgenese und Textvergleich. Entstehungs- und Werkgeschichte. Dokumente Und Pippa tanzt! (Fragment). Hrsg. von Ullrich Scheideler. Mainz, Wien 2005, S. 160–184, hier S. 184. 37 Arnold Schönberg: Erwartung. In: Arnold Schönberg: Sämtliche Werke. Unter dem Patronat der Akademie der Künste, Berlin, begründet von Josef Rufer, herausgegeben von Rudolph Stephan unter Mitarbeit von Reinhold Brinkmann, Richard Hoffmann, Leonard Stein und Ivan Vojtěch. Abteilung III: Bühnenwerke. Reihe A, Band 6. Bühnenwerke I. Erwartung (Monodram) op. 17, Die glückliche Hand (Drama mit Musik) op. 18. Hrsg. von Ullrich Scheideler. Mainz, Wien 2000, S. 104. 38 Urchueguía 2004 (Anm. 11), S. 304. 39 In einem der sehr seltenen semiotisch orientierten Beiträge zum Aufbau der musikalischen Notenschrift als eigenes Zeichensystem werden diese beiden Kategorien als „graphisch“ und „phonetisch“ bezeichnet. Vgl. Andrea Lindmayr-Brandl: Notation als Zeichensystem. Ein Ansatz zu einer Semiotik der traditionellen Musikaufzeichnung. In: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993. Hrsg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch. Band 2. Freie Referate. Kassel u. a. 1998, S. 23–27, hier S. 24.
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diese gehören. Die Zugehörigkeit zur musikalischen Notenschrift wird in Drucken auch durch eine besondere, standardisierte und von anderen verbalsprachlichen Elementen abweichende typografische Gestaltung deutlich. Andererseits, ebenfalls in der edierten Partitur zur Erwartung in der Schönberg-Ausgabe, vermögen weder Sprachnoch Schriftartwechsel eine Konstruktion wie „immer gesungen, aber pppp“40 zu verhindern, wo eine italienischsprachige Dynamikanweisung, die an sich dem konventionalisierten Kürzelgebrauch folgt, syntaktisch in eine allgemeinere deutschsprachige Vortragsanweisung integriert wird, deren erster Teil potentiell (wiewohl nicht in diesem spezifischen Fall) auch in einem von einem Librettisten autorisierten Literaturtext auftreten könnte. Die oben problematisierten Verhältnisse im Variantenapparat werden vom Herausgeber Ullrich Scheideler nicht ganz unbeachtet gelassen. In seinem Kommentar wird der Wegfall gewisser Anweisungen im Partiturtext folgendermaßen kommentiert: Bei den Regieanweisungen sind zwischen Text- und Musikquellen abweichende Lesarten etwas häufiger anzutreffen, wobei in [den Quellen] C und F insbesondere einige Anweisungen fehlen. Ob hier ein Versehen oder aber ein bewußter Verzicht vorliegt, läßt sich nicht immer sicher entscheiden. Relativ unproblematisch scheinen solche Anweisungen, die die Zeit (etwa nach einigen Augenblicken) oder Lautstärke bzw. den Vortrag der Frau (etwa Stille oder Leise) betreffen. Schönberg konnte auf die Übernahme solcher Anweisungen in die Partitur verzichten, da sie ja dort auf andere Weise festgelegt wurden. Für einige andere Anweisungen kann hingegen nicht ausgeschlossen werden, daß sie nur versehentlich entfallen sind […].41
Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesem Kommentar ist die implizite Grenzziehung des Vergleichsobjekts, des Partiturtextes. Hier wie auch indirekt im Variantenverzeichnis wird behauptet, dass „einige Anweisungen fehlen“; hier wird aber auch festgehalten, dass einige davon in der Partitur „auf andere Weise festgelegt wurden“. Die eigentlichen editorischen Probleme in Bezug auf die Varianz zwischen Litera turtexten und Partiturtexten werden hier nur andeutungsweise erwähnt. Die Verzeichnung von Varianten wird in diesem Fall durch die Eigenart der Partitur als eines aus mehreren Zeichensystemen bestehenden Gesamtkommunikats nicht betroffen; wenn die Entsprechung von „(Leiser)“ ein „ppp“ ist, verzeichnet die Ausgabe lediglich einen Wegfall ohne Ersatz. Scheideler hat sich in einem gesonderten Aufsatz zu Schönbergs Die glückliche Hand grundsätzlicher zur Problematik der Textvarianten zwischen Textbuch und Partitur geäußert. Er geht dabei nicht direkt auf die prinzipielle Grenzziehung des Partiturtextes, weder allgemein noch gegenüber zum Beispiel Dynamikanweisungen ein, und auch bei der Aufzählung von Variantensorten im Falle Erwartung im Artikel wird
40 41
Schönberg 2000 (Anm. 37), S. 91. [Ullrich Scheideler:] „Textkritische Anmerkungen“. In: Schönberg 2005 (Anm. 36), S. 105–160, hier S. 135.
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diese Frage nicht erwähnt.42 Scheideler führt allerdings andere Beispiele der Varianz zwischen den beiden Quellensorten an, vor allem was das Problemfeld Regiebemerkungen und musikalische Anweisungen betrifft, und stellt zu Recht fest, dass ein „Teil der Differenzen […] im Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Status von Textbuch und Partitur (resp. Klavierauszug)“43 stehe. Während einige verschiedene musikalische Anweisungen noch syntaktisch mit dem Literaturtext zusammenhängen und für ein Variantenverzeichnis in Frage kommen könnten, betrifft das wohl doch nicht die Instrumentenkürzel (oft so wie die Dynamik anweisungen in italienischer Sprache erscheinend) und präzise Spielanweisungen für Instrumente? Ganz so einfach ist die Frage nicht zu beantworten. In Ausnahmefällen können auch solche Textpassagen für ein Variantenverzeichnis editorisch relevant sein, etwa im Fall von Bühnenmusiken, und auch an einer bestimmten Stelle in der ersten veröffentlichten Fassung von Meschkes und Ligetis Le Grand Macabre von 1978. Eine „Dampfschiffpfeife“ taucht im Studienparticell auf, und zwar mit Spielanweisungen vor und über der zwischen zwei Systemen erscheinenden Notenlinie für dieses Instrument: [vor der Linie] Dampfschiffpfeife (verstimmter Moll-Akkord) [über der Linie] sehr weich einsetzen, sehr gleichmäßig blasen, leise aber dennoch hörbar.44
Im zumindest von Meschke autorisierten Literaturtext zur Uraufführung findet sich tatsächlich eine entsprechende, etwas kürzere Regiebemerkung: „(Dampfschiffpfeife, leise aber dennoch hörbar)“45. Dabei ist die Funktion der Textpassage selbstverständ-
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Vgl. Ullrich Scheideler: Arnold Schönbergs Text zum Drama mit Musik Die glückliche Hand. Probleme der Edition und der Darstellung der Textvarianten. In: Arnold Schönberg in seinen Schriften: Verzeichnis – Fragen – Editorisches. Hrsg. von Hartmut Krones. Wien u. a. 2011, S. 227–238, hier S. 228. 43 Ebd., S. 230. 44 György Ligeti: Le Grand Macabre (1974–1977). Oper in 2 Akten. Studienparticell von Friederich Wanek. Mainz 1978. Bd. I, S. 38. Das von mir eingesehene Exemplar in zwei Bänden (Musik- och teaterbiblioteket, Statens musikverk, Stockholm) ist offensichtlich eine Reproduktion des Wanek’schen Studienparticells (die Plattennummer ist identisch, vgl. ebd., S. 200, Titelblatt bzw. bibliographische Angaben fehlen dagegen ganz) mit eingefügtem maschinenschriftlichen schwedischen Text. Für den betreffenden Textabschnitt, wie für die meisten Spielanweisungen fehlt jedoch die schwedische Übersetzung. Von Seherr-Thoss sieht u. a. in Waneks Studienparticell die „von Ligeti autorisierte Fassung des Librettos“; Peter von Seherr-Thoss: György Ligetis Oper Le Grand Macabre. Erste Fassung. Entstehung und Deutung. Von der Imagination bis zur Realisation einer musikdramatischen Idee. Eisenach 1998 (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. 47), S. 21. 45 György Ligeti: Den stora makabern Le Grand Macabre. Libretto av Michael Meschke och György Ligeti efter Michel de Ghelderodes skådespel La Balade du Grand Macabre. Svensk översättning Michael Meschke. Stockholm 1978, S. 3. Das zweisprachige Textbuch, mit einer Umschlagzeichnung von Aliute Meczies wurde von der Königlichen Oper (damals Kungliga Teatern), Stockholm, offensichtlich im Zusammenhang mit der dortigen Uraufführung, auf die es Hinweise enthält, verbreitet. Die Copyright-
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lich eine völlig andere (dort eine Instrumentenangabe und eine musikalische Spielanweisung, hier eine Regiebemerkung bzw. ein narratives Element). Es handelt sich editorisch betrachtet aber um eine Textpassage, die in etwas unterschiedlicher Form sowohl in einer autorisierten Fassung des Literaturtextes46 als auch in einem autorisierten Partiturtext zu finden ist, und sie gehört deswegen auch in einen Variantenapparat, ganz gewiss im Unterschied zu etlichen anderen Instrumentenbezeichnungen und Spielanweisungen ohne Entsprechungen im Literaturtext.
Eindeutig zeichensystemübergreifende Varianz Bislang war die Rede von verbalsprachlichen Elementen in der Partitur, selbst wenn viele von ihnen auch in sinnvoller Weise der musikalischen Notenschrift als Zeichensystem zuzurechnen wären. Da der Partiturtext gemeinhin als der verbalsprachliche Bestandteil einer Partitur aufgefasst wird, der aber keine sicheren Grenzen aufweist, können Grenzziehungsprobleme in gerade diesen Fällen entstehen. Die grundsätzliche Problematik der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten geht jedoch noch weiter: Auch die grafischen Zeichen der musikalischen Notenschrift können Entsprechungen zu Textpassagen im Literaturtext enthalten, weswegen auch von eindeutig zeichensystemübergreifender Varianz gesprochen werden müsste. Das von Scheideler angeführte Beispiel aus Erwartung, „nach einigen Augenblicken“47, weist darauf hin, dass dieser editorische Problembereich zum Teil eng mit der Frage der Darstellung zeitlicher Verläufe (A1) zusammenhängt; darauf ist er allerdings nicht beschränkt. Werner Breig gibt ein Beispiel für die unterschiedliche Darstellung der besonders interessanten „akustische[n] Phänomene“. Das Beispiel aus Wagners Walküre betrifft eine Formulierung in einer Regiebemerkung des Literaturtextes vom Gewitter48, das „in der Partitur der Orchestereinleitung durch das traditionelle Mittel des Paukenwirbels unmißverständlich ausgedrückt“49 werde, wodurch die Formulierung in der Regiebemerkung in der Partitur redundant geworden und auch entfallen ist.
46
47 48 49
Angabe lautet: „With permission by B. Schott’s Söhne | c [sic] Operan, Stockholm, Sweden 1978“. Sie enthält im Text auch Passagen (mit VI – DE bezeichnet), die bei dieser Aufführung nicht gespielt werden sollten. Der Librettist Michael Meschke hat den Text selbst ins Schwedische übersetzt, was eine direkte Autorisation dieser Textfassung von Seiten ihres Hauptautors bedeutet. Auffallend ist, dass Peter von Seherr-Thoss’ Dissertation, die von einer immensen Materialkenntnis zeugt, dieses Textbuch nicht erwähnt. In späteren Literaturtexten (die immer noch der sog. „ersten Fassung“ der Oper zugerechnet werden) fehlt diese Regiebemerkung, z. B. im gedruckten Textbuch von Schott 1990; vgl. die entsprechende Stelle in György Ligeti: Le Grand Macabre. Oper in zwei Akten. Libretto von Michael Meschke und György Ligeti frei nach Michel de Ghelderodes Schauspiel La Balade du Grand Macabre (1974–77). Mainz u. a. 1990, S. 3. Vgl. Scheideler in Schönberg 2005 (Anm. 36), S. 135. In Wagner 1997 (Anm. 12), S. 7: „starkes Gewitter, im Begriff sich zu legen“. Breig 1998 (Anm. 2), S. 294.
Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten
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Hier soll ein strukturell ähnlicher aber doch etwas andersartiger Fall, bei dem ebenfalls ein im Literaturtext enthaltenes Handlungsmoment im Partiturtext fehlt, dafür aber im Gesamtkommunikat nicht abwesend ist, besprochen werden. Wenn in Karl Mickels Libretto Einstein (1974 als Literaturtext in einem literarischen Verlag erschienen) der „junge Physiker“ beginnt, einen Rhythmus auf den Tisch zu klopfen, steht in einer Regiebemerkung des Literaturtextes ganz ausdrücklich, welche Melodie dies betrifft: „Klopft die Internationale auf den Tisch […]“50. Im in einem Jahr davor erschienenen Klavierauszug von Paul Dessaus Vertonung lautet die entsprechende Regiebemerkung dagegen lediglich: „(Klopft auf den Tisch)“51; dafür ist der Rhythmus des Klopfens auf einer eigenen Notenlinie im Klavierauszug vorhanden. Der Titel wird mit verbalsprachlichen Mitteln, also als Teil der alphanumerischen Zeichensequenz und als Teil des wie auch immer definierten Partiturtextes, gar nicht erwähnt. Das wäre offensichtlich überflüssig, denn der genaue Rhythmus macht die Identität des Lieds auf anderem Wege identifizierbar (schon vor den kurz darauf in beiden Texten folgenden Textfetzen aus der Internationale). In diesem Fall überschreitet die Varianz zwischen Literaturtext und Partiturtext also eindeutig die Grenze zwischen verbaler Sprache (alphanumerischen Zeichen) einerseits und eindeutig musikalischer Notenschrift (deren grafischen Zeichen): Die Partitur, dagegen nicht der Partiturtext, enthält hier sinntragende Elemente, die im Literaturtext durchaus Entsprechungen haben.52 Ein Varian-
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Karl Mickel: Einstein. In: Karl Mickel: Einstein/Nausikaa. Die Schrecken des Humanismus in zwei Stücken. Berlin [West] 1974, S. 5–39, hier S. 37. Kursive im Original. Die Variante findet sich in dieser Form auch auf einem Typoskriptblatt, das eine Ergänzung zu einem davor entstandenen, vollständigen Librettotyposkript darstellt, im Paul-Dessau-Archiv, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, 1.74.1027. 51 Paul Dessau: Einstein. Oper in drei Akten, Prolog, zwei Intermezzi und einem Epilog. Libretto von Karl Mickel. 1972. Klavierauszug von Horst Karl Hessel. Berlin [DDR] 1973, S. 266. In der Tat ist dieser Teil des Librettos eine wahre texthistorische Fundgrube. Es handelt sich um einen Teil, der nur in einer der beiden parallel veröffentlichten Fassungen der betreffenden Szene zu finden ist. In dem für westliche Länder vorgesehenen Klavierauszug steht an der Stelle dieses Teils der Handlung ein ganz andersartiges Geschehen. Vgl. Paul Dessau: Oper in drei Akten, Prolog, zwei Intermezzi und einem Epilog. Libretto von Karl Mickel. 1972. Klavierauszug von Horst Karl Hessel. Berlin [DDR], Berlin [West], Wiesbaden 1973 [eingesehenes Exemplar in der Österreichischen Nationalbibliothek, Musiksammlung, Wien], S. 265–275. Mickel hat die damit weitgehend identische Ausgestaltung der Szene in einer späteren Sammelausgabe seiner Dramen als Alternativfassung abdrucken lassen; vgl. Karl Mickel: Einstein. In: Karl Mickel: Volks Entscheid: 7 Stücke. Leipzig 1987, S. 57–90, hier S. 89f. Im reichen Archivmaterial zur Szene im Paul-Dessau-Archiv finden sich noch mehr Alternativen. Zum Hintergrund vgl. Sigrid Neef: Leben und Komponieren im Zeichen Spinozas. Konsequenzen und Grenzen des Dessauschen Operntypus. In: Paul Dessau: Von Geschichte gezeichnet. Symposion Paul Dessau 1994. Hrsg. von Klaus Angermann. Hofheim 1995, S. 132–143, hier S. 138f. 52 Noch einmal ist an Barthes’ „relais“-Begriff zu erinnern, und noch mehr grundsätzlich an Stöckls Ausführungen zur Sprache-Bild-Kombinatorik. Stöckl unterstreicht, „dass jede Modalität“ bzw. jedes Zeichensystem „grundverschieden ist, ihr eigenes Ausdruckspotenzial hat und daher im multimodalen Text“ bzw. in einem Gesamtkommunikat „jeweils spezifische Aufgaben übernimmt“. Hartmut Stöckl: Sprache-Bild-Texte lesen. Bausteine zur Methodik einer Grundkompetenz. In: Bildlinguistik: Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl. Berlin 2011, S. 45–70, hier S. 50. Das Zusammenspiel der beiden Zeichensysteme im oben beschriebenen Klavierauszug ist in diesem Fall ähnlich zu beschreiben.
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tenverzeichnis hätte als korrekte Wiedergabe der Entsprechung des Satzes „Klopft die Internationale auf den Tisch“ also nicht nur die Regiebemerkung „(Klopft auf den Tisch)“, sondern auch eine Passage in einem anderen Zeichensystem anzuführen. Die Auffassung von leicht isolierbaren Partiturtexten ist, wie diese Beispiele deutlich zeigen, problematisch, selbst dann, wenn sie nicht als Textgrundlagen für Literaturtextausgaben, sondern nur als Vergleichsobjekte in Variantenverzeichnissen herangezogen werden. Ein verbalsprachlicher Text, der in musikalischer Notenschrift eingebettet steht, lässt sich von seiner Position in einem Gesamtkommunikat und vom Zusammenspiel mit diesem anderen Zeichensystem nicht ohne weiteres lösen. Die vor allem in der Wagner-Philologie geführten, sehr wesentlichen Diskussionen werden hierdurch vertieft und erweitert; oben sind jedoch lediglich einige Aspekte der Problematik angeschnitten worden.
Theoriebildung zum Zusammenspiel mehrerer Zeichensysteme Die hier dargestellten Erscheinungen haben Implikationen auf mehreren verschiedenen Gebieten, erstens selbstverständlich editionstheoretisch und -praktisch, was unten näher auszuführen ist, zweitens für die Gattungstheorie des Opernlibrettos, drittens aber auch für die allgemeine Theoriebildung für aus mehreren Zeichensystemen bestehende Kommunikate. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Kommunikate, in denen mehrere Zeichensysteme koexistieren, ist in den letzten Jahrzehnten in mehreren Disziplinen deutlich gestiegen. Die Forschungsansätze gründen normaler- und logischerweise in der Semiotik, haben sich jedoch in viele verschiedene Richtungen mit je eigenen Ausgangspunkten und oft je eigener Terminologie entwickelt. In der bisherigen Librettoforschung ist vom Libretto bzw. eigentlich tatsächlich vom Literaturtext als „plurimediale[m]“53 bzw. „impliziert plurimediale[m]“54 Text die Rede gewesen, wodurch das Begriffsfeld Medium/medial aktiviert worden ist. In der Literatur- und Musikwissenschaft dürften auch die mit einem ähnlichen, sehr weiten Medienbegriff operierende Intermedialitätsforschung und daran anschließende Theorien am bekanntesten sein.55 Diese Richtung ist jedoch (wohl wegen ihres literaturwissenschaftlichen Charakters) in einem 2011 erschienenen Band nicht vertreten, in
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Vgl. Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998, S. 5. Gier bezieht sich bei diesem Terminus auf Manfred Pfisters Dramentheorie, vgl. ebd., S. 245, Anm. 12. 54 Vgl. Esbjörn Nyström: Libretto im Progress. Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aus textgeschichtlicher Sicht. Bern u. a. 2005 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 6), S. 116–120. Diese Begriffsdiskussion bezieht sich auch auf Sprechdramen und auf Pfisters Dramentheorie und ist insofern nicht nur eine Modifizierung von Giers Definition. 55 Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen, Basel 2002. Ein späterer Versuch aus diesem theoretischen Spektrum, den Terminus „Medium“ differenzierter zu definieren, findet sich in Lars Elleström: The Modalities of Media: A Model for Understanding Intermedial Relations. In: Media Borders, Multimodality and Intermediality. Hrsg. von dems. Basingstoke 2010, S. 11–48.
Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten
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dem dagegen Wissenschaftler sieben anderer Forschungsrichtungen mitwirken, die alle „sprachliche Performanzen im Zusammenspiel mit anderen Zeichensystemen und Medien“56 untersuchen. Diese Richtungen befinden sich, wie es in der äußerst ergiebigen Einleitung der Herausgeber heißt, „im Umfeld der Linguistik und Mediensemiotik“.57 Die in systematischer Hinsicht wohl am meisten differenzierte und ausgebaute unter den linguistisch und/oder mediensemiotisch orientierten Theorien58 ist die Multimodalitätstheorie.59 Auch von Seiten der Übersetzungswissenschaft60 und der pädagogischen Psychologie61 stammen je eigene Theorieentwürfe, Taxonomien und damit auch Terminologien auf diesem Gebiet. Ein aus zwei oder mehreren koexistierenden, schriftlich/grafisch fixierten Zeichensystemen bestehendes Gesamtkommunikat wie zum Beispiel eine Partitur könnte je nach theoretischer Ausrichtung als eine Medienkombination bzw. als plurimedial/multimedial/polymedial62, als multimodal63, multisemiotisch64 oder multicodal65 bezeichnet werden. Jeder der verschiedenen Termini hängt mit einem eigenen Theoriediskurs zusammen, und sie aus einer germanistischen editionstheoretischen Perspektive genauer auszuwerten, kann an dieser Stelle nicht, dagegen sehr wohl als Teil meiner übergreifenden Theorie der Librettoedition, vorgenommen werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die Aufmerksamkeit aller genannten Richtungen für die Koexistenz mehrerer Zeichensysteme in einem Kommunikat (sowie für das Verhältnis verschiedenartiger Kommunikate zueinander) zweifellos auch für die
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Jan Georg Schneider, Hartmut Stöckl: Medientheorien und Multimodalität: Zur Einführung. In: Medientheorien und Multimodalität: Ein TV-Werbespot – Sieben methodische Beschreibungsansätze. Hrsg. von dens. Köln 2011, S. 10–38, hier S. 12. 57 Ebd., hier S. 14. 58 Unter diesen anderen Theorien ist auch vor allem die Transkriptivitätstheorie Ludwig Jägers einflussreich; vgl. Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Transkribieren. Medien/Lektüre. Hrsg. von dems. und Georg Stanitzek. München 2002, S. 19–42. 59 Grundlegend ist hier Gunther Kress und Theo van Leeuwen: Multimodal Discourse: The Modes and Media of Contemporary Communication. [Reprint] London, New York 2011 [2001]. Bezogen auf die Oper sind Teile der Systematik auf die Unterscheidung zwischen Opernaufführung einerseits als „production media“ und Libretto/Partitur andererseits als „design modes“ von Hutcheon und Hutcheon angewandt worden. Vgl. Michael Hutcheon und Linda Hutcheon: Opera: Forever and Always Multimodal. In: New Perspectives on Narrative and Multimodality. Hrsg. von Ruth Page. New York, London 2010, S. 65–77, hier S. 65. 60 Die am meisten differenzierte Systematik aus diesem Bereich stammt von Mary Snell-Hornby: The Turns of Translation Studies: New Paradigms or Shifting Viewpoints? Amsterdam, Philadelphia 2006, S. 85. 61 Vgl. Bernd Weidenmann: Multimedia, Multicodierung und Multimodalität beim Online-Lernen. In: Online-Lernen: Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Hrsg. von Ludwig J. Issing und Paul Klimsa. München 2009, S. 73–86, hier S. 76. 62 Vgl. Rajewsky 2002 (Anm. 55), S. 15f. und 18–20. 63 Vgl. Kress, Van Leeuwen 2011 (Anm. 59), S. 1–4, Stöckl 2010 (Anm. 4), S. 45 und Schneider, Stöckl 2011 (Anm. 56), S. 14f. 64 Vgl. Snell-Hornby 2006 (Anm. 60), S. 85.: „Multisemiotic texts use different graphic sign systems, verbal and non-verbal (e.g. comics or print advertisements […])“. 65 Vgl. Weidenmann 2009 (Anm. 61), S. 76: „Multicodal seien Angebote, die unterschiedliche Symbolsysteme bzw. Codierungen aufweisen“.
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editionswissenschaftliche Untersuchung und Behandlung von Opernlibretti und deren Darbietungsformen von Belang ist. Nicht zuletzt wird es hierdurch möglich, die gewichtigen Unterschiede zwischen dem grundsätzlich nur aus einem Zeichensystem66 bestehenden Literaturtext und der aus zwei Zeichensystemen bestehenden Partitur näher zu erfassen und mit editionstheoretischen und -praktischen Überlegungen zu verbinden. Gleichzeitig dürfte umgekehrt die editionstheoretische Perspektive auch zum oben skizzierten Feld, und zwar mit nützlichen Differenzierungen und Einsichten, beitragen können.
Editionstheoretische und -praktische Schlussfolgerungen Welche vorläufigen editionstheoretischen und -praktischen Schlussfolgerungen sind nun aus den oben besprochenen Beispielen der Varianz zu ziehen? Wie bereits angedeutet, ist es meiner Meinung nach angebracht, den Partiturtext nicht – und zwar weder theoretisch noch praktisch – als eigenständigen Text zu betrachten. Auf editionstheoretischer Ebene lässt sich zeigen, dass die Annahme einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit von Literaturtext und Partiturtext aufgrund der Unselbstständigkeit des Partiturtextes und des spezifischen Charakters seines Zusammenspiels mit der musikalischen Notenschrift in hohem Maße zu problematisieren, trotz allem aber nicht ganz aufzugeben ist. Die Funktion des Partiturtextes in germanistischer Editionspraxis sollte demgemäß auch nicht die einer ‚vollwertigen‘ Fassung des zu edierenden Librettos sein. Aus der Sicht des germanistischen Editors und aus der Perspektive der Edition des Literaturtextes ist der Partiturtext zwar nicht immer, aber oft ein relevantes Vergleichsobjekt, doch es ist wie erwähnt fraglich, ob ein solcher Partiturtext von seinem Status als Teil eines Gesamtkommunikats wirklich loszulösen ist. Es ist hilfreich, dabei gerade von der bereits angesprochenen Unselbstständigkeit und den mangelnden Abgrenzungsmöglichkeiten beim Partiturtext auszugehen, und ihn eben als ein ausschließliches Vergleichsobjekt zu betrachten. Neben den obligatorischen Elementen, die in jedem Fall relevant sind, ist es also bei anderen Elementen nur die Relevanz im Verhältnis zu erhaltenen Literaturtextfassungen des Librettos, die zu entscheiden hat. Aus meiner Sicht ist die Funktion des Partiturtextes in einer germanistischen Edition eines Librettos normalerweise67 die eines Vergleichsobjekts. Da jede Edition eines Partiturtextes ohne den vollen Kontext mit musikalischer Notenschrift eine kontaminierte bzw. andererseits auch unvollständige Textgestalt herstellt, sollte ihm auch keine andere Funktion zukommen. Es erscheint mir daher folgerichtig, ihn auch editionstheoretisch nicht absolut, sondern relativ oder eher relational abzugrenzen, relational
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Viele der genannten Richtungen würden jede Behauptung eines monomedialen/monomodalen usw. Kommunikats zurückweisen; diese Diskussion kann jedoch hier nicht vertieft werden. 67 Eine hier nicht besprochene, mögliche Ausnahme bildet der Fall fehlender, aber erschlossener, autorisierter Literaturtexte von Libretti, wo ein Partiturtext auch m. E. mit Vorbehalt als Ersatz oder Stellvertreter dienen könnte. Auf diesen Fall wird in meiner Monografie eingegangen.
Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten
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im Verhältnis zu den autorisierten Literaturtexten. Zu diesem „Partiturtext“ als ausschließlichem Vergleichsobjekt gehören also in jedem Fall – die gesamte Figurenrede, das heißt der dialogische Text samt Repliken einschließlich Wiederholungen, Vokalisen und ähnlicher Erscheinungen, – die Sprecherbezeichnungen, wobei hier Probleme der partiturtexteigenen Gestaltung von diesen gelöst werden müssen, – die Regiebemerkungen und gewisse musikalische Anweisungen, das heißt solche Bemerkungen, die entweder eine Entsprechung im Literaturtext haben oder die sich mit anderen Bemerkungen systematisch oder syntaktisch verbinden lassen oder die sich eindeutig auf nicht-musikalische Vorgänge beziehen. – In Ausnahmefällen sind auch zum Beispiel Instrumentenbezeichnungen oder manchmal sogar – ganz jenseits des Verbalsprachlichen – Ausschnitte des Notentextes, wenn darin eine direkte Entsprechung einer verbalsprachlichen Passage im Literaturtext (vor allem bei Regiebemerkungen) verlagert ist, zu verzeichnen.68 Eine vergleichende Variantendarbietung zwischen den zwei Erscheinungsformen einer librettistischen Dichtung ist also möglich als Teil einer germanistischen Librettoedi tion, aber eine editorische Praxis, die sich an dem oben skizzierten theoretischen Entwurf orientiert, wird in höherem Maße als heute die jeweilige semiotische Spezifizität von Partitur(text) und Literaturtext beachten müssen.
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Im Unterschied etwa zur Wagner-Ausgabe kann im Variantenapparat einer germanistischen Edition, wie angedeutet, nicht auf irgendwelche edierten Partituren hingewiesen werden. Das hat den heuristischen Vorteil, dass mit dem Literaturtext als alleinigem Ausgangspunkt über die Art einer eventuellen Entsprechung näher reflektiert werden muss.
Christine Siegert
Die Integration von TEI in MEI Zu Codierungsmöglichkeiten italienischer Operntexte
Als Grundlage digitaler Editionen ist die Codierung der Inhalte in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus der Editionsphilologie gerückt. Hinsichtlich der Textedition steht dafür der Standard der Text Encoding Initiative, kurz TEI, zur Verfügung, für die Musikedition hat sich inzwischen die an die TEI angelehnte Auszeichnungssprache MEI, die Music Encoding Initiative, etabliert.1 Wenn man davon ausgeht, dass eine Opernedition idealerweise eine Notenedition und eine Librettoedition umfasst – wie diese im Einzelfall auch immer aussehen mögen –, wären auf den ersten Blick das Libretto in TEI und die Noten in MEI zu codieren. Text und Musik wären getrennt und könnten allenfalls durch ein gegenseitiges Verweissystem, gleichsam als vermittelndes Drittes, verbunden werden. Ein solches Editionskonzept ist dem Konzept einer traditionellen gedruckten Edition allerdings noch recht ähnlich, wie am Beispiel des Beginns von Antonio Salieris Metamelodramma Prima la musica e poi le parole2 gezeigt werden kann (vgl. Abb. 1). Der Text müsste doppelt codiert werden: einmal als Librettotext in TEI und einmal als Textunterlegung für die Noten in MEI. Abgesehen von dem zusätzlichen Aufwand, der damit verbunden wäre, würde eine solche Codierung die neuen Möglichkeiten, die sich bei einer digitalen Edition gegenüber der gedruckten Edition ergeben, nicht ansatzweise berücksichtigen. Sie würde der Tatsache, dass der Librettotext mit dem unterlegten Text weitgehend übereinstimmt, nicht Rechnung tragen und so dem Grundsatz, dass eine Edition die edierten Sachverhalte möglichst sinnfällig wiedergeben sollte, widersprechen. Wollte man hingegen die neuen Möglichkeiten berücksichtigen und dem Sachverhalt der Doppelexistenz des Textes näher kommen, müsste die Codierung des Notentextes also auf die Codierung des Librettos zurückgreifen können. Ich möchte zunächst einige Überlegungen darüber anstellen, welchen Voraussetzungen eine solche Codierung allgemein genügen müsste. In einem zweiten Schritt möchte
1
Vgl. http://www.tei-c.org (2.7.2016) sowie http://music-encoding.org/ (2.7.2016). Seit der Tagung 2012 haben sich sowohl TEI als auch insbesondere MEI entscheidend weiterentwickelt. Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags und auch der Lösungsansatz scheinen dennoch nicht gänzlich überholt. 2 Giambattista Casti, Antonio Salieri: Prima la musica e poi le parole. Divertimento teatrale in un atto/ Operetta a quattro voci. Music Edition by Thomas Betzwieser, Text Edition by Adrian La Salvia, Editorial Supervisor Christine Siegert. Kassel 2013 (OPERA. Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historisch-kritische Hybridausgaben. 1).
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Christine Siegert
Abb. 1
ich metrische Besonderheiten des Italienischen diskutieren und in einem dritten Schritt auf Konsequenzen eingehen, die sich aus der Netzstruktur, die Opern im 18. Jahrhundert ausbildeten, ergeben könnten.
1. Voraussetzungen für eine Integration von TEI in MEI Wie eine Integration von TEI und MEI gelingen kann, haben zuerst Raffaele Viglianti und Joachim Veit diskutiert,3 wobei ihr Fokus – anders als der meine – auf die Integration von MEI in TEI gerichtet war, was zum Beispiel die Codierung von Notenbeispielen innerhalb einer Textedition ermöglicht. Darüber hinaus haben sie erste Vorschläge zum komplementären Fall, der Integration von TEI in MEI zur Diskussion gestellt.4 Ihren Vorschlag exemplifizieren sie an einer Szene aus Carl Maria von Webers Der Freischütz, in der der Text „constitutes an additional witness to the libretto“.5 Dabei soll jede Passage innerhalb der Partitur mit der Codierungssprache ausgezeichnet werden, die typischerweise für solche Passagen verwendet wird: Vertonte Passagen mit MEI, reine Textpassagen mit TEI. Dass es auch in ihrer Konzeption Textpassagen innerhalb
3
Raffaele Viglianti, Joachim Veit: Mind the Gap. A Preliminary Evaluation of Issues in Combining Text and Music Encoding. In: Die Tonkunst 5, 2011, S. 318–325. 4 Vgl. ebd., S. 323–325. 5 Ebd., S. 323.
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Die Integration von TEI in MEI
der Partitur gibt, die mit TEI codiert werden sollen, ermutigt, in dieser Richtung weiterzudenken. Im Folgenden geht es nicht in erster Linie um die technische Realisierung, sondern darum, wie aus der Sicht einer Editorin, die sich schwerpunktmäßig mit der Oper um 1800 beschäftigt, eine solche Codierung aussehen könnte. Die Codierung mit MEI konzentriert sich in dem obigen Beispiel ganz auf die Singstimme des „Maestro“. Seine Stimme ist System (staff) Nr. 9. Die Textunterlegung wird durch das Element „syllable“ vorgenommen, das ein Kindelement zur Note ist. Besteht ein Wort aus mehreren Silben, kann man angeben, ob es sich um die Anfangssilbe (wordpos=“i“), eine mittlere Silbe (wordpos=“m“) oder die Endsilbe (wordpos=“t“) handelt. Danach bemisst sich im Rendering das Setzen von entsprechenden Trenn strichen zwischen den Silben.6 Wenn man in der MEI-Codierung auf die TEI-Codierung zurückgreifen möchte, muss diese also ganz bestimmten Kriterien gehorchen: Es reicht nicht, wie bei der traditionellen Librettocodierung, einzelne Verse (lines) auszuzeichnen. Stattdessen müssen die Silben einzeln codiert werden, damit sie den Noten individuell zugeordnet werden können (vgl. Abb. 2). Dies kann mit dem sehr flexiblen Segment-Element vorgenommen werden, das auf fast allen Ebenen in TEI stehen und sogar ineinander geschachtelt werden kann. Über das type-Attribut können die Segmente als Silben definiert werden.
Abb. 2
Eine solche Codierung bringt durchaus zusätzlichen Erkenntnisgewinn: Der Vers ist durch seine Unterteilung in sieben Silben sofort als Settenario erkennbar. Dies kann durch das @met-Attribut (met=“7“) expliziert werden. Zudem wird dies hier durch die Verwendung sprechender IDs verdeutlicht: Die erste Silbe im ersten Vers („Si“) ist also als l1s1 (line 1, syllable 1) bezeichnet, die zweite („gnor“) als l1s2 (line 1, syllable 2) usw. Durch diese Art der Codierung geht allerdings eine für die Librettocodierung unverzichtbare Information verloren: die Unterscheidung der einzelnen Wörter, die bei
6
Für das Rendering hat sich in den letzten Jahren das Programm Verovio etabliert. Vgl. http://www. verovio.org (19.12.2016).
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Christine Siegert
der üblichen TEI-Codierung durch Spatien voneinander getrennt sind. Die Ebene der Wörter ist also zwischen die Ebene des Verses und die Ebene der Silben noch einzuziehen (vgl. Abb. 3).
Abb. 3
2. Besonderheiten des Italienischen Eine Besonderheit des Italienischen besteht darin, dass eine Silbe nicht immer der kleinere Bestandteil eines Wortes ist, wie schon der zweite Vers „Voi siete un capo ameno“ zeigt, bei dem „te un“ und „po a“ jeweils zusammengezogen werden und eine einzige Silbe bilden (vgl. Abb. 4). Dieses Problem wurde hier versucht, durch die Einführung eines neuen Segment-Typs zu lösen: die Teilsilbe, der „syllable part“, den man
Abb. 4
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Die Integration von TEI in MEI
durch die Einführung eines Untertyps: „initial“ oder „terminal“, ähnlich wie bei der wordposition in MEI genauer definieren kann. Die Teilsilben habe ich in den IDs mit Kleinbuchstaben a oder b unterschieden. Eine solche Codierung auf der Basis des Segment-Elements ermöglicht innerhalb der hierarchischen Struktur der Codierung eine Verschränkung von Wort-Elementen und Silben, wie sie die italienische Sprache erfordert. Ebenso kann man verfahren, wenn Wörter durch Apostrophe verkürzt werden, wie zu Beginn des dritten Verses „l’affar“ (Abb. 5).
Abb. 5
Darüber hinaus gibt es einen weiteren Unterschied dieser Codierung zu der originalen TEI-Auszeichnung: Die Versanfänge sind – im Hinblick auf die Textunterlegung in MEI – klein geschrieben. Beim Rendering der Textedition wäre also zu beachten, dass jeder Vers mit einem Großbuchstaben beginnen muss. Da auch einzelne Verse auf verschiedene Rollen aufgeteilt sein können, wäre ggf. das line-Element ebenso wie die Silben zu unterteilen. Wenn eine in MEI codierte Notenedition in dieser Weise auf die TEI-Librettocodierung zurückgreifen würde, hätte dies noch mindestens einen weiteren entscheidenden Vorteil: die unmittelbare Unterscheidung zwischen Text, der sowohl der Text- wie auch der Musikedition zugehört, und Text, bei dem dies nicht der Fall ist. Das heißt, dass Text, der im Libretto nicht vorhanden ist, wie im Fall der sogenannten Quäker-Szene in Prima la musica, neu codiert werden müsste, und zwar innerhalb der MEI-Edition. Auf der anderen Seite wäre bei Dialogopern zwischen dem Text der Nummern, der für die Textunterlegung der MEI-Codierung verwendet wird, und dem Text der Dialoge, der nicht für die Textunterlegung herangezogen werden könnte, klar unterschieden. Dies betrifft insbesondere die französische Opéra comique und das deutsche Singspiel. Umso stärker würde sich dies bemerkbar machen, wenn man auch Übersetzungen mit einbezieht, mit denen eine Gattungstransformation einhergeht, also zum Beispiel deut-
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Christine Siegert
sche Übersetzungen von Opere buffe. An einige Stellen, an denen der italienische Text zur Textunterlegung dient, würde bei der deutschen Übersetzung der Dialog treten.
3. Die Bedeutung des Textes für die Netzstruktur der Gattung Der Text von Prima la musica weist, wie viele andere Operntexte, über sich selbst hinaus, und zwar durch die verschiedenen Typen von Zitaten, die diese Oper ganz entscheidend prägen. Die wichtigsten Zitate in Prima la musica betreffen bekanntlich den Notentext: Sie stammen aus der von Salieri verantworteten Wiener Fassung von Giuseppe Sartis Giulio Sabino. Hier wäre also innerhalb der MEI-codierten Edition nach Lösungen zu suchen, wie diese Beziehungen umgesetzt werden können, was mithilfe einer modularen Edition geschehen könnte.7 Nur auf der textlichen Ebene spielt sich indes das Zitat „Non possono tanto / due luci vezzose“ ab, ein Arientext, der aus Pietro Metastasios Dramma per musica Alessandro nell’Indie stammt. Es hat in Prima la musica die folgende Funktion: Der „Maestro“, der Komponist, hat innerhalb der Opernrealität diesen Arientext vor mehreren Jahren vertont; der Text will aber in den neuen Zusammenhang nicht passen. Deshalb suchen er und der „Poeta“, der Theaterdichter, nach einem Text des Poeta, der inhaltlich passt und gleichzeitig die strukturellen Vorgaben des Metastasio-Textes erfüllt. Dies ist nicht so einfach. Schließlich findet sich ein solcher Text, der zwar aus den geforderten Senari besteht, aber die strukturelle Besonderheit von Metastasios Arientext weist er nicht auf: die ungleiche Versverteilung von sechs Versen in der ersten Strophe gegenüber vier Versen in der zweiten Strophe. In der ersten Strophe des Textes des Poeta müssen entsprechend zwei Verse interpoliert werden. Das Zitat lässt sich selbstverständlich als Zitat codieren; mit allen notwendigen Angaben zur Herkunft. Diese könnten – in MEI wie in TEI – insbesondere über den Header definiert werden, und hier wäre der Verweis über eine Werk-ID, wie sie die Gemeinsame Normdatei GND bereitstellt, von großem Vorteil, weil sie in diesem Fall ein Text-Werk unabhängig von seinen Quellen eindeutig bestimmen würde. Eine Quellen-ID, wie sie beispielsweise RISM für Notenquellen bereitstellt, würde nicht helfen, denn Salieri zitiert keine bestimmte Metastasio-Quelle, sondern Metastasios im 18. Jahrhundert allgemein bekannten und vielfach vertonten Text. Übrigens verhält es sich bei den musikalischen Zitaten ebenso – auch hier zitiert Salieri keine identifizierbare Quelle, sondern die Oper, wie sie in Wien auf die Bühne gekommen war. Über die Möglichkeit der Identifizierung des zitierten Werks mittels einer ID hinaus würde der intertextuelle Bezug, den ein Zitat etabliert, in einer Codierung noch sprechender wiedergegeben, wenn die Codierung an dieser Stelle auf eine bereits vorhandene Codierung von Metastasios Dramma per musica zurückgreifen könnte.
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Ein Beispiel für eine solche modulare Edition ist die an der Universität der Künste Berlin entstehende Sarti-Edition, die man auf die Edition eines Netzes aus mehreren Opern ausweiten könnte. Salieris Prima la musica wäre dann beispielsweise mit Sartis Giulio Sabino zu verknüpfen.
Die Integration von TEI in MEI
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Für das kurze Metastasio-Zitat in Prima la musica mag das vielleicht noch erklärungsbedürftig sein. Doch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass Opern im späten 18. Jahrhundert mannigfache Beziehungen untereinander aufwiesen, leuchtet die Idee vielleicht eher ein. Diese Beziehungen sind je nach Gattung tendenziell unterschiedlicher Art. Insbesondere die Opere buffe bildeten ein Repertoire aus und wurden dabei stetig verändert, beispielsweise durch den Austausch von Arien, wobei die neuen Arien häufig aus anderen Opern stammten. Ein vorläufiges Netz aus 154 Stücken, bei denen sich musikalische Übereinstimmungen einzelner Nummern nachweisen lassen, konnte an anderer Stelle etabliert werden.8 Dieses keinesfalls vollständige Netz setzt sich aus Opere buffe, Opere serie, Singspielen sowie mehreren Opéras comiques, Opere semiserie, englischen Opern, romantischen Opern und Grands Opéras, Messen und Oratorien und auch einigen Instrumentalstücken zusammen. Häufig wurde gemeinsam mit der Musik auch der Text einer Nummer übernommen, oft ist dies jedoch nicht oder nur teilweise der Fall. Dass mehrere Komponisten denselben Text vertonten, kommt ebenfalls, aber sehr viel seltener vor, beispielsweise im Fall von Mozarts La finta giardiniera, deren Text im Jahr zuvor Pasquale Anfossi vertont hatte, oder im Fall von Joseph Haydn, der in seine Oper La vera costanza nicht nur den Text aus Anfossis gleichnamiger Oper übernahm, sondern auch eine Arie.9 Haydns La fedeltà premiata greift auf Domenico Cimarosas L’infedeltà fedele zurück; der Text wurde an die Gegebenheiten des Esterházy’schen Hofs angepasst.10 Bei dem Text zu Giuseppe Sartis Erfolgsoper Fra i due litiganti il terzo gode handelt es sich um eine anonyme Überarbeitung von Carlo Goldonis Libretto zu Guglielmis Le nozze. Demgegenüber waren die Texte der Opere serie, namentlich die Libretti Pietro Metastasios, sehr viel stabiler. Ihre höchst zahlreichen Vertonungen müssen also streng genommen als unterschiedliche musikalische Realisierungen ein und desselben Textes verstanden werden. Dass Metastasios Texte im Laufe dieses Prozesses ebenfalls stark verändert wurden, ist bereits verschiedentlich untersucht worden. Die Veränderungen betrafen die Rezitative ebenso wie die Arien, wobei, soweit ersichtlich, die Rezitative vor allem gekürzt wurden. Bei den musikalischen Nummern gab es verschiedene Möglichkeiten: Zunächst konnten einzelne Nummern wegfallen oder hinzugefügt werden. Die Arie „Se possono tanto due luci vezzose“ ist beispielsweise in den Vertonungen von Alessandro nell’Indie durch Johann Christian Bach, Ferdinando Bertoni, Baldassare Galuppi, Johann Adolf Hasse, Ignaz Holzbauer, Niccolò Jommelli und Giuseppe Sarti enthalten, in anderen hingegen nicht. Darüber hinaus konnte ein Text verändert oder er konnte ausgetauscht werden, und zwar entweder durch einen neu verfassten 8
Vgl. Christine Siegert, Kristin Herold: Die Gattung als vernetzte Struktur. Überlegungen zur Oper um 1800. In: „Ei, dem alten Herrn zoll’ ich Achtung gern’“. Festschrift für Joachim Veit zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Kristina Richts und Peter Stadler für den Virtuellen Forschungsverbund Edirom. München 2016, S. 671–702. 9 Dies gilt zumindest für die zweite Fassung der Oper; die erste ist verschollen. 10 Vgl. Christine Siegert: Opera buffa als spätabsolutistische Repräsentation. Joseph Haydns Opern für den Esterházy’schen Hof im Kontext. In: Joseph Haydn und Europa vom Absolutismus zur Aufklärung. Hrsg. von Laurine Quetin, Gerold W. Gruber und Albert Gier. Tours 2009 (Musicorum. [7]), S. 79–95.
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Christine Siegert
oder durch einen präexistenten Text. Natürlich hat ein solcher Rückgriff nicht immer die Funktion eines Zitats. Er kann rein praktisch motiviert sein. Doch die intertextuelle Beziehung ergibt sich bereits durch die Wanderung eines Textbausteins. Bezieht man nun die Ebene der Musik wieder mit ein, ergeben sich noch weitere Zusammenhänge: Aus dem Sachverhalt, dass Alessandro nell’Indie – wie die meisten Metastasio-Libretti – im 18. Jahrhundert unzählige Male vertont wurde, ergäben sich für ein Editionsprojekt ganz neue Möglichkeiten. Ausgehend von einer einzigen Codierung des Metastasio-Textes – selbstverständlich mit den aus den verschiedenen Fassungen stammenden Varianten – ließen sich nämlich auch die verschiedenen Vertonungen in Anlehnung an das erwähnte Opernnetz wiederum als Netz visualisieren. Da die Beziehungen zwischen den einzelnen Opern in einer derartigen Darstellung spezifiziert werden können, könnten beide Netze in einem zweiten Schritt zu einem einzigen verbunden werden, wobei die Beziehung zwischen zwei Opern nur auf der musikalischen, nur auf der textlichen oder sowohl auf der textlichen als auch auf der musikalischen Ebene liegen könnte. Die Codierungen, aus denen sich die Netzverbindungen ergeben, müssten dabei je nach Art der Übereinstimmung mit Hilfe der Auszeichnungssprache TEI oder mit MEI vorgenommen werden oder durch die Integration von TEI in MEI. Die Idee, durch Textzeugen rekonstruierbare Netzwerke zur Grundlage einer Edition zu machen, ist nicht neu. Die Weber-Ausgabe praktiziert dies seit einigen Jahren auf vorbildliche Weise im Rahmen ihrer Briefedition.11 Hier sind es tatsächlich die sozialen Netzwerke, die das Vorbild für eine multiperspektivische Herangehensweise bieten. Zu jeder Zeit ist es der Verfasser oder die Verfasserin des Briefes, die im Zentrum stehen. Von ihm oder ihr ausgehend werden Korrespondenzpartnerinnen und -partner verzeichnet, die wiederum an Dritte schreiben. Jeder und jede hat sein bzw. ihr eigenes Netz und ist gleichzeitig Teil des gesamten dokumentierbaren Netzes. Dabei ist zumindest idealiter jeder gleichberechtigt. Bedenkt man schließlich, dass editorische Konzepte immer auch eine gesellschaftspolitische Dimension haben, so könnte sich ein solcher unhierarchischer Zugang vielleicht auch für die Opernedition als für unsere heutige Zeit besonders angemessen erweisen.
11
Vgl. http://weber-gesamtausgabe.de (19.12.2016).
Silvia Bier
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
Beschäftigt man sich mit der Edition musikdramatischer Werke des 17. Jahrhunderts – besonders im Hinblick auf die historisch informierte Aufführungspraxis – steht man bei vielen Werken dem Problem einer lückenhaften Quellenlage gegenüber. Während sich der Mangel an musikalischen und literarischen Quellen mal mehr und mal weniger durch breit angelegte Recherchen kompensieren lässt, so sieht es für das erhaltene Material zur szenischen Aufführung der Werke, insbesondere ikonographische und choreographische Quellen, oft schwieriger aus. Die meisten Editionsprojekte beschäftigen sich nur am Rande mit diesen Aspekten eines Werkes, da aber die Aufführungsund Rezeptionsgeschichte ein immer wichtigerer Teil einer Werkedition wird, richtet sich der Blick auch zunehmend über die Musik und das Libretto hinaus. Unbestritten kommt vor allem dem Tanz in der frühen französischen Oper, der Tragédie en musique, eine weit bedeutendere Rolle zu als in der italienischen Oper dieser Zeit. So wird man bei der Untersuchung – und letztlich auch bei dessen Edition – einer Tragédie en musique Lullys dem Werk nicht gerecht, wenn man Ikonographie und Choreographie außen vor lässt und damit das Problem des Mangels an Quellenmaterial umgeht. Für die französische Oper des 17. Jahrhunderts kann die These aufgestellt werden, dass die ausgewogene Verbindung der verschiedenen Kunstdisziplinen Musik, Poesie, Tanz und Bildende Künste in Form von Dekoration und Bühnenbild ein Charakteristikum der Gattung ist.1 Jean de La Bruyère, Schriftsteller und Gelehrter im Umfeld des Hofes, fasste 1689 diese Eigenschaft der französischen Oper in seinem vielgelesenen Werk Les Caractères treffend zusammen: „Le propre de ce spectacle est de tenir les esprits, les yeux et les oreilles dans un égal enchantement.“2 Die Oper erreichte den Geist durch die Poesie, durch die Tragödie und ihre belehrenden Inhalte, die Ohren durch die Musik und die Augen durch den Tanz, die Kostüme und das Bühnenbild. Das Zusammenwirken der Künste, die Kombination und Potenzierung ihrer jeweils spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten sind essentieller Bestandteil der Gattungskonzeption und
1
Die Thematik der Synthese der Künste in der Tragédie en musique ist Gegenstand des laufenden Dissertationsprojektes der Verfasserin am Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau. Vgl. das Abstract unter http://www.fimt.uni-bayreuth.de/de/research/Dissertationen/index.html. 2 Jean de La Bruyère: Les caractères de Théophraste, traduits du grec, avec Les caractères ou les mœurs de ce siècle. Paris 16894 , S. 98.
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Silvia Bier
verleihen der französischen Oper ein hohes Maß an Kohärenz und Stimmigkeit: eine ‚Synthese der Künste‘, deren Produkt die Tragédie en musique als ,spectacle total‘ ist. Dass die Idee einer Synthese nicht nur ein mehr oder minder zufälliges Ergebnis einer Musiktheaterproduktion ist, sondern ein gültiges und ausgesprochenes Ziel des ästhetischen Denkens der Zeit, lässt sich bereits anhand vorangehender Theatertraditionen ablesen. In theatertheoretischen Schriften kann die Idee einer synthetischen Verbindung mehrerer Künste mit dem Ziel eines idealen Kunstwerkes bis weit in das Gedankengut der Renaissance zurückverfolgt werden, angefangen bei Antoine Baïf und dessen „musique mésurée“, die eine möglichst enge Verschmelzung von Musik und Poesie beabsichtigte. Weniger bekannt ist, dass Baïf diese Idee auch auf den Tanz ausdehnte und eine Synthese der drei Künste anstrebte.3 Die Gattung des Ballet de cour sah es seit ihrer Entstehung im ausgehenden 16. Jahrhundert als Ideal an, alle Künste in ausgewogener Harmonie zu vereinen, was sich in zahlreichen Traktaten zur Gestaltung der Ballette niederschlägt. Claude François Ménéstrier spricht 1658, gut ein Jahrzehnt vor den ersten Versuchen einer französischen Oper, vom Ballet de cour als einem Kunstwerk, das „l’esprit les oreilles et les yeux“ gleichermaßen anspricht.4 Es ist der besonderen Konstellation der Theatergattungen und der dominanten klassischen Tragödie in Frankreich im 17. Jahrhundert geschuldet, dass erst vergleichsweise spät, nämlich in den 1670er Jahren, das vertonte Drama in Form der Tragédie en musique Aufmerksamkeit erlangte und den Anspruch des alle Künste vereinenden Gesamtkunstwerkes zu erfüllen hatte. Wie bemerkenswert ausdauernd dieses erklärte Ziel die Gestalt und die Rezeption der Theatergattungen bestimmte, zeigt sich an der oben zitierten Bemerkung La Bruyères – fast ein halbes Jahrhundert nach Ménéstrier und mehr als ein Jahrhundert nach Baïf. Das Konzept ist auch das Ergebnis der besonderen Umstände, unter welchen die Gattung der Tragédie en musique geschaffen wurde. Die politische Dimension der Tragédie en musique, ihre Institutionalisierung in einer Akademie und die Monopolstellung Lullys ermöglichten, jährlich ein vom Textbuch bis zu den Kostümen vollkommen neues Werk zu produzieren. Die über lange Zeit gleichbleibende und entsprechend eingespielte Truppe von Künstlern um Lully sowie die Protektion des Königs, verbunden mit entsprechenden finanziellen Mitteln, lieferten konstante Produktionsbedingungen und somit die Voraussetzung, um ein in allen Teilen stimmiges Werk zu schaffen. Eine der Gattung Tragédie en musique angemessene Untersuchung berücksichtigt die theoretischen Vorbedingungen der Gattungsgenese sowie die Zusammenarbeit der Künstler im Entstehungsprozess des Werkes, bis hin zu den Zusammen- und Wechselwirkungen der Künste in der praktischen Umsetzung in Wort, Ton, Bild und Bewegung. Letzteres lässt sich durch eine transdisziplinär angelegte Analyse herausarbeiten. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob das Zusammenwirken aller Elemente bzw. Kunstdisziplinen auch deutungsrelevant ist und somit eine transdisziplinäre Analyse zu
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Vgl. hierzu Mathieu Augé-Chiquet: La vie, les idées et l’œuvre de Jean-Anthoine Baïf. Paris 1909. Claude-François Ménestrier: Remarques pour la conduite des Ballets. Lyon 1658, S. 56.
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
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einem anderen Ergebnis kommt, als eine partielle, beispielsweise nur Musik und Poesie umfassende Analyse. Eine in dieser Weise angelegte Analyse setzt umfangreiches Quellenmaterial aus den unterschiedlichen Disziplinen voraus. Als Modell für die vorliegenden Betrachtungen dient die Tragédie en musique Bellérophon, ein Werk aus der mittleren Schaffenszeit Lullys, das in Paris im Januar 1679 uraufgeführt wurde und ein Jahr später zum ersten Mal am Hof in Saint-Germain-en-Laye zur Aufführung kam. Vergleichsweise wenige Reprisen folgten bis ins späte 18. Jahrhundert.5 Während das Textbuch und auch die Partitur durch Drucke aus dem Jahr der Uraufführung zuverlässig überliefert sind, ist die Anzahl der ikonographischen und choreographischen Quellen zu Bellérophon begrenzt: Siebzehn Bilddokumente, darunter Bühnenbilder (8), Kostüme (3), Requisiten und Maschinerie (6), lassen sich Aufführungen des Werkes bis 1705 zuordnen, dreizehn davon stehen in Zusammenhang mit den ersten beiden Inszenierungen 1679 und 1680 und stammen aus den Ateliers der verantwortlichen Künstler, des Dekorateurs Jean Berain6 und des Bühnenmaschinisten Carlo Vigarani.7 Weit schwieriger ist die Quellenlage jedoch für die Choreographie der Tänze. Der verantwortliche Choreograph war Pierre Beauchamps, der selbst Mitglied der Académie Royale de Danse war und das Schrittrepertoire der ‚belle danse‘, des höfischen Tanzes, in entscheidendem Maße prägte und kodifizierte. Trotzdem ist über die Art und Weise, wie in Lullys Tragédies getanzt wurde, nur wenig konkrete Information erhalten. Das 1700 von Raoul Auger Feuillet publizierte Traktat Chorégraphie8 gibt eine Übersicht der Tanztechnik und des Schrittrepertoires, jedoch wird hier der besagte akademische Tanz abgebildet, wie er im Ballet de cour und im Gesellschaftstanz ausgeübt wurde. Aus mehreren Gründen kann man annehmen, dass in den Tragédies en musique bei Lully teilweise erheblich vom konventionellen Tanz abgewichen wurde zugunsten einer expressiveren, an die dramatische Situation angepassten Darstellung.9 Wahrscheinlich hat Lully, der selbst Tänzer war, in die Arbeit Beauchamps’ eingegriffen und in vielen Fällen freie oder sogar pantomimische Choreographien durchgesetzt. Das zeichnet sich auch an der musikalischen Form ab, die sich nur selten konventionellen Strukturen unterordnet, andererseits musikalisch oft minuziös an den Charakter bzw. die Rolle der tanzenden Figuren angepasst ist. Dieser Aspekt stützt die These der Konzeption als ,spectacle total‘, stellt aber sowohl eine transdisziplinäre Analyse als auch die historische Aufführungsforschung10
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10
Herbert Schneider: Die Rezeption der Opern Lullys im Frankreich des Ancien Regime. Tutzing 1982 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft. 16), S. 352–356. Jérôme de La Gorce: Berain: dessinateur du Roi Soleil. Paris 1986. Jérôme de La Gorce: Carlo Vigarani, intendant des plaisirs de Louis XIV. Paris 2005. Raoul Auger Feuillet: Chorégraphie ou l’art de décrire la dance. Paris 1700. Die bekannteste Quelle hierzu sind die Ausführungen von Jean Laurent Le Cerf de la Viéville de Fresneuse: Comparaison de la musique italienne et de la musique françoise. Seconde Lettre. Brüssel 1705, S. 228. Vgl. hierzu: Anno Mungen: Historische Aufführungsforschung in der Musik: Zu methodologischen Perspektiven der Opernstimme im 19. Jahrhundert. In: Singstimmen – Ästhetik – Vokalprofil. Hrsg.
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Silvia Bier
vor das Problem, die Tänze in den Tragédies nicht allein mit Hilfe des gut überlieferten, akademischen Schrittrepertoires rekonstruieren zu können. Hinzu kommt, dass selbst in Feuillet-Notation erhaltene Tänze nicht oder kaum Auskunft geben über die Bewegungen des Kopfes und des Oberkörpers, wodurch ein nicht zu unterschätzender Teil der Ausdrucksmöglichkeiten eines Tänzers verborgen bleibt. Die in der Geschichtswissenschaft angewandte Methode des Quellencrossings11 kann dazu dienen, diese Lücken in der Quellenbasis wenn nicht zu schließen, so doch zu überbrücken. Im konkreten Fall dient das Livret als Informationsquelle für Ikonographie und Choreographie im Hinblick auf das Werk selbst als auch auf dessen Aufführungspraxis. Im Folgenden soll das Potenzial des Livrets als Quelle für Tanz und Dekor an drei verschiedenen Arten von Informationen im Livret dargestellt werden. Die wichtigste und naheliegendste Informationsquelle sind die Didaskalien, die szenischen Anweisungen. Zu Beginn eines Akts und innerhalb der Szenen geben sie Auskunft über Bühnenbild und -geschehen. Sie beziehen sich häufig – jedoch nicht immer – auf jene Aufführung, anlässlich derer das Livret gedruckt wurde. Die Beschreibung des Bühnendekors, der Kulissen, des Einsatzes der Maschinerie, gelegentlich auch einiger Teile der Kostüme kann einerseits bei der Zuordnung der vorhandenen Bildquellen helfen, andererseits Lücken ergänzen. Ein einfaches Beispiel ist hier die Figur des Apollon. Für sie ist kein Kostümentwurf überliefert, aus der Didaskalie im dritten Akt lässt sich jedoch ableiten, dass sie ganz in Gold gekleidet war. Szenische Abläufe und gestisches Spiel sind häufig sogar nur durch das Livret überliefert, wie beispielsweise die Rückgabe der Waffen an die gefangenen Amazonen und deren Freilassung im ersten Akt. Die für alle Tragédies von Lully problematische Quellensituation für den Tanz lässt sich ansatzweise durch die Didaskalien ausgleichen: Je nach Ausführlichkeit der Angaben wird der Charakter der choreographischen Darstellung näher beschrieben und lässt Rückschlüsse zu Art und Qualität der Bewegungen zu. In einigen Fällen kann das Livret die einzige Quelle sein, die zweifelsfrei Auskunft gibt, ob getanzt wurde und wer tanzte, nämlich dann, wenn allein anhand des Notenmaterials die Tänze nicht eindeutig erkennbar sind: insbesondere bei instrumentalen Zwischenspielen, die keiner spezifischen Tanzform entsprechen, sowie Chören, zu denen gleichzeitig getanzt wurde. Der gesungene Text selbst kann ebenso eindeutig Bezug nehmen auf szenische Vorgänge oder Teile des Bühnendekors. Dann offenbaren sich vor allem aufführungspraktische Probleme, da bestimmte Elemente oder Handlungen durch ihre Erwähnung im
von Anno Mungen, Saskia Woyke, Katrin Losleben und Stephan Mösch. Würzburg 2017 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 28), S. 303–325. 11 Quellencrossing ist die ergänzende Auswertung verschiedener Quellensorten zur Verdichtung und Validierung der Beschreibung. Methode und Begriff tauchen erstmals auf im Umfeld der Historischen Netzwerkforschung; vgl. Daniel Reupke: Tagungsbericht 2. Workshop Historische Netzwerkanalyse. 29.5.2010–30.5.2010, Essen. In: H-Soz-u-Kult, 3.8.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=3226
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
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Text zwingend werden. Zu den Tragédies en musique Lullys sind in den Livrets noch vergleichsweise viele und ausführliche Didaskalien vorhanden, was sich bei späteren Komponisten von Tragédies en musique jedoch reduzieren sollte. Bellérophon, zu dem Thomas Corneille das Livret verfasste, enthält besonders reiche Didaskalien. Der am stärksten mit einer bestimmten Aufführung verbundene Teil eines Livrets ist die Besetzungsliste. Obwohl sie ursprünglich rein dokumentarische Funktionen erfüllte, nämlich die namentliche Erwähnung der Akteure, ist sie – sofern vorhanden – Informationsquelle für die Art und Stärke der Besetzung und kann Aufschluss geben über die Struktur und Organisation der Choreographien. Auf den ersten Blick scheinen diese Angaben einen rein dokumentarischen Wert hinsichtlich der ersten Aufführung zu haben. Vor dem Hintergrund jedoch, dass die Tragédie en musique Lullys als ,spectacle total‘ geschaffen und aufgeführt wurde, wird die Inszenierung – und hier vor allem die Aufführung unter Leitung des Komponisten – selbst Teil des Kunstwerkes. Informationen zur Choreographie, zu Bühnendekor, szenischen Abläufen und Einsätzen der Bühnenmaschinerie sind damit essentiell für eine adäquate Analyse des Zusammenwirkens der Künste. Als primäre Quellen eignen sich also jene, die der ersten Inszenierung zuzuordnen sind. Das Quellenkorpus der Livrets zu Bellérophon ist vergleichsweise überschaubar und homogen. Editorisch bedeutend sind vor allem die überlieferten Drucke aus Paris, die überwiegend anlässlich der Aufführung des Werkes gedruckt wurden und dort einen doppelten Zweck hatten: Sie waren praktische Ausgabe für die Aufführung und dienten dem Zuschauer zum Mitverfolgen des Textes. Daneben erfüllten sie aber auch einen dokumentarischen Zweck, der für den Theaterbesucher die Aufführung mit Datum festhielt – quasi als Erinnerungsstück – und letztlich auch als Lektüre zum Nach- und Wiederlesen diente. Daraus ergibt sich jedoch, dass viele Livrets die Namen der Akteure enthalten und mehr oder minder ausführliche szenische Anweisungen und Beschreibungen des Dekors. Überliefert sind 32 verschiedene Ausgaben des Livrets, von denen allerdings ein Großteil nur in Details vom Erstdruck von 1679 abweicht. Unberücksichtigt bleiben bei dieser Zahl jene in Sammelbänden abgedruckte Livrets sowie handschriftliche Kopien. Im Folgenden soll nur auf die Aufführungen zu Lullys Lebzeiten eingegangen werden: Die Livret-Ausgaben zu den beiden Erstaufführungen, 1679 in Paris und 1680 in Saint-Germain-en-Laye wurden bei Christophe Ballard in Paris gedruckt. Sie sind beide nahezu identisch bis auf eine ausführliche Besetzungsliste mit den Namen der Sänger, Tänzer und Instrumentalisten auf der Bühne. Diese Liste ist nur im Livret der höfischen Aufführung enthalten.12
12
Ebenfalls identisch mit dem Ballard-Druck von 1679 ist die Ausgabe von Beaujeu in Paris sowie eine Ausgabe in Amsterdam, die beide im Jahr der Uraufführung in Druck gegeben wurden. Bellérophon wurde insgesamt viermal wieder am Hof bzw. in Paris neu aufgeführt (1705/06, 1718, 1728, 1773). Hierbei ist die höfische Erstaufführung 1680 nicht mitgezählt, da sie hinsichtlich der Aufführungspraxis prinzipiell identisch gewesen sein dürfte mit der Uraufführung im Vorjahr. Hinzu kommt eine separate
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Silvia Bier
Im Folgenden soll anhand eines Beispiels aus Bellérophon gezeigt werden, wie der Text und die Didaskalien im Livret als Quelle innerhalb einer transdisziplinären Analyse genutzt werden können. In Struktur und Anlage des zweiten Akts ist eine deutliche Entwicklung zu erkennen: hinsichtlich der Figuenkonstellationen im Verlauf der Szene kommt es zu einer moralischen ‚Umkehrung‘: die heroischen bzw. integeren Charaktere weichen sukzessive den moralisch verwerflichen. Szene 1
2
Bellérophon & Philonoë
Bellérophon
3
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Amisodar
Amisodar, Magiciens & Magiciennes
Sténobée & Argie Sténobée
Die Grafik zeigt die personelle Anlage der Szenen, wie sie aus dem Livret hervorgeht: Am Beginn steht die Braut des Protagonisten, Philonoë, die ihr glückliches Schicksal in einem Air zum Ausdruck bringt. Bellérophon tritt auf, beide versichern sich in einem Rezitativ und einem Duett ihrer Zuneigung. Bellérophon bleibt allein zurück und mit Sténobée tritt der erste konfliktbehaftete Charakter auf: Bellérophon hatte ihre Zuneigung zuvor zurückgewiesen, woraufhin Sténobée dessen Verbannung veranlasst hatte. Jetzt weist er sie erneut ab und verlässt die Szene. Sténobée offenbart ihre Rachepläne ihrer Vertrauten Argie, welche Sténobée nicht von ihren Plänen abbringen kann. Argie verlässt die Szene wieder und Sténobée wendet sich an Amisodar, einen in schwarzer Magie fähigen lykischen Prinzen, der aus Zuneigung seine Dienste angeboten hat. Amisodar ist der moralische Gegenpol zu Bellérophon. Er agiert skrupellos und motiviert von einer unlauteren Liebe zu Sténobée. Wenn er schließlich allein auf der Bühne zurückbleibt und Hexen und Magier als Sinnbilder des Bösen heraufbeschwört, hat sich die Figurenkonstellation vom Anfang bis zum Ende des Akts ins Gegenteil verkehrt. Diese Transformation findet ebenso musikalisch wie auch visuell durch Bühnendekor und Tanz Ausdruck.
Aufführung des Prologs im Jahr 1721 sowie mehrere Aufführungen in der Provinz: 1688 und 1704 in Marseille sowie 1736 in Strasbourg. Siehe hierzu: Schneider 1982 (Anm. 5).
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Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
Partitur
Livret
Ikonographische Quelle
Akt II, Szene 1 Ritournelle: durchk.; C-Dur; 2 Oberstimmen (Flöten?)+Bc.; Air; C-Dur; 3/2
Le théâtre représente un jardin délicieux, au milieu duquel paraît un berceau en forme de dôme, soutenu à l’entour de plusieurs termes. Au travers de ce berceau on découvre trois allées, dont celle du milieu est terminée par un superbe palais en éloignement. Les deux autres finissent à perte de vue.
--
Die Tabelle zeigt in der linken Spalte die Gestalt der Musik, in der Mitte den Auszug des Livrets in der Version von 1679 und in der rechten Spalte Angaben zu überlieferten ikonographischen Quellen. Eine ikonographische Quelle fehlt für das Bühnenbild des zweiten Akts, im Livret findet man jedoch eine recht genaue Beschreibung der Kulisse als „jardin délicieux“ mit einer Laube, Alleen und dem Palast im Hintergrund. Der Bühnenarchitekt Carlo Vigarani kreierte hier eine blühende Idylle als geschützten, friedvollen Ort. Ein Ritornell in strahlendem C-Dur leitet die erste Szene ein. Es sind keine Instrumente für die beiden Oberstimmen angegeben, denkbar wären hier Flöten. Mehrstimmige Passagen laufen meist parallel in Terzen. Mit dem Auftritt Bellérophons sind schließlich Violinen als Instrumente des Prélude vorgeschrieben, die Tonart wechselt nach g-Moll, welche im Laufe des Akts nur noch für eine Szene nach d-Moll verlassen wird. Die Satzstrukturen werden komplexer, in der zweiten Szene begleiten konzertierende Violinen das Duett von Bellérophon und Philonoë. Die vierte und fünfte Szene schildern musikalisch Sténobées emotionalen Prozess. In einer kurzen Plainte zeigt sie Schmerz über die erneute Zurückweisung, der sich schließlich in die Gier nach Rache wandelt: Mit einem wütenden Récit fordert sie Amisodar auf, sich mit einem fatalen Zauber an Bellérophon zu rächen. Im Laufe des Akts wurde eine weite emotionale Palette musikalisch durchschritten, angefangen bei dem Glück Philonoës, Bellérophons Abneigung gegenüber Sténobée, deren Trauer, schließlich deren Wut und die davon entfesselte Gewalt Amisodars. An dieser Stelle, den letzten beiden Szenen des Akts, beginnt das Divertissement. Erwartungsgemäß sollte die Szene reich an visuellen Effekten und Tänzen sein, jedoch macht das Fehlen entsprechender ikonographischer und choreographischer Quellen die analytische Arbeit schwieriger, so dass verstärkt auf die Angaben aus dem Livret zurückgegriffen werden muss:
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Silvia Bier
Livret
Akt II, Szene 6 Prélude: g-Moll, 5st. Orchester, polyphoner Satz, tiefe Lage
Ikonograph. Quelle --
Recit; g-moll, begleitet mit 5st. Orchester, homophoner Satz, absteigende Melodiephrasen, pavanenartiger Rhythmus
Amisodar, seul Que ce jardin se change en un désert affreux.
8 Takte instrumentales Zwischenspiel nach dem 1. Vers
Le jardin disparaît et l’on voit en sa place une espèce de prison horrible taillée dans les rochers et percée à perte de vue, avec plusieurs chaînes, cordages, et grilles de fer qui la remplissent de toutes parts.
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Noirs habitants du séjour ténébreux, Pour m’écouter dans vos demeures sombres ; Metrumwechsel zu 3/8 Takt zum Ende, stärkere Bewegung in den Oberstimmen
Redoublez, s’il se peut, le silence des Ombres. Et vous, à me servir employés tant de fois, Ministres de mon art, accourez à ma voix.
Premier Air 5st. Orchester; Form: AABB (17+17 Takte); g-Moll; 2
Quatre magiciens et quatre magiciennes paraissent et témoignent, en dansant, l’ardeur avec laquelle ils se préparent à servir Amisodar. Après cette entrée, d’autres magiciens, au nombre de quatorze, viennent faire avec lui la scène suivante.
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Eingeleitet wird das Divertissement von einem Prélude, das die düsteren Vorgänge ankündigt durch einen dichten, polyphonen Satz in starker Besetzung, scharfe Punktierungen und eine ungewöhnlich tiefe Lage der Streicher. Amisodars initialem Aufruf „Que ce jardin se change en un désert affreux“ folgt wiederum ein instrumentales Zwischenspiel. Aus der Didaskalie erfahren wir, dass hier die Verwandlung der Kulisse einsetzt. Mit diesem Bühnenbildwechsel wird auch der letzte, visuelle Schritt der Transformation vom Ehrbaren zum Verwerflichen vollzogen. Der Garten als Atmosphäre des Geordneten, Friedlichen und Lebendigen weicht schrittweise dem „désert affreux“, dargestellt als in schroffen Fels gehauenen Kerker, dessen Ende sich in der
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
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Dunkelheit der perspektivischen Kulissenverlängerung verliert. Auch zu diesem neuen Bühnenbild ist leider keine bildliche Quelle überliefert, der Bühnenbildwechsel ist aber nicht nur in der szenischen Angabe genau beschrieben, er wird hier auch durch den gesungenen Text obligatorisch. Das Récit von Amisodar unterstreicht durch den dunklen Klang und den schreitenden, pavanenartigen Rhythmus den okkulten Charakter der Szene. Bemerkenswert ist hier auch die Entsprechung im Text durch eine Häufung von Begriffen wie „noir“, „ténébreux“, „sombre“ und „ombre“. Die meisten Verse wurden hier mit einer absteigenden Melodielinie vertont, wobei der Topos des Absteigens sinnbildlich für die folgenden Ereignisse im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne steht: das Divertissement endet, wenn Amisodar und die Magier in die Unterwelt hinabsteigen. Auf das Récit folgt das instrumentale Premier Air. Formal lässt es sich nur schwer als Tanz identifizieren. Zwar ist die Anlage auf den ersten Blick symmetrisch, die Binnenstruktur (Binnenkadenzen) jedoch nicht. Die zweiteilige Form und das gerade Metrum lassen an eine Bourrée denken, aber auch dafür fehlen charakteristische Merkmale. Das Livret gibt an, dass hier acht Tänzer in Gestalt von Hexen und Magiern auftreten und tanzen. Es handelt sich um dämonische Figuren, denen die Bewegungsästhetik der ‚belle danse‘ kaum entsprechen würde. Der erhaltene Kostümentwurf zeigt ebenfalls groteske Elemente.13 Eine verzerrte Maske, lose herabhängendes Haar, das Motiv des Spitzen, Scharfkantigen und Zerschnittenen am Kostüm zeichnen die Figur als dämonisch und bedrohlich aus und grenzen sie gleichzeitig deutlich von den zivilen Kleidungskonventionen ab. Das untermauert die These, dass dieses Premier Air auch choreographisch unkonventionell umgesetzt wurde. Eine Möglichkeit wäre hier die bewusst verzerrte Darstellung des akademischen Schrittmaterials. Feuillet beschreibt in seinem Tanztraktat 1700 in bemerkenswerter Ausführlichkeit falsche Bewegungen, die in der Regel dem Gegenteil der korrekten Bewegung entsprechen. Es ist denkbar, dass er hiermit eine Möglichkeit dokumentierte, wie man die ‚belle danse‘ augenscheinlich karikieren konnte, um komische oder groteske Charaktere darzustellen. Auch die soziale Auszeichnung einer Figur durch die Art des Tanzes sollte nicht unterschätzt werden. Man würde eine Provokation des höfischen Publikums riskieren, wenn groteske Figuren der Unterwelt in derselben Weise tanzten und sich bewegten, wie es sozial hochstehende oder zumindest moralisch unbedenkliche Figuren tun. Der Effekt des Entrées entsteht aus dem Zusammenspiel der kleinteiligen, vorpreschenden Musik, den mutmaßlich regelwidrigen Bewegungen und den farbreichen, grotesken Kostümen.
13
Der Entwurf ist erhalten in der Collection Rothschild; abgedruckt in: La Gorce 1986 (Anm. 6), S. 77.
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Silvia Bier
Partitur
Livret
Szene 7
Amisodar, Magiciens.
4st. Chor + Bc homophoner, kompakter Satz, monotoner Sprechrhythmus
Rezitativ
Ikonograph. Quelle
Magiciens. Parle, nous voilà prêts, tout nous sera possible.
Amisodar. Faisons sortir un monstre horrible. Pour l’évoquer employez l’Acheron Le Cocyte, le Phlegeton ; Faites que vostre voix dans tout l’Enfer résonne ; C’est moy qui vous l’ordonne. Les magiciens se jettent ici contre terre pour l’évocation.
4st Chor + Bc, durchkomponiert, Alla breve; 6/8; C; 2; 3/8, g-Moll, stockende/ abrupte Textvertonung
Magiciens. Par ce pressant commandement, Promptement, promptement. Que le Ténare s’ouvre, Que l’Enfer se découvre ; Cocyte, Phlegeton, il nous faut du secours, Pour nous entendre arrestez vostre cours.
Rezitativ
Amisodar. Poursuivez. Que pour moi votre pouvoir éclate ; Par Cerbère et la triple Hécate ;
Petit Air
Parlez, pressez, appelez et à grand bruit Et la mort et la nuit. Les magiciens se jettent de nouveau contre terre.
4st. Chor + Bc durchkomponiert, häufiger Metrumwechsel, homophoner, kompakter Satz, monotoner Sprechrhythmus
Magiciens. Nuit, mort, Cerbère, Hécate, Erèbe, Averne, Noires filles du Styx que la fureur gouverne, Entendez nos cris, servez-nous, Nous travaillons pour vous.
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Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
Es entwickelt sich ein Dialog zwischen Amisodar (Récits) und den Magiern (vierstimmige Chöre: Haute-contre, 2 Tailles, Basse). Amisodar fordert die Magier auf, sich dreier Unterweltflüsse und ihrer Gottheiten zu bedienen, um das Monster zu erschaffen. Wie die Magier zur Tat schritten, kann nur vermutet werden. Die im Livret angegebene kurze Anweisung: „Les magiciens se jettent ici contre terre pour l’évocation“ lässt wiederum den Schluss zu, dass es sich um frei pantomimische Aktion handelt. Der Chor der Magier wird musikalisch sehr kompakt gestaltet: homophon, durch häufige Tonwiederholungen sehr statisch und unbelebt. Der zweite Chor in schnellem Tempo verdeutlicht das im Text erwähnte „pressant commandement“ durch kleine Notenwerte und ein melodisch uneinheitliches, mit Pausen zersetztes Klangbild, das den Chor immer wieder abrupt unterbricht. Partitur
Rezitativ
[On reprend le premier Air.] Second Air Asymmetrische Form: AAB (12+30 Takte), 3, B-Dur, häufige Hemiolen, typisch für das rhythmische Muster eines Passepied
Livret
Ikonograph. Quelle
Amisodar. Le charme est fait, les monstres vont paraître, La terre s’ouvre et me le fait connaître Rendons aux sombres Déités Les honneurs que de nous elles ont mérités. La terre s’ouvre et on en voit sortir trois monstres qui s’élèvent au dessus de trois bûchers, l’un en forme de dragon, l’autre de lion et le dernier de boue. Trois des magiciens montent dessus ; après quoy les quatre qui ont déjà dansé font une nouvelle entrée avec les quatre magiciennes, pour marquer leur joie de ce que le charme a réussi. Leur danse étant finie, les trois magiciens, qui sont sur les monstres, chantent alternativement les paroles suivantes avec les autres magiciens.
Entwurf des Bühnenbildes/ der Szene (siehe Anm. 13)
Chor Durchkomponiert, 3, B-Dur. Wechselgesang: 4st. Chor/ 3 Solisten. Übernimmt Metrum und rhythmische Struktur des Second Air
Magiciens. La Terre nous ouvre, Ses Gouffres profonds ! L’Enfer se découvre. Chantons triomphons On voit l’onde noire Pour nous s’arrester. Victoire, Victoire, Victoire, Nous avons la gloire De tout surmonter. Triomphe, Victoire, Triomphe, Victoire, Nous avons la gloire De tout surmonter. Non, non, rien ne peut nous resister.
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Partitur
Rezitativ
Livret
Ikonograph. Quelle
Amisodar. Un monstre seul causerait plus d’effroi; Il faut unir ces trois monstres ensemble. Par un charme plus fort et plus digne de moi, Faisons qu’un seul les assemble; Pour en venir à bout descendons aux Enfers, Les gouffres nous en sont ouverts. Tout s’abîme, et la terre se referme.
--
Fin du seconde acte.
In einem kurzen Récit kündigt Amisodar bereits an, dass die Erde sich öffnet und drei Ungeheuer hervorbringen wird. Der genaue Hergang der Szene wird wiederum durch die Didaskalie klarer: Durch eine Öffnung im Boden steigen sie in Gestalt eines Löwen, eines Ziegenbocks und eines Drachens auf. Sie stehen gleichermaßen sinnbildlich für die Tripelkoalition der Niederlande (Löwe), Englands (Drachen) und Schwedens (Ziegenbock), die im Vorfeld des Friedens von Nimwegen von Frankreich zerschlagen wurde, als auch für den in diesen Ländern tolerierten Protestantismus, der in den 1670er Jahren in Frankreich bereits mit Repressalien zurückgedrängt wurde. Die Szene lässt sich einer vorhandenen ikonographischen Quelle von Berain zweifelsfrei zuordnen.14 Der Entwurf zeigt drei Kreaturen und darauf sitzend die drei Magier, nackt, mit verzerrten Masken und verformten Körpern. In der Partitur wird an dieser Stelle das Premier Air wiederholt, das die Bewegung der Bühnenmaschinen begleitet. Das darauffolgende Second Air lässt wiederum formal keine konventionelle Tanzform erkennen. Dass hier vier Magier einen Freudentanz über das Gelingen des Zaubers aufführten, geht jedoch aus dem Livret hervor. Trotz der irregulären Form, deren B-Teil mehr als doppelt so lang wie der A-Teil ist, erinnert die rhythmische Faktur deutlich an einen Passepied, mit seinem lebhaften Tempo im Dreiermetrum und den charakteristischen Hemiolen. Der Grundschritt des Passepied ist genau auf die rhythmische Eigenart des Tanzes mit Hemiolen angepasst und ein schneller, kraftvoller, teilweise gesprungener Schritt, somit passend für den dramatischen Kontext. Auch hier kann man in Betracht ziehen, dass Lully konventionelles Schrittmaterial als Basis für eine freie, den Figuren und der Situation angepasste Choreographie eingesetzt hat. Der folgende Chor übernimmt Rhythmus und Metrum des Tanzes, so dass die Vermutung naheliegt, während des Chores würde ebenfalls getanzt werden (was – entgegen der verbreiteten Annah-
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Der Entwurf ist erhalten in den Archives Nationales in Paris und digitalisiert in der Datenbank ARCHIM zugänglich: http://www.culture.gouv.fr/Wave/image/archim/MP/FRDAFAN08_SCEK000170_2.jpg.
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
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me – durchaus in der Tragédie en musique vorkommt).15 An dieser Stelle präzisiert das Livret jedoch, dass der Chor ausdrücklich nach dem Tanz einsetzt. Ebenso, wie das Erscheinen der drei Kreaturen durch den gesungenen Text festgeschrieben wird, ist auch die Verbindung zur Chimäre und der Abstieg der Magier in die Unterwelt im letzten Rezitativ wörtlich erwähnt. Die szenische Angabe am Ende des Akts ist hingegen knapp gehalten. Zum nächsten Akt schließt sich die Öffnung im Boden wieder und das Bühnenbild verändert sich zu dem Vestibül eines Tempels. In Anbetracht des großen bühnentechnischen Aufwands am Szenenende ist denkbar, dass das Second Air wiederholt wurde und die Vorgänge untermalte. Verknüpft man die verschiedenen Informationen, die man aus dem Text und den szenischen Anweisungen gewinnen kann, mit den vorhandenen musikalischen und ikonographischen Quellen sowie mit Erkenntnissen über Technik und Stil des Bühnen tanzes der Zeit, so füllen sich nicht nur Quellenlücken, sondern es offenbaren sich auch Einblicke zu den Entsprechungen und Wechselwirkungen der einzelnen Kunstdisziplinen im Werk und der Dramaturgie. Die Besetzungsliste der höfischen Uraufführung 1680 war von besonderem Interesse hinsichtlich des Schlussballettes in Bellérophon. Dazu – und leider nur dazu – ist eine Choreographie in Beauchamps-Feuillet-Notation unter dem Titel Ballet de neuf danseurs überliefert.16 Es ließ sich bisher nicht eindeutig klären, ob es sich um eine Quelle zur Erstaufführung handelt. Die Choreographie wurde 1700 von Raoul-Auger Feuillet im genannten Sammelband veröffentlicht, der Feuillets eigene Choreographien enthält, ihn also auch als Autor der besagten Choreographie des Schlussballetts vermuten lässt. Die zeitliche Distanz zur Erstaufführung von rund 20 Jahren lässt Zweifel aufkommen, ob es sich um das Ballett der Erstaufführung handelt, jedoch wurde erst 1705 Bellérophon erneut aufgeführt, weshalb die Choreographie auch nicht in einer Reprise verwendet wurde. Für einen engeren Zusammenhang mit den ersten beiden Aufführungen sprechen die Angaben im Livret, und zwar in doppelter Hinsicht: Die Didaskalie legt die Konzeption der Choreographie aus einem Solotänzer und acht Ensembletänzern offen und beschreibt die Qualität des Tanzes als Freudentanz des befreiten Volkes. Dies stimmt überein mit der choreographischen Quelle, deren stark ornamentales Schrittrepertoire der konventionellen akademischen Tanzkunst entspricht und auf den ersten Blick nicht pantomimisch frei gestaltet ist. Zum einen handelt es sich um Angehörige des lykischen Volkes, die, als Äquivalent zu den Untertanen des französischen Königs, in einer ihrem Status entsprechenden Weise tanzen (in Abgrenzung zu den
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Die als Ballet de neuf danseurs überlieferte Choreographie verwendet die beiden letzten instrumentalen Airs sowie den Schlusschor von Bellérophon als Musik. Zwar ist die Quelle nicht eindeutig einer Aufführung der Tragédie zuzuordnen, die Didaskalien präzisieren jedoch, dass neun Tänzer dieses Schlussballett gestalten. Es erscheint aus mehreren Gründen wenig plausibel, dass der mutmaßliche Autor Raoul-Auger Feuillet sich hier vollkommen von der originalen Choreographie entfernt hat und einen Chor choreographierte, wenn dies gegen eine geltende Konvention verstößt. 16 Raoul Auger Feuillet: Recueil de danses. Paris 1700, S. 67–84.
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tanzenden Dämonen im zweiten Akt). Zum anderen bietet sich das dramatisch weniger bedeutende, dafür umso symbolhaftere Schlussballett in einer Tragédie en musique am meisten an für eine stilistisch konventionelle, mitunter besonders virtuose Umsetzung. Die Besetzungsliste der Livret-Quelle von 1680 zeigt die gleiche Disposition aus 8+1 Tänzern sowie eine personelle Verbindung, über welche die aufgezeichnete Choreographie in die Hände von Feuillet gelangt sein könnte: Louis Guillaume Pécour tanzte im Ballet de neuf danseurs in der Erstaufführung am Hof. Pécour ließ eine große Anzahl aufgezeichneter Choreographien durch Feuillet publizieren und war der Nachfolger des bereits erwähnten Pierre Beauchamps, dessen Werk das Ballet de neuf danseurs mindestens für die ersten beiden Aufführungen gewesen sein dürfte. Pécour kannte die Choreographie demnach gut und war vielleicht im Besitz einer Abschrift Beauchamps’. Eine detaillierte choreographische Analyse bestätigt den hohen technischen Anspruch des Werks, in welchem in musterhafter Weise das Schrittrepertoire des akademischen Tanzes durchschritten wird, aber auch seltene und ungewöhnliche Kombinationen eingesetzt werden. Bemerkenswert sorgfältig entsprechen die Bewegungen der musikalischen Struktur, bis hin zu Details wie Hemiolen und Binnenkadenzen, die sich in der Auswahl der Schritte und der Bewegungsrichtung der Tänzer niederschlagen. Am erstaunlichsten sind jedoch die erkennbaren Zusammenhänge zwischen choreographischer Gestalt und dem Text des Chores, die sogar an eine pantomimische Darstellung von Schlüsselbegriffen grenzen.17 Sie ist die einzige überlieferte Choreographie für eine größere Anzahl Tänzer und wurde mit Sicherheit nicht im gesellschaftlichen Tanz verwendet. Die Blätter geben weder Komponist noch Werk an, so dass man annehmen darf, der Leser konnte dieses Ballet de neuf danseurs anhand der Konstellation und der Musik ohne Schwierigkeiten zuordnen. Für die editorische Arbeit an einer Tragédie en musique von Lully ist von Bedeutung, dass auch das Livret ein exakt eingepasster Teil im Gefüge des ‚spectacle total‘ ist. Obgleich das Livret meist vor der Komposition der Musik stand, so begann doch mit der Auswahl des Stoffes durch den König eine enge Zusammenarbeit zwischen Librettist und Komponist einerseits, aber auch mit den übrigen Künstlern andererseits, so dass die Etablierung des Textes eng eingebunden war in den gesamten Entstehungsprozess des Werkes und einer permanenten Abstimmung und Anpassung mit und an die anderen Disziplinen unterlag. Von einer Dominanz des Librettisten oder des Textes während der Genese des Werkes kann man im Falle der Lully’schen Tragédie en musique deshalb kaum sprechen. Lullys Einfluss ging bekanntermaßen soweit, dass er einzelne Teile des Librettos als ‚canevas‘, gewissermaßen Vorentwurf, selbst fertigte und vom
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Eine eingehende Untersuchung des Ballet de neuf danseurs ist Gegenstand des laufenden Dissertationsprojektes der Verfasserin.
Das Libretto der Tragédie en musique als Quelle für Tanz und Dekor
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Librettisten ausarbeiten ließ.18 Die im Livret enthaltenen, konkreten aufführungspraktischen Informationen sind nicht nur als Dokument einer einzelnen Inszenierung zu begreifen, sondern als Teil des ‚spectacle total‘ Tragédie en musique. Diese Konstellation erhöht wiederum den Wert des Livrets als Quelle, denn je enger das Livret an das gesamte Werk und seine Aufführungen angeschlossen ist, desto ertragreicher lassen sich die enthaltenen Informationen für die Werkanalyse und die Aufführungspraxis auswerten. Livrets wurden prinzipiell für jede Aufführung gedruckt – sofern die finanziellen Mittel bestanden – jedoch wurden Angaben zur Besetzung, zum Dekor und zu szenischen Veränderungen keineswegs immer mit der gleichen Sorgfalt vermerkt. So weist das Vorwort zur Ausgabe von Jean-Baptiste-Christophe Ballard von 1728 darauf hin, dass man im Wesentlichen den Druckstock der Ausgabe von 1680 verwendet hat – einschließlich des Abdrucks der Namen der damaligen Akteure – und lediglich kleine Änderungen sowie eine aktuelle Besetzungsliste hinzugefügt hat. Die Zuverlässigkeit und Vollständigkeit des Livrets als Quelle für Dekor und Tanz nimmt also bezüglich der Reprisen drastisch ab. Die Edition des Livrets sollte auf der Basis einer Hauptquelle geschehen, die möglichst der bei der Erstaufführung verwendeten Fassung entspricht. Im Falle von Bellérophon ist die Quellenlage günstig und ermöglicht, den Text und sämtliche Didaskalien zu übernehmen. Spätere Ausgaben des Livrets zu Reprisen geben Aufschluss über eine veränderte Aufführungspraxis hinsichtlich Besetzung, Dekor und Tanz und somit über Rezeption und Umgang mit dem Werkkonzept Lullys. Sie haben in erster Linie einen werkgeschichtlichen Wert und sollten im Rahmen einer kritischen Edition dokumentiert werden. Die Lully-Gesamtausgabe verfährt in ähnlicher Weise und ediert die Livrets der Tragédies en musique basierend auf einer Hauptquelle, die üblicherweise dem Erstdruck entspricht.19 Die Didaskalien werden in die Edition vollständig übernommen. Ein Abgleich erfolgt sowohl mit dem Livret-Text, wie er in der Hauptquelle der Partitur erscheint, als auch mit weiteren Quellen des Livrets, entsprechend der vorgenommenen Hierarchisierung des Quellenmaterials. Unterschiede, sowohl Abweichungen als auch Zusätze, werden in der Livret-Edition dokumentiert, wenn sie relevant sind im Rahmen des generellen Anspruchs, das Werk in seinem Zustand zu Lebzeiten Lullys wiederzugeben und dabei insbesondere aufführungspraktische Details und Änderungen am Werk unmittelbar nach der Uraufführung zu dokumentieren. Ikonographische und choreographische Quellen werden in der Ausgabe nicht berücksichtigt. Ausgehend von der besonderen Konzeption der Gattung Tragédie en musique ist deren erste Aufführung das Endprodukt des Entstehungsprozesses und somit Teil des Werkes selbst. Sowohl die Methoden der Werkanalyse als auch der Aufführungspraxis müssen dieser Gattungsspezifik Rechnung tragen, was diese Anforderung auch an eine 18 19
Le Cerf de la Viéville de Fresneuse 1705 (Anm. 9), S. 218. Die vollständigen Editionsrichtlinien der Lully-Gesamtausgabe wurden publiziert in: Editionsricht linien Musik. Hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit. Kassel 2000 (Musikwissenschaftliche Arbeiten. 30), S. 189–215.
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Werkedition heranträgt, die gleichermaßen analytischen Arbeiten und Aufführungen als Grundlage dienen soll. Eine transdisziplinäre Analyse unter Einbeziehung aller beteiligten Kunstdisziplinen als auch eine Inszenierung, die das Gattungskonzept als Synthese der Künste respektiert, würden demnach von einer Werkedition profitieren, die alle Aspekte des aufgeführten Werkes berücksichtigt. Die Quellen des Livrets, die den ersten Aufführungen des Werkes zuzuordnen sind, können hierbei als substituierende Quelle für die oft lückenhaft überlieferten Elemente Tanz und Dekor ausgewertet werden. Hinter dieser Vorgehensweise des Quellencrossings zur Informationsgewinnung steht also das Ziel, durch die systematische Kombination aller relevanten Quellen ein möglichst vollständiges Bild der Werkgestalt zu Lebzeiten Lullys zu zeichnen und die immer noch großen Lücken in den Erkenntnissen über die Aufführungspraxis der Tragédie en musique im 17. Jahrhundert auszufüllen.
Sylvie Bouissou
Le poème d’opéra, de la source littéraire au livret : le cas des Opera omnia de Rameau
Le livret constitue une source historique de première importance dans l’édition critique d’un opéra. En effet, au xviiie siècle, il dépasse largement la fonction de support du texte musical en proposant beaucoup d’autres informations en lien avec l’actualité de la représentation : la date, le lieu, la distribution, des éléments de mise en scène, et surtout une actualisation des remaniements musicaux. Sorte d’équivalent de nos programmes actuels (la publicité en moins), le livret doit donc faire l’objet d’une étude rigoureuse. Pour autant, il convient de circonscrire l’objet « livret » et de le différencier des différentes configurations d’édition du poème d’opéra.
Le poème d’opéra comme source littéraire Le mot « livret » n’est utilisé ni au xviie ni au xviiie siècles ; on lui préfère « poème », « paroles », ou encore « livre de paroles ». Le terme livret associé à l’opéra n’apparaît qu’en 1867 dans le Grand Dictionnaire universel de Larousse.1 Il renvoie à son équivalent italien « libretto » en usage quant à lui autour de 1820. Par souci pratique, nous retenons l’expression « livret » qui, en dépit de son anachronisme apparent, a le mérite de désigner sans ambiguïté l’objet de notre étude.2 L’édition d’un poème d’opéra se présente sous diverses configurations qui n’ont pas la même valeur dans le parcours génétique de l’œuvre musicale. Ce statut protéiforme a parfois dérouté les bibliothécaires qui tantôt l’ont considéré comme un ouvrage lié à la musique, tantôt l’ont inséré dans des fonds de théâtre ou de littérature. Du coup, il peut être classé au nom du librettiste, ou au titre de l’œuvre ou encore dans les anonymes lorsque le nom du librettiste n’est pas connu. Nous avons recensé au moins trois catégories d’éditions de poèmes d’opéra ne répondant pas aux critères du livret : comme texte
1
Cf. Le Grand Dictionnaire universel du xixe siècle, français, historique, géographique, mythologique, bibliographique, littéraire, artistique, scientifique […]. Tome 10. Paris 1867, p. 597. Une longue notice est consacrée au mot « libretto », associant le terme d’une part, aux paroles d’un opéra et d’autre part, à une brochure donnant l’explication d’une pantomime ou d’un ballet. On peut lire encore, p. 483, que les Italiens appellent libretto et les Français livret, qui est le synonyme exact de ce dernier mot « à tout ouvrage dramatique : opéra, opéra-comique ; mais le mot livret est aujourd’hui bien plus usité dans ce sens, et l’emploi en est devenu à peu près général ». 2 Carl B. Schmidt: The Livrets of Jean-Baptiste Lully’s Tragédies Lyriques. A Catalogue Raisonné. New York 1995 ; Sylvie Bouissou, Denis Herlin: Jean-Philippe Rameau. Catalogue thématique des œuvres musicales. Tome 2 : Livrets. Paris 2003.
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faisant partie des œuvres complètes d’un auteur ; comme support à un « concert » ; comme fascicule séparé, jouant le rôle d’une sorte de petit livre autonome, sans lien avec une représentation scénique.
Le poème d’opéra dans un corpus littéraire Une première catégorie concerne la publication du poème d’opéra dans un corpus littéraire, par exemple une collection ou les œuvres complètes d’un auteur. Dès 1703, Christophe Ballard est le premier éditeur à rassembler les poèmes d’opéra des œuvres représentées à l’Académie royale de musique parisienne depuis 1671 sous le titre Recueil général des opera représentés par l’Académie royale de musique, depuis son établissement. Cette série de seize volumes in-16 édités entre 1703 et 1745, regroupe l’intégralité du répertoire jusqu’en 1737, date de la création de la première version de Castor et Pollux (Rameau). En juin 1706, dans les Recueils d’airs sérieux et à boire (F-Pn, Vm7. 539), Ballard annonce la parution du huitième volume du Recueil Général des paroles d’opéra qu’il vend à 40 sols le fascicule, et seize livres le recueil des huit volumes déjà parus.3 Les œuvres complètes d’un auteur constituent un autre type de corpus littéraire susceptible d’intégrer la publication d’un poème d’opéra. Plusieurs collaborateurs de Rameau les ont intégrés à leurs œuvres complètes de leurs vivants, tels Voltaire, Bernard, Piron, etc., tandis que d’autres s’y sont refusés comme Marmontel, tant pour les livrets écrits pour Rameau que pour les autres compositeurs avec lesquels il a collaboré.
Le poème d’opéra comme support à un concert Un autre mode de diffusion passe par la publication d’une sorte de petit opuscule imprimant les « paroles de concert » notamment pour des exécutions données en province.4 À Rouen, des extraits d’Hippolyte et Aricie (Ex. 1) et de Platée sont joués respectivement en 1746 et en 1753.5 Dans l’esprit des pratiques du Concert Spirituel, chaque concert est suivi d’un motet de Michel-Richard de Lalande, le Credidi propter quod locutus sum pour Hippolyte et Aricie et de l’un des Cantate Domino pour Platée.
3
Cf. Recueil d’Airs sérieux et à boire de différents auteurs, pour l’année 1703. Paris, Chr. Ballard, 1703, cf. F-Pn, Vm7. 539. 4 Dans sa Bibliographie chronologique (Genève, 1983) Pierre-Marie Conlon relève pour la période ramiste les sources suivantes: Paroles du concert [de Lille], du 17 décembre 1733. s.l., 1733, 14 p. ; Paroles du concert d’Amiens. Amiens, L. Godart, [1734], 14 p. ; Paroles du concert de Reims du jeudi 26 février. [Reims, Jeunehomme], 1739, 15 p. ; Paroles du concert du 12 septembre 1740. [Valenciennes], 1740 ; Paroles du concert de Lille. [Lille, G. E. Vroye], 1744, 8 p. ; cf. aussi Bouissou, Herlin: Rameau. Catalogue thématique. Livrets (note 2), rubrique « Sources littéraires ». 5 Concert. Hypolite & Aricie, tragédie. Les paroles sont de M. Pelegrin, la musique de M. Rameau. Rouen, Jean-B. Besongne, 1746, 16 p. ; Concert de Platée, comedie-balet mise en musique par M. Rameau. Rouen, Jean-B. Besongne, 1753, 12 p.
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Ex. 1. Simon-Joseph Pellegrin : Concert. Hippolyte et Aricie. Rouen, Jean-B. Besongne, 1746.
L’opuscule du concert dévolu à Hippolyte et Aricie, imprimé par Jean-Baptiste Besongne, laisse entrevoir l’activité et le goût de la nouveauté que déployaient les Académies royales de musique de province, comme précisément celle de Rouen, fondée en 1689 par Bernard Vaultier.6 D’autres plaquettes du même type concernent les villes d’Amiens, Reims, Strasbourg, Arras et Nantes. Par exemple, l’Académie de Reims donne une version en concert d’Hippolyte et Aricie7 en 1757, et celle de Nantes un concert de Platée à une date inconnue.8 Comme ces opuscules sont généralement négligés et mal catalogués, il n’est guère possible d’avoir une idée exacte de la vie musicale dans ces
6
Archives départementales de la Seine-Maritime, + 4BP XLVI, cf. Jérôme de La Gorce : Une Académie de musique en province au temps du Roi soleil, l’Opéra de Rouen. Dans : La Musique et le rite sacré et profane. Tome 2 : Communications libres. Réunies par Marc Honegger et Paul Prévost. Strasbourg 1986, p. 468. 7 Paroles du concert de Reims. Hippolyte et Aricie. Reims, Vve Jeunehomme, 1757, 51 p. 8 [Jacques Autreau, Adrien-Joseph Valois d’Orville] : Platée, comédie-balet. Nantes, s.d., 2 n.c.–27 p. ; en haut de la p. 1, on peut lire la mention imprimée « Concerts de Nantes ».
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villes et de la manière dont étaient diffusées les nouveautés parisiennes. Ces ensembles peu homogènes mériteraient une étude approfondie qui probablement modifierait notre regard sur les pratiques musicales des villes en province.
Le poème d’opéra édité en fascicule séparé Une troisième catégorie de sources consiste en un fascicule autonome, toujours de petit format, imprimé soit à la charge d’un éditeur, soit aux dépens d’une Académie de musique. Ainsi, les textes des poèmes de Zoroastre et de Dardanus9 sont publiés aux frais de l’Académie royale de musique de Paris, respectivement en 1758 et 1761, mais ne comportent pas de distribution et ne correspondent à aucune représentation référencée même s’ils proposent l’intégralité du poème dans l’une de ses versions. Les éditions en fascicule séparé de Zoroastre, annoncé par Ballard comme étant donné le « 29 juillet 1757 », ne correspondent à aucune représentation scénique connue. En effet, les deux dernières représentations de Zoroastre eurent lieu les 21 et 26 mars 1757 et terminaient ainsi la première série qui avait commencé en janvier 1756, plus d’un an auparavant. De plus, cette date du 29 juillet 1757 se retrouve sur trois fascicules imprimés, deux par Ballard en 1757 et 1758,10 et un troisième aux dépens de l’Académie en 1761.11 Contrairement à celle de Zoroastre, l’édition en fascicule séparé de Dardanus trouve un écho dans le Mercure de France qui relate avec minutie les exécutions données à partir du 15 avril 1761.12 Pour autant, nous n’avons pas retrouvé de livret proprement dit pour ces représentations pour lesquelles ne subsiste que cette source hybride. L’Académie royale de musique de Bordeaux semble avoir mené une politique particulière à l’égard des textes des ouvrages dramatiques qu’elle faisait représenter. En effet, nous avons recensé six éditions de poème d’opéra, mais dont seulement deux répondent aux critères du livret en donnant les distributions des représentations des Fêtes de l’Hymen et de l’Amour en 1755 et des Fêtes d’Hébé en 1756.13 En revanche, les quatre autres éditions correspondent à ces sources hybrides sans distribution qui par conséquent pouvaient être réutilisées comme support à plusieurs représentations scéniques, puisque ni la distribution ni la date de représentation n’y figurent. Sont ainsi
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[Charles-Antoine Leclerc de La Bruère] : Dardanus, tragédie de M r. Rameau. Représentée par l’Académie royale de musique, avec les changemens faits par l’auteur en 1760. Paris, aux dépens de l’Académie, 1761, 27 p. [Louis de Cahusac] : Zoroastre, opera représenté pour la premiere fois par l’Academie royale de musique. Le 29 Juillet 1757. Paris, Ballard, 1757, 40 p. ; [Id.] : Zoroastre, opera, représenté pour la premiere fois par l’Academie royale de musique. Le 29 Juillet 1757. Paris, Pierre Robert [Ballard], 1758, 2–37 p. La mention de l’éditeur Pierre Robert est visiblement erronée ; il s’agit évidemment de Pierre-Robert Ballard, le même que celui qui imprima l’édition de 1757. [Louis de Cahusac] : Zoroastre, tragedie. Representée par l’Academie royale de musique, pour la premiere fois, le 29 Juillet 1757. Paris, aux dépens de l’Académie, 1761, 34 p. Mercure de France, 1760, mai, p. 178–179 et juin, p. 195–211. Louis de Cahusac : Les Fêtes de l’Hymen et de l’Amour, balet héroique. Représenté par l’Académie Royale de Musique de Bordeaux. Bordeaux, Jean Chappuis, [1755]; Jean-Philippe Rameau : Les Fêtes d’Hébé ou les Talens lyriques, nouveau ballet. Bordeaux, Jean Chappuis, [avant 1756].
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concernées Les Fêtes de l’Hymen et de l’Amour14, Hippolyte et Aricie15, Les Indes galantes16 et Zoroastre17. On sait aussi que La Princesse de Navarre fut donnée à l’Académie de Bordeaux en 176318 sur ordre du maréchal de Richelieu19 sans qu’on en ait retrouvé un livret à ce jour. On peut conclure que de telles publications, sans rapport précis avec la représentation d’un spectacle à une date donnée, permettaient aux éditeurs et institutions d’éditer le texte d’un opéra en évitant l’inconvénient du caractère éphémère du livret et pouvaient donc servir en plusieurs occasions. Si ces différentes éditions du texte du poème d’opéra ne répondent pas aux critères de ce que nous appelons livret, elles sont autant de témoignages de la vie musicale et des modes de diffusion de la musique dramatique. Elles doivent être considérées comme des sortes de produits dérivés qui ne présentent pas les garanties d’un lien organique avec l’œuvre lyrique.
Le poème d’opéra comme « livret » Le livret présente des caractéristiques récurrentes qui permettent de définir un objet spécifique et une catégorie de sources. Si au xviie siècle, le livret n’a pas encore pris la forme sophistiquée que lui confère le xviiie siècle – puisqu’il ne fait pas état de la distribution, mais liste seulement les rôles – il correspond néanmoins à une série précise de représentations contrairement au fascicule séparé dont on a parlé plus haut. Sur la page de titre des livrets figurent toujours le titre de l’œuvre, son genre d’appartenance, le lieu et la date de sa création et le cas échéant de ses reprises, le nom, l’adresse et parfois la fonction de l’éditeur, et enfin la date de publication de l’ouvrage qui est invariablement la même que celle de la représentation de l’opéra (Ex. 2a–b).
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[Louis de Cahusac] : Les Fêtes de l’Hymen et de l’Amour, ballet héroique, en trois actes et en vers. Représenté par l’Académie royale de musique de Bordeaux. Nouvelle édition. Paris, Ruault, 1778, 16 p. [Simon-Joseph Pellegrin] : Hippolyte et Aricie, tragédie, représentée par l’Académie royale de musique de Bordeaux. Bordeaux, Jean Chappuis, s.d., 32 p. [Louis Fuzelier] : Les Indes galantes, ballet héroïque, représenté par l’Académie royale de musique de Bordeaux [Prologue, Le Turc généreux, Les Incas du Pérou, Les Sauvages]. Bordeaux, Jean Chappuis, [ca. 1744], 26 p. Louis de Cahusac : Zoroastre, opéra, représenté par l’Académie royale de musique de Bordeaux. Les paroles sont de Monsieur de Cahusac, de l’Académie royale des Sciences & Belles-Lettres de Prusse ; et la Musique, de Mr. Rameau. Nouvelle édition. Bordeaux, Jean Chappuis, 1760, 40 p. Lionel Sawkins : Rameau’s Last Years. Some Implications of Rediscovered Material at Bordeaux. Dans : Proceedings of the Royal Musical Association 111, 1984/85, p. 66–91. Voltaire : Nouveau prologue de La Princesse de Navarre, envoyé à Mr. le maréchal duc de Richelieu, pour la représentation qu’il fit donner à Bordeaux. Dans : Collection complette des œuvres de Mr. de Voltaire. Tome 18 : Poësies mêlées, &c. Genève, [Cramer], 1771, p. 478.
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Ex. 2a–b. Rameau: Les Indes galantes. a. Paris, Chr. Ballard, 1735 ; b. Paris, Delormel, 1761.
Il peut arriver qu’il y ait une divergence entre la date annoncée et la date réelle du début des représentations due à un report de quelques jours de la création ou de la reprise. D’autres éléments apparaissent encore sur la page de titre, mais avec des variantes en fonction de la destination de l’œuvre à l’Opéra de Paris, en province ou à la cour ; ainsi, le livret d’un opéra joué à l’Académie royale de musique est vendu avec indication du prix de vente à la porte de l’Opéra de Paris ou dans la salle (Ex. 3a), alors que le livret d’un opéra joué à la cour n’est pas commercialisé, mais offert au public de choix invité (Ex. 3b).
Ex. 3a–b. Rameau : Castor et Pollux. a. Reprise à l’Opéra, Paris, Delormel, 1778 ; b. Reprise à la cour, Chr. Ballard, 1763.
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À l’intérieur du livret, figurent les noms de l’auteur du poème et du compositeur, parfois celui du maître de ballet (pour les spectacles de la cour), et, à partir des années 1700, toutes les informations relatives à la distribution qui précisent la liste des interprètes (solistes, choristes, danseurs et parfois instrumentistes). Une hiérarchie des danseurs est même sous-entendue par la typographie et la ponctuation. Ainsi, les noms des danseurs solistes sont généralement composés en petites capitales, tandis que ceux des danseurs du chœur le sont en minuscules. De plus, la présentation typographique permet d’éclairer la configuration des ballets. Par exemple, dans la première édition du livret d’Acante et Céphise (Ex. 4), l’agencement des interprètes du second divertissement du premier acte permet de préciser que le ballet était composé de deux interventions en solo (M. Dupré, puis M. Laval), d’un pas de quatre constitué de deux couples (MM. Lyonnois, Vestris, Mlles Labatte, Vestris), d’une nouvelle intervention en solo (Mlle Reix) et de la participation de six danseurs et quatre danseuses du chœur de la danse (MM. Dupré, Feuillade, Caiez, Bourgeoix, Gobert, Hyacinte ; Mlles Sauvage, Briseval, Couppé, Ponchon).
Ex. 4. Rameau : Acante et Céphise. Paris, Delormel et fils, 1751, p. 5.
Grâce à ces données, le livret représente un document essentiel pour la connaissance des effectifs, des carrières des interprètes, des décors et des jeux de scène, en somme des pratiques musicales. Mais le livret n’est pas que cela. En effet, chaque série de représentations est accompagnée d’une nouvelle édition de livret. Il arrive même fré-
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quemment qu’il soit réédité au cours d’une production soit pour actualiser les modifications effectuées par le compositeur, soit pour faire apparaître un changement de distribution. Il représente donc un objet éphémère en lien organique avec un spectacle vivant. C’est là un atout fondamental dans la reconstitution génétique de l’œuvre dans le sens où il s’agit de la seule source donnant clairement les différentes étapes de son histoire. Ceci explique pourquoi la première édition d’un livret ne correspond jamais à la version musicale gravée ; ces deux étapes n’étant pas simultanées et les fonctions des deux objets étant dissociées. À l’opposé du livret, la partition musicale représente un état figé de l’opéra et est destinée à durer dans le temps. La réimpression d’une partition coûtait trop cher pour qu’elle soit rééditée à chaque nouvelle version. En dépit des inévitables variantes que subit l’œuvre dans son histoire, l’éditeur de la partition n’engage pas de frais pour la faire graver de nouveau, sauf dans des cas exceptionnels où de très importants changements le justifient, comme pour la seconde version du cinquième acte d’Hypermnestre de Gervais, ou des trois derniers actes de Dardanus. Les deuxième et troisième éditions d’une partition musicale gravée se limitent généralement à l’insertion d’un supplément (Les Fêtes d’Hébé, Hippolyte et Aricie) ou simplement à la composition d’une nouvelle page de titre. Les conséquences directes de cet état de fait engendrent des discrépances très importantes entre l’édition musicale et celle des livrets, puisque le contenu de la partition gravée reste relativement figé tandis que celui du poème est actualisé à chaque reprise.
Édition critique du livret dans les Opera omnia de Rameau Éditer le poème d’un opéra soulève un ensemble de questions. Doit-on considérer le livret comme une œuvre pleinement autonome ou au contraire établir l’édition du livret en lien organique avec la version de l’opéra auquel il sert de support ? Dans le cadre des Opera omnia de Rameau, nous avons décidé de choisir la seconde option afin de ne jamais dissocier le livret de la musique. Par conséquent, nous établissons l’édition du livret conformément à la version (ou aux versions de la partition) que nous éditons. Les différentes éditions du livret sont néanmoins étudiées et comparées et donnent lieu à des Notes critiques spécifiques qui en listent les variantes et qui précisent l’origne de certaines mentions de didascalies retenues pour la partition musicale. Par ailleurs, la transcription du texte du livret propose de faire apparaître les différences les plus significatives entre les sources principales du livret et de la partition : ainsi les ajouts propres à la partition sont composés en gras tandis que les suppressions de certains vers dans le livret sont composées en petits corps. Enfin, chaque modification ou variante du texte poétique est signalée par un astérisque qui renvoie à un commentaire dans les Notes critiques du livret. Cette option, particulière aux Opera omnia, présente l’avantage d’exposer une analyse approfondie de toutes les éditions du livret et de bien comprendre la genèse des remaniements. En ce sens, la politique des Opera omnia se distingue nettement de celle des Œuvres complètes de Jean-Baptiste Lully qui propose la restitution d’un livret imprimé dont l’orthographe est modernisée, sans lien avec le
Le poème d’opéra, de la source littéraire au livret : le cas des Opera ominia de Rameau
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texte proposé dans la partition musicale (par exemple l’édition d’Armide préparée par Lois Rosow en 2003).
Problèmes de fond Lorsqu’un opéra a été largement repris et modifié, les sources musicales sont nombreuses et les sources du livret encore bien davantage. Nombre de précautions sont à prendre en considération dans la méthodologie adoptée. Dans un premier temps, il convient de recenser toutes les éditions du poème d’opéra, du livret aux éditions dérivées (corpus littéraire, paroles de concert, fascicule séparé) pour évaluer le corpus et le rayonnement de l’œuvre. À titre d’exemple, on compte seize éditions du livret de Castor et Pollux dont certaines ont eu plusieurs tirages, dix éditions dans un corpus littéraire et sept éditions en fascicule séparé.20 Si la page de titre sert de premier classement, il faut ensuite vérifier rigoureusement le contenu de chaque exemplaire recensé. En effet, derrière une page de titre similaire se cachent souvent des variantes plus ou moins substantielles qui ne sont visibles que grâce à une lecture attentive du contenu. Ainsi, la deuxième édition des Indes galantes possède la même page de titre que la première édition, mais comporte (p. 2) la liste des changements faits le 28 août 1735 (Ex. 5).
Ex. 5. Rameau : Les Indes galantes. Paris, J.-B.-Chr. Ballard, 1735, p. 2 (cf. exemplaire F-Pn, Rés. Yf. 2191).
20
Bouissou, Herlin : Rameau. Catalogue thématique. Livrets (note 2), p. 55–73.
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Plus subtile, la troisième édition de cette même œuvre donne à nouveau la même page de titre que les deux premières, intègre les changements signalés dans la deuxième édition, mais en ajoute d’autres que seule une lecture analytique vers par vers permet de repérer. De plus, la troisième édition propose une version entièrement nouvelle des Fleurs, l’une des entrées des Indes galantes (cf. le recueil coté F-Pn, Rés. Yf. 2191 dans lequel sont reliées les deuxième et troisième éditions). Parmi les multiples sources existantes, il faut s’arrêter sur une version stable qui, à un moment donné dans la genèse de l’œuvre lyrique, a été validée par le compositeur. Il convient donc d’établir la connexion la plus étroite possible entre un livret et l’un des états d’une partition ayant servi à une série de représentations. Les sources du livret permettent d’ailleurs d’aider à clarifier les remaniements musicaux qui sont bien souvent très difficiles à démêler. Par exemple, dans la source de production d’Hippolyte et Aricie, certains biffages peuvent être datés grâce aux livrets. Ainsi, l’ajout du mot « Allez » et sa mise en musique (Ex. 6) – remplaçant « Déesse, pardonnez » dans la version de 1733 – peut être daté de 1767 puisqu’il ne figure que dans le livret publié à cette date (Ex. 7).
Ex. 6. Rameau : Hippolyte et Aricie. F-Po, A. 128 a, p. 33.
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Ex. 7. Rameau : Hippolyte et Aricie. Paris, Delormel, 1767, p. 17 , 5e vers de la page.
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Comme pour la musique, le texte de la source de référence choisie du livret sera complétée le cas échéant – notamment au niveau des didascalies ou descriptions de décors –, par des emprunts à d’autres éditions du livret dès lors qu’il n’y a pas de contradictions. Les notes critiques du livret signalent les variantes substantielles repérées dans les autres sources que celle choisie comme source de référence, à l’exception des différences d’orthographe ou de ponctuation, trop nombreuses et surtout sans intérêt pour notre objet.
Problèmes de forme Orthographe L’orthographe de l’époque est très instable ; la modernisation de l’orthographe qui s’opère à partir de 1730 est visible dans les dictionnaires officiels, ne transparaît pas dans les sources (livret ou musique) très en décalage avec les positions académiques et officielles. Face à cette difficulté et après avoir consulté plusieurs spécialistes de littérature, nous avons décidé de nous appuyer sur la quatrième édition du Dictionnaire de l’Académie françoise, publiée en 1762 et présentée par l’abbé d’Olivet.21 Cette édition propose une orthographe française très proche de sa forme actuelle déjà largement mise en place dans la troisième édition de 1740, notamment par l’adoption massive des accents. Au demeurant, cette nouveauté pose temporairement des problèmes matériels aux ateliers traditionnels des Coignard, imprimeurs attitrés de l’Académie. En effet, ce n’est qu’à partir de la lettre M que figurent les accents dans la troisième édition de 1740 alors qu’ils y sont dès les premières lettres dans la quatrième édition de 1762. Cette dernière modernise le pluriel des mots en ois au lieu de oix (lois, rois) et supprime de nombreux archaïsmes comme les és par ès (après, progrès, etc.) ou les j et u à la place des i et v. Néanmoins, elle maintient l’ancien procédé de notation du e ouvert par la consonne double (fidelle), l’utilisation du oi à la place du ai (connoître, foible) et continue d’omettre l’accent circonflexe sur certains mots (âme), autant d’options orthographiques que nous avons maintenues conformément à cette édition de 1762. Par ailleurs, certains cas de figure ont été normalisés dans le but de faciliter la lecture du texte. Ainsi, nous avons supprimé les majuscules superflues devant certains substantifs dans le courant d’un vers ; remplacé les & par des et et les és par ez ; restitué les traits d’union et apostrophes manquants ainsi que la ponctuation lorsqu’elle était incohérente (le point d’interrogation manque souvent à la fin d’une question), l’accent grave de la préposition « à » pour la distinguer du verbe « avoir » et l’accent circonflexe lorsqu’il permet de distinguer le sens d’un mot (du et dû).
21 D’Olivet
fut élu à l’Académie le 25 novembre 1723, puis en devint directeur en juillet 1735. À partir de 1738, il eut pour tâche de normaliser l’orthographe de la troisième édition du Dictionnaire.
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Disposition des vers Au début de la publication des Opera omnia, nous avions décidé de présenter les vers en les justifiant à gauche. Au fur et à mesure de nos recherches, nous avons opté pour une présentation respectant la mise en perspective du nombre de pieds des vers comme il est d’usage dans les livrets de l’époque (cf. Ex. 7). Pour ce faire, dans le fichier destiné à la mise en page, nous avons associé des surlignages de couleur pour chaque type de vers (alexandrin, décasyllabe, octosyllabe, etc.). Cette technique permet de mettre en évidence la structure du texte, de bien cerner le dispatching d’un alexandrin entre plusieurs personnages et d’établir soigneusement le nombre de pieds qui peut avoir des incidences sur la prononciation (cieux, dieux, etc.). Elle permet encore de mieux localiser un effet particulier – par exemple une rupture métrique à des fins expressives (« Je meurs ») – et d’apporter un éclairage sur la mise en relation de la longueur des vers et du type de musique associée – par exemple, les scènes sont plutôt en alexandrins ou en décasyllabiques, alors que les divertissements optent pour des vers plus courts. L’analyse des sources des livrets constitue un élément fondamental et essentiel dans l’élaboration de l’édition critique d’un opéra dans la mesure où chaque production lyrique engendre une nouvelle édition de livret, elle-même soumise à plusieurs tirages en cas d’aménagements du texte. De ce fait, l’analyse rigoureuse des différentes éditions de livrets permet de reconstruire la genèse complexe d’un opéra, surtout lorsque la source musicale de production a été conservée. En effet, autant cette dernière accumule sur un même support les multiples révisions, repentirs, biffages et corrections du compositeur et du (des) chef(s) d’orchestre, autant les différentes éditions du livret étagent ces étapes et par conséquent, lèvent bien des ambiguïtés.
Anna Laura Bellina
Metastasio e Goldoni. Due pesi e due misure
Scrivo a nome di un gruppo di ricerca patavino, senza elencare i partecipanti perché sono facilmente reperibili agli indirizzi www.progettometastasio.it e www.carlogoldoni. it, dove si leggono le edizioni critiche dei libretti composti dai due poeti: le princepes e le redazioni successive licenziate verosimilmente dagli autori, corredate dal motore di ricerca, dal lessico e dall’indice dei nomi. Invece nel sito www.variantiallopera.it, molto a buon punto ma ancora in fieri, curato dallo stesso team soltanto per la sezione goldoniana, il celebre avvocato è presente con sei titoli di cui si conserva almeno una partitura: La favola de’ tre gobbi, L’Arcadia in Brenta e Il negligente del 1749; Il mondo della luna e Il mondo alla roversa o sia Le donne che comandano del 1750; Il filosofo di campagna del 1754. Per ognuno di questi drammi è prevista una scheda con la descrizione dei manoscritti e delle stampe musicali (se ci sono), l’edizione di tutte le intonazioni e di tutte le stesure dei testi verbali, comprese quelle delle riprese e quelle tramandate sotto alle note. Lasciando stare le difficoltà relative alla recensio dei testimoni e soprattutto i noiosi criteri di trascrizione (comunque presentati online ai relativi indirizzi), sarà bene limitarsi a due parole sulla collazione delle varianti d’autore e di scena, completamente automatica ed eseguita in rete da un programma dedicato e battezzato Synopsis.1 Spesso il confronto fra il testo verbale di un libretto a stampa con quello della partitura coeva, identificabile con ragionevole certezza e relativa alla medesima rappresentazione, riserva qualche sorpresa: divergenze nei pezzi chiusi, sostituiti o ridotti a una sola strofa; all’opposto concordanze morfologiche, specialmente nella patina linguistica e nell’uso di doppie e scempie, oppure coincidenza d’ipometria, d’ipermetria e di altre lezioni stravaganti. Per esempio, nella princeps del Filosofo di campagna il curatore sarebbe tentato di emendare un endecasillabo sdrucciolo eccedente: «L’avolo ed il bisavolo ed il tritavolo [sic]».2 Togliendo la d eufonica del secondo «ed» si darebbe luogo alla sinalefe della congiunzione «e» con «il tritavolo» riparando il verso. E invece no, perché il manoscritto musicale quasi contemporaneo al debutto, datato esplicitamente al 1755 e conservato a Parigi ma copiato in laguna da Giuseppe Baldan al ponte di San Giovanni
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www.progettometastasio.it/pietrometastasio/synopsis.jsp?modo =menu; www.variantiallopera.it/ variantiallopera/ synopsis.jsp?modo=menu. 2 Carlo Goldoni: Il filosofo di campagna. Venezia: Fenzo, 1754, I,5, verso 218.
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Crisostomo,3 recita «L’avolo ed il bisavolo ed il trisavolo». Inoltre contiene pure le note necessarie per cantare le tredici vocali che dovrebbero essere dodici (Figura 1). Ma è inutile dilungarsi su questo argomento o cedere alla lusinga di raccontare i risultati, esilaranti e preterintenzionali, ottenuti dalla censura pontificia, perché sono già stati descritti altrove.4 Forse è il caso d’illustrare invece alcune questioni relative alla metrica, individuata da un’altra procedura automatica, applicata a Metastasio e a Goldoni, elaborata di recente e affidabile al 99,5%, che avverte l’utente quando non riesce a cavarsela da sola ovvero per il restante 0,5%. Il programma misura innanzi tutto la ripartizione fra pezzi chiusi e recitativo, con la distribuzione degli endecasillabi e dei settenari. Per quanto riguarda il poeta cesareo, le cui principes vanno dal 1724 al 1781, dopo la Didone, un dramma notoriamente piuttosto trafficato, compare un certo standard che stabilizza gli endecasillabi al 60% circa e i settenari intorno al 25% (Figura 2). Applicando la stessa procedura ai libretti dell’avvocato, pubblicati dal 1732 al 1779, si riscontrano, principalmente negli intermezzi, alcune caratteristiche inesistenti nella produzione levigata del collega: ipometri, ipermetri, versi zoppicanti, ossia con l’accento secondario fuori posto, e quinari nel declamato, probabilmente dovuti a qualche taglio veloce o mal riuscito (Figura 3). Considerando i metri dei brani strofici metastasiani, si nota una tavolozza poco variopinta in cui prevale nettamente il settenario (49%) che dando i punti all’ottonario (26%) fa la parte del leone (Figura 4). Oltre al fatto che la varietas dei colori diminuisce dal Siroe in poi, bisogna sottolineare come i pochissimi novenari di terza individuati dal sistema (0,02% del totale) non appartengano alla penna del poeta cesareo bensì a quella dell’ignoto impasticciatore, forse Domenico Lalli, che nel 1729 adatta la ripresa veneziana di Semiramide.5 Quanto a Goldoni la prima barra, che mostra l’intero corpus, esibisce una vera e propria arlecchinata, con la robusta presenza di versi anomali ossia fuori strofa (6%) che può dipendere dall’incuria frettolosa con cui venivano confezionati, pasticciati e stampati i libretti vecchi o nuovi (Figura 5). Spesso queste stranezze si possono emendare ope ingenii. Per esempio sarebbe agevole sistemare l’ottonario ipometro «Son vecchio ma non cedo»,6 tramandato nel 1735 dall’unica edizione integrale della Pupilla. Però si può accomodare almeno in due maniere: una facilior «Sono vecchio ma non cedo» e una difficilior «Sì son vecchio ma non cedo». Anche il quinario mancato «Son tradito» che si legge nello stesso intermezzo, sia nella princeps che nelle tre raccolte successive,7 si aggiusterebbe comodamente cedendo
3
Carlo Goldoni, Baldassarre Galuppi: Il filosofo. Parigi, Biliothèque Nationale de France, ms. X. 776; www.variantiallopera.it/variantiallopera/schedaPartitura.jsp?idLibretti=21. 4 www.variantiallopera.it/variantiallopera/collazione.jsp?titleCode=FILOSOFO&reset=true; Anna Laura Bellina: Varianti all’opera, in «Schifanoia», XXXVIII–XXXIX, 2011, pp. 37–43; Anna Laura Bellina: Carlo Goldoni: un avvocato nei pasticci, in «Rivista di letteratura teatrale», V, 2012, pp. 13–27. 5 Pietro Metastasio: Semiramide riconosciuta. Venezia: Buonarigo, 1729, II,9, versi 987–994. 6 Carlo Goldoni: La pupilla. Venezia: Valvasense, 1735, II, verso 445. 7 Goldoni: La pupilla (n. 6), appendice, verso 1147; Carlo Goldoni: Opere drammatiche giocose. Venezia:
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alla tentazione (vietatissima) di contaminare il dettato con la testimonianza postuma e tardiva scelta dall’editore Antonio Zatta nel 1794: «Sono tradito».8 La struttura dei pezzi solistici mostra nei singoli drammi la distribuzione di quelli monostrofici, bistrofici e polistrofici, isometrici, anisometrici e polimetrici, con le stanze di uguale o differente numero di versi. Benché in Metastasio, com’è noto, prevalgano decisamente le scelte regolari, le minoranze godono di una sicura nicchia di sopravvivenza: i settenari coi quinari resistono in tutte le redazioni della Didone (Figura 6) dalla princeps del 1724 alla raccolta Hérissant del 17809, mentre fra le arie tripartite si annovera la fortunatissima «Se cerca, se dice» dell’Olimpiade.10 In Goldoni regna invece l’anarchia, dovuta anche alla presenza degli ottonari mescolati a casaccio coi quaternari (Figura 7). Metastasio adopera i versi sdruccioli esclusivamente nei pezzi chiusi, laddove i pochissimi tronchi tendono a sparire del tutto dal declamato: sono appena sei nella princeps della Didone, zero o quasi nelle opere successive e in quelle della maturità (Figura 8). Al contrario il rutilante Goldoni fa scialo di clausole proparossitone anche nel recitativo, sia perché esibisce un lessico meno censurato, sia perché vuole ottenere un effetto giocoso come nell’Ippocondriaco, dove si trovano circa cento occorrenze, incluso quel «vomito»11 che il poeta cesareo non deve aver mai nominato in vita sua (Figura 9). Sempre mediante la stessa procedura automatica, è stato costruito il rimario che considera le clausole del recitativo soltanto se uguali fra loro (baciate o alternate). Invece compaiono tutte le sillabe finali del pezzo chiuso, comprese le frequenti «lagrime» del poeta cesareo che non si accordano con niente (Figura 10). Com’è semplice immaginare, sono più accentuate in Goldoni anche le particolarità che non sempre è facile distinguere nella metrica italiana senza spaccare inutilmente il capello in quattro (Figure 11 e 12). Basterà un esempio: nel verso «Vorrei e non vorrei», che ovviamente è di Da Ponte ma prima ancora è dell’avvocato12 e di chissà quanti altri, se si considera bisillabo il verbo iniziale, bisogna prevedere una dialefe che si traduce in un colpo di glottide davanti alla congiunzione «e». Oppure si può ipotizzare una dieresi contando «Vorrei» come trisillabo. Le partiture non aiutano a decidere, sia perché amanuensi e compositori scarabocchiavano le parole a vanvera sotto alle note, sia perché non si può risolvere il problema basandosi sull’autografo del Don Giovanni, redatto da un musicista geniale e buon conoscitore della nostra lingua ma germanofono. Dunque la
Tevernin, 1753; Carlo Goldoni: Opere drammatiche giocose. Torino: stamperia Reale, a spese di Olzati, 1757; Carlo Goldoni: Opere drammatiche giocose. Venezia: Savioli, 1770–1772. 8 Carlo Goldoni: Drammi giocosi per musica, in Opere teatrali, XXXV–XLIV, Venezia: Zatta, 1794– 1795. 9 Pietro Metastasio: Didone abandonata [sic]. Napoli: Ricciardo, 1724; Pietro Metastasio: Didone abbandonata. Venezia: Rossetti, 1725; Venezia: Bettinelli, 1733; Madrid: Mojados, 1752; Parigi: Quillau, 1755 (2 versioni); Torino: stamperia Reale, 1757 (2 versioni); Parigi: Hérissant, 1780 (versione del 1752). 10 Pietro Metastasio: L’olimpiade. Vienna: van Ghelen, 1733, II,10, verso 827. 11 Carlo Goldoni: L’ippocondriaco. Venezia: s.n., 1735, II, verso 348. 12 www.carlogoldoni.it/carlogoldoni/query.jsp?check=a_started
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medesima tabella mostra insieme da un lato la sineresi, dall’altro lo iato e la dialefe, omettendo la sinalefe, poco significativa a causa dell’enorme frequenza. Da quanto esposto fin qui, si possono forse trarre due conclusioni, di cui la prima è la scoperta dell’acqua calda. Metastasio e Goldoni, pur essendo quasi contemporanei, incarnano sistemi di produzione differenti che palesemente si riflettono dovunque, metro compreso: la corte e il mercato. Il poeta cesareo incassa uno stipendio, scrive poco e usa molto il labor limae di oraziana memoria. La confezione dei suoi versi, dal lessico ripulito e perfetto, precede sempre l’intonazione. L’avvocato invece, professionista del libero scambio e prigioniero delle regole micidiali che lo governano, compone un tanto al chilo e non ha tempo da spendere per lisciare o scartavetrare i suoi testi che a volte arrivano dalla partitura alla stampa e non viceversa, per esempio nel caso dei numerosi pasticci. Ma soprattutto i due massimi librettisti del secolo coltivano generi profani opposti: l’uno si dedica al serio, l’altro predilige il giocoso, benché si cimenti con qualsiasi sfida (intermezzi, divertimenti, farsette, commedie per musica e rifacimenti vari). Questa distinzione, assai rigorosa nel Settecento classicheggiante, determina due diversi concetti di varietas, comunque obbligatoria per non tediare l’udienza e per corrispondere alle aspettative del pubblico o del cast. Nel dramma aulico il «chiaroscuro», come lo chiama il conte Francesco Prata durante un celebre colloquio riferito da Goldoni nei Mémoires e nelle Prefazioni, dipende dal «colore» dell’aria (patetica, di bravura, parlante, di mezzo carattere o brillante).13 Il comico invece conta sui contrasti del metro, che determinano il fraseggio musicale, e sul ruolo dei personaggi (seri, semiseri, buffi o caricati). Nel primo caso prevale l’esibizione del singolo interprete, mentre nel secondo comanda il gioco di squadra e quindi il concertato, sempre più complesso anche per la versificazione. Infatti, confrontando ancora una volta Goldoni e Metastasio, si vede che l’avvocato veleggia in una colorita anarchia (Figura 13), palesando una vivace tendenza a incrementare gli ensembles, desultoria ma prepotente dall’Arcadia in Brenta del 1749. Nel corpus del poeta cesareo i pezzi d’assieme aumentano timidamente dal duetto canonico fra i protagonisti, collocato rigorosamente in fondo alla scena, per arrivare alle pagine che alternano soli e masse in Romolo ed Ersilia. Fa eccezione Achille in Sciro con i sontuosi brani corali destinati a festeggiare nel 1736 le nozze di Maria Teresa e di Francesco Stefano di Lorena (Figura 14). La seconda considerazione, forse un po’ meno scontata, riguarda l’uso possibile del programma che, va ribadito, lavora automaticamente al 99,5% e si può applicare a qualunque corpus, dall’innocente sonetto canonico ai libretti del Seicento, arzigogolati e complicatissimi sotto ogni punto di vista. Quindi, una volta individuati ipometri e ipermetri nella prima fase, il curatore dell’edizione critica deciderà il da farsi ovvero se emendare, ricostruire o mantenere la lezione originaria. Dopo la costituzione del testo, la procedura si può applicare di nuovo per esaminare le acrobazie versificatorie dell’autore. E naturalmente è a disposizione di chiunque sia interessato a provarla.
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Carlo Goldoni: Prefazioni ai diciassette tomi delle commedie edite a Venezia da Giambattista Pasquali, 1761–1778, in Tutte le opere, a cura di Giuseppe Ortolani, Milano: Mondadori, 1935–1956, I, p. 688.
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Zusammenfassung Gegenstand des Beitrages sind die drei digitalen Online-Editionsprojekte zu Pietro Metastasio (www.progettometastasio.it), Carlo Goldoni (www.carlogoldoni.it) und Varianti all’opera (www.variantiallopera.it), von denen das letztgenannte neben der kritischen Edition der jeweiligen Erstausgabe und der nachfolgenden Druckausgaben des Librettos auch die Edition des Worttextes in der Fassung der Partitur zum Ziel hat. Wesentlicher Bestandteil von Varianti all’opera ist ein Programm mit Namen Synopsis, das die automatische Kollationierung von Texten und damit die Darstellung unterschiedlicher Lesarten erlaubt. Die anderen Editionen, sowohl das Metastasio- als auch das Goldoni-Projekt, verfügen hingegen über ein Programm, das die automatische Analyse der Metrik erlaubt. Das Programm unterscheidet zwischen Rezitativen und geschlossenen Nummern und gibt die Verteilung der verschiedenen Versarten aus. Hierbei zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Metastasio und Goldoni, insbesondere was metrische Unregelmäßigkeiten betrifft, die ganz unterschiedliche Gründe haben können, seien es Eingriffe fremder Hand oder Eile bei der Drucklegung. Generell ist festzustellen, dass in den solistischen Nummern bei Metastasio nur wenige Irregularitäten auftreten, während in Goldonis Texten gleichsam Anarchie zu herrschen scheint, was den Gebrauch und die Vermischung der Versarten angeht. Metastasio beschränkt die Verwendung von versi sdruccioli auf geschlossene Nummern, während Goldoni sie sogar im Rezitativ, mitunter auch mit komischem Effekt, einsetzt. Dieselbe automatisierte Abfrage erlaubt es auch, Reimlexika zu erstellen, die alle Verse von geschlossenen Nummern berücksichtigen, bei Rezitativen jedoch nur die Endungen, wenn es sich bei diesen um Paarreime handelt. Schließlich erstreckt sich die automatisierte Analyse auch auf die metrischen Besonderheiten der Synalöphe, Diärese und Dialöphe (Verschleifung bzw. Nicht-Verschleifung von Vokalen), die in Einzelfällen Spielraum für Interpretationen lassen wie in Goldonis „Vorrei e non vorrei“ (Ippocondriaco). Aus den analytischen Aufschlüsselungen, die das Programm bietet, lassen sich mehrere Folgerungen ziehen, auch wenn diese zum Teil wenig überraschend sind. Metastasio und Goldoni, obgleich Zeitgenossen, vertreten verschiedene Produktionssysteme; dies ist in Metastasios Fall der Hof, bei Goldoni aber der freie Opernmarkt, der für ein langes Feilen am Text keinen Raum ließ. Darüber hinaus bedienen beide Autoren ganz gegensätzliche Genres, das Ernsthafte der eine, das Komische der andere. Daraus resultiert ein jeweils anderes Konzept von varietas, das sich in einem Fall in der Schattierung und Stilisierung der Großformen verwirklicht, im anderen Fall aber im Kontrast des Metrums und der Typisierung der Charaktere. Im Gegensatz zur Zurschaustellung des einzelnen Sängers in der Seria steht im komischen Genre mehr und mehr das Ensemble im Zentrum, das zunehmend an Komplexität gewinnt, letztlich auch auf metrischer Ebene. Schließlich sei daran erinnert, dass das in den Projekten verwendete Programm zur Aufdeckung und Darstellung der metrischen Eigentümlichkeiten sich mit jeglichem Textkorpus verknüpfen lässt. Es stellt somit auch ein ideales Werkzeug dar, das den Editor bei seinen editorischen Entscheidungen unterstützen kann. (Norbert Dubowy)
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Beethoven als fünfter Librettist des Fidelio
Beethoven als Librettisten des Fidelio zu bezeichnen – wenn auch nur als fünften nach vier anderen – provoziert die Frage nach Art und Umfang seiner Mitwirkung an der Dramaturgie und am konkreten Text seiner Oper. Was hatte er vor sich, als er mit der Komposition begann? Was bekam er von den Theaterdichtern als ‚Libretto‘, als ‚Text-Vorlage‘ für das, was man üblicherweise als ‚Vertonung‘ bezeichnet? In welchem Ausmaß, in welcher Weise und an welchen Stellen hat Beethoven selbst in die Textgestaltung eingegriffen: durch Absprachen mit seinen Librettisten, die alle in unmittelbarer Nähe zu ihm lebten, durch poetische Anregungen, durch musikalische Forderungen und nicht zuletzt durch die musikalische Umsetzung, die in der Oper bekanntlich immer ‚das letzte Wort‘ hat. Die Vermutung, dass er einen literarisch fixierten, gleichsam autonomen Text anstandslos übernommen hat, dass er gar das Opfer seiner mehr oder weniger versierten Librettisten war, kann man von vornherein ausschließen. Doch es ist fraglich, ob man darüber hinaus nicht auch die traditionelle Vorstellung von der chronologischen Abfolge und dem kausalen Verhältnis zwischen Libretto und Komposition grundsätzlich in Frage stellen oder sogar umkehren muss: Nicht eine Textvorlage wird vertont, sondern der Librettist legt, quasi als Angebot, eine vorläufige Textfassung vor, die in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten verschiedene dramaturgische und sprachlich-poetische Stadien durchläuft, bis sie zu einem mehr oder weniger abgeschlossenen Libretto wird. Für diese These existiert bei Beethoven zwar nur eine dünne Dokumentenlage: ein paar Briefe – es sind nur wenige, denn die Librettisten saßen (wie gesagt) in der Nachbarschaft; zwei gedruckte und eine handschriftliche Librettofassung; die musikalischen Quellen: Skizzen, Autographe und die vielen Umarbeitungen; schließlich die biographische Umgebung, Beethovens Lektüre, seine Vorgehensweise bei anderen Kompositionen. Insgesamt lassen sich daraus jedoch genügend Anhaltspunkte gewinnen. – Ich werde zuerst einen Überblick über die verschiedenen Textfassungen der Oper geben, danach zwei Gesangstexte behandeln und mit einigen Fragen und Überlegungen zu Libretto und Librettoedition schließen.
I. Beethoven als „fünfter Librettist“? Wer sind die vier anderen? Das Sujet stammt bekanntlich von Jean-Nicolas Bouilly, der – angeblich nach einem persönlichen Erlebnis – das Libretto zur Opéra comique Léonore ou l’amour conjugal verfasst hat, das mit
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der Musik von Pierre Gaveaux 1798 in Paris uraufgeführt und dort ein paar Jahre lang erfolgreich gespielt wurde. Bouilly ist also Librettist 1. Der zweite Librettist, Joseph Sonnleithner, hat Ende 1803 Bouillys Léonore ins Deutsche übertragen – vermutlich zunächst in der Art, wie man um 1800 in Wien die französischen Erfolgsstücke übersetzte und sie ziemlich problemlos in Singspiele verwandelte. Vielleicht dachte er sogar daran, die Leonore mit Gaveaux’ Musik im Theater an der Wien herauszubringen. Doch dann trat Beethoven auf den Plan. Er hatte sich mit Emanuel Schikaneder, Sonnleithners Vorgänger in der Theaterleitung, überworfen und war auf der Suche nach einem neuen Opernprojekt: „ich habe mir nun geschwind ein altes französisches Buch bearbeiten laßen, und fange jezt daran an zu arbeiten“, schreibt er am 4. Januar 1804 an Friedrich Rochlitz.1 Vermutlich hatte er das „alte“ Libretto (es war noch nicht einmal sechs Jahre alt) durch Sonnleithner kennengelernt. Sonnleithners Textfassung, die uns nur als gedrucktes Libretto zur Uraufführung von Beethovens Leonore bekannt ist, blieb zwar weitgehend Übersetzung der Bouilly’schen Vorlage. Aber sie enthält auch eine Reihe bemerkenswerter Abweichungen, die – soweit sie die musikalischen Nummern betreffen – alle gewichtige musikalische Konsequenzen haben. Konsequenzen oder musikalische Ursachen? Bei sämtlichen Änderungen und Neuausrichtungen, die Sonnleithner vorgenommen hat, kann man fragen, ob sie aus seiner eigenen Erfindung stammen oder ob sie nicht von Beethoven angeregt wurden. Beispielsweise ist die einzige musikalische Nummer, die in Bouillys Libretto überhaupt kein Vorbild hat, das Quartett „Mir ist so wunderbar“. Kann man die Idee zu diesem kleinen Wunderwerk wirklich Sonnleithner zutrauen? In Bouillys und Gaveaux’ Léonore ist Pizarro, der Bösewicht, eine Sprechrolle. Er konnte also musikalisch nicht als Gegenpart zu Leonore und Florestan auftreten. Insbesondere konnte der Handlungshöhepunkt, die Mordszene im zweiten Akt, musikalisch nicht genutzt werden, weil Pizarro ja nicht singen konnte. Dass aus ihm eine Gesangsrolle werden musste, war gewiss auch Sonnleithner klar. Aber welche Konsequenzen dies für die Strukturierung der musikalischen Nummern haben würde, war aus musikalischer Sicht viel eher zu erkennen als aus der eines Theaterdichters. Die gewichtigste Änderung besteht in der Ausweitung der Aktschlüsse zu großen mehrsätzigen Ensembles. Bei Bouilly enden die beiden Akte, wie in der Opéra comique üblich, mit kurzen Chorsätzen – der erste Akt übrigens mit dem Gefangenenchor. Es war Sonnleithners Aufgabe, die inhaltlichen Situationen zu finale-ähnlichen Ensembles auszubauen. Aber der Verlauf, der Umfang und die Gliederung waren im Team mit dem Komponisten zu klären. Nach der missglückten Uraufführung im November 1805 wurde die Leonore revidiert und kam Ende März 1806 erneut auf die Bühne. Stephan von Breuning, Beet hovens Bonner Jugendfreund, der seit 1801 in Wien lebte, hat berichtet, Beethoven habe „einige Unvollkommenheiten in der Behandlung des Textes“ bemerkt und die
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Ludwig van Beethoven: Briefwechsel. Gesamtausgabe, Bd. 1. Hrsg. von Sieghard Brandenburg. München 1996, S. 206 (Brief Nr. 176 vom 4. Januar 1804).
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Oper deshalb wieder vorgenommen. „Ich [Breuning] arbeitete ihm das ganze Buch um, wodurch die Handlung lebhafter und schneller wurde; er verkürzte viele Stücke, und sie ward hierauf [...] mit dem größten Beifall aufgeführt“.2 Breuning war also der dritte Librettist. Doch es war Beethoven, der „Unvollkommenheiten“ des Librettos bemerkt hatte. Im gedruckten Libretto der neuen Fassung wird Breuning nicht genannt, sondern, wie in dem der Uraufführung, nur Sonnleithner. Um dessen Einwilligung zu erhalten, hatte Beethoven ihm geschrieben: ich hoffe, sie werden es mir nicht abschlagen, wenn ich sie recht sehr bitte, [...] daß ich das Buch mit seinen jezigen Verändrungen wieder unter ihrem Namen darf drucken laßen – Als ich [sic!] die Verändrungen machte, hatten sie hauptsächlich mit ihrer Faniska zu thun, und so machte ich mich selbst daran, sie hätten die Geduld nicht gehabt, [...] deshalb glaubte ich auch still schweigend auf ihre Einwilligung hoffen zu dürfen, aus 3 Akten sind nur zwei gemacht worden, um dieses zu bewerkstilligen und der oper einen lebhaftern Gang zu geben, habe ich alles so sehr als möglich abgekürzt [...] – dieses alles machte nur eine Umschreibung des ersten Aktes nöthig, und darin besteht die Veränderung des Buchs.3
Tatsächlich hatte Breuning auch keineswegs „das ganze Buch“ umgearbeitet, wie er behauptete, sondern lediglich (auf Beethovens Wunsch) im ersten Akt die Reihenfolge der Nummern geändert und, wo es nötig war, die Dialoge neu geschrieben. Die Gesangstexte blieben nahezu unangetastet. Dass Beethoven sich Sonnleithner gegenüber nur deshalb selbst als Autor ausgab, weil er ihn nicht mit dem Dilettanten Breuning konfrontieren wollte, ist wenig wahrscheinlich. Nach der zweiten Inszenierung der Leonore im März/April 1806 trat die acht Jahre währende Kompositionspause in der Geschichte der Oper ein. Doch geruht hat Leonore nicht. Gleich nach der Wiener Aufführung plante Beethoven eine Produktion im Prager Ständetheater, das nach dem Tod von Domenico Guardasoni die italienische Tradition ablegte und bevorzugt Wiener Singspiele und übersetzte Opéras comiques spielte. Die Leonore hätte zum neuen Repertoire gut gepasst. Möglicherweise traute man sich die Aufführung der aufwendigen Musik dann aber doch nicht zu und setzte sie kurzfristig ab, nachdem Beethoven eigens eine neue, leichtere Ouvertüre (die sogenannte Erste Leonoren-Ouvertüre) für sie geschrieben hatte.4 Als er die Partitur der Oper nach Prag sandte, legte er ihr eine Liste mit Anweisungen dazu. 5 Sie beginnt mit Rechtlichem: „Die Partitur zurückzusenden“ und nicht aus der Hand zu geben. Dann folgen dramaturgische Änderungswünsche:
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Franz Gerhard Wegeler, Ferdinand Ries: Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven. Koblenz 1838, S. 63. 3 Beethoven 1996 (Anm. 1), Bd. 1, S. 277, 279 (Brief Nr. 245, Ende März 1806). 4 Über die geplante Prager Aufführung noch einmal ausführlich in: Ludwig van Beethoven: Gesamtausgabe, Abt. IX, Bd. 1: Ouvertüren zu Leonore. Hrsg. von Helga Lühning. Kritischer Bericht. München 2017, S. 174f. 5 Siehe dazu: Helga Lühning: Fidelio in Prag. In: Beethoven und Böhmen. Hrsg. von Sieghard Brandenburg und Martella Gutierrez-Denhoff. Bonn 1988, S. 349–392, hier S. 368–378.
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4. Die Arie mit Obl: Violin und Violoncello auszulassen. [Gemeint ist das Duett von Marzelline und Leonore „Um in der Ehe froh zu leben“.] 5. Den Text [der Dialoge] nach Gefallen abzuändern und zu verkürzen. 6. Den Chor der Gefangenen in bessere Verbindung mit dem Stück zu bringen. [...] 10. Das Erste Terzett zu verkürzen, nämlich jenes mit dem Klopfen. [Gemeint ist das Duett von Jaquino und Marzelline „Jetzt, Schätzchen, jetzt sind wir allein“.] [...] 12. Vergleichung des Italienischen Büchels [gemeint ist das Libretto zu Paërs Leonora] mit dem Deutschen und Verbesserung des letzteren.
1814, als Beethoven die dritte und letzte Revision der Oper vornahm, wurden diese alten Anweisungen alle umgesetzt: Das Duett von Jaquino und Marzelline hat Beethoven ein wenig gekürzt, das von Marzelline und Leonore gestrichen; die Dialoge wurden abermals „abgeändert“ und gekürzt, Paërs Libretto zu Rate gezogen; das erste Finale mit dem Gefangenenchor zur Hälfte neu geschrieben und besser in die Handlung integriert. Ausgeführt wurden Beethovens Anweisungen nun vom vierten Librettisten des Fidelio, von Georg Friedrich Treitschke – Theaterdichter, Übersetzer, zeitweilig sogar Theaterleiter. 1814 war er als eine Art Dramaturg am Kärntnertor-Theater tätig, wo Beethovens Oper erneut herauskommen sollte. Treitschke war also ‚von Amts wegen‘ für die Textrevision zuständig.6 Seine Vorlage war die Sonnleithner/Breuning’sche Fassung, das heißt das gedruckte Libretto von 1806. Die Österreichische Nationalbibliothek besitzt ein Exemplar dieses Librettos, in das Beethoven selbst sporadisch an einigen Stellen Striche für Kürzungen oder Änderungen eingetragen hat: im ersten Finale (nach dem Auftritt von Marzelline), in den Dialogen vor dem Terzett „Euch werde Lohn in bessern Welten“, vor dem Quartett „Er sterbe“ und nach dem Duett „O namenlose Freude“. Zwar entsprechen nur der erste und der vierte Strich der Revision, die Treitschke 1814 tatsächlich vornahm; aber das Exemplar könnte aus seinem Arbeitsmaterial stammen.7 Von seiner Bearbeitung ließ Treitschke eine Abschrift anfertigen, die er Anfang März an Beethoven schickte. Beethoven las sie und machte zu denjenigen Nummern, die er ändern wollte, sogleich Notizen – Deklamationszeichen, Randglossen, kleine Skizzen (siehe Abb. 1, S. 114/115). Viele von Beethovens Einzeichnungen sind verwischt und verblasst und kaum mehr sichtbar, geschweige denn lesbar. Aber sie er-
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„... mein doppeltes Amt als Opern-Dichter und Regisseur machte mir seinen [Beethovens] Wunsch zur theuren Pflicht“, schreibt er 27 Jahre später nicht ohne Stolz. Georg Friedrich Treitschke: Die Zauberflöte. Der Dorfbarbier. Fidelio. Beitrag zur musikalischen Kunstgeschichte. In: Orpheus. Musikalisches Taschenbuch für das Jahr 1841. Hrsg. von August Schmidt. Wien 1841, S. 239–264, hier S. 260. 7 A-Wn: 2319-A. Es enthält außer den auffälligen Strichen nur im Finale I einige kleine Eintragungen von fremder (Treitschkes?) Hand, teils Korrekturen von Druckfehlern, teils Änderungen, die mit der Fassung 1814 übereinstimmen.
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möglichen es, den zeitlichen Ablauf zu rekonstruieren. Offenbar kurz nach der Lektüre schrieb Beethoven an Treitschke: „Mit großem Vergnügen habe ich ihre Verbesserungen der Oper gelesen, es bestimmt mich mehr die verödeten Ruinen eines alten Schlosses wieder aufzubauen“.8 Wenig später, als er die ersten Schritte zum Wiederaufbau getan hatte, ließ er jenen euphorischen Brief folgen, in dem es u. a. heißt: Die Partitur von der oper ist so schrecklich geschrieben, als ich je eine gesehn habe, ich muß Note für Note durchsehn, [...] kurzum ich versichre sie lieber T[reitschke], die oper erwirbt mir die Märtirerkrone, hätten sie nicht sich so viele Mühe damit gegeben, und so sehr vortheilhaft alles bearbeitet, wofür ich ihnen ewig danken werde, ich würde mich kaum überwinden können — sie haben dadurch noch einige gute Reste von einem Gestrandeten Schiffe gerettet —.9
Beethovens blumige Sprache ist zwar ein wenig suspekt, doch die beiden Briefe vermitteln den Eindruck, als habe Treitschke das Libretto nun endlich in eine seriöse literarische Form gebracht, die es mit Beethovens Musik aufnehmen konnte, und ihm einen Text vorgegeben, der seine eigenen Bemühungen um das ‚gestrandete Schiff‘ lohnte. Aber worin besteht Treitschkes Anteil tatsächlich? Die Dialoge hat er sorgfältig überarbeitet, jedoch nur zu etwa einem Viertel neu geschrieben; sie wurden dadurch übrigens kaum kürzer.10 Auch an den Texten der Gesangsnummern änderte er nicht viel. Zum ersten Finale schrieb er einen neuen Schluss, beginnend mit Pizarros Auftritt, der Rückkehr der Gefangenen und dem abschließenden, großen Ensemble „Leb wohl du warmes Sonnenlicht“. Er brachte also „den Chor der Gefangenen in bessere Verbindung mit dem Stück“, wie es Beethoven schon in den Prager Anweisungen angeregt hatte. – Vor dem zweiten Finale wechselte er das Szenarium. Es war „mir früher als ein großer Uebelstand erschienen, daß der zweite Aufzug durchaus im finstern Kerker spielte, in den, höchst unpassend, zuletzt der M in ister, sein Gefolge und das ga nze Vol k [Sperrung original] kamen, und dort beim Scheine einiger Fackeln, Florestan’s Befreiung feierten“, erinnerte er sich kurz vor seinem Tod an seine Zusammenarbeit mit Beethoven.11 Seine Entscheidung, vor dem zweiten Finale die Szenerie zu wechseln und dadurch den Lieto fine tableauartig abzutrennen, war allerdings nicht unproblematisch. (Das zu diskutieren wäre ein eigenes Referat.)
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Beethoven 1996 (Anm. 1), Bd. 3, S. 18 (Brief Nr. 705). Ebd., Bd. 3, S. 20 (Brief Nr. 707). 10 Eine synoptische Gegenüberstellung bietet die Ausgabe des Reclam-Verlags: Ludwig van Beethoven: Leonore oder der Triumph der ehelichen Liebe/Fidelio. Hrsg. von Helga Lühning. Stuttgart 2009. Siehe ferner Ulrike Arbter: Georg Friedrich Treitschke, Beethovens dritter Fidelio-Librettist. In: Wien: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literaturimmigration von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. Univ. Wien 1997 (maschinenschriftlich), S. 186–276. 11 Treitschke 1841 (Anm. 6), S. 260. 9
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Abb. 1: Fidelio, handschriftliches Libretto: Anfang des zweiten Aktes (Bonn, Beethoven-Haus: NE 85).
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Im vorausgehenden Quartett „Er sterbe! Doch er soll erst wissen“, dem Kulminationspunkt der Handlung, beseitigte Treitschke sehr geschickt die inhaltlichen Unklarheiten. Nach dem Trompetensignal lässt er Jaquino, der früher im zweiten Akt völlig unbeschäftigt geblieben war, unvermittelt auftreten und rufen: „Vater Rocco! Der Herr Minister kommt an! Sein Gefolge ist schon im Schlosstor.“ Dadurch erfahren Leonore, Florestan und Rocco, was zuvor nur Pizarro und das aufmerksame Publikum wussten, dass nämlich das Trompetensignal das Zeichen der Rettung ist. In der früheren Opernfassung müssen Leonore und Florestan glauben, die Fanfare verkünde ihr Ende. Ihr Duett „O namenlose Freude“ vereinigt sie in Erwartung des gemeinsamen Todes, während die Zuschauer bereits wissen, dass die Situation so dramatisch gar nicht ist. Diesen regelrechten dramaturgischen Fehler hat Treitschke durch den kleinen Eingriff behoben.
II. Die Revisionen, die Beethoven für die endgültige Fassung der Oper vornahm, bestanden vor allem in der weitgehenden Neufassung der beiden Finali und der beiden Protagonistenarien. Leonores Szene im ersten Akt beginnt mit dem neuen Rezitativ „Abscheulicher – wo eilst du hin?“; ihre Arie, vor allem der langsame Teil „Komm, Hoffnung, laß den letzten Stern der Müden nicht erbleichen“ wurde Ton für Ton redigiert. – Zu Florestans Szene am Anfang des zweiten Aktes schrieb Beethoven das Rezitativ „Gott! welch Dunkel hier“ zum dritten Mal neu; auch hier wurde der langsame erste Arienteil „In des Lebens Frühlingstagen“ erneut so stark revidiert, dass Beethoven ihn sogar noch einmal selbst (autograph) niederschrieb. Der ursprüngliche Schlussteil wurde durch die Neukomposition auf Treitschkes Verse „Und spür ich nicht linde, sanft säuselnde Luft“ ausgetauscht. – Schließlich verfasste Treitschke noch zu einer dritten Arie neue Verse, zu Roccos sogenannter Goldarie, die Beethoven 1806 gestrichen hatte und nun 1814 zugunsten des Sängers der Partie wieder aufnahm. Doch: Nicht Beethoven musste Neues komponieren, weil Treitschke die Texte geändert hatte, sondern umgekehrt: Beethoven wollte die Szenen ändern, und Treitschke musste die dazu benötigten Texte liefern. In allen drei Fällen lässt sich zeigen, wie massiv Beethoven auf die Textgestaltung eingewirkt hat. Ein besonders aufschlussreiches Dokument ist das Manuskript zur letzten Fassung von Roccos Goldarie (Nr. 4).12 Die Komposition entstand bereits 1804/05. 1806 wurde sie gestrichen, 1814 aber auf Wunsch des Sängers Karl Friedrich Weinmüller wieder aufgenommen. Dazu wollte Beethoven offenbar die Singstimme umarbeiten. Er ließ deshalb die Partitur ohne den Gesangspart abschreiben, den er dann selbst (im Wesentlichen unverändert) eintrug. 12
Das markante Beispiel habe ich in anderem Zusammenhang schon einmal behandelt in: Leonore und die „Goldarie“. Überlegungen zur Dramaturgie und Philologie des Fidelio. In: „Vom Erkennen des Erkannten“. Musikalische Analyse und Editionsphilologie. Festschrift für Christian Martin Schmidt. Hrsg. von Friederike Wißmann. Wiesbaden 2007, S. 199–212.
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Abb. 2: Kopistenabschrift der Arie „Hat man nicht auch Gold beineben“ (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv: Mus. ms. Beethoven autogr. 26 I, Bl. 99v).
Unter die Partitursysteme des Manuskripts schrieb Treitschke einen neuen Text.13 Der Anfang lautet (Abb. 3, rechte Spalte): „Von dem Schlüssel hört erzählen, / Welcher zwingt des Glückes Thor. / Vom Magnet, der alle Seelen / Unaufhaltsam trägt empor! [usw.]“ Beethoven akzeptierte den neuen Text jedoch nicht. Er strich ihn aus (Abb. 2), so dass die von ihm selbst notierten, Sonnleithner’schen Verse („Hat man nicht auch Gold beineben ...“) gültig blieben. In der zweiten Strophe strich er dagegen den ursprünglichen Sonnleithner’schen Text „Daß nur Gold im Beutel lache / Jedes Erdenglük ist dein ...“ (Abb. 3: linke und mittlere Spalte) und ließ Treitschkes Parodietext stehen: „Wenn sich Nichts mit Nichts verbindet, / Ist und bleibt die Summe klein ...“ Den Refrain: „Das Glük dient wie ein Knecht für Sold / Es ist ein mächtig Ding das Gold“ übernahm er wieder aus der Sonnleithner’schen Fassung. – Für die Verse 7 und 8 der ersten Strophe, „Ein Amt, hohe Würden verschaft dir das Gold ...“, für die das ver-
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Dass die Umarbeitung schon 1806 erfolgte und der Text von Stephan von Breuning stammt, wie man lange angenommen hat, ist unzutreffend. Siehe dazu: Lühning 2007 (Anm. 12), S. 203–206.
Von dem Schlüssel hört erzählen, Welcher zwingt des Glückes Thor. Vom Magnet, der alle Seelen Unaufhaltsam trägt empor! Zwar giebt’s Philosophen, die schelten das Gold, Und wollen nur Wurzeln und Kräuter; Doch zeigt sich das mächt’ge, flugs sind sie ihm hold Und rühmen Entsagung nicht weiter! Denn Klang und Glanz erwerben Sold, Es ist ein goldnes Ding, das Gold. Wenn sich Nichts mit Nichts verbindet, Ist und bleibt die Summe klein. Wer bey Tisch nur Liebe findet, Wird nach Tische hungrig seyn. Drum lächle der Zufall Euch gnädig und hold, Und segne und lenk Euer Streben. Das Liebchen im Arme, im Beutel das Gold, So mögt Ihr viel Jahre durchleben. Aus Klang und Glanz erbeutet Sold; Es ist ein goldnes Ding das Gold.
Hat man nicht auch Gold beyneben Kann man auch nicht nicht ganz glücklich sey[n]. Doch wenns in der Tasche fein klingelt und rollt, Da hält man das Glük an dem Fädchen Ein Amt hohe Würden verschaft dir das Gold Juwelen und reizende Mädchen. * Das Glück dient wie ein Knecht für Gold Sold, Es ist ein schönes Ding das Gold. Daß nur Gold im Beutel lache Jedes Erdenglük ist dein Stolz und Übermuth und Rache Werden schnell befriedigt seyn Drum ist auch Fortuna den Reichen so hold Sie thuen ja nur was sie wollen, Verhüllen die Handlungen künstlich mit Gold Worüber sie schämen sich sollen Das Glük dient wie ein Knecht für Sold Es ist ein mächtig Ding das Gold.
Hat man nicht auch Gold beyneben Kann man auch nicht glüklich seyn Traurig schlept man fort das Leben Wahres Elend stellt sich ein. Doch wenns in der Tasche fein klingelt und rolt Dann hält man das Glük an dem Fädchen Ein Amt hohe Würden verschaft dir das Gold Juwelen und reitzende Mädchen Das Glük dient wie ein Knecht für Gold für Sold Es ist ein schönes Ding das Gold.
Daß nur Gold im Beutel lache Jedes Erdenglük ist dein Stolz und Übermuth und Rache Werden schnell befriedigt seyn Drum ist auch Fortuna den Reichen so hold Sie thuen ja nur was sie wollen Verhüllen die Handlungen künstlich mit Gold Worüber sie schämen sich sollen Das Glük dient wie ein Knecht für GSold Es ist ein mächtig Ding das Gold.
Abb. 3: Textvergleich.
* im Aufführungsmaterial: Und Macht und Liebe verschafft dir das Gold, Und stillet das kühnste Verlangen.
Traurig schleppt sich fort das Leben, Wahres Elend Mancher Kummer stellt sich ein.
Abschrift 1814: Treitschkes Parodietext
Abschrift 1814: Beethovens Textrevision
Abschrift 1805: ursprünglicher Text
Autographe Streichungen
Autographer Text
Abweichungen vom Libretto 1805
Arie des Rocco
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wirrende Manuskript überhaupt keine gültige Fassung enthält, muss man im Aufführungsmaterial nachsuchen. Dort findet man die heute geläufige Version: „Und Macht und Liebe verschafft dir das Gold, / und stillet das kühnste Verlangen.“ Die Verse stammen also teils von Sonnleithner, teils von Treitschke. Doch über Auswahl und Zusammenstellung entschied Beethoven. Sogar einen Eingriff in den Wortlaut leistete er sich: Aus Sonnleithners viertem Vers „Wahres Elend ...“ machte er eigenhändig: „Mancher Kummer stellt sich ein“ (Abb. 3, linke und mittlere Spalte). Zu den beiden Protagonistenarien hat Beethoven vor allem inhaltliche Anregungen gegeben. Bei Florestans Kerkerszene, mit der der zweite Akt beginnt, hatte Sonnleith ner sich eng an Bouillys Vorlage gehalten. Sein Arientext hatte drei metrisch gleich gebaute Strophen mit vielen poetischen Parallelen. Die zweite Strophe ist in beiden Leonore-Libretti (1805 und 1806) enthalten, obwohl Beethoven sie von vornherein gestrichen hat. Er wollte offensichtlich keine strophische Form, sondern eine Arie mit Steigerungsanlage komponieren.14 In der Leonore folgt auf die erste Strophe „In des Lebens Frühlingstagen“ – Adagio, As-Dur – ein leidenschaftliches Andante un poco agitato in der Anfangstonart f-Moll zur (nunmehr) zweiten Strophe, die die Bilder aus dem Rezitativ und der ersten Strophe weiterführt: Ach, es waren schöne Tage, Als mein Blick an deinem hing, Als ich dich mit frohem Schlage Meines Herzens fest umfing! Mildre Liebe deine Klage, Wandle ruhig deine Bahn! Sage deinem Herzen, sage, Florestan hat recht getan. (Er sinkt auf den Stein, seine Hände verhüllen sein Gesicht.)
1814 wollte Beethoven die erste Strophe („In des Lebens Frühlingstagen“), vor allem ihre prägende thematische Gestalt, beibehalten, die musikalisch sehr schöne zweite Strophe aber ersetzen. Zu erklären ist das kaum anders, als dass er für den zweiten Arienteil eine ganz neue Idee hatte. Treitschke stellte die Neukonzeption später so dar, als sei sie, nach gemeinsamen Überlegungen, seine eigene Erfindung gewesen. „Wir [Beethoven und er] tichteten Dieses und Jenes; zuletzt traf ich nach seiner Meinung den Nagel auf den Kopf. Ich schrieb Worte, die das letzte Aufflammen des Lebens vor seinem Erlöschen schildern.“ Dann zitiert er den Text der neuen Strophe: Und spür’ ich nicht linde, sanft säuselnde Luft, Und ist nicht mein Grab mir erhellet?
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Über die verschollene Fassung der Uraufführung, die zwar dreiteilig war, aber auch nur die erste und die dritte Strophe benutzte, siehe Helga Lühning: Auf der Suche nach der verlorenen Arie des Florestan. In: Festschrift für Christoph-Hellmut Mahling. Hrsg. von Kristina Pfarr und Axel Beer. Tutzing 1997, S. 771–794.
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Ich seh, wie ein Engel, im rosigen Duft Sich tröstend zur Seite mir stellet. Ein Engel, Leonoren, der Gattin so gleich! – Der führt mich zur Freyheit, – ins himmlische Reich!15
Sicherlich stammen die Worte von Treitschke. Die Konzeption aber, die Bilder und die Bewegung hatte Beethoven vorgegeben. Offenbar war er durch Goethes Egmont auf sie gekommen. Als er 1809 die Schauspielmusik zu Goethes Drama schrieb, wurde er mit der Kerkerszene und der Traumvision des Helden direkt auf seine Oper, auf die Szene des Florestan verwiesen. Nun, 1814, konnte er diese Idee in die Neufassung einbringen. In der letzten Szene des Dramas bereitet Egmont sich auf den Tod vor, indem er sich niederlegt und schläft.16 Beethoven hat Egmonts Worte, Goethes Anweisung folgend, als Melodram vertont: Süßer Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück ungebeten, unerfleht am willigsten. Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, verwischest alle Bilder der Freude und des Schmerzes, ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonien, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf zu sein.
reitschke versetzt Florestan in eine „an Wahnsinn grenzende, jedoch ruhige BeT geisterung“. Egmont entschläft. In einer ausgedehnten Regieanweisung stellt Goethe Egmonts Traum dar, den Beethovens Komposition illustriert:17 „Hinter seinem Lager scheint sich die Mauer zu öffnen, eine glänzende Erscheinung zeigt sich.“ Treitschke: „Und spür’ ich nicht linde, sanft säuselnde Luft, / Und ist nicht mein Grab mir erhellet?“ Goethe: „Die Freiheit in himmlischem Gewande, von einer Klarheit umflossen, ruht auf einer Wolke.“ Treitschke: „Ich seh’, wie ein Engel im rosigen Duft / Sich tröstend zur Seite mir stellet.“ Goethe: „Sie hat die Züge von Clärchen, und neigt sich gegen den schlafenden Helden. [...]“18 Egmont erwacht und deutet seinen Traum: „Die göttliche Freiheit, von meiner
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Treitschke 1841 (Anm. 6), S. 261. Textzitate nach der Ausgabe letzter Hand, Bd. 8. Stuttgart/Tübingen 1828, S. 313f. 17 Siehe dazu Helga Lühning: Beethovens Egmont zwischen Schauspiel, Oper und Symphonischer Dichtung. In: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Hrsg. von Dagmar Beck und Frank Ziegler. Mainz 2003 (Weber-Studien. 7), S. 157–184; erneut in: Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 17,2: Kantate. Ältere geistliche Musik. Schauspielmusik. Hrsg. von Siegfried Mauser und Elisabeth Schmierer. Laaber 2010, S. 269–288. 18 „Sie drückt eine bedauernde Empfindung aus, sie scheint ihn zu beklagen. Bald faßt sie sich, und mit aufmunternder Geberde zeigt sie ihm das Bündel Pfeile, dann den Stab mit dem Hute. Sie heißt ihn froh seyn, und indem sie ihm andeutet, daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde, erkennt sie ihn als Sieger und reicht ihm einen Lorbeerkranz. Wie sie sich mit dem Kranze dem Haupte nahet, macht Egmont eine Bewegung, wie einer der sich im Schlafe regt, dergestalt, daß er mit dem Gesicht aufwärts gegen sie liegt. Sie hält den Kranz über seinem Haupte schwebend; man hört ganz von weitem 16
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Geliebten borgte sie die Gestalt, das reizende Mädchen kleidete sich in der Freundin himmlisches Gewand. [...]“ Treitschke dichtete: „Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich! / Der führt mich zur Freyheit ins himmlische Reich!“ Am 13. Februar 1814 berichtet Beethoven an Franz Brunsvik: „meine oper wird auch auf die Bühne gebracht, doch mache ich vieles Neu“.19 Mitte Februar waren also die Vereinbarungen über die Wiederaufführung getroffen; Beethoven begann mit der Planung. Etwa 14 Tage später schreibt er an Treitschke: „für meine oper wird ihnen mein Dank überall Voraus eilen – bey Gelegenheit denken sie einmal Egmont gerade nur auf das Wiednertheater zzu [sic] bringen“.20 Wie 1809 vom Egmont auf Florestans Szene kommt Beethoven nun, am Beginn der Planungen für die Revision der Oper, auf seine Schauspielmusik zurück und weist Treitschke auf sie hin. Damit ließ er es aber nicht bewenden. Als es um die neue Strophe zu Florestans Arie ging, als sie „dies und jenes“ dichteten und Treitschke schließlich „den Nagel auf den Kopf“ traf, hatten sie Egmonts Kerkerszene offenbar direkt vor sich. Als weiteres Beispiel könnte man die Szene der Leonore anführen, an der zu erkennen ist, dass Beethoven auch Sonnleithner schon genaue Vorgaben gemacht und dann nicht einmal vertont hat, was Sonnleithner lieferte: nämlich einen zweistrophigen Arientext mit Refrain. Beethoven komponierte dagegen bereits 1805 eine „Scena ed Aria“, benutzte die ersten vier Verse für das Rezitativ, stellte in der Arie die Strophenteile um und beseitigte wenigstens die gröbsten sprachlichen Ungeschicklichkeiten.21 Im Herbst 1805 forderte er Sonnleithner auf, ihm „die lezten vier Verse“ zu schicken, zu denen er sich „nur vorlaüfig schon das thema ausgedacht“.22 Damit war der Text zum Adagio der Arie gemeint: „Komm Hoffnung! Laß den letzten Stern / Der Müden nicht erbleichen! [...]“ Sowohl Sonnleithner als auch Treitschke hat er offenbar durch Verse aus der Urania von Christoph August Tiedge angeregt, mit der er sich 1805, als er das Lied „An die Hoffnung“ (op. 32) schrieb, und später, nachdem er Tiedge 1811 persönlich kennen gelernt hatte, noch mehrfach befasst hat. – Auch bei der Benutzung des „italienischen Büchels“, des Librettos zu Paërs Leonora, das Treitschke am Anfang des Rezitativs „Abscheulicher, wo eilst du hin“ regelrecht zitiert, könnte Beethoven bereits nachgeholfen haben.
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eine kriegerische Musik von Trommeln und Pfeifen: bei dem leisesten Laut derselben verschwindet die Erscheinung.“ Beethoven 1996 (Anm. 1), Bd. 3, S. 8 (Brief Nr. 696). Ebd., S. 12 (Brief Nr. 699, vor dem 27. Februar 1814). Wie bei Florestans Arie weicht auch hier das Uraufführungslibretto vom vertonten Text ab. Die Verse 5–8 (Refrain der ersten Strophe) lauten im Libretto: „O folge deinem Triebe! / Erliege nicht / Der hohn Pflicht / Der treuen Gattenliebe. [sic!]“ 1806 wurde der Librettotext entsprechend der Komposition korrigiert. Beethoven 1996 (Anm. 1), Bd. 1, S. 264 (Brief Nr. 234).
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III. Welche Konsequenzen hat Beethovens Rolle als „fünfter Librettist“, seine massive Einflussnahme auf die Textgestaltung des Fidelio, für die Vorstellung, die wir vom Libretto als einer isolierbaren Schicht im Gesamtrahmen einer Oper haben? Welche Konsequenzen hat sie für den editorischen Umgang mit dieser Werkschicht? Fidelio ist sicher keine Ausnahme – weder mit seinen vielen Fassungen und Überarbeitungen noch mit der mehrfachen Revision des Textes. In welchem Maß – und ob überhaupt – die Komponisten selbst an den Neufassungen ihrer Opern beteiligt waren und Gelegenheit und Interesse hatten, auch auf deren Dramaturgie und Textgestaltung Einfluss zu nehmen, ist allerdings von Fall zu Fall verschieden. Unter anderem hängt es nicht unwesentlich vom Publikumserfolg ab. Dass Beethoven sich so ausgiebig um sein ‚Sorgenkind‘ Leo nore/Fidelio gekümmert hat, liegt ja vor allem an den Misserfolgen der ersten Aufführungen und an den über lange Zeit vergeblichen Bemühungen um die öffentliche Wahrnehmung. Dass aber die Libretti überhaupt die Konsistenz erhalten sollten, die sie seit dem späteren 19. Jahrhundert durch die Publikation jenseits der Theateraufführungen als eigenständige Veröffentlichungen – etwa in Gestalt von Reclam-Heften – in unserer Vorstellung gewonnen haben, muss man bezweifeln. Wenn sogar ein Beethoven, dessen operndramatische Kompetenzen (zu Recht oder vielleicht doch zu Unrecht?) in Frage gestellt werden, seinen Librettisten Anweisungen und Ratschläge geben konnte und musste – worin sollten dann noch Autonomie und Autorität des Librettos für die Oper bestanden haben? Wie die separate Edition eines Librettos mit dieser Unbestimmtheit des Textes umzugehen hat, hängt von ihrer Funktion ab. An anderer Stelle23 habe ich die These vertreten, dass Librettoeditionen stets die Ergänzung zur Publikation der Opernmusik sein sollten. Ihre Gestaltungsform, ihr Informationsgehalt und ihr philologischer Anspruch müsse sich an der jeweiligen Publikationsform der Oper orientieren. Das galt bereits für die kleinen Bücher, die Libretti des 17./18. Jahrhunderts, von denen die literarische Gattung der Operntexte ihre Bezeichnung erhielt. Sie waren die Ergänzung – nicht zu einer gedruckten Publikation der Opernmusik (die es nicht gab), sondern zur Theateraufführung. Es galt in negativer, aber durchaus charakteristischer Weise auch zur Zeit Beethovens, als die Tradition des gedruckten Aufführungslibrettos allmählich abbrach. (Die Libretti zu den beiden Leonore-Aufführungen 1805 und 1806 wurden noch gedruckt, das zum Fidelio 1814 nicht mehr.) Und es gilt insbesondere für den wissenschaftlichen Bereich, in dem das Pendant zur Librettoedition die entsprechende Partiturausgabe sein muss. Angesichts der Unselbständigkeit des Textes stellen sich für die wissenschaftliche Edition allerdings zwei gravierende Fragen: Warum soll der Text überhaupt gesondert ediert werden, wenn man ihm weder die für den Druck unabdingbare Konsistenz attes23
Helga Lühning: Prima le parole? Gedanken zur Edition von Operntexten. In: Mozart-Jahrbuch 2013, 2014, S. 3–16.
Beethoven als fünfter Librettist des Fidelio
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tieren kann, noch die Autorität gegenüber der Musik – wenn man ihn nicht als Vorgabe für die musikalische Erfindung, sondern als integralen Bestandteil des Werkganzen ansehen muss? Wie lässt sich das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis von Text und Komposition in einer isolierten Librettoedition darstellen? Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Die Kenntnis des Textes sei die Tür zum Verständnis dramatischer Kompositionen, meinte schon Lorenzo Da Ponte: „I think that poetry is the door to music, which can be very handsome, and much admired for its exterior, but no body can see its external beauties, if the door is wanting.“24 Am Libretto kann man die Gliederung, die dramaturgischen Strukturen, Strophen, Verse, Textrhythmen und den formalen Bau der musikalischen Nummern, die Rätsel in den Beziehungen zwischen Text und Musik besser erkennen und ergründen als anhand der Partitur. Umgekehrt veranschaulicht der Vergleich, was alles im Libretto n i c h t steht: Textwiederholungen, Enjambements, metrische Besonderheiten, Gewichtungen von Worten und Aussagen, vermeintliche Fehler, versehentliche und absichtliche Textänderungen25 und vieles andere – mit einem Wort: die Interpretation des Textes durch die Musik. Die isolierte Textdarstellung ist also, auch wenn sie nicht Grundlage, sondern erst Resultat der Kompositionsarbeit war, unumgänglicher Bestandteil einer Opernedition. Wie man indes den vertonten Text und den Librettotext in ein geregeltes editorisches Verhältnis bringen und das Geflecht von Textkonzeption und Komposition durchschaubar machen kann, wird, selbst in einer planvollen Verbindung von Partitur- und Librettoedition, eine offene Frage bleiben.
24
Lorenzo Da Ponte: An Extract from the Life of Lorenzo Da Ponte. With the History Of Several Dramas Written By Him, and among others, Il Figaro, Il Don Giovanni, and La scuola degli amanti, set to Music By Mozart. New York 1819, S. 27; zitiert nach Hans Joachim Kreutzer: Don Juan – Vom Drama zur Oper. In: Wolfgang Amadeus Mozart: Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni K. 527, 540a, 540c. Facsimile of the Autograph Score. Los Altos (California) 2009 (Mozart Operas in Facsimile. 4), S. 31–42, hier S. 41. – Kreutzer hat übersetzt und interpretiert: „Ich bin der Überzeugung, daß die Dichtung so etwas wie die Tür ist, die zur Musik hinführt. Musik kann sehr schön sein, ihr Äußeres kann sehr bewundert werden, aber niemand ist imstande, die inneren Schönheiten wahrzunehmen, wenn es die Tür nicht gibt.“ 25 Besonders markant der Anfang von Florestans Rezitativ: In allen drei Librettoversionen heißt der erste Vers: „Gott! welch ein Dunkel hier! O grauenvolle Stille!“ Beethoven hat das Rezitativ für alle drei Fassungen der Oper neu komponiert und Florestan immer „Gott! welch Dunkel hier!“ ausrufen lassen. Es ist durchaus denkbar, dass die Änderung auf einem Versehen beruht. Durch die Prägnanz der musikalischen Deklamation erscheint sie jedoch als absichtliche, sogar als dramatisch äußerst wirkungsvolle Korrektur.
Solveig Schreiter und Joachim Veit
Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen
I. Quellensituation Die Quellenlage zu Webers Freischütz kann sicher mit Recht als überaus günstig bezeichnet werden, denn abgesehen von der großen Anzahl erhaltener handschriftlicher und gedruckter Quellen befinden sich darunter jene, die für die Rekonstruktion der Textgenese von zentraler Bedeutung sind. An diesen Quellen lässt sich die Zusammenarbeit von Librettist und Komponist – nahezu von der ersten Werkidee an bis zur Vollendung der Oper bzw. sogar bis zu den späteren, teils erst nach dem Tod Webers von seinem Librettisten Friedrich Kind noch vorgenommenen Veränderungen innerhalb der gedruckten Ausgaben – anschaulich nachvollziehen. Demgegenüber sind leider auch Lücken zu beklagen. In Anlehnung an die in Zusammenarbeit mit der Weber-Gesamtausgabe vorgelegte kritische Textbuchedition von 20071 werden im Folgenden anhand der wichtigsten Librettoquellen die Besonderheiten bzw. Probleme der Freischütz-Quellenlage vorgestellt, wobei die Rolle Webers bei der Textgenese, dargestellt an einigen markanten Beispielen, im Vordergrund stehen soll. Mit einem kurzen Exkurs zur Quellenlage von Euryanthe und Oberon wird schließlich versucht, den Fokus im Hinblick auf die spätere Arbeitsweise Webers, wie sie sich in den Quellen der letzten Opern präsentiert, zu erweitern. 1.
Handschriftliche Textbuchquellen
Da keine Quelle der ersten Fassung des Textbuchs vom Februar/März 1817 überliefert ist, muss zur Ermittlung des ursprünglichen Konzepts auf Tagebuch und Briefauszüge bzw. auf die späteren Erinnerungen Kinds zurückgegriffen werden.2 Diese Fassung
1
Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von Friedrich Kind. Musik von Carl Maria von Weber. Kritische Textbuch-Edition. Hrsg. von Solveig Schreiter. München 2007 (Opernlibretti – kritisch ediert. Hrsg. von Irmlind Capelle und Joachim Veit. 1). 2 Vgl. dazu die digitale Edition der Briefe, Tagebücher und Dokumente Webers unter: www.weber-gesamtausgabe.de und Kinds „Schöpfungsgeschichte des Freischützen“ in Friedrich Kind: Ausgabe letzter Hand, mit August Apels Schattenrisse, siebenunddreißig Original-Briefen und einem Facsimile von Carl Maria von Weber, einer biographischen Novelle, Gedichten und andern Beilagen. Leipzig 1843, S. 63–138.
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Solveig Schreiter und Joachim Veit
enthielt noch die zwei einleitenden Eremitenszenen, die, wie oft in der Literatur zitiert,3 auf Empfehlung von Webers Braut Caroline Brandt gestrichen wurden, sowie Cunos Erzählung vom Ursprung des Probeschusses in der veränderten Szene I/2, die anfänglich als Romanze mit Chor gedacht war. Kinds Manuskript vom Mai 1817 ist die früheste erhaltene Quelle4 und stammt ausschließlich von der Hand des Dichters. Es handelt sich um ein ausgesprochenes Arbeitsexemplar, was die zahlreichen Korrekturen (Striche, Ergänzungen am Rand, Blätterbeschnitte und Überklebungen) belegen. Das Manuskript stellt die zweite Fassung des Textes der Oper dar, die zum damaligen Zeitpunkt noch einen abweichenden Titel hatte (der erste Arbeitstitel Der Probeschuß ist hier in Die Jägersbraut umbenannt) und inzwischen von den ursprünglichen vier auf drei Akte umgearbeitet worden war. Kinds Manuskript bildete die Kopiervorlage für das sogenannte Handexemplar Webers (Juni 1817),5 das von einem Dresdner Kopisten stammt. Das überlieferte Hand exemplar diente dem Komponisten als Arbeitsgrundlage während des Kompositionsprozesses und bildete wiederum die Vorlage für die von ihm autorisierten Kopistenabschriften des Werkes, die er für diverse Theater und Privatpersonen anfertigen ließ. In dem kleinformatigen Büchlein finden sich zahlreiche handschriftliche Weber’sche Eintragungen, die seine Arbeit am Text verdeutlichen. Der Text enthält aber auch noch eine zweite Schicht: dies sind von einem zweiten Dresdner Schreiber ergänzte Eintragungen, die vermutlich später anhand der frühen Ausgaben von Friedrich Kind von 1821/22 vorgenommen wurden. Das heutige Titelblatt ist auf die Zeit nach Mai 1820 zu datieren, da es bereits den vom Berliner Intendanten Karl Graf von Brühl in Rückbesinnung auf die Vorlage der Volkssage aus dem Gespensterbuch von Apel/Laun6 angeregten endgültigen Operntitel Der Freyschütze trägt. Von den auf der Grundlage des Handexemplars entstandenen zahlreichen autorisierten (und durch Webers Tagebuch dokumentierten) Textbuchkopien des Werkes sind nur vier erhalten geblieben. Die für den Herzog Emil Leopold August von Sachsen-Gotha-Altenburg angefertigte Textbuchkopie7 (zweite Hälfte des Jahres 1819) ist für die Textgenese weniger von Belang, da sie das Textstadium vor der eigentlichen Kompositionsarbeit zeigt. Aufschlussreicher sind dagegen die überlieferten Abschriften für Berlin (12. August 1819) 8, Wien (vor 27. August 1821) 9 und Hamburg (vor 24. Oktober 1821)10. Da sämtliche dokumentierten handschriftlichen Quellen vor bzw. aus dem unmittelbaren Umfeld der Uraufführung vom 18. Juni 1821 – sowohl eine zweite für Ber-
3
4 5 6 7 8 9 10
Vgl. u. a. Max Maria von Weber: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Bd. 2. Leipzig 1864, S. 69–71; Hans Schnoor: Weber auf dem Welttheater. Ein Freischützbuch. Dresden 1942, S. 144f. und John Warrack: Carl Maria von Weber. London 1968, S. 207. D-B, Weberiana Cl. II A. g, Nr. 12. Ebd., Nr. 1. Gespensterbuch. Hrsg. von August Apel und Friedrich Laun. Bd. 1. Leipzig 1810. D-GOl, Chart. B. 1490. D-B, Mus. ms. TO 235. A-Wn, Mus. Hs. 32.154. D-Hs, Cod. 118c in scrin.
Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen
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lin angefertigte Textbuchkopie vom Juni 1820 als auch das für Schünemanns Faksimile 194211 noch zur Verfügung stehende Regiebuch – als verschollen gelten müssen, bilden diese drei genannten Kopien weitere wichtige Zeugen der Entwicklung des Textes bis zur Uraufführung und darüber hinaus. In der Abschrift für das Theater in Berlin, die vom gleichen Dresdner Schreiber wie die Gothaer Kopie angefertigt wurde und aus der Zeit, in der Webers Verhandlungen mit dem Grafen Brühl um die Aufführung der Oper in Berlin begannen, stammt, wurden später von einem Berliner Kopisten alle Änderungen, wie sie von Weber im Handexemplar während des Kompositionsprozesses vorgenommen wurden, nachgetragen. Die in den beiden Textbuchkopien für die Aufführungen in Wien (Erstaufführung 3. November 1821) und Hamburg (Erstaufführung 5. Februar 1822) enthaltenen autographen Eintragungen Webers belegen, dass der Komponist das Textbuch in beiden Fällen selbst durchgesehen hat, bevor er es versandte. In der Wiener Textbuchkopie ist die Romanze und Arie des Ännchen Nr. 13 erstmals als regulärer Textbestandteil enthalten; im Handexemplar fehlt sie noch und wurde auch nicht nachträglich ergänzt. Der Umstand, dass die Arie auch in die Hamburger Textbuchkopie aufgenommen wurde, zeigt, dass sich die unmittelbar vor der Uraufführung auf Bitten Karl Graf von Brühls für die Sängerin des Ännchen, Johanna Eunicke, komponierte und am 28. Mai 1821 vollendete Arie – eine also durch einen singulären Aufführungskontext entstandene Nummer – von Weber für die folgenden Aufführungen als nunmehr fester Bestandteil des Werkes angesehen wurde. In beiden Kopien finden sich neben Webers Eintragungen noch Korrekturen bzw. Ergänzungen der jeweiligen Bearbeiter vor Ort, im Falle von Wien die des Vizedirektors des Hoftheaters, Ignaz von Mosel, in der Hamburger Kopie die des Theaterdirektors und Regisseurs Friedrich Ludwig Schmidt. 2.
Gedruckte Textbuchquellen
Neben den handschriftlichen Quellen zeugen die gedruckten Ausgaben des Librettos von der weiteren Entwicklung des Textes. Der Erstdruck der Gesangstexte, der unmittelbar vor der Uraufführung herauskam, kann zumindest für den Text der musikalischen Nummern als Vergleichsquelle herangezogen werden. Höchstwahrscheinlich wurde er nach mehreren Quellen ediert: nach der heute verschollenen Berliner Partiturkopie und nach einem der damals vorhandenen handschriftlichen Textbücher. Das Personenverzeichnis des Erstdruckes überliefert die tatsächlichen Bedingungen der Uraufführung, zum einen die von Graf Brühl vorgeschlagenen Personenänderungen (Ottokar wird „regierender Graf“, Cuno „gräflicher Erbförster“), zum anderen die Besetzung, wie sie zwischen Weber und Brühl vereinbart worden war.
11
Georg Schünemann: Der Freischütz. Carl Maria von Weber. Nachbildung der Eigenschrift aus dem Besitz der Preussischen Staatsbibliothek. Hrsg. im Auftrag der Generalintendanz der preussischen Staatstheater. Zur Zweihundertjahrfeier der Berliner Staatsoper 1742/1942. Berlin 1942.
128
Solveig Schreiter und Joachim Veit
Aufschlussreich sind zudem die von Friedrich Kind herausgegebenen Druckausgaben des Librettos. Diese Ausgaben, von der ersten Edition Ende 1821/Anfang 1822 bis zur letzten 1843,12 zeigen auf anschauliche Weise die weitere Arbeit des Librettisten am Text, der unter seiner (dem erfolgreichen Freischütz-Komponisten untergeordneten) Stellung litt und sich durch Revision einstiger gemeinsamer Entscheidungen, wie z. B. die Streichung der ursprünglich geplanten Anfangsszenen der Oper, nunmehr bewusst von Weber absetzen wollte. Weber hatte sich durch den Kauf des Librettos im März 1817 auf fünf Jahre die Eigentumsrechte am Buch gesichert, so dass Kind den Text erst 1822 selbst veröffentlichen konnte. Friedrich Kind nahm innerhalb dieser verschiedenen Ausgaben (scheinbar willkürlich) zahlreiche Änderungen in Abgrenzung zu seinem eigenen Manuskript und gegenüber dem Text im Handexemplar vor. Zudem unterscheiden sich die Ausgaben auch untereinander beträchtlich. Interessant ist dabei allerdings, dass Weber die in der ersten Kind’schen Ausgabe vorgenommenen Änderungen offenbar tolerierte, da er ab Jahreswechsel 1821/22 anstelle der bis dahin gefertigten Kopistenabschriften die preiswerteren gedruckten Bücher an die Theater verschickte. Innerhalb der Rezeption des Freischütz-Librettos bzw. der Tradierung des Textes im Umfeld der Berliner Premiere sowie der nachfolgenden Aufführungen der Oper auch an anderen Orten sind die frühen, bis zum Tode Webers veröffentlichten Kind’schen Druckausgaben somit von erheblicher Bedeutung. Eine Untersuchung der aufführungspraktischen Relevanz dieser Textbücher im Detail steht allerdings bis heute noch aus.13 Nachfolgend sind die hier beschriebenen Zusammenhänge bzw. Abhängigkeiten der Quellen im Zuge der Textgenese noch einmal in tabellarischer Form verdeutlicht.
12
1. Auflage des kompletten Textbuches. Leipzig: Georg Joachim Göschen, 1822; 2. Aufl. ebd. 1822; 3. Aufl. ebd. 1823; Abdruck des Librettos in: Friedrich Kind’s Theaterschriften. Bd. 4. Grimma 1827; sowie Kind 1843 (Anm. 2). Eine ebenfalls unter Kinds Namen herausgegebene weitere 3. [sic] Auflage des Textbuches, Leipzig 1827, ist hinsichtlich der Autorschaft zweifelhaft. 13 Ansätze einer solchen Untersuchung wurden zwischenzeitlich verwirklicht im Projekt „Freischütz Digital“, vgl. http://freischuetz-digital.de/documentation-text.html, dort Abschnitt 4.
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Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen
a) Übersicht zur Genese des Textbuchs und der den einzelnen Stadien zuzuordnenden Quellen Werkgenese
Quellen
1. Fassung März 1817 → →
– Eremitenszenen – Romanze des Cuno 2. Fassung Mai 1817
Kind-Ausgaben (1821/1822–1843) Ausgabe Kinds (Theaterschriften 1827) Manuskript von Friedrich Kind
Änderungen Webers: – Wolfsschluchtszene, Ergänzung 2. Strophe Jägerchor, Agathe‑Cavatine, Trinklied
→
Handexemplar, Berliner Tb-Kopie, Wiener Tb-Kopie, Hamburger Tb-Kopie
– Titeländerung: Freischütz – Personenänderung – Ergänzung der Ännchen-Arie (Nr. 13)
→ → →
alle außer Tb-Kopie Gotha Erstdruck der Gesangstexte Wiener Tb-Kopie, Hamburger Tb-Kopie, Erstdruck der Gesangstexte, Kind-Ausgaben (1821/22, 1822 und 1823)
– Kürzung Eremitenpassage
→
Handexemplar, Wiener Tb-Kopie, Hamburger Tb-Kopie, teilweise Kind-Ausgaben
Änderungen zur UA
b) Abweichungen innerhalb der Kind’schen Ausgaben (gegenüber Handexemplar): 1. Aufl. 1821/1822
2. Aufl. 1822
3. Aufl. 1823
Theater schriften 1827
Ausgabe letzter Hand
einleitende Eremitenszenen
+
+
+ (mit Fußnote im Text)
+ (mit Kom mentar im Nachwort)
+ (mit Kom mentar im Nachwort)
Romanze des Cuno
–
–
–
+ (im Nach wort)
–
ÄnnchenArie
+
+
+
–
–
Kürzung der Eremitenpassage um vier Zeilen (Finale III. Akt)
+ (mit Kenn zeichnung der übrigen sechs Zeilen)
+ (mit Kenn zeichnung der übrigen sechs Zeilen)
+ (ohne Kenn zeichnung)
+ (ohne Kenn zeichnung)
+ (ohne Kenn zeichnung)
130 3.
Solveig Schreiter und Joachim Veit
Eingriffe Webers
Zwei wesentliche auf Weber zurückgehende Änderungen lassen sich inhaltlich heute nur noch durch die Kind’schen Druckausgaben rekonstruieren. Zum einen ist das die veränderte Eröffnung des Werkes, zum anderen die ursprünglich von Kind vorgesehene Romanze des Cuno, die Weber nicht vertonte, sondern vom Librettisten in Prosatext umwandeln ließ. Der Gesangstext der Romanze ist einzig der Librettoausgabe in Kinds Theaterschriften 182714 zu entnehmen, in den anderen Kind-Ausgaben ist sie nicht vorhanden, wohingegen die einleitenden Eremitenszenen in alle Kind-Ausgaben (wieder) aufgenommen wurden. Dass Kind im Nachhinein bereute, in dieser Hinsicht dem Drängen Webers (oder vielmehr von dessen Braut) nachgegeben zu haben, ist den diesen Ausgaben beigefügten Anmerkungen zu entnehmen.15 Die meisten auf Webers Anregung beruhenden Änderungen lassen sich anhand des Handexemplars nachvollziehen. Durch Hinzuziehung von Tagebuch- und Briefzitaten sowie den Vergleich des Handexemplars mit den übrigen überlieferten handschriftlichen Quellen lassen sich nicht nur Rückschlüsse ziehen, wie die einzelnen Korrekturen Webers in seinem Arbeitsexemplar zu datieren sind, sondern welche überhaupt tatsächlich auf Weber zurückgehen. Dies soll an einigen markanten Beispielen veranschaulicht werden. In der Fassung des Werkes vom Mai 1817, wie sie Friedrich Kinds Manuskript widerspiegelt, ist die sogenannte Wolfsschluchtszene (II,5) noch in Prosa gehalten. Der Entwurf des Finales des zweiten Akts datiert vom 14. November 1819,16 seine Ausarbeitung erfolgte laut Tagebuch am 17. Dezember 1819. Erst am 29. März des darauffolgenden Jahres gestaltete Weber die Szene um (wiederum belegt durch eine Tagebuchnotiz), indem er sie kürzte und in Verse übertrug. Aus dem Handexemplar lässt sich folgende Vorgehensweise ablesen: Zunächst nahm Weber im Text einzelne Änderungen in Bleistift vor, dann entschloss er sich jedoch zu einer weitergehenden Korrektur, die er mit Hilfe von Streichung und Überklebung ausführte. Die Raben und Waldvögel in der vorhergehenden Szene (II,4) ersetzte Weber durch „Unsichtbare Geisterstimmen“, was den beabsichtigten schauerlichen Effekt der Szene noch verstärkt. Weitere Beispiele für seine bewusste Einflussnahme sind die Ergänzung einer zweiten Strophe des bekannten Jägerchores und die Streichung der dritten Strophe von Agathes Cavatine im dritten Akt17. An dieser Stelle sei auf eine Problematik verwiesen, die sich durch den Vergleich des Handexemplars (zumindest hinsichtlich der musikalischen Passagen des Werks) mit dem Partiturautograph18 (entstanden zwischen Oktober 1819 und Mai 1820, die im Mai 1821 komponierte Ännchen-Arie auf kleinerem Papierformat ist nachträglich eingehef14
Siehe Anm. 12. Vgl. ebd., S. 319f. und Kind 1843 (Anm. 2), S. 121f. 16 D-B, Mus. ms. autogr. C. M. v. Weber WFN 3. 17 Nicht auszuschließen ist allerdings die Möglichkeit, dass Weber solche Änderungen erst nach Rücksprache mit Kind in sein Handexemplar eintrug. 18 D-B, Mus. ms. autogr. C. M. v. Weber 7. 15
Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen
131
tet) ergibt. Nicht unerheblich sind dabei die innerhalb dieser beiden vom Komponisten autorisierten Fassungen des Textes einander gegenüberstehenden Abweichungen. Hinsichtlich der Aufführungspraxis sind die Varianten im Partiturautograph eindeutig der Textfassung, wie sie Webers Handexemplar überliefert, vorzuziehen, weil die Textunterlegung nur dort der vertonten Silbenanzahl wirklich entspricht, zum Beispiel: Text im Handexemplar
Text im Partiturautograph
Nr. 2 Terzett mit Chor
„Doch verfolgt mich Mißgeschick –“
„Doch mich verfolget Mißgeschik“
Nr. 8 Arie Agathe
„Doch wie? trügt mich mein Ohr?“
„Doch wie! täuscht mich nicht mein Ohr!“
Es ist wohl gewiss, dass die meisten Korrekturen am Text der Arbeit an der musikalischen Umsetzung der Oper geschuldet sind, die sich für Weber bei der Komposition zwangsläufig ergeben mussten. Manches bleibt in diesem Zusammenhang aber auch rätselhaft, wie z. B. die Änderung des Textes der dritten Strophe von Caspars Trinklied (Nr. 4) im ersten Akt. Die letzten drei Zeilen der Strophe, die sozusagen Caspars Lebensmotto zum Ausdruck bringen, lauteten ursprünglich: „Fläschchen! sey mein A.B.C. / Mein Gebetbuch, Catherle, / Karte, meine Bibel!“ In seinem Handexemplar korrigierte Weber die beiden letzten Zeilen zu der deutlich abgemilderten Form: „Würfel, Karte, Katherle / Meine Bilder-Fibel!“ In dieser Gestalt erscheint der Text auch im Erstdruck der Gesänge zur Uraufführung. Die Änderungen Webers wurden im erhaltenen Berliner Textbuch (vgl. Anm. 8) nachgetragen, im Falle des Trinkliedes allerdings von dritter Hand, was darauf hinweisen könnte, dass es sich hierbei um eine Zensurvariante handelt, d. h. die Änderung nicht eindeutig Weber zuzuordnen ist. Wie im Handexemplar und auch im Partiturautograph ersichtlich, hatte Weber zuerst beide Varianten nebeneinander stehen lassen und durch „oder“ gekennzeichnet, im Handexemplar strich er den früheren Text. In der Hamburger Theaterkopie (vgl. Anm. 10) sind dagegen wieder beide Varianten nebeneinander gestellt. Unklar bleibt auch die Kürzung des Eremitentextes im Finale, eine Weglassung von zehn Textzeilen, die unbegründet erscheint, jedoch von Weber für weitere Aufführungen legitimiert wurde, wie ein Blick in die Kopie für das Hamburger Theater vom Oktober 1821 zeigt. Die Streichung dieser zehn Zeilen – von „Leicht kann des Frommen Herz“ bis „Wer griff in seinen Busen nicht?“ – steht vermutlich im Kontext der Berliner Uraufführung. Da der Text im Erstdruck der Gesangstexte noch vollständig abgedruckt ist, resultiert der Entschluss zur Kürzung offensichtlich aus den Erfahrungen der letzten Proben oder der Uraufführung – mit weitreichenden Folgen: Nicht nur für die Hamburger Premiere, sondern auch für die Aufführungen in Braunschweig, Dresden, Frankfurt/Main, Kopenhagen und Stuttgart ist diese Kürzung durch entsprechende Einträge in den Partituren belegt. Sie tradierte sich außerdem in zahlreichen gedruckten Textbüchern (Augsburg, München, Nürnberg, Rudolstadt 1822 und Breslau 1825). Dass der im Handexemplar gestrichene Eremitentext in der Wiener Textbuch-
132
Solveig Schreiter und Joachim Veit
kopie (August 1821) – hier ebenfalls wie im Handexemplar im Nachhinein von Weber gestrichen – in der Hamburger Textbuchkopie gar nicht mehr auftaucht, belegt die Kürzung ebenso eindeutig als Weber’sche Korrektur wie der entsprechende Vermerk auf der leeren Rückseite zur nachgesandten Nr. 13 der Braunschweiger Partitur.19 Wenig nachvollziehbar erscheint demgegenüber die in den Kind’schen Ausgaben vorgenommene Kürzung der Eremitenpassage um nur vier Zeilen. Der auf Weber zurückgehende Strich wurde teils erst im späteren 19. Jahrhundert wieder rückgängig gemacht, wie z. B. die Braunschweiger Partitur belegt, die diese Kürzung erst anlässlich der 50. Wiederkehr der dortigen Premiere im Januar 1872 zurücknahm.20 4.
Exkurs
Wirft man, ausgehend von dieser Situation beim Freischütz, einen kurzen Blick auf die Quellenlage der zwei letzten Weber’schen Opern, so zeigt sich trotz der dort sehr unterschiedlichen Konstellationen (die Situation bei Oberon ist aufgrund seiner zweisprachigen Überlieferung und der Entstehung im fremden Kontext der englischen Bühnentradition wesentlich komplexer, die Lage bei Euryanthe sogar aufgrund der Vielzahl von Fassungen, die die Quellen überliefern, fast unüberschaubar) doch eine Gemeinsamkeit deutlich: Hinsichtlich der Rolle Webers bei der Textgenese dieser zwei Werke bestätigt sich der bisher vermittelte Eindruck: Die beim Freischütz anhand der Quellen nachweisliche ‚Einmischung‘ Webers in den Prozess der Textgenese findet in beiden Fällen, wie kaum anders zu erwarten, ihre adäquate Fortsetzung. Die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen Helmina von Chézy und Weber wurden an anderer Stelle schon ausführlich beschrieben, und auf die Problematik, die sich durch die Vielzahl der Abweichungen zwischen den zahlreich überlieferten Quellen für Editionsvorhaben stellt, wurde hingewiesen.21 Sowohl bei der Euryanthe als auch beim Oberon war Webers Anteil an der Entstehung des Textes wiederum erheblich. Im Falle der Euryanthe wird eine nachvollziehbare, lückenlose Rekonstruktion der Textgenese durch die zahllosen überlieferten Fassungen, die eine 11-fache Umarbeitung des Textes nahelegen, deutlich erschwert. Konnte Weber beim Freischütz auf eine gute Zusammenarbeit mit dem (zu diesem Zeitpunkt ihm jedenfalls noch freundschaftlich zugewandten) Librettisten bauen, gestaltete sich die Lage bei beiden späteren Opern weitaus schwieriger. Um den Oberon zu vertonen, musste er sich nicht nur Kenntnisse der englischen Sprache aneignen, besonders schwierig
19
Vgl. dazu die Ausführungen in Der Freischütz (Anm. 1), S. 146–150. Vgl. zu dieser Partitur auch Ulrich Konrad: Carl Maria von Weber und das Nationaltheater Braunschweig. Zur Frühgeschichte des Freischütz. In: Quaestiones in musica. Festschrift für Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Friedhelm Brusniak und Horst Leuchtmann. Tutzing 1989, S. 303–316. 21 Michael Tusa: Carl Maria von Weber’s Euryanthe: A Study of its Historical Context, Genesis and Reception. Diss. Princeton 1983, S. 205–306 und Joachim Veit: Gehört die Genesis des Euryanthe-Textbuchs zum Werk? In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998, S. 184–211. 20
Das Freischütz-Libretto: Quellensituation und intertextuelle Referenzen
133
war für ihn offenbar, dass er das Libretto von James Robinson Planché in sukzessiv übersandten Teilen erhielt und der Austausch über wesentliche Fragen zu dessen Inhalt und Aufbau nur in brieflicher Form erfolgen konnte. Nicht zuletzt divergierten auch die Meinungen und Ansprüche an ein Bühnenwerk in beiden Fällen bei beiden Autoren recht deutlich, was Weber zu etlichen Kompromissen verleitete. Beim Oberon fertigte Weber sich als Kompositionsgrundlage eine Abschrift der Gesangstexte des englischen Librettos an, zu der er eigene Prosaübersetzungen notierte.22 Innerhalb dieser autographen Abschrift vermerkte er wesentliche Veränderungen des Textes, die er dann teilweise in das Manuskript von Planché23 rückübertrug. Anhand dieser Aufzeichnungen, ergänzt durch Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Librettist und Komponist,24 lassen sich auch beim Oberon vielschichtige Eingriffe nachvollziehen, die eindeutig auf Weber zurückgehen (wie z. B. die Erweiterung bzw. Textergänzung im Finale des ersten Aktes, die Streichung eines von Planché ursprünglich geplanten Piratenchores im zweiten Akt sowie von zwei Zeilen im Ensemble Nr. 4 und vier Zeilen in Nr. 12).
II. Referenzen Bei dem Versuch, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Quellen (vgl. Tabellen oben) innerhalb einer kritischen Edition kenntlich zu machen, Varianten, verschiedene Lesarten und sonstige Abweichungen der Quellen untereinander zu verdeutlichen und die Kontexte der diffizilen Textgenese zu beschreiben, stoßen herkömmliche Editionsverfahren häufig an ihre Grenzen, nicht nur im Hinblick auf die Praktikabilität für den Leser bzw. Benutzer. Durch die digitale Aufbereitung der Quellen, die komplette Codierung der verschiedenen Schreibschichten und Eingriffe sowie eine verdeutlichende Verlinkung zu Faksimile-Abbildungen sind die meist verbal kompliziert auszuführenden Quellenrelationen und Abhängigkeiten in vielen Fällen anschaulicher und nachvollziehbarer darstellbar. Gerade für die Untersuchung bzw. adäquate Präsentation des oben dargestellten komplizierten Textgenese-Prozesses sowie für die Aufbereitung von Fragestellungen zur Vorgehens- und Arbeitsweise des Komponisten bildet die Technik der digitalen Edition wesentlich bessere Möglichkeiten als herkömmliche drucktechnische Verfahren. In dem Projekt Freischütz Digital25 soll daher über die Möglichkeiten der gedruckten Gesamtausgabe hinausgehend dieser komplexe Entstehungs- und Überlieferungsprozess in umfassenderer und verständlicherer Weise dargestellt werden. Zum Kontext der digitalen Darstellung der Entstehung und Überlieferung des Werkes gehören auch Aspekte, durch die sich die beschriebene Quellensituation gewis-
22
D-B, Weberiana Cl. II A g 9. D-Dl, Mscr. Dresd. App. 183. 24 Vgl. dazu auch Planchés Ausführungen in: The Recollections and Reflections of J. R. Planché (Somerset Herald). A Professional Autobiography. 2 Bde. London 1872, Bd. 1, S. 74–86. 25 Freischütz Digital – Paradigmatische Umsetzung eines genuin digitalen Editionskonzepts, durch geführt als Verbundprojekt der Universitäten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt/Main und Paderborn (Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn), vgl. www.freischuetz-digital.de. 23
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sermaßen noch weiter auffächert – es sind zugleich oft Aspekte darunter, die man aus Gründen der Arbeitsökonomie in regulären Operneditionen tunlichst ausblendet. Es geht dabei um die zahlreichen Referenzen, die sich in dieser Oper feststellen lassen – und zwar Referenzen sowohl auf dem rückwärts als auch dem vorwärts gerichteten Zeitstrahl, d. h. einerseits um literarische und stoffliche Vorbilder, andererseits aber um Nachwirkungen der Oper bzw. speziell ihres Textbuchs. Es ist sicherlich eine Binsenweisheit, darauf hinzuweisen, dass Theaterereignisse in einem Kontext stehen, auf den sie Bezug nehmen. So ist die Einordnung der Freischütz-Uraufführung in die kulturpolitische Situation Preußens bzw. speziell Berlins oft genug thematisiert worden.26 Weniger im Blickfeld steht aber gewöhnlich, dass sich ein solches Werk auch in die durch das zeitgenössische Bühnenrepertoire geprägten musikalischen oder textlichen Kontexte stellt, die uns in der Regel nur lückenhaft vertraut sind. Oft fallen derartige Bezüge erst auf, wenn die Kritik darauf explizit Bezug nimmt. Was die Musik des Freischütz betrifft, so bemerkt z. B. der Rezensent der Berliner sog. Spenerschen Zeitung, dass das Duett Agathe/Ännchen zu Beginn des zweiten Akts mit der Art der Behandlung der jeweils gegensätzlichen Eigentümlichkeiten der beiden Duettpartner „lebhaft an Cherubini’s Versuch in der Lodoiska erinnert, die beiden ganz verschiedenen Gefühle und Temperamente Floresky’s und Varbel’s im Polonaisentakt und entgegengesetztem Rhythmus zu verschlingen“.27 Wenn diese in der Tat auffällige strukturelle – nicht motivische – Übereinstimmung auch von einem Kritiker der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode thematisiert wird,28 darf man bei einem Komponisten, der für seine eigenen Aufführungen dieses Cherubini-Werks sogar eine Einlage schrieb,29 durchaus eine bewusste Referenz (oder gar Reverenz) annehmen. Andere auffallende Reminiszenzen (um diesen in der Zeit eher negativ konnotierten Begriff aufzugreifen) wie z. B. die nach einer Generalpause solistisch repetierten Hörneroktaven als Symbol der Schritte Maxens, die Agathe ver-
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Vgl. dazu in neuerer Zeit besonders Wolfgang Michael Wagner: Carl Maria von Weber und die deutsche Nationaloper. Mainz 1994 (Weber-Studien. 2) und die außerordentlich vielschichtige Darstellung in Carl Dahlhaus und Norbert Miller: Europäische Romantik in der Musik. Bd. 2: Oper und symphonischer Stil 1800–1850. Von E. T. A. Hoffmann zu Richard Wagner. Stuttgart und Weimar 2007, Drittes Buch, S. 295–386 u. 489–579, speziell S. 489–537. 27 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. Jg. 82, Nr. 77 (28. Juni 1821), S. 3v. 28 Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, Jg. 7, Nr. 143 (29. November 1821), S. 1206– 1208, hier S. 1207f.: „Das erste Duett des zweyten Aufzuges zwischen Agathen und Annen ist durch die Stimmenführung höchst interessant. Das singbare, leicht faßliche Thema, welches der Frohsinn der Unbefangenen ausführt, verschmilzt sich höchst lieblich mit den wehmüthigen Tönen der Liebenden, und wir wüßten diesem trefflichen Tonstücke nur Ein gleiches entgegenzustellen, das Duett nähmlich, was in Cherubini’s Lodoiska Floreski mit seinem Diener singt, wo sich auch die anmuthige Lust der Polonaise mit der einsamen Klage des Seufzenden herrlich paart“. 29 Es handelt sich um die im Juli 1818 im Auftrag des Berliner Intendanten Karl Graf von Brühl für Anna Milder komponierte Szene und Arie „Was sag ich?“ / „Fern von ihm“ (WeV D.7) als Einlage zur Lodoiska. Weber hatte das Werk in Dresden erstmals am 7. August 1817 zur Aufführung gebracht; in Berlin weigerte sich die Sängerin Milder offensichtlich im August 1818, die inzwischen vollendete Arie zu übernehmen; vgl. Friedrich Wilhelm Jähns: Carl Maria von Weber in seinen Werken. Chronologischthematisches Verzeichniss seiner sämmtlichen Compositionen. Berlin 1871, S. 256.
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meintlich zu hören glaubt30 und die deutlich an einen ähnlichen, auch vom Text her verwandten Effekt in Julias Arie Nr. 5 der Vestalin erinnern,31 mögen als unbewusste Übernahmen vertrauter Klangchiffren erklärbar sein. (Ist es Zufall, dass beide Arien mit einem herausgehobenen Bläsersatz beginnen, dessen rhythmische Gestalt bei Weber dem thematischen Rhythmus des Singstimmeneinsatzes bei Spontini entspricht?32) Solche wohl eher in die Feder fließende Anleihen finden sich auch in Webers eigenem Œuvre – wenn z. B. der Effekt des wiederholten Trugschlusses am Ende der großen Caspar-Arie33 mit frappierender Ähnlichkeit in Rudolphs Arie aus der Silvana mit dem Text „fort, fort zur Schlacht“ vorweggenommen scheint – ein Text, den man sinngemäß auch Caspar am Ende des ersten Akts in den Mund legen könnte.34 Eindeutig hinsichtlich einer eigentlich vorbestimmten Erwartungshaltung positioniert sich Weber aber mit seiner Weigerung, Cunos Erzählung vom Urältervater in der zweiten Szene als Romanze zu vertonen. Dass der Komponist hier bewusst gegen eine Tradition handelte, ist spätestens durch die neue Textbuchedition klar geworden, in der im Anhang Kinds ursprüngliche Version der Romanze abgedruckt ist.35 Spricht die Tatsache, dass die nachträglich hinzugefügte Romanze des Ännchen (Nr. 13) eigentlich eine Parodie dieser Gattung ist, dafür, dass es Weber im Falle Cunos nicht in erster Linie um Textverständlichkeit ging, sondern er auch eingefahrene Bahnen meiden wollte? Gehörten die bisherigen Beispiele eher in den Bereich der musikalischen Kontexte, so verweist die verweigerte Cuno-Romanze gleichzeitig auf Bedingungen für die Gestaltung eines Textbuchs. Dessen rückwärts gerichtete Referenzen müssen im Übrigen
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Vgl. Der Freischütz (Partitur), Faksimile-Neuausgabe von Georg Knepler. Leipzig 1978, S. 129, Arie der Agathe Nr. 8, T. 76–79 zu dem Text „Doch wie! täuscht mich nicht mein Ohr! dort klingts wie Schritte!“ Gaspare Spontini: La Vestale. Faksimile-Reprint. Hrsg. von Charles Rosen. New York 1979 (Early Romantic Operas. A Garland Series. 42), S. 94–102, Air No. 5, Julia: „Licinius, je vais donc te revoir“; die Textpassage lautet dort (S. 94, T. 6–11): „j’entendrai de ta voix la douce melodie“. Die Hörner haben dort in der diesem Text vorausgehenden und folgenden Pause des übrigen Orchesters ein auftaktig mit einer Achtel beginnendes repetiertes Oktavmotiv aus insgesamt fünf Achtelnoten, so dass auch die Gesamtstruktur auffällig parallel wirkt. Vgl. ebd. S. 94, T. 2f.: „Licinius“. Auch weitere ‚Verwandtschaften‘ fallen ins Ohr, so etwa der Gestus der in Viertel-Akkordbrechungen gesetzten Bassstimme (gegen die synkopischen Akkorde der Oberstimme) an der Stelle „das kündet Glück“ (S. 131f., T. 98–102) mit der Phrase „et du moins de ma triste vie“ (S. 95, T. 15–20; unmittelbar voraus geht auch hier das „ranimer l’espoir“, d. h. die Stelle bezeichnet eine ähnliche Stimmung); auch Webers „Dein Mädchen wacht“ (S. 130, T. 85–89) ist mit der rhythmischen Struktur und dem melodischen Gestus des „dieux je suis abandonnée“ im vorausgehenden Rezitativ (S. 92, T. 5–9) verwandt. Gemeinsamkeiten bestehen auch in harmonischer Hinsicht durch die Vorliebe für mediantische Beziehungen zwischen den einzelnen Abschnitten. Der Freischütz (wie Anm. 30), S. 90f., Arie des Caspar Nr. 5, T. 105–110. Silvana, Akt I, Nr. 4, T. 237–241 (Edition: Carl Maria von Weber: Sämtliche Werke. Serie III, Bd. 3a: Silvana: romantische Oper in drei Akten (WeV C.5), Ouvertüre, Akt I. Hrsg. von Markus Bandur. Mainz 2011, S. 141f.); auch hier ist für die doppelte trugschlüssige Wendung ein Sextakkord verwendet und der ersten Zählzeit von T. 239 geht zudem ebenfalls ein Triolenauftakt (in Fagott und Streichern) voraus. In beiden Arien finden sich überdies in den vorhergehenden Takten umfangreiche Koloraturen. Der Freischütz (Anm. 1), S. 87.
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hier nicht ausführlicher diskutiert werden, weil insbesondere die Bezüge auf Launs und Apels Gespensterbuch und auf die Unterredungen Von dem Reiche der Geister wiederholt behandelt wurden.36 Solveig Schreiter und Kathrin Wulfhorst haben außerdem die Parallelen zu anderen Erzählungen des Gespensterbuchs oder zu den von Kind selbst als Vorlage genannten eigenen Frühwerken genauer herausgearbeitet sowie mögliche Zusammenhänge mit anderen Dramatisierungen des Stoffs beleuchtet37 – Bezüge, die in der digitalen Freischütz-Edition ebenso mit verdeutlicht werden sollen wie motivische Verwandtschaften etwa zu Bürgers Lenore-Ballade oder E. T. A. Hoffmanns Goldenem Topf.38 Hervorgehoben sei nochmals die von Kathrin Wulfhorst eingehender untersuchte Parallele zu Friedrich Schillers in jenen Jahren nicht nur von den sogenannten ,Schicksalsdramatikern‘ stark rezipiertem Wallenstein – eine Parallele, die sich speziell in Szene 5 zwischen Caspar und Max zeigt und die Kinds zeitliche Situierung der Handlung „Kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“ als nicht zufällig gewählt erscheinen lässt.39 Generell sind Kinds nachträgliche Veränderungen des Textbuchs und seine in der Ausgabe letzter Hand von 1843 veröffentlichte Entstehungsgeschichte einschließlich der sogenannten „Erläuterungen. (Aus Sprache und Geschichte.)“40 kritisch unter die Lupe zu nehmen, denn sie bezeugen einerseits – über den Versuch der nachträglichen Rehabilitierung der Eremitenszenen hinaus – ein ‚Weiterleben‘ des Textes unabhängig von Webers Vertonung, zum anderen sind sie aber auch als Indiz dafür lesbar, wie Kind versuchte, dem Text stets weitere Bedeutungsebenen hinzuzufügen bzw. ihn als Produkt seiner ‚Gelehrtheit‘ zu präsentieren – sicherlich sollte aber auch durch Verschweigen bestimmter Aspekte oder Bezüge das Urteil des Lesers gelenkt werden. Dies sei an einem kleinen, eher zufällig durch die eigene Verwunderung über eine Textstelle vor dem Einsatz von Caspars Trinklied untersuchten Detail demonstriert. In Kinds erstem erhaltenen Entwurf wird das Lied durch Caspars Aufforderung „Nun laß
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Vgl. besonders Felix Hasselberg: Der Freischütz. Friedrich Kinds Operndichtung und ihre Quellen. Berlin 1921, und Gottfried Mayerhofer: „Abermals vom Freischützen“. Der Münchener Freischütze von 1812, eine Romantische Tragödie des Münchener Dichters Frz. Xav. v. Caspar mit Musik von Hofmusiker Carl Borr. Neuner, die wirkliche Quelle des Weber-Kindschen Opernbuches. Eine musik- und literarhistorische Studie zur Textgeschichte des Weberschen Freischütz. Regensburg 1959 (Forschungsbeiträge zur Musikwissenschaft. 7), sowie in jüngerer Zeit Joachim Reiber: Bewahrung und Bewährung. Das Libretto zu Carl Maria von Webers ‚Freischütz‘ im literarischen Horizont seiner Zeit. München 1990. Weitere Literatur ist im Kapitel „Zur Stoffgeschichte des Freischütz“ in Der Freischütz (Anm. 1), S. 103–112 aufgeführt. Schreiter in dem in der vorstehenden Anmerkung genannten Kapitel; Kathrin Wulfhorst: Intertextuelle Bezüge und Übernahmen in den Freischütz-Texten von Apel, Kind, Caspar und Riesch. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt am Gymnasium/Gesamtschule in Musik. Detmold 2008, sowie dies.: Intertextuelle Bezüge in den Freischütz-Texten von Johann August Apel und Friedrich Kind. In: Weberiana 19, 2009, S. 101–124. Vgl. hierzu auch weiter unten, Anm. 55. Vgl. dazu Wulfhorst 2008 (Anm. 37), S. 72–80. Kind 1843 (Anm. 2), S. 211–242.
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uns eins singen!“ eingeleitet – so steht der Satz auch noch in den Textbüchern der frühesten Aufführungen. Aber bereits in der 1821 gedruckten Ausgabe lautet die Stelle:41 Caspar. Nun laß uns eins singen! – Semper fröhlich, nur halb selig, immerhin! – Max bezeigt seinen Unwillen. Das gefällt dir nicht? Nun denn, ein anderes!
Danach beginnt das Lied. Diese Version bleibt in den drei Ausgaben bis 1823 – also auch den von Weber versandten Textbüchern – gleich; 42 erst in den nach Webers Tod erschienenen Auflagen kommt es erneut zu einer kleinen Änderung. Jetzt heißt der erste der nachgetragenen Sätze:43 Semper fröhlich, nunquam selig, immerhin!
Nun findet sich zwar ein Lied mit dem von Caspar hier vorgeschlagenen Text offensichtlich nicht – obwohl das bislang nicht ausgeschlossen werden kann –, aber bei der Suche stößt man auf die sehr ähnlich lautende Formulierung: „Semper fröhlich, numquam traurig“ – so lautete das Motto des Hofnarren Augusts des Starken, Joseph Fröhlich (1695–1757), das u. a. auf einer zu seinen Ehren geprägten Medaille als umlaufender Text eingraviert ist.44 Dieser Hofnarr, der 1725 zunächst in Bayreuth bei Kurfürstin Christiane Eberhardine, der späteren Gemahlin Augusts des Starken, tätig war und sich von 1727 bis 1756 in Dresden aufhielt, hat sich durch seine offene Kritik an der Verschwendungssucht des sächsischen Hofes über die Grenzen Sachsens hinaus Ruhm erworben – noch heute erinnert an ihn ein Denkmal an der Augustusbrücke.45 Man kann also davon ausgehen, dass Kind diese Anspielung durch die nachträgliche Änderung des „nur halb“ in „nunquam“ verdeutlichen wollte. Caspars Liedvorschlag bezieht sich also auf einen Taschenspieler, der höchste Autoritäten in Frage stellt – be-
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Der Freischütz (Anm. 12), in der Edition: Der Freischütz (Anm. 1), S. 204 mit der Sigle D-tx1 bezeichnet. Das Buch wurde bereits 1821 gedruckt; die Textstelle findet sich dort auf S. 32f. (innerhalb der hier als siebte – statt zuvor fünfte – gezählten Szene). Zu diesen Textbüchern vgl. Anm. 12 bzw. Der Freischütz (Anm. 1), S. 206–208. Vgl. in der Edition von 1843 (Anm. 2), S. 17. In Anspielung auf den vorgeschlagenen „Teufelsbund“ ist hier das „nur halb selig“ zu „nunquam“ gesteigert. Vgl. dazu die Abbildung in Rainer Rückert: Der Hofnarr Joseph Fröhlich 1694–1757, Taschenspieler und Spaßmacher am Hofe August des Starken. Offenbach 1998, S. 76. Während auf der Vorderseite der Medaille Fröhlich selbst mit der Umschrift: „IOSEPH FRÖHLIG. K[öniglich]. P[olnischer]. U[nd]. C[hur]. F[ürstlich]. SA[chsischer]. HOFTASCHENSPIELER“ abgebildet ist, lautet der umlaufende Text auf der Rückseite „SEMPER FROELICH NUNQUAM TRAURICH“, in der Mitte ist eingraviert: „ICH BIN DER RECHTE MANN SO PERFECTISSIME [AUS] DER TASCHEN SPIEHLEN KAN“. Die in Gotha gepresste Zinnmedaille trägt das Datum 1729; vgl. dazu auch ebd., S. 75f. Zu biographischen Details vgl. ebd., S. 9ff. und 112ff.; zu dem 1979 errichteten Bronzedenkmal auf der Neustädter Seite der Elbbrücke vgl. ebd., S. 205. Zur Biographie vgl. auch Katharina Reimann: Fröhlich (Frölich), Joseph. In: Sächsische Biographie. Hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Bearb. von Martina Sattkowsky. Online verfügbar unter http://www.isgv.de/saebi/ (eingesehen am 14.11.2014).
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zeichnenderweise hatte Caspar zuvor den ersten Toast auf die Gesundheit von Maxens Lehnsherrn ausgebracht. Zumindest die Dresdner Zeitgenossen werden diese Anspielung Kinds verstanden haben, und möglicherweise war damit noch mehr konnotiert, als momentan feststellbar ist.46 Geht man dieser Sentenz weiter nach, findet sich eine zweite Belegstelle, die auf dem Zeitstrahl in unserer Richtung liegt. Sie steht in Band 13 der Abendländischen Tausend und eine Nacht, den Johann Peter Lyser 1839 herausgab, in der Erzählung Das Galgenmännlein.47 Dieser Flaschengeist, der seinem Besitzer unermesslichen Reichtum bringt, ihn aber dem Teufel verpfändet, wenn er ihn nicht vor seinem Ableben verkauft, wird von dem Protagonisten mit den beruhigenden Worten angenommen:48 ‚Es werden sich immer Käufer zu dem Galgenmännlein finden, und merk’ ich, daß Hans Mors bei mir anklopfen will, so verschachre ich es an den ersten beßten Mauschel – und sterbe selig, bis dahin: semper fröhlich! nur halb selig! – Immerhin. Ja so soll es seyn!‘ schloß er, leerte den zweiten Becher und ging in der frohsten Laune davon [...].
Lyser hat hier offensichtlich Kinds Version aus der ersten bis dritten Auflage des Textbuchs übernommen, wobei sich der Sinn der Formel vom „halb selig! – Immerhin“ in diesem Kontext besser erschließt als in Kinds isoliertem Zitat. Es ist dies aber nicht der einzige Bezug auf den Freischütz, den Lyser bei seiner Überarbeitung der schon 1810 erschienenen, ursprünglich aus der Feder von Friedrich de la Motte Fouqué stammenden Geschichte vom Galgenmännlein eingefügt hat.49 Der Protagonist Franz, der sich ausgerechnet in Lützen50 von kaiserlichen Werbern für den Militärdienst hatte anwerben lassen, bereut diesen Entschluss später und will sich freikaufen. Lyser hat hier eine Szene mit einem „hispanischen Hauptmann“ eingebaut, die deutlich von der Trinkszene des Freischütz inspiriert ist51 und die damit endet, dass Franz den Pakt
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Rückert 1998 (Anm. 44), S. 10, gibt u. a. an, noch heute kenne „jedes Dresdener Schulkind den Namen von Joseph Fröhlich [...]. Auch allen Porzellanliebhabern ist Fröhlich, seit dem 18. Jahrhundert und noch heute ein Begriff.“ Auf S. 84 erwähnt Rückert eine Elfenbeinfigur „Fröhlich mit Eulenkopf“ sowie eine Figur mit Hirschgeweih im Dresdner Grünen Gewölbe. Auch auf Porträts sei Fröhlich auffällig oft mit Eulen (die einerseits Sinnbild der Klugheit seien, gleichzeitig aber auch als Attribut für den Narren verwendet werden) dargestellt. Abendländische Tausend und eine Nacht oder die schönsten Mährchen und Sagen aller europäischen Völker. Zum ersten Male gesammelt und neu bearbeitet von J. P. Lyser, 13. Bändchen, 1. Abteilung. Meißen 1839, S. 41–85 (952. bis 964. Nacht). Ebd., S. 57; „Hans Mors“ als Name für den Tod findet sich u. a. bei Gottfried August Bürger, in Frau Schnips. Ein Mährlein halb lustig, halb ernsthaft, samt angehängter Apologie. In: Gedichte von Gottfried August Bürger. Zweyter Theil. Göttingen: Johann Christian Dieterich 1789, S. 132–144. Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein. Erstdruck in: Pantheon. Eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst. Hrsg. von Johann Gustav Büsching und Karl Ludwig Kannegießer. Bd. 1, H. 2. Leipzig: C. Salfeld, 1810, hier zitiert nach Friedrich de la Motte Fouqué. Romantische Erzählungen. Hrsg. von Gerhard Schulz. Darmstadt 1985, S. 5–33. Dort fiel der Schwedenkönig, wie im Freischütz Szene I,5, Z. 188 erwähnt; Der Freischütz (Anm. 1), S. 38. Vgl. Lyser 1839 (Anm. 47), S. 48–61 (954. bis 957. Nacht) bzw. Fouqué 1985 (Anm. 49), S. 7, wo ausdrücklich von einem „hispanische[n] Hauptmann“ die Rede ist. In diesem Kontext mag interessant sein,
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eingeht, der ihn, wenn er bis zum Tod im Besitz jenes vom Hauptmann erworbenen Galgenmännleins bleibt, der Hölle verschreibt. Als Franz nach vielen Wirren am Ende der Geschichte einem höllischen Reiter das Männlein zurückgeben kann, wird dieser Abgesandte der Hölle wie folgt beschrieben: „der Mann war […] köstlich in Schwarz mit Feuerfarbe und Gold gekleidet, und trug eine rothe Hahnenfeder auf dem Hute [...]“.52 Das schon in Brühls jagdgrünen Figurinen angedeutete Spiel mit den Farben des Lützow’schen Freicorps53 bzw. später der Burschenschaftsbewegung als Symbol für Samiel setzt sich also bei Lyser fort. Während aber bei Lyser der Dreißigjährige Krieg nie ausdrücklich erwähnt wird, ist dies in Fouqués originaler Erzählung schon im allerersten Absatz der Fall – allerdings wie bei Kind nur als Zeitangabe.54 Fouqués Erzählung dürfte Kind gekannt haben – die Idee eines in der Flasche eingeschlossenen Teufels passt gedanklich gut zu seinem Trinklied –, aber hergestellt wurde diese gedankliche Verbindung offensichtlich erst postum durch Lyser. Oder fehlt uns zu obigem Zitat ein Zwischenglied? Auch wenn diese Frage bislang nicht beantwortet werden kann – mit diesem Beispiel sollte vor allem demonstriert werden, dass ein Librettotext – und dieser Text im Besonderen – als eine Art lebendiges kleines Universum verstanden werden muss, das sich als ein Netzwerk von Beziehungen verwirklicht.55 Und es sei daran erinnert, dass der
dass Friedrich Kind ein (verlorenes) Bild Lysers erwähnt, das Caspar beim Singen des Trinklieds zeigte (vgl. Friedrich Hirth: Johann Peter Lyser. Der Dichter, Maler, Musiker. München, Leipzig 1911, S. 238, wo irrtümlich von „Max“ die Rede ist) und dass Lyser die Apel’sche Vorlage selbst für seine 494. bis 505. Nacht bearbeitete. 52 Lyser 1839 (Anm. 47), S. 78. 53 Vgl. die Abbildungen dieser Figurinen in Der Freischütz (Anm. 1), S. 101. Zwar haben Max, Caspar, Cuno und Ottokar als Grundfarbe das Jäger-Grün, es ist aber auffallend, dass bei Caspar hiermit die Farben schwarz-rot-gold kombiniert sind und auch die Federn seines Hutes an Hüte des Freicorps erinnern. 54 De la Motte Fouqué 1985 (Anm. 49), S. 5: „Es gab eben zu der Zeit in deutschen Landen mannigfache Unruhe, um des Dreißigjährigen Krieges willen [...]“. 55 Dass viele Begriffe oder Motive eine Art ‚Signalcharakter‘ hatten bzw. mit bestimmten zeitgenössisch verbreiteten Vorstellungen assoziiert wurden, zeigt z. B. auch die Erwähnung der Bedeutung des „Gehen[s] auf dem Kreuzwege“ bei Lyser (Anm. 47), 13. Bändchen, 1. Abteilung, Meißen 1839, S. 34f. (950. Nacht), also nur wenige Seiten vor dem Galgenmännlein. Hier heißt es u. a.: „Der Sage nach ging einst ein junges Mädchen am Andreasabend auf einen Kreuzweg, um den ersten Vorüberkommenden [als künftigen Bräutigam] zu erwarten; da schritt der Tod mit Stundenglas und Sense langsam an ihr vorüber und winkte ihr“ (S. 35). Auch das Erscheinen einer alten Frau auf dem Kreuzweg bedeute Unheil. In der zur Illustration angefügten Geschichte Der Andreasabend erscheint der Teufel wie in der Erzählung Apel/Launs: „Indem schlug die Glocke Zwölf; da sauste ein prachtvoller Wagen mit schwarzen Rossen bespannt vorbei, und in dem Wagen saß ein reich geputzter Herr mit einer Feder auf dem Hute“ (ebd., S. 36). Die Zahl der schwarzen Rosse ist später mit sechs angegeben (ebd. S. 37), also wie das „Sechsgespann“ bei Apel/Laun (Gespensterbuch, 1810, Anm. 6, S. 42). Vgl. auch die Erläuterungen zum Begriff „Kreuzweg“ in Schreiter 2007 (Anm. 1), S. 250f. – Weber und Kind war das Motiv des „Kreuzwegs“ sicherlich auch aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf als Motiv vertraut (vgl. dort die 5. Vigilie mit dem Rat der Alten an Veronika: „so schleiche dich in der künftigen Tag- und Nachtgleiche nachts um eilf Uhr aus des Vaters Hause und komme zu mir; ich werde dann mit dir auf den Kreuzweg gehen, der unfern das Feld durchschneidet, wir bereiten das Nötige, und alles Wunderliche, was du vielleicht erblicken wirst, soll dich nicht anfechten“; zitiert nach E. T. A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Berlin 1963, S. 317; vgl. ebd. auch S. 364: „Wir gingen
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Text auch nach der Uraufführung weiter in der Diskussion stand, sei es z. B. zwischen dem Verfasser einer Freischütz-Tragödie aus dem Jahr 1812, Franz Xaver von Caspar, und Kind selbst, die das in diesem Zusammenhang wichtige Thema des ,Fatalismus‘, wie er sich in den Schicksalsdramen Adolph Müllners, Zacharias Werners u. a. äußert, diskutieren und damit ein erhellendes Licht auf den Text werfen,56 sei es durch die (vermutlich unter Einwirkung Kinds) entstandene öffentliche Anregung de la Motte Fouqués, Weber möge die eröffnenden Eremitenszenen doch noch komponieren –, wie Fouqué dies in Form eines fiktiven Dialogs in seinem Artikel „Auch ein Gespräch über den Freischützen“ in der Zeitung für die elegante Welt im September 1822 äußerte.57 Die oben genannte digitale Freischütz-Edition, deren Arbeitspaket „Libretto-Edi tion und Intertexte“ an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelt ist, wird neben der oben beschriebenen detaillierten Behandlung der Genese des Textbuchs durchaus auch solche Referenzen freizulegen und darzustellen versuchen.58 Es ist zu hoffen, dass es dabei gelingt, ein wenig mehr von dem intertextuellen Netzwerk sichtbar zu machen, in welches Libretti – nicht nur bei Weber – grundsätzlich eingebunden sind. Sicherlich werden sich bei diesen Arbeiten über die hier angesprochenen kleinen Mosaiksteinchen hinaus noch eine Vielzahl von Bezügen herausstellen, die uns helfen, das Libretto im Kontext des Theaterlebens der Zeit und nicht nur durch die Brille einer nationalen oder auf den musikalischen Anteil beschränkten Sichtweise wahrzunehmen.
mitternachts in der Tag- und Nachtgleiche auf den Kreuzweg, sie beschwor die höllischen Geister [...]“). Der Begriff begegnet auch in Gottfried August Bürgers Ballade Der wilde Jäger (vgl. Bürgers Gedichte in zwei Teilen. Teil 1: Gedichte 1789. Hrsg. von Ernst Consentius, Berlin 1914, S. 187–192), die darüber hinaus die Folgen der fürstlichen Jagd für das Leben der Bauern thematisiert und damit die großen Spannungen zwischen (adeligen) Jägern und Bauern, die auch im Freischütz zumindest angedeutet sind (Bürgers Ballade wird von Kind selbst in der Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1843, S. 238, erwähnt). An vielen Stellen öffnen sich also Begriffsfelder, die eine Überprüfung des Kontexts, in dem sie verwendet wurden, als aufschlussreich für die Interpretation erscheinen lassen. Diese Überprüfung kann sich nicht auf die „Erläuterungen. (Aus Sprache und Geschichte.)“ beschränken, die Kind in seiner Ausgabe letzter Hand abgedruckt hat (Kind 1843, Anm. 2, S. 211–242), da diese wohl eher als nachträglicher Versuch zu verstehen sind, dem Libretto weitere ‚Gelehrsamkeit‘ zuzuschreiben. 56 Vgl. Franz Xaver von Caspar: Abermals von . . Freischützen. In: Flora. Literatur- und Anzeige-Blatt Nr. 52, 1824, S. 117–118. Caspars Libretto ist in der ersten Version abgedruckt bei Mayerhofer 1959 (Anm. 36), S. 12–46. 57 Zeitung für die elegante Welt, Jg. 22, Nr. 183 (19. September 1822), Sp. 1457–1460, Nr. 184 (20. September 1822), Sp. 1467–1470 u. Nr. 184 (21. September 1822), Sp. 1474–1476. 58 Vgl. dazu http://www.freischuetz-digital.de. Das dreijährige Projekt wurde im Herbst 2015 abgeschlossen und veröffentlichte die bis dahin erzielten Ergebnisse auf der angegebenen Website.
Alessandro Roccatagliati
Überlegungen zu Ekdotik und Libretto ausgehend von Bellini*
1. Im Gegensatz zu den kritischen Ausgaben von Opern, die in den letzten drei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erschienen sind – genannt seien hier die verdienstvollen verlegerischen Aktivitäten des Verlags Ricordi in Bezug auf Rossini, Verdi und Donizetti –, haben sich die Ausgaben, die nach dem Jahr 2000 begonnen wurden, zum Ziel gesetzt, neben der Partitur, die selbstverständlich ‚den Text des Librettos unter den Noten‘ (meine Wortwahl) enthält, auch das Textbuch selbst zu edieren. Dies trifft für die Bellini-Edition zu (die ich die Ehre habe, zusammen mit Fabrizio Della Seta und Luca Zoppelli zu leiten), für die Cavalli- und Pergolesi-Edition sowie für die von Philip Gossett begründete und jetzt von Stefano Castelvecchi geleitete Rossini-Ausgabe beim Bärenreiter-Verlag. Das Gleiche gilt natürlich auch für das außergewöhnlich interessante, nicht-monographisch angelegte OPERA-Projekt, das uns hier zu dieser Diskussion zusammengeführt hat. Diese Diskussion ist überfällig und kommt meines Erachtens genau zur richtigen Zeit. Denn man möchte sagen – der Scherz sei erlaubt: „Musikwissenschaft, wir haben ein Problem!“ Welches Problem? Das ist die Uneinheitlichkeit unseres textkritischen, ekdotischen Vorgehens in einem ganz spezifischen Umfeld. Die Bellini-, Cavalli- und Pergolesi-Editionen veröffentlichen – vereinfacht gesagt – de facto jeweils zwei unterschiedliche Worttexte: ,das in der Partitur aufgegangene Libretto‘, das auf der primären Musikquelle basiert, und das ,Libretto als dramatisch-literarisches Werk‘ (ebenfalls meine Terminologie), das auf die literarische Hauptquelle zurückgeht. Die Rossini-Ausgabe bei Bärenreiter veröffentlicht dagegen nur einen einzigen Text und zwar den, der sich in der musikalischen Hauptquelle findet: Nachdem dieser innerhalb der Partitur ediert wurde, wird derselbe Text zusätzlich in einer Version präsentiert, die Züge eines literarischen Textes trägt. Das Vorgehen von OPERA hingegen zielt darauf ab, drei Worttexte bereitzustellen, wie aus dem ersten publizierten Band Prima la musica e poi le parole von Salieri und Casti zu ersehen ist: Neben dem ,Partitur-Worttext‘, der im herkömmlich gedruckten Notenband ediert ist, werden auf der digitalen Platt-
* Ich möchte Norbert Dubowy danken, der mir nicht nur bei der deutschen Version des ursprünglichen Vortrags und der Übersetzung des daraus entstandenen Aufsatzes Beistand geleistet hat, sondern auch für die Beobachtungen und Diskussionen hinsichtlich meiner Argumentation. Die letztendliche Ausformulierung liegt selbstverständlich ganz in meiner Verantwortung.
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Alessandro Roccatagliati
form, d. h. auf dem beiliegenden USB-Speichermedium, in parallelen Spalten sowohl der Worttext nach der primären Textquelle als auch ein dritter Text angeboten, der ‚gleichsam rückwärts‘ aus der musikalischen Hauptquelle gewonnen wurde.1 Ich möchte die unterschiedlichen Vorgehensweisen zum Gegenstand dieses Beitrags machen. Dabei möchte ich mich zunächst einigen theoretischen und praktischen Fragestellungen in Bezug auf die drei Ansätze widmen und diese in der Reihenfolge behandeln, in der sie hier skizziert wurden. Schließlich möchte ich am Ende auf einige konkrete Beispiele eingehen, die dazu anregen mögen, bei zukünftigen Projekten über die Vorteile einer größeren Homogeneität zwischen den Editionsstrategien nachzudenken.
2. Die Entscheidung zugunsten von zwei Texten, ein Ansatz, den wir vor nunmehr fünfzehn Jahren mit der Bellini-Edition zu realisieren begonnen haben, beruht auf Überlegungen und Diskussionen, an denen sich im vorangegangenen Jahrzehnt viele beteiligt haben. Ideen und Beiträge zum Thema kamen von Lorenzo Bianconi, Stefano Castelvecchi, Paolo Fabbri, Giovanna Gronda, Giuseppina La Face Bianconi, Reinhard Wiesend sowie vom Autor dieser Zeilen.2 Die unterschiedliche Natur der beiden in sich strukturierten Worttexte, die doch aus einem gemeinsamen konzeptionellen Grundstock hervorgehen, zeichnete sich umso deutlicher ab, je mehr die grundlegenden Eigenschaften der literarischen Autonomie des Librettotextes aufgedeckt wurden. Es ist dies eine Autonomie, die vollständig in sich selbst begründet ist, obwohl sie gleichzeitig und im Verein mit vielen Gebrauchsfunktionen besteht, die das Libretto natürlich auch hat und die es in dem Moment entfaltet, in dem es bei der musikalischen Komposition und der Inszenierung umgesetzt wird. Um dieses Konzept zu begreifen, ist es hilfreich, die unterschiedlichen Bedingungen des Entstehens, der Gestaltung, der Verbreitung und der Tradition deutlich zu machen,
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Vgl. Giambattista Casti, Antonio Salieri: Prima la musica e poi le parole. Music edition by Thomas Betzwieser, Text edition by Adrian La Salvia. Kassel: Bärenreiter, 2013. Das zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels zur Verfügung gestellte Material der Edition von Annette et Lubin (Band 2, hrsg. von Andreas Münzmay) legt jedoch nahe, dass die für Band 1 der OPERA-Reihe, d. i. Salieris Prima la musica, gewählte Lösung keineswegs die Regel für das gesamte Projekt ist. (Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in das Material sei Thomas Betzwieser und Candida Mantica herzlich gedankt.) 2 Vgl. Alessandro Roccatagliati: Librettos: Autonomous or Functional Texts? (1990). In: The Opera Quarterly 11, 1995, H. 2, S. 81–95; Reinhard Wiesend: Regieanweisung, Werk, Edition – am Beispiel der Zauberflöte. In: Mozart-Studien 3, 1993, S. 115–136; Giuseppina La Face Bianconi: Filologia dei testi poetici nella musica vocale italiana. In: Acta Musicologica 66, 1994, S. 1–21, hier S. 16; Stefano Castelvecchi: Sullo statuto del testo verbale nell’opera. In: Gioachino Rossini 1792–1992. Il testo e la scena (Convegno internazionale di studi, Pesaro, 22–28 giugno 1992). Hrsg. von Paolo Fabbri. Pesaro 1994, S. 309–314; Lorenzo Bianconi: Hors-d’œuvre alla filologia dei libretti, und dazugehörig ders.: Quattro tesi. In: Il Saggiatore musicale 2, 1995, S. 143–154, hier S. 151f.; Giovanna Gronda: Il libretto d’opera fra letteratura e teatro. In: Libretti d’opera italiani dal Seicento al Novecento. Hrsg. von Giovanna Gronda und Paolo Fabbri. Mailand 1997, S. IX–LIV; bzw. dies.: Nota filologica. Ebd. S. 1807–1808; sowie Paolo Fabbri: La musica è sorella di quella poesia che vuole assorellarsi seco. Ebd. S. LV–LXXX.
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die die jeweiligen Objekte, Libretto beziehungsweise Partitur, kennzeichnen (eine zweckmäßige Definition findet sich in der Einleitung zur neuen Cavalli-Edition3). Mindestens genauso wichtig aber ist der Umstand, dass, historisch gesehen, diese beiden Texte (Libretto und Partitur) über einen langen Zeitraum und ein jeder auf seine eigene, unverwechselbare Weise daran teilgenommen und zusammengewirkt haben, einen ‚dritten Text‘, und zwar ganz fundamentalen Text, zu realisieren: die Aufführung auf der Bühne. Es ist ein Zusammenwirken, das notabene nicht nur in der Theorie besteht, sondern in der konkreten Theaterpraxis verwurzelt ist. Es sei nur daran erinnert, dass der größte Teil der Bühnenanweisungen im Libretto – Bühnenbild, Spielort, Bühnenbewegungen, Gesten – lange Zeit autonom das Tun der verschiedenen an der theatralen Inszenierung beteiligten schöpferischen Künstler, der Bühnenbildner, Maschinisten, Kostümbildner, Requisiteure, Chorsänger und nicht zuletzt der Sänger/Schauspieler bestimmt haben. Viele von ihnen sind nie auch nur in die Nähe der Schreibstube des Komponisten gekommen und haben dessen kompositorische Arbeit (kaum oder gar nicht) beeinflusst. Die handschriftlichen poetischen Arbeitstexte, die dem Komponisten zur Verfügung gestellt wurden, berücksichtigten nur die allernotwendigsten Anweisungen (für Klangeffekte, Auftritte und Abgänge, für emotionale Zustände). Die Anweisungen zu Bühnenbildern und Requisiten wurden in der Praxis vom Dichter direkt an den Bühnentechniker übermittelt; und der Textdichter selbst betätigte sich gewöhnlich als eine Art Regisseur, der über die Bühnenaktion der Sänger wachte, die in den Anweisungen fixiert waren, die dem gedruckten Libretto beigegeben waren. Jenseits von ähnlichen, historischen wie materialbezogenen Argumenten rechtfertigt sich die kritische Edition von zwei Texten, die auf Basis der jeweils gewählten Quelle ediert sind, schließlich auch aus der konkreten praktischen Tauglichkeit und dem Erkenntnisgewinn, den ein derartiges Vorgehen mit sich bringt. Wichtig ist zunächst einmal der pragmatische Konsens, dass man moderne Librettotexte überhaupt zur Verfügung stellt, die eine korrekte Struktur haben und sauber ausgearbeitet sein sollen, wobei – so gut es geht – die Gesamtheit der Textgestalten zugänglich gemachen werden soll. Denn auch heute noch sind wenig zuverlässige Librettoeditionen, seien es italienische, französische oder deutsche, immer noch sehr verbreitet. Wir alle kennen Ausgaben – meistens für Theaterfreunde und Schallplattenliebhaber, die man glaubt mit Librettotexten zufriedenstellen zu müssen –, die nicht selten nach der erstbesten Quelle ediert sind, die man zur Hand hatte, oder die einfach von Tonaufnahmen oder Partituren transkribiert wurden. Oft sind die metrischen Strukturen dieser Abschriften völlig erratisch (erinnert sei hier nur an die aberwitzigen Elaborate einer gewissen Peggy Cochrane, die vor noch nicht allzu langer Zeit bei Decca erschienen). Im übrigen gibt es neben Literaturwissenschaftlern, Musikologen und Musikliebhabern in der Welt des professionellen Opernbetriebs nicht wenige, die
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Siehe Apparatus to the Libretto – Editorial Policy in Francesco Cavalli: La Calisto. Dramma per musica in tre atti. Hrsg. von Álvaro Torrente und Nicola Badolato. Kassel 2012, S. 141.
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damals wie heute tagtäglich mit dem Libretto in der Hand arbeiten. Es ist daher nur folgerichtig, ihnen einen Text an die Hand zu geben, der so stringent wie möglich ist. Eine Librettoedition als Referenztext ist auch konkret für die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum von Wert. Wir alle wissen, wie grundlegend die Lektüre des Librettos für die Verständigung zwischen dem ausführenden Künstler und dem Zuschauer ist. Aber es handelt sich hier, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur um die Verständlichkeit der Worte unter den Noten, was gerade dann an Wichtigkeit verliert, wenn die Musik selbst die Führung als Ausdrucksträger übernimmt. Darüberhinaus gibt es aber noch viel subtilere Fälle, beispielsweise Szenenanweisungen, die sich auf das Verhalten der Akteure beziehen, die aber entweder überhaupt nicht darzustellen sind oder aber unmöglich im Theater wahrgenommen werden können wie z. B. „pallido – blass“, „arrossisce – er/sie errötet“ oder „con sguardo espressivo – mit ausdrucksvollem Blick“. Diese Didaskalien bedürfen zur Gänze einer ‚parallelen‘ Lektüre im Libretto, um das theatrale Erlebnis vollkommen zu machen. Das bedeutet in der Folge, dass auch das Libretto qua Libretto, als Leseobjekt, konstitutiver Teil der musiktheatralen Kommunikation ist. Diese Funktion können die modernen, oberhalb der Bühne projizierten Übertitel kaum erfüllen. Es gibt jedoch noch einen dritten, fundamentalen Nutzen, der meines Erachtens entscheidend ist, wenn wir unsere Arbeit als Herausgeber ernst nehmen. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung als Wissenschaftler möchte ich dafür plädieren, die zwei genannten Texte voneinander getrennt zu halten, zunächst auf konzeptioneller Ebene, aber dann auch auf ekdotischer und philologisch-herausgeberischer Ebene. Dies birgt einen ungemein starken ‚heuristischen Gewinn‘. Die kritische Ausgabe ist bekanntermaßen die bestmögliche Gelegenheit, um aus erster Hand alle konstitutiven Phasen, d. h. die Genese der musikdramatischen Texte nachzuzeichnen. Ferner wissen wir, dass das Libretto und seine strukturgebende Versifizierung schöpferisches (und nicht selten bindendes!) Ausgangmaterial für den Komponisten darstellt. Es ist daher nur folgerichtig, dass es bei Untersuchungen, die sich auf den kompositorischen Prozess einer Oper beziehen, hilft, sich die inhärente ‚Dualität‘ der Worttexte entsprechend vor Augen zu führen, auf denen sie beruht. Wenn wir jetzt in eine Detailbetrachtung gehen, möchte ich mit etwas beginnen, das scheinbar einen Exkurs darstellt. Wir wissen, dass ein Libretto auf metrischer Ebene, aber auch auf der Ebene der Bühnenanweisungen, verschiedene Vorgaben für einfache und komplexere musikalische Formen enthält.4 In Bezug auf das Repertoire des 19. Jahrhunderts habe ich wiederholt dargelegt, dass es sich lohnt, die musikalische
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Zur vertiefenden Lektüre sowohl hinsichtlich allgemeiner als auch spezieller Aspekte des Konzepts der ‚librettistischen Vorgaben‘ sei verwiesen auf Alessandro Roccatagliati: Felice Romani librettista. Lucca 1996, S. 122–125, 161–199, sowie auf den jüngeren Beitrag, ders.: Libretti per musica: tre principi di base. In: Poeti all’opera. Sul libretto come genere letterario. Hrsg. von Andrea Landolfi und Giovanna Mochi. Rom 2013, S. 37–54, hier S. 41–51.
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Realisierung der besagten Vorgaben zu untersuchen.5 Aufschlussreich sind gerade jene Abweichungen (in der Partitur), die dramatisch-musikalische Entscheidungen beinhalten, oder auch schlicht die Wortwahl, derer sich der Komponist bedient, wenn er sich (teilweise oder ganz) von dem absetzt, was der Textdichter vorgegeben oder sich vorgestellt hatte. Anders ausgedrückt: Es sind diese Diskrepanzen, die es uns erlauben, einen gleichsam interpretierenden Blick in die Werkstatt des Komponisten zu werfen und ihn in einem ganz bestimmten Moment zu beobachten: Es ist dies der Moment, in dem er sich mit der zu einem guten Teil autonomen Vorstellungswelt des Librettos auseinandersetzt und sich aus irgendeinem Grund entscheidet, sich von dieser abzusetzen. Damit übt er seinerseits eine eigene schöpferische Autonomie aus, die noch weitaus größer ist als die – an sich schon bedeutsame – Autonomie, nämlich eine bestimmte Bühnensituation in der einen oder anderen Weise in Musik zu setzen. Ein besonders erhellendes Beispiel dafür, wie nützlich es für die kritische Edition sein kann, sich diesen Fragen zu stellen, findet sich in La sonnambula von Bellini. In der musikalischen Nummer, die dem Auftritt des Tenors Rubini dient, sind meinem Co-Editor Luca Zoppelli und mir sofort zwei Dinge aufgefallen: Sie ist als Auftrittsstück für die männliche Hauptrolle gedacht (die Autoren tauften sie in den entsprechenden Handschriften unmissverständlich „Cavatina Elvino“), doch erweist sie sich zum einen, vor der Folie der Form ‚Scena ed aria‘, als eine ganz eigentümliche Schöpfung, da sie auch substanzielle Einwürfe des Soprans (Amina) vorsieht; zum anderen ist in der abschließenden Cabaletta eine große Diskrepanz zwischen dem poetischen Text erkennbar, den Romani im ursprünglichen Libretto gedruckt sehen wollte, und dem, den Bellini vertont hat. Hilfestellung zum Verständnis, wie die Dinge auf den beiden Ebenen von Libretto und Komposition während der Entstehung der Oper 1830/31 liefen, bieten glücklicherweise verschiedene handschriftliche Quellen: zum einen natürlich die autographe Partitur Bellinis, dann aber auch zwei verschiedene autographe Blätter Felice Romanis (die ihrerseits Stadien der Entstehung des literarischen Textes wiedergeben) sowie ein musikalisches Skizzenblatt (recto-verso) von Bellini. Die schrittweise Ausarbeitung der ungewöhnlichen Form des Stückes muss hier außen vor bleiben,6 konzentrieren wir uns nur auf die Unterschiede zwischen den beiden Texten der Cabaletta (einen Auszug aus dem handschriftlichen Libretto siehe auf Abb. 1). Nachdem Romani zunächst eine Serie von formal ‚ungewöhnlichen‘ Strophen auf der rechten Seite des Blattes niedergeschrieben hatte, ist zu sehen, wie sich Librettist und Komponist in ihrer Arbeit auf die Verse des eigentlichen Cabaletta konzent5
Einige Erkenntnisse zu Arbeitsprozessen bei Meyerbeer und Rossini habe ich in den letzten Jahren auch in deutschen Beiträgen vorgelegt. Siehe Alessandro Roccatagliati: Interventi rossiniani nei testi dei librettisti. In: Rossini und das Libretto. Hrsg. von Reto Müller und Albert Gier. Leipzig 2010 (Deutsche Rossini Gesellschaft Schriftenreihe. 6), S. 67–84, sowie ders.: Margherita d’Anjou oder Die Italianisierung Pixérécourts: Der Klassizist Romani bei der Arbeit für Meyerbeer. In: Die Musikforschung 64, 2011, H. 2, S. 109–122. 6 Diesbezüglich sei verwiesen auf die Einleitung zu Vincenzo Bellini: La sonnambula. Hrsg. von Alessandro Roccatagliati und Luca Zoppelli. Mailand 2009, S. XI–XLVI, hier S. XXIVf.
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Abb. 1
rierten. Während die Achtsilbler Aminas völlig unangetastet bleiben, sieht man bei den Versen des Tenors – ungeachtet der zweistrophigen Struktur des Schemas abbx cddx, mit tronco-Endung auf „-èr“ – eine kontinuierliche Suche nach der richtigen Mischung aus Reimen auf „-ante“ (bastante, istante, sembiante), auf „-iso“ (sorriso, viso) und auf „-ita“ (scolpita, rapita), die Romani von den ersten Skizzen an beschäftigt hatte. Man kam dann zu einer Lösung, die Bellini für überzeugend hielt, bzw. zu jener dichterischen Fassung, die sich aufgrund seiner beiden eigenhändigen Eingriffe ergab, die sich am linken Rand Mitte der Seite befinden. (Die dritte hier erkennbare Hand ist die von Romanis Witwe, die als Verfechterin der Autorenrechte des Gatten zweimal anmerkt: „versi copiati da Bellini“ – „von Bellini geschriebene Verse“.) Jetzt war Bellini bereit, sie in Musik zu setzen, denn so finden sie sich in der autographen Partitur. Anders hingegen ist das Vorgehen bei den ersten beiden Siebensilblern des vorangehenden a due zu bewerten: Das musikalische Autograph zeigt in der ersten Niederschrift der noch skizzenhaften Partitur, dass er zunächst das verwendete, was Romani ihm geliefert hatte („Dal dì che i nostri cori / Avvicinava un Dio“). Dann aber war er offenbar nicht mehr zufrieden, vor allem weil die lange Note in seiner Melodie, die er wiederaufnehmen wollte, mit dem Hauptwortakzent zusammenfallen sollte. Also eliminierte er die Zeile und ersetzte sie in der Partitur wie im handschriftlichen Libretto mit „Càro/ Càra dal dì che univa / I nostri cori un Dio“ (Abb. 2). In beiden Fällen entsprachen die Lösungen jedoch nicht Romanis Vorstellungen, der im Libretto zur Uraufführung am Teatro Carcano etwas anderes gedruckt sehen wollte. Zu Beginn des Vierzeilers des
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Abb. 2
a due hielt er sich an die eigene Fassung, die sicherlich stilistisch-literarisch besser ist und mehr Sinnhaftigkeit besitzt. Am Ende des ersten Vierzeilers der Cabaletta jedoch musste er sich fragen, was dieser „vezzo lusinghier“ bedeuten sollte oder was man überhaupt in einem „vezzo“, einem Reiz „legg[ere] – lesen“ sollte. So kam es schließlich dazu, dass er in der Druckausgabe das Bild des „Lächelns“ (riso) wiederherstellte, das er in seinen Skizzen erprobt hatte, und er schloss den Vierzeiler mit dem Vers „Nel tuo riso lusinghier“, der in der am weitesten gediehenen handschriftlichen Quelle nicht vorhanden war. Die Notwendigkeit, die Editionen des Textes aus der Partitur und des Textes, der als Textbuch veröffentlicht wurde, getrennt zu halten, ist offenkundig: In den Versen dieses Stückes gehen der Autorwille Romanis und der Autorwille Bellinis am Ende in jeder Hinsicht auseinander.
3. Nachdem der heuristische Nutzen geklärt ist, den die getrennte Veröffentlichung von zwei Worttexten bietet, möchte ich nun einige Überlegungen zu Art und Umfang der editorischen Arbeit an den jeweiligen Texten anschließen. Beginnnen wir mit der literarischen Librettoedition, bei der es um zwei Aspekte gehen soll: 1. Welche Hauptquelle soll man zugrunde legen? 2. Wie weit wollen wir in die Quelle textkritisch regulierend und normalisierend eingreifen?
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Soweit es die Frage der Hauptquelle betrifft, hat das obige Beispiel schon gezeigt, dass der ‚letztgültige Wille‘ Romanis erst in dem Moment greifbar wurde, als der Text für die Uraufführung zum Druck gegeben wurde. Die betrachteten Handschriften zum Libretto der Sonnambula sind Schriftstücke, die aus dem Arbeitsprozess herrühren, doch sind es sicherlich keine Reinschriftkopien, die man hätte zum Druck bringen können. Falls solche existieren, sollen wir uns an diese halten? Diejenige Strömung in der Philologie, die zur Verwendung eines codex optimus tendiert, hätte an einem Textzeugen, der unter Aufsicht des Autors entstanden ist, sicher ein besonderes Interesse. Auf der anderen Seite könnte die Textkritik der angelsächsischen Tradition dazu raten, einen Idealtext zum Modell zu nehmen, bei dem die wesentlichen Lesarten (Wörter, metrische Strukturen) dem endgültig gedruckten Text entnommen werden, alle akzidentellen Lesarten (Interpunktion und Orthographie) aber den handschriftlichen Quellen entstammen, die den ursprünglichen Intentionen des Textautors vermutlich näher stehen und nicht den auf Regulierung ausgerichteten Usancen des Schriftsatzes unterliegen.7 Dennoch: Untersuchungen, die an einem vollständigen, ebenfalls weit entwickelten Manuskript von Il Pirata von Romani und Bellini – heute im Staatsarchiv Mailand – durchgeführt wurden, machen noch einmal die Gattungseigentümlichkeiten librettistischer Schöpfungen deutlich. Die Unterschiede zwischen dem ‚Uraufführungsdruck‘ und dem genannten Manuskript8 sind derart gering, dass sie nach Quantität und Qualität auch im Prozess der Fahnenkorrektur eingefügt worden sein könnten. Und doch erfuhr der Text auf dem Weg vom Manuskript zum Druck, bei aller Nähe, zahlreiche ‚Vervollständigungen‘. Auch sehr Substantielles von Bellinis Schreibtisch hat sich vor der Drucklegung eingeschlichen: zwei aus Zehnsilblern bestehende Vierzeiler aus dem Adagio des Duetts Imogene-Gualtiero im zweiten Akt, zu dem keine handschriftlichen Vorarbeiten erhalten sind; das Mailänder Exemplar sieht an gleicher Stelle noch zwei Sechszeiler zu je sieben Silben vor. Aber das Meiste dürfte von den Bühnenproben herrühren: Präzisierungen, die Romani an den Bühnenanweisungen vornahm, seien es Vorschriften für die Agierenden auf der Bühne, seien es zusätzliche Informationen, die dazu dienten, den Zuschauer am Gesamteffekt teilhaben zu lassen. Dies trifft etwa zu für die Präzisierung „la tempesta è al suo colmo – der Sturm erreicht seinen Höhepunkt“ am Beginn der Oper oder auch für „ravvolto nel mantello – eingehüllt in den Mantel“ sowie für dramatische Gesten zwischen Imogene und Gualtiero während ihres ersten Duetts. Auch diverse Nacharbeiten bei der Beschreibung von Bühnenbild und Dekoration sind wahrscheinlich eine späte Frucht von Kompromissen, die durch die Gestaltung Sanquiricos und der Bühnentechniker auferlegt wurden.
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Vgl. Walter Wilson Greg: The Rationale of the Copy-Text. In: Studies in Bibliography 3, 1950/51, S. 19– 36. 8 Für den Vergleich herangezogen wurden die Unterlagen im Staatsarchiv Mailand, Fondo Autografi, dono Galletti, cartella Felice Romani 5, einerseits und Il pirata. Melodramma in due atti da rappresentarsi nell’I.R. Teatro alla Scala l’autunno del 1827, Mailand (Fontana) 1827.
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Das allein würde im Hinblick auf die Edition des Librettos bereits die Priorität des Erstdruckes als Referenztext verstärken. Aber es gab auch noch weitere Eingriffe, die vom Textdichter ausgingen und die dem eigentlich zum Lesen bestimmten Libretto (nicht jenem, das in Musik gesetzt und zum Hören bestimmt war) etwas mehr literarisches Gewicht verschafften. Hier und da wurden Verse verändert, auch wenn sie das Versmaß und fast immer auch das Reimschema beibehielten. Dies geschah, soweit man feststellen kann, mit mindestens zwei Zielsetzungen: im Hinblick auf dramatische Plausibilität und hinsichtlich lautlicher Klangqualitäten, die sich nicht wiederholen sollten. Aber genau diese Verse, die Romani zwischen Manuskript und Drucklegung zu allerletzt modifizierte, waren gerade jene, die Bellini in der Partitur nicht antastete, weil sie ja bereits vertont waren. Und selbstverständlich behält auch unsere Edition sie als solche bei – aus Respekt, wie unterstrichen sei, vor dem jeweiligen Autorwillen. Soweit es aber das Maß an kritischen Eingriffen in den zu publizierenden ‚Librettotext‘ betrifft, tendiere ich dazu, eher pragmatisch und tolerant zu verfahren. In der Bellini-Edition veröffentlichen wir einen Text, der sehr nahe am gedruckten Libretto der Uraufführung ist, wohingegen zum Beispiel die Kriterien der Cavalli-Edition sehr viel mehr an Eingriffen zulassen. Die Pergolesi-Edition wiederum wird in den einzelnen Bänden Faksimile-Nachdrucke der Originallibretti veröffentlichen, während die eigentliche Edition später in einem separaten Sammelband erfolgen soll. Alle diese Lösungen erscheinen legitim, doch muss eine Bedingung erfüllt sein: Man muss einen minimalen gemeinsamen Nenner an editorischer Strenge bewahren, der meiner Meinung nach einfach zu definieren ist. Dieser bedeutet: Von der Hauptquelle, dem ersten gedruckten Libretto, müssen immer übernommen werden: (a) die metrischen Strukturen durch Beibehaltung der originalen graphischen Vermittlungsmechanismen; (b) die Angaben über simultanen Gesang, die durch graphische Mittel dargestellt werden sollten; (c) ausschließlich diejenigen Didaskalien, die vom Librettisten stammen; (d) alles, worauf der Komponist, aus welchem Grund auch immer, verzichten wollte, der Librettist hingegen nicht (ein einleuchtener Fall sind die „versi virgolati“, das sind die mit Anführungszeichen zur Auslassung gekennzeichneten Verse). Kommen wir jetzt zu einigen Fragen, die die kritische Edition des Worttextes betreffen, der in der Partitur zu finden ist. Ich möchte mit einem Sachverhalt beginnen, der vielleicht selbstverständlich erscheint, den wir aber nicht immer mit all seinen Konsequenzen durchdenken. In dem Moment, in dem wir die kritische Edition einer Partitur anfertigen, bereiten wir einen Text vor, der gleichermaßen den Quellen treu und nach der heutigen Praxis aufführbar sein soll.9 Es gibt jedoch ein Problem: Sobald wir die Partitur nach dem derzeitigen Standard zur Aufführung einrichten, bewirken wir, dass die Distanz, die zwischen einer Partitur des 17., 18. oder 19. Jahrhunderts und einer uns
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Zur Problematik der sogenannten historisch-kritischen Ausgaben der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die alle geprägt sind vom Kompromiss zwischen beiden Forderungen und dabei bestrebt sind, dem „Prinzip einer Fundierung des Praxis durch Wissenschaft und einer Legitimation der Wissenschaft durch Praxis“ zu huldigen, ist der grundlegende Bezugspunkt immer noch Carl Dahlhaus: Zur Ideengeschichte musikalischer Editionsprinzipien. In: Fontes Artis Musicae 25, 1978, H. 1, S. 19–27, hier S. 21.
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heute vertrauten Partitur besteht, nivelliert wird. Man hat nämlich von einem primären Quelltext auszugehen, von dem die zeitgenössischen Musiker wussten, dass er der Realisierung der Opernaufführung diente. Diese wurde erzielt: 1. über textliche oder auch nicht-textliche Vermittlung, in der sie spezifiziert oder vervollständigt wurde (durch den Kopisten bei der Erstellung der Partitur und der Stimmen; durch stillschweigende Aufführungsgewohnheiten der Sänger, des Korrepetitors, des Konzertmeisters und der Orchestermusiker); 2. im Zusammenwirken mit anderen Texten (dem Libretto mit präzisen Didaskalien; Anweisungen zu Szene und Kostümen); 3. über Modifizierungen seitens Interpretation und Varianten wie (tonale) Transpositionen, Eliminierung ganzer Nummern oder aber Interpolationen, die dem Erfolg der Gesamtprodukts dienten. Die Partituren, die im Allgemeinen im heutigen Aufführungsbetrieb verwendet werden, sind hingegen so konzipiert, dass sie gleichsam komplett und umfassend aus sich selbst heraus verständlich sind; ihr Anspruch ist es, direkt und unmittelbar einsetzbar zu sein, wobei die Kombination von Musik und den beigegebenen verbalen Anteilen organisch, ‚unantastbar‘ und zwingend erscheinen soll. Zusammengefasst heißt das: Die Notwendigkeit, unsere philologische Arbeit im Theater aufführbar zu machen, ordnet objektiv jegliche Bemühungen um Rekonstruktion und Konservierung einer künstlichen Logik – nämlich einem allumfassenden Postulat nach Einzigartigkeit, Vollständigkeit und Usualität – unter, das in der Hauptsache von der sogenannten Theaterpraxis diktiert wird. Wohlgemerkt, es ist nichts Neues an editorischen, der Ergänzung dienenden Eingriffen, die wir vornehmen, um die Texte so gut wie möglich und mit größtmöglichem historisch-kritischen Bewusstsein aufführbar zu machen. Wie das Bellini-Beispiel gezeigt hat, haben die Komponisten selbst implizit derartige ‚Lizenzen zur Vervollständigung‘ in vielfältiger Form vorgesehen. In diesem Sinn sind wir, die kritischen Herausgeber, nichts anderes als die letzten in einer langen Reihe von ‚Interpreten‘ jenes bescheidenen, lockeren und ‚nachgiebigen‘ Autorwillens. Dennoch: die eigentümliche, universelle Verständlichkeit unserer heutigen Partituren muss uns ganz besonders zu überlegten und wachsamen Lösungen bewegen – auch im Hinblick auf die sogenannten ‚Vervollständigungen‘, die wir berechtigt sind, am Worttext der Partitur vorzunehmen. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann uns die fundamentale Erkenntnis über die Natur der beiden – vergleichsweise – autonomen Texte eine Hilfe sein. Es genügt, sich zwei Aspekte zu vergegenwärtigen. Der erste betrifft Korrektheit, Klarheit, Kohärenz und Eleganz des Textes in der Partitur. Wir wissen, dass die Opernkomponisten in den meisten Fällen keine höhere Bildung hatten und daher Merkmale der Orthographie und der Interpunktion, den Gebrauch emphatischer Zeichen, Kohärenz in der Verwendung graphischer Zeichen (man denke nur an den stetig wechselnden Gebrauch von Pünktchen, mit denen Auslassungen zum Zweck der Emphase markiert wurden: .., …, …. etc.) nur bedingt einhielten. Ich bin überzeugt, dass das gedruckte Uraufführungslibretto unter diesem Gesichtspunkt eine Sekundärquelle für die Edition der Partitur sein kann (natürlich nur für sich entsprechende Passagen und selbstverständlich mit dem Nachweis aller vorgenommenen Eingriffe im Kritischen Bericht). Es war nur die gedruckte Textfassung, bei der alle Einzelheiten kontrolliert
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wurden und nur von dem, der dazu berufen war, nämlich vom Textdichter. Das vom Komponisten verwendete Notat des Textes dort zu konservieren, wo es offenkundig problematisch oder unkorrekt ist, birgt meines Erachtens das Risiko, sich einem fruchtlosen Purismus zu ergeben. Ein zweiter, sehr heikler Aspekt, der meiner Ansicht nach noch viel wichtiger ist, betrifft die Art, wie man mit den Didaskalien in der Partitur umgeht. Bekanntermaßen sind hier die Diskrepanzen zwischen den Worttexten von Libretto und Partitur oft ganz erheblich. Die autographen Partituren überliefern praktisch niemals alles, was der Librettist erdacht hat, auch deshalb, weil der Librettist, wie gesehen, die Bühnenanweisungen erst dann ausarbeitet, nachdem sein Text schon beim Komponisten ist. Auf der anderen Seite haben auch die Komponisten häufig von sich aus Didaskalien ersonnen, die sie in die Partitur schreiben, ohne dass diese später im gedruckten Textbuch auftauchen. Es ist vollkommen klar, dass der heutige ‚universalistische‘ Usus, der in sich völlig logisch und legitim ist, in der Partitur alle möglichen Bühnenanweisungen sowohl aus dem Libretto als auch aus der Partitur zusammenzutragen, oft zu einer heiklen Form von ‚Montage‘ führen kann. Schon im Jahr 2000 haben Luca Zoppelli und ich ein paar spezielle Fälle in I Puritani untersucht.10 Ich zeige an dieser Stelle nur zwei, die allerdings innerhalb der Edition ganz unterschiedlich behandelt werden müssen. Beispiel 1 Bühnenanweisung im Libretto
Elvira ha il capo coronato di rose: ha un bellissimo monile di perle al collo: si vede per altro che le manca il compimento della pompa nuziale. Entra in iscena avendo nelle mani il magnifico velo bianco regalatole da Arturo.
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Gesungener Text des Librettos Arturo Non parlar di lei che adoro: Di valor non mi spogliar […] ‹E la vergine adora… Elvira Ah!…› Son vergin vezzosa […]
Bühnenanweisung in der Partitur Enrichetta come per parlare
[Arturo] Interrotto dalla voce d’Elvira si volge atterrito poi si sforza a rendersi tranquillo. Elvira sorte con Giorgio ed ascolta l’ultima parola di Arturo.
Siehe Alessandro Roccatagliati, Luca Zoppelli: Testo, messinscena, tradizione: le testimonianze dei libretti. In: Vincenzo Bellini: verso l’edizione critica. Atti del convegno internazionale (Siena, 1–3 giugno 2000). Hrsg. von Fabrizio Della Seta und Simonetta Ricciardi. Florenz 2004 (Chigiana. XLV), S. 271–290, hier S. 283–287.
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Beispiel 2 Bühnenanweisung im Libretto
Per battersi; Enrichetta si frappone; il velo si scompone, e il suo volto si scuopre.
Con stupore, e appoggiandosi alla spada
Gesungener Text des Librettos Arturo Questo ferro nel tuo petto Fino all’elsa io vuo’ piantar. Enrichetta Pace … Pace … Ah, v’arrestate, Per me sangue non versate. Riccardo Va’, ti scosta! Arturo Oh Ciel, che festi? Enrichetta No, v’arrestate, Per me sangue non versate. Arturo Ah, che festi! Riccardo La prigioniera? Enrichetta Dessa io son! Arturo Tua voce altera Or col ferro sosterrai.
Bühnenanweisung in der Partitur Con ferocia concentrata Enrichetta lo arresta
Volendola allontanare Respingendolo Il velo che copre Enr. si scuopre ed è riconosciuta da Riccardo che resta stupito. Sbalordito
Con maestà
Im ersten Fall (Beispiel 1) bewegen sich Libretto und Partitur auf sehr verschiedenen Ebenen: eine Vorschrift für den Kostümbildner auf der einen Seite, Angaben zum Ausdruck und zur Abstimmung der Bewegungen auf der anderen Seite. Hier gibt es keinen Zweifel, dass man die beiden Quellen additiv zusammenführen wird. Anders im zweiten Fall (Beispiel 2), wo Bellini die konzentrierte und eher berichtende Anweisung aus dem Libretto gleichsam auflöst und dem Dialog entlang aufgliedert. Es ist klar, dass man in der Partitur die Didaskalien Bellinis benutzen wird, aber es bleibt die Frage, ob man nicht zum Beispiel das Detail zu Riccardo, „mit dem Ausdruck der Verblüffung auf sein Schwert gestützt“, von Pepoli übernehmen soll.
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4. Im Folgenden möchte ich nun meine eigenen Überlegungen zurückstellen und versuchen, mich in die Denkweise derer zu versetzen, die andere editorische Entscheidungen getroffen haben. Es handelt sich hier um die Reihe der Works of Rossini (WGR), aus der ich die Edition von Il barbiere di Siviglia aus dem Jahr 2008 benutze. Das folgende Zitat bezieht sich auf die Kriterien der Librettoedition, die dem separat gedruckten Worttext vorangestellt sind: This libretto presents a reading text of Il barbiere di Siviglia in the form in which it was essentially set to music by Rossini and his collaborators (as presented in WGR). Because it is a reading text, however, it intervenes to preserve the correct poetic metric scansion and verse forms, drawing when appropriate on the structure of the original printed libretto (RO1816). All integrations from RO1816 are placed in square brackets… Stage directions are normally given in the fuller form found in RO1816 ; places where the reading of A [das Autograph des Komponisten] has been preferred are noted.11
Wie eingangs erwähnt, ist es hier ein einziger Worttext, derjenige der Partitur, die im Wesentlichen („essentially“) als Hauptquelle dient und auch der Librettoedition zugrunde gelegt wurde. Da es sich jedoch um einen Lesetext („a reading text“) handelt, bezieht sich der Editor auf den Librettoerstdruck von 1816, um die korrekte Metrik und Versifizierung zu wahren („to preserve the correct poetic metric scansion and verse forms“) sowie die Bühnenanweisungen zu berücksichtigen, die hier in vollständigerer Gestalt („in fuller form“) vorliegen. Ich muss gestehen, dass ich keine innere Logik von Ursache und Wirkung erkennen kann, wenn die Schöpfung Sterbinis erst dadurch geschmälert wird, dass man sie als „testo di lettura“, als reinen Lesetext (der hier den Überarbeitungen und Manipulationen Rossinis unterworfen ist) bezeichnet, um dann mit dieser Bewertung die Notwendigkeit zu begründen, dem Text eine konsistente metrische Form geben zu müssen. Gleichermaßen ratlos macht die philologische Bedeutung des „essentially“, da das metrisch-formale Gerüst, das man vollständig aus der angeblichen Nebenquelle – dem gedruckten Uraufführungslibretto – entnimmt, in Wirklichkeit eine für die Genese strukturell ‚tief anzusetzende’ und fundamentale Komponente einer wie auch immer gearteten Erfindung oder Gestaltung eines Librettotexts ist. Ich möchte hier dennoch auf philologischen Schwierigkeiten und die Erkenntnisdefizite eingehen, die entstehen können, wenn man die ekdotische Logik der beiden verschiedenen, aber sich ergänzenden Texte negiert. Man kann dies in wenigen Beispielen anhand der ersten beiden musikalischen Nummern aus Rossinis Oper demonstrieren. In Abb. 3 (Seite 154–156) sieht man den Text der beiden Versionen nebeneinander, den gedruckten Ursprungstext von 1816 und den der Edition von 2008. Bei beiden Beispielen geht es, wie in meinen Ausführungen 11
Gioachino Rossini: Il barbiere di Siviglia [Almaviva o sia L’inutile precauzione]. Hrsg. von Patricia A. Brauner. Kassel 2008 (Works of Gioachino Rossini. 7a/b), S. LVI.
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zur Methode dargelegt, um Fragen, die sich einerseits auf die notwendige Strenge im Umgang mit den Quellen beziehen, auf der anderen Seite auf genetisch signifikante Diskrepanzen und Unzulänglichkeiten zwischen den beiden Texten. Einige Verse Almavivas in dessen erstem Rezitativ veranschaulichen gut, wie WGR die Interpunktion ganz genau aus der Partitur von Rossini statt aus dem Librettodruck Rom 1816 (im Folgenden RO1816) übernommen hat (siehe in Abb. 3 die mit A gekennzeichnete Stelle). Dennoch würde kein italienischer Leser daran zweifeln, dass Sterbini in diesem Passus sehr viel eleganter und weniger gewunden ist als der Komponist des Rezitativs. Der Punkt, der die ersten beiden Hauptsätze trennt, war wegen des Wechsels des Gesprächsgegenstands sicherlich passender als der Strichpunkt. Vor allem aber die Tatsache, dass das Wort „amore“ zwischen zwei Kommata gesetzt wird, wodurch ihm etwas von einem Vokativ verliehen wird – das Autograph hat im übrigen nur ein Komma und zwar nach statt vor dem Wort –, verunklart ein wenig seine syntaktische Stellung als Subjekt, das den gesamten Satz zusammenhält. Auf der gleichen Linie liegt auch das Komma nach „rango“, das wie das Komma nach „amore“ (eigentlich ein Komma ‘vor’ „a un uomo“, das bewirkt, dass „amore“ von „a un uomo“ getrennt wird) überflüssig ist und zur Verunklarung der grammatikalischen Situation beiträgt. Auch zwei überflüssige Kommata im ersten Satz dieses Abschnitts verkomplizieren die an sich einfache poetische Inversion; und die Behandlung der Auslassungspunkte in Vers 81 – die nicht einmal im Ursprungslibretto konsequent behandelt sind – erscheinen unregelmäßig. Soll man also nach RO1816 normalisieren? In der Partitur sicherlich nicht, in der Edition des Libretto aber schon, auch wenn es bloß ein „reading text“ ist. (Dann stellt sich aber die Frage, warum man das metrischen Gerüst aus RO1816 übernimmt, die Interpunktion aber nicht.) Die in WGR verwirklichte Vorstellung ist die, dass der Zusammenhang durch die Ableitung des Worttextes aus dem musikalischen Autograph gegeben ist. Klarer Beleg dafür ist, dass die Bezeichnungen der musikalischen Nummern eingefügt wurden, die im Uraufführungslibretto natürlich fehlen. (Ich habe in der Abbildung die betreffenden Stellen mit B gekennzeichnet.) Es entspricht konsequenterweise den dargelegten Editionsrichtlinien („All integrations from RO1816 are placed in square brackets“), dass auf diese Weise der editorische Eingriff des wiedereingefügten Verses 60 angezeigt ist, der von Rossini nicht vertont wurde, der aber aus metrisch-formalen Gründen nach dem Ursprungslibretto wiederhergestellt wurde. Und trotzdem: Stammen denn aus dieser und nur aus dieser Quelle (RO1816) nicht noch viel substantiellere Elemente wie zum Beispiel ein großer Teil der Bühnenanweisungen und alle Anweisungen für den Übergang von einer Szene zur nächsten? Bleibt man bei den aufgestellten Kriterien, müsste man nicht auch diese „in square brackets“ setzen, da sie doch alle „integrations from RO1816 – Ergänzungen aus RO1816“ sind? Dass man dies nicht macht, ist aus rein praktischer Sicht sinnvoll. Man kann aber nicht leugnen, dass die Plausibilität unter dem Blickwinkel ekdotischer Logik leidet. Die undeklarierte Vermischung der Quellen erzeugt demnach schon von sich aus diverse Verunklarungen der philologischen Fakten. Aber wenn es so weit geht, dass erkennbare Unterschiede in den jeweiligen Schöpfungen von Dichter bzw. Komponist
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aufgrund fehlender Dokumentation signifikanter Textabweichungen verschleiert werden, dann spitzen sich die Probleme weiter zu. Dies zeigen zum Beispiel die Bühnenanweisungen, die den Auftritt Figaros regeln. Es gibt davon drei, die in Abb. 3 mit dem Buchstaben C gekennzeichnet und im Libretto WGR ganz undifferenziert wiedergegeben sind. In Wirklichkeit aber stammt die erste aus RO1816, während die beiden anderen, wie man sieht, im Uraufführungslibretto nicht vorhanden sind: WGR leitet sie nämlich direkt aus dem Autograph Rossinis ab, ein Autograph, das im übrigen eine eigene, noch knappere Anweisung hat („Fig[ar] o di dentro cantando“), die anstelle der ersten Anweisung am Ende des Rezitativs zwischen den Versen 83 und 84 steht. Ganz abgesehen von der Inkonsequenz des ekdotischen Verfahrens wird einem nicht entgehen, dass in dieser Passage, da Librettotext und Partiturtext in WGR in identischer Form wiedergegeben sind, ein nicht zu unterschätzendes dramatisch-musikalisches Faktum verschleiert ist, nämlich eine autonome Wahl Rossinis. Im Unterschied zu dem, was Sterbini beabsichtigte, wollte Rossini nämlich, dass Figaro auch das erste „La ran, la lera“ seiner Arie singt, bevor er die Bühne betritt. Ein ebenfalls signifikanter Unterschied zwischen dem Text RO1816 und dem Text in der Partitur (d. h. zwischen den beiden Spalten in Abb. 3, siehe den mit D markierten Abschnitt) findet sich im Rezitativ, das auf die Introduktion folgt, d. h. bei den Versen 65–74. Hier war es wahrscheinlich Rossinis Kopist Zamboni, der, wie es scheint, die Rezitative für Rossini geschrieben hat und der hier eine dramatische Vorgabe Sterbinis modifizierte: Der Textdichter hatte sich einen Monolog des Grafen vorgestellt, während dieser [Zamboni] einen Dialog mit Fiorello schuf, da er Letzterem eine Reihe von Worten in den Mund legte, die für den ersten Tenor bestimmt waren. Dieser Umstand beeinflusst auch die dramatische Anordnung des folgenden „a parte“ Almavivas: In der Niederschrift Sterbinis war es vollkommen im Einklang mit der verbindenden Didaskalie „passeggia riflettendo“; jetzt aber, nach erfolgter Umwandlung des Rezitativs in einen Dialog – im übrigen im Autograph ohne die Didaskalien von RO1816 – lässt WGR sie dort anfangen, wo der Kopist es wollte, also sofort nach dem „neuen“ Einsatz von Fiorello. All dies sind Elemente aus der Genese, die die Edition von 2008 Mühe gehabt hätte, in der richtigen Weise darzustellen,12 da entschieden wurde, die beiden Texte in einen zusammenzulegen und den Partiturtext in der Form eines Librettos zu veröffentlichen. Eine ähnliche Fehlbewertung – aus den gleichen Gründen – betrifft eine andere Entscheidung Rossinis, die zwar nicht sehr umfänglich, musikalisch aber dennoch bedeutsam ist. Bei den Versen 119–122 will Rossini Figaro einen anderen Vierzeiler anstimmen lassen als den von Sterbini, wie man bei Buchstabe E in Abb. 3 sehen kann; diese Tatsache wird dem Leser von WGR aber leicht entgehen, wenn er nicht aufmerk-
12
Siehe die lakonischen Anmerkungen, die den nüchternen Tatbestand mitteilen, sowohl in den Fußnoten zur Ausgabe des Textbuchs (Rossini: Il barbiere di Siviglia (Anm. 11), S. LVII: „These verses are assigned to Conte in RO1816“) als auch im Beiband des Critical commentary (S. 107: „RO1816: Fio: the entire text, including the words from ‚Ah quasi con quel chiasso importuno‘ through ‚sono partiti‘ (which hand α gives to Fio, as do the printed editions) is assigned to Conte“).
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sam den Kritischen Bericht studiert, wo der Text von RO1816 im Ganzen wiedergegeben ist. Und doch erinnern wir uns alle an die ironische Spitze, die der Komponist bei „alla donnetta, al cavaliere“ in die Musik gepflanzt hat, wenn er augenzwinkernd und karikierend das Tempo verzögert und sie im Fortgang mit einem gleichfalls intensiven Einsatz des Refrains mit geträllerten Einzelsilben würzt (kurz vor Wiederaufnahme der Melodie von „Ah che bel vivere“ als provisorischem Schluss). Es fällt auf, dass der Zweizeiler „La ran la lera / La ran là là“ im Libretto WGR weder an dieser Stelle noch sonstwo veröffentlicht ist. Mit Ausnahme des Beginns der Arie lässt die Edition von 2008 ihn jedesmal aus, wo Sterbini ihn in RO1816 vorgesehen hatte (siehe Buchstabe F in Abb. 3). Die wiederholte Inkongruenz der beiden Spalten erscheint in diesem Fall paradox, da in diesen Passagen das in WGR edierte Libretto durchaus nicht dasjenige „set to music by Rossini“ ist, bzw. dasjenige, das quellentreu aus der Partitur übernommen wurde. Ich habe in Abb. 3 jedesmal „benutzt im A“ [= Autograph] ergänzt, wo Rossini die Vorgaben Sterbinis respektiert und ausführt, d. h., wo er den Zweizeiler in Musik setzt, den WGR auslässt (das gilt auch für die abweichenden Verse 139–140, eine Paraphrase durch den Komponisten): Das „La ran“ kehrt praktisch beständig wieder, wie man sieht, und hat nach den Versen 90 und 100 sogar ein paar zusätzliche Wiederholungen. Die Entscheidung, die WGR in diesem Fall getroffen hat, ist in der Tat kaum zu erklären, auch deshalb, weil das offenkundige „sillabar cantarellando – silbenweise trällern“ in der Vorstellung des Textdichters in Wirklichkeit einen sowohl metrischen (die Strophen und Reime werden so konsequent geschlossen) wie dramatischen (zum Ausdruck um sich greifender Sorglosigkeit) und nicht zuletzt formalen Sinn hat. Letzteres sieht man gut am Ansatz von Vers 125, einem Punkt, an dem Rossini eine seiner uhrwerkartig sich steigernden Sequenzen startet, wonach das „La rà“ bis zum Ende der Arie nicht wieder auftaucht. Wir sehen hier also eine Reihe von Vorgaben des Textdichters, die Rossini sich mit bemerkenswerter Konsequenz zu eigen macht. So scheint das Libretto in WGR sich nicht auf die eine oder die andere Quellen zu stützen, sondern vielmehr auf die gänzlich abstrakte Idee eines ‚Worttextes set to music‘. Zum Abschluss meiner Überlegungen möchte ich noch auf einige Fragen eingehen, die sich auf der gleichen Argumentationslinie bewegen und nunmehr das OPERA-Projekt betreffen. Die Entscheidung, den literarischen Text nicht im Band zusammen mit der Partitur zu veröffentlichen, sondern auf einem Datenträger ist, wie ich glaube, völlig legitim. Sie ist auch insofern konsequent, als die Unterscheidung der verwendeten Medien, des materiellen und des immateriellen, mit den Funktionen zur Deckung kommt, die eine kritische Edition normalerweise erfüllen soll. Denn in der Praxis steht auf dem Papier die Edition der Musik, die für die Inszenierung im Theater bestimmt ist (in diesem Fall in Verbindung mit dem Bärenreiter-Verlag, der die Partitur vertreibt, ebenso die Stimmen, die Klavierauszüge usw.), während der ganze Rest, gleichsam die Edition für Musikologen und Theaterwissenschaftler, auf einem USB-Datenträger gespeichert ist, von wo man sie leicht (selbstverständlich zusammen mit der Partitur) aufrufen kann.
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Auf alle Fälle gehört zum digitalen Material auch der Text des Librettos, genauer gesagt: die Texte (Plural). Ich hatte seinerzeit vor Erscheinen von Prima la musica e poi le parole (2013) die Möglichkeit, vorab Einsicht in das Material zu bekommen, und jetzt, da der Band erschienen ist, kann ich nur meiner Bewunderung Ausdruck verleihen, wie praktisch die digitale Edition ist. Sie erlaubt nicht nur, die Texte nach dem Uraufführungslibretto bzw. nach der Partitur nebeneinander in zwei Spalten zu konsultieren, sondern ermöglicht es sogar, das Originallibretto im Faksimile anzuzeigen. Zusammen mit all den anderen fast grenzenlosen Möglichkeiten der verschränkten Betrachtung nicht nur der Quellen, sondern auch der edierten, digitalisierten Partitur und des kritischen Apparates, ist dies für den Wissenschaftler von unschätzbarem Nutzen; kurzum, es ist ein hervorragendes Instrument und nicht zuletzt ein mächtiges Werkzeug für alle, die forschen und damit arbeiten. Selbstredend muss ich nach meiner bisherigen Argumentation nichts über die Kriterien der Edition des Librettos nach der literarischen Quelle, d. i. die in der digitalen Ansicht linke Spalte, sagen. Es genügt, zunächst die allgemeinen Prinzipien aufzurufen, die ich oben erwähnt habe. Andererseits muss man immer auch Entscheidungen treffen, die eindeutig und vor allem konsequent sind, was den Umfang und die Kriterien betrifft. Alles dies sind Dinge, die in der sogenannten „Libretto version“ des Textes zu Prima la musica e poi le parole im Wesentlichen umgesetzt sind. Während der Tagung 2012 war leicht abzusehen, dass sich die Textedition, die sich vornehmlich aus der Partitur generiert, als der sehr viel schwierigere Punkt entpuppen würde. In der Edition der Oper von Salieri und Casti, die letztendlich publiziert wurde, hat man größtmöglichen Wert darauf gelegt, den veröffentlichten Worttext in der zweiten Spalte, der sogenannten „Score version“, an strenge Kriterien zu binden, dem enormen wissenschaftlichen Einsatz von OPERA angemessen: So hat man danach gestrebt, Vers- und Strophenformen zu gewinnen; es wurden Möglichkeiten der Notation von simultanem Vortrag ersonnen, und man tüftelte an der Darstellung von Versen, die zwischen den verschiedenen Sprechern aufgeteilt sind. Es steht außer Frage, dass die zweite Spalte der „Score version“, wie sie letztlich publiziert wurde, im direkten Vergleich mit der ersten einen beachtlichen ‚heuristischen Mehrwert‘ für die Wissenschaft darstellt. Es ist gerade dieser Aspekt, auf den ich hier so besonderen Wert gelegt habe: Ins Auge springen können bei einem Vergleich der beiden parallelen Texte sofort die Diskrepanzen, Uneinheitlichkeiten und Abweichungen zwischen dem Worttext des Librettos und dem der Partitur; jene Divergenzen, die eine Reihe legitimer Fragen aufwerfen und die Auskunft über die verschiedenen Ebenen der künstlerischen Genese der Oper geben. Jetzt, da die Arbeit abgeschlossen ist, finden sich immer noch Probleme und Ungereimtheiten, die nicht unerheblich sind. Das augenscheinlichste Element der „Score version“, das Unbehagen hervorruft, sind die vielen Redundanzen, die durch die Wiederholung von Silben und Wörtern entstehen, da alle noch so kleinen Wortsplitter, die Salieri verwendet, um sie dem Notentext zu unterlegen, minutiös transkribiert sind. Dadurch ergeben sich, bei aller editorischer Sorgfalt, zwangsläufig Textabschnitte, die fragmentiert sind und sich keiner metrischen Gestalt zuordnen lassen. Das Ergebnis ist gelegentlich paradox, wie z. B.
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bei der Übertragung von Segmenten ohne Bedeutung, die in der Partitur nur als Ausruf benutzt werden (das „tr“ in Vers 210; Nr. 3a, T. 13) oder die karikierend gemeint sind, wie die stockenden bzw. gestammelten Silben in der Arie der Tonina, die einen Stotterer imitiert (Verse 702–706, Nr. 11) – ein Gag, so alt wie die Commedia dell’arte. Da man verständlicherweise beide Texte parallel anzeigen möchte, hat das Übermaß an Wortwiederholungen der „Score version“ in der rechten Spalte störende Auswirkungen auf die linke Spalte, der „Libretto version“, die eigentlich einem höheren philologischen und literarischen Maßstab folgen sollte. In den weniger gravierenden Fällen zeigt sich einfach eine Unbekümmertheit im Hinblick auf die einfachen oder mehrfachen Leerzeilen, die dabei entstehen (die manchmal jedoch enorme Ausmaße annehmen wie z. B. bei Vers 34ff. der „Score version“, wo sich eine Lücke von 45 Pseudoversen bildet).13 Aber es kann auch sehr viel bedenklichere Folgen zeitigen wie die Verschleie rung der ursprünglichen strophischen Strukturen (immer als Folge leerer Zwischenzeilen verschiedener Herkunft wie in Nr. 10, Verse 684–689), die Verschiebung von Bühnenanweisungen (statt wie urspünglich in Vers 658 auf die vorangehenden Verse 655–656) oder die problematische Zusammenstellung von Versen, die für mehrstimmig simultanen Vortrag gedacht sind (in Nr. 7, Duett Maestro-Poeta, Verse 422–425). Abgesehen von einigen Problemen, die die Edition der Bühnenanweisungen betreffen (das bekannte Phänomen der proportional größeren Anzahl in der „Libretto version“ und einer geringeren Zahl in der „Score version“, die es wegen der vielen leeren Zwischenzeilen in letzterer ‚zusammenzusuchen‘ gilt, den vielen redundant erscheinenden Anmerkungen, sowie einer logischen Diskrepanz, die aus der Dislokation einer Bühnenanweisung zu Beginn der „Scena ultima“, Verse 723–724, resultiert), ist festzustellen, dass im weniger formellen und ‚aufgeladenen‘ Zusatztext in der rechten Spalte am Ende jene Diskrepanzen zwischen Librettotext und Partiturtext – deren Erkenntniswert hier mehrfach hervorgehoben wurde – weniger ins Auge springen als gewöhnlich. So erhalten eben gerade bestimmte Entscheidungen Salieris gegenüber der Wortwahl Castis weniger Aufmerksamkeit, als ihnen normalerweise zukommen würde, so z. B. das anspielungsreiche „Marchesino“ (auf den berühmten Kastraten abzielend, der die Rolle in Sartis zitierter Vorlage aus Giulio Sabino sang) statt des generischen „Canarino“ (Verse 153–154), die geläufigeren Bildungen „Ponetevi“ (Vers 186) und „Compatite“ (Vers 232) statt der schärfen Formen „Piantatevi“ und „Compiangete“, sowie ein „Passiamola“ (Vers 342), das er dem Maestro anstelle des Poeta in den Mund legt. Es sei erlaubt, einen Vorschlag zu machen. Wenn man denn eine zweite Spalte machen will oder muss, wäre es vielleicht besser, wenn dort nur die Unterschiede zwischen Librettotext und Partiturtext angeführt würden anstelle eines Gesamttextes, der zwangsläufig jeglichen Charakter von Literatur verliert bzw. diesen nur künstlich wie-
13
In der gleichen graphischen Gestalt ist, auch wenn es sich um eine ganz andere Art von Fall handelt (auch dies im Übrigen aus ekdotischer Sicht bedenklich), die Nr. 9, das Accompagnato-Rezitativ „della Quacquera“ wiedergegeben (42 ‚rekonstruierte‘ Verszeilen zwischen den Versen 630 und 641): Das Stück ist nur in der autographen Musikquelle überliefert, steht also in der „Score version“, während es in der von Casti autorisierten gedruckten Quelle des Librettos fehlt.
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derherstellen kann. Letzteres geschieht ja deshalb, weil dieser Text aus einer musikalischen Quelle abgeleitet ist, die sich des literarischen Textes zwar bedient, ihn aber aus Prinzip zergliedern, verändern und nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ‚verwirklichen‘ muss – mit dem Ergebnis, dass dessen Formen zwangsläufig aufgelöst werden. Wäre es in der Opernphilologie nicht an der Zeit, für Operntexte ein für allemal das Editionsprinzip der zwei unterschiedlichen und doch aufeinander bezogenen Texte zu übernehmen, wobei wichtig ist, dass jeder auf der für ihn gültigen Hauptquelle beruht? Wir sind immer mehr davon überzeugt und hoffen, auch unsere Leser überzeugt zu haben.
(Übersetzung: Norbert Dubowy)
Albert Gier
Alles fließt. Probleme der Edition von Operettenlibretti
In der (bisher) nicht allzu umfangreichen Literatur zu Theorie und Methodik der Librettoedition findet die Operette wenig Beachtung.1 Dabei bedarf vor allem das Problem, das hier wie im Singspiel, im Opéra comique, in der Spieloper etc. die gesprochenen Prosadialoge darstellen, grundsätzlicher Erörterung: Zumindest im deutschen Sprachraum unterscheidet sich der Text, der in einer Operettenaufführung gesprochen wird, meist grundlegend von dem Wortlaut, den die Librettisten vorgeschrieben haben. In der historischen Entwicklung sind dabei zwei Phasen zu unterscheiden: Während seit vierzig oder fünfzig Jahren viele Regisseure und Dramaturgen im Bemühen, die in die Jahre gekommenen Bücher zu entstauben, jeweils eine eigene Fassung, nicht selten mit völlig neuer oder grundlegend veränderter Handlung, erstellen, bildeten sich zur Zeit von Johann Strauß, Millöcker und Lehár mehr oder weniger rasch gegenüber dem Originallibretto verknappte und sprachlich-stilistisch vergröberte Vulgata-Fassungen heraus, die dann von Theaterleuten wie dem Publikum als verbindlich betrachtet wurden – ein schlagendes Beispiel liefert die Fledermaus: Die Prosatexte, die Dialoge, die Wortwitze des originalen Buches sind längst von einem Dickicht aus Bearbeitung, Aktualisierung, festgewordenem Extempore und jeweiligen Lokalzugaben überwuchert. Kaum ein Satz der ursprünglichen Zwischentexte hat sich in seiner originalen Fassung erhalten. Es wurde vor allem radikal gekürzt: bei den literarischen Anspielungen, aber auch im Aufbau der Dialoge, in der Entwicklung und im Ablauf der Konversation […].2
Die Originallibretti geben nur bedingt Anlass, eine auf das deutsche Singspiel der Romantik bezogene These auf die Operette auszuweiten: Die Dialoge […] der literarische Teil der Dramen, verliert an Bedeutung. Daher wird er nicht druckreif ausgearbeitet, nicht literaturfähig, und folglich wird er nicht gedruckt. Und weil er nicht gedruckt wird, wird er nicht ernst genommen und verliert an Bedeutung […].3
1
Vgl. immerhin Robert Didion: Das musikalische Unterhaltungstheater als Sonderfall. In: Opernedition. Bericht über das Symposion zum 60. Geburtstag von Sieghart Döhring. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend. Mainz 2005, S. 149–160 (mit einer Übersicht über neuere kritische Editionen). 2 Oswald Panagl, Fritz Schweiger: Die Fledermaus. Die wahre Geschichte einer Operette. Wien, Köln, Weimar 1999, S. 155. 3 Helga Lühning: Gehören Operndialoge in eine „Werk“-Ausgabe? In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Wal
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Auch wenn nur die wenigsten Operettenlibrettisten begnadete Dichter waren – bei der Konstruktion der Intrige (bzw. bei der Adaptation der jeweiligen Vorlage) bewiesen sie im allgemeinen Sorgfalt und Geschick. Erst Theaterdirektoren und Regisseure meinten – zu Recht oder zu Unrecht –, das Publikum wolle kein Theaterstück sehen, sondern eine Schlagerparade hören, und strichen den gesprochenen Text ähnlich radikal zusammen, wie in England zur Zeit Händels die Rezitative in italienischen Libretti verkürzt wurden. Im Folgenden möchte ich zunächst einen systematischen Überblick über unterschiedliche Quellentypen geben, die für Operettenlibretti – speziell für die gesprochenen Dialoge – zur Verfügung stehen; dabei gehe ich von der Situation in Frankreich aus, die sich von den Verhältnissen im deutschsprachigen Raum grundlegend unterscheidet. Im Anschluss daran soll geprüft werden, ob sich die Prinzipien der sogenannten nouvelle philologie, die seit den 1980er Jahren in der französischen, anglo-amerikanischen und auch deutschen Mediävistik als Alternative zur Methodik der traditionellen Editionsphilologie diskutiert wurde, mit Gewinn auf das Operettenlibretto anwenden lassen.
Der Text in der französischen Operette Der europaweite, ja weltweite Erfolg des französischen Theaters im 19. Jahrhundert4 ist zu einem nicht unwesentlichen Teil damit zu erklären, dass Stücke, die in Paris, auch und gerade auf den Boulevardbühnen, herauskamen, oft zeitnah zur Uraufführung im Druck erschienen und somit für interessierte Übersetzer und Theaterdirektoren leicht erreichbar waren. Das gilt auch für die Textbücher von Jacques Offenbachs Bouffonnerien:5 Selbst nur mäßig erfolgreiche Werke, wie der Opéra comique Robinson Crusoé, der nach der Pariser Uraufführung (1867) nirgends nachgespielt wurde, liegen gedruckt vor.6 Auch die Libretti der Opérettes und Opéras-bouffes von Komponisten der folgenden Generationen, der Charles Lecocq, Edmond Audran, Claude Terrasse oder André
ther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8), S. 169–183, hier S. 175. 4 Vgl. dazu Le Théâtre français à l’étranger au XIXe siècle. Histoire d’une suprématie culturelle. Hrsg. von Jean-Claude Yon. Paris 2008. 5 Zum Beispiel erschien das Textbuch von Orphée aux enfers noch im Uraufführungsjahr 1858 (Librairie Théâtrale) und erneut 1860 (Librairie Nouvelle/Bourdilliat) im Druck (vgl. Josef Heinzelmann: Offenbach: Orphée aux enfers. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 4. München, Zürich 1991, S. 500–506, hier S. 506. Der Umfang des Drucks von 1860 ist dort mit 108 Seiten angegeben, in der mir vorliegenden Photokopie sind es aber nur 60 Seiten). In der zweiten Ausgabe sind die zweite Strophe von Aristées/Plutons Auftrittslied (Ier tableau 3), der von Eurydice gesungene Hymnus an Bacchus (IVe tableau 1) sowie das Menuett der Götter und der Galop infernal (ebd.) enthalten, die 1858 noch fehlen. – 1874 wird der zweiaktige Opérabouffon zum aufwendigen Opéra-féerie (in vier Akten und zwölf Bildern) umgearbeitet (der Text von 1874 ist leicht zugänglich in: L’Avant-Scène Opéra 185, juillet–août 1998, S. 11–63). 6 Robinson Crusoé. Opéra comique en trois actes (cinq tableaux) par Eugène Cormon et Hector Crémieux. Musique de Jacques Offenbach. Mise en scène de M. Mocker. Paris: Michel Lévy Frères à la Librairie Nouvelle, 1868, 84 Seiten; für eine Kopie sei Peter Hawig (Rheine) herzlich gedankt. – Vgl. auch Peter
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Messager, wurden meist unmittelbar nach der Uraufführung publiziert. Die meisten dieser Bücher sind verhältnismäßig umfangreich (oft mehr als 100 Druckseiten)7, Grund dafür ist der hohe Dialoganteil; manche Stücke wirken beinahe wie Komödien mit Musikeinlagen. Ob bei der Premiere der gedruckte Text vollständig gesprochen, oder ob bereits Striche vorgenommen wurden, wird sich mit letzter Sicherheit kaum jemals feststellen lassen. Wird ein älteres Stück wiederaufgenommen, druckt man das Textbuch nach,8 oft photomechanisch.9 Wenn man den interessierten Zuschauern die Textfassung der Uraufführung (vielleicht sogar vollständiger als bei der Uraufführung dargeboten) an die Hand gibt, wird man nun aber kaum eine grundlegend veränderte oder modernisierte Fassung spielen. 1992/93 brachten die Theater in Montpellier, Nîmes und Caen als Koproduktion Phi-Phi von Henri Christiné (1918) heraus. Die Librettisten Albert Willemetz und Fabien Sollar haben die Dialoge z. T. in gereimten Versen verfasst, was schon zu ihrer Zeit ungewöhnlich war und heutige deutsche Dramaturgen gewiss veranlasst hätte, einen neuen Text in Prosa zu schreiben oder schreiben zu lassen. Im französischen Programmheft10 ist dagegen das Originallibretto abgedruckt, sogar die (kurzen) Passagen, die der Regisseur Adriano Siniva gestrichen hat (großenteils Wortwitze oder Anspielungen, die ein heutiges Publikum nicht mehr versteht), sind enthalten; bis auf diese Kürzungen blieb der Wortlaut offenbar unverändert.11
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Hawig: Die Oper vom sozialen Dasein. Robinson Crusoé von Jacques Offenbach. 2 Teile. Bad Emser Hefte 245/246 (Jacques-Offenbach-Reihe. 131/132), Bad Ems 2004. La petite Bohème, opérette en trois actes des seinerzeit erfolgreichen Henri Hirchmann (oder Hirschmann; Text Paul Ferrier), uraufgeführt 1905, Théâtre des Variétés (Paris: Calmann-Lévy, 1905) bringt es auf 140 Seiten, genau wie Gillette de Narbonne, opéra-comique en trois actes von Edmond Audran (Text Henri Chivot und Alfred Duru), 1882, Bouffes-Parisiens (Neuausgabe, Paris: Stock, 1957). Vgl. Théâtre Municipal de la Gaieté-Lyrique: Ali Baba. Conte des mille et une nuits en trois actes et huit tableaux à grand spectacle. Paroles de Albert Vanloo & William Busnach. Musique de Charles Lecocq, Paris: Choudens, 1927, 112 Seiten. Ali Baba wurde 1887 in Brüssel uraufgeführt und im November 1889 erstmals in Paris (Théâtre de l’Eden) gegeben (vgl. Kurt Gänzl: The Encyclopedia of the Musical Theatre. Bd I. Oxford 1994, S. 19f.); das Vorsatzblatt des Textbuchs vermerkt „Repris au théâtre municipal de la Gaîté, à Paris, en février 1927“. Vgl. die Textbuchreihe der Librairie Théâtrale (Paris), in der u. a. La Fille de Madame Angot von Charles Lecoq, Véronique von André Messager und Les Mousquetaires au couvent von Louis Varney vorliegen (jeweils o. J.). Henri Christiné: Phi-Phi. Opérette en trois actes. Livret d’Albert Willemetz et Fabien Sollar. Caen, Arles 1993, Libretto S. 13–83. Es handelt sich um das Programmheft des Théâtre de Caen; dass die Inszenierung vorher in Montpellier und Nîmes zu sehen war, ist der Biographie des Regisseurs, ebd., S. 91, zu entnehmen. Auch anlässlich der Aufführungen von Christinés Dédé in Marseille 1997 (Programmheft Opéra de Marseille: H. Christiné: Dédé. Opérette en trois actes. Livret d’Albert Willemetz, Ouvrage publié sous la direction d’André Segond. Arles 1997) sowie von Yvains Ta bouche, Tournee 2004/05 (L’AvantScène Théâtre 1173, 1er décembre 2004: Ta bouche d’Yves Mirande, Albert Willemetz et Maurice Yvain, Libretto S. 4–105) und Simons Toi c’est moi in La Rochelle und Paris, Athénée-Théâtre Louis Jouvet (L’avant-scène théâtre 1191–1192: Toi c’est moi, Livret de Henri Duvernois; Musique de Moïse Simons, Lyrics [sic] d’Albert Willemetz, Bertal-Maubon, Chamfleury, Libretto S. 20–114), die beiden letzten durch die Compagnie Les Brigands, wurde das Libretto vollständig abgedruckt (was bei deutschen Operettenproduktionen eher ungewöhnlich wäre), allerdings machen die genannten Publikationen keine Angaben zur Textgrundlage.
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Während ältere Operetten-Klavierauszüge mehraktiger Werke die gesprochenen Dialoge im Allgemeinen nicht enthalten (angegeben sind nur die Stichwörter), wird bei Einaktern meist der vollständige Text geboten.12 Die in Berlin bei Bote & Bock erschienenen Klavierauszüge von Einaktern Offenbachs geben die Dialoge vollständig wieder, obwohl es daneben gedruckte Textbücher gibt;13 manchmal werden Musiknummern und gesprochener Text im Original mit deutscher Übersetzung geboten,14 oder der gesungene Text wird zweisprachig, der Dialog nur deutsch wiedergegeben,15 oder gesungener und gesprochener Text erscheinen nur deutsch,16 ohne dass erkennbar wäre, nach welchen Prinzipien die Entscheidung für den einen oder den anderen Modus getroffen wurde. Verlage wie Choudens veröffentlichen die vollständigen Gesangsstimmen beliebter abendfüllender Operetten und Opéras comiques17 ohne Begleitung zum Amateurgebrauch (im Sedezformat);18 hier werden die Dialoge, meist in wenigen Zeilen, zusam-
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Vgl. z. B. La Fiancée du Scaphandrier. Opéra-bouffe en un acte. Paroles de Franc-Nohain. Musique de Claude Terrasse [Klavierauszug]. Paris 1902. Vgl. die bibliographischen Angaben in den Offenbach-Artikeln von Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (Anm. 5). Z. B. Die Verlobung bei der Laterne (Le Mariage aux lanternes) [Übersetzer nicht genannt], Platten-Nr. 4320–4327, Bote & Bock; Die verwandelte Katze (La Chatte metamorphosée en femme), deutsch von A. von Winterfeld, revidiert von Carl Friedrich Wittmann, Platten-Nr. 4795, Bote & Bock. Z. B. Ein Ehemann vor der Tür (Un mari à la porte), deutsch von A. Bahn und J. C. Grünbaum, PlattenNr. 4801–4807, Bote & Bock; Fortunios Lied (La Chanson de Fortunio), deutsche Bearbeitung von Ferd. Gumbert, Platten-Nr. 5000, Bote & Bock. Z. B. Der Regimentszauberer (Le Fifre enchanté), [Übersetzer nicht genannt], Platten-Nr. 15448, Bote & Bock. Während Jacques Offenbach zwischen „Opérette“ bzw. „Opérette-bouffe“ (nur für Einakter), „Opérabouffon“ bzw. „Opéra-bouffe“ (für die mehraktigen ‚Offenbachiaden‘, oft auf Texte von Meilhac und Halévy) und „Opéra-comique“ (für in der Salle Favart aufgeführte Mehrakter wie Robinson Crusoé oder Vert-Vert und späte, weniger komische als sentimentale Stücke wie Madame Favart) recht konsequent unterscheidet, scheinen spätere Komponisten diese Bezeichnungen verhältnismäßig willkürlich zu verwenden: Charles Lecocq nennt Giroflé-Girofla und Le Jour et la nuit „Opéras-bouffes“, La Fille de Madame Angot und Le Petit duc „Opéras-comiques“; Edmond Audran nennt La Mascotte und La Poupée „Opéras-comiques“, Le Grand Mogol „Opéra-bouffe“ und Miss Helyett „Opérette“ (vgl. jeweils die Werkartikel in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bde. 4, 3, 1). Z. B. Théâtre des Bouffes-Parisiens. La Mascotte. Opéra-Comique en 3 actes de Chivot et Duru. Musique de Edmond Audran. Partition chant et paroles, Paris: Choudens o. J., 114 S.; Théâtre des Bouffes-Parisiens. Les Mousquetaires au Couvent. Opéra-comique en trois actes de Paul Ferrier et Jules Prevel. Musique de Louis Varnay. Partition Chant et Paroles, Paris: Choudens o. J., 115 S.; oder auch Théâtre des Folies dramatiques. Les Cloches de Corneville. Opéra Comique en 3 Actes et 4 Tableaux. Partition Chant seul arrangée par C. Genet. Paroles de MM. Clairville et Ch. Gabet. Musique de Robert Planquette, Paris: Joubert o. J., 135 S. Die „édition populaire“ von Les Dragons de Villars (Opéra comique en trois actes. Paroles de MM. Lockroy & Cormon. Musique de Aimé Maillart. Partition conforme au théâtre contenant paroles et musique sans accompagnement avec analyse de la pièce, Paris: Joubert o. J., 144 S.) ist laut Hinweis auf dem Titelblatt „Recommandée spécialement Aux Artistes dramatiques, pour remplacer la copie des rôles. Aux Sociétés chorales. Aux Spectateurs, pour suivre la musique au Théâtre“. – Darüber hinaus fanden solche Drucke zweifellos bei Salonaufführungen wie der Darbietung der ‚Schwerterweihe‘ aus Les Huguenots Verwendung, die Émile Zola im fünften Kapitel seines Romans Pot-bouille (1882) beschreibt.
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mengefasst, um den Ausführenden die Situation und damit die Stimmung, in der sich die Figuren in der folgenden Gesangsnummer befinden, ins Gedächtnis zu rufen. Das dramatische Werk von Offenbachs erfolgreichstem Librettisten-Tandem Meilhac und Halévy liegt auch in einer zeitgenössischen Gesamtausgabe vor.19 Ein Vergleich der dort abgedruckten Fassung mit dem auf der quellenkritischen Edition von Robert Didion20 basierenden Klavierauszug21 zeigt, dass die Autoren ihren ursprünglichen Text, ohne die während des Kompositionsprozesses und der Proben vorgenommenen Änderungen, zum Druck gegeben haben.22 Die Dialoge stimmen in beiden Quellen über weite Strecken überein (bis auf Abweichungen der Zeichensetzung und kleinere Unterschiede in den Szenenanweisungen); aber beim Gänsespiel der Könige (Nos. 12/13, Kl.A. S. 142–196; MH II,5, S. 223–234) ist im Buch nicht nur das musikalische Ensemble wesentlich kürzer,23 es fehlen auch die Kalauer mit den Augenzahlen beim Würfeln24 und Achilles Bemerkung „Huit … la belle Hélène“ (KlA S. 159), die zeigt, dass er von den Witzen der anderen nichts verstanden hat. Dass sich die Könige, die sich bei den Sprachspielen des ‚Intelligenzwettstreits‘ im ersten Akt (MH I,11, S. 198–210) gründlich blamiert haben, plötzlich als so geistreich erweisen (zumindest die meisten von ihnen), wird man je nach Temperament unwahrscheinlich oder witzig finden. Bei französischen Operettenlibretti, die in einer vom Erstdruck abweichenden und von den Librettisten autorisierten Form (z. B. in einer Werkausgabe) vorliegen, wird jeweils zu prüfen sein, ob eine quellenkritische Edition notwendig und sinnvoll ist. Das Problem stellt sich allerdings nur bei sehr wenigen Autoren (neben Meilhac und Halévy 19 20
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Théâtre de Meilhac et Halévy. 8 Bde. Paris: Calmann Lévy o. J. [abgekürzt: MH]. Darin: La Belle Hélène. Bd. 1, S. 167–277. Vgl. dazu http://www.takte-online.de/musiktheater/detailansicht-musiktheater/artikel/la-belle-helenein-voller-schoenheit/index.htm?tx_ttnews[backPid]=520&cHash= 01779ba4cec187aa88d00fdf25 2a0435 (Abfrage 3.11.2012). Jacques Offenbach: La Belle Hélène. Die schöne Helena. Opéra-bouffe en trois actes/Opéra bouffe in drei Akten. Livret de/Libretto von Henri Meilhac & Ludovic Halévy. Trad. allemande par/Dt. Übers. von Simon Werle. Partition chant et piano de/Klavierauszug von Karl-Heinz Müller. Kassel 2008 (AE 511a) [abgekürzt: KlA]. In der Introduction fehlen bei MH (S. 169) z. B. die Verse der beiden Mädchen (KlA No. 1, T. 80–120, S. 10–12): „Accepte nos offrandes, / Père des immortels. / Accepte nos offrandes, / pour parer tes autels. / Accepte ces corbeilles / de joncs et de roseaux / et ces grappes vermeilles / et ces deux tourtereaux.“ In Hélènes Couplets (MH, S. 173f.; KlA No. 2, S. 22–25) stammt der zweite Alexandriner des Refrains „Il nous faut de l’amour, nous voulons de l’amour“ offensichtlich nicht von MH; der Chor nimmt den Refrain auf (T. 35–43), während im Libretto (MH, S. 174) die Wiederholung des Chors der Mädchen No. 1bis vorgesehen ist. Orests Auftrittschanson (No. 3) hat im Libretto (MH, S. 170f.) nicht drei, sondern nur zwei Strophen (die zweite Refrainzeile erscheint im Libretto in griechischen Buchstaben: „Οῖα κεφαλὴ, ὢ λὰ λά!“, eine Fußnote übersetzt: „Quelle tête, oh! la la!“, der Klavierauszug bietet natürlich die Transliteration). Dazu s. oben, Anm. 20. Hélène macht den Anfang: „Trois… le berceau de Pâris“ (S. 158), etwas später kommentiert Ajax I: „Onze… Se [= On se] reúnira sous la tente du bouillant Achille“, auf Achilles verwirrte Nachfrage antwortet Ajax II „Dix… pensez-vous [= Dispensez-vous] de lui donner des explications“, Oreste („Six [= Si]… c’était moi, je ne lui en donnerais pas“) und Bacchis („Sept [= C’est]… inutile“ (S. 159), im Buch (MH, S. 230, 231f.) nennen die Spieler nur kommentarlos ihre Punktzahlen.
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kommt am ehesten noch Sacha Guitry in Frage); für die überwiegende Mehrzahl der Operettenbücher dürfte der Erstdruck eine verlässliche Textgrundlage bieten.
Der Text in der deutschsprachigen Operette Dagegen wird im deutschen Sprachraum in der Regel nur der ,Text der Gesänge‘ ohne die Dialoge gedruckt; der Benutzer kann also den Wortlaut der Nummern nachlesen, die ihm besonders gefallen haben, er kann auch, z. B. bei einer Rundfunkübertragung, den nicht immer verständlich gesungenen Text mitverfolgen, nicht aber die im Dialog meist wohlüberlegt entfaltete Handlung nachvollziehen. Während in Frankreich Operetten als Theaterstücke begriffen werden, bei denen nicht nur Charles Bovary gern wissen will, was passiert,25 trauen deutsche Verleger und Programmheftmacher ihrem Publikum ein solches Interesse nicht zu.
Moderne Textbuchdrucke mit Dialogen: Beispiel Gasparone Nur von wenigen Klassikern des Genres, im Wesentlichen Operetten von Suppé, Johann Strauß oder Millöcker, wurden Librettodrucke mit den Dialogen veröffentlicht – vor allem in Reclams Universal-Bibliothek, einige wenige auch in der verdienstvollen Textbuchreihe der Edition Peters (Leipzig). Die Reclam-Ausgaben wurden, gelegentlich mehrfach, „textlich revidiert“, so dass häufig nicht mehr erkennbar ist, welche Textfassung man vor sich hat.26 Von Millöckers Gasparone wurde „das bisher nur für die Bühnen vervielfältigte Libretto [also das Regiebuch] von Zell und Genée erstmals mit dem vollständigen Dialog zugänglich“ gemacht;27 „Änderungen des originalen Wortlauts, die sich der Herausgeber gestattete, betreffen im Wesentlichen nur Verkürzungen oder Verdeutlichungen der szenischen Angaben sowie Anpassungen einzelner Wendungen an den modernen Sprachgebrauch“. Die Edition Peters bietet demgegenüber „die Originalfassung des Textes […] ohne jeden Zusatz von fremder Hand, mit den vollständigen gesprochenen Dialogen und allen Regie- und Bühnenbildanweisun-
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Vgl. seine Rechtfertigung, wenn er beim Theaterbesuch (gegeben wird Donizettis Lucia di Lammermoor, natürlich auf Französisch) in Rouen seiner Frau mit Fragen auf die Nerven geht: „C’est que j’aime à me rendre compte, tu sais bien“; Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de province. Paris 1998 (Folio plus. 40), S. 314. 26 Offenbachs Orpheus in der Unterwelt (Text Hector Crémieux) wurde bis 1994 in der Übersetzung von Ludwig Kalisch (1859), „textlich revidiert“ vom Wilhelm Zentner (1953) nachgedruckt (Reclams Universal-Bibliothek, 6639), die Anspielungen auf die Realität des deutschen Kaiserreichs und der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts enthält; vgl. dazu Albert Gier: Traduire l’opéra-bouffe: l’exemple de Jacques Offenbach (deux traductions allemandes d’Orphée aux enfers). In: La traduction des livrets. Aspects théoriques, historiques et pragmatiques. Hrsg. von Gottfried R. Marschall. Paris 2004, S. 347–357, hier S. 350f. 27 Karl Millöcker: Gasparone. Operette in drei Aufzügen. Dichtung von F. Zell und Richard Genee. Hrsg. und eingel. von Anton Würz (RUB, 7815), Stuttgart 1970 [abgekürzt RUB], „Einleitung“ S. 7; dort auch das folgende Zitat.
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gen“;28 über die Druckvorlage wird nichts gesagt, vermutlich folgt die Ausgabe einem frühen Regiebuch, ohne das Partiturautograph29 oder etwa das Zensurlibretto zu berücksichtigen. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass Anton Würz, der Herausgeber der Reclam-Ausgabe, den Nebentext weitgehend umgeschrieben hat,30 wobei viel Information weggefallen ist: Aus Benozzo (auf dem Balkon; er trägt nichts als ein Leinenbeinkleid, grobe Schuhe über den bloßen Füßen, ein offenes gestreiftes Hemd, einen schlichten Wollgürtel und eine Zipfelmütze, weiß und rot gestreift; er hat krauses Haar, Ohrringe, ein Amulett um den bloßen Hals, einen spärlichen Vollbart, stark bronzierten Teint; gähnend) [EP, S. 9]
wird ein bloßes Benozzo (erscheint auf dem Balkon) [RUB, S. 10].
Aufbewahrungsort von Carlottas Millionenerbschaft ist bei Zell und Genée eine solide, ins Mauerwerk gefügte eiserne Cassa, im Holzgetäfel des Sockels [an den Wänden des Salons] versteckt. Der Druck auf einen Knopf demaskiert das Schlüsselloch. Ist sie geöffnet, sieht man hinter der schweren Eisentür mehrere Regale, auf denen einige alte Familienbücher, Pergamentrollen und einige alte Goldgeschirre stehen [EP, S. 60].
Bei Würz ist nur von „ein[em] kleine[n], mit eiserner Tür verschlossene[n] Wandschrank“ die Rede (RUB, S. 46), was den Raub natürlich weit weniger spektakulär macht. Was die Figurenrede angeht, beschränkt Würz sich im Wesentlichen darauf, aus Zells und Genées „Gendarmen“ (EP I,2, S. 15 und passim) „Polizisten“ (RUB, S. 14
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Karl Millöcker: Gasparone. Operette in drei Akten. Text von Friedrich Zell und Richard Genée. Originalfassung (EP, 10045). Leipzig 1986 [abgekürzt EP]; darin: Wolfgang Langer: „Zum Werk“. S. 126– 136, hier S. 135f. 29 Heute im Städtischen Rollett-Museum in Baden, vgl. Volker Klotz: Millöcker: Gasparone. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 4. München, Zürich 1991, S. 195–199, hier S. 199. 30 Vgl. die Schauplatzbeschreibung des ersten Akts in der „Originalfassung“: „Freier Platz eines am Meeresufer gelegenen Ortes nächst Syrakus. Links auf dem Prospekt eine Bucht des zerklüfteten, hier und da von Flecken unterbrochenen Meeresufers. In blauer Ferne der leicht rauchende Ätna. Das Meeresufer rückwärts praktikabel. Vorn rechts Benozzos Kneipe mit Balkon, welcher, unten eine Laube bildend, das Erdgeschoß überragt. Vor der Kneipe einige einfache Tische und Stühle. Ganz vorn links der praktikable Eingang zum Keller. Wenn der Vorhang aufgeht, ist es vorn möglichst dunkel. Der Ätna glänzt im lichten Morgenrot. Das Ufer ist von demselben leicht gefärbt“ (EP, S. 7), dagegen Würz: „Freier Platz am Meeresufer in der Nähe von Syrakus. Zur Linken eine Bucht, die das weithin sichtbare, felsig zerklüftete Ufer unterbricht. In blauer Ferne der rauchende Ätna. Rechts Benozzos Kneipe mit einer Laube, deren Dach von einem Balkon des Hauses gebildet wird. Ganz vorne der Eingang zum Keller. Vor der Kneipe einige Tische und Stühle. Beim Aufgehen des Vorhangs herrscht Dunkelheit. Nur der Ätna erglänzt in lichtem Morgenrot“ (RUB, S. 9).
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und passim), aus einem „Champagnerkorken“ (EP Nr. 2, S. 17) einen „Champagnerpfropfen“ (RUB, S. 16), aus dem „schmucken Ding“ Sora (EP I,3, S. 18) ein „hübsches Ding“ (RUB, S. 16), aus dem „Billett“, das Nasoni gefunden hat (EP I,4, S. 19) „diesen Zettel da“ bzw. „dieses Briefchen“ zu machen (RUB, S. 17), Erminios „Zu lang hab’ ich Sie derangiert“ (EP Nr. 11, S. 87) durch „Zu lang hab’ ich Sie schon verwirrt“ (RUB, S. 66) zu ersetzen und Ähnliches. Nachdem die Schmuggler Carlottas Duenna Zenobia entführt haben, berichtet Massaccio im Originallibretto: „Wir haben unsere Aufgabe erfüllt und enterten die Alte!“ (EP I,8, S. 33); das fand Würz wohl zu frech, er schreibt wesentlich farbloser „Wir haben […] die Alte geraubt“ (RUB, S. 26). Fast jede Replik des Uraufführungslibrettos hat bei Würz eine Entsprechung, Zusätze sind ebenso selten wie Streichungen. Nur wenn Zenobia von ihrer Entführung berichtet, kann der Bearbeiter der Versuchung, ein bisschen weiterzudichten, nicht widerstehen: Nasoni: Schleppten Sie die Unholde?31 Blieben für Ihr Flehen taub?
Carlotta. Gräßlich! Nasoni. (für sich) Unbegreiflich! Zenobia. Erbarmungslos rissen sie mich bis zur Höhle ihres Hauptmanns mit sich fort! Ein Stoßgebet zum Himmel stärkte mich. Ich war auf alles gefaßt… da hob Gasparone meinen Schleier und sagte, im reinsten Romagna-Dialekt, nicht als: Ui je! (EP I 9, S. 33)
Nasoni. Schleppten Sie die Unholde bis in ihre Schlupfwinkel? Zenobia. Ja! Nasoni. Beraubten sie Sie? Zenobia. Nein! Carlotta. Was taten sie? Sprich doch! Zenobia. Ach, meine teure Gräfin! Ich war im Walde ein Stück zurückgeblieben – plötzlich sah ich mich von einer Horde wilder Gesellen umzingelt. Es waren ein paar bildhübsche Burschen darunter. Barbaren! rief ich, tötet mich – nur schont meine Mädchenehre! Aber die Unholde blieben für mein Flehen taub. Carlotta. Gräßlich! Nasoni. Unbegreiflich! Zenobia. Erbarmungslos rissen sie mich bis zur Höhle ihres Hauptmanns mit sich fort! Ein Stoßgebet zum Himmel stärkte mich. Ich war auf alles gefaßt – da hob Gasparone meinen Schleier und sagte – im reinsten RomagnaDialekt – nicht als: Ui je! (RUB, S. 26f.)
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Andererseits lässt Würz, wenn Benozzo der bei Carlotta versammelten Gesellschaft von Sindulfos Entführung berichtet (EP Nr. 6, S. 55), das Aparte „Nichts als ‚Zucker und Kaffee‘“ weg (RUB, S. 43), mit dem der Schankwirt Massaccio – und damit auch dem Publikum – Erminio als den Auftraggeber bezeichnet.
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Der Satz wirkt unvollständig; möglicherweise liegt im Textbuch der Edition Peters oder der Vorlage ein Versehen vor.
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Ob man einzelne Änderungen Würzens als Verbesserung ansehen will, scheint mehr oder weniger Geschmackssache.32 Seine „Bearbeitung“ war möglicherweise überflüssig; dass er das Original verfälscht hätte, wird man ihm aber schwerlich vorwerfen können.
Textkritische Librettoeditionen: Beispiel Johann Strauß Die neue, kritische Johann Strauß-Gesamtausgabe33 ist die einzige Operettenedition im deutschsprachigen Raum, die jeweils auch das Textbuch nach den frühesten handschriftlichen und gedruckten Quellen präsentiert und somit Einblick in die Entstehungsgeschichte gibt. Nach einem summarischen Überblick über die gesamte Überlieferung werden in der Regel das Zensurlibretto und mindestens ein weiterer Textzeuge synoptisch ediert: Bei der Fledermaus34 wird dem Zensurlibretto, das hier eine frühe Phase der Textgenese repräsentiert,35 das autographisch gedruckte Buch des Wiener Theaterverlags Gustav Lewy (1874) gegenübergestellt. Nachdem Eine Nacht in Venedig bei der Uraufführung in Berlin (3. Oktober 1883) nicht erfolgreich gewesen war, haben die Autoren vor der Wiener Erstaufführung knapp eine Woche später (9. Oktober 1883) einiges verändert; die Edition36 gibt das (einen Monat vor der Uraufführung gedruckte37) Zensurlibretto und das autographisch gedruckte Buch der „Wiener Fassung“ mit den Varianten des ältesten gedruckten „Textbuchs der Gesänge“ (1884) wieder. Beim Zigeunerbaron38 stößt die synoptische Darstellungsweise an ihre Grenzen: Da hier vier verschiedene Fassungen – das (unvollständige) Autograph des Librettisten Ignatz Schnitzer, das Zensurlibretto, ein im Autotypieverfahren vervielfältigtes Buch von November 1885 und das erste gedruckte Textbuch der Gesänge –, z. T. mit Kor-
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Im Dialog mit Benozzo (EP II,9, S. 76) erläutert Sora ihr verächtliches „Pah!“ als „du machst dir nichts aus mir!“, Würz ändert in „Ich mache mir nichts aus dir!“ (RUB, S. 58), was zu Benozzos Reaktion („Du bist eine Kokette!“) zweifellos besser paßt. – Wenn Würz in Gasparones fingiertem Brief schreibt: „[…] räume ich Italien und kehre in meine geliebten Abruzzen zurück“ (RUB, S. 89), liegt dagegen ein Versehen vor: Im Uraufführungslibretto heißt es richtig „Sizilien“ (EP III,8, S. 118). 33 Vgl. die Informationen unter http://www.hermann.eu/index/de/1/vertrieb/h0_vertrieb.htm. Sieben Bände der Serie I (Bühnenwerke), Werkgruppe 2 (Operette) liegen inzwischen vor: Der Karneval in Rom, Die Fledermaus, Prinz Methusalem, Das Spitzentuch der Königin, Der lustige Krieg, Eine Nacht in Venedig und Der Zigeunerbaron. 34 Johann Strauss [sic]: Die Fledermaus. Operette in 3 Akten. Text: Richard Genée. RV 503. Hrsg. von Michael Rot. Wien [2000] (Neue Johann-Strauss-Gesamtausgabe, Serie I, Werkgruppe 2, Band 3), S. 508–512: „Quellenlage“, S. 615–675: „Textbuch“. Für freundliche Hilfe bei der Beschaffung von Kopien aus der Strauß-GA danke ich Norbert Dubowy (vormals Frankfurt a.M., jetzt Salzburg). 35 Vgl. ebd., S. 620. 36 Johann Strauss [sic]: Eine Nacht in Venedig. Operette in 3 Akten. Text: F. Zell und Richard Genée. Berliner und Wiener Fassung. RV 510 A/B. Hrsg. von Michael Rot. Wien [2000] (Neue Johann-StraussGesamtausgabe, Serie I, Werkgruppe 2, Band 10), S. 595–598: „Quellenlage“, S. 643–705: „Textbuch“. 37 Vgl. ebd., S. 596. 38 Johann Strauss [sic]: Der Zigeunerbaron. Operette in 3 Akten. Text: Ignatz Schnitzer nach der Novelle Saffi von Mór Jókai. RV 511A/B/C. Wien [2006] (Neue Johann-Strauss-Gesamtausgabe, Serie I, Werkgruppe 2, Band 11), S. 660f.: „Quellenlage“, S. 715–795: „Textbuch“.
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rekturen und Varianten, zu berücksichtigen sind, wird die Präsentation einigermaßen unübersichtlich. Der Zigeunerbaron weist im Übrigen eine Eigenheit auf, die eine eingehendere Untersuchung verdiente: Strauß und Schnitzer haben hier so etwas wie den Trovatore der Operette geschaffen. Barinkays Familie, Carnero und Mirabella, Zsupán, die Zigeuner haben jeweils eine Vorgeschichte, die in Gesangsnummern oder Dialogen mehr oder weniger ausführlich entwickelt werden muss; auch der Spanienfeldzug zwischen dem zweiten und dritten Akt wird nicht gezeigt, sondern erzählt. Nachdem Barinkays Auftrittscouplets die abwechslungsreiche Geschichte seines jungen Lebens zusammengefasst haben (Nr. 2), kommen in einem langen Dialog mit Carnero, der schon im Zensurlibretto gegenüber Schnitzers Autograph nicht unwesentlich verkürzt erscheint (S. 718–723), die Verbindungen des Vaters zum letzten türkischen Pascha, sein Tod und die Verbannung der Familie zur Sprache; Carneros für das Verständnis des folgenden durchaus bedeutsame Erklärungen dürften schon zu Lebzeiten des Komponisten auf kaum einer Bühne vollständig zu hören gewesen sein. Die Schlacht von Belgrad, die den geheimen Sittenkommissions-Obmanns-Stellvertreter vor 24 Jahren von seiner Frau trennte, wird im Dialog und in Mirabellas Kanonen-Couplets (Nr. 4) evoziert. Das Ergebnis des spanischen Feldzugs erfährt man aus dem Dialog der Volksmenge (III,1, S. 772f.) und aus Zsupáns Couplets (Nr. 16) – Schnitzer hatte ihm noch einen langen, gesprochenen Monolog über spanische Sprache und Gebräuche geschrieben (S. 784f.), der schon vor Erstellung des Zensurlibrettos gestrichen wurde. Was von dieser Überfülle an Information im Lauf der Aufführungsgeschichte verbal vermittelt wurde, ob und wie Inszenierungen Striche im gesprochenen Text zu kompensieren suchten, wäre eine eigene Studie wert.
Regiebücher Der vollständige Text der meisten deutschsprachigen Operetten liegt nur in für den Gebrauch der Theater erstellten, hektographierten oder gedruckten Regiebüchern vor. Dabei ist ein textkritischer Vergleich verschiedener Exemplare durchaus geboten: Von der „burlesken Operette in drei Akten“ Die lustigen Nibelungen von Oscar Straus (1904, Text Rideamus)39 sind zwei Bücher greifbar.40 Das neuere hat die Orthographie
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Vgl. Sebastian Kämmerer, Volker Klotz: Straus: Die lustigen Nibelungen. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 6. München, Zürich 1997, S. 39–41. 40 Die lustigen Nibelungen. Burleske Operette in drei Akten von Rideamus. Musik von Oscar Straus. Textbuch. Felix Bloch Erben, Verlag für Bühne Film und Funk KG, 55 S. masch. [abgekürzt Tb] (für eine Kopie danke ich Heike Quissek); Die lustigen Nibelungen. Burleske Operette in drei Akten von Rideamus. Musik von Oscar Straus. Vollständiges Regiebuch. Den Bühnen gegenüber als Manuskript gedruckt. Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben von dem Verlage Felix Bloch Erben. Berlin NW. 6 (Inhaber: Adolf Sliwinski & Ernst Bloch), 67 S. [abgekürzt Rb], digitalisiert: http://ebookbrowse. com/gdoc.php?id=21322911&url=6f9ca260e4b30a196ffeefc87c31247c (Abfrage 24.7.2012); dieses
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vorsichtig modernisiert („Büro“ statt „Bureau“, „Szene“ statt „Scene“ etc.; auch, S. 21, „bzw.“ für „resp.“), und neben einigen wenig bedeutenden Varianten41 gibt es auch den Sinn verändernde Abweichungen: Bei Siegfrieds erstem Auftritt heißt es im älteren Buch „erscheint mit zwei zusammengebundenen Drachen (Dackeln als Drachen angezogen) an der Leine“ (Rb, S. 12), die neuere Abschrift lässt den Hinweis auf die Dackel weg (Tb, S. 6).42 Im Zweikampf mit Brunhilde wird Gunther, ehe ihm Siegfried unsichtbar zu Hilfe kommt, zu Boden geworfen; Schiedsrichter Hagen stellt fest: „Der erste Gang ist unentschieden! König Gunther liegt ja auf dem Bauch und hat mit den Schultern die Erde noch nicht berührt!“ (Rb, S. 28). Im späteren Textbuch fehlt diese Replik. Vor allem gibt das ältere Regiebuch in etwa zwanzig Fußnoten wienerische Varianten für Ausdrücke, die im Textbuch des aus Breslau gebürtigen Fritz Oliven (Rideamus) 43 gar zu preußisch daherkommen: In der ersten Replik der Magen („Er sieht so miesepetrig aus […]“, S. 5) wird das Adjektiv durch „miserabel“ ersetzt, König Gunther soll „nicht so viel drahen“ statt „nicht so poussieren“ gehen (S. 6); auf Kriemhilds „Heia, Geliebter, / Zähme die Gluten!“ antwortet der preußische Siegfried „Etepetete? / Nicht in die Hand!“, in Wien wird daraus „Ich soll mich zähmen? / Ah gengens zu!“ (S. 21); bei der Keilerei, mit der die Doppelhochzeit endet, „Brach sich“ Frau Ute nicht „ab ein Stuhlbein“, sondern „Nahm an Sesselhaxen bloß“ (S. 32), und anderes mehr. Das spätere Textbuch lässt diese Varianten weg; auch die Striche der Wiener Uraufführung (Carl-Theater, 12. November 1904) sind nur in der älteren Fassung dokumentiert: Bei Nummern, die drei Strophen umfassten, wurde gewöhnlich eine weggelassen,44 auch in Duetten und Ensembles gab es kleinere Kürzungen.45 In den gesprochenen Partien wurde kaum gestrichen, nur im Dialog Siegfrieds mit dem Vogel
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Buch dürfte nicht später als 1916 (Todesjahr Adolf Sliwinskis, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Felix_ Bloch_Erben (Abfrage 11.11.2012) gedruckt sein. Z. B. Rb S. 12: „verbindlichsten Dank“, Tb S. 7: „verbindlichen Dank“; Rb S. 12: „sind Sie nicht ein Sohn vom alten Herrn Siegmund aus Niflheim?“, Tb S. 7: „sind Sie nicht ein Sohn von dem alten Herrn Siegmund aus Riflheim?“, etc. Einige Schreibfehler in Rb (S. 7: „Die macht mir ihrer Kraft zuschanden“, l. „mit“; S. 25 „Gunther, Gunther! / Sieh’ nicht so dämlich aus! / Reiß’ die Familie raus!“, erg. „Gunter, Gunther!“ nach dem zweiten Vers; S. 32 „Ach, was war das ’ne schöne Hochzeit“, tilge „was“; u. a. m.) dürften bei der Erfassung des Textes entstanden sein. Rb wechselt bei den Sprecherbezeichnungen willkürlich zwischen „Brunhilde“ und „Brunhild“ (vgl. S. 38f.), Tb vereinheitlicht zu „Brunhilde“. In Tb fehlt das Personenverzeichnis (RB, S. 3). Auf der in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 6. München, Zürich 1997, S. 40 reproduzierten Photographie (Albert Kutzner als Siegfried, Theater des Westens, Berlin 1911) sind die Dackel deutlich erkennbar. Zu ihm vgl. jetzt Ute-Christiane Hauenschild: Rideamus. Die Lebensgeschichte des Fritz Oliven. Berlin 2009. So jeweils die zweite Strophe in Siegfrieds Entree, S. 13, und in seinem unmittelbar folgenden Lied „Einst hatte ich Geld und Gut“, S. 17, sowie die erste Strophe in Gunthers „Brunhilde, mach’ auf!“ (S. 42). So im Terzett Brunhilde – Siegfried – Gunther (S. 44); im Potpourri-Duett Siegfried – Brunhilde fallen die beiden Repliken des Vogels (S. 64f.) und Brunhildes Hinweis auf den Bankrott der Rheinischen Bank (S. 65) weg.
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fiel die Frage nach der Entwicklung der Börsenkurse weg (vier kurze Repliken, S. 61).46 Vor allem verzichtete man jedoch auf das kurze Schlussensemble, in dem Siegfried als Ausweg aus dem entstandenen Dilemma eine Ehe zu dritt vorschlägt („Wir machen auch dieser Geschichte ein End’ / Und einigen uns jetzt auf 50 Prozent“, S. 67); da die Zuschauer in dieser Szene sahen, wie Siegfried „rechts Kriemhild, links Brunhild unter[faßte]“ (ebd.), gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie es weitergehen würde, explizit gesagt oder gesungen wurde das in Wien 1904 jedoch nicht. Zahlreiche Operettenbücher wurden von den Autoren mehrfach revidiert: Das „Soufflier- und Regiebuch“ von Emmerich Kálmáns Faschingsfee (erste Fassung Zsuzsi kisasszony, Budapest 1915; danach Wien 1917) 47 folgt „der Einrichtung des MetropolTheaters in Berlin von Oberregisseur Emil Guttmann“ für die deutsche Erstaufführung 1918.48 Der Walzertraum von Oscar Straus (Text: Felix Dörmann und Leopold Jacobson, 1907) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Armin L. Robinson und Eduard Rogati49 und 1982 von Hans Weigel (Raimundtheater Wien) neu bearbeitet.50 Den Prozess solcher textlichen Modernisierungen zu verfolgen, ist nicht nur kulturhistorisch von Interesse.
„Sende-Spiele“ Die Berliner Funk-Stunde, der erste deutsche Rundfunksender (seit 1923), brachte neben Live-Übertragungen aus Opernhäusern und Operettentheatern regelmäßig Eigenproduktionen von Werken des Musiktheaters als „Sende-Spiele“;51 „wortgetreue
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Auch in dem Melodram, in dem Hagen seine Zweifel, ob er Siegfried erschlagen soll, überwindet (S. 58f.), wurde eine Passage gestrichen, in der er den Tod eines Einzelnen für bedeutungslos erklärt angesichts der vielen Millionen Menschen, die auf der Erde leben. Vgl. Volker Klotz: Kálmán: Die Faschingsfee. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 3. München, Zürich 1989, S. 240–242. Dazu ebd., S. 241. Die Faschingsfee. Operette in drei Akten von Dr. A.M. Willner und Rudolf Oesterreicher. Musik von Emmerich Kálmán. Leipzig, Wien: Musikalien- und Bühnenverlag Josef Weinberger, © 1917, 65 S. Regiebuch: Ein Walzertraum. Operette in drei Akten von Felix Dörmann und L. Jacobson. Textliche Neubearbeitung: Armin L. Robinson und Eduard Rogati. Musik von Oscar Straus, © Zürich: Musikverlag und Bühnenvertrieb Zürich A.G. 1951, 63 S. (für eine Kopie danke ich Heike Quissek). Diese Fassung wurde 1957 an der Volksoper Wien erstmals aufgeführt, vgl. Elisabeth Rockenbauer: Straus: Ein Walzertraum. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring. Bd. 6. München, Zürich 1997, S. 43f. – Zum Beispiel wurde in Nikis Entreelied (Nr. 4) die (nicht sehr geglückte) dritte Strophe „Ich komm’ aus einer andern Welt, / aus einer Welt voll Leben, / aus meinem Aug’ die Träne fällt, / mein Herz will mir erbeben!“ (Text nach dem Klavierauszug: Wien, München: Doblinger o. J., Pl.Nr. D.3653) geändert in: „[…] Und wenn mir etwas nicht gefällt, / Muss ich Protest erheben“.) Vgl. Rockenbauer (Anm. 49). Vgl. Susanne Großmann-Vendrey: Die Operette in der Berliner Funkstunde. In: Rundfunk und Geschichte 26, 2000, H. 1/2, S. 8–13, auch unter http://rundfunkundgeschichte.de/assets/RuG_2000_1-2. pdf (Abfrage 11.11.2012).
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Textbücher“ dazu wurden in der Reihe SendeSpiele veröffentlicht. Die Operette nahm breiten Raum ein, neben den Klassikern (Suppé, Strauß, Millöcker, Offenbach, auch Audran, Lecocq u. a.) kamen neue Werke von Künneke, Eysler, Kollo, Goetze, später auch Lehár oder Kálmán, zur Aufführung. Am 7. März 1926 wurde Suppés Fatinitza (Text Friedrich Zell und Richard Genée, 1876) gesendet.52 Das Textheft zeigt, dass die ‚Einrichtung für den Rundfunk‘ wesentlich in (behutsamen) Kürzungen besteht: Die einzige der 24 Nummern, die ganz wegfällt, ist das kurze (nur vier Textzeilen umfassende) Entree des Spions Wuika (Nr. 2), dessen kleine Rolle im Übrigen ganz gestrichen ist. Im ziemlich langen Auftrittslied des Reporters Julian (Nr. 4) fallen 26 von 79 Versen weg (S. 12f.); Kantschukoff darf nur zwei von drei Strophen seines Entree singen (Nr. 6, S. 16f.), auch der Chor der Haremsdamen zu Beginn des zweiten Akts (Nr. 12, S. 37f.) ist wesentlich gekürzt. Izzet Paschas Couplet umfasst im Buch (S. 39) nur eine einzige Strophe53 – das Textbuch der Gesänge54 gibt deren neun (Nr. 13, S. 22f.), die fallweise durch Zusatzstrophen zum Tagesgeschehen ersetzt wurden. Die abgedruckte Strophe hat der Redakteur neu gedichtet: Der Ruf nach Reformen ist jetzt aktuell, Weil’s Not tut zu helfen und möglichst recht schnell. Es wird viel beraten und viel debattiert, Doch hat’s noch zum glücklichen End’ nicht geführt. Nur eins könnt’ uns retten, wenn man daran dächt’: Ein bissel auffrischen, ein bissel aufmischen, das wär’ gar nicht schlecht.
Allerdings besteht ein recht deutlicher Bezug zur ersten Strophe bei Zell und Genée.55 – Im zweiten Finale (Nr. 20) ist das Schattenspiel (Karagois) ganz gestrichen; obwohl es von Mustapha durchgehend kommentiert wird (Melodram), lässt sich diese auf optische Wirkung berechnete Szene nur schwer radiophon aufbereiten. Der Wert der Rundfunk-Textbücher für die kritische Edition von Operettenlibretti ist sicher nicht allzu hoch zu veranschlagen; trotzdem sollte man diese Drucke nicht von vornherein von der Betrachtung ausschließen.
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Vgl. ebd., S. 8. Der Text erschien in SendeSpiele 2, H. 27, 79 Seiten, „Für den Rundfunk eingerichtet von Cornelis Bronsgeest“. 53 Es folgt der Hinweis „(und weitere Strophen)“; vielleicht wurden diese Strophen mit Bezug auf aktuelle Ereignisse erst unmittelbar vor der Sendung verfasst, während das Textbuch wohl einige Wochen vorher in Druck gehen musste. 54 Gesänge aus: Fatinitza. Komische Oper in drei Akten (mit Benutzung eines dem Faublas entlehnten älteren französischen Stoffes) von F. Zell und Richard Genée. Musik von Franz von Suppé, Wiesbaden: Rud. Bechtold & Comp. o. J., 40 Seiten. 55 Ebd., S. 22: „Reformen thu’n Noth bei der türk’schen Nation, / Sonst wird aus dem Halbmond ein Kipfel bald schon, / An dem ‚kranken Mann‘ thun’s so lang schon kuriren, / Man kann sich im Orient kaum mehr orientiren. / Wenn ein Doktor nur bald auf die Beine ihn brächt’! / Ein bißel auffrischen / Ein bißel aufmischen, / Das wär nicht so schlecht.“ Erschien den Berlinern das „Kipfel“ zu exotisch, oder hatte sich das Schlagwort vom „kranken Mann am Bosporus“ überlebt? – Der Aktualitätsbezug, den Großmann-Vendrey (Anm. 51), S. 11, hier erkennen will, scheint eher fraglich.
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Bearbeitungen Neben vorsichtig modernisierenden und kürzenden Bearbeitungen gibt es Versionen, die ein Stück auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Ein frühes Beispiel dafür ist die Textfassung der Schönen Helena, die Egon Friedell und Hans Sassmann für Max Reinhardt schrieben56 (1931): Hier erscheinen zwar die beliebtesten Nummern Offenbachs in der Form, die ihnen der erste Übersetzer Ernst Dohm gegeben hat,57 aber der Sprechtext ist völlig neu konzipiert. Am Beginn steht eine „szenische Ouverture“ (vgl. S. 5): Zwei Arbeiter packen Kisten aus, in denen sich ein goldener Apfel, Notenblätter und eine Partitur, „die sie dem Kapellmeister herunterreichen“, Tänzer und Tänzerinnen, die lebendig werden, „eine riesige Zeus-Statue“, Venus, der sie den Apfel reichen (es folgt „Ruhiger Tanz der Venus, während ihr die beiden Arbeiter, auf dem Kistenrand sitzend, begeistert zusehen“), etc. Danach tragen zwei Sprecher und zwei Chöre eine Art Prolog vor: 1. Sprecher. Guten Abend, Ihr Leute, das Stück, das wir spielen, Spielt tausend Jahre vor Christi [sic] und nennt sich antik. 2. Sprecher. Die Kleider sind anders, doch ändert die Zeit Nur das Äußere der Leute und nie ihr Geschick. 1. Sprecher. Wie Helena einst Menelaus betrogen, Wird mancher von Euch an der Nase gezogen. […] Beide Chöre. Zu jeglicher Untat laut „Wehe“ zu schreien, Zu jedem Skandal die Entrüstung zu heucheln, Ist unser Ressort – als klassischer Chor. (S. 6)
Freilich greift dieser Chor nicht weiter ins Geschehen ein. Der Dialog Helenas mit Calchas (La Belle Hélène I 5, MH58 S. 174–178) ist im Licht der Psychoanalyse völlig neu gefasst: Helena. Mich quälen in den letzten Tagen wieder meine unruhigen Träume. Calchas. Sie quälen dich nicht, Tochter der Leda, sie erfüllen nur deine Wünsche.
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Die schöne Helena (La belle Hélène). Buffo-Oper in 3 Akten von Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Musik von Jacques Offenbach. Textgestaltung von Egon Friedell und Hans Sassmann für die Max Reinhardt’sche Inszenierung. Musikalische Neugestaltung von Erich Wolfgang Korngold, Berlin, Wiesbaden: Bote & Bock o. J., 51 Seiten. Ich danke Bernd Rachold (Hamburg), der mir diesen Text zugänglich machte. 57 Z. B. sind die Couplets der Könige (Nr. 7 [Zählung nach dem Klavierauszug (Anm. 21)]): „A jax I. Ich bin Ajax, Held im Kriege, Jax, Held im Kriege, / Jax, Held im Krieg, mein Herz ist hart wie Wachs, / Bin mutig wie ein Dachs. […]“ (Friedell, S. 23) wörtlich gleich wie in: Arien und Gesänge aus: Die schöne Helena. Burleske Oper in 3 Abtheilungen von Meilhac und Halévy. Deutsch von E. Dohm. Musik von Jacques Offenbach, Berlin: Bote & Bock o. J., S. 9. Helenas Anrufung der Venus (Nr. 11, Friedell, S. 33) stimmt bis auf zwei Stellen (zweite Strophe, erster Vers: „Mir sagt eine innre Stimme“ statt „Mein Busen ist erfüllt von Grimme“; achter Vers „So ist mein Schicksal schuld daran“ statt „Ist das Verhängnis schuld daran“) mit Dohm, S. 19f. überein; im Traumduett (Nr. 15; Friedell, S. 39–41, Dohm, S. 25f.) gibt es nur wenige unbedeutende Varianten, etc. 58 S. oben, Anm. 19.
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Helena. Mir hat doch in den letzten Nächten geträumt, daß mich Menelaus als Stier durch die Gärten verfolgt, mit seinen Zärtlichkeiten … Calchas. Du hast es geträumt, weil du den Wunsch gehabt hast, daß dich Menelaus als Stier durch die Gärten verfolgen soll mit seinen Zärtlichkeiten … (S. 10f.)
Friedell und Sassmann zeigen manches auf der Bühne, was im Originallibretto nur berichtet wird: Als männliche Pythia versetzt sich Calchas (nicht ohne Mühe) in Trance und verkündet Helena, dass Venus Paris die schönste Frau der Erde versprochen hat (S. 12). Merkur (diese neu eingefügte Rolle spielte Friedell selbst) besucht den trojanischen Prinzen auf dem Berg Ida und gibt ihm den Auftrag, den Streit der Göttinnen zu entscheiden (2. Bild, S. 14–16); die solistische Erzählung des Paris (Nr. 6) wird zum Quartett, die Göttinnen, denen er in Offenbachs Version seine Stimme leiht, ergreifen selbst das Wort. Die beiden Ajaxe drängen Calchas, die Spartaner zum Krieg aufzustacheln: Sie haben ihre Schätze „in die Waffen-Industrien Lakedämons“ investiert (3. Bild, S. 18) und sind mit den Renditen unzufrieden. Der Intelligenzwettstreit ist gestrichen, und das Gänsespiel ist durch ein Gelage ersetzt, bei dem die Könige die Reize einer Tänzerin aus Kythera bewundern, übermäßig trinken (S. 34f.) und sich über Helenas Liebschaften den Mund zerreißen (S. 36). Menelaus, der seine Reise nach Kreta gar nicht erst angetreten hat, gelangt nur dank der Hilfe Merkurs in seinen Palast (S. 41–43), obwohl er ihm erklärt: „Ich glaube nicht an deine Existenz“; Merkurs Erwiderung „Auf den Glauben an die Götter hat Hellas seine ganze Kultur aufgebaut“ kontert er: „Ich glaube nicht an deine Kulturgeschichte“59 (S. 43). Wenn Menelaus Helena und Paris überrascht, würde er einen Skandal liebend gern vermeiden60 (S. 44), was natürlich nicht gelingt. Der umfangreiche dritte Akt (MH, S. 252–277) ist auf zwei knappe Szenen reduziert (S. 50f.): Ein Gespräch zwischen Helena und Menelaus (vgl. MH III,3) mit vertauschten Rollen: Helena möchte ihren Fehltritt gestehen, ihr Mann will nichts davon hören; und zuletzt segelt Paris mit der Königin davon, während die Könige Rache schwören. Orests Lied (Nr. 18), Helenas Couplets (Nr. 19), das Terzett mit der Guillaume Tell-Parodie (Nr. 20) und der Auftritt des Paris in der Maske des Venus-Priesters (Nr. 21) sind gestrichen. Diese Fassung in einer kritischen Edition des Librettos von Meilhac und Halévy, sei es im Variantenapparat oder mittels synoptischer Präsentation verschiedener Redaktionen, angemessen darzustellen, dürfte kaum möglich sein. Neben der Entstehungsgeschichte muss auch die Wirkungsgeschichte eines Operettenlibrettos, wie sie u. a. an Bearbeitungen auch von fremder Hand ablesbar ist, Gegenstand textkritischer Arbeit sein. Anregungen für das methodische Vorgehen dabei kann möglicherweise die Mittelalter-Philologie geben.
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Muss man daran erinnern, dass Egon Friedell der Verfasser der erstmals 1927 erschienenen Kulturgeschichte der Neuzeit ist (3 Bde., München 1954 u. ö.)? 60 Hier scheint Friedell fast Giraudoux’ Schauspiel La Guerre de Troie n’aura pas lieu (1935) vorwegzunehmen.
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Edition von Operettenlibretti und nouvelle philologie Die angeführten Beispiele zeigen deutlich, dass der emphatische Werkbegriff Hugo von Hofmannsthals, für den Operntexte Manifestation seiner künstlerischen Individualität waren, die er gegen Eingriffe Richard Straussens oft bitterböse verteidigte, auf Operettenlibretti nicht anwendbar ist: Im deutschsprachigen Raum kodifiziert das Regiebuch nicht die Fassung des oder der Librettisten, sondern das im Dialog zwischen Textdichter, Komponist, Regisseur, Theaterdirektor, Sängern und anderen entwickelte Buch der Uraufführung (oder einer späteren Einstudierung61). In Frankreich erscheinen z. B. die Libretti von Meilhac und Halévy für Offenbach in ihrer Werkausgabe zwar in der den Intentionen der Autoren entsprechenden Gestalt; aber zum einen ist diese Gestalt wie bei allen Librettistenteams ein Kompromiss zwischen den Auffassungen zweier durchaus unterschiedlicher Persönlichkeiten, zum anderen ist das Operettenlibretto die intertextuelle Gattung par excellence, die durchgehend – zumindest bei den besseren Autoren reflektiert, d. h. parodistisch, eingesetzte62 – textliche, musikalische und szenische Versatzstücke zitiert63 und insofern nicht die Stimme eines Autors, sondern einen ganzen Chor hörbar macht. Dass die neue Hofmannsthal-Gesamtausgabe die Werkentstehung mit den Methoden der genetischen Kritik64 minutiös dokumentiert, ist dem Selbstverständnis des Autors angemessen. Bei den meisten Operettenlibretti schließt schon die Quellenlage einen solchen Zugriff aus. Die neue Strauß-Gesamtausgabe druckt wie gesehen jeweils das Zensurlibretto und weitere frühe Textzeugen ab; die Zensurlibretti sind auch in der Offenbach-Edition Keck (OEK) enthalten.65 Freilich ist die Geschichte eines Operettenlibrettos mit der Uraufführung nicht zu Ende; es scheint dringend geboten, über eine Berücksichtigung der sich langsam aber beständig wandelnden Aufführungstradition in Operetteneditionen nachzudenken. Hier mag es hilfreich sein, einen Blick auf neuere Entwicklungen in der Mittelalter-Philologie zu werfen: Der Wortlaut eines mittelalterlichen literarischen Werkes in der Volkssprache ist für uns in der Regel nicht in der vom Autor fixierten Form fassbar, weil fast alle Texte nur in Kopistenabschriften überliefert sind. Während die Editoren des 19. Jahrhunderts im Gefolge Karl Lachmanns durch kritischen Vergleich der überlieferten Handschriften zur Rekonstruktion des verlorenen Originals zu gelangen
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Vgl. oben zur Wiener Fassung von Eine Nacht in Venedig. Laut Curt Goetz soll die Operette eine „harmlose Handlung für das süße kleine Mädel im zweiten Rang, durchtränkt zum Vergnügen des Parkettbesuchers mit parodistischer Laune“ bieten; mit dieser Bemerkung zog er sich den Zorn Adornos zu, vgl. Theodor W. Adorno: Parodie, je nachdem [1932]. In: Ders.: Musikalische Schriften V. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1997 (Gesammelte Schriften. 18), S. 788f. 63 Vgl. dazu auch den Abschnitt zum „Collagecharakter“ der Bücher bei Heike Quissek: Das deutschsprachige Operettenlibretto. Figuren, Stoffe, Dramaturgie. Stuttgart, Weimar 2012, S. 53–67. 64 Vgl. dazu Almuth Grésillon: Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994. 65 Abrufbar unter http://www.offenbach-edition.com/FR/Media/Libretti.asp (Abfrage 17.11.2012). Vgl. ebd.: „L’un des buts importants que s’est donné l’OEK, est de faire le jour sur la genèse de chaque œuvre, avec toutes les esquisses disponibles, les versions primitives, les révisions et les coupures.“ 62
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hofften,66 rückt die seit den 1980er Jahren zunächst in Frankreich propagierte „neue Philologie“67 die Schreiber als Träger der Überlieferung ins Zentrum: Die Differenzierung zwischen Original und Kopie wird aufgegeben, der ‚Text‘ als die Summe aller Überlieferungsvarianten definiert. Die Begründer der ‚neuen Philologie‘ verzichteten dabei ausdrücklich auf eine Unterscheidung zwischen nicht-intentionalen Varianten wie Verschreibungen, Augensprüngen oder Übernahme von Fehlern der Vorlage und bewussten Eingriffen wie sprachlicher Modernisierung oder der Anpassung des Lautstands an den Dialekt des Kopisten, Korrektur und Überarbeitung des Textes.68 Was die deutschsprachige Operette angeht, kommen zweifellos dem Zensurlibretto, der Textfassung der Uraufführung (so sie sich denn sicher rekonstruieren lässt), dem Wortlaut in der Partitur und in frühen Klavierauszügen (die die Dialoge gewöhnlich nicht enthalten) und dem ersten gedruckten Textbuch der Gesänge besondere Bedeutung zu. Die Verbindlichkeit eines ‚Originals‘ kann freilich keine dieser (durchaus differierenden) Versionen beanspruchen: Operettenlibretti sind Gebrauchstexte, deren Qualität nicht auf einer als Beachtung der Autorintention verstandenen Authentizität, sondern auf ihrer Bühnenwirksamkeit beruht. Die Szene zwischen Merkur und Paris, die Egon Friedell in seine Bearbeitung der Schönen Helena eingefügt hat (s. o.), ist nicht schlechter als der ihr in der französischen Vorlage entsprechende Dialog zwischen Paris und Calchas; würde Friedells Version nicht die in musikalischer Hinsicht fragwürdige Umwandlung der Erzählung des Paris (Nr. 6) in ein Quartett voraussetzen, könnte man sie ohne weiteres in heutige Inszenierungen übernehmen. Die Überlieferung eines Operettenlibrettos besteht somit aus einer mehr oder weniger großen Zahl grundsätzlich gleichwertiger Texteinrichtungen, von der für eine bestimmte Inszenierung erstellten Strichfassung bis zur oft nachgespielten Bearbeitung, die u. U. die Uraufführungsfassung verdrängen kann. Verschreibungen und Tippfehler sind in modernen Texten meist relativ leicht zu erkennen,69 und es lohnt nicht, ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu widmen: Wenn eines der beiden Regiebücher der Lustigen Nibelungen Siegfrieds Heimat Niflheim zu „Riflheim“ macht,70 liegt offenbar ein simples Versehen vor. In den Gesangstexten sind irrtümliche Auslassungen oder Hinzufügungen daran zu erkennen, dass der veränderte Text nicht mehr unter die Noten passt. Dagegen können intentionale Veränderungen
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Vgl. Jürgen Wolf: New Philology/Textkritik. a) Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 175–195, hier S. 176f. Basistexte sind Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. In: Langages 17, 1983, S. 25–35, und ders. Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989; erste Anregungen bot Paul Zumthors Begriff der mouvance (Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale. Paris 1972, S. 43 und passim), vgl. Wolf (Anm. 66), S. 176. Vgl. ebd., S. 179; kritisch zur Vorstellung einer Gleichwertigkeit aller Varianten ebd., S. 180f. Anders als in mittelalterlichen Handschriften: Da die Volkssprachen noch keine orthographische Norm kennen, bleibt oft unklar, ob eine ungewöhnliche Graphie ein Versehen oder eine Eigenart des Schreibers darstellt oder etwa eine dialektale Variante spiegelt; insofern ist verständlich, dass die ‚neue Philologie‘ nicht zwischen intentionalen und (scheinbar) nichtintentionalen Varianten unterscheidet. Tb, S. 8, vgl. oben Anm. 40.
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theaterpraktisch bedeutsam sein, z. B. wenn durch Kürzungen die sprachliche Prägnanz gesteigert wird; anderes, wie die Verbannung der Frivolität von der Operettenbühne von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die sechziger Jahre, kann zumindest kulturhistorisches Interesse beanspruchen.71 Noch vor der Auflösung des Textes in eine Vielzahl von Varianten unterschiedlicher Art (variance) wurde die mouvance, die „Beweglichkeit von ganzen Textpassagen und Strophen,“72 als Eigenheit der mittelalterlichen Manuskriptkultur beschrieben. Das Phänomen lässt sich an Texteinrichtungen wie der Schönen Helena von Egon Friedell und Hans Sassmann (s. o.) illustrieren, oder auch an der Gasparone-Bearbeitung von Ernst Steffan und Paul Knepler (1932):73 Die Altpartie der Zenobia („Gouvernante Carlottas“) ist hier gestrichen, womit auch ihr Couplet (EP74 Nr. 8) wegfällt;75 folglich kann sie auch nicht mit Carlotta und Nasoni das „Terzettino“ (EP Nr. 4) zum Lob der alten Herren singen, die als Liebhaber den „jungen Leuten von heute“ vorzuziehen seien; in der umtextierten Fassung dieser Nummer (SK Nr. 7) tragen die sich vernachlässigt fühlende Sora und ihr schmuggelnder Ehemann Benozzo einen Ehekrach aus, und Bürgermeister Nasoni muss erkennen, dass er als Tröster für eine junge Frau nicht mehr in Betracht kommt.
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Das „Fußbandlied“ Henris im Opernball (Regiebuch: Der Opernball. Operette in 3 Akten [nach dem Lustspiel „Die Rosa-Dominos“] von Viktor León und H. von Waldberg. Musik von Richard Heuberger, Köln, Wien, London o. J., 96 Seiten; für eine Kopie danke ich Heike Quissek) schildert eine erotische Begegnung des Seekadetten am Boulevard des Capucines (im Paris der Jahrhundertwende ein Treffpunkt von Prostituierten und Freiern), wobei die Avancen der Dame, die sich von ihm ein angeblich verlorenes Fußband wieder anlegen lässt, ihre Wirkung auf den jungen Mann nicht verfehlen, wie der Schluss zeigt: „Da nahm das Fussband ich sodann / Und machte, was man [machen] kann! […] Charmant! Charmant! / Sprach sie und fand, / Dass ich die Fussbandsache / Jetzt verstand“ (S. 22). In einer Rundfunkaufnahme von 1964 („Funkfassung des ORF“, Dirigent: Max Schönherr, 2 CD Hamburger Archiv für Gesangskunst 30114 o. J.) singt Henri (natürlich ein Tenor statt des von Heuberger geforderten Soprans!) einen entschärften Text: Die Dame fordert ihn nicht auf, „höher“ zu greifen, sondern „näher“ zu kommen, nicht ihr „Höschen“, sondern ihr „Strümpfchen“ sieht er schimmern, und der Schluss lautet: „Da nahm das Fußband ich sodann / Und griff ihr Füßchen herzhaft an, / Nur dort beim Schuh / Und schloß es zu. / Sie sagte danke / Und war fort im Nu.“ – In Leo Falls Die Dollarprinzessin, Text Victor León, vereinbart das Buffo-Paar bei der Heirat, wie Bruder und Schwester zu leben; die reiche Daisy ist empört, dass ihr Hans sich an die Abmachung hält. Da er (scheinbar) gar ein Rendezvous mit einem Stubenmädchen im Hotel vereinbart, nimmt sie kurzentschlossen dessen Platz ein. Hans, der genau weiß, wer da zu ihm ins Bett steigt, wiederholt sein Manöver in jedem Hotel, in dem sie auf ihrer Weltreise absteigen [vgl. Die Dollarprinzessin. Operette in drei Akten (unter Benutzung des Lustspiels von Gatti-Trotha von A.W. Willner und F. Grünbaum. Musik von Leo Fall, [Regiebuch], Wiesbaden: Musik und Bühne © 1969), III. Akt, 2. Szene, S. 63 (eine Kopie verdanke ich Heike Quissek)]; in einer durch eine ORF-Aufnahme von 1955 (veröffentlicht vom Hamburger Archiv für Gesangskunst, 2 CD 30194) dokumentierten Version ist diese Passage ersatzlos gestrichen, hier lebt das Paar ein Jahr lang zunehmend frustriert nebeneinander her. 72 Wolf (Anm. 66), S. 179; der Terminus mouvance stammt von Paul Zumthor (Anm. 67). 73 Gasparone. Operette in drei Akten von Carl Millöcker. Textliche Neugestaltung von Ernst Steffan und Paul Knepler. Musikalische Neubearbeitung von Ernst Steffan. Regiebuch. Eingerichtet von Ernst Steffan. Berlin: Felix Block Erben o. J., 69 Seiten. [abgekürzt SK]. 74 Originalfassung von Zell/Genée (Anm. 28) [abgekürzt EP]. 75 Gestrichen ist auch die kleine Rolle der Kammerzofe Marietta, als Carlottas Zofe fungiert in SK Benozzos Frau Sora.
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Die Rolle des Protagonisten (Conte Erminio alias „Der Fremde“)76 wurde durch zwei zusätzliche Nummern aufgewertet (SK Nr 1, Lied „Denk’ ich an dich, / Schwarze Ninetta“; und der Schlager Nr. 12: „Dunkelrote Rosen“), Nasoni77 bekam eine Nummer mehr (Lied Nr. 14: „Auch ich war einst ein junger Mann“), Sindulfo wurde mit einem Auftrittslied bedacht (Nr. 9: „Wenn der Morgen hold erwacht!“, mit Damenchor). Dafür wurde z. B. das erste Finale (EP Nr. 6, SK Nr. 11) verkürzt: Die Entführung Sindulfos wird nicht hier,78 sondern in einer kurzen gesprochenen Szene (SK II,2, S. 36f.) zu Beginn des zweiten Akts gemeldet. Aus dem Duett mit dem refrainartig wiederholten „Stockfinster war die Nacht“ (EP, Nr. 10), in dem sich Sora vor ihrem Mann dafür rechtfertigt, dass sie sich von ‚Gasparone‘ hat küssen lassen, wird ein (deutlich später placiertes) Ensemble (SK Nr. 16), in dem Benozzo Nasoni und den Gästen Carlottas erklärt, wie ihm das Lösegeld für Sindulfo abhanden kam. Erminios fingierter Raub überfall (EP Nr. 11, Duett mit Carlotta) wird erst in der Neubearbeitung zum Finale des zweiten Akts (SK, Nr. 17 zweiter Teil) begangen. Bearbeitungen wie Steffans und Kneplers Gasparone wurden zumindest bis in die sechziger Jahre häufig (vielleicht häufiger als die Uraufführungsversion) gespielt.79 In einer sich als historisch-kritisch verstehenden Edition sollten neben dem Zensurlibretto und den anderen frühen Textzeugen zumindest die erfolgreichsten Neufassungen Berücksichtigung finden – am sinnvollsten wäre vermutlich eine elektronische Präsentation in separaten Textdateien mit doppelter Nummerierung der Musiknummern und Dialoge (einmal fortlaufend, einmal nach der Reihenfolge im Zensur- oder Uraufführungslibretto) und einer Indexfunktion, die es ermöglicht, die unterschiedlichen Versionen einer bestimmten Passage in allen Textzeugen und Fassungen gleichzeitig aufzurufen. Eine solche Edition könnte an die Stelle der traditionellen synoptischen Darstellung im Buchformat treten, die, wie die neue Strauß-Gesamtausgabe zeigt (s. o.), bei komplexerer Überlieferungslage verhältnismäßig rasch an praktische Grenzen stößt. Darüber hinaus scheint es sinnvoll, zumindest den Versuch einer Rekonstruktion jener Vulgata-Versionen zu unternehmen, die sich bei häufig gespielten Stücken im Theateralltag herausgebildet haben. Neben ad hoc erfundenen Extempores stehen z. B. beim Frosch in der Fledermaus alte Bekannte, denen die Zuschauer immer wieder gern begegnen, wie die Überlegung:
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In der Erstaufführung der Bearbeitung 1931 spielte der Wagner- und Strauss-Sänger Michael Bohnen diese Rolle; über ihn vgl. Alois Büchl in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Ludwig Finscher. 2., neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 3. Kassel u. a. 2000, Sp. 257f. 77 In der Erstaufführung der Tenor Leo Slezak, dessen Opernkarriere 1931 allmählich zu Ende ging; vgl. zu ihm Alois Büchl in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Ludwig Finscher. 2., neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 15. Kassel u. a. 2006, Sp. 912f. 78 Vgl. EP, vom Auftritt Benozzos bis zum Ende, S. 55–59. 79 Eine Aufnahme des NWDR von 1956 (mit Anny Schlemm und Josef Metternich in den Hauptrollen, Dirigent Franz Marszalek) wurde 2008 von Line Music (2 CD Cantus Classics 5.01131) veröffentlicht, ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass es sich um eine spätere Bearbeitung von Millöckers Operette handelt.
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Albert Gier
So ein Slibowitz macht doch einen ganz anderen Menschen aus einem! Warum soll aber der andere Mensch nicht auch einen Slibowitz kriegen? 80
Weiterhin könnte man den Eindruck gewinnen, manche Librettisten hätten sich den Ratschlag des Tanzmeisters an den Komponisten in Hofmannsthals Bürger als Edelmann zu Herzen genommen und „ein gut Teil ordentlicher Striche von Anfang an“ in ihre Bücher hineinkomponiert.81 Um nur ein Beispiel zu nennen: In den Lustigen Nibelungen82 berichtet Siegfried den Gibichungen, das „kaufmännisch“ betriebene Geschäft des Drachentötens sei weniger einträglich, als gemeinhin angenommen werde, denn „Man hat zu viele Ausfälle“. Der Drache Spuckefeuer z. B., den er erst kürzlich besiegt hat – „Drei Tag’ hab ich mit ihm gekämpft, von früh um 8 Uhr bis abends um 8 Uhr, mit 2 Stunden Mittagspause“ –, saß nur „auf einem alten verbogenen Teelöffel und einem ausgelosten Pfandbrief“ bzw. einem „verfallenen Versatzzettel“ (so die Wiener Version). Siegfrieds Erzählung ist witzig und unterstreicht die Gleichsetzung der mittelalterlichen Helden mit Kapitalisten der Gründerzeit, die ein Hauptanliegen des Librettisten war; dennoch dürfte die Passage seit der Uraufführung (1904) in den meisten Inszenierungen gestrichen worden sein, denn sie ist erstens mit mehr als einem Dutzend Zeilen ziemlich lang und hat zweitens keinen direkten Handlungsbezug. Es wäre, denke ich, lohnend, aus erhaltenen Aufführungsmaterialien einerseits eine Statistik der vermerkten Striche zu erstellen und andererseits eingetragene Textänderungen und Zusätze (speziell verfestigte Extempores) zu erheben. Als Momentaufnahme des Theaterbetriebs wäre ein so eingestrichenes Buch (mit den als Varianten zu präsentierenden Zusätzen) ein interessantes Komplement zu Zensur- und Uraufführungslibretto; und vielleicht könnte es auch Regisseuren und Dramaturgen bei der Einrichtung ihrer eigenen Textfassung von Nutzen sein.
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Nach Panagl, Schweiger (Anm. 2), S.167; weitere Beispiele ebd. im Kapitel zum Libretto, S. 153–188. Nach Hugo von Hofmannsthal: Der Bürger als Edelmann. Eine Komödie mit Tänzen von Molière. Nach der Bierling’schen Übersetzung (1750) neu eingerichtet in zwei Aufzügen. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Lustspiele III. Frankfurt/Main 1956, S. 67–161, hier S. 156. 82 Tb, S. 10; Rb, S. 14f. (s. oben, Anm. 40). 81
Herbert Schneider
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
Mit Ausnahme der höfischen Oper im deutschen Sprachraum und der Bühnen in Amerika, wie der Metropolitan Opera in New York, dem Opernhaus in Chicago (Grand Opera Company seit 1910) oder Buenos Aires (Teatro Colón) und London existierte eine Oper seit dem späten 18. Jahrhundert in einer empfangenden Kultur mit wenigen Ausnahmen nur in Übersetzung. Eine stattliche Anzahl von Opern wurde in einer Fremdsprache uraufgeführt, das heißt, für die Uraufführung wurden diese Opern in eine Fremdsprache übersetzt und erst später in der Originalsprache aufgeführt. Es handelt sich keineswegs um Einzelfälle wie Samson und Dalila von Camille Saint-Saëns, Werther von Jules Massenet oder die Rezitativfassung der Carmen von Georges Bizet. Zwischen der Weimarer Uraufführung von Samson et Dalila im Jahre 1877 und 1943 waren 104 Opern nachzuweisen (siehe Anhang 1), die in Übersetzungen uraufgeführt wurden, darunter nicht weniger als neun Opern von Gian Francesco Malipiero,1 sechs von Ermanno Wolf-Ferrari,2 drei musikdramatische Werke von Igor Stravinskij und Isidore De Lara, zwei von Ruggiero Leoncavallo, von Jaromir Weinberger und Darius Milhaud, darunter der 1927 von Max Reinhardt in Auftrag gegebene Christophe Colomb, Text von Paul Claudel.3 Unter diesen 104 Werken des Musiktheaters sind bemer1
In seiner Werkliste hat John C. G. Waterhouse (John C. G. Waterhouse: Gian Francesco Malipiero [1882–1973]. The Life, Times and Music of a Wayward Genius. Edinburgh 1999, S. 380f.) die Übersetzer der an deutschen oder anderen nicht auf italienischen Bühnen uraufgeführten Bühnenwerke Malipieros nicht genannt. 2 Aus Johannes Streichers Artikel „Wolf-Ferrari“ (Johannes Streicher: Art. Wolf-Ferrari. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Finscher. 2., neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 17. Kassel u. a. 2007, Sp. 1107–1108) wird nicht klar, in welcher Sprache die Opern komponiert sind: In der Liste der Opern gibt er mal den ins Deutsche übersetzten Titel und den Namen des Übersetzers vor dem des Librettisten an (z. B. im Fall von Susannes Geheimnis „Max Kalbeck nach Enrico Goli sciani“), mal den italienischen Titel und den Namen des Librettisten und danach den des Übersetzers. John C.G. Waterhouse (John C. G. Waterhouse: Art. Wolf-Ferrari. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 4. New York u. a. 1997, S. 1172) nennt den Titel der Übersetzung im Fall der Uraufführung in Übersetzung, nicht aber die Übersetzer. Auch in den beiden den Neugierigen Frauen und dem Schmuck der Madonna gewidmeten Artikeln verschweigt Julius Korngold die Namen der Übersetzer (Julius Korngold: Die romantische Oper der Gegenwart. Wien etc. 1922, S. 40–55). 3 Vgl. Jacqueline de Labriolle: Les Christophe Colomb de Paul Claudel. Paris 1962, S. 11. Die Autorin verliert kein Wort über den Übersetzer und erwähnt einen bei der Universal Edition 1929 erschienenen Librettodruck mit 96 Seiten; es gibt einen weiteren Librettodruck von 1930 mit 102 Seiten, auf dessen Titelblatt der Übersetzer Rudolph Stefan Hoffmann genannt ist. Jens Rosteck lobt die Übersetzung Hoffmanns, nennt aber zugleich eine Reihe von sinnentstellenden oder falschen Übertragungen (Jens Rosteck: Darius Milhauds Claudel-Opern Christoph Colomb und L’Orestie d’Eschyle. Laaber 1995,
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Herbert Schneider
kenswerte Fälle wie etwa Albert Roussels Le Testament de la tante Caroline, ein Werk, das 1936 in tschechischer Übersetzung in Olmütz uraufgeführt wurde. Es kommen sogar einige Fälle vor, von denen nur Aufführungen in Übersetzungen nachweisbar sind, das heißt diese Opern gingen nie in der Originalsprache in Szene. Bei den Uraufführungen in Fremdsprachen spielten die deutschen Opernhäuser die wichtigste Rolle, wie folgende quantitative Übersicht (immer im Zeitraum von 1877 bis 1943) belegt, bei der die erstgenannte Sprache die der Vertonung, die zweite die der Uraufführung ist: italienisch-deutsch (22), französisch-deutsch (17), englisch-deutsch, französisch-italienisch (jeweils 9), deutsch-ungarisch, englisch-italienisch, russisch-französisch (jeweils 5), italienisch-französisch (3), französisch-englisch, französisch-flämisch, spanisch-italienisch, dänisch-deutsch, tschechisch-deutsch, ungarisch-deutsch (jeweils 2). Es ist auffallend, dass mit großem Abstand, insgesamt 57 von 104 zuerst in einer Fremdsprache gespielten Opern, mehr als die Hälfte in deutscher Übersetzung uraufgeführt wurden, gefolgt von italienischen (16), französischen (12), ungarischen (5), tschechischen (4) und danach erst englischen Übersetzungen (3). Da der Erfolg der Opern in vielen Fällen von der Uraufführung abhing, erscheint es für den Historiker und sicher auch für die Praktiker des Musiktheaters, Dramaturgen, Regisseure etc., von einiger Bedeutung, die Gestalt der Uraufführung, d. i. das fremdsprachige Libretto, die Didaskalien, die Inszenierung mit allen ihren Faktoren zur Kenntnis zu nehmen. Auch im Fall der nicht in geringer Zahl vorliegenden Opern, die in der Gastkultur auf Dauer erfolgreicher als in der Ursprungskultur waren, ist es empfehlenswert, die Übersetzungen zu studieren, zumindest die dominierenden und für den Erfolg ausschlaggebenden, das heißt besonders die von den Opern, die in den Gastländern in übersetzten Versionen zum Repertoire gehörten bzw. dort erfolgreicher waren als im Ursprungsland. Für eine moderne Opernausgabe erscheint es zumindest wünschenswert, in den genannten Fällen die Übersetzungen zusammen mit dem Originallibretto zu publizieren.4 Dies gilt auch für Opern, die lange Zeit in italienischen Übersetzungen auf internationalen Bühnen Süd- und Nordamerikas sowie Spaniens aufgeführt wurden (so etwa mehrere Musikdramen Wagners). Im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in Amerika jedoch auch zu Uraufführungen deut-
S. 261–262 [Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 15]). Der zweisprachige Klavierauszug in zwei Bänden erschien bei der Universal Edition: CHRISTOPH KOLUMBUS / Oper in zwei Teilen und 27 Bildern / Text von Paul Claudel / Deutsch von Rudolf Stephan Hoffmann / Musik von / DARIUS MILHAUD / I. Teil / Klavierauszug mit Text / Aufführungsrecht vorbehalten / UNIVERSAL-EDITION A.G. / WIEN copyright 1930 by Universal-Edition LEIPZIG / printed in Austria; VN 9708. Die Berliner Uraufführung, bei der Paul Hindemith an der Seite Milhauds saß, führte zu einigen ‚diplomatischen‘ Verstimmungen: „Certaines personnalités officielles s’étonnèrent de ce que mon œuvre fût créé en Allemagne. [...] le fait que Christophe Colomb avait été créé en Allemagne provoqua une certaine agitation et même une interpellation à la Chambre“. (Darius Milhaud: Notes sans musique. Paris 1949, S. 239). 4 Noch wichtiger ist es, die Übersetzung und die Vertonung der Rezitative zu publizieren, wie im Fall der Schöpfung von Joseph Haydn. In der Gesamtausgabe dieses Oratoriums wurde nur das italienische Libretto, nicht aber die im Druck erschienenen Rezitative publiziert, die zu Lebzeiten Haydns in Wien aufgeführt wurden. Nicht gesichert ist allerdings, ob Haydn selbst diese Aufführungen dirigierte.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
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scher oder italienischer Opern in der Originalsprache, so etwa Humperdincks Königskinder in New York im Jahr 1910. Es folgen exemplarische Untersuchungen von Übersetzungen, die sehr eng zur Werkgeschichte und damit auch zur Libretto-Edition gehören.
Samson et Dalila/Samson und Dalila Im Hoftheater Weimar wurde Samson et Dalila von Ferdinand Lemaire und Camille Saint-Saëns am 2. Dezember 1877 als Simson und Delila in der deutschen Übersetzung des Wagnerianers Richard Pohl in Anwesenheit des Komponisten uraufgeführt.5 Im Notenbestand des Deutschen Nationaltheaters in Weimar ist die dreibändige handschriftliche Partitur der Uraufführung erhalten, in der die deutsche Übersetzung mit roter Tinte eingetragen ist.6 Pohl hatte zuvor Béatrice et Bénédict (1862)7 von Berlioz, wohl mehrere Bühnenwerke Pauline Viardots, darunter Le Dernier Sorcier (1867), übersetzt und ließ später die Übersetzung von Glinkas Das Leben für den Czar folgen. Hinzu kommen die lange maßgebenden Übersetzungen der Schriften von Berlioz in vier Bänden und Artikel von Liszt. Simson und Delila, so der Titel von Pohl, wurde zum großen Erfolg zunächst in Deutschland, in Frankreich erst mehr als ein Jahrzehnt später. Paul Dukas, der trotz berechtigter und gut begründeter Kritik am Libretto8 mit Hochachtung von „l’opéra
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Hugh Macdonald nennt in seinem Artikel „Samson et Dalila“ (Hugh Macdonald: Art. Samon et Dalila. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 4. New York u. a. 1997, S. 158–160) den Übersetzer nicht. Félix Clément und Pierre Larousse dagegen erwähnen Pohl (Félix Clément, Pierre Larousse: Dictionnaire des opéras, revu et remis à jour par Arthur Pougin. Paris 1897, S. 1999). Trotz viermaliger Nennung der Uraufführung der Oper in Weimar bleibt der Name des Übersetzers in Dagmar Gilchers Monographie (Dagmar Gilcher: „Sans y arriver jamais“ – „ohne jemals anzukommen“. Studien zum Opernschaffen von Camille Saint-Saëns. Kaiserslautern 2005, S. 20, 51, 66 und 197) ausgespart. In allen Librettodrucken und Ausgaben des Klavierauszuges mit dem Namen des Übersetzers Pohl, die nach der Weimarer Uraufführung erschienen, lautet der Titel Samson und Dalila. 6 Siehe Axel Schröter: Der historische Notenbestand des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Sinzig 2010, S. 446. 7 Dallas Kern Holoman (Dallas Kern Holoman: Art. Béatrice et Bénédict. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 1. New York u. a. 1997, S. 363–364) erwähnt nicht, dass die Uraufführung in deutscher Sprache stattfand und wer der Übersetzer war. In seinem Artikel „Berlioz“ (ebd., S. 436) bemerkt er lediglich: „after the première in August 1862, Richard Pohl presented it in Weimar.“ Hellmuth Kühn (Hellmut Kühn: Art. Berlioz. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, Bd. 1. München 1986, S. 311) nennt Pohl als Übersetzer. Rainer Schmusch (Rainer Schmusch: Art. Pohl. In: Dictionnaire Berlioz. Hrsg. von Pierre Citron und Cécile Reynaud mit Jean-Pierre Bartoli und Peter Bloom. Paris 2003, S. 430) nennt zwar Pohl als Übersetzer von Schriften und von Béatrice et Bénédict von Berlioz, nicht aber dass sie in deutscher Übersetzung am 9. August 1862 in Baden-Baden uraufgeführt wurde: „Il établit la version allemande, exécutée en 1863 à Weimar et Baden.“ (ebd.) 8 Die „ouverture politico-sentimentale“ des Stoffes gegenüber der Darstellung im Alten Testament kritisiert er und wertet sie als „d’intérêt purement local“ (Paul Dukas: Les Écrits de Paul Dukas sur la musique. Paris 1948, S. 68). Er vermutet, die besten Verse darin stammten von Saint-Saëns. Voltaires Libretto Samson für die nicht fertiggestellte Oper Rameaus bezeichnet er als „singulier salmigondis“
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le plus remarquable peut-être qu’eût produit l’école française dans ces vingt dernières années“9 sprach, erwähnt das „long exil“10 der Partitur. Lange bevor Samson et Dalila zum ersten Mal auf der Bühne der Opéra in Paris gezeigt wurde, war das Werk in französischer Sprache in Brüssel 1878 konzertant, 1882 am Stadttheater Hamburg unter Leitung von Saint-Saëns in Deutsch und erst danach szenisch in der Originalsprache im Théâtre des Arts in Rouen (3. März 1890), in mehreren anderen französischen Städten sowie in Genf und Monte Carlo aufgeführt worden, bevor es am 31. Oktober 1891 zum ersten Mal in Paris auf der Bühne des Théâtre Lyrique de l’Eden und am 23. November 1892 in der Opéra in Szene ging.11 Dort erlebte die Oper in weniger als drei Jahren dann allerdings 100 Aufführungen. Für die erste Inszenierung in der Pariser Opéra erweiterte Saint-Saëns lediglich das Prélude zum dritten Akt und fügte den „Réveil des prêtresses“ im Bacchanal hinzu. Den Partiturdruck brachte 1877 im Jahr der Uraufführung Durand heraus. Dieser wie der Erstdruck des Klavierauszugs erschienen mit französischem und deutschem Text.12 Neben den deutsch-französischen Klavierauszügen von Vokalwerken Berlioz’ gehört der von Samson et Dalila zu den frühesten dieser Art und ist vermutlich, wie die Partitur der Oper, der erste in Frankreich erschienene zweisprachige Erstdruck. Die Aufführungen in mehreren deutschen Städten, einschließlich der erwähnten Hamburger Aufführung unter Leitung des Komponisten, belegen, wie wichtig die deutsche Fassung der Oper war. Die Didaskalien der frühen Libretti und der Musikdrucke von Samson und Dalila weichen in Details voneinander ab, sind ansonsten mehr oder weniger wörtlich übertragen. Pohl hat Einzelheiten eingefügt und sich inhaltliche Freiheiten erlaubt, so im zweiten Bild des dritten Akts: Le Grand-Prêtre de Dagon entouré des princes Philistins. Dalila, suivie des jeunes Philistines, couronnées de fleurs, des coupes à la main. Une foule de peuple remplit le temple. Le jour se lève.
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Der Oberpriester, von vornehmen Philistern und Anführern der Krieger umgeben, auf erhöhtem Platze. Dalila inmitten junger Mädchen mit Blumen geschmückt, Trinkschalen und Kannen in den Händen. Eine grosse Menge von Volk erfüllt alle Tempel-Räume. Der Tag bricht an.
(S. 70). Zur Bedeutung des Librettos für den Komponisten im Allgemeinen bemerkt er, „la question du poème bon ou mauvais est une question de vie ou de mort pour le musicien (ebd., S. 69). Ebd., S. 65. Ebd., S. 73. Julius Korngold (Korngold 1922 [Anm. 2], S. 151) spricht von einer „Karriere im Schneckentempo“ dieser Oper. Klavierauszug, Durand et fils D.S. 2186 (264 Seiten und Libretto separat, nicht paginiert, französischer Text über deutschem Text notiert, Beginn des Klavierauszugs mit S. 9) bilingual wie der Klavierauszug D.S. 6935 (274 Seiten, beginnt mit S. 1, deutscher Text über dem französischen Text notiert): Textänderung S. 41/49 oben, Klavierreduktion identisch bis S. 186/194, in D.S. 6935 ist das Prélude erweitert, ab S. 188/198 wieder gleicher Notentext. D.&S. 5583 nur französischer Text, 185 Seiten, Klavierarrangement gleich.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
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Vor der „invocation“ gibt es wiederum detailliertere Angaben bei Pohl: Dalila et le Grand-Prêtre se dirigent vers la table des sacrifices, sur laquelle se trouvent les coupes sacrées. Un feu brûle sur l’autel qui est orné de fleurs. Dalila et le GrandPrêtre, prenant les coupes, font une libation sur le feu sacré qui s’active, puis disparaît, pour reparaître au 3e couplet de l’invocation. Samson est resté au milieu de la scène, ayant près de lui l’enfant qui le conduit; il est accablé par la douleur et semble prier.
Dalila und der Oberpriester wenden sich gegen den Opferaltar, besteigen seine Stufen, und ergreifen die heiligen Gefässe. Auf dem mit Blumen geschmückten Altar wird ein Opferfeuer entzündet. Dalila und der Oberpriester giessen aus den heiligen Gefässen Trankopfer in die Flamme, welche auflodert, dann wieder verschwindet, aber bei der dritten Strophe des Opfergesanges doch empor schlägt. Samson steht in der Mitte der Scene einsam mit seinem Knaben. Vom Schmerz tief gebeugt, scheint er im Gebet versunken.
Wie zu dieser Zeit noch üblich, übersetzte Pohl die gereimten Verse der Partitur in Verse – in jedem Fall hielt er sich bei Abweichungen zwischen Libretto und Partitur an die Version in der Partitur. Pohl respektierte sehr weitgehend die Voll- oder Auftaktigkeit sowie die weiblichen und männlichen Reimkadenzen, um Fehler der Prosodie und Veränderungen des Rhythmus so weit wie möglich zu vermeiden. Ohne letztere kommt er allerdings nicht aus, wie noch zu zeigen ist. Im Gegensatz zu Lemaire verwendet er aber mehrfach den Anklang bzw. die Assonanz, so etwa in der ersten Szene des dritten Akts, ein Beispiel, in dem er in der zweiten Strophe inhaltlich erheblich von Lemaire abweicht. Samson Vois ma misère, hélas! Vois ma détresse! Pitié! Seigneur! Pitié pour ma faiblesse! J’ai détourné mes pas de tes chemins: Bientôt de moi tu détournas la main.14
O, sieh mein Elend, Herr! Sieh meine Qualen;13 Erbarm dich mein, der, ach! so tief gefallen! Weil sich mein Fuß verirrt vom rechten Pfad, Hat fürchterlich gestraft mich deine Hand.
Je t’offre, ô Dieu, ma pauvre âme brisée! Je ne suis plus qu’un objet de risée! Ils m’ont ravi la lumière du ciel; Ils m’ont versé l’amertume et le fiel!
Wann willst du enden, Herr, mein bittres Leiden? Wann mich befreien aus der Hand der Feinde? Sie haben mich des Augenlichts beraubt Und häufen Schmach und Hohn nun auf mein Haupt.
Die beiden letzten Verse der Chorstrophe sind Blankverse: Chœur Dieu nous confiait à ton bras, Pour nous guider dans les combats; Samson! Qu’as-tu fait de tes frères? Qu’as-tu fait du Dieu de tes pères?
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Gott hat uns deinem Arm vertraut, Wir hatten fest auf dich gebaut! Samson! Was tatest du den Brüdern, Was deiner Väter Gott du an?
Es gibt zahlreiche Textvarianten zwischen dem bei Ahn erschienenen Librettodruck und dem Text des bei Durand et Fils erschienenen Klavierauszugs. 14 In der Partitur lautet das Wort: „retiras“.
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Die Aufteilung von Lang- in Kurzversen ist ein beliebtes Verfahren, das bei der Übersetzung von gesungenen Texten aus der Fremdsprache sehr oft angewendet wird, von dem auch Pohl und mehr noch Kalbeck reichlich Gebrauch macht. Im Hinblick auf Inhalt und Semantik der übersetzten Verse nimmt Pohl sich oftmals große Freiheiten, wie am vorigen Beispiel bereits zu sehen war, anders gesagt, er vermag in vielen Fällen nicht die Aussage Lemaires wiederzugeben. In einer der schwächsten Passagen seiner Übersetzung der im Übrigen auch qualitativ wenig überzeugenden französischen Verse, in der sich Dalila als wahre Liebhaberin voller Hingabe verstellt, worauf ein alter Hebräer Samson vor dieser Frau warnt, führt Pohl bei der Wiederaufnahme eine Verswiederholung ein, die mit jener Lemaires nicht übereinstimmt: Dalila À la nuit tombante J’irai, triste amante, M’asseoir au torrent, L’attendre en pleurant Chassant ma tristesse, S’il revient un jour, À lui ma tendresse Et la douce ivresse, Qu’un brûlant amour Garde à son retour!
Ich ruf’ ihn mit Tränen, Sein harr’ ich mit Sehnen, Bis er wiederkehrt, Die Liebe erhört. Dann will ich ihn lassen Nimmermehr von mir, Ihn fester umfassen, Küssen für und für! O, du wonnige selige Zeit, O wärst du nicht mehr weit.
Le Vieillard Hébreux L’esprit du mal a conduit cette femme Sur ton chemin, pour troubler ton repos. De ses regards fuis la brûlante flamme! C’est un poison qui consume les os!
Ein böser Geist hat dies Weib auserkoren, Dir zum Verderb, denn Verrat brütet sie, Folge ihr nicht, sonst bist du verloren, Hör’ meinen Ruf, eh’s zu spät: fliehe sie.
Dalila Chassant ma tristesse S’il revient un jour, A lui ma tendresse A lui ma tendresse Et la douce ivresse Qu’un brûlant amour Garde à son retour!
Dann will ich ihn lassen Nimmermehr von mir, Dann will ich nie ihn lassen, Ihn fester umfassen, Ihn küssen, ihn küssen! Wonnige, selige Zeit! O wärst du nicht mehr weit!
Auch die sehr freie Übersetzung der Hymne der alten Hebräer in I,5 kann nicht als gelungen angesehen werden, denn es fehlen folgende inhaltliche Aspekte: der Schwache wurde zum Herrn über den Starken, der ihn unterdrückte; Gott schlug den Überheblichen und Verräter, dessen Stimme ihn beleidigte, beide Gedanken ersetzt durch „Aus tiefer Not hat Er uns gerettet“ und „Er schlug den Feind, der uns lange gekettet“.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
Vieillards Hébreux Hymne de joie, hymne de délivrance, Montez vers l’Éternel! Il a daigné dans sa toute-puissance Secourir Israël! Par lui le faible est devenu le maître Du fort qui l’opprimait! Il a vaincu l’orgueilleux et le traître Dont la voix l’insultait!
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Lobet den Herrn! – Ihr Jubellieder, Steigt zum Himmel hinan! Er war mit uns, Er erlöste uns wieder, Er hat Großes getan! Aus tiefer Not hat Er uns errettet Allein durch seine Macht. Er schlug den Feind, der uns lange gekettet, Ihm sei Dank gebracht!
Die erwähnte Beachtung des Wechsels von Auf- und Volltaktigkeit (kurzen und langen Auftakten) ist in der Verfluchung des Oberpriesters in I,4 zu sehen, wobei hier der so sprachbegabte Saint-Saëns zu Beginn zweimal einen Verstoß gegen die korrekte Prosodie produziert hat („maudit“) und das „veut“ wie Pohl das „euch“ durch den quasi-synkopischen Einsatz hervorhebt. Pohl vermeidet diesen Fehler, er nahm sich wiederum bezüglich der Wiedergabe des Versinhalts Freiheiten:
Bei „ses os“ vermeidet Saint-Saëns die falsche Betonung, indem er die Achtelpause auf die Takteins setzt. Ein vergleichbarer Wechsel von Auf- und Volltakt findet in der Hymne auf den Frühling Dalilas (I,6) statt. Wiederum ein Betonungsfehler bei Saint-Saëns („Et ta douce“). Im Übrigen ist das Melisma auf „mystère“ bei dem Wort „Schranken“ deplatziert.
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Metrische Abweichungen vom französischen Vers in der Übersetzung führen zu Veränderungen im musikalischen Verlauf, die sich auf den Charakter der Musik auswirken, hier die Einfügung eines Auftakts sowie das Ersetzen einer weiblichen durch eine männliche Reimkadenz:
Zu den gravierenden Mängeln der Übersetzung wegen der Missachtung der musikalischen Semantik gehört einer der Chöre der Hebräer in I,1: I,1, Le Chœur Nous avons vu nos cités renversées Vom Feinde sah’n wir unser Land verwüsten. Et les gentils profanant ton autel. Von frecher Hand ward Dein Altar entweiht. Et sous leur joug nos tribus dispersés In schwerem Joch die tapfern Helden büßten, Ont perdu, jusqu’au nom d’Israël! Die Gut und Blut zu opfern uns bereit. N’es-tu donc plus ce Dieu de délivrance Bist du nicht mehr der Gott, der unsre Väter Qui de l’Égypte arrachait nos tribus. Einst wunderbar aus Ägypten befreit? Dieu!15 Herr! As-tu rompu cette sainte alliance. Ward Israel an dem Bund der Verräter, Divins serments, par nos aïeux reçus? Den es beschwor einst in der Knechtschaft Zeit?
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Fehlt im Librettodruck.
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Abgesehen von dem prosodischen Fehler bei „Die Gut und Blut“ blieb Pohl die musikalische Semantik an zwei Stellen des Chores verschlossen, bei „rompu“ – Pausentakt, der das Abbrechen bzw. die Auflösung der heiligen Allianz zum Ausdruck bringt, bei Pohl eine unmotivierte Unterbrechung des Satzverlaufs – und die Hervorhebung von „divins serments“ – „Den es beschwor“, der göttliche Schwur wird zur Beschwörung des Volkes Israel degradiert. In Dalilas Arie, in der sie Amor um Hilfe in ihrem Kampf gegen Samson anruft und ihren Triumph über Samson ankündigt, semantisierte Saint-Saëns das Wort „braver“ – d. h. dem unbesiegbaren Samson die Stirn bieten – dadurch, dass das in die Tiefe abstürzende Melisma den abrupten Abstieg Samsons vom siegreichen Helden zum geblendeten hilflosen Opfer versinnbildlicht. Pohls Wort bzw. Silbe „lache“ wird dieser Semantik in keiner Weise gerecht.
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Auf ein beliebtes Verfahren bei Übersetzungen verzichtet auch Pohl nicht: Anstelle einer Silbe pro Ton im Original, d. h. Syllabik, setzt er eine Silbe auf zwei oder mehr Töne, oder, im Gegensatz dazu, wird ein längerer Ton rhythmisch in kleinere Werte unterteilt, um mehrere Silben unterzubringen. Zwar vermeidet Pohl jegliche diastematische Veränderungen in der Melodie, aber auch rhythmische oder metrische Eingriffe können den Charakter der Musik beeinträchtigen. Abgesehen von der Rhythmik – der diesbezügliche Eingriff bei „joi-e“ erscheint kaum von Belang – liegt bei dem Vers „tön’t ihre Jubellieder, / Steigt zum Himmel hinan“ das vor, was man als „unglückliches Operndeutsch“ bezeichnet hat.
Angesichts der Mängel, die aus den ausgewählten Beispielen aus Pohls Übertragung hervorgehen, erstaunt es, dass Pohls Übersetzung auf allen deutschen Bühnen aufgeführt und nie durch eine neue Übersetzung ersetzt wurde.
Werther Das „drame lyrique“ Werther der Librettisten Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann, vertont von Jules Massenet, wurde am 16. Februar 1892 in der Übersetzung von Max Kalbeck in Wien uraufgeführt.16 Kalbeck war ein erfahrener Über16
Félix Clément und Pierre Larousse (Clément, Larousse 1897 [Anm. 5], S. 1161) erwähnen erst am Ende ihres Artikels „Werther“ die Wiener Uraufführung; weder sie noch Rodnay Milnes (Rodney Milnes:
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setzer, der insgesamt dreißig singbare Opernübersetzungen vorgelegt hat, 17 aus dem Italienischen, 6 aus dem Französischen, 3 aus dem Tschechischen, je 2 aus dem Russischen und Ungarischen.17 Die Wiener Uraufführung in drei Akten hat insofern für die Partitur eine gewisse Bedeutung, als auf Verlangen des belgischen Tenors Ernest Van Dyck nach Fertigstellung der Partitur die „désolation“ eingefügt worden sein soll. Die Premiere in Französisch, jetzt in vier Akten, fand knapp ein Jahr später am 16. Januar 1893 in der Opéra-Comique statt. Im Gegensatz zu Samson et Dalila erschien von Werther keine zweisprachige französisch-deutsche, sondern nur eine französisch-englische Ausgabe.18 Bei der Inszenierung hielt man sich in Wien nicht streng an die Angaben im Libretto der drei Autoren, um u. a. die von Max Kalbeck kritisierten Abweichungen vom Roman Goethes rückgängig zu machen (Örtlichkeit, Handlungszeit), wie bereits die Didaskalie zu Beginn des ersten Akts zeigt.19
Art. Werther. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 4. New York u. a. 1997, S. 1141) nennen Kalbeck als Übersetzer. Christoph Ghristi und Pierre Vidal weisen nur knapp auf die Uraufführung in Wien hin: „Massenet alla donc le créer à Vienne, dans une traduction allemande, avec Ernest Van Dyck et Marie Renard“ (Christoph Ghristi, Pierre Vidal: Art. Werther. In: La Belle Époque de Massenet. Hrsg. von Christoph Ghisi und Mathias Auclair. Montreuil 2011, S. 122). Den Erfolg der Uraufführung kommentiert Massenet nur mit wenigen Worten: „Au commencement de cette même année, on avait joué Werther, à Vienne, et un ballet: le Carillon. Les collaborateurs applaudis en étaient notre Des Grieux et notre Werther allemand: Ernest Van Dyck et de Roddaz“ (Jules Massenet: Mes souvenirs. 1848–1912. Paris 1912, S. 188). 17 Die Statistik stammt von Roman Rocek (Roman Rocek: Übersetzer für die Weltsprache Musik. Zu den Opernbüchern Max Kalbecks. In: Max Kalbeck. Skizzen einer Persönlichkeit. Hrsg. von Uwe Harten. Tutzing 2007, S. 193). Leider nennt Rocek nur elf Titel von übersetzten Opern. Ihm geht es um die Probleme der Übersetzung der Verkauften Braut und um den Vergleich und die Bewertung der Übersetzungen von Kalbeck, von Karel Sabina und von Kurt Honolka. Einerseits spricht er von Kalbecks „Butzenscheibenlyrik“ und „recht penetrantem Operndeutsch“ (S. 195), andererseits von Kalbeck als „geschicktem und gar nicht so anspruchslosem Verseschmied“ (S. 213). Am Beispiel des Eingangschors zeigt Rocek auf, wie Kalbeck durch die Vermeidung der im tschechischen Original propagierten gesellschaftlichen Ungebundenheit und freien Liebe die Chancen für die Aufführungen und den Erfolg der Oper förderte. Nicht nur bezogen auf die Verkaufte Braut meint er, bei der Opernübersetzung bedürfe es einer „Neustrukturierung des sprachlichen Zusammenhangs“, weshalb es auch legitim sei, am „musikalischen Kontext zu rütteln“ (S. 196), mit anderen Worten, Rocek legitimiert die Veränderungen an der Musik. 18 Jules Massenet: Werther. Drame lyrique. Paris: Au Ménestrel, Heugel & Cie 1892. Klavierauszug: G.H. et Cie 1812 (+). Heugel gab auch Einzelnummern mit italienischem Text heraus: Jules Massenet: Werther, dramma lirico [...], versione ritmica italiana di G. Targioni-Tozzetti e G. Menasci. Paris: Au Ménestrel, Heugel, 1909: Invocazione alla natura „O natura di grazia piena“; Scena della dichiarazione „Di viderci dobbiam“; Canto di Werther „Ah! perchè m’hanguarda“; Desolazione di Werther „Avrei sovra il mio petto“ (f-Moll); Arietta di Sofia „Gaio il sol“; La lettera „Vi scrivo qui da la stanzetta mia“; Il pianto „Il pianto che si vuol frenar giù dentro il core“; Lied d’Ossian „Ah! non mi ridestar, o soffio dell’April!“. 19 Max Kalbeck: Werther. Von Jules Massenet. (1892). In: Opern-Abende. Beiträge zur Geschichte und Kritik der Oper, Bd. 2. Berlin 1898, S. 138: „Daß sie [die französischen Librettisten des Werther] Wetzlar, den einstigen Sitz des Reichskammergerichts, in die Umgegend von Frankfurt verlegen und das Dorf Wahlheim (Garbenheim) eine kleine Stadt sein lassen, verzeihen wir ihnen ebenso gern, wie dass sie die Handlung um ein Jahrzehnt vorwärts datiren.“ Kalbeck macht nur eine Andeutung an seine Übersetzung: „Nun ähnlich wie Werther mit seinem neuen blauen Frack, ergeht es uns mit der aus dem
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Didaskalie I,1
À gauche, la maison à large baie vitrée, avec une terrasse praticable, couverte de feuillages, précédée d’un escalier de bois – à droite, le jardin. – Au fond, une petite porte à claire-voie. – Au loin, les maisons du bourg et la campagne. – Au premier plan, une fontaine. Au lever du rideau, le bailli est assis sur la terrasse, au milieu de ses six enfants, qu’il fait chanter. Le rideau se lève sur un grand éclat de rire, très prolongé, des enfants.
Das Haus des Amtmanns (bei Wetzlar, Juli 1772). Links das praktikable Haus. Innen ein altdeutsches Speisezimmer mit getäfelter Balkendecke; auf dem Buffet blanke zinnerne Teller und Kannen; ein lederner Lehnsessel, aus Holz geschnitzte Stühle, eine alte Standuhr mit Gehäuse aus Nussbaum. Eine Thür führt in Lottes Zimmer. Vor dem Hause eine praktikable Terrasse mit Laubwerk, zu welcher von beiden Seiten eine gangbare Holztreppe hinaufführt, die den Eingang des Hauses vermittelt. Ehe man letzteres betritt, muss man einen gläsernen Vorbau passiren, durch welchen das Speisezimmer von aussen zu übersehen ist. Rechts der Garten. Im Hintergrunde eine kleine Thür mit freiem Ausblick, an welche sich ein lebendiger Heckenzaun anschliesst. Dahinter in einiger Entfernung die Häuser des Ortes und das Feld. Vorn ein Springbrunnen. Sobald der Vorhang aufgeht, sieht man den Amtmann auf der Terrasse unter seinen sechs kleinen Kindern sitzen; das Jüngste hält er auf den Knieen; er gibt ihnen eine Singlection. Später erscheinen Johann und Schmidt, die an der Gartenthür stehen bleiben und zuhören. (Der Kinderchor hinter der Hecke.) Allgemeines Gelächter der Kinder.
20 Kalbeck ergänzte viele Details. Die Beschreibung des Mobiliars – „altdeutsches Speisezimmer, getäfelte Balkendecke, zinnerne Teller und Kannen, lederner Lehnsessel, aus Holz geschnitzte Stühle, Standuhr“ – passt zum altdeutschen Einrichtungsstil der 1890er Jahre im deutschen Sprachraum, nicht aber zur Angabe des Ortes und der Zeit: die Zeitangabe bei Kalbeck lautet Juli 1772, diejenige Massenets „juillet 178...“. Auch der „gläserne Vorbau“ oder der„lebendige Heckenzaun“ stammen nicht aus dem französischen Original. Kalbeck behält jedoch die wichtigsten Elemente der Bühne bei: praktikable Terrasse, Holztreppe, den Garten rechts, die kleine Tür mit freiem Ausblick. Bei der Beschreibung der auf der Bühne befindlichen Personen fügt er auch über die Angaben des französischen Originals hinausgehende Details hinzu.
Französischen ins Deutsche zurückübersetzten Dichtung, der die Pariser Librettisten ein so bauschiges Gewand angefertigt haben.“ Ebd. 20 Wenn nicht anders angegeben, sind Didaskalien und Text im Erstdruck des Librettos und im Klavierauszug identisch.
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Zu Beginn des zweiten und dritten Akts stimmen Kalbecks Zeitangaben mit den Klavierauszügen Massenets überein („im September desselben Jahres in Wahlheim“/„en septembre, même année“, „am 24. December, nachmittags 5 Uhr“/„le 24 Décembre, 5 heures du soir“), während sie im französischen Librettodruck fehlen. Erwähnenswerte Veränderungen befinden sich nur noch in der Didaskalie zu Beginn des dritten Akts, wo der bei Massenet beschriebene große grüne Kaminofen fehlt und das „clavecin“ durch ein „Klavier“ ersetzt und damit die zur Spielzeit passende Menuett-Szene im dritten Akt in eine zeitgenössische Klavier-Szene verändert ist. In der Pariser vieraktigen Version des Werther wird im ersten mit „nuit de Noël“ betitelten Tableau nur die „Symphonie, nuit de Noël“ gespielt, während des zweiten, „la mort de Werther“, setzt sich die Handlung fort. In Wien ist der dritte Akt in zwei Bilder gegliedert, wobei das zweite dem zweiten des vierten Akts bei Massenet entspricht und die „Symphonie“ des ersten Tableaus in Massenets viertem Akt bei heruntergelassenem Vorhang vorgetragen wird, d. h. in Wien wurde die „Symphonie“ vor geschlossenem Vorhang gespielt. 21
Werther, IV. Akt
1er tableau, la nuit de Noël On aperçoit la petite ville de Wetzlar, vue à vol d’oiseau, la nuit de Noël. La lune jette une grande clarté sur les arbres et les toits, couverts de neige. Quelques fenêtres s’éclairent peu à peu. Il neige. Nuit dans la salle. La musique continue jusqu’au changement de décor.21
2e tableau, la mort de Werther Le cabinet de travail de Werther. Un chandelier à trois branches garni d’un réflecteur, éclaire à peine la table chargée de livres et de papiers, et sur laquelle il est placé.22
22
21 22
Diese Didaskalie fehlt im Klavierauszug. Im Livret fehlt: „et sur laquelle il est placé“.
Wien, zweites Bild des III. Akts: „Werther’s Tod“
Bei Lotten’s letzten Worten senkt sich ein Vorhang herab, der die Stadt Wetzlar in der Christnacht aus der Vogelperspektive sehen lässt. Die von Schnee bedeckten Dächer und Häuser flimmern im matten Licht des Mondes. Mehrere Fenster sind erleuchtet. Das Ganze sieht einsam und traurig aus. Im Zuschauerraume völliges Dunkel. Die Musik spielt bis zur Verwandlung fort. Eine ferne Glocke schlägt. Windewehen.
Sobald der Vorhang wieder aufgeht, blickt man in Werthers Arbeitscabinet. Auf dem Tische, der mit Büchern und Papieren bedeckt ist, brennt ein dreiarmiger Leuchter mit Reflektor, welcher kaum die nächsten Gegenstände erhellt.
196 Au fond, un peu sur la gauche, en pan coupé, une large fenêtre ouverte, au travers de laquelle on aperçoit la place du village et les maisons couvertes de neige. Une des maisons, celle du bailli est éclairée. Au fond, à droite, une porte. La clarté de la lune pénètre dans la chambre.23 Werther, mortellement frappé, étendu près de la table.24 Sc. 1ere, Werther, puis Charlotte La porte s’ouvre brusquement, Charlotte entre. S’arrêtant aussitôt et, s’appuyant contre le chambranle de la porte, comme si le cœur lui manquait subitement.25 Charlotte, appelant avec angoisse.
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Hinten nach links, etwas zur Seite, ein grosses offenstehendes Fenster, durch welches man den Markt, die bescheidenen Gassen und Häuser übersieht; das Haus des Amtsmanns ist erleuchtet. Hinten rechts eine Thür. Schwacher Mondschein. Im Vordergrunde liegt Werther schwer verwundet auf der Diele hingestreckt.
Die Thür wird aufgerissen. Lotte tritt ein. Sie hält sich am Thürrahmen fest, als stockte ihr das Herz. Lotte ruft voller Angst.
Einige Details der Didaskalie, wie etwa die Beschreibung der Gassen und Häuser Wetzlars als „bescheiden“, fügte Kalbeck neu ein, wobei die Sichtweise des Wieners deutlich wird, für den Wetzlar eine ärmliche Provinzstadt war. In Kalbecks Übersetzung, die qualitativ derjenigen Pohls überlegen ist, ergeben sich auch einige der üblichen Probleme bei singbaren Übertragungen vom Französischen ins Deutsche. Erhebliche rhythmische Abweichungen vom Notentext Massenets sind u. a. in der zehnten Szene des ersten Akts zu beobachten. Kalbecks „coupe“ der Verse ist darin oftmals ganz verschieden; er benötigt zwei Verse für einen längeren Vers, die Versgrenzen stimmen oftmals nicht mit jenen des französischen Librettos überein, zwischen gereimten Versen gibt es Blankverse, die Länge der Verse wechselt sehr rasch: 23 24 25
Werther Werther, überzeugt. Mon âme a rencontré votre âme. Verwandt sind unsre Seelen beide, Charlotte, et je vous ai vue assez26 O Lotte!/Ich kenne Dich genug, Pour savoir quelle femme Dass ich Dich unterscheide Vous êtes! Von Allen. Charlotte Lotte, lächelnd. Vous me connaissez? Ist’s kein Selbstbetrug? Werther, grave et tendre. Werther, zärtlich. Vous êtes la meilleure ainsi que la plus belle Du bist ein holder Engel!/Das edelste Des créatures ... Geschöpf, ganz ohne Fehl und Mängel! Charlotte, confuse. Lotte, verwirrt. Non! Ach nein ... Werther Werther Faut-il que j’en appelle Ja, so hab ich Dich gleich erkannt,
23 Livret:
„Seul, au premier plan, Werther“. „est étendu à terre“. 25 Livret: „Charlotte, entrant brusquement et appelant, avec angoisse.“ 26 Livret: „Je vous au vue assez“. 24 Livret:
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A ceux que vous nommez vos enfants? ... Werther O Charlotte, ange du devoir, La bénédiction du ciel sur toi repose! Charlotte Si vous l’aviez connue! Ah! la cruelle chose De voir ainsi partir ce qu’on a de plus cher! Quels tendres souvenirs et quel regret amer! Pourquoi tout est-il périssable? ...
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Da ich Dich bei den Kindern fand! Werther O glaube, Lotte! Sie blickt jetzt herab Und senket auf Dein Haupt des Paradieses Segen! Lotte O käme sie uns entgegen!/Was ist so grausam, als zu wissen,/Dass uns das Liebste von der Welt für immer wird entrissen?/Zwar keinem bleibt erspart Erfahrung solcher Art!/Warum doch muss vergehen, was so köstlich?
Werther Werther Rêve! Extase! ô bonheur! Je donnerais ma vie Träume der Wonne, des Glückes!/Hin gäb ich Pour garder à jamais ces yeux, ce front charmant, gern mein Leben Für den Glanz dieses Blickes,/ Cette bouche adorable, étonnée et ravie, Die Stirn, den süssen Mund, Dem Worte Sans que nul à son tour les contemple reinster Lieb und Unschuld nur entschweben! un moment! ... Wenn nur einmal dies Alles mein/Wär allein! Le céleste sourire! ... Dies reizende Lächeln! O Charlotte, je vous aime et je vous admire!27 Theure Lotte,/Die ich liebe,/Die ich hoch verehre,/Der ich ganz gehöre! Charlotte revenant à elle, gravit rapidement les Lotte kommt zur Besinnung und steigt rasch die marches du perron. Treppenstufen hinan. Nous sommes fous! ... rentrons! O lassen Sie mich gehn! Werther, d’une voix altérée et la retenant. Werther hält sich zurück, mit erregter Stimme. Mais nous nous reverrons? O sprich, wann wir uns wiedersehn? Le bailli, dans la maison, en rentrant, à haute voix:28 Amtmann ruft von Weitem. (parlé) Charlotte! Charlotte! Albert est de retour! Lotte, Lotte! kommt herbei. Denk Lotte! Albert ist schon da! Charlotte, défaillante. Lotte wankt. O Gott! Albert? Werther, interrogeant Charlotte. Werther, fragend zu Lotte. Albert? Wer? Albert? Charlotte, bas et tristement à Werther. Lotte leise und traurig zu Werther. Oui, celui que ma mère Auf ihrem Todtenbette M’a fait jurer d’accepter pour époux, Traf meine Mutter diese Wahl.
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Im Libretto fehlt „O Charlotte“. Libretto: „Voix du Bailli appelant: Charlotte“. Scène 11 La Bailli, accourant, monte rapidement les marches de la terrasse et disparaît dans la maison. Charlotte!... Albert est de retour!... Werther, dans un grand trouble. Ah! votre père. Ce retour et ce nom! Charlotte , à demie voix. Oui, celui que ma mère... 28
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encore à voix basse, et comme s’accusant. Noch immer leise, wie sich anklagend. Gott kennt mein Herz! Nur einmal, eben jetzt Dieu m’est témoin qu’un instant près de vous J’avais oublié le serment qu’on me rappelle! Vergaß ich meinen Eid, um Ihretwillen! Werther se cache le visage avec ses mains, Werther verbirgt schluchzend das Gesicht in den Händen. comme s’il sanglotait. Avec effort. A ce serment restez fidèle! Und diesen Eid sollst Du erfüllen! Moi, j’en mourrai! Charlotte. Ich sterbe gern! O Lotte! Charlotte se retourne une dernière fois.29 Der Amtmann nimmt Lotte um die Mitte und hilft ihr die Stiege hinauf. Lotte wendet sich ein letztes Mal um. Werther, seul, désespéré, lorsque Charlotte Werther allein, verzweifelt, nachdem Charlotte a disparu. verschwunden ist. Un autre! son époux! Ein Andrer, ihr Gemahl!
Kalbecks Sprachniveau entspricht dem des französischen Librettos. Blass und ohne Äquivalent bleiben der Vers „Quels tendres souvenirs et quel regret amer“; das „pourquoi“ der Frage der Kinder ist sinnvoller als das „wo“, und die Formulierung „Teure Lotte, die ich liebe, die ich hoch verehre, der ich ganz gehöre“ würde man gegenüber einer dritten Person verwenden, nicht aber auf diese Weise die Geliebte ansprechen. Entgegen der Angabe im französischen Libretto und im Klavierauszug, in denen zunächst der Amtmann, dann Lotte im Haus verschwinden, wird die Zugehörigkeit Lottes zu Albert in der Inszenierung in Wien zum noch gesteigerten Schmerz Werthers inszeniert: „Der Amtmann nimmt Lotte um die Mitte und hilft ihr die Stiege hinauf. Lotte wendet sich ein letztes Mal um.“ Die Verse Kalbecks, der auf die von Goethe abweichenden indirekten Liebesgeständnisse Charlottes hinweist,30 ziehen eine Reihe von rhythmischen Veränderungen der Singstimme nach sich. Hier sind auch die unterschiedlichen Versanfänge fett markiert.
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Libretto: „Charlotte qui a gravi les marches du perron se retourne une dernière fois avant de disparaître à son tour dans la maison.“ 30 Max Kalbeck (Kalbeck 1898 (Anm. 19), S. 139) spricht von „indirektem Liebesgeständnis“ bei „j’avais oublié le serment qu’on me rappelle/Vergaß ich meinen Eid, um Ihretwillen“ (in der Übersetzung eindeutig formuliert) und „allzu nachsichtigem Gebot“, „Aufschub der Liebe“ sowie „verführerischem Abschied“ bei „je ne saurais vouloir un exil éternel“.
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Werther und Lotte erinnern sich in der dritten Szene des dritten Akts ihrer gemeinsamen Lektüren und ihres gemeinsamen Musizierens. Lotte reicht Werther ein auf dem Cembalo/Klavier liegendes Manuskript mit „Versen“ (im Französischen) bzw. „Liedern“ (bei Kalbeck) von Ossian, in denen die Tragik des Todes von Werther angekündigt ist. III,3 Charlotte, sans voir ce dernier mouvement, est remontée vers le clavecin sur lequel elle a pris un manuscrit; puis elle redescend vers Werther.31 Et voici ces vers d’Ossian Que vous aviez commencé de traduire. Werther, prenant le manuscrit. Traduire! Ah! bien souvent mon rêve s’envola Sur l’aile de ces vers, et c’est toi, cher poète, Qui, bien plutôt, étais mon interprète! Avec une tristesse inspirée.32 Toute mon âme est là! ‚Pourquoi me réveiller, ô souffle du Printemps? Sur mon front je sens tes caresses. Et pourtant bien proche est le temps Des orages et des tristesses! Pourquoi me réveiller, ô souffle du Printemps?33 Demain dans le vallon viendra le voyageur, Se souvenant de ma gloire première. Et ses yeux vainement chercheront ma splendeur: Ils ne trouveront plus que deuil et que misère! Pourquoi me réveiller, ô souffle du Printemps?’ Charlotte, dans le grand trouble.34 N’achevez pas. Hélas! Ce désespoir, ce deuil, on dirait, il me semble ...
Lotte, der die letzte Bewegung Werthers entgangen ist, nimmt ein geschriebenes Heft vom Klavier. Und die Lieder Ossians hier! Sie fingen an, sie mir zu übertragen. Werther nimmt das Heft. Die Lieder!/Ach, mit dem Dichter träumten selig wir! Ja, was mein scheuer Mund/Niemals gewagt zu sagen, Erklingt in ihm, und mein sind seine Klagen, mit inniger Trauer, Er macht allein sie kund. Liest. ‚Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit? Dein Hauch will mir die Stirn umkosen Doch, ach, der Tag des Welkens ist nicht weit! Zu bald nur wird der Sturmwind tosen! Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit? Und kommt der Wandrer dann herab zu mir ins Thal, In meiner Schönheit Fülle mich zu schauen, Sein Blick sucht mich umsonst, erloschen ist der Strahl, Die Stätte, da ich stand, deckt Nacht und bleiches Grauen. Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?’ Lotte in grösster Erregung. Es ist genug! Genug! Ach, nur zu wahr! Wie fühl ich mich so tief erschüttert!
Die Librettisten des Werther schrieben acht Verse (Alexandriner, Zehn- und Achtsilber). Der lastende, düstere Ausdruck der Verse wird durch den Kontrast von „souffle du printemps“/„schöne Frühlingszeit“ im ersten und „le temps des orages et des tristesses“/„Tag des Welkens, Sturmwind tosen“ sowie durch die „gloire première“/ „Schönheit Fülle“ und „deuil, misère“/„Nacht, bleiches Grauen“ erreicht, wobei das französische Original ausdrucksstärker erscheint als die Übertragung Kalbecks. Die Aussage des Liedes steht in engem Zusammenhang mit dem letzten Vers Werthers im
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Libretto: „... manuscrit. A Werther.“ Die Didaskalie fehlt im Libretto. 33 Die Refrainverse fehlen im Libretto. 34 Libretto: „très troublée.“ 32
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dritten Akt vor seinem Abtritt: „Ma tombe peut s’ouvrir“/„Der Nacht bin ich geweiht“, ganz besonders bei Kalbeck.
Durch das zweimalige Aufgreifen des ersten als Refrainvers nach jeweils vier Versen schuf Massenet entgegen der Librettovorgabe eine Refrainform, die dazu beiträgt, die genannten Gegensätze zu verstärken. In der Vertonung des Refrainverses belässt es Massenet nicht bei der Wiederholung, sondern greift bei der ersten Wiederholung diastematisch nur den Beginn der dreitaktigen erstmaligen Vertonung auf; in dieser zweiten erscheint der Refrain dann mit einer harmonischen Veränderung als Abschluss des Liedes. Im vierten bzw. dritten Akt ist in Kalbecks Übersetzung der letzte Teil des Dialogs Werther-Charlotte und der nur drei Takte umfassende gemeinsame Gesang „oublions tout“ vor dem mit „Noël, Noël“ einsetzenden Kinderchor erheblich verändert. Ein Duett mit 13 Versen ist an die Stelle des Dialogs getreten.35 35
Im Klavierauszug G.H. et Cie 1812 (+) (siehe Anm. 18) nach 3 Takten: „oublions tout“. Voix des enfants „Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Charlotte Dieu! ces cris joyeux! ce rire en ce moment cruel! Voix des enfants Jésus vient de naître, Voici notre divin maître, Rois et bergers d’Israël! Werther se soulevant un peu, avec une sorte d’hallucination. Ah! les enfants, les anges. Voix des enfants
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Werther Werther Parle encore! parle! je t’en conjure!36 O rede weiter! Sprich! Lass Dich beschwören! Charlotte Lotte fährt trotz ihrer tiefsten Erschütterung fort. Mais si la mort approche, avant qu’elle te prenne, Nun, da Du sollst erblassen, avec transport, Ah! ton baiser, du moins, je te l’aurai rendu!37 Will ich Dich nimmer lassen! Mit Inbrunst. Que ton âme en mon âme éperdument se fonde! Ja, Deinen Kuss, mein lieber Freund, Dans ce baiser qu’elle oublie à jamais38 Geb ich Dir jetzt zurück! Tous les maux, les chagrins! Beide Qu’elle oublie les douleurs! Fort mit Langen und Bangen, Werther Klagen und Zagen! Tout, oublions tout. Vorbei sind Trauer und Sorgen! Charlotte Heute lacht uns das Glück Tout, oublions tout. Und erwartet kein Morgen! Tous les deux In den Becher der Leiden Tout, oublions tout. Fällt die Perle der Freuden, Und es verrauschen die Wogen der Zeit Sanft in die Ewigkeit. Alles Sehnen gestillt, Alles Wünschen erfüllt! Alles, was uns entzweit, Liegt nun so weit, so weit! Lärm und Gelächter in der Ferne. Die Stimmen der Kinder von weitem aus dem Hause des Amtmanns.
Noël! Noël! Noël! Noël! Werther Oui, Noël! c’est le chant de la délivrance... Voix des enfants Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Werther C’est l’hymne du pardon redit par l’innocence! Voix des enfants Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Noël! Charlotte se rapprochant, effrayée de ce délire qui commence. Werther! Werther de plus en plus halluciné, Pourquoi ces larmes? Crois-tu donc qu’en cet instant Ma vie est achevée? Avec extase, se levant tout à fait. Elle commence, vois-tu bien! La voix de Sophie, La voix des enfants Noël!... (noch lange Szene mit Charlotte und Werther) 36 Fehlt im Libretto. 37 Libretto: „Elle l’embrasse.“ 38 Libretto: „Qu’elle oublie, à jamais, en ce baiser, le monde.“
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Voix des enfants au loin, dans la maison du bailli. Die Kinder Noël! O Nacht, o Weihenacht des Heils! Charlotte, douloureusement. Lotte schmerzlich lauschend. Der alte Sang!/Verhasst ist mir der heitre Klang. Ces cris joyeux, ce rire en ce moment cruel! Charlotte est remontée vers la fenêtre, mais elle Sie kehrt vom Fenster zu Werther zurück. redescend aussitôt vers Werther. Voix des enfants Die Kinder Jésus vient de naître! Christus ward geboren, Der zum Heiland Euch erkoren, Voici notre divin maître Rois et bergers d’Israël.39 Hirten Ihr von Israël. […] […]
In Ermangelung eines zweisprachigen Klavierauszugs von Werther kann erst die Einsicht der Wiener Aufführungspartitur Aufschluss darüber geben, ob der Dialog in Wien durch ein längeres Schlussduett Werther-Lotte ersetzt wurde, wie der Erstdruck des Librettos zeigt. Bisher ist mir nur bekannt, dass der Aufführung die gedruckte Partitur mit handschriftlich eingetragenem deutschem Text zugrunde lag. Kalbeck nimmt sich bezüglich der Didaskalien, der Form seiner Übertragung in Verse und auch durch die Einführung eines Duetts zwischen Lotte und Werther viele Freiheiten, wird aber im Allgemeinen der Aufgabe gerecht, für die Uraufführung eine qualitätvolle, stilistisch angemessene Version zu liefern.
Briséïs Die Thematik der Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum – die junge Briséïs wird von der Mutter unter Druck gesetzt und konvertiert zum Christentum, um ihre Mutter zu retten, und verzichtet dadurch auf ihr Glück mit ihrem heidnischen Liebhaber –, die der Wagnerianer Catulle Mendès vorgeschlagen hatte, faszinierte Emmanuel Chabrier. Dieses „drame en trois actes“, an dem er zwischen Mai 1888 und 1893 arbeitete, sollte die Krönung seines Schaffens werden, aber er konnte vor seinem Tod nur den ersten Akt vollenden, der szenisch zum ersten Mal am 14. Januar 1899 unter der Leitung von Richard Strauss in Berlin aufgeführt wurde. Der Klavierauszug mit deutschem Text allein erschien 1897 bei Enoch in Paris und Litolff in Braunschweig.40 Der vollendete Akt ist sprachlich, musikalisch und dramatisch meisterhaft. Ephraïm Mikhaël und Mendès wählten ein dem antiken Stoff angemessenes hohes Sprachniveau für ihr Versdrama, in dem das Liebesduett der zweiten Szene mit 108 Versen (87 Verse sind hier wiedergegeben), 370 Takten (228 bis zur Intervention des Chores), mit 27 39
Im Libretto folgt: „Noël!“ BRAUT/ VON KORINTH./ (BRISÉÏS)/ DRAMA/ IN DREI AKTEN/ (unvollendet*)/ von/ EMANUEL [sic] CHABRIER./ TEXT VON/ APHRAIM MIKHAËL UND/ CATULLE MENDÈS./ Deutsch von Emma Klingenfeld. [...] Clavierauszug mit Text vom Componisten./ *Nur den ersten Akt hat der Componist vor seinem Tode vollendet./ PARIS/ ENOCH & Cie, ÉDITEURS/ London: ENOCH & SONS,/ New York: BOOSEY & Co / HENRY LITOLFF’S VERLAG IN BRAUNSCHWEIG./ Copyright MDCCCXCVII by ENOCH & Co.
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Tempowechseln und 18 sich rasch ablösenden Tonartenvorzeichnungen in sprachlicher und musikalischer Hinsicht einen Höhepunkt darstellt. Die reine Deklamationsmelodik – die Mehrzahl der Verse sind durch Pausen voneinander getrennt – mit vielen unsanglichen Sprüngen, die Harmonik und Modulationen und die Verlagerung des dramatischen Geschehens ins Orchester sind ohne Wagners Vorbild nicht denkbar. Mikhaël und Mendès bedienen sich der Bühnensprache in hoher Stillage und wählen den klassischen französischen Vers (mit einigen Unregelmäßigkeiten). Die einzigen Verswiederholungen in diesem Duett sind die vier Verse des Schwures von Hylas durch Briséïs. Chabrier folgt mit seiner Musik der Gliederung in acht Abschnitte des hier wiedergegebenen Texts: Begrüßung vor dem Abschied; Ziel der Reise von Hylas; Besorgnis wegen der Gefahren der Reise bei Briséïs; Befürchtung, Hylas könne einer exotischen Schönen erliegen und Liebesschwur des Hylas, wiederholt von Briséïs; die Vorstellung, wahre Liebe bestehe über den Tod hinaus oder im gemeinsamen Tod; Hylas hält der Vision des gemeinsamen Todes das gemeinsame glückliche Leben entgegen; die Projektion des zukünftigen Glücks; Vorahnung der Hochzeit. Das Vokabular des Todes, des Schicksalhaften („funeste“, „péril“, „peur“, „effroi“, „tempête haineuse“, „sommeil funèbre“, „sépulture“, „sépulcre odieux“, „fiancée de la tombe“, „mort“, „tombeau nuptial“) dominiert über das des Glücks („bonté des dieux“, „grands biens“, „immuable amour“, „amour radieux“, „invincible Eros“, „hyménée“). Emma Klingenberg, über deren Person nichts gefunden werden konnte, ist eine fast makellose Übersetzung gelungen. Ihr gelang es, alle weiblichen und männlichen Reimkadenzen beizubehalten und Fehler der Prosodie zu vermeiden. Auch die Akzentuierungen zu Versbeginn sind stets eingehalten, und damit bleibt der Notentext unberührt. Nur bei einem Vers ergab sich die Notwendigkeit, den Rhythmus abzuändern („Folle! Ce sont de vains efforts“/„O sag’, warum du bangst“). Für „jours funestes“, „tempêtes haineuses“, „mauvaises îles“, „sépulcre odieux“ und „tombe amoureuse“ fand Klingenberg keine genaue Entsprechung, aber ansonsten gelang ihr eine formal, inhaltlich und medial bemerkenswerte Übersetzung, die vermutlich auch deshalb so gut gelang, weil die Melodik derjenigen Wagners und damit einer deutschen dieser Epoche sehr verwandt ist. Briséïs, I,241 Briséïs Hylas! mon fiancé! ... Bonté des dieux célestes! C’est toi! Tu ne pars pas? Je ris, puisque tu restes. Comme aux fleurs les rayons, il me faut tes regards. Hylas Enfant! Nous connaîtrons l’absence aux jours. J’ai voulu te revoir encore … Mais je pars.
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Briséïs, leidenschaftlich, seinen Hals umschlingend Hylas, mein Bräutigam! O Preis der Götter Walten! Du bist’s, du scheidest nicht. Heil mir, dich zu behalten! Was der Blume das Licht, das ist mir Hylas Blick. Hylas O Kind! Der Trennung Weh wird nicht erspart uns Beiden! Doch dich sehn wollt’ ich vor dem Scheiden,/Doch ich geh!
Ephraïm Mikhaël, Catulle Mendès: Briséïs, drame en trois actes. Paris: Librairie Dentu, Librairie théâtrale, 1897; deutscher Text aus Ephraïm Mikhaël, Catulle Mendès: Die Braut von Korinth (Briséïs). Drama in drei Akten. Klavierauszug mit Text vom Componisten. Paris u. a.: Litolff, 1897.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti? Briséïs Tu peux partir, m’ayant revue? Hylas
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Briséïs Und kannst du zieh’n, nun ich dich schaute? Hylas O chère tête! Hör mich, o Traute! Dans Corinthe aux beaux murs tes parents sont fameux In den Mauern Korinths ist dein Haus rings berühmt Pour leurs grands biens ; il doit être riche comme eux Als stolz und reich;/Und es sei der Freier dir gleich, L’époux qu’accueillera la gynécée en fête! Dem einst du als Gemahl folgte aus dem Frauensaale! Pour obtenir, vierge fleurie, Dass Dein ich werth, blühende Holde, Pour l’amour de ta jeune chair, Die allein sehnend mein Begehr, Je m’en irai parmi les périls de la mer Zieh’ fern hinaus ich in Sturmgefahr übers Meer Vers les richesses de Syrie. Und kehre heim mit Syriens Golde. Beladen reich sei die Galeere J’entasserai sur ma galère L’ivoire, les baumes puissants, Und bring Balsam und Elfenbein, Den Weihrauch und Gewänder von purpurnem Schein, La pourpre orientale et les rares encens, Les coraux et la perle claire, Köstliche Perlen ferner Meere! Mit liebender Hand will ich streuen Afin que mes mains amoureuses Eine Fülle von Schätzen aus, Jettent toute une floraison D’or joyeux sur le seuil de ta riche maison Deren Goldfluth sich strömend ergiess’ auf dein Haus, Wenn des Hochzeitstags wir uns freuen! Au matin des noces heureuses! Briséïs Briséïs J’ai peur, ô mon amant! ... Je crois Und doch erfüllt mich Angst! Entendre au loin l’éveil des tempêtes haineuses. Mir ahnt, dass ferne Stürme sich schwer ob uns entladen! Hylas Hylas Folle! ce sont de vains effrois; O sag’, warum du bangst? Mon vaisseau passera sur les mers lumineuses Unser Schiff segelt fernhin nach lichten Gestaden. Comme un oiseau glissant sur l’eau des lacs fleuries. Gleichwie ein Vogel schwebt durch Blumenau’n dahin! Briséïs Briséïs Mais je crains plus que la tempête Doch noch mehr als vor Sturmeswüthen Les mauvaises îles en fête Möcht’ ich vor den Inseln dich hüten, Où l’amour étranger trouble les cœurs épris … Wo verführende Frau’n locken des Fremden Sinn! Là-bas, dans les cités d’Asie, Von Asiens Töchtern geht die Märe, On dit qu’au jeune voyageur Dass gern dem Jüngling, der da kam, Manch schöne Jungfrau sonder Scham De belles vierges sans rougeur Offrent leurs lèvres d’ambroisie. Duftiger Lippen Gruss gewähre. Souviens-toi, quand tu les verras, O gedenk’, wie in stillem Harm, Que, plaintive et jalouse d’elles, Andern neidend ihre süssen Rechte, Deine Briséïs fern treu weiht Dir ihre Nächte, Ta Briséïs, au loin, rêve en ses nuits fidèles À la caresse de tes bras. Träumend vom Glück in deinem Arm! Hylas, solennellement. Hylas Par l’auguste Kypris, reine des destinées, Hohe Kypris, bei Dir, Königin rings in den Landen: Et par les Hyménées, Bei Hymens heil’gen Banden Je jure de t’aimer jusqu’au suprême jour Schwör’ Liebe ich dir zu, bis einst ich geh’ hinab, D’un immuable amour. Liebe, die währt zum Grab! Briséïs Briséïs Vous avez, nuit sans voiles. Stille Nacht, düster fahle, Entendu mon amant! Seinen Schwur hörtest Du! Hylas Hylas Sous les bonnes étoiles, Bei des Sternhimmels Strahle Fais le même serment! Schwör’ das gleiche mir zu!
206 Briséïs Par l’auguste Kypris, reine des destinées, Et par les Hyménées, Je jure de l’aimer jusqu’au suprême jour D’un immuable amour. Mais c’est trop peu d’aimer jusqu’aux sommeils funèbres! Il faut aimer encore par delà leurs ténèbres. Les cœurs qu’embrasa l’amour radieux Ne s’éteignent pas dans les sépultures, Et l’invincible Éros, dieu plus fort que les dieux, Peut soulever le marbre et rompre les clôtures Du sépulcre odieux. Si l’on couchait ta fiancée Dans la tombe au déclin du jour, Blanche, elle sortirait de la tombe glacée Pour sourire à ton cher retour. Mêlée aux pâleurs de la lune. Tremblante comme au vol qui craint de se poser, Elle frôlerait d’un baiser Ta chevelure brune; Et, d’un bras lilial Comme le cou d’un cygne, Morte, mais belle encore, elle te ferait signe De t’endormir près d’elle au tombeau nuptial. Hylas Certes, je te suivrais dans la tombe amoureuse … Mais pourquoi donc, ô jeune esprit, Rêver heureuse mort quand la vie est heureuse? Briséïs Tu dis vrai. Demain nous sourit. Hylas Deux roses sur la même branche Fleuriront demain. Briséïs L’une empourprée … Hylas Et l’autre blanche … Laisse-moi respirer le parfum de ta main. Briséïs Deux astres pareils à nos âmes S’ouvriront aux cieux. Hylas L’un de neige … Briséïs Et l’autre de flamme … Laisse mon cœur se fondre aux rayons de tes yeux. Hylas Demain ce sera la journée
Herbert Schneider Briséïs Hohe Kypris, bei Dir, Kön’gin rings in den Landen; Bei Hymens heil’gen Banden Schwör’ Liebe ich dir zu, bis ich einst geh’ hinab, Liebe, die währt zum Grab! Doch treue Liebe währt’ auch noch im Grabesbette: Sie folg’ uns zu des Schattenreichs düsterer Stätte! Die Gluth, die im Herzen Liebe entfacht, Sie wird nicht erlöschen, auch in den Grüften, Und Eros, jedem Gott überlegen an Macht, Den Marmor kann er heben und das Bahrtuch lüften Von des Tods Schreckensmacht. Wenn sie ins Grab senken als Leiche, Früh entrissen dir, deine Braut, Dann aus der eisigen Gruft kommt Briséïs, die bleiche, Dass sie lächelnd dich wiederschaut! Umflossen vom Mondlicht, dem klaren, So flüchtig, wie entschwebt ein Vögelein geschwind, Weilt ihr Mund im Kusse gelind Auf deinen braunen Haaren. Und sie winkt dir hinab Mit dem Arme, dem bleichen; Todt, doch nicht verwandelt, gibt stumm sie dir ein Zeichen, Bei ihr zu ruh’n im stillen Hochzeitsbett, tief im Grab! Hylas Wohl, ich komme, mein Lieb, dir zur Seite zu weilen! Doch sag’, warum, Theure, o sag’, So früh träumen vom Tod, statt das Leben zu theilen? Briséïs Ja, fürwahr, es lacht uns der Tag! Hylas Zwei Rosen in des Morgens Scheine Blüh’n an gleichem Strauch. Briséïs Eine geröthet, Hylas Weiss ist die eine. Süssen Duft birgt, wie sie, deines Munds warmer Hauch! Briséïs Zwei Sterne, wandeln wir zusammen, Selig dort allein! Hylas Bleich der eine, Briséïs Der andre in Flammen! So strahlt ins Herz mir tief deines Aug’s klarer Schein! Hylas Es tagt uns der Morgen, der klare;
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti? Briséïs Où, jetant des fleurs sous nos pas, Hylas Les vierges criront [sic]: Hyménée! Briséïs Et nos cœurs le diront tout bas.
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Briséïs Blumen streu’n die Jungfraun im Kreis, Hylas Ihr Sang schallt zu Hymens Altare, Briséïs Und im Herzen klingt nach es leis!
Briséïs et Hylas Briséïs et Hylas Hyménée! Hymen! Hyménée! Holder Hymen! hab’ Preis! Holder Hymen! Les Marins Die Seefahrer Hylas! Hylas! C’est le moment Hollah! ’s ist Zeit! Schon graut der Tag; De lever l’ancre et de hisser la voile! Lass uns die Segel lichten in der Ferne! […] […]
Bezüglich der Orchesterzwischenspiele lässt Chabrier das Geschehen der vorausgehenden Szene noch einmal an der Person auf der Bühne und dem Publikum vorbeiziehen, wodurch es eine den dramatischen Personen entsprechende Rolle übernimmt. In den abschließenden 51 Takten des Orchesters am Ende der zweiten Szene übernehmen die Librettisten zwischen den Didaskalien und Chabrier in seinen Notentext die Verse aus den Stationen des Dialogs zwischen Briséïs und Hylas:42 Briséïs écoute longtemps, n’entend plus rien, se Briséïs lauscht lange, wendet sich endlich, da sie détourne vers sa maison. – En traversant la scène elle nichts mehr hört, nach Hause zurück. Indem sie songe que l’orage pourrait menacer la galère: mais über die Bühne schreitet, denkt sie an den Sturm, elle écarte cette idée: der die Galeere bedrohen könnte. Doch sie verbannt diesen Gedanken: ‚Nous saurons braver d’un cœur fier ‚Wir trotzen voller Kraft und voll Muth Les tempêtes et la sirène ...‘ dit l’orchestre. Wilden Stürmen und der Sirene.‘ Puis elle songe que son amant pourrait la tromper: Dann denkt sie, dass ihr Geliebter sie täuschen könnte: ‚Là-bas, dans les cités d’Asie, ‚Von Asiens Töchtern geht die Märe‘ – On dit qu’au jeune voyageur ...‘ – Mais le serment la rassure: Doch der Gedanke an den Schwur flösst ihr wieder Mut ein. ‚Par l’auguste Kypris ...‘ – Elle va, plus contente, vers sa maison. Une tristesse: Sie geht beruhigt dem Hause zu. Mit Sorge gedenkt elle pense à sa mère malade. sie ihrer kranken Mutter. ‚Ma mère, maîtrisée – Par un mal sans merci ...‘ – Mais elle voit sur le seuil les fleurs qu’Hylas lui a Da bemerkt sie auf der Schwelle die Blumen, die jetées, les ramasse, les baise et se laisse choir sur Hylas ihr zugeworfen. Sie hebt sie auf, küsst sie le banc en songeant: und lässt sich auf eine Bank nieder. Der Gedanke beseelt sie: ‚Hyménée! Hymen! Hyménée!‘ ‚Holder Hymen, hab’ Preis.‘
42
Im Klavierauszug sind die zitierten Verse ausgelassen. Auch in III,3 wird das Orchestergeschehen im Librettodruck genau beschrieben.
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Die Verszitate hat Klingenberg in den deutschsprachigen Klavierauszug nicht übernommen. Mit dieser etwas schulmeisterlichen Konkretisierung der Aussage des symphonischen Nachspiels knüpft Chabrier an ähnliche programmatische Eintragungen in Balletten des frühen 18. Jahrhunderts in Frankreich oder an solche in der Passacaille in Benjamin de La Bordes Ismène et Isménias oder auch an Programme in zeitgenössischen Sinfonischen Dichtungen an.
La Délivrance de Thésée/ Der befreite Theseus Paul Hindemith beauftragte Darius Milhaud 1927 „de composer un opéra aussi bref que possible.“43 Als es darum ging, die erste „Opéra-minute“, L’Enlèvement d’Europe, zum Druck zu geben, regte der Leiter der Universal Edition, Emil Hertzka, aus verlegerischen Gründen an, wenigstens eine Trilogie solcher kurzer Stücke zu schreiben. „L’idée me plut. J’eus de nouveau recours au talent de Hoppenot [dem Diplomaten Henri Hoppenot] qui, malgré ses occupations officielles (il était alors en poste à Berlin), me fit rapidement deux autres livrets dans le même style que le premier: L’Abandon d’Ariane et La Délivrance de Thésée.“44 Alle drei Werke erschienen in zweisprachigen Klavierauszügen bei UE und wurden in deutscher Sprache uraufgeführt. In äußerster Reduktion geht das Geschehen von La Délivrance de Thésée über die Bühne und endet mit drei Toten. In den Szenen 3 kulminiert der Konflikt zwischen Hippolytos und Phädra, und in Szene 4 erfolgt die falsche Anklage vor Theseus und die Verurteilung des Hippolytos, seines Sohnes: Phèdre Phèdre Mon Enfant! Cher Hippolyte! Hippolyt, mein lieber Sohn, Êtes-vous là, mon amour? Treff ich dich endlich allein! Tout mon sein encore palpate ... Viele Tage harr’ ich dein, Je vous cherchais alentour, Und überall suche ich dich schon. Leg die Hand auf meinen Busen, Au jardin, sur la colline. Mets ta main sur ma poitrine Fühl das Klopfen meines Herzens, Et vois comme mon cœur bat! Das für dich voll Unruh schlägt. Hippolyte Hippolyte De grâce! Parlez plus bas! Ach bitte, sprich nicht so laut! Et je vous crois sur parole! Ich will euch gerne alles glauben. Phèdre Phèdre Ne veux-tu que je te cajole, Darf ich dich denn gar nicht mehr streicheln Et sur mon cœur, Und an mein Herz
43
Milhaud 1949 (Anm. 3), S. 228. Im Klavierauszug von La Délivrance de Thésée/Der befreite Theseus gibt es folgenden Hinweis für Deutschland: „Für Aufführungen in deutscher Sprache haben Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking einen Zwischentext verfasst, der die drei opéras-minutes „Die Entführung der Europa“, „Die verlassene Adriadne“ und „Der befreite Theseus“ verbindet. Dieser Kommentar, für den ein zusätzlicher Sprecher benötigt wird, wird auf Verlangen dem Aufführungsmaterial beigegeben.“ 44 Milhaud 1949 (Anm. 3), S. 229.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
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Avec douceur, In Glück und Schmerz Te caline comme naguère, Dich pressen wie in jenen Tagen, Als du noch klein warst und dich mir noch nicht Quand tu étais petit et ne refusais pas? entzogst? Hippolyte Hippolyte Madame, laissez-moi! O Fürstin, lasset mich! Les trompettes guerrières Man hört schon Trompeten, Euer Gatte Theseus kehrt heim Sonnent l’heure d’autres combats Et le retour triomphant de mon Père! Nach einem siegreich beendeten Kriege.
SZENE 4 On entend au loin, puis plus proches, des sonneries Theseus mit kleinem Gefolge tritt auf, dazu Aricia und Theramenes. de trompettes; Thésée fait son entrée, suivi de quelques gardes, d’Aricie et de Théramène. Thésée Thésée Oui! C’est moi! C’est bien moi ... Mais qu’avez-vous Ja, ich bin’s! Ich bin da ... Was habt ihr beide denn? [tous deux? Phèdre Phèdre Protégez-moi, Seigneur; d’un fils incestueux! Schützt mich vor den schamlosen Anträgen eures Sohnes hier! Thésée Thésée D’un fils ... Ha! Je comprends! Sauve-toi, misérable, Meines Sohns ... Elender Lump! Scher dich weg! Et vas-t-en affronter le monstre redoutable Zieh hinaus vors Tor der Stadt,/Kämpfe mit dem grauenhaften Untier, mit dem uns voller Zorn Que Neptune en fureur Contre nos murs déchaîne! Poseidon heimgesucht hat. Hippolyte Hippolyte Je préfère ce monstre à cet autre, Seigneur! Dies Untier ist so gut wie das andre. À Théramène. Suis-moi, cher Théramène! Zu Theramenes. Leb wohl! Komm mit, Freund Theramenes.
Zu dem einem antiken Stoff angemessenen Sprachniveau kontrastieren alltägliche Redewendungen: „Je vous crois sur parole“/„Ich will euch gerne alles glauben“ von Hippolytos, Phädras „Ne veux-tu pas ... comme naguère“/„Darf ich denn ... noch nicht entzogst“, Thésées „Qu’avez-vous tous deux“/„Was habt ihr beiden denn“ und Hippolytos’ „Je préfère ce monstre à un autre“/„Dies Untier ist so gut wie das andre.“ Die beiden weiblichen Reimkadenzen in den Versen 1 und 3 behalten Gutheim und Reinking nicht bei (siehe Faksimile in Anhang 2, paginiert S. 6, T. 1 und 5); in T. 1 nehmen sie eine rhythmische Veränderung in Kauf, in T. 5 lassen sie den folgenden Vers bereits auf die letzte Silbe des vorausgehenden französischen Verses beginnen. In den Takten 7 bis 12 stellt Milhaud das rhythmische Motiv in den Vordergrund zuungunsten der prosodischen Korrektheit. In der Übersetzung dagegen sind die Silbenbetonungen korrekt. Auch auf Seite 7 (Faksimile in Anhang 2) begegnen mehrere Betonungsfehler (betonte Silben fett): „Ne veux-tu“, „avec“, „caline“, auch im Deutschen: „in Glück“, „in jenen“, „und dich mir“. Gutheim und Reinking verändern die Formulierung der unverblümten
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erotischen Verführung Hippolytos’ durch Phädra, indem sie auf „amour“ verzichten und „voll Unruhe“ ergänzen. Für die beiden umgangssprachlichen Begriffe „cajoler“ und „caliner“ finden sie keine Entsprechung und lassen den Hinweis auf „d’autres combats“, der wenigstens zweifach zu deuten ist – Theseus muss im Fall der Anklage seines Sohnes eine schicksalhafte Entscheidung treffen, Hippolytos wird in dem Kampf auf Leben und Tod mit dem Seeungeheuer geschickt – entfallen. In Szene 4 haben die Übersetzer Verse geschrieben, deren Versgrenzen nicht mit dem Französischen und auch nicht mit den Phrasen der Musik übereinstimmen, Resultat ihrer Entscheidung, ausschließlich Verse mit männlicher Reimkadenz zu verfassen, obwohl im Französischen weibliche und männliche Reimkadenzen wechseln. Die Übersetzer wählen für Theseus bei dessen Verbannung von Hippolytos ein Sprachniveau, das Hoppenot für den König vermieden hat („elender Lump! Scher dich weg“, „grauenhaftes Untier“). Auch „grauenhaftes Untier“ ist zu umgangssprachlich – es wird außerdem noch einmal wiederholt – in diesem Kontext und fällt aus dem übrigen Sprachniveau der deutschen Übersetzung heraus. Bei der Siegesfeier zu Ehren des Theseus, berührt das sechsmalige „Heil und Sieg“ für „Oui, c’est lui“ infolge der Erfahrungen mit dem Dritten Reich heute sehr seltsam. Auch kommt es in diesem Abschnitt zu einer Verschiebung der Versgrenzen und zu einer problematischen Position des betonten Wortes „Stadt“, aber entsprechend auch bei Milhaud („Neptune en fureur“).
Il finto Arlecchino/ Der falsche Arlekin Mit seinen frühen Bühnenwerken, die nach Pantea und Sette canzoni entstanden und in denen Liedgesänge im Zentrum stehen, war Gian Francesco Malipiero auf deutschen Bühnen am erfolgreichsten: „It was hardly to be expected that Malipiero’s recklessly unconventional theatre works of 1917–29 would find easy acceptance in conservative provincial Italy: most of them had their premières abroad, expecially in pre-Nazi Germany.“45 Beispiele charakteristischer innovativer Bühnenwerke sind die „Commedia musicale“/ „Musik-Komödie“ Il finto Arlecchino (später Teil 2 des Mistero di Venezia)
45
John C. G. Waterhouse: Art. Malipiero. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 3. New York u. a. 1997, S. 168.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
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und die „Sette notturni“/ „Sieben dramatische Nachmusiken“ Torneo notturno, erstere mit skurril-komischer, die zweite mit tragischer Handlung. Für Il finto Arlecchino komponierte Malipiero neben dem im instrumentalen Vorspiel, in der Tanzmeisterszene und am Ende eingesetzten Menuett und den verbindenden mit „parlato“ bezeichneten Dialogen geschlossene Gesänge bzw. Canzonen: Don Trifonios („Farfalletta che in grand fretta“), Colombines („Una breve lontananza“, im zweiten Teil von Arlecchino wiederholt) im ersten Teil, Don Trifonios („Passerà tua giovinezza“) sowie die verschiedenen Vertonungen des Madrigals von Donna Rosaura im zweiten Teil:46 Prima parte Don Trionfo Farfalletta che in gran fretta senza nulla aver che fare ti dibatti t’arrabatti sol per gusto di volare: quella rosa, che si sposa s’egli è ver quel che ognun crede, domattina tutta in brina, della notte al ricco erede. Dimmi un poco così’l foco ti risparmi le bell’ale che t’ha fatto perch’a un tratto ten [sic] fuggisti come strale?
Wie du fliegst Und dich wiegst Kleiner Falter, wie verloren Wie du schwebest Und dich hebest Unbeschwert zur Lust geboren ... Dort die Rose Makellose Wird für dich purpurn färben, Will erwählt sein Und vermählt sein Morgen früh dem reichsten Erben ... Feuer fingen Deine Schwingen Niemals, wo du liebend weilest, Wie sie schlagen, Heil dich tragen, Wenn du wie ein Pfeil enteilest ...
Hoffmann kommt es bei seiner Übersetzung primär darauf an, den durch Pausen unterbrochenen Vortrag der Verse in seiner gereimten Nachdichtung formal bzw. medial beizubehalten. Dabei gelingt es ihm überzeugend, die inhaltlichen Momente zu bewahren und den ‚flatterhaften‘ Gestus dieser ersten Canzone zu treffen. Colombine gibt sich der Illusion hin, nach längerem Warten und zu überwindenden Momenten des Liebeskummers werde sie mit Arlecchino ein Paar sein. Die Koordination der Verse zu den deutlich abgegrenzten, durch Pausen unterbrochenen einzeln oder in Zweiergruppen vorgetragenen melodischen Phrasen erleichtert die Übersetzung, aber Hoffmann nimmt sich inhaltlich hier mehr Freiheiten (im zweiten und in der Frageform des sechsten Verses).
46
Text aus: Der falsche Arlekin/Il finto Arlecchino. Musik-Komödie in zwei Teilen/Commedia musicale in due parti von/di G. Francesco Malipiero (1925), deutsch von R. St. Hoffmann. Klavierauszug. Wien u. a.: Universal-Edition, 1927. Der deutsche Text ist darin über dem italienischen notiert.
212 Colombine Una breve lontananza dall’oggetto del desir, con l’aiuto di speranza io credea poter soffrir. No’l credetti gran martire, Colombina, sai perché? Non temeva l’avvenire Arlecchin vicino a te.
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Kurze Zeit nur jene meiden, Die mir Trost ist und Begehr, Wollt’ ich hoffnungsstark erleiden, Tragen wollt ichs nicht zu schwer. Kein Martyrium macht mir Sorgen, Colombine, wie mir scheint, Ohne Furcht erschaut das Morgen, Arlekin mit dir vereint.
Malipiero hat die vier Strophen des „Madrigals“ Donna Rosauras („Lacrime belle, e care“) viermal vertont: durch Don Florindo (Tonart G/C, 10+16+14+9 T., Vortrag „con la sua consueta“/ „mit seinem gewohnten Überschwang“), Don Ottavio (As, 15+13+14+17 T., mit „la sua interpretazione pedeste e prolissa“/„in einer schwerfällig schulmeisterlichen Art“), Don Pauluccio (Es, 8+6+12+23 T., „ripetendo e precipitando le parole“/„indem er die Worte wiederholt und überstürzt“), dann drängt sich erneut Don Trifonio vor, indem er seiner Canzone „Farfaletta“ aus dem ersten Teil die erste Strophe des Madrigals unterlegt (21+4 T.), kann aber nicht einmal den zweiten Vers der zweiten Strophe zu Ende bringen, da er durch Donna Rosaura unterbrochen wird, und Arlecchino (E/Fis, 7+7+7+8 T., „improvvisamente“, von Hoffmann nicht übersetzt), der die Maske fallen lässt und von allen als Don Ippolito erkannt wird. Seconda parte Don Florindo etc. Lacrime belle, e care Tränen ihr, schön und teuer, voi da zaffiri orientali eletti, Gleich an Wert des Orients Saphiren, è ver stillate amare: Brennt ihr auch wie Feuer, Ma pure a dubbi travagliati affetti Doch will in Zweifeln sich die Lieb’ verlieren, lacrime belle cristalline ardenti, Tränen, die schönen Tropfen von Kristallen, siete vene di dolci almi contenti. Sanft befriedend den Sinn, wie friedlich sie fallen. Lacrime dolci amate, voi dentro conche preziose, e vive di duolo, e di pietate fate mostra penosa47 in meste rive: Ma il vostro bel ritorno al cuor conquiso poi per segrete vie rimena il riso.
Tränen ihr, süß geliebte, Ihr, die aus kostbaren Schalen brechen, Die Leid und Mitleid trübte, Gramvoll fließt ihr hinab in Trauerbächen. Doch habt bezwungen ihr des Herzens Wachen, Führt auf geheimem Weg ihr her das Lachen.
Lacrime belle e liete, voi siete pioggia, onde il più nobil seme che nel mio cuor si miete, vien tosto in fior della più cara speme, che mai fiorisce a’ raggi di beltate: Ma48 di si caro fior frutto è onestate.
Tränen ihr, schön geschenkte, Euch dankt der Samen fruchtbaren warmen Regen, Der in die Brust versenkte, Und wird zu wunderbarem Früchtesegen, Erblüht in Hoffnung, Schönheit und in Jugend: Als seine edle Frucht grüßt euch die Tugend.
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Don Paolucci singt „pietosa“ und im letzten Vers der Strophe „ritorna il riso“. Don Paolucci singt „Che di ...“.
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
Lacrime belle e oneste, balsami cari, onde talor distilla questa pianta celeste qualora il duol ferilla, voi siete scarso umor, ma è in lui virtute ond’eterna mie piaghe han la salute.
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Tränen ihr, tugendreiche, Heiliger Balsam, welchen gar hold vergießen Blumen himmlischer Reiche, Die wild ein Weh zerrissen, Ihr träufelt spärlich, doch für meine Wunde Seid die ewige Kraft49 ihr, dass ich gesunde.
Hoffmann beachtet genauestens die Prosodie, auch die von Malipiero aus parodistischen Gründen eingesetzten Verstöße gegen diese und passt die Übersetzung der verschiedenen Vertonungsweise der einzelnen Sänger an. Bei Don Ottavios „schwerfälligem“ Vortrag betont er wie Malipiero mehrfach die schwachen Abschlusssilben der Verse: „contenti“/„fallen“, „pietate“/„trübte“, „pianta“/ „himmlischer“, „ferilla“/ „zerrissen“. Beim Stottern in Don Pauluccios Version potenziert er an einer Stelle sogar die Karikatur bzw. das Stottern durch Hinzufügung einer humoristischen Pointe: „eletti, eletti, eletti“/„Saphire, phire, phire“. In der von Don Florindo auf die Canzone des ersten Teils gesungenen zweiten Strophe kommt es zu falschen Akzentuierungen, „Lacrime“/„Tränen ihr“, „dentro“, hier aber bei „Hoffnung“ korrekte Betonung von „wunderbaren“. Hoffmanns Übersetzung entspricht dem Anspruch, den man an die Übertragung eines exponierten Werkes des Musiktheaters stellen muss.
Torneo notturno/ Komödie des Todes Torneo notturno, von Malipiero „selbst als Quintessenz seines Theaters beschrieben“,50 gehört zu dessen Werkgruppe mit „zyklischer Episodenfolge experimenteller Art“, von denen sieben an deutschen Bühnen in Übersetzung uraufgeführt wurden. Malipieros Biograph John Waterhouse bezeichnet das Werk als „hauntingly enigmatic, [...] another of Malipiero’s supreme achievements, in which the obsessively recurring ‚canzone del tempo‘ evokes the inexorable destructiveness of time.“51 Der zweisprachige Klavierauszug des Werkes mit der Übersetzung von Hans Ferdinand Redlich erschien bereits 1930 bei Bote & Bock in Berlin, also rechtzeitig vor der Uraufführung im Mai 1931.52 An zwei Auszügen ist die Spezifik der Übersetzung Hans Ferdinand Redlichs zu erkennen.
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In Arlecchinos Strophe übersetzt Hoffmann hier „ewige Kraft“. Joachim Noller: Art. Malipiero. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Finscher. 2., neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 11. Kassel u. a. 2004, Sp. 919. 51 Waterhouse 1997 (Anm. 45), S. 168. 52 Gian Francesco Malipiero: Torneo notturno. Sette notturni/Komödie des Todes. Sieben dramatische Nachtmusiken (1929), für die deutsche Bühne bearbeitet von Hans Ferdinand Redlich. Berlin: Ed. Bote & G. Bock, 1930. 50
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II. La tormenta/ Der Sturm (Si alza la tela.) Una stanza con una piccola porta chiusa che dà sulla strada. Notte. Un tavolo e qualche sedia. Sul tavolo un lume ad olio. Infuria l’uragano. Una vecchia e due giovani donne, genuflesse, appoggiano le braccia e il capo alle sedie come se queste fossero degli inginocchiatoi.
(Der Vorhang hebt sich.) Ein Zimmer mit einer kleinen verschlossenen Tür, die zur Straße führt. Nacht. Ein Tisch und ein paar Stühle. Auf dem Tisch flackert ein Öllämpchen. Heftiger Sturm. Eine Alte und zwei junge Mädchen, auf den Knien, stützen Arme und Kopf auf die Stühle, als ob es Betschemel wären.
La vecchia madre Die Alte Gesù Nazareno Erlöser und Heiland! liberateci dal baleno! Bitt’ für uns beim himmlischen Vater! Santa Barbara benedetta Heil’ge Barbara, Benedeite, liberateci dal tuono e dalla saetta! Ach, beschirme uns vor Blitz und Donner nur heute! Gesù in campo O Herr und Retter, liberateci dal tuono e dal lampo. Wende ab und sänft’ge Sturm und Wetter. La violenza della tempesta a poco a poco diminuisce. Die Heftigkeit des Sturmes lässt allmählich nach. Wiederholung des Gebets in neuer Vertonung Picchiano con forza alla porta. Scoppia la folgore. La Heftiges Klopfen an der Türe. Blitze und Donner. vecchia apre la porta. Entra il disperato. Si abbandona Die Alte öffnet die Türe. Der Hoffnungslose tritt su una sedia. Gli offrono da bere. ein. Er wirft sich auf einen Stuhl. Sie bieten ihm Getränk an. Il disperato, canto. Der Hoffnungslose singt. Una fanciulla si vantò Ein Mägdlein sei von mir gepriesen, la non teme Caronte das Caronte nicht scheute, perché ha nove fratelli, wohl beschirmt von neun Brüdern, Gianpierozzo suo sposo Gianpierozzo versprochen, che ha case di molte, quattro palazzi. der vieles geerbt zu vieren Palästen. E Caronte si fece uccello, Und Caronte erschuf ein Vöglein come nera rondine: einer schwarzen Schwalbe gleich: volò e nel cuore saettò la fanciulla. Es flog und zerfleischte das Herze dem Mägdelein. E la mamma di lei la piangea, Und die Mutter, die weinte und schluchzte, e la sua mamma la piange: ach, wie sehr flossen die Tränen: ‚Caronte, oh’l mal che m’hai fatto ‚Caronte, o des Leids, das du schufest nell’unica figliuola mia! dem einzigen Töchterlein! Nell’unica mia, nella sola, Der einzig alleinigen, süßen, nella mia buona fanciulla!’ jungzarten Tochter mein!’ […] […]
Während Redlich sich streng an die originalen Regieanweisungen hält, weicht er inhaltlich und stilistisch in seiner überwiegenden Prosaübersetzung vom originalen Text vielfach ab. Im Gebet des Anfangs entfernt er sich bereits im ersten Vers vom originalen Wortlaut, um die klingende Endung beizuhalten („Nazareno“/ „Heiland“), und
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
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verzichtet auf den Versuch, eine Entsprechung für das dreifach aufgenommene „liberateci“ zu finden. Sowohl das „Zerfleischen“ für „saettare“ als auch „schufest dem Töchterlein“ für „m’hai fatto“ verfehlen den originalen Sinn, und die mehrfachen Wiederholungen („la mamma“, „piangere“, das dreifache „nella“) haben keine Korrespondenz. Ganz trostlos ist das letzte Notturno, in dem es nach dem Fallen des Vorhangs und vor dem abschließenden Trauermarsch heißt: (il disperato/ der Hoffnungslose) „ha ripreso il suo cammino senza mèta. Voi avete veduto morire, vivere, agitarsi alcuni uomini che le più discordanti passioni tormentavano. Non è finito“/ „er hat seine sinnlose Wanderung wieder aufgenommen. Ihr habt gesehen, wie Menschen leben, sterben, verzweifelt, sterben Menschen, von den verschiedenen Leidenschaften gequält! Noch nicht zu Ende!“ VII. La prigione/ Das Gefängnis (Si alza la tela.) Una cella completamente buia. (Der Vorhang hebt sich.) Eine völlig finstere Zelle. A destra una porta chiusa, a sinistra, un finestrino Zur Rechten eine verschlossene Tür, zur Linken – in con inferriata. Il disperato, con due pesanti catene der Höhe – ein vergittertes Fenster. Der ai piedi, siede per terra, sotto il finestrino. S’ode Hoffnungslose, mit zwei schweren Ketten an den Füßen, hockt auf der Erde unterhalb des Fensters. il canto dell’assiolo. Er lauscht dem Ruf des Käuzchens. Il disperato Der Hoffnungslose O assiolo! Perché piangi? O Käuzchen! Weshalb klagst du? Bist ja frei ... Nicht geraubt ward dir deine Liebe, Sei libero e non t’hanno tolto il tuo amore, Non devi piangere, o assiolo! klage nicht mehr, o Käuzchen! Ecco le mandrie che salgono ai monti. Das sind die Herden, die steigen zu Berge. Ach, zu wandern mit euch! Ah! Ah! Ah, salire con voi! ah! ah! Mangio pane con lacrime, acqua amara: Netzt das Brot mir die Träne, herb und salzig, haben Trauer und Qual gespeist und getränkt mich. i dolori e i travagli m’han nutricato. Come la notte tenebrosa ogni cosa fa nero Wie über alles dunkle Nacht ihre Schleier gebreitet, così è ogni cosa nel core cui preme l’affanno. so ist in meinem Herzen mir alles von Kummer gefesselt. ... ... Pensa, Madonna, ben che ’l tempo fugge Denk’ dran, Madonna, wie die Zeit davon fliegt ne mai ritorna a noi poi ch’è passato, und niemals kehrt von ihrem ew’gen Fluge; vecchiezza ogni beltà presto distrugge dem Alter alle Schönheit verfällt, ne sempre mai sta ferma in un stato. und nie hält an der Lebensstrom zum Rasten. Ogni cosa divora il tempo Alles mordet die Zeit, es flieht der e sugge il bel color d’ogni viso rosato: Lebenshauch von jeder rosigen Wange: La castellana ascolta, va verso il disperato. Die Schloßherrin horcht auf, nähert sich dem Dimentica l’altro e rimane conquisa dal nuovo Hoffnungslosen und vergisst den Toten, besiegt von cantore. Lo accarezza e s’accorge delle catene. dem neuen Sänger. Sie liebkost ihn und bemerkt dabei seine Ketten. fin che tu puoi, raccogli il vago fiore Drum pflücke, was du kannst, die schwanken Blüten de li dolci anni tuoi che volan l’ore. deines Frühlingstages, denn die Stunden jagen.
216
Herbert Schneider
Im ersten Ausschnitt aus diesem Notturno vermeidet Redlich jegliche, auch bloß rhythmische Veränderung der Musik, die hier wiederum aus durch Pausen getrennten melodischen Phrasen besteht, die den italienischen Versen entsprechen. Zwei der Text- oder Wortwiederholungen („o assiolo“/ „o Käuzchen“, „ogni“/„alle“) behält Redlich in seiner Prosa bei, eine weitere überträgt er neu, beide Male sehr frei („salire“ als „steigen“ und „wandern“). Redlich hat eine schwierige Aufgabe weitgehend gemeistert, aber warum entfernt er sich so weit an zwei entscheidenden Stellen (bei „mangio pane con lacrime“, das doch auch im Deutschen sprichwörtlich ist, und bei „i dolori“/ „Trauer“)? Auch die letzten, so deprimierenden gebetartigen Verse dieses Notturno überträgt er in Prosa. *** Für die deutschen Bearbeitungen des hier ermittelten Textkorpus in Übersetzung uraufgeführter Opern waren insgesamt 40 Übersetzer tätig (zwei anonym gebliebene), darunter an erster Stelle der auch als Librettist tätige Rudolph Stefan Hoffmann mit sieben, Richard Batka, Richard Pohl, Emma Klingenberg mit vier, Max Kalbeck, Ludwig Hartmann mit drei Opern. Daneben waren renommierte Musikhistoriker wie Hans Ferdinand Redlich, Richard Specht, Hugo Riemann, Hermann Treibler, Otto Neitzel, Hans Jelmoli sowie Max Brod tätig. Zu den ausgewiesenen französischen Autoren, die Übersetzungen beisteuerten, gehören Paul Milliet, Michel Dimitri Calvocoressi, Ferdinand Ramuz, Achille de Lauzières und Henry Prunières, zu den italienischen Giovanni Mazzucato, Luigi Illica und Fernando de Arteaga y Pereira. In insgesamt 29 deutschen Opernhäusern fanden Uraufführungen übersetzter Opern statt, führend waren dabei München (9 Opern), Berlin (6), Hamburg (5), Prag (eine tschechisch), Wien (4), Baden-Baden, Mainz (3) vor Breslau, Düsseldorf, Frankfurt, Karlsruhe, Kassel, Köln, Weimar (jeweils 2), alle anderen mit einem Werk. Im Übrigen waren die bedeutenden internationalen kulturellen Zentren bei der Aufführung übersetzter Opern führend (Budapest und Paris mit 5, London, Mailand, Rom mit 4, Barcelona, Brüssel, Buenos Aires mit 2 Opern). Entgegen der Praxis der Wagnerianer, für die es zum Dogma wurde, selbst bei im Original gereimten Libretti diese reimlos, in Prosa bzw. in rhythmischer Prosa zu übersetzen, haben einige Übersetzer von Werken des Musiktheaters der Neuen Musik nicht auf Reime verzichtet, wobei ihnen insgesamt bemerkenswert qualitätvolle Translationen gelungen sind. Nicht nur die reine Quantität der in Übersetzung gespielten Opern, sondern ihre von der Uraufführung in vielen Fällen abhängige Aufführungsgeschichte und historische Bedeutung lassen es als unabdingbar erscheinen, bei Ausgaben die Übersetzung des Librettos der Uraufführung, selbstverständlich auch eventuelle musikalische Eingriffe und Varianten in Neu- oder kritischen Ausgaben zu berücksichtigen, insbesondere wenn sie vom Komponisten vorgenommen und legitimiert sind. Im Fall von Samson et Dalila erscheint es durchaus möglich, dass das Werk in Vergessenheit geraten wäre, wäre es nicht in Deutschland so erfolgreich gewesen. Beim Urteil über Übersetzungen, auch die von Pohl, sollte berücksichtigt werden, dass eine perfekte singbare Überset-
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
217
zung kaum möglich ist, dass insbesondere hinsichtlich der korrekten Prosodie aber auch perfekte Vertonungen rar gesät sind. Ganz anders gelagert sind die Fälle, in denen eine Oper in der Übersetzung eine größere (in manchen Fällen sogar die einzige) Wirkung ausgeübt haben. Beispiele dafür sind etwa Le Maçon/ Maurer und Schlosser von Auber, Joseph von Méhul, die Opern von Wolf-Ferrari und die Bühnenwerke von Stravinskij, um nur einige berühmte Beispiele zu nennen. In Fällen wie dem von Malipiero stellt sich die Frage, welche Versionen, die in der Sprache der Vertonung oder die Übersetzungen, wichtiger für die Rezeption und die Operngeschichte waren. Ohne größeren Aufwand können heute große Textmengen und Quellen publiziert werden. In den hier genannten Fällen, aber auch bei Übersetzungen, die für die Rezeptionsgeschichte von Werken des Musiktheaters von besonderer Bedeutung waren, sollten die Übersetzungen in heutigen Librettoausgaben mit publiziert werden. Sie sind nicht nur für den Historiker, sondern gegebenenfalls auch für den heutigen Übersetzer von Übertiteln von Bedeutung, obwohl – wie mir gegenüber der erfahrene Manager der Alkor-Edition, Ulrich Etscheit, unlängst versicherte – , weder Intendanten noch Regisseure an solchen Übersetzungen bisher interessiert sind, da sie auf der Verwendung ihrer eigenen Übertragungen bestehen, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, nämlich zugunsten der eigenen Tantiemen. Aber die Zeiten und damit die Perspektive für solche Übersetzungen könnten sich ändern.
Berlioz
Otto Roquette
Ivan Turgenev
Ferdinand Lemaire
Jules Barbier
[Hector Berlioz
[Franz Liszt
[Pauline Viardot
Saint-Saëns
Anton Rubinstein
A. A’Becket
Léonce Détroyat
Stanford
Théodore Dubois
1
Emile Blavet
Gaston Salvayre französisch
englisch
französisch
französisch
englisch
französisch
französisch
französisch
deutsch
französisch
Sprache
it. von Achille de Lauzières, 16. 12. 1884, Théâtre Italien Paris1
dt. von E. Frank, 18. 4. 1884, Hamburg
it. anonym, 21. 12. 1883, St. Petersburg
engl. von Henry Brougham Farnie, 14. 10. 1882, London
dt. von Ernst Frank, 6. 2. 1881, Hannover
dt. von R. Pohl, 1. 11. 1879, Hamburg
dt. von R. Pohl, 2. 12. 1877, Weimar
dt. von R. Pohl, 1867, Baden-Baden
ungarisch, Übersetzer?, 15. 8. 1865, Pest
dt. von Richard Pohl, 9. 8. 1862, Baden-Baden
Sprache der Uraufführung
12. 3. 1885, Lüttich
9. 7. 1884, London
29. 1. 1891, Nizza
11. 11. 1884, Paris
it. von G.A. Mazzucato, 26. 7. 1881 London
it. von A. de Lauzières, 10. 2. 1884, St. Petersburg; 30. 12. 1884, Antwerpen
3. 3.1890, Rouen, 2. Fassung, 23. 11. 1892, Paris, Opéra
?, weitere Stücke von ihr in Baden-Baden?]
24. 2. 1866, München Bühnenproduktion 23. 10. 1881 Weimar]
1890, Paris, Opéra-Comique, neue Dialoge von Charles Bannelier]
Aufführung in Originalsprache
Richard Langham Smith: Art. Dubois. In: The New Grove Dictionary of Opera. Hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 1. New York u. a. 1997, S. 1262, gibt als Ort der Uraufführung in französischer Sprache das Théâtre du Châtelet an, ebenso Jean-Pierre Bartoli: Art. Dubois. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Finscher. 2, neubearbeitete Ausgabe, Personenteil, Bd. 5. Kassel u. a. 2001, Sp. 1474.
Aben Hamet
Savonarola
Richard III
Henri Meilhac, Rip van Winkle Philippe Gille
The Veiled Prophet
Néron
Samson et Dalila
Le Dernier sorcier
Die heilige Elisabeth
Béatrice et Bénédict
Titel
Robert Planquette
Sir Charles Villiers W. B. Squire Stanford
Librettist
Komponist
Anhang 1: U raufführungen von Opern in Übersetzung von 1877 bis 1940, ermittelt u. a. mit Hilfe der Annals of Opera von Alfred Loewenberg.
218 Herbert Schneider
W. BeattyKingston
Schjelderup
Isidore De Lara
Gerhard Schjelderup
Rosmunda
ungarisch
A. Zigány
Mauritius Vavrinecz
englisch
englisch
G. A. A’Becket, Signa H. A. Rudall, F. E. Weatherly
Sir Frederick Hymen Cowen
englisch
italienisch
norwegisch
englisch
französisch
Isaac M.F. Albéniz Francis Burdett Henry Clifford/Enrico Money-Coutts Clifford
August Henry Amy Robsart Glossop Harris, Frederick Edward Weatherly
Cornill Schut
Sonntagmorgen
Isidore De Lara
Antonio Smareglia L. Illica
Werther
Édouard Blau, Paul Milliet, Georges Hartmann
Jules Massenet
La luce dell’Asia
Der Vasall von Szigeth
Antonio Smareglia Luigi Illica, Felice Pozza
italienisch
portugiesisch
Le Meunier d’Alcala
Clérice, Justin
E. Garrido
französisch
Fromental Halévy, Jules-Henri Noé vollendet von Vernoy de Saint Bizet Georges
31. 8. 1915, Oslo
–
16. 1. 1893, Paris
Sept. 1930, Pola
–
–
dt. von L. Hartmann, 31. 1. 1895
it. G. M. Arteaga y Pereira, 8. 5. 1895 Barcelona
it. von G. Mazzucato, 12. 11. 1893, Mailand
frz. von Paul Milliet, 20. 7. 1893, London
14. 11. 1900, Budapest
–
–
14. 5. 1920, Croydon
tschechisch von Václav Juda Novotny, 20. 5. 1893, 17. 2. 1900, Triest Prag oder dt. von Ludwig Hartmann, 6.6. 1893 Dresden
dt. von Emma Klingenfeld, 9. 5. 1893, München
it. von Givanni Mazzucato, 11. 6. 1892, London
dt. von M. Kalbeck, 16. 2. 1892, Wien
dt. von M. Kalbeck, 18. 6 oder 4. 10. 1889, Wien
frz. von Armand Lafrique, 11. 4. 1887, Lissabon
dt. von G. H. Gans Edler zu Putlitz, 5. 5. 1885, Karlsruhe
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
219
Julius Lehmann Runenzauber/Ragnehild
Louis Gallet
Charles Nuitter Meister Martin und seine Gesellen/Le tonnelier de Nuremberg
B. Morner
Ephraïm Briséïs/Die Braut von Korinth französisch Mikhaël, Catulle Mendès
Louis Riercelin, Lionel Bonnemère
Theobald Rehbaum
L. Illica
Max Rothauser Moharózsa
L. Illica
Albert Franz Seligmann
Emil Hartmann
Paul und Lucien Hillemacher
Louis Lacombe
Preben Nodermann
Emmanuel Chabrier
Fernand Le Borne
Eduard Caudella
Crescenzo Buongiorno
Jenö Hubay
Cesare Rossi
Ede Poldini
Vagabund und Prinzessin/ Csavargi és királylány
Nadeya
Das Mädchenherz/Il cuore delle fanciulle
Petrus Rares
Mudarra
König Magnus
Der Flutgeist/Le Drac
Pepita Jiménez
F. B. MoneyCoutts
Albéniz
deutsch
italienisch
deutsch
italienisch
deutsch
französisch
schwedisch
französisch
französisch
dänisch
englisch
italienisch
Guido Menasci Die Erlösung/La redenzione
englisch
August Scharrer
Henry Clifford/Enrico Clifford
F. B. MoneyCoutts
Albéniz
Fragmente Dezember 1907, Malmö, Lund
–
–
27. 12. 1896, Kopenhagen
–
Riga 1897
–
ungarisch, von Sandor Várady, 17. 10. 1903, Budapest
dt. von Richard Batka, 5. 5. 1903, Prag
ungarisch von B. Cziglányi, 21.2. 1903, Budapest
dt. von L. Hartmann, 16. 2. 1901, Kassel
rumänisch anonym, 14. 11. 1900, Bukarest
dt. von A. Brunnemann, 16. 4. 1899, Berlin
29. 3. 1906, Prag
16. 1. 1904, Mantua
22. 1. 1903, Piacenza
–
–
dt. von E. von Klingenfeld, erste szen. Aufführung: 31.1. 1897 konzertant, Concert 14. 1. 1899, Berlin Lamoureux
dt. von P. Nodermann, 8. 10. 1898, Hamburg
dt. von Hugo Riemann, 7. 3. 1897, Koblenz
dt. von E. Klingenfeld, 14. 11. 1896, Karlsruhe
dt. von E. Klingenfeld, 15. 10. 1896, Hamburg
it. M. A. Galateri, 5. 1. 1896 Barcelona
dt. von Richard Specht, 21. 11. 1895, Strasbourg
it. von G. M. Arteaga y Pereira, 8. 5. 1895 Barcelona
220 Herbert Schneider
Franc-Nohain
P. Milliet
Carlo Cambiaggio
Giuseppe Pizzolato
Jean Richepin
Jaques-Dalcroze
Spyridon Samaras
Georges Bizet
Wolf-Ferrari
Isidore De Lara
Rhea
P. Milliet
E. Quesada
Leo Tepe van Heemstede
Edvard Oxenford
Spyridon Samaras
Héctor Panizza
Edgar Tinel
Henry Hadley
Safié
Katharina
Aurora
Eliana
Marcel Mihalovici H. Herrig
Solea
Die vier Grobiane/I quattro rusteghi
Don Procopio
Mademoiselle de Belle-Isle
Onkel Dazumal/Le bonhomme jadis
Der Roland von Berlin
La Cabrera
Philaenis
Henri Cain
Gabriel E. X. Dupont
Koanga
Leoncavallo
C. F. Keary
Frederick Delius
italienisch
englisch
deutsch
spanisch
französisch
deutsch
französisch
italienisch
italienisch
französisch
französisch
italienisch
deutsch
französisch
englisch
Die weiße Flagge/Le Drapeau französisch blanc
Ruggero Leoncavallo
P. Maurice
Pierre Maurice
Die neugierigen Frauen/Le donne curiose
Roman Statkowski Hermann Erler
Luigi Sugana
Ermanno WolfFerrari
5. 5. 1905, Paris
23. 9. 1935, London
–
3. 1. 1912, New York
dt. von O. Neitzel, 4. 4. 1909, Mainz
frz. von Florimond van Duyse, 27. 2. 1909, Brüssel
it. von L. Illica, 5. 9. 1908, Buenos Aires
it. von A. Galli?, 11. 4. 1908, Florenz
ungarisch von Emil Abrányi, 16. 2. 1908, Budapest
dt. von Otto Neitzel, 19. 12. 1907, Köln
dt. von Hermann Teibler, 19. 3. 1906, München
frz. von P. de Choudens und Paul Collin, 10. 3. 1906, Monte Carlo
it. von A. Galli, 9. 11. 1905, Genua
dt. von Fritz Karmin, 25. 5. 1905, Köln
dt. von Emil Taubert, 13. 12. 1904, Berlin
–
3. 3. 1910, Koblenz
–
–
17. 4. 1909, Wien
25. 2. 1911, Rouen
2. 6. 1914, Mailand
19. 4. 1908, Rom
–
9. 11. 1906, Paris
19. 1. 1905, Neapel
polnisch von R. Statkowski, 14. 9. 1904, Warschau –
it. von Amintore Galli, 16. 5. 1904, Mailand
dt. vom Komponisten und seiner Gattin?, 30. 3. 1904, Elbertfeld
dt. von L. Hartmann, 1903, Kassel
dt. von Hermann Teibler, 27. 11. 1903, München
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
221
R. Hartley
H. Revers
Maurice Vaucaire
Enrico Der Schmuck der Madonna/I Golisciani, gioelli della madonna Carlo Zangarini
Camille Lemonnier
Richard Batka
Carlos Fernández Shaw
E. Golisciani
P. Bianchini
Stravinskij, Rossignol/Solovey Stepan Mitusov
Jerzy Zulawski Eros und Psyche
Djelal Essad Bey
Arthur Nevin
Alfred Kaiser
Raccardo Zandonai
Wolf-Ferrari
Léon Du Bois
Karel Weis
Manuel de Falla
Wolf-Ferrari
P. Bianchini
Igor Stravinskij
Ludomir Rózychi
Radeglia
Schaaban
Radda
Der Liebhaber als Arzt/ L’amore medico
La vie brève/La vida breve
Der Sturm auf die Mühle/ Útok na mlyn
Edenie
Cochita/La Femme et le pantin
Stella maris
Poia
Maia
Paul de Choudens
Leoncavallo
türkisch
polnisch
russisch
italienisch
italienisch
spanisch
deutsch
französisch
italienisch
französisch
französisch
englisch
französisch
Susannes Geheimnis/Il segreto italienisch di Susanna
Enrico Golisciani
Wolf-Ferrari
dt. von R. Batka, 20. 2. 1918, Wien
dt. von Stefanja Goldenring und Felicitas Leo, 10. 3. 1917, Breslau
frz. von Michel Dimitri Calvocoressi, 26. 5. 1014, Paris
frz. von Joseph de Marliave, 25. 5. 1914, Paris
dt. von R. Batka, 4. 12. 1913, Dresden
frz. von P. Milliet, 1. 4. 1913, Nizza
tschechisch anonym, 29. 3. 1912, Prag
flämisch von L. van Riel, 7. 3. 1912, Antwerpen
dt. von Hans Liebstöckl, 23. 12. 1911, Berlin
it. von C. Zangarini, 14. 10. 1911, Mailand
dt. von A. Kaiser, 25. 11. 1910, Düsseldorf
dt. von Eugenie von Huhn, 23. 4. 1910, Berlin
it. von Angelo Nessi, 15. 1. 1910, Rom
dt. von M. Kalbeck, 4. 12. 1909, München
–
2. 9. 1917, Warschau
18. 6. 1914, London
24.1. 1924, Venedig
25. 3. 1914, New York
14. 11. 1914, Madrid
13. 3. 1914, Wien
–
16. 1. 1912, Chicago
11. 3. 1929, Paris
–
konzertant Januar 1907, Pittsburgh
–
14. 3. 1911, New York
222 Herbert Schneider
Renard Mavra
Andromeda/Andromède
Malipiero
Prokof’ev
Stravinskij Boris Kochno
Mme Maurice
Edmond Guiraud
Béla Diósy
P. Maurice
Melchior Lengyel
Frederick Nygaard
Cyrill Scott
Malipiero
Malipiero adaptiert nach Goldoni
G. F. Malipiero
Sergej Prokof’ev
Stravinskij Stravinskij
Pierre Maurice
Igino Robbiani
Ede Poldini
Pierre Maurice
Theodor Szántó
Ebbe Hamerik
Cyrill Scott
G. F. Malipiero
Malipiero
deutsch
französisch
französisch
russisch russisch
russisch
italienisch
spanisch
französisch
La Bottega da Caffè, Sior Topdero Brotolon, Le Baruffe Chiozzotte/Drei Goldonische Komödien
Orfeo, ovvero L’ottava canzone (L’Orfeide, Teil 3) La morte delle maschere (Teil 1)
Der Alchimist
Stepan
Taifun
italienisch
italienisch
englisch
dänisch
ungarisch
Nachts sind alle Katzen grau/ französisch La nuit tous les chats sont gris
Hochzeit im Fasching/ Farsangi lakodalom
Anna Karenina
L’amour des trois oranges/ Lyubov’k tryom apel’sínam
Sept chansons/Sette canzoni
Gli Eroi
Berutti
Arturo Berutti
Monsieur Beaucaire
André Rivoire, Pierre Veber
André Messager
21. 11. 1925, Paris
dt. von W. Aron, 24. 3. 1926, Darmstadt
dt. von Willi Aron und Erich Orthmann, 5. 11. 1925, Düsseldorf
dt. von Hans Andreae, 28. 5. 1925, Essen
dt. von Frank von der Stucken, 30. 11. 1924, Mainz
dt. von Jenö Mohacsy, 29. 11. 1924, Mannheim
dt. von Hans Jelmoli, 1924, München
ungarisch von Ernö Vajda, Budapest 1924
it. von J. Robbiani, 6. 5. 1924, Rom
dt. von Hanns von Gumppenberg, 23. 4. 1924, Basel
frz. von Charles Ferdinand Ramuz, frz. von J. Larmanjat, 2. 6. 1922, Paris
frz. von Véra Janacopulos, 30. 12. 1921, Chicago
frz. von Henry Prunières, 10. 7. 1920, Paris
27. 3. 1936, Pola
23. 2. 1936, Venedig
–
31. 3. 1926, Kopenhagen
26. 2. 1926, Budapest
–
?
–
–
– Frühjahr 1928, Leningrad
18. 2. 1926, Leningrad
18. 5. 1926, Turin
it. von Emilio Campana, 23. 8. 1919, Buenos Aires –
engl. von Frederick Lonsdale und Adrian Ross, 7. 4. 1919, Birmingham
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
223
Henri Hoppenot
Claudio Guastalla
Leonid Andreev
Malipiero
Malipiero, frühe ital. Gedichte
H. Hoppenot
E. Góth
Prokof’ev
W. P. Drury, R. Pryce
Milhaud
Respighi
Nicolai Tcherepnin
Malipiero
Malipiero
Milhaud
Ernö Dohnányi
Prokof’ev
Albert Coates
2
Wolf-Ferrari
Wolf-Ferrari
englisch
russisch
deutsch
dt. von Max Meyerfeld, 21. 12. 1929, München
frz. von Paul Spaak, 29. 4. 1929, Brüssel
ungarisch von Zsolt Harsányi, 9. 2. 1929, Budapest
–
Petersburg 1917, Aufführung fiel wegen der Revolution aus
24. 2. 1929, Nürnberg
dt. von Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking, – 20. 4. 1928, Wiesbaden
französisch
Rundfunk, 21. 2. 1936, London
5. 3. 1933, San Remo
9. 2. 1934, New York
24. 11. 1928, New York
?
?
dt. von R. S. Hoffmann, 31. 3. 1928, Prag
dt. von R. S. Hoffmann, 8. 3. 1928, Mainz
dt. von R. S. Hoffmann, 31. 1. 1928, Weimar
dt. von Werner Wolff, 18. 11. 1927, Hamburg
dt. von Rudolf Stephan Hoffmann, 17. 7. 1927, Baden-Baden
dt. anonym, 21. 4. 1927, München
dt. von R. Batka und Hans Schilling-Ziemssen, 12. 24. 1. 1931, Triest 2. 1927, Gera
italienisch
italienisch
russisch
italienisch
französisch
italienisch
italienisch
Der zweisprachige Klavierauszug erschien bei UE. L’Abandon d’Ariane/Die verlassene Ariadne/Opéra minute en cinq scènes/Opéra minute in fünf Szenen/ DARIUS MILHAUD/Paroles de/Text von/HENRI HOPPENOT/Ins Deutsche übertragen von R. S. Hoffmann/1927/Partition pour chant et Piano/Klavierauszug mit Text/Droits d’exécution réservés – Aufführungsrecht vorbehalten/UNIVERSAL=EDITION A. G./WIEN Copyright 1928 by Universal-Edition LEIPZIG/ printed in Austria; VN 8972.
Samuel Pepys
Le Joueur/Igrok
Der Tenor
Der befreite Theseus/La délivrance de Thésée Die verlassene Ariadne/ L’abandon d’Ariane2
Filomela und ihr Narr/ Filomela e l’Infatuato
Der falsche Harlekin/Il finto Arlecchino
Ol-Ol
Die versunkene Glocke/La campana sommersa
Die Entführung der Europa/ L’enlèvement de l’Europe
Das Himmelskleid/Il veste di cielo
V. Gnecchi, La Rosiera Carlo Zangarini
Vittorio Gnecchi
224 Herbert Schneider
Paul Claudel
G. Antheil
Ahmed Muradbegovic
J. Weinberger
Malipiero, alte ital. Gedichte
A. F. Goodrich
Malipiero
Luigi Pirandello
O. Ritter, Ignaz Michael Welleminsky
H. Cain
Nino=Michel Veber
G.C. Menotti
Milos Kares
Milhaud
George Antheil
Jakov Gotovac
Jaromír Weinberger
Malipiero
Richard Hageman
Malipiero
Malipiero
Kurt Atterberg
Franco Alfano
Albert Roussel
Gian Carlo Menotti
J. Weinberger
englisch
italienisch
tschechisch
kroatisch
englisch
französisch
Wallenstein
Amelia goes to the Ball/ Amelia al ballo
Testament Tety Karoliny/Le testament de la tante Caroline
Cyrano de Bergerac
Fanal
Die Legende vom vertauschten Sohn/La favola del figlio cambiato3
tschechisch
italienisch
französisch
französisch
deutsch
italienisch
Le aquile di Aquilea, I corvi italienisch di San Marco (Il mistero di Venezia)/Mysterium Venedigs
Tragödie in Arezzo/ Caponsacchi
Torneo Notturno/Komödie des Todes
Die geliebte Stimme/ Milovany Hlas
Morana
Transatlantic
Christoph Columbus/ Christophe Colomb
dt. von Max Brod, 18. 11. 1937, Wien
engl. von G. Mead, 1. 4. 1937, Philadelphia
tschechisch von Julie Reisserova, 14. 11. 1936, Ölmütz
it. von Cesare Meano und Filippo Brusa, 22. 1. 1936, Rom
schwedisch von K. Atterberg, 27. 1. 1934, Stockholm
dt. von H. F. Redlich, 13. 1. 1934, Braunschweig, 3. 3. 1934, Darmstadt
dt. von R. S. Hoffmann, 15. 12. 1932, Coburg
dt. von W. Wolff und Julius Kapp, 18. 2. 1932, Freiburg
dt. von Hans Ferdinand Redlich, 15. 5. 1931, München
dt. von Robert Michel, 28. 2. 1931, München
tschechisch anonym, 29. 11. 1930, Brno
dt. von R. S. Hoffmann, 25.2. 1930, Frankfurt
dt. von R. S. Hoffmann, 5. 5. 1930, Berlin
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4. 4. 1938, San Remo
11. 3. 1937, Paris
29. 5. 1937, Paris
17. 2. 1934, Braunschweig (Flammendes Land)
24. 3. 1934, Rom
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4. 2. 1937, New York
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–
3. 10. 1931, Zagreb
–
6. 12. 1936 Paris (konzertant)
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
225
Malipiero nach La vita è sogno Calderons La vida sueño
Malipiero
italienisch
italienisch
französisch
dt. anonym, 30. 6. 1943, Breslau
dt. von Franz Rau?, 4. 6. 1943, Hannover
flämisch von August Louis Baeyens, 7. 10. 1939, Antwerpen
?
?
8. 5. 1940, Paris
104 Opern italienisch-deutsch (22), französisch-deutsch (17), englisch-deutsch, französisch-italienisch (9), deutsch-ungarisch, englisch-italienisch, russischfranzösisch (5), italienisch-französisch (3), französisch-englisch, französisch-flämisch, spanisch-italienisch, dänisch-deutsch, tschechischdeutsch, ungarisch-deutsch (2), französisch-tschechisch, italienisch-tschechisch, englisch-französisch, italienisch-englisch, deutsch-französisch, deutsch-rumänisch, deutsch-tschechisch, deutsch-schwedisch, deutsch-polnisch, spanisch-französisch, portugiesisch-französisch, norwegischdeutsch, russisch-deutsch, polnisch-deutsch, kroatisch-tschechisch, türkisch-deutsch, schwedisch-deutsch (1).
Der Kuckuck von Theben/Gli dei a Thebe
Ludwig Andersen (L. Strecker), Mario Ghisalberti
Wolf-Ferrari
Médée
Madeleine Milhaud
Milhaud
226 Herbert Schneider
Wie relevant sind Übersetzungen bei der Edition von Libretti?
227
228
Herbert Schneider
Anhang 2: Darius Milhaud: La Délivrance de Thesée [sic], opéra-minute en six scènes, paroles de Henri Hoppenot. Der befreite Theseus, Opéra-minute in sechs Szenen, deutsche Fassung von Karlheinz Gutheim, Wilhelm Reinking. The Liberation of Theseus, Opéra-minute in six scenes, English version by Eric Smith. Partition pour chant et piano. Klavierauszug. Vocal score. Wien: Universal Edition, 1928, S. 6 und 7.
Dörte Schmidt
Der Text und die Komposition Editorische Perspektiven auf die Texte zu Bühnenwerken und Vokalkompositionen im Werk von Bernd Alois Zimmermann mit einem Schwerpunkt auf dem Libretto der Oper Die Soldaten* Zwar hat Bernd Alois Zimmermann mit Die Soldaten nur eine einzige Oper hinterlassen, gleichwohl eröffnet der editorische Blick auf das Libretto eine Perspektive, die über dieses eine Werk hinausreicht und von grundlegender Bedeutung für den editorischen Umgang mit Texten in Zimmermanns kompositorischem Schaffen ist. Nicht nur gibt es ein weiteres, nicht abgeschlossenes Opernprojekt, Medea nach Hans Henny Jahnn, das zeigt, wohin die mediale Erweiterung des Theaters hätte führen können und welche Textsorten dann hinzuträten: Zu diesem Plan existiert neben dem Exemplar des Jahnn’schen Stückes, in dem Zimmermann den Schauspieltext eingerichtet, vor allem gekürzt hat, und einem auf dieser Grundlage hergestellten Librettotyposkript das Fragment eines Drehbuchs zu einer Liebesszene (überdies zugehörige Zeichnungen und eine Proportionenskizze, die Dauern der Kameraeinstellungen dieser Szene regelt).1 Auch die Werke des sogenannten ,Oratorien-Projektes‘ (von der Kantate Omnia tempus habent über Antiphonen und Requiem für einen jungen Dichter bis zur Ekklesiastischen Aktion) vertonen Texte und beziehen zunehmend auch mediale und szenische Dimensionen ein. Eine weitere im Zusammenhang mit dem musikalischen Theater aufschlussreiche Gruppe von szenischen Texten mit sehr unterschiedlichem Status gehört ins Umfeld der Ballette: Sie können zum Werktext selbst gehören (so die
*
Mein herzlicher Dank gilt den Mitarbeitern des Lesesaals des Archivs der Akademie der Künste für alle Unterstützung und vor allem Heribert Henrich, dem für Zimmermann zuständigen Wissenschaftler, der mir nicht nur immer geduldig Auskunft auf alle Fragen gegeben, sondern überdies mehr als großzügig für die Vorbereitung des diesem Text zugrundeliegenden Vortrages noch vor dem Erscheinen Einsicht in sein Manuskript des Werkverzeichnisses gewährt hat, das nun in der Art eines Catalogue raisonné unverzichtbare Grundlage jeder philologischen Zimmermann-Forschung ist. Im Folgenden werden relevante Quellen der leichteren Greifbarkeit wegen in der Regel aus der im Werkverzeichnis enthaltenen und sehr umfassenden Dokumentation zitiert. Für die Erlaubnis, unpublizierte Quellen abzudrucken, danke ich sehr herzlich Bettina Zimmermann, Köln. 1 Die Entwürfe zu diesem Werk sind der Systematik des Werkverzeichnisses folgend dort nicht aufgeführt (es enthält nur diejenigen Fragmente, zu denen sich im engeren Sinne musikalische Quellen erhalten haben). Das Findbuch zum Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv der Akademie der Künste weist sie im einzelnen nach: 1. Libretto-Einrichtung in: Bernd Alois Zimmermann: Medea. Hrsg. von Joachim Schöndorff. München 1963, Druck mit autographen Eintragungen, Archiv der Akademie der Künste Berlin, Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv (im Folgenden: AdK BAZA): Lfd. Nr. 745; 2. Libretto, maschinenschriftlich mit autographen Eintragungen, 71 fol., AdK BAZA: 1.62.4.1; 3. Drehbuch zur Liebesszene, 2 fol. maschinenschriftlich mit autographen Ergänzungen, AdK BAZA: 1.62.13.2 (www.adk. findbuch.net). Die letztgenannte Quelle ist transkribiert in: Klaus Ebbeke: Bernd Alois Zimmermann. Dokumente zu Leben und Werk. Berlin 1989, S. 121ff.
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Dörte Schmidt
szenisch-choreographischen Hinweise in der zweiten Fassung von Lob der Torheit, vor allem aber Présence), sich aber auch als Nebentext in musikalischen Publikationen (wie im Fall von Alagoana im Klavierauszug) sowie in den Programmheften zu Aufführungen oder sogar in Korrespondenzen finden (vom Autor des zugrundeliegenden Puppenspiels bei Das Gelb und das Grün, vom Komponisten selbst bei Alagoana).2 Schließlich stellt sich die Frage, wie die Texte zu den Bühnenmusiken3 und Hörspielen4, oder aber diejenigen zu den Filmmusiken zu behandeln wären.5 Schon eine erste Bestandsaufnahme auf der Grundlage des Werkverzeichnisses offenbart die Vielfalt der Textsorten und Quellenarten, mit denen man es im Werk Zimmermanns zu tun bekommt. Manche Überlieferungen solcher Texte gehören in den Entstehungsprozess, manche in die Phase der Drucklegung oder auch die der Aufführung – ein Sonderfall ist hier die Musique pour les Soupers du Roi Ubu, deren Partitur eine Anweisung enthält, nach der für jede Aufführung neue Couplets für den Auftritt eines Conférenciers zwischen den Sätzen erstellt werden sollen.6 Die kompositorische Auseinandersetzung mit einem oder mehreren literarischen ,Gegenübern‘, die auch für sich eine eigenständige Publikationsgeschichte haben, spielt in der überwiegenden Zahl dieser Kompositionen eine Rolle. Nicht selten werden die Grenzen zwischen szenischen und konzertanten Werken durchlässig. Und von den frühen Radio- und Film arbeiten bis zu den Soldaten, dem Medea-Fragment und dem Requiem ist die Textüberdies auch mit der Medienfrage verknüpft. Das Feld ist also durchaus komplex. Aus editorischer Sicht, so deutet sich bereits hier an, kann es im Werk Zimmermanns zum einen relevant werden, in welchem Stadium der Werkentstehung und Fertigstellung die Überlieferungen der Textquellen anzusiedeln sind. Zum anderen muss man offensichtlich auch damit rechnen, dass die zu edierenden szenischen bzw. komponierten Texte auf verschiedene Weise in die Kompositionen selbst eingehen oder aus ihnen hervorgehen können. In den Werken bis Ende der 1950er Jahre ist für Zimmer-
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Zu den einzelnen Quellen: Heribert Henrich: Bernd Alois Zimmermann: Werkverzeichnis. Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmerman und ihrer Quellen, erstellt unter Verwendung von Vorarbeiten von Klaus Ebbeke (†). Mainz 2013; zur Textgrundlage von Lob der Torheit, S. 611ff., zu den szenisch-choreographischen Hinweisen in der Partitur der zweiten Fassung siehe den Brief an Ludwig Strecker, 6.9.1959, S. 628, sowie S. 631; zu Alagoana: die Inhaltsangabe für das Programm der Bühnen der Stadt Essen 1955, S. 136, und das Szenario für den Klavierauszug, S. 138; zum Werkkomplex um Das Gelb und das Grün und Kontraste: das Szenario von Fred Schneckenburger, S. 751, sowie die Synopsen S. 151 und 748; zu Présence, S. 157ff., sowie den Brief an Diether de la Motte, 3.6.1961, der zeigt, dass auch hier ein Szenario mit veröffentlicht werden sollte: „Dem Werk voraus müsste eine knappe ‚szenische Bemerkung‘ gestellt werden, die noch folgt.“ S. 163, siehe überdies das Schreiben an die GEMA, 13.7.1961, S. 165. Neben dem bereits erwähnten Szenario zum Puppenspiel Das Gelb und das Grün finden sich z. B. unter den Quellen zur Bühnenmusik zu Die Grasharfe, Sam Egos Haus und Der Graf von Ratzeburg Textbuchtyposkripte mit Eintragungen, siehe Henrich 2013 (Anm. 3), S. 760, 765 und 769. Hierzu teilt das Werkverzeichnis keine Textquellen mit. So findet sich beispielsweise unter den Quellen zur Filmmusik von Sintflut und Arche ein Typoskript mit der Überschrift „Musikplan: ‚Sintflut und Arche‘“ mit der Zuordnung von Filmmetern, Dauernangaben für die Musik, Kameraeinstellungen und Text, siehe Henrich 2013 (Anm. 3), S. 784. Hierzu ebd., S. 177–189.
Der Text und die Komposition
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mann die Tendenz typisch, von einem eher traditionellen Setting auszugehen, d. h. von einem ,zu vertonenden‘ Text oder Szenario, das separat vorliegt und in den meisten Fällen potentiell auch am Ende ohne größere Schwierigkeiten als eigener Text ediert werden kann. Das gilt für die frühen Lieder und Kantaten genauso wie für das Szenario zur zweiten Fassung von Lob der Torheit, sowie diejenigen zu Das Gelb und das Grün oder Alagoana. Der Umgang mit der Textgrundlage zur Kantate Omnia tempus habent entspricht gleichfalls im Grunde dem traditionellen Vorgehen, und auch in Antiphonen ist nicht die Frage nach dem Textstatus das Besondere, sondern vielmehr der Umstand, dass die Texte in einem Instrumentalstück von den Musikern gesprochen werden. Vermutlich rücken die unterschiedlichen Überlieferungsbedingungen deshalb selten in den Blick; bei Zimmermann allerdings wird das relevant, weil es im Laufe seiner kompositorischen Entwicklung zunehmend zur Überschreitung dieser Vorstellung zugunsten einer Einverleibung der Textebene in ein plurimediales kompositorisches Gefüge kommt, die es nicht mehr ohne Weiteres erlaubt, Komposition und Worttext in traditioneller Weise separat zu denken – die auktoriale Intention des Komponisten dynamisiert das Verhältnis zum Text. An dem sich über viele Jahre hinziehenden Kompositionsprozess zur Oper Die Soldaten lässt sich eben diese Entwicklung beispielhaft beobachten und das macht den Fall für editorische Fragestellungen so aufschlussreich. Zu Beginn der Arbeit bestimmt noch eine traditionelle Vorstellung vom Libretto Zimmermanns Denken: Nach der Entscheidung für das Lenz’sche Drama richtet der Regisseur Erich Bormann (zu der Zeit Oberspielleiter der Kölner Oper) den Schauspieltext in Absprache mit Zimmermann für die Komposition ein. Es entsteht eine Textbuchfassung, die alle Züge dessen aufweist, was landläufig und auch schon zur Entstehungszeit der Soldaten als ,Literaturoper‘ bezeichnet wird, d. h., sie hält sich eng an den literarischen Dramentext der Vorlage, den sie vor allem kürzt, während sie aber in Sprachform und Szenenführung weitgehend der Vorlage folgt.7 Dies spiegelt sich auch in den Bemerkungen Zimmermanns zu dieser Frage wider, namentlich in der Korrespondenz mit dem Verlag, wo
7
Der auf Edgar Istel zurückgehende Begriff ist von Carl Dahlhaus in den 1980er Jahren, angeregt durch die enorme Produktion solcher Werke in der Nachkriegszeit, prominent in die musikwissenschaftliche Debatte gebracht worden. Dahlhaus ordnet Zimmermanns Soldaten unter die systematisch gefasste Kategorie der ,Literaturoper‘ ein, auch wenn dieses Werk am Ende seiner spezifischen Definition einer Oper, „deren Szenenführung und sprachliche Form aus einem Drama stammen“, nicht mehr im engeren Sinne entspricht; Carl Dahlhaus: Zur Dramaturgie der Literaturoper (1982). In: ders.: Vom Musikdrama zur Literaturoper. München u. a. 1989, siehe die Definition S. 295, sowie zu Zimmermann S. 300. Zur Einrichtung des Librettos siehe auch Dörte Schmidt: Lenz im zeitgenössischen Musiktheater. Literaturoper als kompositorisches Projekt bei Bernd Alois Zimmermann, Friedrich Goldmann, Wolfgang Rihm und Michèle Reverdy. Stuttgart 1993, vor allem die Übersicht S. 48. Im Titel dieser Studie bin ich Dahlhaus in der Einordnung unter die Kategorie ,Literaturoper‘ gefolgt, um den literarischen Text als Ausgangspunkt für mögliche kompositorisch-produktive Aneignungen und Überschreitungen von literarischen Texten in einigen Musiktheaterwerken der Avantgarde nach 1950 zu benennen, siehe ebd., S. 2ff. Zum diskursiven Gebrauch des Begriffs siehe auch meinen Art. „Literaturoper“. In: Opernlexikon. Hrsg. von Silke Leopold. Kassel, Druck i.V.
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Dörte Schmidt
es ja immer auch um die Autorenrechte geht.8 Von Beginn an kehrt Zimmermann die Nähe zum Schauspiel hervor, sieht gleichwohl diese Einrichtung zur Komposition als eigene Textebene mit eigener Autorschaft an. Unter dieser Voraussetzung gesteht er Bormann zunächst noch durchaus eine Rolle in diesem Arbeitsschritt zu, betont aber bereits früh auch seine eigene substantielle Beteiligung. So schreibt er Ende November 1957 an Werner Pilz vom Schott-Verlag: Ich habe das Stück zusammen mit Bormann in die erforderliche Dimension gebracht, d. h. es brauchte nur einiges gestrichen zu werden, um die Handlung auf das Wesentliche zu konzentrieren. Den Schluss habe ich geändert, der bei Lenz etwas schwach ist. Ich bin fasziniert und hingerissen von diesem Lenz, der, verkannt von seinen Zeitgenossen, für den Pulsschlag einer Ewigkeit einer der ganz Grossen [sic] Dichter war. Um einige schöne Arientexte zu haben, suchte ich ein paar Gedichte von Lenz heraus, die denen des jungen Goethe standhalten, wenn nicht gar überlegen sind.9
In einem Brief an den gleichen Empfänger Ende Juli des folgenden Jahres schränkt er das auktoriale Eigengewicht der Eingriffe durch Bormann ausdrücklich ein: Ich möchte [...] allerdings gleich sagen, dass ich eine sprachliche Bearbeitung des Stoffes sowie eine Bearbeitung überhaupt nicht für angezeigt halte. Das Besondere des Stücks [...] würde empfindlich darunter leiden, und die von Herrn Bormann und mir angefertigte „Bearbeitung“ des Stoffes ist lediglich eine Kürzung [...].10
Und an einen Herrn Lang am Meininger Theater schreibt Zimmermann drei Wochen später, es seien zwar Kürzungen notwendig, vor allem am Ende, aber: Das Dichterwort wurde in keinem Falle verändert, mit Ausnahme einer Zusammenlegung mehrerer Offiziers- und Soldatenszenen wurde der für Lenz typische und faszinierende Szenenaufbau beibehalten.11
8
Anders als Martin Zenck in seiner Besprechung des Werkverzeichnisses andeutet, ist diese Verlagskorrespondenz, soweit sie die Entstehungsbedingungen beleuchtet, dort durchaus breit (jedoch aus nachvollziehbaren Gründen nicht vollständig) ausgewertet, wenn auch eher (wie im vorliegenden Fall vor allem relevant) aus philologischer, denn aus ästhetischer Perspektive. Der von Zenck ausführlich diskutierte Brief Zimmermanns an den Kölner Intendanten Oscar (nicht: Otto!) Fritz Schuh vom September 1959, der sich dort in einer von Ludwig Strecker annotierten Abschrift teilweise erhalten hat, ist für die kompositionstheoretische Mythenbildung wohl wichtiger als für die konkrete Entstehungsgeschichte selbst, die im Werkverzeichnis naturgemäß vor allem im Fokus stand. Vgl. Martin Zenck: Quer zu den Zeiten. Das von Heribert Henrich herausgegebene Werkverzeichnis von Bernd Alois Zimmermann bildet den Grundstein einer sich in Konzertleben und Wissenschaft abzeichnenden Zimmermann-Renaissance. In: Neue Zeitschrift für Musik 175, 2014, H. 4, S. 56–61. 9 Bernd Alois Zimmermann an Werner Pilz, Schott-Verlag, 28.11.1957, zit. in: Henrich 2013 (Anm. 3), S. 71. Die erwähnten Gedichte sind nachträglich mit Maschinenschrift in einen Durchschlag von Bormanns Librettoentwurf eingetragen worden, siehe ebd., zu Quelle T 4, S. 44. 10 Bernd Alois Zimmermann an Werner Pilz, Schott-Verlag, 30.7.1958, zit. in: ebd., S. 72. 11 Bernd Alois Zimmermann an Herrn Lang, Meininger Theater, 20.8.1958, zit. in: ebd., S. 73.
Der Text und die Komposition
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Dies liest sich fast wie das Muster für eine Definition von ,Literaturoper‘ – möglicherweise reagiert Zimmermann hier auf die in dieser Zeit auffällige Konjunktur genau solcher Stücke (wie sie etwa auch Wolfgang Fortner, Giselher Klebe oder der noch sehr junge Hans Werner Henze erfolgreich auf die Bühnen brachten),12 um seine Oper für das Theater attraktiv zu machen. Aber nicht allein: Die Konsequenzen, die sich aus dieser Haltung zum Operntext für das auktoriale Selbstverständnis des Komponisten ergeben, zeigen sich in einem Brief an den seinerzeit ebenfalls für den Schott-Verlag tätigen Wendelin Müller-Blattau vom Juli 1959, in dem Zimmermann die Frage der Autorschaft auf der Ebene des Honorars und d. h. auch: als Urheberrechtsproblem anspricht. Hier nun meldet der Komponist ausdrücklich auktoriale Ansprüche auch am Text an, den er – und hier liefert ihm die Idee der ,Literaturoper‘ den argumentativen Hintergrund – ausdrücklich nicht als Libretto im traditionellen Sinne verstanden wissen will, d. h. nun auch eine veritable Autorschaft des Librettisten nicht mehr anerkennt: Ich würde vorschlagen, dass Sie die Höhe der Beteiligung am Komponistenanteil mit Herrn Bormann aushandeln. Es handelt sich dabei nicht um ein Libretto sondern lediglich um eine Kürzung des Lenz’schen Stückes [...] Wenn ich mich nicht irre, nennt man das wohl in der Fachsprache „Einrichtung für die Opernbühne“. Aber es besteht kein Zweifel darüber, dass die Zusammendrängung der Szenen sowie die Einteilung in drei Akte auf hervorragende Weise vorgenommen wurde[n], und ich habe auch im Wesentlichen diese Einrichtung für die Oper benutzt. Persönlich danke ich vor allem Herrn Bormann, dass er mich auf den Stoff hingewiesen hat. Er selbst teilte mir anlässlich eines Telefongesprächs mit, dass er nicht an einer Beteiligung interessiert sei, da er mir lediglich einen für ihn selbstverständlichen Rat gegeben habe.13
Dieser Brief entsteht, kurz bevor das Opernprojekt aus inneren wie äußeren Gründen (die Kölner Oper hatte die Uraufführung abgesagt) massiv in die Krise gerät und für zwei Jahre brachliegt. Wenn Zimmermann sich schließlich vor Abschluss der kompositorischen Arbeit wieder der Frage des Textbuchs zuwendet, fasst er seine Haltung in der Frage der Autorschaft am Textbuch schärfer. Im September 1964 wendet er sich erneut an Müller-Blattau: Durch die Umarbeitung, der ich meine Oper unterzogen habe, vor allem in dramaturgischer Hinsicht, ist nun der Vertrag mit dem Verlage hinsichtlich der „Bühneneinrichtung“ von Herrn Bormann hinfällig geworden. Mit anderen Worten: von der Szeneneinteilung, welche Herr Bormann für die Komposition des Stückes in der 1. Fassung eingerichtet hatte, ist nun wirklich nichts mehr übrig geblieben, und so müsste man diesem Umstand Rechnung tragen.14
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Einen Eindruck hiervon gibt das Verzeichnis in: Für und Wider die Literaturoper. Zur Situation nach 1945. Hrsg. von Sigrid Wiesmann. Laaber 1982 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 6). 13 Bernd Alois Zimmermann an Wendelin Müller-Blattau, Schott-Verlag, 4.7.1959, zit. in: Henrich 2013 (Anm. 3), S. 75f. 14 Bernd Alois Zimmermann an Wendelin Müller-Blattau, 25.9.1964, zit. in: ebd., S. 96.
234
Dörte Schmidt
Im Februar des folgenden Jahres lenkt der Komponist ein, allerdings ausdrücklich nicht in der Sache: Ihre Argumente sind vor allem vom Künstlerisch-Menschlichen her überzeugend [...]. Lassen wir also die Beteiligung [...] für Herrn Bormann, dem ich ja immerhin den Hinweis auf das Stück zu verdanken habe.15
Zu diesem Zeitpunkt versteht Zimmermann den literarischen Text des Lenz’schen Schauspiels ausdrücklich als kompositorisches ,Material‘ und nicht mehr als Gegenstand einer Einrichtung für eine Vertonung. Deshalb wohl greift Zimmermann nun noch einmal auf das Lenz’sche Schauspiel selbst zurück – im Nachlass findet sich auch die Neuauflage der Reclam-Edition von 1961 mit Eintragungen im zweiten und fünften Akt16 – und arbeitet nicht einfach mit Bormanns Typoskript weiter. Das hat Auswirkungen auf die Frage nach dem Textstatus des Librettos. Wenn Zimmermann sich einige Zeit später ausdrücklich auch gegen die Kategorisierung ,Literaturoper‘ wendet, erscheint es ihm nötig, seine kompositorische Arbeit mit dem Text hervorzuheben: Die Soldaten sind alles andere als eine Literaturoper. [...] Bei der „Vertonung“ des Textes wurden Sprachmelodie und Wortrhythmus der Textvorlage rigoros dem Musikalischen dienstbar gemacht: einzig und allein die rhythmischen Reihen bestimmen das Geschehen, von winzigen Stellen abgesehen, wo aus dramaturgischen Erwägungen heraus zur Erhellung einer bestimmten Situation der umgekehrte Weg beschritten wird [...].17
Von der zuerst wohl eher traditionellen Idee, die Texteinrichtung durch einen Dritten (Bormann) vornehmen zu lassen und diese dann als Vorlage für eine ,Vertonung‘ zu nehmen, entfernt sich Zimmermanns Umgang mit dem Text jedenfalls sukzessive. Zugespitzt könnte man sagen: ,Vertonung‘ verwandelt sich im Laufe der Arbeit in ,kompositorische Anverwandlung‘, und zwar über die Anwendung reihentechnischer Verfahren, die das strukturelle Primat der Musik sicherstellen.18 Genau deshalb rückt der Umstand, dass das Ausgangsmaterial ein im engeren Sinne literarisches ist, erneut in den Blick: Und so greift Zimmermann 1961 noch einmal auf den Schauspieltext direkt zurück und verwendet dazu die aktuell erschienene Ausgabe. Die Arbeit am Textbuch verschränkt sich bereits vor der Unterbrechung der Komposition mit dem Kompositionsakt selbst: Textliche und dramaturgische Änderungen
15
Bernd Alois Zimmermann an Wendelin Müller Blattau, 2.2.1965, zit. in: ebd., S. 100. Siehe die Quellenbeschreibung in: ebd., S. 48. 17 Zimmermann an „Lieber Pricken“ (der Adressat konnte bisher nicht näher identifiziert werden), [Köln] 10.12.1965, zit. in: ebd., S. 105. 18 Siehe auch: ebd., S. 110. Mit der Frage der ästhetischen Hierarchien der Ebenen Text, Musik und Szene in Bühnenwerken setzt sich Zimmermann in dieser Zeit sehr intensiv auseinander. Die auch Pricken gegenüber angeführte Zeitorganisation als abstrakte, alle Ebenen gleichermaßen tragende Struktur spielt dabei eine zentrale Rolle. Siehe hierzu auch: Dörte Schmidt: Bilderverbot und Musiktheater. Bernd Alois Zimmermann, die Abstraktion der Zeit und die Bühne als Wahrnehmungsraum. In: Bild – Ton – Rhythmus. Hrsg. von Yashuhiro Sakamoto und Reinhard Meyer-Kalkus. Berlin, Boston 2014 (Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. 10.2), S. 80–97. 16
Der Text und die Komposition
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werden sukzessive in die gemeinsam mit Bormann erstellten Textvorlagen eingetragen. Das beginnt mit der Interpolation der Gedichte wohl noch vor Beginn der eigentlichen Komposition Ende 1957 und mündet schließlich darin, dass Zimmermann parallel zur kompositorischen Arbeit die dabei entstandenen Änderungen für den gesamten ersten Akt, die zweite Szene des zweiten und die ersten drei Szenen des dritten Aktes in das Typoskript einträgt, also so weit, wie er vor der Unterbrechung gekommen ist.19 Auch wenn die Arbeit am Text unmittelbar mit der kompositorischen verbunden ist, gibt es also gleichzeitig ein Bemühen darum, so etwas wie ein Libretto als eigene Textschicht zu behalten – jedoch nicht mehr in dem Sinne, dass hierin ein Vorwurf für die Komposition zu sehen wäre. Vielmehr spielt die Konvention des Textbuchdrucks im Produktionsvorgang eine entscheidende Rolle. An Anton Müller, einen Mitarbeiter der Herstellungsabteilung des Verlages, schreibt Zimmermann Ende September: Die Montage des Bandes für die letzte Szene wird Anfang Oktober in Angriff genommen. Ich werde dann auch wissen, wie die Szene graphisch zu lösen ist. Den Text der Szene erhalten Sie ebenfalls in den nächsten Tagen, damit der Druck des Textbuches alsbald in Angriff genommen werden kann.20
Im November schreibt er ihm: „Inzwischen werden ja wohl die beiden ersten Szenen des 4. Aktes im K.A. fertig sein, sodass nur noch die Frage nach dem Druck des Textbuches offensteht.“21 Die oben zitierte Positionierung zu Fragen der Autorschaft am Libretto findet also vor dem Hintergrund dieses Vorgangs statt. Zimmermann bedient hier zunächst einmal eine Verlags- und Theaterroutine, die einer spezifischen Popularisierungs- und Verbreitungsform von Opern Rechnung trägt. Diesem Anliegen folgen meines Erachtens schon einige der handschriftlichen Änderungen in den Arbeitsexemplaren des Librettotyposkripts, in denen z. B. komponierte Wortwiederholungen eingetragen wurden, vor allem aber das im Werkverzeichnis aufgeführte Typoskript T 6,22 das einen wohl relativ kurz vor der Unterbrechung noch in Erwartung der nahen Aufführung unternommenen Versuch darstellt, den ,Stand‘ des Librettos aus den bis dahin während der Komposition vorgenommenen Eintragungen in die Arbeitstyposkripte zusammenzufassen (der deshalb, dem Kompositionsprozess entsprechend, wie die Eintragungen in Bormanns Fassung auch nur bis zur dritten Szene des dritten Aktes reicht) – und zwar ganz offensichtlich bereits im Blick auf ein gedrucktes Libretto. Dass dies die erste Quelle ist, die unmittelbar auf den komponierten Text rekurriert, mag man schon daran erkennen, dass hier wie auch später in der Publikation den Szenenüberschriften (einer im 19. Jahrhundert entstandenen Konvention folgend) musikalische Formbe-
19
Siehe hierzu die Beschreibung dieses Vorgangs bei Henrich 2013 (Anm. 3), S. 110, sowie Schmidt 1993 (Anm. 8), S. 44–66. 20 Bernd Alois Zimmermann an Anton Müller, Schott-Verlag, 27.9.1964, zit. in: Henrich 2013 (Anm. 3), S. 96. 21 Zimmermann an Anton Müller, 9.11.1964, zit. in: ebd., S. 97f. 22 Siehe die Quellenbeschreibung in: ebd., S. 48.
236
Dörte Schmidt
zeichnungen beigegeben sind. Leider haben wir zur Weiterführung dieser Arbeit über die zitierten Briefstellen hinaus keine Quellen und auch die Vorlage für den Librettodruck, die Zimmermann für Schott am Ende angefertigt hat, ist bisher noch nicht gefunden worden. Die Quellen zum publizierten Libretto lassen sich auf dieser Grundlage mehreren Phasen mit unterschiedlichen Zielen zuordnen: Vorlage Texteinrichtung T 1: Reclam-Ausgabe 1957 T 2: Franz-Blei-Ausgabe T 3: Entwürfe zu Personen verzeichnis und I,1 T 4: Typoskriptfassung mit maschinenschriftlichen und autographen Eintragungen, Durchschlag von Typo skript T 5 T 5: Typoskriptfassung mit autographen Eintragungen Unterbrechung der Arbeit 1960–62 T 7: Reclam-Ausgabe 1961
Librettoedition
T 6: Vervielfältigung einer unvollständigen Typoskriptfassung mit Eintragungen von fremder Hand (bis Szene II,3 (10. Bild))
Druckfassung Textbuch 1965 [Klavierauszug 1966] [Studienpartitur 1975]
Abb. 1: Übersicht über die Textquellen zum Soldaten-Libretto (Bezeichnungen nach: Heribert Henrich: Bernd Alois Zimmermann: Werkverzeichnis. Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmerman und ihrer Quellen, erstellt unter Verwendung von Vorarbeiten von Klaus Ebekke (†). Mainz 2013).
Eine in der Tradition der Literaturbearbeitung stehende Einrichtung des Textmaterials für die Komposition mündet in ein Typoskript, das dem Komponisten als Grundlage dient. Während des kompositorischen Prozesses lagern sich an diese Fassung mehrere Überarbeitungsschichten an, überdies wird im Zuge der Wiederaufnahme der Komposition nach der Unterbrechung erneut auf das Lenz’sche Original zugegriffen. Am Ende der Kompositionsarbeit lässt sich der komponierte Text allerdings nicht mehr gleichsam mechanisch aus der Partitur herauslösen, sondern die Erstellung eines Textbuches erfordert einen eigenen Arbeitsschritt der Einrichtung, der nicht mehr Teil des Entstehungsprozesses ist, sondern erst danach erfolgen kann. Zimmermann fertigt ein Textbuch an, das sich ausdrücklich nach außen richtet, d. h. eigens für die Publikation hergestellt wird. Damit rückt dieses Libretto aus den Materialien zum Entstehungs- und Aufführungsprozess heraus und eher in den Zusammenhang der an eine interessierte
Der Text und die Komposition
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Öffentlichkeit gerichteten Veröffentlichungen, d. h. es gehört in ein Quellenbündel mit dem Klavierauszug und der Studienpartitur, also zu publikums- und aufführungsorientierten Darstellungsformen, deren Funktion sich jedoch durchaus nicht auf das Usuelle beschränkt, sondern mit denen durchaus auch jeweils spezifische künstlerische Vorstellungen verbunden sind. Was passiert in dieser Textbuchversion nun im Detail?
Abb. 2: Personenliste, aus: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 4. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
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Dörte Schmidt
Bereits die Personenliste enthält aufschlussreiche Hinweise auf die im Textbuchdruck mit implizierte Komposition: Ganz in der im 19. Jahrhundert entstandenen Tradition der Librettodrucke, die nicht mehr die Vorlage, sondern den tatsächlich komponierten Text mitzuteilen versuchen, sind hier zu den Figuren die (absichtsvoll den Echoraum der Besetzungskonventionen in der Oper aufrufenden) Stimm- bzw. Rollenfächer genannt, bei den Offizieren und Fähnrichen darüber hinaus aber auch ihre über das Singen hinausgehenden Aufgaben der Klangerzeugung; Verweis auf die Vervielfältigung der Realitätsebenen dient die Besetzung von „Doubles der Darsteller und Tänzer“. Außerdem wird das technische Equipment (also Leinwände, Lautsprecher etc.) aufgeführt, als wären auch sie im Stück auftretende Gestalten. Indem die medialen Dimensionen (Tonbandeinspielungen, Bildprojektionen und Film) so gleichsam über ihre materialen Erscheinungsformen eingeführt werden, kann auch auf ihre räumliche Disposition verwiesen werden, d. h. auf die Erweiterung des Spielfeldes in den Zuschauerraum. Schon damit ist ganz klar, dass hier ein Textbuch vorliegt, das versucht, die komponierte Fassung des Stückes wiederzugeben und nicht etwa die Kompositionsvorlage, und es deutet sich auch an, dass diese Komposition den üblichen Umgang mit einem Librettotext überschreitet. Der Blick auf den Beginn der ersten Szene in der Druckfassung des Textbuches (siehe unten Abb. 5a) bestätigt den Rekurs auf die Konvention, indem hier – wie schon in dem Entwurf T 6 – instrumentale Formen wie das Preludio oder die Introduzione zum ersten Akt neben die szenischen gestellt, musikalische Formbezeichnungen den theatralen hinzugefügt werden (Strofe) und damit der Text als komponierter ausgewiesen wird. Bemerkenswert dabei ist die unten auf der Seite stehende Anmerkung, die Regieanweisungen in Klammern seien Ergänzungen des Komponisten, die einerseits über diese Unterscheidung die weitgehende literarische Integrität des Schauspieltextes hervorhebt, andererseits aber den Komponisten und seinen Umgang mit dem Text von Beginn an auch im Libretto sichtbar hält. Diese klare Unterscheidung wird allerdings im weiteren Verlauf des Librettos nicht durchgehalten. Interessant ist nun, zu prüfen, ob sie gegebenenfalls in den nach der Unterbrechung komponierten Teilen aufgeweicht wird, d. h. dann einsetzt, wenn sich das Verhältnis zum Schauspieltext qualitativ ändert. Dafür allerdings gibt es, auch wenn sich vor allem im letzten Akt die Markierung der Ergänzungen (schon weil es kaum noch möglich wäre) so nicht mehr findet, meines Erachtens wenige Indizien. Zimmermann etabliert hier – und das wäre für eine kritische Edition dieses Librettos ein entscheidender Punkt – weniger eine philologische Strategie, vielmehr setzt er ein initiales Signal, das sowohl Lenz als auch ihn selbst als auktoriale Ebenen einführt und unterscheidet. Dies tut er gleich zu Beginn des Librettos in eben jenen Szenen, die auf den ersten Blick noch relativ nah an der Vorlage bleiben. Auf diese Weise wird die Unterscheidung jedem Leser sofort evident.
Der Text und die Komposition
Abb. 3: Beginn der ersten Szene, Typoskript T 5, AdK BAZA: 1.62.3.1, fol. 2.
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Wenn Zimmermanns Anliegen das Ausstellen des Umgangs mit der Vorlage ist, stellt sich die Frage, inwieweit zu Beginn des Textbuchs alles so geblieben ist, wie es Bormann in seinem Typoskript vorgeschlagen hatte. Auch hierüber gibt eine nähere Betrachtung des Beginns Aufschluss. Drei Schichten lassen sich unterscheiden: In Bormanns Typoskript ist der Rollentext, wie im Schauspiel auch, in Prosa notiert. Dahinein waren in T 4 nachträglich maschinenschriftlich die von Zimmermann („um einige schöne Arientexte zu haben“) ausgewählten zusätzlichen Gedichtstrophen interpoliert worden.23 In dieser ergänzten Fassung trägt Zimmermann schließlich handschriftlich weitere Änderungen ein, die sich auf den komponierten Text beziehen (siehe Abb. 3). Dass die in Bormanns Textfassung noch übernommene Prosaform des Schauspieltextes in dem bereits erwähnten Typoskript T 6 aufgegeben wird, ist eines der zentralen Argumente dafür, dass es sich dabei bereits um eine für den Druck eingerichtete Textbuchfassung des komponierten Textes handelt (ebenso wird hier der Nebentext des Schauspiels durch den der Partitur ersetzt) (Abb. 4). Der in T 6 gewählte Zeilenfall geht schließlich in die gedruckte Version ein: Hier finden sich nun nicht nur, wie ein Blick in den Klavierauszug leicht zeigt, komponierte Wiederholungen (zur Verdopplung des Anrufs „Schwester“ ist in Lenz’ Vers nun auch das Wort „um“ gestrichen, damit trotz der Ergänzung die Silbenzahl gewahrt bleibt), sondern auch Zeilenumbrüche im Prosateil des Rollentexts, die diesen formal in gebundene und eine – wenn auch nicht symmetrische – Phrasenstruktur andeutende Einheiten gliedern, die im Druck (anders als die Regieanweisungen) in der Breite optisch auch den Gedichtversen angeglichen sind, sich durch die ungleiche Silbenzahl jedoch ganz deutlich von den Gedichtversen abheben (Abb. 5a–c). In dieser Gebundenheit ist die Dimension des Komponierten als Textform aufgehoben. Damit wird die Entscheidung über den Zeilenfall zum auktorialen Akt, mit dem Zimmermann sich dem publizierten Textbuch auch an den Stellen als Autor einschreibt, wo am Wortlaut gegenüber der Vorlage nichts geändert ist – und damit eben wird dieser Text von einem Schauspieltext zu einem komponierten Operntext. Diese formale Dimension auktorialen Handelns durch den Komponisten wird auch editorisch ernst genommen werden müssen. Dass das Bemühen, den Lenz’schen Text im Textbuch zur Oper verfolgbar zu halten, auch noch am Ende des Stückes für die veröffentlichte Fassung leitend ist, zeigt der Blick auf den vierten Akt, d. h. auf die Szenen, in denen die massiven dramaturgischen Überarbeitungen greifen, die Zimmermann selbst hervorhebt und die sich schon in der Personalliste ankündigen: In diesen Szenen wird die Medienfrage durch den Einsatz von Film- und Zuspielbändern virulent, und es vervielfältigen sich die Wirklichkeits ebenen bis hin zum Einsatz von Doubles auf der Bühne.
23
Vgl. den oben zitierten Brief an Werner Pilz vom 28.11.1957, S. 236.
Der Text und die Komposition
Abb. 4: Beginn der ersten Szene, Typoskript T 6, AdK BAZA: 1.62.3.3, fol. 3.
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Abb. 5a: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 5. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
Der Text und die Komposition
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Abb. 5b: Jakob Michael Reinhold Lenz: Die Soldaten. Komödie. Mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr. Stuttgart 1957, S. 5 (d. i. die von Zimmermann und Bormann verwendete Ausgabe).
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Abb. 5c: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Klavierauszug von Markus Lehmann und Georg Kröll. Mainz 1966 (ED 5076), S. 74f. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
Der Text und die Komposition
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Hier nun stellt sich die Frage, wie so etwas in ein Libretto eingehen kann und in welchem Verhältnis dieses zur Partitur steht. Gleich zu Beginn der ersten Szene des vierten Aktes sieht man zum einen, dass gleichzeitig Ablaufendes durch Klammern angezeigt wird (Abb. 6).
Abb. 6: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 43. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
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Abb. 7a: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 44. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
Der Text und die Komposition
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Abb. 7b: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Klavierauszug von Markus Lehmann und Georg Kröll. Mainz 1966 (ED 5076), S. 463 (Ausschnitt). Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
Das ist erst einmal kein für das Musiktheater wirklich neues Problem: Dass gleichzeitig Gesungenes in Librettodrucken markiert wird, ist nicht ungewöhnlich und findet sich auch schon an früheren Stellen im Soldaten-Textbuch in diesem Sinne.24 Bemerkenswert ist dabei eher, dass Zimmermann die Filme in diesem Zusammenhang tatsächlich behandelt wie Bühnenfiguren (wie es sich in der Personenliste schon andeutete), sie also nicht mit den Regieanweisungen im Neben-, sondern gleichsam als ,Auftritte‘ im Haupttext notiert. Die Konsequenz dieser Entscheidung zeigt sich gleich auf der folgenden Seite, wo ersichtlich wird, dass der Text der Figuren in den Filmen analog zu dem der Figuren auf der Bühne notiert wird; man kann das gar nicht deutlich unterscheiden (Abb. 7a und b). Es geht im Textbuch offensichtlich vor allem darum, verfolgbar zu machen, wie der Schauspieltext (Haupt- wie Nebentext) in der Oper ,auftritt‘, d. h. sinnlich evident wird25 – folgerichtig wird hier nicht das gesamte mediale Setting ausformuliert, und es fehlen weitgehend Bemerkungen zu den Zuspielbändern, außer sie transportieren Schauspieltext (so etwa im gezeigten Beispiel „die Stimmen der Offiziere über Lautsprecher“).
24
Z. B. in I,3 und 4, S. 9–14, sowie in der ersten Kaffeehausszene II,1, S. 17–27, die formal die direkte Referenz zu IV,1 ist. 25 Das Prinzip der sinnlichen Evidenz medialer Erscheinungen wird im Textbuch nicht von ungefähr herausgestellt, spielt es doch in Die Soldaten eine zentrale Rolle, siehe hierzu Schmidt 1993 (Anm. 8), vor allem die Abschnitte „Die Wirklichkeitsebenen des musikdramatischen Gefüges“ und „Die Simultanszenen“, S. 80–99. In diesem Zusammenhang lässt sich produktiv auf das Musiktheater übertragen, was Juliane Vogel und Christopher Wild am Auftritt für das Sprechtheater diskutieren, siehe: Auftreten. Wege auf die Bühne. Hrsg. von denselben. Berlin 2014 (Recherchen. 115), darin vor allem die Einleitung S. 7–20, sowie den Beitrag von Juliane Vogel: „Who’s there“. Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater, S. 22–37.
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Studienpartitur, S. 427/Klavierauszug, S. 460:
Textbuch, S. 43:
Die Szene hat den Charakter eines Traumes: das Geschehen mehrerer Szenen spielt sich, losgelöst von deren Raum und Zeit, der Handlung vorgreifend, auf sie zurückgreifend, gleichzeitig auf der Bühne, in drei Filmen, und in den Lautsprechern ab. „Schauplätze“ sind das Kaffeehaus, ein Saal im Hause der Madame Bischof und ein imaginäres Tribunal bestehend aus allen singenden Darstellern. Insgesamt ist die Szene gewissermaßen in Dunkel gehüllt; die Bühne wird in Höhe, Breite und Tiefe blitzartig von Bruchteilen der verschiedensten Szenen erhellt, hin und her flackernd wie im Traum. Die Szene stellt insgesamt die Vergewaltigung Mariens als Gleichnis der Vergewaltigung aller in die Handlung Verflochtenen dar: brutale physische, psychische und seelische Vergewaltigung. Die Darsteller werden ggf. zweimal gedoubelt: einmal durch Tänzer, ein andermal durch Schauspieler, ggf. durch beide. Verbindlich für den Regisseur sind nur die in der Partitur angegebenen Regiebemerkungen sowie die szenischen Angaben. Die Vorbemerkung soll lediglich einen Hinweis geben für die Richtung, in die sich die Szene begeben sollte. Diese Szene spielt – wie die gesamte Oper: heute, ebenso wie gestern und morgen! Die 3 Filmleinwände sollen nicht scharf, viereckig begrenzt sein, sondern die Illusion nähren, daß das Filmgeschehen sich in die Szene hinein fortsetzt, resp. aus ihr hervorwächst. Falls die Beschaffenheit des Zuschauerraumes erlaubt, sollte mindestens eine Filmleinwand außerhalb der Bühne (jedoch für alle sichtbar!) angebracht werden. Der Vorhang hebt sich schon während des Vorspiels; Bühne bleibt dunkel. Sofort nach Schluß des Vorspiels Scheinwerfer auf den Bedienten der Gräfin, der in das Publikum hinein: „Marie fortgelaufen!“ schreit.
Die Szene hat den Charakter eines Traumes: das Geschehen mehrerer Szenen spielt sich, losgelöst von deren Raum und Zeit, der Handlung vorgreifend, auf sie zurückgreifend, gleichzeitig auf der Bühne, in drei Filmen, und in den Lautsprechern ab. „Schauplätze“ sind das Kaffeehaus, ein Saal im Hause der Madame Bischof und ein imaginäres Tribunal bestehend aus allen singenden Darstellern. Insgesamt ist die Szene gewissermaßen in Dunkel gehüllt; die Bühne wird in Höhe, Breite und Tiefe blitzartig von Bruchteilen der verschiedensten Szenen erhellt, hin und her flackernd wie im Traum. Die Szene stellt insgesamt die Vergewaltigung Mariens als Gleichnis der Vergewaltigung aller in die Handlung Verflochtenen dar: brutale physische, psychische und seelische Vergewaltigung.
Abb. 8: Regieanweisungen im Vergleich.
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Vergleicht man die Nebentexte zu dieser Szene in der Partitur bzw. im Klavierauszug mit dem Textbuch, so zeigt sich, dass diese im Libretto gegenüber der Partitur teilweise beträchtlich gekürzt sind (Abb. 8). So fallen in der ersten Szene des vierten Aktes vor allem Regieanweisungen weg, die Zimmermann hier offensichtlich nicht als so zentral ansieht. Grundlage für die szenische Umsetzung ist die Partitur, in deren Nebentext der Regisseur ausdrücklich angesprochen wird, um auch hier sicherzustellen, dass dieser die Komposition selbst und nicht diesen der Szene vorgeschalteten Nebentext als Grundlage für seine Arbeit erkennt: Verbindlich für den Regisseur sind nur die in der Partitur angegebenen Regiebemerkungen sowie die szenischen Angaben. Die Vorbemerkung soll lediglich einen Hinweis geben für die Richtung, in die sich die Szene begeben sollte.26
Eine ähnliche Tendenz weist auch der Umgang mit dem Nebentext für das sogenannte Tribunal etwas später in der gleichen Szene auf, wo die Details zur Bildebene der Filme wegfallen.27 Und der gerade in szenischer Hinsicht so vieldiskutierte Schluss ist im Libretto ebenfalls deutlich reduziert – hier die Klangebene betreffend (Abb. 9a und b). „Man hört militärische Kommandos in mehreren Sprachen“,28 steht dort zu Beginn der Szene, „Marschritt marschierender Soldaten erfüllt die Szene“ am Ende.29 Die Klangquellen hierfür sind ebenso wenig spezifiziert, wie es irgendwelche Angaben zu sonstigen Zuspielungen gibt. Auch die Frage, woher „Eisenhardts Stimme“ kommt, wird nicht näher geklärt. Das ist auffällig, auch wenn der Schluss zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Textbuchversion vermutlich noch nicht ganz fertig komponiert war.30 Der Vergleich mit dem Klavierauszug zeigt deutlich, dass die kompositorische Gesamtkonzeption der Szene im Textbuchdruck zurücktritt hinter das Ziel, den Umgang mit dem Lenz’schen Text verfolgbar zu halten. Bemerkenswert ist, dass Zimmermann dem Textbuch wie Partitur und Klavierauszug zwar die Widmung des Werkes voranstellt: „dem Andenken an Hans Rosbaud“, den Klavierauszug anders als das Libretto aber zusätzlich mit der Signatur „O.A.M.D.G.“ (Omnia ad majorem dei gloriam) zeichnet, mit der er seine Partituren schließt. Das publizierte Textbuch der Soldaten ist offenbar nicht Teil des autorisierten ,Werktextes‘ 26
Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Studienpartitur. Mainz 1975 (ED 6343), S. 441. Diese Formulierung findet sich genauso auch in: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Klavierauszug von Martin Lehmann und Georg Kröll. Mainz 1966 (ED 5076), S. 489. Vgl. Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 46. 27 Siehe die Regieanweisung zum Tribunal in: Studienpartitur (Anm. 28), S. 441, bzw. Klavierauszug (Anm. 28), S. 489, vgl. dagegen Textbuch (Anm. 28), S. 46. 28 Textbuch, S. 51. 29 Ebd., S. 52. 30 Offensichtlich lag die Partitur der Schlussszene dem Verlag zur Herstellung erst am 9. November 1964 vor. Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit an den Bändern selbst aber noch nicht abgeschlossen. Dies sollte noch bis Januar 1965 dauern. Siehe Henrich 2013 (Anm. 3), S. 120f.
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Abb. 9a: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Textbuch. Mainz 1965, S. 52. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
Der Text und die Komposition
Abb. 9b: Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten. Oper in vier Akten, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz. Klavierauszug von Markus Lehmann und Georg Kröll. Mainz 1966 (ED 5076), S. 421. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.
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im emphatischen Sinne, aber es repräsentiert gleichwohl das Werk. Es tut dies als gewissermaßen hybride Textform, deren Referenzebene die zeitgenössische Vorstellung von der Funktion eines Librettos ist, der es seine Entstehung überhaupt verdankt (so gibt es eine vergleichbare Konvention etwa zu den Werken des ,Oratorien-Projektes‘ nicht und also auch keine auktorialen Textbuchfassungen).31 Weder bildet das Textbuch den Kompositionsvorwurf ab, noch den Text in der Partitur, noch den einer bestimmten Aufführung. Weil sich in dieser Oper der Text aber nicht mehr ohne Weiteres aus dem Werk extrahieren lässt, geht diese Textform nicht als gleichsam sekundäre in ihrer pragmatischen Funktion auf, sondern die Herstellung eines solchen Textbuchs erfordert auktoriale Entscheidungen und muss im vorliegenden Fall der Autorschaft des Komponisten zugeschrieben werden, die sich von der am Werk selbst noch einmal unterscheidet. Nimmt man am Ende aus philologischer Sicht die Fährte der Debatten zum Thema ,Literaturoper‘ wieder auf, so wird man bemerken, wie selbstverständlich in diesem Zusammenhang der Blick auf die Vorlage wie auf das Libretto (als Ergebnis einer Gattungstransformation) bestimmt ist von der Frage, ob es sich jeweils um kodifizierte literarische Werktexte handele oder nicht – danach entscheidet sich nicht nur in der Regel die systematische Zuordnung zu ,Literatur-‘ oder ,Librettooper‘, sondern auch die Zuordnung der Autorschaften. So spiegelt sich auch in Zimmermanns Argumentationen wider, dass in der ,Librettooper‘ der Text eine eigene Autorschaft zugebilligt bekommt, während in der ,Literaturoper‘ höchstens der Status des Bearbeiters zu haben ist, außer der Komponist tritt im Prozess der Komposition direkt in Interaktion mit der literarischen Vorlage: Dann entsteht ein intertextuelles Gefüge zweier Werktexte, die beide mit vollem Recht künstlerische Autorschaft beanspruchen können. Diese Vorstellung allerdings birgt die Gefahr, die beteiligten Texte von vornherein von ihrer konkreten Überlieferung und deren Funktionen abgelöst zu denken. Eine (auch historische) Würdigung der Überlieferungsmedien im Detail aber differenziert den Blick auf deren mediale wie auktoriale Konstruktion und lässt auch hervortreten, wie diese spezifische und vor allem unterschiedliche Perspektiven auf die mediale Verfasstheit der Stücke selbst eröffnen. Genau damit arbeitet Zimmermann, und dies will auch das publizierte Textbuch transportieren. Die verschiedenen Medien werden bei Zimmermann nicht nur im Stück selbst, sondern auch in dessen Überlieferung zum Gegenstand des Experiments, der Bearbeitung und damit ihrerseits zu Konstruktionen – sie sind eben gerade nicht klar abgrenzbar, sondern es eröffnet sich ein produktiver Zwischenraum, in dem die Verläufe der Grenzen zwischen den Medien und ihren Codes erkundet und 31
Im Falle des auf der Textebene mehr als komplexen Requiems für einen jungen Dichter ist Zimmermann vermutlich aus persönlichen Gründen nicht mehr so weit gekommen, dass Fragen der Textedition wie auch abschließend der Partituredition mit dem Verlag hätten diskutiert werden können. Deshalb ist nicht entscheidbar, ob Zimmermann in diesem Fall eine eigene Textbuchveröffentlichung, wie sie schließlich im Zuge der Aufführungsgeschichte versucht worden ist, schon von vornherein für sinnvoll erachtet hätte. Siehe hierzu Henrich 2013 (Anm. 3), S. 713, sowie Gerd Labroisse, Elisabeth J. Bik, Kees Merks und Marinus von Hattum: Texte und Textbehandlung in Bernd Alois Zimmermanns Lingual Requiem für einen jungen Dichter. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 5, 1976, S. 65–130.
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in vielfältiger Weise neu konstituiert werden können. Dies spiegelt sich in den hier diskutierten Quellen, die notgedrungen dazu einen Standpunkt entwickeln müssen, um das Werk überhaupt notieren, das heißt dem Verschwinden im theatralen Performativ entreißen zu können. Versteht man nicht nur die Oper selbst als Mediensynthese bzw. Medientransformation, sondern auch ihre Überlieferung als eine Überlieferung ,implizierter Plurimedialität‘, als Medienbündel, so wird am Beispiel der Soldaten deutlich, dass die Mediengrenzen im Werk und seinen Überlieferungsformen nicht parallel laufen müssen, sondern unterschiedlichen Absichten unterworfen sein können. Vor diesem Hintergrund wird es im Falle einer Edition der Zimmermann’schen Werke im Blick auf die komponierten Texte und Szenarien und besonders der Edition des Textbuchs der Soldaten unerlässlich sein, zwei Perspektiven zu verbinden: die auf die Funktion des Textbuchs bzw. Szenarios vor dem Hintergrund der Textbuchtradition im Konzert- und Theaterleben der Zeit (nicht nur in den Neuproduktionen, sondern auch im Repertoire), aber auch die auf die Zusammenhänge im Arbeitsprozess des Komponisten. Dann nämlich tritt nicht nur hervor, dass (was im Grunde immer gilt), sondern auch in welcher Weise ,Libretto‘ (in der Folge auch Szenario etc.) kein universal beschreibbarer Idealtypus eines Theatertextes ist,32 sondern ein Kommunikationsmedium, dessen mediale Funktion und dessen Textstatus jeweils bestimmbar sind und im Verhältnis zu den anderen Medien, die hierbei eine Rolle spielen, auch bestimmt werden müssen. Das kann in manchen Situationen zur Kanonisierung einer ,musikoliterarischen‘ Gattung führen (so z. B. bei Metastasio),33 muss es aber nicht. Natürlich hat das Folgen für die Edition. Um editorische Entscheidungen überhaupt zu ermöglichen, gilt es also gegebenenfalls auch innerhalb der Überlieferung eines Werkes mit graduellen wie qualitativen Funktionswechseln zu rechnen. Im Falle Zimmermanns liefert die Statusbestimmung schließlich die Begründung dafür, das Libretto zu den Soldaten separat zu edieren und nicht nur als Bestandteil der Partitur in deren Anhang, auch wenn es sich nicht um einen im literarischen Sinne eigenständigen Text handelt, sondern er seine auktoriale Eigenständigkeit am Ende einer Konvention des Opernbetriebs verdankt. Und dies liefert in der Folge auch im Detail die entscheidenden Kriterien für die kritische Revision des Textes – z. B. in der Frage, wie man mit der inkonsequenten Markierung der vom Komponisten hinzugefügten Regieanweisungen umgeht, die sich so als auktoriales Zeichen, nicht als philologisches Verfahren erwiesen haben.
32
An dieser Stelle unterscheidet sich der hier vertretene Standpunkt deutlich beispielsweise von dem Albert Giers, der eher den Idealtypus einer literarischen Gattung sucht. Vgl. Albert Gier: Das Libretto – Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Frankfurt 2000. 33 Zu den Literarisierungsstrategien der Oper des 18. Jahrhundert siehe u. a. auch: Dörte Schmidt: Metas tasios Artaserse, die Literarizität der Oper und die Bedingungen des Repertoires. In: Die Musikforschung 66, 2013, H. 2, S. 103–119.
Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
Die Edition musiktheatraler Texte gehört zweifellos zu den schwierigsten Aufgaben im Bereich des musikalischen Editionswesens. Dass im Jahre 2012 (auf diesem Symposium) noch immer Grundsatzfragen der Edition musikdramatischer Texte verhandelt wurden – zwanzig Jahre, nachdem Lorenzo Bianconi seine vier Thesen („Quattro tesi“) zur Librettoedition vorgelegt hat1 –, ist ein deutliches Indiz für ein noch fortbestehendes Forschungsdesiderat. Bianconis Thesen, gleichsam am Eisernen Vorhang der Opernedition angeschlagen und kurz darauf von ähnlichen Überlegungen Helga Lühnings, Reinhard Strohms und anderen erweitert,2 waren und sind getragen von den Methoden und Denkfiguren einer neuen Disziplin, nämlich der Librettologie. Es ist nicht zu übersehen, dass seit den 1980er Jahren die Erkenntnisse der Librettoforschung3 zu neuen Sichtweisen im Hinblick auf Genese und Struktur musikdramatischer Werke geführt und schließlich auch immer deutlichere Spuren innerhalb der Opernedition hinterlassen haben. Ohne die romanistisch orientierte librettologia, das darf ungeschützt behauptet werden, wäre das editorische Bewusstsein für die Textsorte Libretto wohl kaum in der Weise geschärft worden. Die Idee, dass das Textbuch integraler Bestandteil einer Opernedition sein müsse, hat sich indes in der (musikalischen) Editionspraxis nur langsam durchgesetzt. Die
1
Lorenzo Bianconi: Quattro tesi. In: L’edizione critica tra testo musicale e testo letterario. Atti del convegno internazionale (Cremona 4–8 ottobre 1992). Hrsg. von Renato Borghi und Pietro Zappalà. Lucca 1995, S. 429–431. 2 Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Librettoforschung. Hrsg. v. Albert Gier. Heidelberg 1986 (Studia Romanica. 63). In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die Publikationen zum Thema dann dichter, hier seien nur einige wichtige Beispiele genannt: Bianconi 1995 (Anm. 1); Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. 2. Aufl. Frankfurt am Main und Leipzig 2000 (erstmals Darmstadt 1998); Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. v. Walther Dürr. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8); Reinhard Strohm: Partitur und Libretto. Zur Edition von Operntexten. Opernedition. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend. Mainz 2005 (Schriften zur Musikwissenschaft. 12), S. 37–56, und nicht zuletzt Esbjörn Nyström: Libretto im Progress. Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aus textgeschichtlicher Sicht. Bern u. a. 2005 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 6), der sich intensiv auch mit den methodischen Grundlagen seiner Arbeit auseinandersetzt, entsprechend ausführlich die bestehende Literatur auswertet und v. a. auf den Seiten 102–107 eine ganze Reihe weiterer Literaturhinweise liefert. 3 Vgl. exemplarisch für die Frühzeit der librettologia: Oper und Operntext. Hrsg. v. Jens Malte Fischer. Heidelberg 1985 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft. 60), sowie Reading Opera. Hrsg. v. Arthur Groos und Roger Parker. Princeton, N.J., 1988.
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Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
meisten Komponisten-Ausgaben vermochten auf die grundsätzliche Neubewertung des Librettos erst sehr spät zu reagieren. Und die Tatsache, dass Opernedition primär eine Aufgabe der Musikwissenschaft ist, hat zu dieser Schieflage – mit der einseitigen Fokussierung auf den Partiturtext – nicht unerheblich beigetragen. Die wesentliche Schwierigkeit im Hinblick auf die editorische Implementierung des Textes bzw. Textbuches lässt sich mit dem Begriff der Statusdifferenz zwischen Partitur und Libretto beschreiben, wie ihn vor allem Reinhard Strohm geprägt hat.4 Das Verhältnis bzw. die Konstellationen zwischen Partitur und Textbuch können ganz unterschiedlicher Natur sein: konvergierend, divergierend oder auch komplementär. Die gängige editorische Praxis für Operntexte war allerdings sehr lange – so Strohm – nicht Filiation, sondern Kumulation der beiden Textsorten innerhalb der edierten Partitur. Für die formalstrukturelle Ebene hatte dieses Procedere noch seine Berechtigung, beispielsweise was die Einteilung in Szenen anbelangt, die oftmals nur das Libretto überliefert, auf der Ebene des Gesangstextes war und ist es jedoch mit zahlreichen Problemen behaftet. Diese beginnen bei der Frage der Umsetzung von Interpunktion, der Respektierung des poetischen Textes (z. B. Groß- und Kleinschreibung am Versanfang), der Frage von Regieanweisungen, und sie enden naturgemäß bei dem Problem unzähliger Varianten bis hin zu verschiedenen Fassungen. Die Kumulation im edierten Partiturtext bzw. die Kontamination seitens des Librettos war letztlich dem Fehlen einer kritischen Edition der Textvorlage geschuldet. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die poetische Vorlage im Rahmen einer Opern edition mitzuteilen, hat sich erst spät durchgesetzt. Die Neue Mozart-Edition ist bis heute blanko geblieben in dieser Hinsicht, was vielleicht erklärt, dass jetzt an der digitalen Front besonders stark ‚nachgerüstet‘ wird (siehe Digitale Mozart-Edition5). Der Königsweg war lange Zeit die Faksimilereproduktion des Librettoerstdrucks, wie es beispielsweise die Gluck-Edition praktizierte, die 1995 auf einen Schlag alle Textbücher in einem eigenen Faksimileband vorlegte.6 Allerdings wurde diese Faksimile‚Strategie‘ beibehalten, nunmehr in jedem neu zu edierenden Band, ohne dass eine genuine Librettoedition in Erwägung gezogen wurde. Andere Operneditionen wie die Rossini-Ausgabe befanden sich gleichsam in dem Dilemma, dass die Ausgabe bereits fortgeschritten war und so die Konsequenzen der librettologia-‚Wende‘ nicht (mehr) adäquat implementiert werden konnten.7 Die ‚Gnade der späten Gesamtausgabe‘ teilen in dieser Hinsicht vor allem die Bellini-Ausgabe (seit 2003) und die Rameau-Edition (seit 1993), die jeweils zu eigenen
4
Vgl. hierzu grundlegend Strohm 2005 (Anm. 2). Vgl. http://dme.mozarteum.at/DME/main/? (zuletzt besucht am 17.7.2017). 6 Christoph Willibald Gluck: Libretti: die originalen Textbücher der bis 1990 in der Gluck-Gesamtausgabe erschienenen Bühnenwerke. Textbücher verschollener Werke. Hrsg. von Klaus Hortschansky. Kassel u. a. 1995 (Sämtliche Werke, Abt. 7, Supplement, Bd. 1). 7 Vgl. hierzu die Position der Rossini-Editorin Patricia Brauner in der „tavola rotonda“ in: Vincenzo Bellini. Verso d’edizione critica. Hrsg. v. Fabrizio della Seta und Simonetta Ricciardi. Florenz 2004, S. 356f. 5
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
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Darstellungen respektive kritischen Behandlungen des Operntextes gelangten.8 Insbesondere die Bellini-Edition zeichnet sich durch eine intensive Reflexion hinsichtlich Librettoedition aus (siehe auch den Beitrag von Alessandro Roccatagliati im vorliegenden Band), ausgehend nicht zuletzt von den grundsätzlichen Überlegungen Bianconis, die hier gleichsam ihre exemplarische Umsetzung fanden. Ähnliches gilt für die Cavalli-Ausgabe (seit 2008), an deren Librettoedition Bianconi wesentlich beteiligt ist. Als ein wichtiges Vorbild kann auch Fabien Guilloux’ im Rahmen der MeyerbeerWerkausgabe separat erschienene Librettoedition von Scribes/Meyerbeers Le prophète gelten, auch wenn sie offenbar ein Einzel- und Sonderfall im Rahmen dieser kritischen Komponisten-Ausgabe ist.9 Gleichwohl gab und gibt es jenseits von Komponisten-Gesamtausgaben bedeutende Pioniertaten auf dem Gebiet der Librettoedition. Zu nennen ist hier zuallererst die kritische Ausgabe von La muette de Portici (Scribe/Auber) von Herbert Schneider und Nicole Wild10, die Reihe Opernlibretti – kritisch ediert, in welcher die Textbuchedition von Webers Der Freischütz11 sowie Bodo Plachtas Edition von Wielands und Schweitzers Alceste12 erschienen sind, oder die Editionen von Glucks Orfeo ed Euridice/Orphée et Euridice.13 Das Fehlen von Text- bzw. Librettoeditionen ist vor allem dort misslich, wo die Komponisten selbst für die Texte verantwortlich zeichneten, zum Beispiel für Les Troyens von Hector Berlioz.14 Dies trifft in verschärfter Form auch für Richard Wagner zu, obgleich hier inzwischen durch die ausgezeichneten Reclam-Bändchen von Egon Voss ein Kompensat vorliegt, wo in den einzelnen Textbüchern die Partiturvarianten in Fußnoten wiedergegeben sind. (Bemerkenswert ist dabei, dass diese bedeutsame philologische Arbeit jenseits der Gesamtausgabe stattfand.)
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Den Reichtum und die Komplexität, die librettistische Quellenüberlieferungen haben können, spiegelt wohl kaum eine Arbeit stärker als der quellenkritische Katalog der Rameau-Libretti wider: Sylvie Bouissou, Denis Herlin: Jean-Philippe Rameau. Catalogue thématique des œuvres musicales. Tome 2: Livrets. Paris 2003 (Sciences de la musique, Série Références). Giacomo Meyerbeer, Eugène Scribe: Le prophète: opéra en cinq actes: livret: étude – sources – documents. Hrsg. von Fabien Guilloux. München 2007. La muette de Portici. Kritische Ausgabe des Librettos und Dokumentation der ersten Inszenierung. Hrsg. v. Herbert Schneider und Nicole Wild. Tübingen 1993 (Erlanger romanistische Dokumente und Arbeiten. 11). Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von Friedrich Kind. Musik von Carl Maria von Weber. Kritische Textbuch-Edition. Hrsg. von Solveig Schreiter. München 2007 (Opernlibretti – kritisch ediert. 1). Alceste. Ein Singspiel in fünf Akten. Text von Christoph Martin Wieland. Musik von Anton Schweitzer. Text und Dokumentation. Hrsg. von Bodo Plachta. München 2013 (Opernlibretti – kritisch ediert. 2). Christoph Willibald Gluck: Orfeo ed Euridice/Orphée et Euridice/Orpheus und Eurydike. Oper in drei Aufzügen. Ital. Originaltext von Ranieri de’ Calzabigi, dt. Übers. von Christine Siegert, frz. Fassung des Originaltextes von Pierre-Louis Moline, dt. Übers. von Andreas Münzmay. Hrsg. und mit einem Nachwort von Dörte Schmidt. Stuttgart 2014. Siehe dazu Andreas Münzmay: Librettist Berlioz: Die ‚idée fixe‘ in Les Troyens und Berlioz’ Verhältnis zur Grand opéra Scribe’scher Prägung. In: Von Gluck zu Berlioz. Die französische Oper zwischen Antikenrezeption und Monumentalität. Hrsg. von Thomas Betzwieser. Würzburg 2015, S. 227–250.
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Angesichts dieser ‚Historie‘ existenter Librettoeditionen stand es außer Frage, dass das Projekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen (seit 2009) die Edition des Textes bzw. Librettos zum integralen Bestandteil der Ausgabe macht, d. h. die Libretti, Szenarien, Choreographien oder Filmskripte ebenfalls in einer separaten kritischen Edition vorlegt. In konzeptioneller Hinsicht konnte dabei auf die Erfahrungen der oben genannten Librettoeditionen zurückgegriffen werden. Neuland betraten wir hingegen bei der Präsentationsform: Während die Partitur in Hybridform erscheint (in konventioneller Buchform und digitaler Gestalt), wird die Textedition ausschließlich auf einer elektronischen Plattform (auf der Basis von TEI) präsentiert. Damit eröffnen sich ungleich mehr Möglichkeiten an Darstellungsweisen wie auch an ‚Material‘, was insbesondere die Berücksichtigung von Fassungen betrifft. Leitendes Kriterium einer solchen Textedition ist die Offenlegung der Statusdifferenzen unterschiedlicher Quellentypen, was eine Berücksichtigung und Bewertung aller relevanten Quellen – textlicher wie musikalischer – zur Folge hat. Welches ‚Format‘ am Ende diese Edition annimmt, kann somit erst nach einer umfassenden Quellenbewertung entschieden werden. Dies kann eine traditionelle Librettoedition sein, d. h. eine Edition, die exklusiv auf den literarischen (Libretto-)Quellen basiert, dies ist aber keineswegs zwingend. Oberstes Ziel ist zunächst von einer Art Textsortenäquivalenz auszugehen, bei der musikalische und textliche Quellen auf eine Ebene gestellt werden. OPERA ist keine Musikerausgabe, sondern sie vereinigt Musiktheaterwerke vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, insofern ist der Ansatz des Projekts auch kein auf Komponisten zentrierter. Die Entscheidung für eine Separatedition des Textbuches, wie sie die Rameau-, die Bellini- oder (zumindest im Falle von Le prophète) die MeyerbeerAusgabe getroffen haben – jeweils unter ganz spezifischen Prämissen –, ist in jeder Hinsicht nachvollziehbar, zumal in diesen Gesamtausgaben erstmals tatsächliche Librettoeditionen vorgelegt werden. Naturgemäß sind solche Entscheidungen in einer Gesamtausgabe aber auch von übergeordneten (komponistenspezifischen) Editionsrichtlinien induziert. Da das Projekt OPERA solche nicht kennt und darüber hinaus sein Werkkorpus dezidiert an (exemplarischen) editorischen Fragestellungen ausrichtet, fallen die Entscheidungen hinsichtlich des Formats der Textedition, z. B. für eine Edition aller librettistischen Textquellen, oder für eine Textedition unter Berücksichtigung aller Quellentypen, jeweils individuell unterschiedlich aus. Vor diesem Hintergrund ist auch der nachfolgende Werkstattbericht zu sehen, durch welchen sich die Denkfigur der Statusdifferenz von Text- und Musikquelle(n) wie ein roter Faden ziehen wird. Für die Textedition ist sie letztlich – aus unserer Sicht – von zentraler Bedeutung. Um einer (ehedem unkommentierten) Kontamination unterschiedlicher Quellentypen in der edierten Partitur entgegenzuwirken, hat OPERA zunächst das einfache diakritische Zeichen einer spitzen Klammerung () eingeführt, mit dem die Statusdifferenz konsequent markiert wird. Das heißt: Überall dort, wo ein Import – und zwar ein exklusiver Import – aus einem anderen Quellentyp respektive einer anderen Textsorte stattfindet, wird der übernommene Text in spitze Klammern gesetzt, und die Begründungen solcher (traditionell in der Regel stillschweigend, als
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vermeintliche ‚Selbstverständlichkeit‘ gehandhabter) textsortenübergreifender editorischer Maßnahmen werden im kritischen Apparat prinzipiell offengelegt. Bei vielen Werken handelt es sich dabei einfach um ‚Textimporte‘ aus dem Libretto, die in der Regel Regieanweisungen betreffen, die bei strenger Quellentypentrennung in der Partituredition schlicht ‚fehlen‘ würden, mithilfe der diakritischen Indizierung aber auf transparente Weise doch mitgeteilt werden können. (Siehe Abb. 1.)
Abb. 1: OPERA vol. 1, Screenshot (Editions: Music Edition, No. 1b, ab T. 121).
Komplizierter wird es allerdings, wenn zu bestimmten Werken ein eigenes Regie- oder annotiertes Soufflierbuch überliefert ist, denn hier stellt sich dann die Frage, wieviel an Import aus dieser Quellensorte wir im edierten Partiturtext gleichsam zulassen wollen. In solchen Fällen ist also sorgsam abzuwägen, in welches Editionsformat – Musikedition oder Textedition – solche Texte zu implementieren sind. Bei einigen Werken wird es sich anbieten, die Musikedition mit Angaben aus dem Textbuch zu ergänzen und Regiebuchangaben in der Textedition mit zu berücksichtigen (in spitzen Klammern, sobald es sich um Text aus einer anderen Quellensorte handelt). In der Mehrzahl der Fälle, wo eine solche Statusdifferenz anzuzeigen ist, wird es sich um einen Textimport vom Libretto in den zu edierenden Partiturtext handeln. Gleichwohl sei hier aber auch bereits der umgekehrte Fall skizziert (auf den noch einzugehen sein wird), nämlich wenn gleichsam ‚Musik‘ in die Textedition importiert wird, beispielsweise bei der französischen Opéra comique oder der englischen Ballad
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Abb. 2: OPERA vol. 2, Screenshot (Edition: Text, Nos. 1, 5, 14, 18).
opera. In der Opéra comique ist es Usus, dass im Libretto das Timbre angegeben wird, d. i. die Melodie, auf welche die Figurenrede zu singen ist. Sind in der musikalischen Quelle Angaben vorhanden, die über diejenigen in der Librettoquelle hinausgehen, können sie in der Librettoedition ergänzt werden. Der Sachverhalt klingt prima vista einfach, dahinter verbirgt sich jedoch ein komplexeres Phänomen, nämlich dass auch das Libretto – wie die Partitur – unterschiedliche Medien, nämlich Text und Musik, beinhalten kann, letztere zudem in zwei Aggregatzuständen, nämlich ‚virtuell‘ als Timbre-Angabe (die auf eine zu singende Melodie verweist15) und in konkreter Melodienotation (wobei wiederum zwei Möglichkeiten Usus sind: Notation im Fließtext oder im Anhang einer Librettoausgabe).16 Das Libretto als eine reine ‚Textgattung‘ anzusehen, würde in diesem Fall also deutlich zu kurz greifen. (Siehe Abb. 2: Die Textedition spiegelt den Umstand wider, dass die Librettoquelle prinzipiell die zugrunde zu legenden Melodien mitteilt, markieren aus der Partiturquelle übernommene zusätzliche Angaben, während in [ ] verdeutlichende, aus der Musik erschlossene Angaben als rein editorische Zusätze integriert werden.)
15
Janine Droese, Andreas Münzmay: Pfade im editorischen Netz. Überlegungen zur Pragmatik des editorischen Hyperlinks am Beispiel der Comédie en vaudevilles Annette et Lubin (1762). In: editio 29, 2015, S. 85–102, insbesondere S. 92. 16 Herbert Schneider: Publier la musique dans le livret. In: Noter, annoter, éditer la musique. Mélanges offerts à Catherine Massip. Hrsg. v. Cécile Reynaud und Herbert Schneider. Genf 2012, S. 307–335.
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Die theatralen Parodieformen Vaudeville und Pasticcio sind keine Einzelfälle für eine solche bi-mediale Anlage eines Librettos. Ein anderes, weitaus komplexeres Beispiel ist das Melodram. Auch hier fungiert das Libretto mitunter als eine zweite Partitur, wenn es diejenigen Stellen indiziert, an welchen die Musik ihren Platz zwischen dem gesprochenen Text der Protagonisten hat. Obwohl viele Melodramtextbücher die Figurenrede wie einen normalen dramatischen Prosatext überliefern, gibt es gleichwohl nicht wenige Ausgaben, welche den gattungsspezifischen Wechsel von Rede und Musik sinnfällig zu machen versuchen, indem sie die musikalischen Stellen (graphisch) anzeigen, sei es durch Gedankenstriche, Auslassungszeichen oder Asterisken.17 Solche Melodrambücher, die den Medienwechsel von Text und Musik fixieren, sind in editorischer Hinsicht besonders signifikant, da sie auch für die Edition der Musik von höchster Bedeutung sind, d. h. für die Textverteilung in der Partitur. In der Regel sind es wie in Gotters und Bendas Medea in den Text eingelassene lange Gedankenstriche, welche den Einsatz von Musik anzeigen. Da wir uns beim Melodram mitten im ,Sturm und Drang‘ befinden, könnte man diese Gedankenstriche leicht als Zeichen für emphatische Exklamation halten (wofür sie normalerweise auch stehen). Sie fungieren aber vor allem auch als Platzhalter für Musik (siehe Abb. 3a), in einigen Fällen sogar in Doppelung mit Asterisken (siehe Abb. 3b). Ob Gedankenstriche, Auslassungszeichen oder Asterisken, entscheidend ist, dass dergestalt ausgezeichnete Textbücher eine völlig andere mediale Konstellation repräsentieren: Zum einen wird auf diese Weise das Alternieren von gesprochenem Wort und Musik visualisiert, zum anderen aber – viel wesentlicher – auch das Endresultat, also die musikalische Komposition dokumentiert, insofern als die in den Text eingelassenen Zeichen keine literarische Präfiguration (mehr) darstellen, sondern den Status des Stücks nach Abschluss der Partitur widerspiegeln. Wenn Gedankenstriche oder Auslassungszeichen indes nicht in ihrer angestammter semantischer Funktion eingesetzt sind, sondern für etwas anderes stehen, stellt sich die Frage, wie mit solchen Zeichen in einer Textedition umzugehen ist. Eine germanistische Ausgabe der Bühnenwerke Gotters wird sich diese Frage vielleicht weniger stellen, für ein Editionsunternehmen, in dem Text- und Musikedition gleichberechtigt nebeneinander figurieren, wird sie jedoch zur Herausforderung. Kann man einer genuinen Textedition noch gerecht werden, wenn sie gleichsam musikalische Anteile enthält, egal in welcher Zeichen- oder Aufzeichnungsform diese auch überliefert sind? Oder anders: Ist der Versuch einer Visualisierung der Statusdifferenzen zwischen Textbuch und Partitur beim Melodram nicht ein aporetisches Unterfangen? Und dies ausgerechnet in einer Gattung, die so ganz und gar literarisch geprägt ist und in der die Figurenrede selbst keiner Vertonung unterliegt?18
17
Siehe hierzu auch Thomas Betzwieser: Text, Bild, Musik: die multimediale Überlieferung des Melodrams Lenardo und Blandine (1779) – eine Herausforderung für die Editionspraxis. In: editio 25, 2011, S. 74–100, S. 78f. 18 Siehe dazu auch Dörte Schmidt: Medea lesen. Dramatische Form zwischen Sprache und Musik. In: Das
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Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
Abb. 3a: Gotter/Benda: Medea. Frankenthal 1778, S. 13. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Österreichischen Theatermuseums, Wien.
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
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Abb. 3b: Gotter/Benda: Medea. Darmstadt 1778, S. 14. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt.
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Ein anderes Objekt im Spannungsfeld von musikwissenschaftlicher und germanistischer Editionstechnik ist Peter von Lindpaintners Schauspielmusik zu Goethes Faust I. Die von Frank Ziegler 2003 im Kontext seiner Edition von Carl Maria von Webers Musik zu Pius Alexander Wolffs Preciosa aufgeworfene Frage, wann Text und Musik beim Schauspiel „eine werkhafte Einheit bilden“,19 trifft hier ins Zentrum des Problems, vor allem, wenn es darum geht, eine korrespondierende Textedition zu erstellen. Soweit wir sehen, haben sich die germanistischen Editionen diese Frage bei Faust nie wirklich gestellt, oder sie fühlten sich, wie Hartmut Steinecke es formulierte, „nicht zuständig“20. Macht man sich dagegen die jüngeren theaterwissenschaftlichen Denk figuren, namentlich die von Erika Fischer-Lichte geprägten, zu eigen, dann ist die Frage nach der ‚Werkeinheit‘ ohnehin obsolet: Was zählt ist die Aufführung. Angesichts der (instabilen) Aufführungstradition von Goethes Faust im frühen 19. Jahrhundert, in der beispielsweise der „Prolog im Himmel“ und das „Vorspiel auf dem Theater“ nicht aufgeführt wurden, stellt sich dieses Problem mit umso größerer Brisanz. Anders gesagt: das Werk Faust als Bühnenwerk gewann nur vor dem Hintergrund von in nicht zu unterschätzendem Maße auch musikalisch konfigurierten Aufführungen eine gewisse ‚Stabilität‘. Die Inszenierung(en) – in germanistischer Lesart Bearbeitungen oder Adaptionen – waren es, die im Verbund mit den zugehörigen schauspielmusikalisch-kompositorischen Elementen ‚dem Werk‘ Goethes überhaupt zu theatraler Präsenz verhalfen. Und eben genau dort, bei Inszenierung und Aufführung, setzt unsere Edition dieses ‚Werkes‘ an. Wir edieren Lindpaintners Schauspielmusik im Kontext der Faust-Version, die Carl Seydelmann 1832 für das Stuttgarter Hoftheater eingerichtet hat und für die Lindpaintners Musik komponiert wurde. Als Hauptquelle wird der Textedition also ein Exemplar des Faust-Textes in der Cotta-Ausgabe von 1830 samt der darin handschriftlich dokumentierten Bearbeitung Seydelmanns zugrunde liegen.21 Die Edition dieses Aufführungstextes gewährleistet erst die Darstellung des ingeniösen Zusammenspiels
Melodram: ein Medienbastard. Hrsg. von Armin Schäfer, Bettine Menke und Daniel Eschkötter. Berlin 2013, S. 51–74. 19 Frank Ziegler: Carl Maria von Webers Schauspielmusiken. Bemerkungen zur Editionspraxis der Weber-Gesamtausgabe. In: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Hrsg. von Dagmar Beck und Frank Ziegler. Mainz 2003 (Weber-Studien. 7), S. 289–292, hier S. 289. 20 Hartmut Steinecke: Schauspielmusik und Dramenedition. In: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Bericht über die Tagung der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz am 26. und 27. November 1998. Hrsg. von Dagmar Beck und Frank Ziegler. Mainz u. a. 2003 (Weber-Studien. 7), S. 279–283, hier S. 279. 21 D-Sl; A21C/2296. [Titelseite des Drucks:] Faust. / Eine Tragödie / von / Goethe. / Neue Auflage. / Stuttgart und Tübingen, / in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. / 1830, [Handschriftlich eingefügter Titel der Bearbeitung Stuttgart 1832 (S. 27):] Faust. / Tragödie von Göthe / in sechs Abtheilungen. / Für das königliche Theater in Stuttgart / zur Darstellung eingerichtet / von / Carl Seydelmann.
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von Musik und Text in Goethes Drama. Da sich Seydelmanns Bearbeitung zuvörderst auf der makrostrukturellen Ebene des Dramentextes konkretisiert (Akteinteilung, 6 Akte, Striche etc.) und weniger auf der Ebene des poetischen Verses, werden sich auch die Lesarten gegenüber der Goethe’schen ‚Vorlage‘ in Grenzen halten. Wie Antje Tumat und Andreas Münzmay gezeigt haben,22 sind es aber gerade diese Eingriffe auf der makrostrukturellen Ebene, welche das mediale Zusammenspiel von Text und Musik und damit die Funktionsweise einer Schauspielmusik garantieren. Auch wenn die editorische Grundsatzentscheidung vielleicht einige Goethe-Philologen verstören wird, aus unserer Sicht vermag gerade diese Faust-Edition ein zentrales Moment von Musik und Theater zu dokumentieren, nämlich eine Aufführung. Zudem kann nicht genug betont werden, dass dieser Fall exemplarisch etwas zeigt, das für die Schauspielmusik des 19. Jahrhunderts auf sehr breiter Linie gelten dürfte: Die Partitur bezieht sich nicht auf das stabile literarische Werk ‚an sich‘ (im vorliegenden Fall also ‚das Werk Goethes Faust I‘), sondern ganz eindeutig auf eine bestimmte, theaterpraktische Realisation des Textes. Entsprechend wird man Editionen solcher Musiken entweder gleichsam abgelöst vom Drama (wie im Falle der Egmont-Edition in der Beethoven-Gesamtausgabe) oder dezidiert in Verbindung mit dem tatsächlich dazugehörigen Dramentext konzipieren müssen. Auf den Fall des Goethe/Seydelmann/Lindpaintner’schen Faust von 1832 bezogen heißt das konkret, dass die Musik, selbst wenn man wollte, sich auf ‚Goethe an sich‘ gar nicht beziehen ließe. Scheitern würde dies allein schon an der bloßen Existenz von „Entreacte“-Musiken, die selbstredend ein in Akte/Aufzüge gegliedertes Theaterwerk voraussetzen – wovon bei ‚Goethes Faust‘ keine Rede sein kann, was aber Seydelmanns Einrichtung mit großem Geschick substituiert. Nachfolgende Übersicht demonstriert das Ineinander von Drama und Musik in den ersten beiden „Aufzügen“ sowie die – mit der Bearbeitung ebenfalls einhergehende – völlig neue Szenengliederung, die Goethes Gliederung („Nacht“, „Vor dem Thor“ usw.) allerdings als Bilderfolge erhält: Ouverture Erster Aufzug Nacht Scene 1 „Habe nun, ach!“ (Faust) Scene 2 „Wer ruft mir?“ (Geist, Faust) Scene 3 „Verzeiht!“ (Wagner, Faust) [No. 1] Chor der Engel, Chor der Weiber und Chor der Jünger [Melodram] „Er ist erstanden“ (Chor, Faust)
22
Antje Tumat, Andreas Münzmay: Faust-Text und Faust-Musik. Wege der Edition zwischen den Disziplinen – ein Werkstattbericht, unpubliziertes Referat bei der Tagung InterNationalität und InterDisziplinarität der Editionswissenschaft der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, Universität Bern, 15.–18. Februar 2012.
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Zweiter Aufzug [No. 2 Entreact] Vor dem Thor Scene 1 „Warum denn dort hinaus?“ (Spaziergänger aller Art) [No. 3] Soldatenlied „Burgen mit hohen Mauern und Zinnen“ (Chor) Scene 2 „Vom Eise befreit“ (Faust, Wagner) Studirzimmer Scene 3 „Verlassen hab’ ich Feld und Auen“ (Faust, Pudel) Scene 4 „Wozu der Lerm?“ (Mephistopheles, Faust, Geister) [No. 4] Chor und Tanz „Schwindet, ihr dunkeln Wölbungen droben!“ (Geister) [No. 5a] Entreact [Melodram] „Er schläft!“ (Mephistopheles) Dritter Aufzug […]
*** Der Umgang mit dem Operntext im Projekt OPERA soll nachfolgend an den ersten beiden Bänden etwas ausführlicher dargestellt werden, d. i. die italienische Opera buffa Prima la musica23 und die Opéra comique Annette et Lubin.24 Gattungsbedingt offenbaren diese Werke völlig verschiedene librettistische Traditionen, was auch unterschiedliche Konfigurationen im Hinblick auf die Etablierung einer Textedition nach sich zieht. Gemeinsam ist den beiden Werken das Parodieproblem, d. h. der Umgang mit textlich-musikalischen Prätexten. (Die beiden Werke figurieren im Modul 1 von OPERA: Eigentext und Fremdtext, zusammen mit der englischen Ballad opera Love in a Village.) Die Möglichkeiten, welche die digitale Editionstechnik seitens Edirom bietet, sind vielfältig. Die Frage ist, wie dieses Tool für die spezifischen Anforderungen einer Textedition nutzbar gemacht werden kann. Das 1786 in Schönbrunn erstmals aufgeführte Divertmento teatrale Prima la musica e poi le parole von Giambattista Casti und Antonio Salieri weist zunächst eine für die italienische Oper des 18. Jahrhunderts typische Überlieferungssituation auf: Die (vier) musikalischen Partiturquellen sind alle handschriftlich überliefert, das Libretto liegt demgegenüber in gedruckter Form vor. Ob der in Wien 1786 publizierte Librettodruck bereits zur Uraufführung in Schönbrunn vorlag oder erst zu den nachfolgenden Aufführungen im Kärntnertortheater herauskam, ist nicht mit Bestimmtheit zu beantworten. Die Tatsache, dass sich an den überlieferten Exemplaren des Textbuchs immerhin
23
Giambattista Casti, Antonio Salieri: Prima la musica e poi le parole: Divertimento teatrale in un atto, Operetta a quattro voci. Hrsg. von Thomas Betzwieser und Adrian La Salvia, Redaktion Christine Siegert. Kassel 2013 (OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historischkritische Hybridausgaben. 1), Printausgabe (Vorwort und Partitur), digitale Vollausgabe (Edirom). Auf die digitale Vollausgabe wird im Folgenden verwiesen mit dem Kürzel OPERA vol. 1. 24 Justine Favart, Adolphe Blaise: Annette et Lubin: Comédie en un acte en vers, mêlée d’ariettes et de vaudevilles. Hrsg. von Andreas Münzmay in Kooperation mit OPERA, Redaktion Janine Droese. Kassel 2016 (OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historisch-kritische Hybridausgaben. 2), Printausgabe (Vorwort und Partitur), digitale Vollausgabe (Edirom). Auf die digitale Vollausgabe wird im Folgenden verwiesen mit dem Kürzel OPERA vol. 2.
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drei verschiedene Titelauflagen verifizieren lassen, ist indes ein Beleg für eine nochmalige Redaktion, die möglicherweise zwischen der Schönbrunner Premiere und den Wiener Aufführungen stattgefunden hat. Salieris Autograph zeichnet sich durch zwei Besonderheiten hinsichtlich des Textes aus: Zum einen enthält es eine ganze Szene, die es im Librettodruck nicht (mehr) gibt, das ist die sog. Quäker-Szene (No. 9), in der die Buffa-Sängerin Tonina im Gewand einer amerikanischen Quäkerin erscheint, an Freimaurertum gemahnende Parolen in einem verballhornten Französisch von sich gibt und anschließend dem Wahnsinn verfällt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass diese Szene der Zensur zum Opfer fiel; ob sie in Schönbrunn überhaupt erklungen ist, ist deshalb mehr als fraglich. Zum anderen aber fehlen im Autograph ganze Nummern (und damit Texte), die Salieri nur skizziert hat. Diese betreffen die für Prima la musica typischen Zitatkomplexe, für die Salieri auf präexistente Musik, nämlich auf Giuseppe Sartis Opera seria Giulio Sabino (Aufführung Wien 1785) zurückgegriffen hat. Die Frage, in welcher Weise eine Musikedition generell mit Zitaten präexistenter Musik umzugehen vermag, war der entscheidende Grund dafür, Salieris Oper in das zu edierende Werkkorpus von OPERA aufzunehmen. Hinsichtlich der Musikedition ist die Quellenbewertung – jenseits der Zitatkomplexe – nicht besonders komplex, für die Edition von Castis Text ist die Lage jedoch nicht ganz so einfach. Der Librettodruck von 1786 repräsentiert zunächst eine stabile Überlieferungslage, nicht zuletzt da er auch in allen späteren Casti-Ausgaben unverändert bleibt, also keinerlei Varianten innerhalb der Drucküberlieferung aufweist. Da es aber keine handschriftliche Überlieferung für Castis Libretto gibt, vor allem keine Vorstufen, ist Salieris autographe Partitur als das früheste Zeugnis für die Textüberlieferung anzusehen, das heißt, diese Quelle hat Referenzstatus für die Textedition. Und dies umso mehr, als das Autograph eben auch Textschichten enthält, die von der Version des Librettodrucks deutlich abweichen. Konkret betrifft dies die Rezitative, welche sich durch zahlreiche Modifikationen, Streichungen, Wortveränderungen, Korrekturen etc. auszeichnen. Insofern ist das musikalische Autograph für die Genese des dramatischen Textes eine substantielle Quelle. Es repräsentiert genau das, was von Seiten des Textdichters Casti fehlt, nämlich eine frühere Version des Librettotextes. Die Quellenbewertung für die Textedition lässt sich also wie folgt formulieren: Das Libretto (Quelle T) fungiert für die Textedition als Hauptquelle (für die musikalische Edition ist das Textbuch eine Nebenquelle). Aufgrund des besonderen Status von Salie ris Partiturautograph (Quelle A) hinsichtlich des Textes, ist das Autograph A ebenfalls Hauptquelle für die Textedition. Die OPERA-Ausgabe von Prima la musica e poi le parole hat zwei Editoren: Für die musikalische Edition zeichnete Thomas Betzwieser verantwortlich, die Textedition wurde von Adrian La Salvia erstellt. Hinsichtlich der Konzeption der Textedition trafen musikwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Ansätze und Expertisen aufeinander, was mitunter zu kontroversen, gleichwohl produktiven Diskussionen führte. In der von der Quellenbewertung geleiteten editorischen Grundsatzentscheidung im Hinblick auf die Darstellungsweise der Textedition waren sich die Editoren (samt der
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Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
Abb. 4: OPERA vol. 1, Screenshot (Editions: Text Edition, Beginn der No. 7 in „Libretto Version“ und „Score Version“).
begleitenden Redakteurin Christine Siegert) allerdings von vorherein einig: „Aufgrund der signifikant abweichenden Quellenbefunde in T einerseits und A, B sowie C, D andererseits wurde für die Textedition keine Textstadien und Quellentypen kontaminierende Mischfassung erstellt, sondern es wurden zwei differierende, autonome Fassungen jeweils vollständig ediert.“25 Aufgrund der Tatsache, dass die Librettofassung und die in den musikalischen Quellen überlieferte Textfassung jeweils eine eigene Edition erfahren, werden diese auch in zwei Ansichten – einmal als „Libretto Version“ und einmal als „Score Version“ – visualisiert, wobei Edirom jeweils die Option für eine Separat- oder eine synoptische Doppelansicht bereithält. Die Textedition von Prima la musica implementiert somit zwei ‚Editionsformate‘: Aufgrund der spezifischen Quellenkonstellation folgt die linke Seite der Doppelansicht (d. i. „Libretto Version“) gewissermaßen anderen Regularien als die rechte Seite („Score Version“), beispielsweise für die Groß- und Kleinschreibung. Die Textedition berücksichtigt somit in besonderer Weise die Statusdifferenzen von Libretto und Partitur. Die spezifische Medialität der musikalischen Quelle, hier Salieris Autograph, spiegelt sich auch in der Darstellungsweise der Edition wider: Zwar wurde der mehrstimmig notierte Text in eine linear-konsekutive Form gebracht, die durch die Mehrstimmigkeit bedingten Textüberlagerungen werden aber abschnittsweise durch
25
Adrian La Salvia, OPERA vol. 1, Vorwort, S. XLVII.
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
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entsprechende Klammerungen am Rand angezeigt. „Die „Score Version“ wird quellenkonform, das heißt ungekürzt wiedergegeben, was auch die musikalisch bedingten Textwiederholungen einschließt, um somit auch die Statusdifferenz der Haupttextquellen zu reflektieren.“26 (Siehe Abb. 4.) Diese Textedition, wie sie sich schließlich im Visualisierungsformat von Edirom präsentiert, ist das Ergebnis der spezifischen Textkonstellation des Werkes Prima la musica, das heißt die Option einer Wiedergabe des Operntextes seitens einer musikalischen Quelle („Score Version“) wird in diesem Fall durch die spezifische Quellenkonstellation (Existenz einer ‚Frühfassung‘) gerechtfertigt; sie figuriert indes nicht als Modell für die Texteditionen von OPERA insgesamt. Völlig anders gelagert ist dagegen die Konstellation bei der Opéra comique Annette et Lubin, deren Edition Gegenstand des zweiten Bandes von OPERA ist. Die 1762 in Paris uraufgeführte comédie mêlée d’ariettes et de vaudevilles von Marie-Justine-Benoîte Favart27 mit der Musik von Adolphe Benoît Blaise zeichnet sich durch das für die Opéra comique der frühen 1760er Jahren typische Nebeneinander von Originalkompositionen und präexistenten Vaudevilles und Arienparodien aus. Typisch ist auch die Überlieferungssituation: Librettoerstdruck (Quelle T1) und Partiturdruck (Quelle B1) verhalten sich auf charakteristische Weise komplementär zueinander, da einerseits das Libretto teils in Form der Timbre-Angaben (also der Nummernüberschriften nach dem Muster „Air: xyz“), teils in Form ausnotierter Melodien sehr weitgehende Angaben zur Musikalisierung enthält,28 andererseits auch die Partitur den gesprochenen Dialogtext vollständig überliefert. Weitere Textbuchauflagen, allein im Laufe des Jahres 1762 noch drei weitere, unterscheiden sich vom Erstdruck vor allem durch die laufend erhöhte Anzahl der in ausnotierter Form mitgeteilten Melodien. Charakteristisch für das Verhältnis des in der Partitur überlieferten Gesangs- und Sprechtextes zu demjenigen in den Textbüchern ist eine geradezu frappierende Übereinstimmung im Wortlaut, in geringerem Maße auch in Orthographie und Interpunktion. Eine eindeutige stemmatische Abhängigkeit lässt sich aus der Kollationierung indes nicht destillieren; wahrscheinlich ist, dass beide Drucke in textlicher Hinsicht auf eine (verschollene) gemeinsame handschriftliche Vorlage zurückgehen.
26
Ebd., S. XLVIII. Zur Kritik an dieser ungekürzten und Textwiederholungen implementierenden Darstellungsweise siehe auch den Beitrag von Alessandro Roccatagliati im vorliegenden Band. 27 Zur Frage der Kollektivautorschaft (v. a. dürften Charles-Simon Favart und Lourdet de Santerre am Text mitgearbeitet haben) siehe OPERA vol. 2, Introduction: Preface. 28 Zu diesem mit dem Gattungsfeld Vaudeville verbundenen Phänomen, dass die literarischen Autoren gleichsam in Personalunion auch (Mit-)Autoren der musikalischen Konkretisierung sind, indem sie die Melodien festlegen, siehe Schneider 2012 (Anm. 16); Andreas Münzmay: Ländliche Pärchen und musikästhetischer Diskurs. Zur Konzeption des Bühnenliedrepertoires von Justine Favart. In: Liedersingen. Studien zur Aufführungsgeschichte des Liedes im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Katharina Hottmann. Hildesheim 2013 (Jahrbuch Musik und Gender. 6), S. 75–92.
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Für das editorische Vorgehen bedeuten die Überlappungen der Quellentypen – das ‚musikalische‘ Textbuch, die ‚literarische‘ Partitur –, zumal im Verbund mit der text sortenunabhängigen grundlegenden Übereinstimmung des Werktextes in allen Hauptquellen, eine Herausforderung. Denn es erschiene kaum sinnvoll, zwei eigenständige, komplementäre und jeweils auf das Medium Text bzw. Musik reduzierte Editionen (etwa ‚Libretto‘ und ‚Partitur‘) herzustellen, wie es sich im Bereich der durchgängig gesungenen Oper inzwischen mit guten Gründen zum Standard entwickelt hat und auch im Falle des ersten Bandes der OPERA-Reihe praktiziert wurde (siehe oben). Die digitale Editionsumgebung erlaubte vielmehr die Entwicklung eines Konzepts, in dem die Textsorten- bzw. Medienebenen dynamisch ineinandergreifen. Dieses Konzept sieht die Erarbeitung einer einzigen Edition des ‚musikoliterarischen‘ Gesamtgebildes Annette et Lubin vor, die jedoch in zwei medial grundverschiedenen Ansichten (views) präsentiert wird: zum einen ‚literarisch‘ als Objekt „Text“ in Edirom (d. h., hier erscheinen in der Manier eines ‚reinen‘ Librettos auch die Gesangsnummern in ihrer dichterischen Form29), zum anderen ‚musiktheatral‘ als gedruckter Text-Musik-Band in dem für die Gattung charakteristischen Wechsel von Dialog und Musik. Zusätzlich sind die musikalischen Nummern als Objekt „Score“ ebenfalls in die Digitale Edition integriert – einerseits eine Notwendigkeit, um das digitale Lesartenverzeichnis auch – soweit es Fragen der musikalischen Notation betrifft – direkt aus den Noten heraus ansteuern zu können, andererseits eine Konstellation, die es erlaubt, im digitalen Medium literarische und komponierte Form des Textes in direkter, dynamischer Gegenüberstellung zu konsultieren. Sichtbar wird, neben den äußerst wenigen Stellen, an denen die beiden Hauptquellen im Textwortlaut voneinander abweichen (siehe Abb. 5: B1 hat in No. 1 „Vous perdez la raison!“, T1 an der entsprechenden Stelle hingegen „Perdez-vous la raison?“), auf diese Weise vor allem die kompositorische Ausformulierung des Textes mit allen Abspaltungen und Wiederholungen (Abb. 6). Eine besondere Herausforderung für die Edition ist auch in diesem Fall eine melodramatische Situation des Nebeneinanders von gesprochenem Text und Musik, das oftmals aufführungspraktischen Usancen unterlag. In dem zwei Strophen umfassenden Lied No. 7 Ce n’est point une folie wird, nach Textquelle (T1) und Partiturquelle (B1) übereinstimmend, Annettes erste Strophe von gesprochenen Einwürfen Lubins unterbrochen, nicht jedoch die zweite Strophe. Der Partiturdruck gibt allerdings nur die musikalische Version der ersten Strophe mit entsprechenden Lücken in den Systemen wieder, in die Lubins Texte eingefügt sind, während er die zweite Strophe lediglich als literarische Strophe hinzusetzt. Der gedruckte Stimmensatz (B2) wiederum gibt eine Version der Musik, die keine Pausen/ ‚Lücken‘ vorsieht, also eine Version, die nicht zur ersten, aber exakt zur zweiten Strophe passt. Wie mit diesem etwas disparaten Material
29
Selbst für die drei Nummern (Nos. 12, 31 und 32), die auch in der Texthauptquelle (T1) in musikalisch ausnotierter Form enthalten sind, war eine zweifelsfreie Versanordnung möglich, da es jeweils Folgestrophen gibt, die separat in librettistischer Form abgedruckt sind.
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
Abb. 5: OPERA vol. 2, Screenshot (Edition: Text / Edition: Score / T1 / B1, line 6).
Abb. 6: OPERA vol. 2, Screenshot (Edition: Text / Edition: Score, line 785).
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Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
aufführungspraktisch genau umgegangen wurde, bleibt leider unklar. Für die musikalische Edition wurde entschieden, der hinsichtlich der Unterbrechung des Gesangs durch Dialog in der ersten Strophe recht eindeutigen Gestalt von Libretto- und Partiturquelle Rechnung zu tragen, indem die erste Strophe nach B1 (mit den Haltestellen), die zweite, in der keine Interpolationen Lubins vorkommen, nach dem Stimmensatz (B2) nach den Stimmen (mit durchlaufender Rhythmik) zu edieren. Es ist zu betonen, dass die genuin digitalen Möglichkeiten des gegenseitigen Verschaltens der Ebenen für ein solches Modell einer verschränkt-komplementären TextMusik-Edition nicht etwa ein ‚schönes Extra‘, sondern im Gegenteil eine grundlegende Notwendigkeit sind. Für den in der Musikedition bis dato wohl aufgrund seiner besonderen Komplikationen besonders vernachlässigten Typus Dialogoper konnte somit ein über den Einzelfall hinaus tragfähiges Modell entwickelt werden, da es in diesem Gattungsfeld die Regel sein dürfte, dass ein- und derselbe gesprochene Dialogtext zu beiden Manifestationen, der literarischen des Librettos wie der musiktheatralen der Partitur, gleichermaßen zugehörig ist. Innerhalb des OPERA-Repertoires wurde bereits eruiert, dass das Modell auch für den Fall der Faust-Schauspielmusik tragfähig ist, wo ebenfalls (dort vollends dominierender) Dialogtext mit gesungenen Textpartien kombiniert ist, die texteditorisch doppelgesichtig sind (als ‚Libretto-‘ bzw. hier: Schauspieltext und Partiturunterlegung). Ein weiteres herausragendes Spezifikum der Gattung, und somit eine methodische Kernfrage der Edition im OPERA-Rahmen, ist im Falle der comédie mêlée d’ariettes et de vaudevilles die intertextuelle Dimension, die sich besonders sichtbar in den Satzüberschriften (Timbres) niederschlägt. Ein leitendes Kriterium für den editorischen Umgang mit den Timbre-Überschriften wurde dabei dahingehend entwickelt, dass für den heutigen Leser, der nicht mehr auf die Erfahrung der urbanen Theater- und Vaudevillekultur, die die historische Verstehensbasis der Verweise bildeten, zurückgreifen kann, die intertextuelle Dimension dennoch möglichst explizit zur Darstellung gebracht werden sollte.30 Für die Edition („Text“- wie „Score“-Ansicht) wurde entschieden, diese Überschriften aus den Text- und Musikquellen, die für die Überschriften unterschiedliche, einander komplementäre Systeme aufweisen, kumulativ zu generieren (auch wenn dann durch Melodie und Timbre-Angabe sozusagen ahistorische Doppelungen entstehen, scheinen doch in der fraglichen Zeit um 1760 die Melodien/Prätexte entweder per Timbre oder per Melodienotat, selten jedoch durch die Kombination von beidem mitgeteilt worden zu sein). Eine zentrale editorische Maßnahme ist zusätzlich die Erschließung aller Zitate und Verweise auf präexistente musikalische oder literarische Texte direkt durch Hyperlinks, die dem Timbre unterlegt sind. (Im gedrucken Band sind gleichsam als Vertreter der Hyperlink-Funktionalität Asterisken/Fußnoten gesetzt, die den Leser ebenfalls auf die elektronische Edition ver-
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Ausführlicher zu diesem Aspekt Andreas Münzmay: Faire parler l’hypertextualité. Vers une édition critique d’Annette et Lubin (Comédie-Italienne, 1762). In: Parodier l’opéra. Pratiques, formes et enjeux. Hrsg. von Pauline Beaucé und Françoise Rubellin. Montpellier 2015, S. 51–70.
Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA
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weisen.) Die Links referenzieren dann auf die Einzelfenster eines „Borrowings and Quotation“-Apparates, in denen Kontexte, Überlieferung, Erscheinungsformen und inhaltliche Dimensionen des jeweiligen Timbres dokumentiert werden. Die editorische Implementierung der zitierten Prätexte, oder in der Terminologie Genettes: der „Hypotexte“, erscheint angesichts der digitalen Präsentationsform plausibel, mehr noch ist sie für die Parodiegattung der Opéra comique geradezu zwingend. Vor diesem Hintergrund wäre es naheliegend gewesen, beim dritten Band des ersten OPERA-Moduls, der Ballad Opera Love in a Village (1762),31 ebenso zu verfahren, vor allem da es in dieser Oper gerade einmal sieben Neukompositionen gibt, wohingegen 34 Musiknummern auf Vorlagen basieren. Die Vorlagen erstrecken sich über einen Zeitraum von 1701 bis unmittelbar vor die Uraufführung. Die Frage ist jedoch, ob für die Ballad opera ein ähnliches, genuin intertextuelles Kompositions- und Parodiemuster zu verifizieren und entsprechend editorisch umzusetzen ist wie bei der Opéra comique. Ohne Zweifel ist das Verhältnis von Hypo- und Hypertext in dem englischen Genre keinem vergleichbaren Grad an semantischer Subtilität unterworfen wie im französischen Parodiegenre. Auch wenn das Parodieverfahren in der Ballad opera in technischer Hinsicht grundsätzlich demjenigen in der Opéra comique ähnelt, so ist der ‚Ankerpunkt‘ der Parodie – im Falle von Love in a Village – eher die (präexistente) Musik und weniger der Text. (Gleichwohl wurden die Nachweise für die Vorlagen wie bei Annette et Lubin in einem eigenen „Borrowings“-Apparat erschlossen.) Die Gretchenfrage für die Edition eines solchen ‚Pasticcios‘ ließe sich also insoweit formulieren, ob es nur um einen rein musikalischen Zugriff auf präexistentes ‚Material‘ oder auch um das Phänomen Intertextualität auf der inhaltlich-textlichen Ebene geht. Eine philologische Beweisführung ist hier schwierig, da wir nicht wissen, welche konkreten (physischen) Quellen der musikalischen Kompilation in einer Ballad opera zugrunde liegen. Eine genuin kodikologische Verifizierung, wie sie (singulär) für die Hypotexte in Salieris Metaoper Prima la musica möglich war,32 erweist sich im Fall von Love in a Village als unmöglich. Wesentlich ist somit die genaue Prüfung jedes einzelnen Falles, d. h. jeder individuel len Quellenkonstellation eines Werkes, wenn es darum geht, musikalisch-textliche Prätexte editorisch zu erschließen. Die Disposition der Textedition – das zeigen die drei Werke in Modul 1 von OPERA – hängt ganz entscheidend von der Bewertung dieser Konstellation ab. Der unterschiedliche editorische Umgang mit dem (literarischen) Text
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Love in a Village: A Comic Opera. Hrsg. von Berta Joncus, Vanessa Rogers und Žak Ozmo. Redaktion Matthew Gardner. Kassel, in Vorbereitung (OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historisch-kritische Hybridausgaben. 3). 32 Thomas Betzwieser: Intertextualität im Medium der Aufführung. Das Metamelodramma Prima la musica e poi le parole (Wien 1786) von Casti und Salieri. In: „La cosa è scabrosa“. Musikkulturelles Handeln auf den Opernbühnen in Wien um 1780. Hrsg. von Melanie Unseld und Carola Bebermeier, im Druck.
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Thomas Betzwieser und Andreas Münzmay
der Werke des ersten OPERA-Moduls repräsentiert einerseits die unterschiedlichen ‚Gemengelagen‘ im Hinblick auf die musikdramaturgische Disposition von Prätexten, und andererseits spiegelt es die Komplexität des Phänomens Parodieverfahren wider, welches eine Edition grundsätzlich vor neue Herausforderungen stellt. Mehr noch offenbart es aber einmal mehr, dass eine Textedition jenseits von Musiker-(Gesamt-) Ausgaben in vielfacher Hinsicht flexibler zu operieren vermag als eine Edition, die sich in einem ‚Editionskorsett‘ bewegt, das vornehmlich von komponistenseitig induzierten Richtlinien geprägt ist. Diese Flexibilität ist intendiert: OPERA versucht Beispiele von Texteditionen ‚durchzuspielen‘, die jeweils zwar für sehr spezifische Gattungs- und Quellenkonstellationen exemplarisch sein können, eine generelle Musterhaftigkeit in Bezug auf ‚die‘ Edition musikdramatischer Texte aber gerade nicht beanspruchen.33 Analog dem Titel des Projekts ist es das Ziel, den verschiedenen Facetten innerhalb des breiten „Spektrums“ Kontur zu verleihen.
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So wenig wie die Textedition von Prima la musica ein Modell für die gesamte Reihe abzugeben vermag, so wenig wird eine Kongruenz zwischen (edierten) musikalischen Fassungen und Texteditionen angestrebt.
Autorinnen und Autoren der Beiträge Anna Laura Bellina studierte Klavier im Hauptfach sowie Orgel, Orgelkomposition und Cembalo im Nebenfach am Konservatorium Benedetto Marcello in Venedig. Daneben absolvierte sie den Studiengang Literaturwissenschaften an der Universität Padua, den sie mit einer Arbeit zu Strutture del libretto d’opera comica nella seconda metà del Settecento bei Vittore Branca abschloss. Gegenwärtig ist sie ordentliche Professorin für moderne und zeitgenössische Musik an der dortigen Universität. Ihre Forschungsinteressen liegen schwerpunktmäßig auf der Geschichte der italienischen Oper. Thomas Betzwieser studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Heidelberg. 1990–94 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik wissenschaft der Freien Universität Berlin, 1995–96 Stipendiat des DAAD an der Maison des Sciences de l’Homme, Paris, 1996–98 DFG-Stipendiat und von 1999–2001 Lecturer in Music an der University of Southampton. Nach der Habilitation (2000, FU Berlin) war er von 2001–12 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Bayreuth, seit 2012 ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der GoetheUniversität Frankfurt. Seit 2009 leitet er das Akademieprojekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Publikationen zum Musiktheater vom 17. bis 20. Jahrhundert, u. a. Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper (Stuttgart, Weimar 2002). Silvia Bier studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaft in Saarbrücken und Paris. Zu ihren Forschungsbereichen gehören neben dem Musik- und Tanztheater des 17. Jahrhunderts vor allem der Bereich der Aufführungspraxisforschung an der Schnittstelle von Musik- und Theaterwissenschaft. Seit Ende 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth in Thurnau und widmet sich dort verstärkt Fragen der praxisbasierten Forschung sowie der Untersuchung von Inszenierungsstrategien im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes Inszenierung von Macht und Unterhaltung – Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950. Sylvie Bouissou ist Forschungsleiterin am CNRS in Paris. Sie promovierte an den Universitäten Paris-Sorbonne und Panthéon-Sorbonne und ist assoziierte Forscherin und ehemaliges Residenzmitglied der Académie de France in Rom. Seit 1991 ist sie Chefredakteurin der Rameau-Gesamtausgabe Opera Omnia. Mit Fördermitteln des französischen Kulturministeriums und der Fondation Salabert initiierte sie 1993 die Plattform Musica Gallica. 1996 gründete sie das Institut de recherche sur le patrimoine musical en France (CNRS, BnF und Ministère de la Culture), das sie bis 2001 leitete. Eine Auswahl ihrer Publikationen: Histoire de la notation de l’époque baroque à nos jours; Jean-Philippe Rameau, musicien des Lumières (ausgezeichnet mit dem Prix spécial des Muses sowie dem Prix Dumesnil der Académie de l’Institut de France);
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Autorinnen und Autoren der Beiträge
drei Bände des Catalogue thématique des œuvres musicales de Jean-Philippe Rameau (gemeinsam mit Denis Herlin und Pascal Denécheau). Norbert Dubowy arbeitete nach seiner Promotion an der Ludwig-Maximilans-Uni versität in München als Assistent am Deutschen Historischen Institut in Rom. Dem schloss sich eine rege Unterrichtstätigkeit an zahlreichen Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten an. Zwischen 2011 und 2014 war er Mitarbeiter im Projekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen in Bayreuth bzw. Frankfurt am Main. Seit September 2014 ist er Cheflektor der Digitalen MozartEdition an der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, dabei im Besonderen die italienische Oper bzw. Alessandro Scarlatti, aber auch Orchesterentwicklung, Musiker migration und nicht zuletzt digitale Editionstechniken. Albert Gier studierte in Bonn und Montpellier. Promotion 1976 in Bonn, Habilitation 1984 in Heidelberg. Seit etwa 1990 wurde das Opern- und Operettenlibretto zu seinem zentralen Forschungsgebiet. 1988–2016 Professor für Romanistik (Literaturwissenschaft) in Bamberg, wo er 1994 das Dokumentationszentrum für Librettoforschung gründete (seit 2016 mit dem Archiv für Textmusikforschung, Universität Innsbruck, Institut für Romanistik, vereinigt). Buchveröffentlichungen u. a.: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung (Darmstadt 1998); Wär’ es auch nichts als ein Augenblick. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette (Bamberg 2014). Bernhard Jahn ist Professor für deutsche Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg. Er studierte an der LMU München Germanistik und Musikwissenschaft. Habilitation 2002 an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Forschungsschwerpunkte: (Musik-)Theater in der Frühen Neuzeit, Intermedialität, Interkonfessionalität. Mitglied des Hamburger DFG-Graduiertenkollegs Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit, Mitherausgeber des Archivs für Kulturgeschichte. Zahlreiche Publikationen zur frühneuzeitlichen Literatur, zuletzt u. a. hrsg. mit Anselm Steiger: Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten (Berlin, Boston 2015). Helga Lühning studierte an der Freien Universität und am Konservatorium in Berlin sowie an der Universität Erlangen. Promotion 1974 mit einer Arbeit über die Opera seria. 1974 bis 1981 Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut in Erlangen, 1977/78 am Deutschen Historischen Institut in Rom. 1981 bis 2008 Mitarbeiterin des Beethoven-Archivs, Bonn. 1991 bis 2003 Sprecherin der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute, 1991 bis 2009 Mitglied des Beirats, 2001 bis 2005 des Vorstands der Gesellschaft für Musikforschung. Seit 2005 Mitglied der Akademie für Mozart-Forschung am Mozarteum Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Italienische und deutsche Oper im 18. und 19. Jahrhundert, Klavierlied, Libretto, Edition, Musik von Mozart und Beethoven.
Autorinnen und Autoren der Beiträge
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Andreas Münzmay ist Professor für Musikwissenschaft/Digitale Musikedition/Digital Humanities an der Universität Paderborn, in Verbindung mit dem Akademieprojekt Beethovens Werkstatt: Genetische Textkritik und Digitale Musikedition. Er studierte in Stuttgart Schulmusik, Französisch, Jazzposaune und Musikwissenschaft, wurde 2008 an der Universität der Künste Berlin mit einer Arbeit über den Librettisten Eugène Scribe promoviert, war anschließend wissenschaftlicher Redakteur im Editionsprojekt OPERA und bis 2016 Assistent an der Goethe-Universität Frankfurt. Er forscht u. a. zum französischen Musiktheater und zum Jazz und erhielt 2012 den Hermann-AbertPreis der Gesellschaft für Musikforschung. Rüdiger Nutt-Kofoth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Editionswissenschaft sowie Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal und wissenschaftlicher Koordinator des dortigen Graduiertenkollegs Dokument – Text – Edition. Zudem ist er Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und Vorsitzender der Kommission für allgemeine Editionswissenschaft in der Arbeitsgemeinschaft. Publikationsschwerpunkte: Sammelbände und Aufsätze zur Editionswissenschaft und zur neueren deutschen Literatur. Esbjörn Nyström studierte Germanistik sowie Allgemeine und schwedische Literaturwissenschaft an der Universität Umeå und der Universität Karlsruhe. Er promovierte 2004 an der Universität Göteborg mit einer germanistischen Dissertation zur Textgeschichte des Opernlibrettos Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Brecht und Weill. Zwischen 2011 und 2014 war er an der Universität Stockholm (Abteilung für Germanistik) mit einem Forschungsprojekt zur Librettoedition tätig. Von 2008 bis 2011 und wieder seit 2014 arbeitet Nyström als Lektor der schwedischen Philologie an der Universität Tartu. Bodo Plachta ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und gibt gemeinsam mit Rüdiger Nutt-Kofoth das Jahrbuch editio und die Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition heraus. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Zensur, Exil, Oper und Operntext, Literatur und bildende Kunst. Letzte Publikationen: Künstlerhäuser. Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer (2014); Dichterhäuser (2017). Alessandro Roccatagliati ist Professor für Musikwissenschaft und Musikgeschichte an der Universität Ferrara. Seit 2001 ist er Mitherausgeber der Reihe Edizione critica delle opere di Vincenzo Bellini, die bei Ricordi erscheint. Innerhalb dieser Reihe edierte er die Oper La sonnambula (gemeinsam mit L. Zoppelli, 2009). Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Il Saggiatore musicale und stellvertretender Leiter der Zeitschrift Musicalia sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der VerdiPerspektiven. Eine Auswahl seiner wichtigsten Publikationen: Felice Romani librettista (Lucca 1996); Ferrara dà spettacolo: vicende, persone e denari nell’organizzazione del Teatro Comunale (1786–1940) (Lucca 2004); Musica e società, II: dal 1640 al 1830 (Mailand 2013).
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Autorinnen und Autoren der Beiträge
Dörte Schmidt ist Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt im Musiktheater vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Sie ist u. a. Projektleiterin der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe in der Trägerschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Herbert Schneider, emeritierter Professor der Universität des Saarlandes, ist Herausgeber der Musikwissenschaftlichen Publikationen und der Œuvres complètes von Jean-Bapiste Lully (mit J. de La Gorce). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Musiktheorie, die französische Musik seit dem 17. Jahrhundert, die deutsch-französischen Musikbeziehungen und die Übersetzungen gesungener Gattungen. Zuletzt gab er zwei Bände Olivier Messiaen. Texte, Analysen Zeugnisse (mit W. Rathert und K. A. Rickenbacher), fünf Bände Antoine Reicha. Écrits inédits et oubliés/Unbekannte und unveröffentlichte Schriften (mit H. Audéon) sowie den Kongressbericht Antoine Reicha. Compositeur et théoricien (mit L. Bertrand de Raymond und J.-P. Bartoli) heraus. Solveig Schreiter studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2004 Mitarbeiterin der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (2013–2015 Mitarbeit im BMBF-Projekt Freischütz-digital); seit 2006 Schriftführerin der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V. 2013 Promotion an der Hochschule für Musik Dresden über Webers Textbuch zum Oberon. Christine Siegert ist seit 2015 Leiterin des Forschungszentrums Beethoven-Archiv (Beethoven-Haus Bonn). Promotion 2003 an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt Joseph Haydns Bearbeitungen von Arien anderer Komponisten (Universität Würzburg, Joseph Haydn-Institut Köln), am Joseph Haydn-Institut sowie am Akademieprojekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen (Universität Bayreuth). 2010–2015 Juniorprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Seit 2016 Generalherausgeberin der Neuen Beethoven-Gesamtausgabe. Forschungsschwerpunkte: Editionsphilologie/ digitale Edition und Musikgeschichte um 1800. Joachim Veit ist Editionsleiter der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn und betreut gemeinsam mit Bernhard R. Appel das Akademieprojekt Beethovens Werkstatt. Als Honorarprofessor der Universität Paderborn hat er in den vergangenen Jahren eine Reihe digitaler Projekte durchgeführt, in denen Werkzeuge für digitale Editionen entwickelt wurden und mit KollegInnen der Universität, der Hochschule für Musik und der Hochschule Ostwestfalen-Lippe das vom BMBF geförderte Zentrum Musik – Edition – Medien gegründet.
Personenregister Alwin, Karl 35 Amodeo, Immacolata 6 Anfossi, Pasquale 67 Apel, August 136, 139 Arteaga y Pereira, Fernando de 216 Artsibacheva, Olga 2 Asburgo, Maria Teresa d’ 100 Auber, Daniel-François-Esprit 3, 217, 257 Audran, Edmond 164, 166, 175 August der Starke 137 Aurnhammer, Achim 5 Bach, Johann Christian 67 Bach, Johann Sebastian 49 Bachmann, Ingeborg 1, 13 Baïf, Antoine 70 Baldan, Giuseppe 97 Ballard, Christophe 73, 83, 86, 88 Ballard, Pierre-Robert 88 Barthes, Roland 27, 46, 55 Batka, Richard 216 Beauchamps, Pierre 71, 81, 82 Beethoven, Ludwig van 109, 110, 111, 112, 113, 116, 117, 119, 120, 121, 122, 123, 265 Beißner, Friedrich 17 Bellini, Vincenzo 141, 142, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 152, 256, 257, 258 Benda, Georg Anton 261 Berain, Jean 71 Bergold, Albrecht 47 Berlioz, Hector 185, 186, 257 Bernard, Pierre-Joseph 86 Bertoni, Ferdinando 67 Besongne, Jean-Baptiste 87 Betzwieser, Thomas 142, 267 Bianconi, Giuseppina La Face 142 Bianconi, Lorenzo 142, 255, 257 Bizet, Georges 183 Blaise, Adolphe Benoît 269 Blau, Edouard 192 Bohnen, Michael 35 Bormann, Erich 231, 232, 233, 234, 235, 240 Bouilly, Jean Nicolas 109, 110, 119
Bovary, Charles 168 Brandt, Caroline 126 Brecht, Bertolt 9, 13 Breig, Werner 39, 42, 50, 54 Breuning, Stephan von 110, 111, 112, 117 Brod, Max 216 Brühl, Karl Graf von 126, 127, 134, 139 Brunsvik, Franz 121 Büchner, Georg 14 Buchwald, Reinhard 11 Bürger, Gottfried August 136, 140 Buschmeier, Gabriele 12 Calvocoressi, Michel Dimitri 216 Capelle, Irmlind 22 Caspar, Franz Xaver von 140 Castelvecchi, Stefano 142 Casti, Giambattista 49, 141, 160, 161, 266, 267 Cavalli, Francesco 141, 143, 149, 257 Chabrier, Emmanuel 203, 204, 207, 208 Cherubini, Luigi 134 Chézy, Helmina von 132 Christiane Eberhardine, Kurfürstin 137 Christiné, Henri 165 Cimarosa, Domenico 67 Claudel, Paul 183 Clément, Félix 185, 192 Cochrane, Peggy 143 Colvin, Sarah 3 Conlon, Pierre-Marie 86 Corneille, Thomas 73 Cotta, Johann Friedrich 264 Dahlhaus, Carl 231 Da Ponte, Lorenzo 99, 123 Degenfeld, Ottonie Gräfin 32 De Lara, Isidore 183 Dessau, Paul 55 Detken, Anke 50 Didion, Robert 167 Döblin, Alfred 29, 30, 31, 36 Dohm, Ernst 176 Donizetti, Gaetano 141, 168 Dörmann, Felix 174
280 Dubowy, Norbert 141, 171 Dukas, Paul 185 Dürr, Walther 21, 26 Dyck, Ernest Van 193 Eckermann, Johann Peter 29 Emans, Reinmar 49 Emil Leopold August von Sachsen-GothaAltenburg 126 Enßlin, Ulla Karen 3 Etscheit, Ulrich 217 Eunicke, Johanna 127 Eysler, Edmund 175 Fabbri, Paolo 142 Favart, Charles-Simon 269 Favart, Marie-Justine-Benoîte 269 Feuillet, Raoul-Auger 71, 72, 77, 81, 82 Fischer-Lichte, Erika 15, 264 Fortner, Wolfgang 233 Fouqué, Friedrich de la Motte 22, 138, 139, 140 Friedell, Egon 176, 177, 179, 180 Fröhlich, Joseph 137, 138 Fürstner, Otto 18, 34 Galuppi, Baldassare 67 Gauthier, Laure 2 Gaveaux, Pierre 110 Genée, Richard 168, 169, 175 Genette, Gérard 273 George, Heinrich 30, 35 Gervais, Charles-Hubert 92 Ghristi, Christoph 193 Gier, Albert 2, 25, 26, 56, 253 Gilcher, Dagmar 185 Giraudoux, Jean 177 Glinka, Michael 185 Gluck, Christoph Willibald 4, 20, 256 Goedeke, Karl 11, 15 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 11, 13, 14, 15, 27, 28, 29, 31, 120, 193, 232, 264, 265 Goetz, Curt 178 Goetze, Walter Wilhelm 175 Goez, Joseph Franz von 31 Goldoni, Carlo 67, 97, 98, 99, 100, 101 Golisciani, Enrico 183 Gossett, Philip 141
Personenregister
Gotter, Friedrich Wilhelm 261 Gottsched, Johann Christoph 8, 9 Grabbe, Christian Dietrich 14, 23 Grillparzer, Franz 11, 14 Gronda, Giovanna 142 Gryphius, Andreas 8 Guardasoni, Domenico 111 Guglielmi, Pietro Alessandro 67 Guilloux, Fabien 257 Guitry, Sacha 168 Guse, Anette 3 Gutheim, Karlheinz 208, 209 Guttmann, Emil 174 Hailey, Christopher 37 Halévy, Ludovic 166, 167, 177, 178 Hallmann, Johann Christian 8 Händel, Georg Friedrich 3, 4, 164 Hartmann, Georges 192 Hartmann, Ludwig 216 Hasse, Johann Adolf 67 Haydn, Joseph 67, 184 Henrich, Heribert 229 Henrikson, Paula 39 Henze, Hans Werner 233 Herder, Johann Gottfried 11 Hesse, Hermann 11, 17 Hiebler, Heinz 35 Hiller, Johann Adam 20 Hindemith, Paul 184, 208 Hoffmann, Dierk O. 34, 37 Hoffmann, Dirk 18 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 13, 22, 136, 139 Hoffmann, Rudolph Stefan 183, 211, 212, 213, 216 Hofmannsthal, Hugo von 1, 13, 17, 18, 19, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 48, 178, 182 Hölderlin, Friedrich 17 Holoman, Dallas Kern 185 Holzbauer, Ignaz 67 Honolka, Kurt 193 Hoppenot, Henri 208, 210 Hottmann, Katharina 42, 49 Humboldt, Wilhelm von 29 Humperdinck, Engelbert 185 Iffland, August Wilhelm 14 Ihering, Herbert 30
Personenregister
Illica, Luigi 216 Ingarden, Roman 50 Istel, Edgar 2, 231 Jacobson, Leopold 174 Jäger, Ludwig 57 Jahn, Bernhard 13 Jahnn, Hans Henny 229 Jannings, Emil 35 Jelmoli, Hans 216 Jommelli, Niccolò 6, 67 Just, Klaus Günther 2, 5 Jutzi, Phil 30 Kalbeck, Max 183, 188, 192, 193, 194, 195, 196, 198, 200, 201, 203, 216 Kalisch, Ludwig 168 Kálmán, Emmerich 174, 175 Kessler, Harry Graf 33 Kindermann, Jürgen 22 Kind, Friedrich 22, 125, 126, 128, 129, 130, 132, 135, 136, 138, 139, 140 Klebe, Giselher 233 Kleist, Heinrich von 14 Klingenberg, Emma 204, 208, 216 Knepler, Paul 180, 181 Kolesch, Doris 6 Kollo, Walter 175 Konrad, Ulrich 21, 37 Körber, Hilde 30 Korngold, Julius 183, 186 Kotzebue, August von 14 Kraft, Herbert 14 Krämer, Jörg 5 Krauss, Werner 35 Kühn, Hellmuth 185 Künneke, Eduard 175 La Borde, Benjamin de 208 La Bruyère, Jean de 69, 70 Lachmann, Karl 11, 178 Lachner, Ignaz 47 Lalande, Michel-Richard de 86 Lalli, Domenico 98 Larousse, Pierre 185, 192 La Salvia, Adrian 267 Laun, Friedrich 136, 139 Lauzières, Achille de 216 Lecocq, Charles 164, 166, 175
281 Lehár, Franz 163, 175 Lemaire, Ferdinand 185, 187, 188 Lenz, Jakob Michael Reinhold 231, 232, 233, 234, 236, 238, 240, 249 Leoncavallo, Ruggiero 183 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 11, 14 Lewy, Gustav 171 Ligeti, György 53 Lindpaintner, Peter Joseph von 264, 265 Liszt, Franz 185 Lohenstein, Daniel Casper von 8 Lorena, Francesco Stefano di 100 Lourdet de Santerre, Jean-Baptiste 269 Lühning, Helga 33, 255 Lully, Jean-Baptiste 69, 70, 71, 72, 73, 80, 82, 83, 84, 92 Lyser, Johann Peter 138, 139 Macdonald, Hugh 185 Malipiero, Gian Francesco 183, 210, 211, 212, 213, 217 Manger, Klaus 5 Mantica, Candida 142 Manuwald, Gesine 2 Marmontel, Jean-François 86 Martens, Gunter 11, 12, 17, 26 Marx, Hans Joachim 3 Massenet, Jules 183, 192, 193, 194, 195, 196, 201 Maul, Michael 3 Mazzucato, Giovanni 216 Meczies, Aliute 53 Méhul, Étienne-Nicolas 217 Meilhac, Henri 166, 167, 177, 178 Menantes (Hunold, Christian Friedrich) 9 Mendès, Catulle 203, 204 Ménéstrier, Claude François 70 Meschke, Michael 53, 54 Messager, André 165 Metastasio, Pietro 5, 9, 66, 67, 68, 97, 98, 99, 100, 101, 253 Meyerbeer, Giacomo 145, 257, 258 Meyer, Reinhart 3, 5, 8 Michelsen, Peter 5 Mickel, Karl 55 Mikhaël, Ephraïm 203, 204 Milder, Anna 134 Milhaud, Darius 183, 184, 208, 209, 210 Milliet, Paul 192, 216
282 Millöcker, Carl 163, 168, 175 Milnes, Rodnay 192 Mörike, Eduard 47 Mosel, Ignaz von 127 Mozart, Wolfgang Amadeus 49, 67, 256 Müller, Anton 235 Müller-Blattau, Wendelin 233, 234 Müllner, Adolph 140 Muncker, Franz 11 Münzmay, Andreas 265 Neitzel, Otto 216 Nerz, Louis 35 Nestroy, Johann 16 Neumeister, Erdmann 9 Nielsen, Asta 35 Noverre, Jean Georges 6 Nyström, Esbjörn 13, 25, 26 Offenbach, Jacques 164, 166, 167, 168, 175, 176, 177, 178 Oliven, Fritz 173 Olivet, Pierre-Joseph Thoulier d’ 95 Paër, Ferdinando 112, 121 Pagannone, Giorgio 20 Pappenheim, Marie 51 Pécour, Louis Guillaume 82 Pergolesi, Giovanni Battista 141, 149 Pfister, Manfred 56 Pilz, Werner 232, 240 Piron, Alexis 86 Plachta, Bodo 1, 257 Planché, James Robinson 133 Pohl, Richard 185, 186, 187, 188, 189, 191, 192, 196, 216 Praetorius, Johann Philipp 9 Prata, Francesco 100 Prunières, Henry 216 Rajewsky, Irina 7 Rameau, Jean-Philippe 85, 86, 92, 185, 256, 257, 258 Ramuz, Ferdinand 216 Redlich, Hans Ferdinand 213, 214, 216 Reinhardt, Max 176, 183 Reinking, Wilhelm 208, 209 Renard, Marie 193
Personenregister
Richelieu, Louis-François-Armand de Vignerot du Plessis de 89 Riemann, Hugo 216 Ritter, Michael 2 Robert, Pierre 88 Robinson, Armin L. 174 Roccatagliati, Alessandro 257, 269 Rocek, Roman 193 Rochlitz, Friedrich 110 Roddaz, Camille 193 Rode-Breymann, Susanne 3 Rogati, Eduard 174 Roller, Alfred 19, 33, 34 Romani, Felice 145, 146, 148, 149 Rosbaud, Hans 249 Rosow, Lois 93 Rossini, Gioachino 141, 145, 153, 157, 158, 159, 256 Rosteck, Jens 183 Roussel, Albert 184 Rückert, Rainer 138 Sabina, Karel 193 Saint-Saëns, Camille 183, 185, 186, 189, 191 Salieri, Antonio 49, 61, 66, 141, 142, 160, 161, 266, 267, 268, 273 Sarti, Giuseppe 66, 67, 161, 267 Sassmann, Hans 176, 177, 180 Scheibe, Siegfried 14, 39 Scheideler, Ullrich 52, 53, 54 Schikaneder, Emanuel 110 Schiller, Friedrich 5, 6, 9, 11, 14, 15, 27, 28, 29, 31, 136 Schlaffer, Heinz 4 Schmid, Manfred Hermann 47 Schmidt, Friedrich Ludwig 127 Schmusch, Rainer 185 Schneider, Herbert 257 Schnitzer, Ignatz 171, 172 Schönberg, Arnold 51, 52 Schreiter, Solveig 49, 136 Schröder, Dorothea 3 Schubert, Franz 21 Schuh, Oscar Fritz 232 Schünemann, Georg 127 Schweitzer, Anton 19, 20, 257 Scribe, Eugène 257 Seebald, Christian 2
283
Personenregister
Segeberg, Harro 30 Seherr-Thoss, Peter von 54 Seta, Fabrizio Della 141 Seydelmann, Carl 264, 265 Siegert, Christine 268 Singer, Otto 35 Siniva, Adriano 165 Smart, Sara 2 Sollar, Fabien 165 Sonnleithner, Joseph 110, 111, 112, 117, 119, 121 Specht, Richard 216 Spoerhase, Carlos 27 Spohr, Louis 9 Spontini, Gaspare 135 Steffan, Ernst 180, 181 Steinecke, Hartmut 264 Stenmans, Anna 3 Stephanie, Johann Gottlieb 49 Sterbini, Cesare 153, 157, 158, 159 Stifter, Adalbert 11 Stöckl, Hartmut 40, 46, 55 Strack, Friedrich 5 Straus, Oscar 172, 174 Strauß, Johann 163, 168, 171, 172, 175, 178, 181 Strauss, Richard 18, 19, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 42, 48, 178, 203 Stravinskij, Igor 183, 217 Strecker, Ludwig 230, 232 Streicher, Johannes 183 Strohm, Reinhard 37, 44, 255, 256 Suphan, Bernhard 11 Suppé, Franz von 168, 175 Telemann, Georg Philipp 3 Terrasse, Claude 164 Tiedge, Christoph August 121 Treibler, Hermann 216 Treitschke, Georg Friedrich 112, 113, 116, 117, 119, 120, 121 Tumat, Antje 265 Urchueguía, Cristina 42, 51 Vaultier, Bernard 87 Veit, Joachim 22, 62 Verdi, Giuseppe 9, 141 Viardot, Pauline 185
Vidal, Pierre 193 Vigarani, Carlo 71, 75 Viglianti, Raffaele 62 Vivaldi, Antonio 4 Vogel, Juliane 247 Voltaire 86, 185 Voss, Egon 23, 42, 43, 45, 257 Wagner, Richard 2, 23, 39, 41, 42, 43, 45, 50, 54, 56, 59, 184, 204, 257 Wanek, Friederich 53 Waterhouse, John C. G. 183, 213 Weber, Carl Maria von 22, 62, 68, 125, 126, 127, 128, 130, 131, 132, 133, 135, 137, 139, 140, 257, 264 Weigel, Hans 174 Weinberger, Jaromir 183 Weinmüller, Karl Friedrich 116 Weise, Christian 8 Weiße, Christian Felix 20 Werner, Zacharias 140 Werr, Sebastian 3 Wieland, Christoph Martin 11, 13, 17, 19, 20, 21, 257 Wiene, Robert 34, 35 Wiesend, Reinhard 142 Wild, Christopher 247 Wild, Nicole 257 Wilhelm, Hans 30 Willemetz, Albert 165 Winter, Peter von 31 Wolf-Ferrari, Ermanno 183, 217 Wolff, Pius Alexander 264 Wulfhorst, Kathrin 136 Würz, Anton 169, 170, 171 Zamboni, Luigi 158 Zeller, Hans 17, 21 Zell, Friedrich 168, 169, 175 Zenck, Martin 232 Zentner, Wilhelm 168 Ziegler, Frank 264 Zimmermann, Bernd Alois 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 238, 240, 247, 249, 252, 253 Zimmermann, Bettina 229 Zola, Émile 166 Zoppelli, Luca 141, 145, 151 Zweig, Stefan 46, 47