Paulus Und Die Kaiserzeitliche Epistolographie: Kontextualisierung Und Analyse Der Briefe an Philemon Und an Die Galater 9783161509773, 9783161517754, 3161509773

English summary: Are the oldest Christian writings literature? At the beginning of the 20th century, A. Deissmann's

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Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
Kapitel 1: Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike
1.1 Die Problemstellung – die Thesen Adolf Deißmanns
1.2 Die Kritik der Forschung an Adolf Deißmann
1.3 Konzeption und Zielsetzung der Studie
Kapitel 2: Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit
2.1 Der griechisch-römische Brief
2.1.1 Überlieferung und Erforschung des antiken Briefes
2.1.2 Geschichte des Briefes in der Antike
2.1.3 Brieftheorie und Briefstil
2.1.4 Briefformular und Briefformeln
Vorbemerkung
A. Präskript
B. Corpus
C. Postskript
Das lateinische Briefformular
2.1.5 Anmerkungen zur Kategorisierung der antiken Briefe
2.2 Der Brief im Frühjudentum
2.2.1 Das Corpus der frühjüdischen Briefe
2.2.2 Zum Formular der frühjüdischen Briefe
Vorbemerkung
A. Hebräische Briefe
B. Aramäische Briefe
C. Griechische Briefe
Auswertung
2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie
2.3.1 Das Corpus der frühchristlichen Briefe
2.3.2 Zum Formular der frühchristlichen Briefe
Vorbemerkung
A. Präskript
B. Postskript
C. Danksagung und Corpus
Auswertung
Kapitel 3: Desiderate und methodische Überlegungen zur Analyse frühchristlicher Briefe
3.1 Zwischen Papyrusbrief und literarischem Brief
3.2 Konvention, Theorie und Praxis des antiken Briefes
3.3 Schulunterricht, Bildung und Briefstil
3.4 Brief und Rhetorik
3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen
Kapitel 4: Der Brief an Philemon
4.1 Zum Stand der Forschung
4.1.1 Hintergrund, Ort und Zeit der Abfassung
4.1.2 Intention und Funktion
4.1.3 Briefcharakter und Stil
4.2 Analyse und Kontextualisierung
4.2.1 Gedankenführung
4.2.2 Briefformular und epistolare Formeln
Vorbemerkung
A. Präskript – Phlm 1–3
B. Corpus – Phlm 4–24
C. Postskript – Phlm 25
Auswertung
4.2.3 Brieftheorie und Briefstil
4.2.4 Brieftypen und Briefsituation
4.2.5 Vergleich mit literarischen Briefen und Papyrusbriefen
4.2.6 Elemente der Rhetorik
Vorbemerkung
A. Ethopoiie
(1) Paulus
(2) Philemon
(3) Onesimus
B. Argumentation
Auswertung
4.3 Zusammenfassung und Interpretation
Kapitel 5: Der Brief an die Galater
5.1 Zum Stand der Forschung
5.1.1 Hintergrund, Anlass und Intention
5.1.2 Ort und Zeit der Abfassung
5.1.3 Lokalisierung der Adressaten
5.1.4 Profil und Identität der konkurrierenden Missionare
5.1.5 Der Galaterbrief als Brief und Rede
5.2 Analyse und Kontextualisierung
5.2.1 Gedankenführung und Inhalt
5.2.2 Briefformular und epistolare Formeln
Vorbemerkung
A. Präskript – Gal 1,1–5
B1. Corpuseröffnung – Gal 1,6–9
B2–4. Corpusmitte – Gal 1,10–6,6
B2. Gal 1,10–2,21
B3. Gal 3,1–5,12
B4. Gal 5,13–6,6
B5. Corpusabschluss – Gal 6,7–10
C. Subskript – Gal 6,11–17
D. Postskript – Gal 6,18
Auswertung
5.2.3 Brieftheorie und Briefstil
A. Umfang und Inhalt
B. Begrifflichkeit und Vorstellungswelt
C. Sprache und Stil
5.2.4 Brieftypen und Briefsituation
A. Zuordnung zum τύπος άπολογητικός
B. Kritische Anmerkungen
C. Tadelnd-anklagende Briefe
5.2.5 Vergleich mit antiken Lehrbriefen
5.2.6 Elemente der Rhetorik
Vorbemerkung
A. Ethopoiie
(1) Paulus
(2) Galatische Christen
(3) Konkurrierende Missionare
B. Argumentation
(1) Berechtigung zur Heidenmission
(2) Heilsnotwendigkeit des Gesetzes
Auswertung
5.3 Zusammenfassung und Interpretation
Kapitel 6: Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie
6.1 Der Brief an Philemon
6.2 Der Brief an die Galater
6.3 Der Charakter der Paulusbriefe
6.4 Paulus, der »Briefschreiber«
Anhang
1. Leben und Wirken des Paulus
2. Der geographische Raum der paulinischen Mission
3. Übersicht zu den antiken Briefcorpora
4. Synopse zu den Bar Kochba-Briefen
Literatur
1. Quellen
a. Biblische Schriften
b. Antike jüdische Literatur und Quelleneditionen
c. Antike christliche Literatur
d. Antike pagane Literatur
Textsammlungen – Papyrusbriefe
Textsammlungen – Literarische Briefe
Alkiphron, Aelian, Philostrat
Anaximenes von Lampsakos
Apollonios Dyskolos
Apollonios von Tyana
Aristoteles
Cicero
Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios
Chionbriefe
Demosthenes
Dion von Prusa
Dionysios von Halikarnass
Epikur
Euripides
Horaz
Isokrates
Kynikerbriefe
Ps.-Longin
Platon
Plinius d. J.
Quintilian
Rhetorica ad Herennium
Seneca
Themistoklesbriefe
2. Hilfsmittel
a. Wörterbücher und Grammatiken
b. Konkordanzen etc.
c. Lexika
d. Elektronische Ressourcen und Datenbanken
3. Sekundärliteratur
a. Kommentare zum Philemonbrief
b. Kommentare zum Galaterbrief
c. Kommentare zu weiteren Briefen des Corpus Paulinum
d. Monographien, Aufsätze etc.
Register
1. Stellenregister
a. Biblische Schriften
b. Frühjüdische und rabbinische Schriften
c. Frühchristliche und patristische Schriften
d. Antike Autoren und Werke
e. Papyri, Ostraca, Inschriften
2. Personen
a. Neuzeitliche Autoren
b. Antike Epistolographen und Briefsteller
3. Sachen
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Paulus Und Die Kaiserzeitliche Epistolographie: Kontextualisierung Und Analyse Der Briefe an Philemon Und an Die Galater
 9783161509773, 9783161517754, 3161509773

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

276

Thomas Johann Bauer

Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Philemon und an die Galater

Mohr Siebeck

Thomas Johann Bauer, geboren 1973; Studium der Katholischen Theologie in Regensburg; Studium der Klasssischen Philologie in Gießen; 2006 Promotion zum Dr. phil.; 2011 Promotion zum Dr. theol.; Akademischer Rat a. Z. an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.

D 25 e-ISBN PDF 978-3-16-151775-4 ISBN 978-3-16-150977-3 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

In Dankbarkeit meinen Eltern Johann und Rita Bauer

Vorwort Die vorliegende Studie über Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie wurde im Sommersemester 2011 von der Theologischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen und mit dem Bernhard-Welte-Preis 2011 ausgezeichnet. Sie wäre nicht denkbar ohne das, was auf diesem Gebiet in den vergangenen hundert Jahren, angefangen mit Adolf Deißmann, von zahlreichen Forschern erarbeitet wurde. Stellvertretend sei hier auf die bis heute maßgebenden Arbeiten zur antiken Epistolographie von Heikki Koskenniemi, Klaus Thraede und John J. White, sowie auf die mittlerweile »klassischen« Paulus-Bücher von Günther Bornkamm und Jürgen Becker verwiesen. Eine verlässliche Orientierung in den oft verworrenen Fragen und Problemen der Paulus-Biographie boten die kritischen und differenzierten Ausführungen der Einleitungsvorlesung »Paulus – Apostel der Völker«, die ich im Wintersemester 1995/96 bei Prof. Dr. Georg Schmuttermayr an der Universität Regensburg hören durfte. Einen wesentlichen Anteil am glücklichen Abschluss dieser Dissertation hat Herr Prof. Dr. Ferdinand R. Prostmeier (Freiburg), der als Doktorvater in vorbildlicher Weise die Entstehung dieser Arbeit begleitet und das Erstgutachten erstellt hat. Gerne erinnere ich mich an die vielen Abende in Gießen und Freiburg, an denen beim gemeinsamen Essen die Ergebnisse dieser Arbeit diskutiert und in den weiteren Horizont einer Geschichte der Theologie, Literatur und Kultur des Frühchristentums eingeordnet wurden. Ich danke ihm für die Anerkennung und Förderung, die ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl zunächst in Gießen, dann in Freiburg erfahren habe. Zusammen mit meinem Doktorvater gilt mein Dank auch seiner Familie – Rita, Rut und Ferdinand (junior) – für ihre Gastfreundschaft und die schönen Stunden, die ich in Regensburg und Freiburg in ihrem Kreis verleben durfte. Herr Prof. Dr. Hans-Josef Klauck von der Divinity School der University of Chicago war so freundlich, die Mühe der Erstellung des Zweitgutachtens auf sich zu nehmen. Dank schulde ich ihm nicht nur für die überaus wohlwollende Würdigung meiner Dissertation, sondern auch dafür, dass er zusammen mit Herrn Prof. Dr. Jörg Frey (Zürich) als Herausgeber die Aufnahme meiner Arbeit in die Erste Reihe der »Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament« befürwortet hat. Wichtige Impulse verdankt diese Studie auch den Gießener Lehrern in der Klassischen Philologie. Herr Prof. Dr. Peter von Möllendorff schärfte meinen Blick für das Phänomen der Zweiten Sophistik. Herr Prof. Dr. Helmut Krasser

VIII

Vorwort

vermittelte mir ein lebendiges und anschauliches Bild der Kultur- und Mentalitätsgeschichte der frühen römischen Kaiserzeit. Anregende Einblicke in die kaiserzeitliche Epistolographie erhielt ich von Frau Prof. Dr. Ulrike EgelhaafGaiser (jetzt Göttingen). Bei Frau Dr. Ivana Petrovic (jetzt Durham) lernte ich die nötigen Grundlagen für das stilkritische Arbeiten an antiken Texten. Mein Dank gilt auch den Verantwortlichen beim Verlag Mohr Siebeck – Herr Dr. Henning Ziebritzki, Cheflektor Theologie und Judaistik, und Frau Juliane Stievermann, Marketing –, die mit Umsicht die Drucklegung meiner Arbeit begleiteten. Für die Betreuung bei der Erstellung der Druckvorlage und ihre geduldigen Hilfestellungen danke ich Frau Tanja Idler. Eine bewährte Hilfe und Rettung in allen Fragen der Textverarbeitung war mein Regensburger Studienfreund, Herr Pfarrer Michael Reißer (Waffenbrunn). Gewidmet sei diese Arbeit meinen Eltern Johann und Rita Bauer. Dies ist nur ein kleiner Dank für ihre selbstlose Unterstützung und das Verständnis, das sie mir in den vergangenen Jahren entgegen brachten. Eine verlässliche Stütze und Hilfe war mir immer wieder meine Schwester, Frau Dr. Gertraud Bauer. Mit meinen Eltern und meiner Schwester danke ich auch meinem Bruder Markus Bauer für den Rückhalt, den ich stets bei meiner Familie finden durfte.

Freiburg, 29. September 2011

Inhalt Vorwort ................................................................................................................ VII Inhalt .................................................................................................................... IX Abkürzungen ....................................................................................................... XIII

Kapitel 1: Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike .......

1

1.1 Die Problemstellung – die Thesen Adolf Deißmanns ............................ 1.2 Die Kritik der Forschung an Adolf Deißmann ....................................... 1.3 Konzeption und Zielsetzung der Studie ..................................................

1 6 8

Kapitel 2: Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit .................. 12 2.1 Der griechisch-römische Brief .................................................................. 2.1.1 Überlieferung und Erforschung des antiken Briefes ................... 2.1.2 Geschichte des Briefes in der Antike ............................................. 2.1.3 Brieftheorie und Briefstil ................................................................. 2.1.4 Briefformular und Briefformeln ..................................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Präskript ........................................................................................ B. Corpus ........................................................................................... C. Postskript ...................................................................................... Das lateinische Briefformular ......................................................... 2.1.5 Anmerkungen zur Kategorisierung der antiken Briefe ............... 2.2 Der Brief im Frühjudentum ...................................................................... 2.2.1 Das Corpus der frühjüdischen Briefe ............................................ 2.2.2 Zum Formular der frühjüdischen Briefe ....................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Hebräische Briefe ......................................................................... B. Aramäische Briefe ........................................................................ C. Griechische Briefe ........................................................................ Auswertung .......................................................................................

12 12 19 33 44 44 44 47 50 51 51 58 58 65 65 66 67 69 69

X

Inhalt

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie ........................................ 2.3.1 Das Corpus der frühchristlichen Briefe ........................................ 2.3.2 Zum Formular der frühchristlichen Briefe ................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Präskript ........................................................................................ B. Postskript ....................................................................................... C. Danksagung und Corpus ............................................................ Auswertung .......................................................................................

71 71 78 78 79 83 83 86

Kapitel 3: Desiderate und methodische Überlegungen zur Analyse frühchristlicher Briefe ........................................................ 91 3.1 Zwischen Papyrusbrief und literarischem Brief ...................................... 91 3.2 Konvention, Theorie und Praxis des antiken Briefes ............................. 94 3.3 Schulunterricht, Bildung und Briefstil ..................................................... 98 3.4 Brief und Rhetorik ...................................................................................... 101 3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen ......................................... 105

Kapitel 4: Der Brief an Philemon .......................................................... 110 4.1 Zum Stand der Forschung ......................................................................... 4.1.1 Hintergrund, Ort und Zeit der Abfassung .................................... 4.1.2 Intention und Funktion ................................................................... 4.1.3 Briefcharakter und Stil .....................................................................

110 110 112 117

4.2 Analyse und Kontextualisierung ............................................................... 4.2.1 Gedankenführung ............................................................................ 4.2.2 Briefformular und epistolare Formeln ........................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Präskript – Phlm 1–3 .................................................................. B. Corpus – Phlm 4–24 .................................................................... C. Postskript – Phlm 25 ................................................................... Auswertung ....................................................................................... 4.2.3 Brieftheorie und Briefstil ................................................................. 4.2.4 Brieftypen und Briefsituation ......................................................... 4.2.5 Vergleich mit literarischen Briefen und Papyrusbriefen ............. 4.2.6 Elemente der Rhetorik ..................................................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Ethopoiie ....................................................................................... (1) Paulus ........................................................................................... (2) Philemon .....................................................................................

119 119 121 121 121 125 130 130 131 136 144 151 151 152 152 154

Inhalt

(3) Onesimus ..................................................................................... B. Argumentation ............................................................................. Auswertung ....................................................................................... 4.3 Zusammenfassung und Interpretation ....................................................

XI 154 156 160 161

Kapitel 5: Der Brief an die Galater ........................................................ 167 5.1 Zum Stand der Forschung ......................................................................... 5.1.1 Hintergrund, Anlass und Intention ............................................... 5.1.2 Ort und Zeit der Abfassung ............................................................ 5.1.3 Lokalisierung der Adressaten .......................................................... 5.1.4 Profil und Identität der konkurrierenden Missionare ................. 5.1.5 Der Galaterbrief als Brief und Rede ............................................... 5.2 Analyse und Kontextualisierung ............................................................... 5.2.1 Gedankenführung und Inhalt ......................................................... 5.2.2 Briefformular und epistolare Formeln ........................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Präskript – Gal 1,1–5 .................................................................. B 1. Corpuseröffnung – Gal 1,6–9 .................................................. B 2–4. Corpusmitte – Gal 1,10 – 6,6 ................................................ B 2. Gal 1,10 – 2,21 ............................................................................ B 3. Gal 3,1 – 5,12 .............................................................................. B 4. Gal 5,13 – 6,6 .............................................................................. B 5. Corpusabschluss – Gal 6,7–10 ................................................. C. Subskript – Gal 6,11–17 .............................................................. D. Postskript – Gal 6,18 ................................................................... Auswertung ....................................................................................... 5.2.3 Brieftheorie und Briefstil ................................................................. A. Umfang und Inhalt ...................................................................... B. Begrifflichkeit und Vorstellungswelt ......................................... C. Sprache und Stil ........................................................................... 5.2.4 Brieftypen und Briefsituation ......................................................... A. Zuordnung zum τύπος ἀπολογητικός ...................................... B. Kritische Anmerkungen .............................................................. C. Tadelnd-anklagende Briefe ......................................................... 5.2.5 Vergleich mit antiken Lehrbriefen ................................................. 5.2.6 Elemente der Rhetorik ..................................................................... Vorbemerkung .................................................................................. A. Ethopoiie ....................................................................................... (1) Paulus ........................................................................................... (2) Galatische Christen ....................................................................

167 167 169 174 181 192 200 200 214 214 214 222 225 226 230 240 241 241 245 246 248 248 255 268 272 272 278 283 292 314 314 318 319 327

XII

Inhalt

(3) Konkurrierende Missionare ...................................................... B. Argumentation ............................................................................. (1) Berechtigung zur Heidenmission ............................................. (2) Heilsnotwendigkeit des Gesetzes ............................................. Auswertung ....................................................................................... 5.3 Zusammenfassung und Interpretation ....................................................

331 336 336 344 366 370

Kapitel 6: Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie ......... 388 6.1 6.2 6.3 6.4

Der Brief an Philemon ............................................................................... Der Brief an die Galater ............................................................................. Der Charakter der Paulusbriefe ................................................................ Paulus, der »Briefschreiber« ......................................................................

388 390 396 404

Anhang ................................................................................................................. 1. Leben und Wirken des Paulus ............................................................... 2. Der geographische Raum der paulinischen Mission ......................... 3. Übersicht zu den antiken Briefcorpora ................................................ 4. Synopse zu den Bar Kochba-Briefen ....................................................

419 419 421 422 423

Literatur ............................................................................................................... 425 Register ................................................................................................................. 1. Stellenregister .......................................................................................... 2. Personen ................................................................................................... 3. Sachen .......................................................................................................

455 455 476 479

Abkürzungsverzeichnis Biblische Bücher: Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien. Hrsg. von den kath. Bischöfen Deutschlands, dem Rat der Evang. Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft – Evangelisches Bibelwerk, Stuttgart 21981. Antike christliche, frühjüdische und rabbinische Schriften: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, hrsg. von der Redaktion des RGG4 (UTB 2868), Tübingen 2007. Antike griechische und lateinische Autoren und Werke: Erweitertes Abkürzungsverzeichnis in DNP 3 (1997) VIII–XLIV. Ergänzend dazu werden folgende Abkürzungen benutzt: Ail. epist. Aischin. epist. Alki. epist. Anaximen. rhet. Apoll. epist. Aristain. epist. Chion epist. Demosth. epist. Diog. epist. Dion. Hal. Amm. – Pomp. Epik. Her. – Men. – Pyth. Epikt. diatr. Eur. epist. Isokr. epist. Hippokr. epist. Lukian. aleth. dieg. – hetai. dial. – Peregr. – Hal. – Tox. Philostr. epist. II Themist. epist.

Ailianos [Claudius Aelianus], Briefe [von Bauern] (Typenbriefe) Aischines von Athen, Briefe (pseudepigraph) Alkiphron, Briefe [von Fischern, Bauern, Parasiten, Hetären] (Typenbriefe) Anaximenes, Rhetorik [überliefert als Aristot. rhet. Alex.] Apollonios von Tyana, Briefe (mehrheitlich pseudepigraph) Aristainetos, Briefe (erotisch) Chion von Herakleia, Briefe (Briefroman, pseudepigraph) Demosthenes, Briefe (wohl echt, außer epist. 5) Diogenes von Sinope, Briefe (zu Kynikerbriefen, pseudepigraph) Dionysios von Halikarnass, Briefe an Ammaeus – Brief an Cn. Pompeius Geminus Epikur, Brief an Herodot [Diog. Laert. 10,35–38] – Brief an Menoikeus [Diog. Laert. 10,122–135] – Brief an Herodot [Diog. Laert. 10,84–116] Epiktet, Lehrgespräche (διατριβαί) Euripides von Athen, Briefe (Briefroman, pseudepigraph) Isokrates, Briefe (Echtheit umstritten) Hippokrates von Kos, Briefe (Briefroman, pseudepigraph) Lukianos von Samosata, Wahre Geschichten (ἀληϑή διηγήματα) – Hetärengespräche (ἑταιρικοὶ διάλογοι) – Über den Tod des Peregrinos (περὶ τῆς Περεγρίνου τελευτῆς) – Der Fischer oder die Auferstandenen (ἀναβιοῦντες ἢ ἁλιεύς) – Toxaris oder die Freundschaft (Τόξαρις ἢ φιλία) Brieftheoretische Abhandlung (anonym) im Anhang zu den Briefen des Philostrat von Lemnos [auch als Dialexis I oder de epistulis bezeichnet] Themistokles, Briefe (Briefroman, pseudepigraph)

Papyri und Ostraca: Rupprecht, Papyruskunde 226–261. Zeitschriften, Lexika und Reihen: Siegfried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG2), Berlin/New York 21992.

Kapitel 1

Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike 1.1 Die Problemstellung – die Thesen Adolf Deißmanns Am Ende des 19. Jahrhunderts urteilte der klassische Philologe Eduard Norden (1898; 31915) über die im Neuen Testament unter dem Namen des Apostels Paulus überlieferten Briefe, dass ihr Gesamteindruck sowohl hinsichtlich der Argumentation als auch der Sprache und des Stils »unhellenisch« sei.1 In Anschluss an den Theologen Franz Overbeck (1882) konstatierte er deshalb einen fundamentalen Unterschied zwischen der paganen griechischen Literatur und den Paulusbriefen, obwohl die Paulusbriefe sowie die anderen neutestamentlichen Briefe aufgrund der auch in der zeitgleichen griechischen Literatur gepflegten Briefform dem »hellenischen Empfinden« näher stünden als die Evangelien und die Apostelgeschichte.2 Dieser Sicht, die in letzter Konsequenz die neutestamentlichen Schriften und das Frühchristentum als singuläres und unableitbares Phänomen innerhalb der griechisch-römischen Welt und Kultur isolierte, widersprach zehn Jahre später der Theologe Adolf Deißmann (1908; 4 1923).3 Er kritisierte an Eduard Norden, dass er sich in methodisch unzulässi1

Vgl. Norden, Kunstprosa 2, 498–502. So Norden, Kunstprosa 2, 492; vgl. auch 479f. Wenige Jahre später jedoch distanzierte sich Norden von der Sicht Overbecks und kam zu einem differenzierteren Urteil; vgl. Norden, Theos 306f. Näheres zur Geschichte des kritischen Vergleichs der neutestamentlichen Schriften mit der paganen antiken Literatur in der neuzeitlichen Forschung (Klassische Philologie und Theologie) bei Dormeyer, Literaturgeschichte 1–11; vgl. auch Strecker, Literaturgeschichte 17–48; Schnelle, Einführung 105f.; zum damit verbundenen Ringen um die Frage nach der Berechtigung einer neutestamentlichen (bzw. frühchristlichen) Literaturgeschichte auch Theißen, Entstehung 25–37. 3 Eduard Norden ging es genau besehen nicht um die totale Leugnung hellenistischen Einflusses in den neutestamentlichen Schriften und im Frühchristentum; vielmehr ging es ihm darum, vor einer Überbetonung hellenistischer Elemente in den frühchristlichen Schriften zu warnen, die die grundlegende und bleibende Differenz zwischen hellenistischem und christlich-jüdischem Denken ignoriert oder marginalisiert. Dennoch bleiben das Frühchristentum und seine Schriften für Eduard Norden ein innerhalb der hellenistisch-römischen Welt und Kultur isolierbares und isoliertes Phänomen, da die frühen Christen aus ihrer hellenistischen Umwelt lediglich vereinzelt Formen zur Einkleidung ihrer eigenen Gedanken, nicht aber die hellenistische Vorstellungswelt als solche übernommen hätten. Im einzelnen Norden, Kunstprosa 2, 465–479; zum prinzipiellen Gegensatz zwischen christlichem und hellenistischem Denken ebd. 2, 452–465. 2

2

1. Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike

ger Weise allein auf einen Vergleich der neutestamentlichen (und frühchristlichen) Schriften mit literarischen Texten beschränkt habe, die zahlreichen in den vorausgegangenen Jahrzehnten im Sand der ägyptischen Wüsten entdeckten und teilweise bereits publizierten Papyrustexte aber außer acht gelassen habe.4 In Sprache und Stil dieser Papyrustexte (Privatbriefe, Verträge etc.), in denen mehrheitlich kaum oder nur mäßig gebildete Menschen der hellenistischen und römischen Zeit zu Wort kommen, fänden sich zahlreiche Parallelen für das, was man gemeinhin in den neutestamentlichen Schriften als »unhellenisch« und semitisch zu identifizieren pflegte.5 Der von Eduard Norden behauptete Kontrast zwischen Texten der griechischen Literatur und den Paulusbriefen bzw. dem Neuen Testament insgesamt sei deshalb in Wirklichkeit nichts anderes als der Kontrast zwischen literarischer Kunstprosa und nichtliterarischer Gebrauchsprosa des Alltags.6 Damit sind für Adolf Deißmann die Paulusbriefe und die anderen neutestamentlichen Schriften zwar Teil der römisch-hellenistischen Welt und Kultur, zugleich aber sind sie, nicht anders als bei Eduard Norden und Franz Overbeck, klar gegen die griechische Literatur abgegrenzt.7 Die Sprache des Neuen Testaments, einschließlich der Paulusbriefe, sei nämlich nicht das Griechisch der Gebildeten und Literaten, sondern das »volkstümliche Weltgriechisch« der einfachen und ungebildeten Leute des 1. Jahrhunderts, wie es in den griechischen nichtliterarischen (dokumentarischen) Papyri aus Ägypten belegt ist.8 4 Deißmann, Licht 3: »Man vergißt dabei, daß die Literatur, selbst wenn sie vollständig vorhanden wäre, nur ein Fragment der antiken Welt ist, wenn auch ein bedeutendes Fragment; man vergißt, daß jede Rekonstruktion der antiken Welt, die mit Verwertung bloß der literarischen Texte versucht ist, einseitig sein muß und daß Vergleichungen des Urchristentums mit dieser aus Fragmenten fragmentarisch kombinierten Welt leicht mißlingen können.« Zur Bedeutung, die Adolf Deißmann den damals neu entdeckten Papyrusbriefen beimaß, vgl. außerdem ders., Paulus 35–39; zum Anliegen Adolf Deißmanns auch Doty, Classification 184f. 5 Ausführlich Deißmann, Licht 48–56. 6 Vgl. Deißmann, Licht 3–8; auch 56–109 und 228. Diese sprachgeschichtliche Einordnung und Verortung des Neuen Testaments innerhalb der gesprochenen, nichtliterarischen Koine bei Adolf Deißmann richtet sich gegen die Annahme eines Juden- oder Bibelgriechisch, das sich als semitisch gefärbter Dialekt oder Soziolekt innerhalb der (literarischen und nichtliterarischen) Gräzität der hellenistisch-römischen Zeit ausgrenzen ließe. Vgl. dazu Strecker, Literaturgeschichte 51–53; Reiser, Sprache 33–58. 7 Näheres bei Deißmann, Licht 114f.; ders., Bibelstudien 228f. 8 Deißmann, Licht 54: »Die knappe Körnigkeit evangelischer Volkssprache kann auch der Apostel Paulus handhaben, besonders in seinen ethischen Seelsorgerworten, die ja von selbst zu plastischen Sprüchen werden, wie sie das Volk braucht und als Schatz hütet. Aber auch wo Paulus, grübelnd und gedankenschwer, mehr nach der Sprache der Kontemplation und Spekulation greift, ja selbst wenn er sich vom priesterlichen Pathos des Liturgen und von der Begeisterung des Psalmisten beflügeln läßt, wird sein Griechisch niemals literarisch, etwa vom attizistischen Kanon oder von asianischer Rhythmik gemeistert, sondern es bleibt unliterarisch, und es ist, stark versetzt mit massiven und derben Wörtern, vielleicht das glänzendste Beispiel ungekünstelter, wenn auch nicht kunstloser Umgangsprosa eines weitgereisten Groß-

1.1 Die Problemstellung – die Thesen Adolf Deißmanns

3

Auch die Verfasser der neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften, darunter auch Paulus, müsse man demnach (mit Ausnahme des anonymen Verfassers des Hebräerbriefes)9 der Unterschicht bzw. der unteren Mittelschicht zurechnen, deren Angehörige zwar lesen und schreiben konnten, aber über keine höhere literarische Bildung verfügten.10 Dies wertete Adolf Deißmann als einen deutlichen Hinweis darauf, dass die frühen Christen in ihrer Mehrheit der griechisch sprechenden Unterschicht der großen hellenistischen Städte der römischen Kaiserzeit entstammten.11 Für die Paulusbriefe heißt das, sie sind nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch hinsichtlich des sozialen Milieus ihres Verfassers und ihrer Adressaten unmittelbar mit den erhaltenen nichtliterarischen Papyri der ägyptischen Wüste vergleichbar. Die Beschäftigung mit den nichtliterarischen Papyri erachtete Adolf Deißmann noch in anderer Hinsicht als hilfreich für das richtige Verständnis der Paulusbriefe. Bereits Eduard Norden hatte unter Berufung auf Franz Overbeck darauf hingewiesen, dass sich die Paulusbriefe nicht den schriftstellerischen Ambitionen ihres Verfassers verdanken, sondern dass sie das »kunstlose und zufällige Surrogat« des gesprochenen Wortes seien.12 Der unliterarische Stil der Paulusbriefe ist demnach darin begründet, dass sie in der Situation der persönlichen Abwesenheit die mündliche Predigt des Apostels ersetzen sollten.13 Eduard Norden ergänzte, dass der Brief als Ersatz des mündlichen Gesprächs nicht den strengen stilistischen Zwängen der literarischen Kunstprosa unterlag und deshalb in der hellenistischen Literatur ein beliebtes Mittel für die formal ungezwungene Darstellung der unterschiedlichsten Themen wurstädters der römischen Kaiserzeit, in seiner Modulationsfähigkeit wirklich ein Welt-Missionsgriechisch.« 9 Vgl. Deißmann, Licht 206–208. 10 Dazu Deißmann, Licht 208–210. Im Blick auf Paulus urteilt er deshalb: »ein unliterarischer Mensch in der unliterarischen Schicht der Kaiserzeit, aber als prophetische Persönlichkeit über diese Schicht hinausragend und die Umwelt der zeitgenössischen Bildung mit überlegenem Kraftbewußtsein betrachtend« (ebd. 205). In merkwürdigem Kontrast dazu steht das Urteil, das Adolf Deißmann 1925, also nur zwei Jahre nach dem Erscheinen der – hier zitierten – vierten Auflage von »Licht vom Osten«, in der zweiten Auflage seines Paulus-Buches fällt, indem er Paulus aufgrund Sprache und Stil seiner Briefe nun einer »gehobenen Schicht« zuweist; vgl. Deißmann, Paulus 42f. Diese Einordnung versteht er jedoch weiterhin so, dass Paulus zwar in der »Mitte« einzuordnen ist, aber dennoch der Unterschicht näher steht als der Oberschicht, weshalb er auch die Adressaten der Briefe weiterhin exklusiv in den Ungebildeten der Unterschicht sieht; vgl. ebd. 61–63. Hintergrund ist die Kritik von Eduard Schwartz an der ersten Auflage des Paulus-Buches; vgl. GGA (1911) 657–671. Er las in der hier vorgenommenen sozialen Einordnung des Paulus seine Qualifizierung als »unliterarischer Proletarier«. Darin wiederum sah Adolf Deißmann eine falsch Darstellung seiner Thesen, die er in einem Nachtrag mit persönlichen Invektiven polemisch zurückwies; vgl. Deißmann, Paulus 237f. 11 Im einzelnen Deißmann, Licht 6f.; dazu Stowers, Letter Writing 17f. 12 So Overbeck, Anfänge 19; Norden, Kunstprosa 2, 492. Dazu auch Deißmann, Bibelstudien 228–230. 13 Vgl. Overbeck, Anfänge 19f.; Norden, Kunstprosa 2, 479f.

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1. Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike

de.14 Der kunstlose Stil und der unliterarische Charakter der Paulusbriefe sei folglich auch in der Briefform begründet. Wenn auch bei Franz Overbeck und Eduard Norden die literarisch-ästhetische Fragestellung bestimmend blieb, so liegt hier doch zumindest ein erster Ansatz zur funktionalen Betrachtung der Paulusbriefe. Dieser funktionale Ansatz wurde von Adolf Deißmann konsequent durchgeführt, indem er, angeregt durch die zahlreichen Originalbriefe unter den nichtliterarischen Papyri Ägyptens, den echten Brief vom Kunstbrief, den er Epistel nannte, unterschied.15 Den in ihrer jeweiligen Funktion begründete Unterschied zwischen Brief und Epistel fasste Adolf Deißmann pointiert in einem Satz zusammen: »Der Brief ist ein Stück Leben, die Epistel ist ein Erzeugnis literarischer Kunst.«16 Der (echte) Brief ist nach Adolf Deißmann etwas Unliterarisches und Privates.17 Er dient allein der Kommunikation zwischen den räumlich getrennten Briefpartnern und zielt im Unterschied zu Werken der Literatur nicht auf ein breites Publikum oder gar die unbegrenzte Öffentlichkeit. Der (echte) Brief ist für eine konkrete Situation im Leben der Briefpartner geschrieben. In seinem Inhalt ist er deshalb zunächst auch nur für die Briefpartner unmittelbar verständlich und relevant. Die Epistel, der Kunstbrief, dagegen ist Teil der Literatur und als literarisches Werk im Blick auf einen breiten Leserkreis der Mitund Nachwelt geschrieben.18 Entsprechend ist der Inhalt der Epistel allgemein verständlich und beansprucht, für jeden potentiellen Leser relevant zu sein. Die briefliche Form ist bei der Epistel nur äußere Einkleidung, da die Epistel von vornherein für die Publikation bestimmt ist und nicht an den genannten Adressaten verschickt werden soll. Dennoch wurden neben solchen Episteln (z. B. Dionysios von Halikarnass, Plutarch, Seneca, Plinius d. J.)19 auch etliche echte Briefe literarisch überliefert, da man nach dem Tod berühmter Männer nicht selten deren Privatkorrespondenz sammelte und publizierte (z. B. Isokrates, Platon, Epikur, Cicero)20. Mit den Papyrusfunden aus Ägypten wuchs seit dem späten 19. Jahrhundert das Textcorpus echter Briefe der Antike und da14

Vgl. Norden, Kunstprosa 2, 492. Näheres Deißmann, Licht 194–196; ders., Paulus 6–8; zum Ansatz Adolf Deißmanns vgl. Dormeyer, Literaturgeschichte 7f.; Strecker, Literaturgeschichte 66f.; Klauck, Briefliteratur 73; ders., Ancient Letters 70f. 16 Deißmann, Licht 195. 17 Zum Folgenden vgl. Deißmann, Bibelstudien 189–192. 18 Insgesamt zur Epistel Deißmann, Bibelstudien 195–199. 19 Vgl. Deißmann, Licht 196–198; ders., Bibelstudien 222–224. 20 Vgl. Deißmann, Licht 196f. Dabei ist sich Adolf Deißmann sehr wohl bewusst, dass die unter dem Namen des Platon und Isokrates überlieferten Briefe teilweise (wenn nicht sogar insgesamt) pseudepigraph sind. Zu den Aristoteles-Briefe merkt er an, dass diese zwar wahrscheinlich das erste Beispiel einer posthum zusammengestellten und publizierten Sammlung echter Briefe sind, dass diese aber nicht mit der erhaltenen Sammlung der Aristoteles-Briefe identische ist, in der sich höchstwahrscheinlich kein einziger authentischer Brief des Aristoteles findet. Dazu auch ders., Bibelstudien 199–202 und 216–228. 15

1.1 Die Problemstellung – die Thesen Adolf Deißmanns

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mit auch die Kenntnis der Formen und Konventionen des antiken Briefes. Über die Bedeutung dieser Papyrusbriefe urteilte Adolf Deißmann deshalb zurecht: »In mancher Beziehung noch wertvoller als diese Briefe der Berühmten sind für uns die durch die neuen Funde zum Vorschein gekommenen zahlreichen Briefe der Unbekannten … Sie haben die unersetzlichen Vorzüge, daß sie in der Urschrift auf uns gekommen sind, daß ihren Schreibern jeder Gedanke einer späteren Veröffentlichung fern lag, daß sie also völlig unbefangene Selbstzeugnisse jener Vergessenen darstellen. Wie sie uns wichtige Aufschlüsse über das Wesen und die Form des antiken Briefes geben, so sind sie auch für die Erforschung des Wesens und der Form der biblischen und altchristlichen Briefe lehrreich.«21

Aus den auf Papyrus erhaltenen Originalbriefen ergaben sich für Adolf Deißmann die Kriterien und Maßstäbe, anhand derer sich entscheiden lässt, ob es sich bei einem konkreten Text, der in Briefform gestaltet ist, um einen echten Brief oder um eine Epistel handelt.22 Denn wie sich anhand der Papyrusbriefe zeigen lasse, schließen Brieflichkeit und literarisch-künstlerische Gestaltung einander aus. Im Blick auf die neutestamentlichen Briefe kam er zu dem Urteil, dass sie teils den echten Briefen, teils den Episteln zuzuordnen sind. Für Episteln hält er die spät entstandenen »Briefe« des Petrus, des Jakobus und des Judas sowie den sogenannten Hebräerbrief.23 Bei den Paulusbriefen, den ältesten Schriften des Neuen Testaments, dagegen handle es sich um echte Briefe.24 Die Unterscheidung von Brief und Epistel bestätigte somit für Adolf Deißmann seine aus dem sprachlichen Vergleich der neutestamentlichen Schriften mit den nichtliterarischen Papyri gewonnene Einsicht, dass das Christentum in seinen Anfängen eine unliterarische und volkstümliche Bewegung der unteren sozialen Schichten war, die sich erst allmählich den Konventionen und Standards der gehobenen griechischen Literatur und Bildung öffnete.25 21 Deißmann, Licht 197. Bei einem Blick auf die vorsichtigere Einschätzung bei Brook, Private Letters 16, werden die Gefahren sichtbar, die mit der Wertung der Papyrusbriefe bei Deißmann verbunden sind: »Letters can be as missleading as faces, but their fascination, and what we hope to find in them, is the unconscious revelation, the ungarded word, the chance to catch a nearer glimpse of the august figures of the past, to peep and listen at a moment when they are thinking themselves save from prying eyes and ears.« 22 Dazu Deißmann, Licht 195f. und 197. 23 Vgl. Deißmann, Licht 206–208; ders., Bibelstudien 242–247. Dass es sich bei den Briefen des Petrus, Jakobus und Judas um keine echten Briefe handeln könne, zeige sich bereits an deren Adressatenangaben, die vom Zusteller des Briefes Unmögliches verlangen (z. B. »an die zwölf Stämme der Zerstreuung/Diaspora«). Kritisch sei hier angemerkt, dass ein solches Argument letztlich von begrenztem Wert ist, da die Zustellbarkeit des Briefes nicht von der Form des Präskripts (genauer der adscriptio) abhänge, das für den Überbringer nicht sichtbar ist, sondern von der Außenadresse (vgl. dazu S. 217). 24 Zur Qualifizierung des Paulusbriefe als echte Briefe Deißmann, Licht 198–205; ders., Bibelstudien 234–242; ders., Paulus 8–11. Die dreizehn unter dem Namen des Paulus im Neuen Testament überlieferten Briefe gelten ihm dabei durchgehend als echte Paulusbriefe. 25 Im einzelnen Deißmann, Licht 208–213; vgl. auch ebd. 337f.

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1. Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike

Worin aber sah Adolf Deißmann den eigentlichen Ertrag der Feststellung, dass es sich bei den Paulusbriefen um echte Briefe und keine Episteln handle? Wenn die Paulusbriefe im Sinne Adolf Deißmanns echte Briefe sind, bedeutet das, dass sie nicht als zeitlose Lehrschreiben verstanden werden dürfen, die für eine breite Öffentlichkeit verfasst wurden und aus deren Aussagen sich ein gedanklich ausgearbeitetes und in sich geschlossenes theologisches System, der sogenannte Paulinismus, rekonstruieren lasse.26 Als echte Briefe seien die Paulusbriefe vielmehr Gelegenheitsschreiben und damit Zeugnisse eines konkreten Augenblicks im Miteinander des Paulus und seiner Gemeinden, d. h. jeder der Paulusbriefe wurde in einer konkrete Situation und aus einem konkreten Anliegen für bestimmte Adressaten (in der Regel eine Gemeinde) geschrieben.27 Die Tatsache, dass sie als echte Briefe unliterarisch und somit kunstlos sind, bedeutet für Adolf Deißmanns aber auch, dass sie ungekünstelter, unmittelbarer und authentischer Ausdruck der Persönlichkeit und des Empfindens des Apostels Paulus sind.28 Hier zeigt sich, dass die Unterscheidung von Brief und Epistel bei Adolf Deißmann auf der romantischen Vorliebe für die Natur und der damit verbundenen Abwertung der Kunst und Kultur beruht.29 Die Epistel als Produkt der Kunst ist deshalb im Gegensatz zum Brief nicht nur künstlich, sondern auch gekünstelt und unecht, d. h. sie ist in Inhalt und Form absichtlich und nach den Regeln der Kunst auf eine bestimmte Wirkung hin konstruiert.

1.2 Die Kritik der Forschung an Adolf Deißmann Wenn Adolf Deißmanns Unterscheidung von (echtem) Brief und Epistel auch keineswegs unwidersprochen blieb, so bestimmte sie dennoch in erheblichem Maße die weitere Forschung. Francis Xavier J. Exler (1923) schloss sich in seiner Untersuchung zu Form und Formular der Papyrusbriefe zwar grundsätzlich Adolf Deißmanns Unterscheidung von Brief und Epistel an.30 Weniger scharf jedoch urteilte er über die literarisch gestalteten Privatbriefe, die Adolf Deißmann als »Mittelgattungen« zwischen Brief und Epistel und als »Entar26 Dazu und zum folgenden vgl. Deißmann, Licht 203–205. Zur »anti-dogmatischen« Stoßrichtung bei Adolf Deißmann Doty, Classification 185; Thraede, Brieftopik 1f. 27 Dazu auch Doty, Classification 188; Stowers, Letter Writing 17f. Mit dem Verweis auf den situationsbezogenen Gelegenheitscharakter, verbunden mit der unliterarischen Eigenart des Paulus und seinem stürmischen Temperament, meinte Deißmann, Paulus 11–14, die sprachlichen und stilistischen Eigenheiten der Deutero- und Tritopaulinen erklären und damit gegen den sich etablierenden common sense der kritischen Forschung weiterhin an ihrer paulinischen Verfasserschaft festhalten zu können. 28 Vgl. Doty, Classification 186. 29 So Deißmann, Bibelstudien 249–251; dazu Doty, Classification 187. 30 Vgl. Exler, Form 15–17.

1.2 Die Kritik der Forschung an Adolf Deißmann

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tungen« des echten Briefes bezeichnet hatte, die »uns mit ihrer Frostigkeit, Geziertheit oder eitelen Unwahrhaftigkeit lehren, wie ein wirklicher Brief nicht sein soll«31. Der Briefcharakter – so Francis Xavier J. Exler – schließe eine gewisse literarische Formgebung nicht per se aus; auch ein echter Brief, nicht nur eine Epistel, könne in Sprache und Stil anspruchsvoll gestaltet sein, zumal wenn es sich um die briefliche Kommunikation unter Gebildeten handle.32 In dieselbe Richtung zielte die Kritik von Heikki Koskenniemi (1956)33 und Klaus Thraede (1970)34, die in ihren Studien zur antiken Epistolographie überdies die Brauchbarkeit und Berechtigung einer scharfen Trennung zwischen Brief und Epistel grundsätzlich infrage stellten.35 Klaus Thraede ergänzte, dass der von Adolf Deißmann als »Mischgattung« und »Entartung« geschmähte »kultivierte Freundschaftsbrief« den gebildeten Griechen und Römern spätestens seit der Zeit des Augustus als Ideal und Inbegriff des Briefes gegolten habe.36 Obgleich die Trennung von Brief und Epistel mit ihren problematischen Implikationen in der Auslegung neutestamentlicher Briefe noch immer präsent ist, wurde die Kritik aus der Klassischen Philologie an den Thesen von Adolf Deißmann dennoch auch in der neutestamentlichen Exegese rezipiert.37 So bezeichnete beispielsweise der Theologe Philipp Vielhauer (1975) die Unterscheidung von Brief und Epistel als im Ansatz richtig und für die Beschäftigung mit den neutestamentlichen Briefen heuristisch brauchbar, auch wenn sie der Mannigfaltigkeit der antiken Briefe nicht voll gerecht werde.38 Zugleich aber kritisierte er unter dem Einfluss der Studien von Heikki Koskenniemi und Klaus Thraede die Gleichsetzung von Brieflichkeit mit literarischer Kunstlosigkeit und verwies auf die hohe Briefkultur der hellenistisch-römischen Zeit, in der der kultivierte Privatbrief im Schulunterricht gelehrt und eingeübt wurde. Entsprechend des Bildungsstandes ihrer Verfasser reiche das Stilniveau echter Briefe deshalb von primitiv unbeholfenen Gelegenheitsschreiben bis hin zu formvollendeten Werken von literarischer Qualität.39 31

Deißmann, Licht 196. Exler, Form 17, im Blick auf die Briefe des Cicero und Basilius: »This polished form of letter is as genuine a letter as the unpolished specimen. The difference lies in the fact that the latter is written by one unskilled in the literary art, whereas the former is the product of a litterateure.« Ähnlich Anderson, Rhetorical Theory 94f. Vgl. auch Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 4, der Kriterien benennt, anhand derer sich Aussagen über das sprachliche Niveau von Papyrusbriefen und über den Bildungsstand ihrer Verfasser machen lassen (vgl. S. 100). 33 Ausführlich Koskenniemi, Studien 88–95. 34 Vgl. Thraede, Brieftopik 1–4. 35 Ähnlich bereits Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 187. 36 So Thraede, Brieftopik 3; vgl. auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 10. 37 Weitere Kritikpunkte, die vor allem das methodische Vorgehen Adolf Deißmanns betreffen, bei Stowers, Letter Writing 18–20. 38 Vgl. Vielhauer, Geschichte 59. 39 Dazu Vielhauer, Geschichte 60f.; ähnlich Strecker, Literaturgeschichte 66f.; völlig ablehnend dagegen Schnelle, Einleitung 52; Dormeyer, Literaturgeschichte 191. 32

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1. Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike

Dies hat konkrete Folgen für die Bewertung der Paulusbriefe. Die neuere Exegese stimmt zwar mit Adolf Deißmann darin überein, dass die Briefe des Paulus echte Briefe sind, da sie im Unterschied zu Werken der Literatur an einen begrenzten Personenkreis gerichtet und aus einer bestimmten Situation heraus und für diese Situation geschrieben sind.40 Dies kann und darf aber nicht mehr bedeuten, dass damit zugleich der unliterarische Charakter der Paulusbriefe behauptet würde. Vorsichtig formuliert Hans-Josef Klauck (1988) deshalb die Frage: »Sind die Briefe des Paulus wirklich so unliterarisch und so wenig mit den literarischen Briefen vergleichbar, wie Deißmann wollte?«41 Eindeutiger gab dagegen Detlev Dormeyer (1993) seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Paulusbriefen durchgängig den Standards des antiken literarischen Briefes genügen.42 Damit nähert sich die neuere Exegese zumindest in Teilen wieder der Position von Paul Wendland (1912), der bereits an Adolf Deißmann kritisiert hatte, dass er den literarischen Charakter der Paulusbriefe zu gering ansetze und den Wert der Papyrusbriefe für ihre Analyse und Auslegung überschätze.43

1.3 Konzeption und Zielsetzung der Studie Spricht man den Paulusbriefen literarische Qualität zu, stellt sich die Frage, welchen Wert die Papyrusbriefe, die Adolf Deißmann als so wesentlich für die Erklärung der Paulusbriefe und aller neutestamentlichen Schriften erachtete, tatsächlich für das richtige Verständnis der Briefe des Paulus, aber auch für andere frühchristliche Briefe haben.44 Bedeutet die einseitige Konzentration auf die nichtliterarischen Papyrusbriefe dann nicht, dass man die Paulusbriefe zu Unrecht von ihrem eigentlichen Kontext isoliert, indem man ihre Beziehungen zur griechisch-römischen Literatur vernachlässigt und sogar leugnet?45 Wenn 40 Näheres bei Vielhauer, Geschichte 59f. und 62; vgl. außerdem Broer, Einleitung 303; Richards, Paul 125f. Anders als Adolf Deißmann unterscheidet die neuere Exegese jedoch zwischen echten und pseudepigraphen Paulusbriefen (Deutero- und Tritopaulinen). Als »echte Briefe« können unter den Paulusbriefen selbstverständlich nur diejenigen Briefe des Corpus Paulinum bezeichnet werden, die von Paulus selbst verfasst und auch als Brief an die im Präskript genannten Adressaten verschickt worden sind (Röm, 1/2 Kor, Gal, Phil, 1 Thess, Phlm). Dies bedarf jedoch, wenn die Kompilationshypothesen zu einzelnen der echten Paulusbriefe zutreffen, einer zusätzlichen Präzisierung und Modifikation. 41 Klauck, Briefliteratur 73; vgl. ders., Ancient Letters 71. 42 Vgl. Dormeyer, Literaturgeschichte 192–198; gegen Dihle, Literatur 217. 43 Vgl. P. Wendland, Literaturformen 344. 44 Zum bleibenden Wert der dokumentarischen Papyri für die Auslegung der neutestamentliche Briefe vgl. White, Light 19f., der allerdings ihre einseitige Auswertung bei Adolf Deißmann und seine Vernachlässigung der literarischen Briefe kritisiert. 45 In diesem Sinne Stowers, Letter Writing 18.

1.3 Konzeption und Zielsetzung der Studie

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die Briefe des Paulus sich jedoch tatsächlich formal und inhaltlich mit antiken literarischen Briefen vergleichen lassen, muss man dann nicht auch eine entsprechende Ausbildung und einen höheren Bildungsstand des Briefschreibers Paulus thematisieren?46 Oder genügt es, eine besondere natürliche Begabung und einen außerordentlichen »prophetischen« Impetus des Paulus anzunehmen, um die überraschende literarische Qualität seiner Briefe zu erklären?47 Diese Fragen markieren heftige, noch immer aktuelle Kontroversen der Paulusforschung. Da sich diese Fragen kaum pauschal im Blick auf das Gesamtcorpus der Paulusbriefe beantworten lassen, scheint es sinnvoll, diese Fragen exemplarisch zunächst nur an einem Brief zu überprüfen. Für eine solche exemplarische Untersuchung bietet sich in besonderer Weise der Philemonbrief an. Ein Grund dafür ist seine Kürze und inhaltliche Geschlossenheit, die eine gewisse Überschaubarkeit der Untersuchung garantieren, ohne bei der Präzision Abstriche machen zu müssen. Für die Wahl des Philemonbriefes spricht auch seine in der Forschung unbestrittene literarische Integrität, d. h. anders als bei den anderen Paulusbriefen (außer dem Galaterbrief) ist die Untersuchung nicht von der Unsicherheit belastet, dass der Text des vorliegenden Briefes so nicht auf Paulus zurückgeht, sondern erst von späteren Redaktoren aus mehreren kleineren Briefen des Apostels (und anderem Material) kompiliert wurde.48 Hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnis stellt die Kürze des Philemonbriefes allerdings auch ein gewisses Problem dar, da der Philemonbrief sich eben dadurch wesentlich von allen anderen, deutlich umfangreicheren Paulusbriefen unterscheidet. Deshalb ist es nötig zumindest einen 46

Dazu Strecker, Literaturgeschichte 93. So Reiser, Sprache 69f., der von der »ungekünstelten Frische« des Briefschreibers Paulus spricht, die ihn in Originalität und Ausdruckskraft über alles stelle, was der Rhetor und Sophist Dion von Prusa je geschaffen hat (Dion ist immerhin kein geringerer als der bedeutendste Repräsentant der literarischen und intellektuellen Elite in der 2. Hälfte des 1. Jh. und des frühen 2. Jh. n. Chr.). Mit dieser Sicht steht Marius Reiser letztlich ganz im Bann der Thesen von Adolf Deißmann. Kritisch ist hier außerdem anzumerken, dass Marius Reiser bei seiner Beurteilung der literarischen und stilistischen Qualität der beiden genannten Personen nicht die Kriterien ihrer eigenen Zeit zugrunde legt, sondern die vom Genie-Kult des 19. Jh. geprägten Vorstellungen von Originalität und Kreativität; gerechterweise muss eine vergleichende Wertung des Stils ihrer Schriften sich an den literarischen Idealvorstellungen der frühen Kaiserzeit orientieren, wie sie in der antiken »Literaturwissenschaft« (Grammatik und Rhetorik) entwickelt wurden und z. B. in der Schrift περὶ ὕψους des Ps.-Longinus oder zuvor schon in den stilkritischen Essays des Dionysios von Halikarnassos dargelegt sind. Außerdem wäre zu beachten, dass nach der antiken Literaturtheorie je nach Gattung eigene Anforderungen an Sprache und Stil gestellt sind. Briefe und Reden lassen sich in ihrem Stil also nur sehr bedingt vergleichen (vgl. dazu auch die Ausführungen im Abschnitt 2.1.3 dieser Studie). Folglich dürften für einen Vergleich mit Paulus unter den erhaltenen Schriften des Dion nur dessen Briefe herangezogen werden. 48 Teilungshypothesen werden für Röm, 1 Kor, 2 Kor, Phil und 1 Thess erwogen; zurückhaltend dazu Lona, Paulus 46f.; kritisch ablehnend zu den Teilungshypothesen Schreiber, Brief 258–260; Schnelle, Einleitung 90f.; White, Epistolary Literature 1749f. 47

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1. Die Briefe des Paulus und die Kultur der Antike

weiteren Brief des Paulus mit in die Untersuchung einzubeziehen. Aufgrund der Teilungs- bzw. Kompilationshypothesen zu fast allen anderen Paulusbriefen bleibt aufgrund der angesprochenen Probleme als Kontrolltext letztlich nur der Galaterbrief, dessen literarische Integrität trotz einzelner Gegenstimmen, in der Forschung kaum infrage gestellt wurde, wenn man den paulinischen Briefstil und nicht den möglicher Kompilatoren beschreiben will.49 49

Als ersten Vertreter für die Bestreitung der literarischen Integrität des Galaterbriefes verweist man oft auf Bruno Bauer und seine Studie »Der Ursprung des Galaterbriefes« (1850). Das eigentliche Anliegen von Bruno Bauer und seiner literarkritischen Arbeit war jedoch nur mittelbar die Bestreitung der literarischen Integrität des Galaterbriefes, sondern vielmehr der Echtheit des Galaterbriefes und der anderen paulinischen Hauptbriefe (gegen die Tübinger Schule um F. C. Baur). Im Galaterbrief sah er das Produkt eines Kompilators, der sich des Römerbriefes und der beiden Korintherbriefe bediente. Das Ziel dieser in den letzten Jahren der Regierung des Kaisers Hadrian entstandenen »Fälschung« sah Bruno Bauer in dem Versuch einer Korrektur bzw. Verdrängung des Bildes von den christlichen Anfängen, wie es in der älteren (!) Apostelgeschichte entworfen wird. Seine These hat, trotz Kritik, einige Nachfolger gefunden (so z. B. A. D. Loman 1882, W. C. van Manen 1885, R. Steck 1888/1889 und D. Voelter 1890). Zu Bruno Bauer und zur Rezeption seiner Thesen in der 2. Hälfte des 19. Jh. vgl. Lipsius, Briefe (HC) 8f.; außerdem Witulski, Adressaten 67–71, der jedoch Bruno Bauer und seine Nachfolger primär unter dem Aspekt der Bestreitung der literarischen Integrität des Galaterbriefes vorstellt; vgl. auch Kümmel, Einleitung 266; Michaelis, Einleitung 189f. Die eigentliche literarkritische Arbeit am Galaterbrief erhielt Impulse unter anderem durch die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Text des Galaterbriefes bei Marcion (vgl. Tert. adv. Marc. und Epiphan. haer. 42). Im 19. Jh. tauchten vereinzelt Stimmen auf, die meinten, die kürzere Fassung des Briefes bei Marcion stehe dem ursprünglichen Text des Briefes näher als der kanonische Galaterbrief, der zahlreiche Interpolationen enthalte (so z. B. bei W. C. van Manen 1887, ähnlich zuvor schon Ch. W. Weisse 1880, außerdem D. Voelter 1890). Dazu Lipsius, a. a. O. 9; O’Neill, Recovery 3–7. Den Stand der Diskussion am Ende des 19. Jh. bietet C. Clemen, Die Einheitlichkeit der paulinischen Briefe an der Hand der bisher mit Bezug auf sie aufgestellten Interpolations- und Compilationshypothesen, Göttingen 1894, 100–125; im Durchgang durch den ganzen Galaterbrief werden hier die in der vorausgegangenen Forschung als Interpolationen identifizierten Stellen vorgestellt und die dafür vorgebrachten Argumente kritisch gewertet. Clemen, der weder ein entschiedener Gegner von Interpolationshypothesen ist, noch ein glühender Verteidiger, kommt zu dem Urteil, dass lediglich Gal 2,18 und 6,11 als nachpaulinische Glossen gelten können. Erst in jüngerer Zeit hat sich für den Galaterbrief mit James C. O’Neill (1972) erneut ein Bestreiter seiner literarischen Integrität gefunden. Er sieht aus stilistischen und inhaltlichen Gründen zum einen in Gal 4,1–3.8–10 eine nachpaulinische Interpolation, da die hier gemachten Aussagen voraussetzen, die Adressaten wären zum heidnischem Aberglauben verfallen, während der Brief sich sonst gegen judaisierende Tendenzen wende. Zum anderen hält er auch Gal 5,13 – 6,10 für einen nachpaulinische Ergänzung, da dieser Abschnitt weder spezifisch paulinische Gedanken enthalte noch mit seiner allgemeinen moralischen Ermahnung auf das konkrete Problem judaisierender Einflüsse in den galatischen Gemeinden bezogen sei, gegen die sich der Galaterbrief wende. Vgl. O’Neill, Recovery 56–60 und 64–71 (ergänzend sei angemerkt, dass er auch an zahlreichen anderen Stellen kürzere nachpaulinische Einschübe identifiziert); dazu Schewe, Galater 12; Witulski, Adressaten 67–71. Mit ähnlichen Argumenten, wie sie O’Neill für Gal 4,1–3.8–10 vorgebracht hat, erklärt Thomas Witulski (2000) selbst den Abschnitt Gal 4,8–20 für eine

1.3 Konzeption und Zielsetzung der Studie

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Bevor der Philemonbrief und der Galaterbrief einer genaueren Untersuchung unterzogen werden können, ist ein Blick auf die Epistolographie – den literarischen Brief ebenso wie den Gelegenheitsbrief – der Kaiserzeit nötig, da sie den Kontext markiert, vor dem diese Briefe untersucht und erklärt werden müssen. Dabei ist aufgrund der jüdischen Wurzeln des Christentums und der Herkunft des Paulus aus dem Diasporajudentum auch die Frage nach einer eigenen, von der griechisch-römischen unterschiedenen Tradition des frühjüdischen Briefes zu berücksichtigen. Außerdem sollen in diesem Zusammenhang auch die wichtigsten Ergebnisse (und Kontroversen) der Forschung zu Entstehung, Form und Funktion des frühchristlichen Briefes dargestellt werden. Ausgehend davon müssen anschließend Überlegungen hinsichtlich der Desiderate und zum methodischen Vorgehen bei der Analyse frühchristlicher Briefe angestellt werden, wie sie anschließend bei der exemplarischen Untersuchung des Philemon- und Galaterbriefes berücksichtigt werden sollen.

nachträgliche – wenn auch in ihrer Herkunft paulinische – Einfügung (möglicherweise aus einem anderen Paulusbrief) in den ursprünglichen Galaterbrief; zur Argumentation im Einzelnen Witulski, Adressaten 71–81; dazu auch Klauck, Ancient Letters 313. Im Blick auf Gal 4,1–3.8–10 bzw. 4,10–20 ist gegen die Annahme von O’Neill und Witulski einzuwenden, dass sich die Aussagen des gesamten 4. Kapitels im Rahmen der Argumentation des Galaterbriefes verstehen lassen, ohne dass dies als »Harmonisierung« (so Witulski, Adressaten 71) an sich gegenteiliger Aussagen zu bezeichnen ist; Gal 4,8–10 ist Teil einer gezielten paulinischen Polemik, in der er die Hinkehr seiner ehemals heidnischen Adressaten zu jüdischen Konventionen als Rückfall in das Heidentum brandmarkt (Näheres dazu in Abschnitt 5.2.6 ab S. 364). Ähnlich wie O’Neill hält es auch Joop Smit (1989) für möglich, dass Gal 5,13 – 6,10 erst später – wenn auch von Paulus selbst – in den ursprünglichen Galaterbrief eingefügt wurde; Smit, Letter 45 und 58f. Der Grund für die Bestreitung der ursprünglichen Zugehörigkeit von Gal 5,13 – 6,10 zum Galaterbrief ist bei Smit und O’Neill, neben dem (vermeintlich) allgemeinen, nicht auf die konkrete Situation der Adressaten bezogenen Charakter dieses Abschnittes, letztlich der Versuch, damit das Problem zu lösen, dass der paränetische Schlussabschnitt des Briefes nicht in den Aufriss einer Gerichts- bzw. Verteidigungsrede passe und deshalb die von Hans Dieter Betz vorgeschlagene Bestimmung des Galaterbriefes als apologetischen Brief, der der Idealgliederung einer Gerichtsrede folge, infrage stellt. Vgl. dazu auch Schewe, Galater 13–15 und 26–29; Näheres zu dieser Problematik im Abschnitt 5.1.5.

Kapitel 2

Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit 2.1 Der griechisch-römische Brief 2.1.1 Überlieferung und Erforschung des antiken Briefes Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Kenntnis und die Vorstellungen über den antiken griechischen Brief durch die literarisch überlieferten Briefe bestimmt, wie sie in ihrer Hauptmasse in der 1871 publizierten Sammlung von Rudolph Hercher zusammengestellt sind.1 Diese Briefe lassen sich im Wesentlichen in drei große Gruppen gliedern:2 Die erste Gruppe bilden die Briefe bedeutender historischer Persönlichkeiten, meist von Staatsmännern, Rednern und Philosophen, aber auch von Literaten (teilweise als eigenständige Sammlungen, teilweise als Briefzitate bei Historikern überliefert); darunter finden sich Briefe von Platon, Aristoteles, Euripides, Themistokles, Demosthenes und sogar griechische Briefe von M. Iunius Brutus. Die starke literarische Formung sowie inhaltliche Auffälligkeiten haben in der neuzeitlichen Philologie schon früh die Frage aufgeworfen, ob diese Briefe tatsächlich als authentisch, d. h. als von den als Absendern genannten Persönlichkeiten verfasst gelten können. Erstmalig erbrachte Ende des 17. Jahrhunderts Richard Bentley (1697/99) für die 148 unter dem Namen des sizilischen Tyrannen Phalaris (6. Jh. v. Chr.) überlieferten Briefe den Nachweis ihrer Unechtheit.3 Inzwischen ist man zu dem Urteil gelangt, dass sich unter den Briefen großer historischer Persönlich1

Vgl. Klauck, Briefliteratur 95–97; ders., Ancient Letters 109. So bei Koskenniemi, Studien 12f. Eine stärker an den unterschiedlichen Funktionen von Briefen orientierte Einteilung in drei Gruppen findet sich dagegen bei Hose, Literaturgeschichte 192: (1) der Brief als stilisierte Selbstdarstellung; (2) der Brief als Lehrbrief; (3) der Brief als Übungs- und Paradestück des Rhetorikunterrichts. Für die Darstellung wurde die Einteilung von Koskenniemi gewählt, da sie es im Gegensatz zu der bei Hose vorgeschlagenen Einteilung ermöglicht, auch die Briefzitate bei Historikern und Biographen sowie die Briefeinlagen in Liebesromanen und bei den Dramatikern problemlos in einen Überblick über die erhaltenen antiken Briefe zu integrieren, auch wenn sie die Einordnung des von Koskenniemi nicht ausdrücklich berücksichtigten Lehrbriefes erschwert. 3 Dazu Klauck, Briefliteratur 103; ders., Ancient Letters 119f. (mit Literaturangaben); Hose, Literaturgeschichte 194; Rosenmeyer, Epistolary Fictions 194–196. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 213, verweist darauf, dass sich bereits die antike Philologie die Frage nach der Echtheit der Briefe berühmter Persönlichkeiten stellte, so z. B. Diog. Laert. 1, 112; 6, 80; 10, 3; Ach. Tat. intr. Arat. § 7; Suet. vita Hor. 2

2.1 Der griechisch-römische Brief

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keiten nur wenig authentisches Material findet, wenn auch für den einen oder anderen Brief die Diskussion noch nicht endgültig abgeschlossen ist.4 Die zweite Gruppe bilden die sogenannten »Typen-Briefe«, die vorgeben, von Bauern, Fischern, Parasiten (Schmarotzern) oder Hetären geschrieben zu sein, also den typischen Charakteren, die das Personal der hellenistischen Neuen Komödie bilden.5 Diese fiktiven Briefe, zu denen auch erotische Liebesbriefe an Knaben und Mädchen gehören, entstanden zwischen dem 2. und 7. Jahrhundert n. Chr. und dienten der Unterhaltung gebildeter Leser. Die fünf erhaltenen Sammlungen derartiger Briefe stammen von Claudius Aelianus (ca. 170–240), Alkiphron (2. Jh.), Philostratos [2] von Lemnos (160/70–244/49), Aristainetos (5. Jh.) und Theophylaktos Simokates (6./7. Jh.).6 Zu dieser Gruppe lassen sich auch die fiktiven Briefe in den hellenistischen Liebesromanen rechnen, so z. B. die Briefe im Roman Kallirhoë des Chariton von Aphrodisias (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.), sowie Briefeinlagen in anderen literarischen und dramatischen Werken, wie z. B. die Briefe in den Tragödien des Euripides (480–406 v. Chr.; vgl. Iph. A. 98–123; Iph. T. 725–797), der (nur unvollständig überlieferte) Brief mit einer Gespenstergeschichte am Anfang des Buches der Wunder des Phlegon von Thralles (frühes 2. Jh.), der Brief des Odysseus an Kalypso in den Wahren Geschichten (2, 29,35f.) des Lukian von Samosata (ca. 120–180) sowie dessen Saturnalische Briefe (Briefe eines Reichen und eines Armen an Kronos [Saturn] und dessen Antwortbriefe).7 Die dritte Gruppe der literarisch überlieferten Briefe schließlich besteht aus sogenannten Gelegenheitsbriefen, d. h. aus echten Briefen, die von ihren Verfassern aus einem konkreten Anlass geschrieben und an einen bestimmten Adressaten verschickt wurden; diese Gelegenheitsbriefe wurden von ihren Verfassern selbst gesammelt und publiziert (im Unterschied zu den Briefen der ersten Gruppe). Wenn es sich auch um echte Briefe handelt, so lässt ihr Stil und ihre sorgfältige literarische Gestaltung erkennen, dass ihre Absender/Verfasser sie von Anfang an im Blick auf eine spätere Veröffentlichung konzipiert 4 Zum Stand der Echtheitsdiskussion für die einzelnen Briefcorpora historischer Persönlichkeiten in der Sammlung von Hercher, einschließlich der aufgenommenen Briefzitate (bzw. Briefeinlagen) bei den Historikern und Biographen, vgl. Klauck, Briefliteratur 97–110; ders., Ancient Letters 108–130. Zum Phänomen fingierter Briefe vgl. auch Hose, Literaturgeschichte 192f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 210–213. 5 Vgl. Hose, Literaturgeschichte 194. 6 Auch hierzu im einzelnen Klauck, Briefliteratur 97–106; ders., Ancient Letters 109– 112, 120 und 125; außerdem Lesky, Geschichte 969f. 7 Dazu Klauck, Briefliteratur 112–114; vgl. auch Rosenmeyer, Literary Letters 30–34. Die fiktiven Briefe in der Apollonios-Vita des Philostratos gehören ebenso wie auch die nichterotischen Briefromane zur ersten Gruppe, da es sie bei ihnen um fiktive Briefe von und an historische Persönlichkeiten handelt; vgl. dazu Lesky, Geschichte 970f. Zur ersten Gruppe gehören aus demselben Grund auch die Briefe in den erhaltenen Fassungen des Alexanderromans bzw. der zugrunde liegende Briefroman; zum Alexanderroman Klauck, Briefliteratur 112f.; ders., Ancient Letters 134–136.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

und ausgearbeitet hatten (teilweise ist wohl mit einer Überarbeitung für die Veröffentlichung zu rechnen).8 Die Publikation der Privatkorrespondenz sollte einer breiten Leserschaft aus dem Kreis der Gebildeten sowohl den vorbildlichen Charakter als auch die literarisch-rhetorischen Fertigkeiten ihres Absenders/Verfassers vor Augen führen und stand damit im Dienst der öffentlichen Selbststilisierung und Selbstdarstellung des Absenders/Verfassers.9 Aufgrund der hohen literarischen Kunst dieser Briefe gelten ihre Absender/Verfasser als die großen Meister der antiken Epistolographie. Zu ihnen gehören die Rhetoriklehrer Libanios (4. Jh.), Aeneas von Gaza und Dionysios von Gaza (beide 5./6. Jh.) sowie Kaiser Julian (331–363) und der neuplatonische Philosoph und Bischof Synesios von Kyrene (ca. 370–412), aber auch die hoch gebildeten Kirchenväter Basilius von Kaisareia (ca. 330–379), Gregor von Nyssa (ca. 335– 394) und Gregor von Nazianz (ca. 330–390).10 Gesondert anzuführen sind die Lehrbriefe, die sich zwar der Briefform bedienen und zumindest teilweise als Briefe an den konkreten Adressaten verschickt wurde, zugleich aber bereits nach antikem Verständnis formal und inhaltlich dem Traktat näher stehen als dem Brief (vgl. S. 39).11 Der Philosoph Epikur (341–270 v. Chr.) bediente sich des Briefes, um mit seinen zahlreichen Schülern und Freunden in Kontakt zu bleiben, zugleich aber auch, um Interessenten und Sympathisanten in seine Philosophie einzuführen und für sie zu werben. Neben kleineren Fragmenten haben sich von seinen Briefen drei große Lehrschreiben vollständig erhalten (in Diog. Laert. 10: An Herodot, An Pythokles, An Menoikeus).12 Ihnen vergleichbar sind ein griechisch verfasster Lehrbrief des Stoikers Musonius Rufus (30–108), der jedoch in seiner Echtheit umstritten ist,13 sowie ein Lehrbrief des Neuplatonikers Porphyrios (3. Jh.)14. Dem eigentlichen Traktat nähern sich trotz eines brieflichen Rahmens die drei umfangreichen Briefessays des Dionysios von Halikarnass (1. Jh. v. Chr.), in denen er Fragen der griechischen Stil- und Literaturkritik erörtert.15 8

Vgl. Koskenniemi, Studien 13. Vgl. Hose, Literaturgeschichte 195f.; Cugusi, L’epistolografia 381–383, sieht weniger inhaltliche als formale Gründe hinter der Veröffentlichung eigener Briefe, d. h. der Autor wollte wegen der schönen Form und der rhetorischen Qualität der Briefe gelobt werden. 10 Zu den einzelnen Briefcorpora – unter Ausschluss der Briefe der Kirchenväter und der späteren christlichen Schriftsteller – bei Klauck, Briefliteratur 97–106; ders., Ancient Letters 140–148; vgl. auch Cugusi, L’epistolografia 380f. 11 Vgl. auch Muir, Life 5. 12 Ausführlich Klauck, Briefliteratur 121–125; ders., Ancient Letters 149–155; vgl. auch Hose, Literaturgeschichte 148; Muir, Life 117f. 13 Im einzelnen Klauck, Briefliteratur 103; ders., Ancient Letters 119; Hose, Literaturgeschichte 206f. 14 Näheres bei Klauck, Briefliteratur 104; ders., Ancient Letters 121f.; Hose, Literaturgeschichte 203. 15 Vgl. Hose, Literaturgeschichte 168 und 195; Klauck, Briefliteratur 100; ders., Ancient Letters 115. 9

2.1 Der griechisch-römische Brief

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Das aus der literarischen Überlieferung gewonnene Bild des antiken griechischen Briefes und der antiken Epistolographie änderte sich, als im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung und Publikation immer neuer Papyrustexte aus Ägypten plötzlich einige tausend Originalbriefe aus hellenistischer und römischer Zeit bekannt wurden.16 In den Ruinen antiker Städte und Dörfer entdeckte man etliche öffentliche und private Briefarchive, in denen neben eingegangenen Briefen auch Abschriften abgesandter Briefe (Kopialbücher) und teilweise sogar Skizzen und Entwürfe für Briefe verwahrt wurden; Originalbriefe aber fand man auch auf ausgegrabenen antiken Müllhalden und sogar auf Friedhöfen, da nicht mehr benötigte Papyrustexte zusammengeklebt und zum Umwickeln von Mumien verwendet wurden (Mumienkartonagen).17 Der älteste gefundene Papyrusbrief lässt sich in die Zeit zwischen 270 und 260 v. Chr. datieren; die jüngsten Papyrusbriefe stammen aus frühbyzantinischer Zeit.18 Die meisten dieser Briefe sind in Griechisch verfasst; daneben finden sich aber auch Briefe in lateinischer, demotischer und koptischer Sprache; Absender und Empfänger der Briefe sind Griechen, Ägypter, Römer und Juden, Frauen ebenso wie Männer.19 Bei den gefundenen Originalbriefen handelt es sich um die private Korrespondenz zwischen Familienangehörigen und Freunden, um Briefe aus dem Geschäftsverkehr, um offizielle Schreiben der ptolemäischen und römischen Administration und Verwaltung, aber auch um Urkunden in Briefform.20 Vor allem die große Zahl der in Ägypten gefundenen Privatbriefe belegt, dass der Brief in der Kaiserzeit ein allgemein verbreitetes und gängiges Mittel der Kommunikation war.21 Der Inhalt der Briefe lässt erkennen, dass man nicht nur in wichtigen und dringenden Angelegenheiten brieflich miteinander kommunizierte, sondern sich brieflich auch Belangloses mitteilte, nur, um mit den abwesenden Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben.22 Fehler in Orthographie und Grammatik zeigen zudem, dass die Privatbriefe mehrheitlich aus der Hand kaum gebildeter Verfasser stammen; die Zahl der kultivier16 Vgl. Thraede, Brieftopik 1f.; Koskenniemi, Studien 9f.; Exler, Form 19; Muir, Life 24–27. Näheres zur Geschichte der Papyrusfunde bei Rupprecht, Papyruskunde 14–16; zu den Editionen der Papyrustexte und Ostraka ebd. 226–261; LAW 3, Sp. 3389–3402. 17 Dazu Rupprecht, Papyruskunde 7–10. 18 Vgl. Koskenniemi, Studien 9–17; White, Light 4–8; Dziatzko, Brief (PRE), Sp. 840. 19 Zu der in den Papyrustexten sich spiegelnden Zusammensetzung der Bevölkerung und Bevölkerungsentwicklung im Ägypten der hellenistisch-römischen Zeit allgemein vgl. Rupprecht, Papyruskunde 154–167. 20 Vgl. Klauck, Briefliteratur 71f.; ders., Ancient Letters 67–69. 21 Vgl. White, Ancient Greek Letters 85. Eine repräsentative Auswahl an Privatbriefen aus den ägyptischen Papyrusfunden (mit kurzen Kommentierungen) bieten die Sammlungen von B. Olsson (1925), D. Brooke (1929) und H. Büttner (1931). 22 Vgl. White, Documentary Letter 91; zu den Inhalten antiker privater Korrespondenzen mit Textbeispielen auch Muir, Life 28–53.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

ten und gebildeten Briefschreiber ist dagegen, auch bei Einbeziehung der amtlichen Korrespondenz, unter den Absendern der ägyptischen Papyrusbriefe insgesamt gering.23 Die briefliche Kommunikation war demnach nicht auf die Mitglieder der Oberschicht beschränkt. Wenn auch keineswegs alle erhaltenen Originalbriefe von ihren Absendern eigenhändig niedergeschrieben worden sind, sondern dafür mitunter Lohnschreiber in Dienst genommen wurden, so darf der rege Briefverkehr in allen sozialen Schichten dennoch als Hinweis darauf gewertet werden, dass Lesen und Schreiben in der hellenistisch-römischen Zeit (zumindest in Ägypten) eine weiten Teilen der Bevölkerung zugängliche Fähigkeit war.24 Die auffällige stereotype Formelhaftigkeit und der über die Jahrhunderte gleich bleibende Stil der auf Papyrus erhaltenen griechischen Privatbriefe legt zudem die Annahme nahe, dass es bei den Griechen klare Vorstellungen und einen Konsens darüber gab, was ein Brief ist und wie ein Brief aussehen soll.25 Dies legt wiederum die Vermutung nahe, dass Form und Stil des Briefes auf irgendeine Art und Weise im Rahmen des Schulunterrichts gelehrt und eingeübt wurden.26 Neben dem langen Zeitraum, aus dem die erhaltenen Papyrusbriefe stammen, zeigen ihre formalen und inhaltlichen Berührungen mit den publizierten Privatbriefen der großen spätantiken Epistolographen, dass die in den Papyrusbriefen erkennbaren Regeln weder zeitlich noch regional eingegrenzt werden können, sondern dass eine allgemeine Brieftheorie vorausgesetzt werden muss, die bereits in hellenistischer Zeit in ihren Grundzügen festgelegt war und bis zum Ende des Antike für Form und Stil des griechischen Briefes maßgebend blieb.27 Angeregt durch die Papyrusfunde traten im 20. Jahrhundert der stark formelhafte Charakter des antiken Briefes und die dahinter stehende Brieftheorie ins Zentrum der Erforschung der antiken Epistolographie.28 Francis Xavier J. Exler untersuchte in seiner Studie The Form of the Ancient Greek Letter of the Epistolary Papyri (1923) das griechische Briefformular, d. h. die formelhaften Teile des Briefanfangs und Briefschlusses. Heikki Koskenniemi ging in seinen Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr. (1956) der Frage nach, inwiefern der Stil und die Formelsprache des griechischen Pri23 Dazu Koskenniemi, Studien 12; White, Light 189. Nach Olsson, Papyrusbriefe 10, verrate die Mehrzahl der erhaltenen Papyrusbriefe zumindest einen minimalen Grad an Bildung und Sprachgefühl. 24 Näheres Klauck, Briefliteratur 61f.; ders., Ancient Letters 55f.; anders Muir, Life 9. 25 Zur Formelhaftigkeit und zum gleichbleibenden Stil der Briefe vgl. Cugusi, L’epistolografia 403. 26 Vgl. White, Documentary Letter 90; Stirewalt, Studies 15; Olsson, Papyrusbriefe 6. 27 Eine exemplarische Auflistung von Berührungen zwischen den Papyrusbriefen und den literarisch überlieferten Briefen (griechisch und lateinisch) findet sich bei Cugusi, L’epistolografia 405–412. 28 Zu den im Folgenden genannten Arbeiten vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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vatbriefes durch die gelehrte Brieftheorie beeinflusst sind. Aufbauend auf den Erkenntnissen von Heikki Koskenniemi bemühte sich Klaus Thraede mit seiner Arbeit über die Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik (1970) um den Nachweis, dass auch der lateinische Brief in Form und Stil durch die griechische Brieftheorie bestimmt ist. Die griechischen und lateinischen Briefe teilen demnach eine gemeinsame Brieftopik, d. h. einen gemeinsamen Vorrat an festen Motiven und Formeln, die das spezifische Zueinander der beiden Briefpartner und die Funktion des Briefes beschreiben. Da folglich der antike griechische und lateinische Brief einer gemeinsamen Bildungstradition angehören und bei der Erforschung des antiken Briefes griechische und lateinische Epistolographie nicht einfach getrennt werden können, ist an dieser Stelle auch ein Blick auf die Überlieferung des lateinischen Briefes nötig.29 Mangels eines signifikanten Corpus lateinischer Papyrusbriefe ist das Bild der antiken lateinischen Epistolographie jedoch bis heute durch die großen Sammlungen der literarisch überlieferten Briefe bestimmt, deren systematische Untersuchung mit der noch immer maßgebenden Studie Der Brief in der römischen Litteratur von Herrmann Peter (1901) begann.30 Sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungszeit als auch ihrer Bedeutung stehen dabei an erster Stelle die Briefe des Redners und Politikers M. Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), die den lateinischen Briefstil entscheidend geprägt haben. Bei den Briefen handelt es sich um echte Briefe, die nach dem Tod Ciceros gesondert nach ihren Adressaten in mehreren Sammlungen publiziert wurden.31 Unter den ca. 860 erhaltenen Briefen befinden sich auch 90 Briefe, die von bedeutenden Zeitgenossen wie C. Iulius Caesar, M. Iunius Brutus und Cn. Pompeius Magnus an Cicero geschrieben wurden. Bis zur Entdeckung der griechischen Papyrusbriefe prägten hauptsächlich sie die Vorstellung vom antiken Privatbrief.32 Zwischen Privatbrief und Kunstbrief stehen die wohl von Anfang an für die Veröffentlichung bestimmten Briefe des L. Annaeus Seneca (gest. 65 n. Chr.) an Lucilius, die ein breites Publikum in die stoische Philosophie und Lebensführung ein29 Zur Zusammengehörigkeit von griechischer und lateinischer Epistolographie vgl. auch die Anmerkungen bei Thraede, Brieftopik 8–10. 30 Ein Überblick über die literarisch überlieferten lateinischen Briefe bei Klauck, Briefliteratur 116–120; ders., Ancient Letters 140–148 (auch hier ohne die Briefe der Kirchenväter). Zu den lateinischen Papyrusbriefen Cugusi, Evoluzione 271–284, mit einer Auflistung der erhaltenen Briefe. Obwohl sich unter den ägyptischen Papyrusbriefen aus römischer Zeit einige in lateinischer Sprache erhalten haben, lassen sich daraus nur begrenzt Einblicke in den lateinischen Privatbrief der Antike gewinnen, da es sich dabei mehrheitlich um Briefe aus dem Kontext von Militär und Verwaltung handelt; vgl. dazu Trapp, Letters 7f. 31 Für die Sammlung und Publikation der Briefe zeichnete wohl mehrheitlich Ciceros Privatsekretär Tiro verantwortlich; die Briefe an Atticus scheinen jedoch erst in neronischer Zeit publiziert worden zu sein. Vgl. Klauck, Briefliteratur 134–140; ders., Ancient Letters 156– 165; Fuhrmann, Geschichte 158f.; Albrecht, Geschichte 1, 410 und 432; Cugusi, Evoluzione 159–176; Conte, Latin Literature 202f. 32 Vgl. Koskenniemi, Studien 9f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 197.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

weisen wollen.33 Auch die von C. Plinius Caecilius Secundus (ca. 61–114) in neun Büchern veröffentlichten Briefe zeigen sowohl Elemente des Privatbriefes als auch des Kunstbriefes, so dass in der Forschung noch immer umstritten ist, ob sie jemals an die genannten Adressaten verschickt oder nur für die Publikation als Briefbuch geschrieben wurden.34 Als zehntes Buch wurde der Sammlung posthum der amtliche Briefwechsel des Plinius mit Kaiser Trajan aus der Zeit seiner Tätigkeit als kaiserlicher Legat in der Provinz Pontus-Bithynien angefügt (111/112 oder 112/113).35 In das 2. Jahrhundert gehört auch die nur in Teilen erhaltene Korrespondenz des Rhetors M. Cornelius Fronto mit Kaiser Antoninus Pius und dessen Nachfolgern sowie mit seinen Freunden; einige seiner Briefe sind in Griechisch verfasst.36 Aus der Spätantike haben sich, wie für den griechischen Brief, Sammlungen mit der kunstvoll stilisierten Privatkorrespondenz gebildeter lateinischer Autoren erhalten; unter den Verfassern solcher Sammlungen finden sich außer dem heidnischen Rhetor und Senator Q. Aurelius Symmachus (ca. 345–402) vor allem Kirchenväter, wie Ambrosius (339/340–397), Hieronymus (ca. 345–420), Augustinus (354–430) und Paulinus von Nola (ca. 355–415).37 Einen Sonderfall des lateinischen Kunstbriefes stellt der poetische Brief, das Briefgedicht, dar.38 Als erster veröffentlichte Q. Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) zwei Bücher mit Kunstbriefen, die in Versform popularphilosophische und poetologische Themen behandeln (Epistulae).39 P. Ovidius Naso (43 v. Chr. – 17/18 n. Chr.) verfasste wenig später fiktive Briefe mythischer Frauengestalten (Heroides) sowie aus der Zeit der Verbannung zwei Sammlungen mit autobiographisch gefärbten Gedichten in Briefform (Tristia und Epistulae ex Ponto).40 In der Spätantike wurde diese Form des Kunstbriefes von D. Magnus Ausonius 33

Ausführlich Klauck, Briefliteratur 126–133; ders., Ancient Letters 166–174; vgl. auch Fuhrmann, Geschichte 280f.; Albrecht, Geschichte 1, 410 und 2, 926. 940f.; Conte, Latin Literature 413–415; außerdem Cugusi, Evoluzione 195–206. 34 Vgl. Fuhrmann, Geschichte 337–340; Albrecht, Geschichte 2, 918–954, bes. 926; Conte, Latin Literature 525–529; Cugusi, Evoluzione 207–229. 35 Dazu Cugusi, Evoluzione 229–239. 36 Vgl. Albrecht, Geschichte 2, 1139–1142; Conte, Latin Literature 581–583; Dihle, Literatur 274f.; Cugusi, Evoluzione 241–264. 37 Dazu Cugusi, L’epistolografia 380f.; zu den einzelnen Sammlungen vgl. die Literaturgeschichte von M. von Albrecht (Bd. 2). Zur lateinischen spätantiken Epistolographie vgl. auch Fuhrmann, Rom in der Spätantike 258–281. 38 Im Bereich der griechischen Literatur ist der Brief in Versform (abgesehen von Briefeinlagen in der Tragödien des Euripides etc.) durch einige wenige Beispiele in der Anthologia Palatina bzw. den Anacreontea bezeugt; vgl. dazu Gibson/Morrison, Letter 4–9; Muir, Life 184; Rosenmeyer, Literary Letters 23–28. 39 Vgl. Fuhrmann, Geschichte 225f.; Albrecht, Geschichte 1, 568f. und 571; Conte, Latin Literature 295f. 40 Vgl. Fuhrmann, Geschichte 234f. und 240; Albrecht, Geschichte 1, 628. 630–633 und 635–638; Conte, Latin Literature 346–350 und 357f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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(ca. 310–393/394) noch einmal aufgegriffen.41 Der Vollständigkeit halber sind hier auch noch die Widmungsbriefe zu nennen, die C. Plinius Secundus (der Ältere; 23/24–79) seiner Naturalis historia, P. Papinius Statius (ca. 40/50–96) seinen Silvae und M. Valerius Martialis (ca. 40–104) dem 12. Buch seiner Epigramme voranstellten.42 Einen weitgehend vollständigen Überblick über die erhaltenen lateinischen Briefe, einschließlich der Briefeinlagen und Briefzitate in der lateinischen Literatur sowie der auf Papyrus und Ostraca überlieferten Originalbriefe, bieten die beiden von Paolo Cugusi zusammengestellten Sammeleditionen (1970/79 und 1992).43 2.1.2 Geschichte des Briefes in der Antike Bevor auf die zentralen Elemente der antiken Brieftheorie und die daraus abgeleiteten Regeln des Briefstils eingegangen werden kann, sind einige Anmerkungen zur Geschichte des Briefes, d. h. zur Entwicklung und Entfaltung der antiken Briefkultur, nötig. Die ältesten Belege für das Briefwesen stammen aus Mesopotamien (z. B. Tontafelarchiv von Mari; 18. und 17. Jh. v. Chr.) und aus Ägypten (El-Armana-Briefe; 15. und 14. Jh. v. Chr.); der Brief diente als Ersatz oder als Unterstützung des mündlichen Botenauftrags in der offiziellen Korrespondenz von Königen mit ihren Beamten und auswärtigen Herrschern.44 In der griechischen Literatur begegnet der Brief bereits an ihrem Anfang in den Epen Homers (ca. 2. Hälfte 8. Jh. v. Chr.), und zwar im Zusammenhang mit einem Liebesdrama: Als der schöne Held Bellerophontes die in Liebe zu ihm entbrannte Königin Anteia zurückweist, bezichtigt sie ihn bei ihrem Ehemann König Proitos des versuchten Ehebruchs und fordert seinen Tod; da der König ihn nicht eigenhändig töten will, betraut er den ahnungslosen Helden mit der Übermittlung eines Briefes, dessen nicht im Wortlaut wiedergegebener Inhalt ihm den Tod bringen soll (Il. 6,168–190).45 Die Erzählung zeigt, dass der Brief auch im griechischen Kulturkreis offenbar schon früh eine Selbstverständlichkeit geworden war.46 41 Unter den Adressaten der Briefe des Ausonius finden sich berühmte Zeitgenossen, wie der »Heide« Symmachus und der Christ Paulinus von Nola, auf deren Briefsammlungen oben hingewiesen wurde; vgl. Albrecht, Geschichte 2, 1045–1054; Fuhrmann, Rom in der Spätantike 104–106; zu Ausonius insgesamt auch Conte, Latin Literature 655–658. 42 Dazu Klauck, Briefliteratur 115; ders., Ancient Letters 139f. 43 Vgl. Klauck, Briefliteratur 116; ders., Ancient Letters 141; Cugusi, Evoluzione 7f. 44 Näheres Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 836; Schneider, Brief (RAC) Sp. 564f. Wie erhaltene Schülertexte belegen, waren Briefe im Kanzleistil Teil des Unterrichts für angehende Beamte. Außerdem haben sich Sammlungen von Musterbriefen aus der Zeit um 1500 v. Chr. und Beispiele für literarische Briefe erhalten; vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 216f. 45 Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 836; Klauck, Briefliteratur 110; ders., Ancient Letters 131; Muir, Life 177f.; Rosenmeyer, Literary Letters 1f.; van den Hout, Studies 138f. 46 Die drei ältesten erhaltenen griechischen Originalbriefe (auf Bleitäfelchen) stammen aus dem 5./4. Jh. v. Chr.); einer wurde in Athen und zwei am Schwarzen Meer gefunden. Vgl. Par-

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Etliche Hinweise auf Briefe und amtlichen Briefverkehr enthalten die Werke der Historiker.47 Für die im Wortlaut zitierten Briefe gilt jedoch, dass sie ebenso wenig wie die Reden als authentische Dokumente gelten können; sie sind von den Historikern selbst geschaffen oder zumindest im Blick auf das Ziel ihrer Darstellung umgestaltet.48 Die Brieferwähnungen bei Herodot (484– 429 v. Chr.) gehören meist in den Kontext von (Geheim-)Diplomatie, Militär und Verwaltung im Perserreich (Hdt. 1,123–125; 3,128; 5,14).49 Die Erzählung über den Griechen Timoxeinos, der durch geheime Korrespondenz die griechische Stadt Poteidaia auf der Chalkidike an den persische Feldherrn Artabazos verrät, belegt jedoch, dass sich in dieser Zeit auch die Griechen im Bereich der Diplomatie des Briefes bedienten (Hdt. 8,128). Mit dem Brief des ägyptischen Pharaos Amasis an Polykrates, den Tyrannen von Samos, (Hdt. 3,40–43) scheint bei Herodot auch so etwas wie eine persönliche und vertrauliche Korrespondenz unter Freunden auf. Thukydides (ca. 455–400 v. Chr.) berichtet in seinem Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg von diplomatischen Briefwechseln zwischen Sparta und dem Perserkönig (Thuk. 1,128f.; 4,50) sowie im Zusammenhang mit den Intrigen des Alkibiades (Thuk. 8,50f.).50 Auch Xenophon (440/430 bis nach 355 v. Chr.) bezeugt die amtliche Verwendung von Briefen (an. 4,5,26–34; 7,2,8; hell. 1,1,23).51 Daneben erwähnt Xenophon den Brief eines seiner Freunde, durch den er selbst überzeugt worden war, sich dem Zug der Zehntausend anzuschließen (an. 1,1,5). Weitere Belege dafür, dass der Privatbrief in dieser Zeit bei den Griechen bereits eine verbreitete Praxis war, finden sich bei den großen attischen Rednern und in den Tragödien des Euripides.52 Im Hippolytos, der Iphigenie in Aulis und der Iphigenie bei den Tauriern hat Euripides die ganze Handlung ähnlich wie schon in der Bellerophontes-Erzählung bei Homer geradezu um einen Brief herum komponiert; der Text eines Briefes aber wird nur in den beiden Iphigenie-Dramen »zitiert« (Iph. A. 115ff.; Iph. T. 770ff.). Ausgehend von den sons, Background 3; Trapp,Letters 6. Der Text und eine englische Übersetzung von zwei der drei Briefe bei Trapp, Letters 50f. [Nr. 1 und 2], ein Kommentar ebd. 195–199. 47 Dazu Klauck, Briefliteratur 108 und 110f.; ders., Ancient Letters 129–133; Stirewalt, Studies 7f.; vgl. auch Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 208–210; Rosenmeyer, Literary Letters 13–15. 48 Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 842; Klauck, Briefliteratur 110; ders., Ancient Letters 130; Muir, Life 85–89; für Herodot auch van den Hout, Studies 28. 49 Eine Auflistung der Briefen in Herodots Hist. bei van den Hout, Studies 25–28. 50 Die Briefzitate und Brieferwähnungen bei Thukydides aufgelistet bei van den Hout, Studies 34–41. 51 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 196; Muir, Life 89f. 52 Dazu Stirewalt, Studies 11f., der neben Euripides auf Belege bei Lysias (20,27; 19,23), Demosthenes (or. 49,14; 50,62) und Isokrates (or. 52,58) verweist. Zu Demosthenes vgl. auch Muir, Life 89–92. Zu Rolle und Funktion des Briefes in den genannten Dramen des Euripides (Iph. A. 28–48; 117–123; 322ff.; Iph. T. 727–787; Hipp. 856–880) vgl. außerdem Rosenmeyer, Literary Letters 11–13; Muir, Life 178–183.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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genannten literarischen Belegen vermutet man, dass der Ursprung des Briefes im militärisch-diplomatischen Bereich liegt und er erst allmählich anderen Zwecken angepasst wurde.53 Mit dem Aufschwung der intellektuellen Tätigkeit in Griechenland nach dem peloponnesischen Krieg erscheinen Redner und Philosophen als Verfasser von Briefen, die aus Interesse an ihren Absendern, aber auch wegen ihrer stilistischen Qualitäten aufbewahrt und überliefert werden. Damit veränderte sich allmählich der Charakter des Briefes, da Briefschreiber, die wegen ihrer politischen Stellung oder ihrer Bildung hohes Ansehen genossen, damit rechnen mussten, dass ihre Briefe von den Adressaten gesammelt und weitergegeben wurden. Für sie war es deshalb unabdingbar, bei der Abfassung des Briefes immer schon über den konkreten Adressaten und Anlass hinaus auf die Verständlichkeit und Relevanz des Mitgeteilten für einen potentiell größeren Leserkreis zu achten.54 Dadurch wurde der Brief immer mehr zu einem Medium, mit dem man Schülern und Freunden, aber auch Sympathisanten und Interessierten die Grundzüge der eigenen Lehre oder Lebensüberzeugung darlegte und praktische Lebensanweisungen erteilt.55 Reichliche Belege für diesen intellektuellen Briefverkehr bietet die literarische Überlieferung, wenn auch viele Sammlungen verloren sind und sich in den erhaltenen Sammlungen oft Echtes mit Falschem mischt.56 Die Briefe des Redners Lysias (450–380 v. Chr.) sind bis auf wenige Zitate, deren Authentizität zudem umstritten ist, verloren.57 Erhalten haben sich dagegen Briefe des Redners Isokrates (436–388 v. Chr.) an Herrscher und Fürsten, wenn auch ein Teil der ihm zugeschriebenen Briefe als unecht gelten muss.58 Unklar ist bis heute, ob sich unter den sechs Briefen, die den Namen des berühmten Redners Demosthenes (384–322 v. Chr.) tragen, tatsächlich authentische Briefe erhalten 53 So White, Light 191f.; vgl. auch van den Hout, Studies 22f. Für die Griechen, die gerne für jede »literarische Gattung« einen πρῶτος εὑρετής benannten, galt, wie in einem Fragment des Historiographen Hellanikos belegt ist, die persische Königin Atossa (wohl Semiramis) als Erfinderin des Briefes (FGrHist 4 F 178). 54 Dazu Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 840f. 55 Ausführlich bei Stowers, Letter Writing 36–40; vgl. auch Exler, Form 19f.; Koskenniemi, Studies 18; Schneider, Brief (RAC) Sp. 569; Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 842. 56 Vgl. Muir, Life 5f. 57 Sollte die fragmentarisch überlieferte Sammlung aus einem Geschäftsbrief und sechs Liebesbriefen (fünf davon an junge Männer) echte Briefe des Lysias enthalten haben, erfolgte die Auswahl der Briefe offensichtlich primär aus literarisch-ästhetischen, nicht aus historischbiographischen Interessen, wie Muir, Life 185, betont: »Someone who had so many contacts through his legal and political activities must have written a good many letters, and it is a reasonable guess that the selection was made to show off fine examples of his much-admired style and of his colourful private life.« Als Verfasser erotischer Briefe kann er als Archeget des kaiserzeitlichen Typenbriefes gelten; vgl. Lesky, Geschichte 665. Vgl. auch Klauck, Ancient Letters 119. 58 Vgl. Lesky, Geschichte 659; Klauck, Briefliteratur 101; ders., Ancient Letters 117.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

haben.59 Auch der Philosoph Platon (428–347 v. Chr.) dürfte Briefe geschrieben haben, doch sind vermutlich die 13 unter seinem Namen überlieferten Briefe insgesamt als literarische »Fälschungen« des 3. Jahrhunderts v. Chr. anzusprechen.60 Die Briefe des Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) wurden nach seinem Tod gesammelt und veröffentlicht; diese Sammlung, der erste bekannte Fall der Veröffentlichung einer Privatkorrespondenz, ist nur in Fragmenten erhalten.61 Eine ähnliche, heute verlorene Sammlung gab es offenbar auch mit Briefen seines Schülers Theophrast (ca. 370–288 v. Chr.), der ihm als Schulhaupt des Peripatos nachfolgte (vgl. Diog. Laert. 5,37).62 Auf die umfangreiche Korrespondenz des Epikur, den (vielleicht echten) Lehrbrief des Musonius Rufus und die Briefessays des Dionysios von Halikarnass wurde oben bereits hingewiesen (vgl. S. 14). Ergänzend ist jedoch anzumerken, dass es wahrscheinlich erst Epikur war, der den Brief gezielt als Mittel zur Darstellung seiner eigenen Lehre und zur Einführung in die Philosophie verwendete, obwohl bereits Philosophen vor ihm Briefe geschrieben hatten; den Brief gebrauchte Epikur aber nicht nur zur Belehrung, sondern auch zur Kontaktpflege mit seinen außerhalb Athens lebenden Schülern, als Instrument der »Seelenführung« sowie im Dienst der Werbung und Propaganda für seine Schule.63 Die Briefe wurden von seinen Anhängern gesammelt und ediert; sie dienten nach dem Tod des als Vorbild verehrten Meisters in seiner Schule als Grundlage für die Unterweisung der Jugend.64 Die Praxis Epikurs inspirierte bald auch die Vertreter anderer Philosophenschulen, so z. B. die Kyniker Diogenes und Krates (von ihnen sind allerdings keine echten Briefe erhalten, nur pseudepigraphe Briefsammlungen aus dem 1. Jh. n. Chr.).65 Deshalb ist zu überlegen, ob nicht in den Briefen Epikurs, ihrer Sammlung und Publikation eine der Wurzeln für die Anfertigung pseudepigrapher Philosophenbriefe, z. B. von Platon, Aristoteles oder auch Sokrates, zu suchen ist. Die Konkurrenz der hellenistischen Philosophenschulen untereinander könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass die Anhänger jeder Schule über »authentische« Zeugnis59 Am ehesten könnten der 2. und 3. Brief auf Demosthenes zurückgehen; als sicher unecht gilt der 5. Brief. Näheres dazu bei Klauck, Briefliteratur 99f.; ders., Ancient Letters 114; Lesky, Geschichte 679; Hose, Literaturgeschichte 194. 60 Authentizität wird für die Briefe 6, 7 und 8 erwogen; vgl. Klauck, Briefliteratur 103f.; ders., Ancient Letters 120f.; Lesky, Geschichte 570; gegen die Echtheit auch dieser Platonbriefe votiert Hose, Literaturgeschichte 128 und 193, in Anschluss an Holzberg, Briefroman 8–13. 61 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 197; Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 840f.; Schneider, Brief (RAC) Sp. 569f.; Lesky, Geschichte 787; Klauck, Briefliteratur 99; ders., Ancient Letters 112f. 62 Näheres bei Lesky, Geschichte 772–775. 63 Vgl. Muir, Life 136; Eckstein, Gemeinde 92f.; Hose, Literaturgeschichte 195; Peter, Brief 16f. 64 Zu den Briefen Epikurs und ihrer Bedeutung in der und für die epikureische Schule vgl. auch Muir, Life 136–144; Eckstein, Gemeinde 164–176. 65 Dazu auch Muir, Life 144–147.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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se zum Leben und zur Lehre ihres eigenen Gründers und anderer repräsentativer und normativer Gestalten ihrer Schule verfügen wollten, die sich den Epikurbriefen als gleichwertig an die Seite stellen ließen. Soweit die Papyrusfunde aus Ägypten erkennen lassen und insofern die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinert werden dürfen, setzte bei den Griechen in der Zeit des Hellenismus in allen Schichten der Gesellschaft eine Zunahme der privaten brieflichen Korrespondenz ein, die sich in römischer Zeit ungebrochen fortsetzte.66 Unter den Absendern und Adressaten dieser im Original erhaltenen Privatbriefe finden sich etliche Frauen, meist aus der Oberschicht, doch auch Sklavinnen.67 Anlass für diese Entwicklung waren die Umwälzungen infolge der Eroberungen Alexanders des Großen und die Errichtung der hellenistischen Monarchien im östlichen Mittelmeerraum.68 Die Feldzüge Alexanders, die griechischen Stadtgründungen in den eroberten Gebieten sowie die Intensivierung des Fernhandels in den neuen griechischen Großreichen hatten zur Folge, dass Familienangehörige und Freunde oft lange Zeit durch weite Strecken voneinander getrennt waren. Der Brief war für sie die einzige Möglichkeit, miteinander in Verbindung zu treten, in Kontakt zu bleiben und wichtige familiäre Angelegenheiten zu regeln. Ein regelmäßiger Handelsverkehr zu Land und zu Wasser begünstigte zudem das Verschicken von Briefen über weite Strecken, da man in Ermangelung eines Postwesen für die Zustellung von Briefen auf Reisende angewiesen war, die zufällig in die Gegend der Adressaten kamen und bereit waren, den Brief zu überbringen.69 Die beschriebenen Verhältnisse galten analog unter römischer Herrschaft und damit auch in neutestamentlicher und frühchristlicher Zeit. Da Papyrus in hellenistisch-römischer Zeit günstig und leicht erhältlich war, beschränkte sich der private Briefverkehr, wie der Inhalt der auf Papyrus erhaltenen Privatbriefe erkennen lässt, auch bei einfachen und nur mäßig gebildeten Leuten nicht auf wichtige und drängende Angelegenheiten, sondern man schrieb sich, wann immer sich eine günstige Gelegenheit zur Übermittlung eines Briefes bot, allein zu dem Zweck, Verwandten und Freunden aus der Ferne ein Lebenszeichen zu übersenden und miteinander in Kontakt zu bleiben (vgl. z. B. P.Oxy. LV 3806 [15 n. Chr.]70).71 Die zahlreichen Geschäfts66

Vgl. White, Light 191–193; auch Muir, Life 28f. Näheres Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 5–11; Klauck, Ancient Letters 105–108. 68 Vgl. Schmidt, Epistolographie (KP) Sp. 325. 69 Dazu Klauck, Briefliteratur 68f.; ders., Ancient Letters 60–65. 70 Ein Kommentar zu P.Oxy. LV 3806 bei Harrauer, Handbuch 255 [Nr. 72]. 71 Dazu White, Ancient Greek Letters 86; ders., Light 192f.; Head, Letter-Carriers 284; Brooke, Private Letters 17f. Näheres zur Verfügbarkeit und zu den Preisen von Papyrus in hellenistisch-römischer Zeit bei Rupprecht, Papyruskunde 3–7; Klauck, Briefliteratur 55– 59; ders., Ancient Letters 44–48; Muir, Life 16f. Dagegen benennt Olsson, Papyrusbriefe 14f., verschiedene Indizien, die dagegen sprechen, dass Papyrus in hellenistisch-römischer Zeit tatsächlich billig zu erwerben war (z. B. auch auf der Rückseite beschriebene Papyrusblätter, zum 67

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

briefe unter den Papyrusfunden dokumentieren zudem, dass sich in hellenistisch-römischer Zeit Händler sowie alle Arten von Gewerbetreibenden und Handwerkern des Briefes bedienten, um Geschäftsbeziehungen zu pflegen und Handelsgeschäfte abzuwickeln.72 Ein weiteres wichtiges Einsatzgebiet des Briefes war die staatliche Bürokratie.73 Nach persischem Vorbild wurden in den hellenistischen Monarchien alle administrativen Akte in Briefform durchgeführt. Dieses Verwaltungssystem wurde (im Osten) von den Römern übernommen. Auf Papyrus bzw. als Inschriften haben sich Beispiele für den verwaltungsinternen Briefverkehr, für königliche bzw. kaiserliche Erlasse, aber auch für Eingaben der Bevölkerung erhalten.74 Denn die Briefe hellenistischer Herrscher sowie römischer Kaiser und Statthalter, mit denen sie Städten Privilegien gewährten, wurde von diesen als monumentale Inschriften in Stein »veröffentlicht«.75 Ausgehend von der administrativen Verwendung des Briefes wurde die Briefform auch für andere rechtliche Dokumente, wie z. B. Verträge und Urkunden, übernommen.76 Es wurde bereits vorweg angemerkt, dass aufgrund der Formelhaftigkeit und des gleichbleibenden Stils der privaten Papyrusbriefe davon auszugehen ist, dass die Konventionen und Regeln der Briefform in der Schule vermittelt wurden und deshalb weiten Teilen der Bevölkerung bekannt waren (vgl. S. 16). Einschränkend ist allerdings zu ergänzen, dass es in dieser Zeit bei Gebildeten ebenso wie bei Ungebildeten gängige Praxis war, Briefe nicht eigenhändig zu schreiben. Während Wohlhabende sich eines Privatsekretärs bedienten, dem sie den Brief entweder wörtlich (syllabatim) diktierten oder der ihn nach mehr oder weniger detaillierten Anweisung ausarbeiten musste, konnten Ärmere die Dienste von privaten Schreibstuben bzw. von auf den Märkten bereitstehenden Berufsschreibern (ἐπιστολόγραφος) in Anspruch nehmen.77 Dass Briefe oft nicht eigenhändig geschrieben wurden, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass private Papyrusbriefe desselben Verfassers oft verschiedene HandTeil bei Wiederverwendung); so auch Richards, Paul 51f. Außer Papyrus wurden Tonscherben (Ostraka) als billiger Beschreibstoff auch für Briefe verwendet; diese boten allerdings nur für sehr kurze Mitteilungen Platz. Daneben wurden als Beschreibmaterial auch Bleitäfelchen (in älterer Zeit), geweißte Holztäfelchen und Wachstafeln verwendet. 72 Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 840; Muir, Life 54–82 (mit Beispielen). 73 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 217f.; White, Ancient Greek Letters 86; Schneider, Brief (RAC) Sp. 568f. 74 Den hellenistischen Kanzleien stand anders als privaten Briefschreibern zur Beförderung der amtlichen Korrespondenz ein eigenes staatliches Postsystem zur Verfügung. Auch die römische Administration verfügte mit dem von Caesar und Augustus ausgebauten cursus publicus (Suet. Aug. 49,3) über ein effektives Beförderungssystem. Dazu Klauck, Briefliteratur 66–68; ders., Ancient Letters 61–63. 75 Vgl. Trapp, Letters 10; Klauck, Ancient Letters 77–82. 76 Vgl. Schneider, Brief (RAC) Sp. 568f. 77 Ausführlich bei Klauck, Briefliteratur 61–65; ders., Ancient Letters 55–60; Richards, Paul 59–80.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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schriften aufweisen.78 Der Grund für die Indienstnahme eines Berufsschreibers war keineswegs immer, dass der Absender selbst des Schreibens unkundig war; denn der in etlichen Papyrusbriefen erkennbare Wechsel der Handschrift am Ende des Briefes legt die Annahme nahe, dass man den Schlussgruß eigenhändig anzufügen pflegte, auch wenn man den Brief einem professionellen Schreiber in Auftrag gegeben hatte.79 Zudem belegen die große Anzahl von Grammatik- und Syntaxfehler sowie stilistische Ungeschicklichkeiten in vielen Papyrusbriefen, dass sie nicht von einem Berufsschreiber stammen können, sondern von ihren wenig gebildeten Absendern eigenhändig verfasst sein müssen.80 Da auch diese Privatbriefe keine signifikanten Abweichungen von 78

Dazu P.Mich. VIII 490 (= SB IV 7352) und P.Mich. VIII 491 (= SB IV 7353/SP I 111), zwei Briefe aus dem 2. Jh. n. Chr., die ein griechisch-ägyptischer Rekrut an seine Mutter geschrieben hat; die stark unterschiedliche Handschrift beider Briefe legt nahe, dass der Absender sie bei einem professionellen Schreiber in Auftrag gegeben hatte (beide Briefe bei White, Light 161–164 [Nr. 104]). Ähnlich bei P.Amh. II 131 und 132 aus dem frühen 2. Jh. n. Chr. (White, Light 168f. [Nr. 106]). Ein weiteres Beispiel wäre BGU IV 1203–1209 (28 v. Chr.; White, Light 103–105 [Nr. 63–65]), Briefe aus dem Familienarchiv des Reeders Asklepiades in Ägypten; vgl. auch Olsson, Papyrusbriefe 24–40 [Nr. 1–7]; Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 114–122. Die Briefe BGU IV 1204, 1205, 1206 und 1207 stammen von derselben Absenderin, Isidora, der Schwester des Asklepiades; trotz ein und derselben Absenderin wurden, wie Unterschiede in Schriftbild und Orthographie zeigen, BGU IV 1204 und 1207 nicht von derselben Hand geschrieben wie BGU IV 1205 und 1206 (diese beiden Briefe könnten von Isidora eigenhändig geschrieben worden sein). Aus derselben Hand wie BGU IV 1204 und 1207 stammt jedoch BGU IV 1203, der Entwurf für einen Brief des Asklepiades selbst. Man muss wohl annehmen, dass diese drei Texte von einem Sklaven oder einem Angestellten der offensichtlich reichen und vornehmen Familie geschrieben wurden. Vgl. auch Roller, Formular 12f.; White, Light 215f. 79 So in P.Amh. II 131,24 (frühes 2. Jh. n. Chr.; White, Light 168 [Nr. 106]); P.Amh. II 132 (ebd.) dagegen vom selben Absender ganz eigenhändig geschrieben; P.Mich. VIII 481 (frühes 2. Jh. n. Chr.; White, Light 175f. [Nr. 111]). Ausführlich bei Roller, Formular 71–78. 80 So White, Light 215f.; Klauck, Ancient Letters 55f.; H. H. Schmitt, Schrift und Schreiben, in: Lexikon des Hellenismus Sp. 950–952. Anders Muir, Life 8f., der davon ausgeht, dass nur ein relativ geringer Prozentsatz lesen und schreiben konnte. Die »Fehler« in Syntax und Orthographie seien eher ein Indiz dafür, dass auch professionelle Schreiber oft wenig ausgebildet waren; auch die Briefe mit extremen »Fehlern« seien deshalb (zumindest mehrheitlich) solchen professionellen Schreibern zuzurechnen. Auch Winter, Life and Letters 63–69, sieht bei der nicht-griechischen Bevölkerung – anders als bei den Mitgliedern der griechisch-stämmigen Bevölkerung – in Ägypten die Schulausbildung und damit die Fähigkeit des Lesens und Schreibens (zumindest des Griechischen) auf die Mitglieder der Priesterfamilien und Wohlhabende beschränkt. Ein Teil konnte aber zumindest Demotisch lesen und schreiben, wie aus P.Tebt. II 383,52f. (= MChr. 357; 46 n. Chr.) entnommen werden kann: ἔγραψεν ὑπὲρ αὐτῶν Μαρεψῆμις διὰ τὸ τὸν μὲν Ψενκῆβκιν Αἰγύπτια γράφειν τὴν δὲ ἄλλην μὴ εἰδέναι γράμματα (es folgt eine Zeile in demotischer Schrift). Zu den Sprachen der Bevölkerung Ägyptens Schubart, Jahrtausend xxi–xiv; zur Frage der Alphabetisierung im Römischen Reich auch Pitts, Hellenistic Schools 23f. Nach Marrou, Erziehung 212, müsse man zumindest für die stark hellenisierten Gegenden davon ausgehen, dass in den Städten in der Regel alle frei geborenen Kinder den Elementarunterricht besuchten und folglich schreiben und lesen konnten.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

der üblichen Briefform aufweisen, kann man davon ausgehen, dass in hellenistisch-römischer Zeit jeder, der schreiben konnte, zumindest Grundkenntnisse im Briefschreiben besaß. Form und Stil des Briefes müssen folglich bereits im Rahmen des Elementarunterrichts auch von Kindern der niederen sozialen Schichten gelernt und eingeübt worden sein.81 Der Grund, warum man sich nach Möglichkeit eines Sekretärs oder Berufsschreibers bediente, waren die Unbequemlichkeiten, die mit dem Schreiben auf Papyrus verbunden waren.82 Aus demselben Grund galt es unter den Mitgliedern der Oberschicht als besondere Auszeichnung, eines eigenhändig geschriebenen Briefes gewürdigt zu werden.83 Der Entschluss, einen Brief eigenhändig zu schreiben, konnte aber auch dadurch bedingt sein, dass ein Brief besonders vertrauliche Informationen enthielt, die man nicht einem Sekretär oder Berufsschreiber anvertrauen wollte und konnte, z. B. vertrauliche Vermögens- und Familienangelegenheiten (vgl. Cic. Att. 11,24,2; 12,34,2; 13,4,4) oder auch politische Angelegenheiten (vgl. Cic. fam. 2,13,3; Att. 8,1,1). Wenn auch erst ab der Kaiserzeit eindeutig bezeugt, war der Brief wohl bereits seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. bei den Griechen ein Gegenstand des höheren Schulunterrichts (Grammatik- und Rhetorikunterricht).84 Im Lehrbuch des Aelius Theon von Alexandria (spätes 1. Jh. n. Chr.) erscheint der Brief unter den propädeutischen Übungen (προγυμνάσματα) des Rhetorikunterrichts, bei denen die Schüler lernen sollten, Sachverhalte und Personen möglichst wirkungsvoll darzustellen.85 Aufgabe der Schüler war es, für eine reale oder erdachte Situation im Leben verschiedener historischer oder literarischer Personen und unter deren Namen fiktive Briefe zu schreiben. Dadurch sollten die 81 Dazu Stowers, Letter Writing 32f.; Muir, Life 22. Es ist allerdings mit lokalen Unterschieden im griechisch-römischen Bildungssystem zu rechnen. Zum Elementarunterricht vgl. Hose, Literaturgeschichte 162f.; außerdem Cribiore, Gymnastics of the Mind 160–184. 82 Vgl. Roller, Formular 14–16. 83 So White, Light 189f.; Roller, Formular 15; gegen Cugusi, Evoluzione 69f. Da Eigenhändigkeit deshalb – vor allem in Briefen an enge Verwandte und Freund – als Zeichen der Wertschätzung erachtet wurde, bedurfte es offenbar auch einer ausdrücklichen Entschuldigung bzw. Rechtfertigung, wenn man sich bei solchen Briefen eines Sekretärs bediente; vgl. z. B. Cic. ad Q. fr. 2, 2,1 … parvula lippitudine adductus sum ut dictarem hanc epistulam et non, ut ad te soleo, ipse scriberem. 84 Näheres zur Organisation und zu den Gegenständen des höheren Schulunterrichts bei den Griechen in der Kaiserzeit bei Hose, Literaturgeschichte 163–167; Cribiore, Gymnastics of the Mind 185–244; zum Rhetorikunterricht in der Kaiserzeit vgl. auch Fuhrmann, Rhetorik 65–73. Zum Brief im Schulunterricht vgl. auch Rabe, Briefsteller 289; Marrou, Erziehung 252ff. Die Verwendung im Unterricht trug, wie Rosenmeyer, Literary Letters 29f., hervorhebt, zur Popularität des Briefes in der Literatur der hellenistisch-römischen Zeit bei. 85 Vgl. Stowers, Letter Writing 32f.; Koskenniemi, Studien 29; Stirewalt, Studies 21f.; Malherbe, Theorists 6f. Die Progymnasmata des Aelius Theon sind die ältesten und bedeutendsten unter den erhaltenen Sammlungen; vgl. Lesky, Geschichte 942; Hose, Literaturgeschichte 164 (der Aelius Theon erst ins 2. Jh. n. Chr. datiert).

2.1 Der griechisch-römische Brief

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Schüler lernen, sich in das Leben und den Charakter anderer Personen hineinzuversetzen und deren Sprache und Stil möglichst genau nachzuahmen (ἠϑοποιία).86 Das Schreiben solcher fiktiver Briefe sollte auf die im Rhetorikunterricht zentralen Übungsreden (μελέται/declamationes) vorbereiten, bei denen eine souveräne Beherrschung dieser Fähigkeiten gefordert war, da der Schüler bei ihnen ebenfalls meist in die Rolle einer historischen oder auch mythischen Figur zu schlüpfen hatte.87 Dies alles stand im Dienst des Erlernens der für den Redner notwendigen Fertigkeit der Ethopoiie, d.h. der rhetorischen Kunst, sich selbst oder eine andere Person hinsichtlich Charakter und Fähigkeiten mit Worten möglichst wirkungsvoll und zweckdienlich darzustellen. Ähnlich wie bei den Übungsreden gelangte so mancher fiktive Übungsbrief aus dem Rhetorikunterricht aufgrund seiner virtuosen Ethopoiie im Laufe der Zeit unter die erhaltenen echten Briefe einer historischen Person. Briefe unter dem Namen bedeutender Persönlichkeiten wurden aber auch gezielt fingiert (pseudonyme bzw. pseudepigraphe Briefe), um aus biographischem oder apologetischem Interesse eine vorhandene Sammlung zu ergänzen oder verlorene Briefe zu ersetzen.88 Mitunter wurden ganze Sammlungen neu geschaffen, so z. B. die philosophisch-lehrhaften Briefe des Anacharsis89 (zwischen 3. und 1. Jh. v. Chr.), der Kyniker Diogenes und Krates (zwischen 1. Jh. v. Chr. und 2. Jh. n. Chr.) oder des Heraklit (1. Jh. n. Chr.).90 Manche der fingierten Briefzyklen beleuchteten in der Art eines Briefromans einen entscheidenden Abschnitt im Leben einer historischen Persönlichkeit aus Philosophie, Kultur oder Politik; vollständig erhalten sind solche Briefromane unter dem Namen des Philosophen Platon (3. Jh. v. Chr.), des Arztes Hippokrates (späthellenistisch), des Tragikers Euripides (1. oder 2. Jh. n. Chr.), des athenischen Staatsmannes und Feldherrn Themistokles (Ende 1. Jh. n. Chr.), des Platonschülers und Tyrannenmörders Chion (Ende 1. Jh. n. Chr.), des Redners Aischines (2. Jh. n. Chr.), sowie des Philosophen Sokrates und einiger seiner Schüler (um 200 n. Chr.).91 86 Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 841; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 194; Muir, Life 186. 87 Dazu Hose, Literaturgeschichte 192; vgl. auch van den Hout, Studies 24. 88 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 211f.; Schneider, Brief (RAC) Sp. 573f.; Muir, Life 123f.; Rosenmeyer, Literary Letters 97–103. 89 Der im 6. Jh. v. Chr. lebende Anacharsis war der Neffe des Skythenkönigs Idanthyrsos (Hdt. 4, 46 u. 76); er wurde zum Typos des sympathischen ausländischen Besuchers in Griechenland. Muir, Life 191–193, spricht im Blick auf die Intention der pseudepigraphen Briefsammlung deshalb von literarischen Essays zur Multikulturalität. 90 Vgl. Dihle, Literatur 93f.; dazu auch Stirewalt, Studies 22f. 91 Ausführlich dazu N. Holzberg, Der griechische Briefroman. Versuch einer Gattungstypologie, in: ders., Briefroman 1–52; auch Muir, Life 200–203; Rosenmeyer, Literary Letters 48–55. Ein weiterer Briefroman lässt sich eventuell aus der Darstellung der Sieben Weisen im 1. Buch der Philosophenviten des Diogenes Laertios rekonstruieren; vgl. N. Chr. Dührsen, Die Briefe der Sieben Weisen bei Diogenes Laertios. Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion eines verlorenen griechischen Briefromans, in: Holzberg, Briefroman 84–115; auch

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

In den Kontext solcher fingierten Briefsammlungen gehören auch die sieben in der römischen Kaiserzeit entstandenen Briefe der (legendarischen) Philosophin Theano, die im 6./5. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll und als eine Schülerin oder sogar als die Ehefrau des Philosophen Pythagoras galt; drei ihr zugeschriebene Briefe wurden im Kontext der Briefe des Pythagoras und der Pythagoreer überliefert (aus dem 2. Jh. n. Chr.), vier davon unabhängig (wohl erst aus dem 5. Jh. n. Chr.).92 Fiktive Briefe und Briefsammlungen von Philosophen waren zwar durchaus eine Werbung für deren Schulen (Kyniker, Akademie, Peripatos etc.); doch sollte man mit den pseudepigraphen Briefen und Briefsammlungen nicht vorschnell primär und ausschließlich propagandistische oder gar betrügerische Absichten verbinden.93 Sie sind vielmehr aus dem Kontext der Bildungskultur ihrer Zeit heraus zu erklären und zu verstehen. Fiktive Briefe zielten auf die intellektuelle Selbstvergewisserung und die Unterhaltung der gebildeten Oberschicht. Ein Leser, der aus dem Rhetorikunterricht mit den Techniken der Ethopoiie vertraut war, durfte sich durch das Durchschauen und bei der kritischen Würdigung der Techniken der dargebotenen Fiktion in seiner Zugehörigkeit zur Bildungselite (πεπαιδευμένος) bestätigt erfahren. Dabei war den Lesern nicht an einem Höchstmaß an historischer Exaktheit oder Plausibilität gelegen, sondern man fand es offensichtlich unterhaltend, wenn die Briefe den Leser bis an die Grenzen des historisch Möglichen führten oder diese sogar überschritten.94 Dies zeigt sich z. B. am fiktiven Briefwechsel zwischen AlexanHose, Literaturgeschichte 193; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 213f.; Dihle, Literatur 94; Stirewalt, Studies 23f. Kritisch zur Annahme, dass man die genannten Sammlungen als Briefromane klassifizieren könne, jedoch Costa, Fictional Letters xviii–xx; seiner Meinung nach könnten bestenfalls die Chion-Briefe als Briefroman interpretiert werden. Gegen die Qualifizierung der Chion-Briefe und der anderen vergleichbaren Sammlungen als Briefroman spricht für Costa vor allem die Tatsache, dass die Briefe in den Sammlungen nicht in einer chronologischen Abfolge stehen (wie dies bei den neuzeitlichen Briefromanen der Fall ist). Für die Themistoklesbriefe betont demgegenüber jedoch Rosenmeyer, Epistolary Fictions 231f., dass die Sammlung sehr wohl eine Ordnung erkennen lasse, wenn auch nicht eine chronologische, sondern eine systematische (hier Verweise auf weiterführende Forschungsliteratur). 92 Zu Theano und den unter ihrem Namen verfassten Briefen vgl. K. v. Fritz, Theano [5]. PRE 5 A,2 (1934) Sp. 1379–1381; M. Frede, Theano [3]. DNP 12/1 (2002) Sp. 253f.; Klauck, Ancient Letters 123; außerdem Theano. Briefe einer antiken Philosophin. Griechisch/Deutsch. Hg. und übers. von K. Brodersen (Reclam UB 18787), Stuttgart 2010 (mit Einführung und kommentierenden Anmerkungen sowie Beilagen zu Frauen und Philosophie in der Antike). 93 Klauck, Briefliteratur 140–147, und ders., Ancient Letters 174–181, bespricht die Kynikerbriefe unter den Aspekten Propaganda und Paränese. Vgl. auch Muir, Life 6; Rosenmeyer, Epistolary Fictions 201. 94 So Hose, Literaturgeschichte 192. Insofern kann die Pseudepigraphie auch als eine Art »Spiel« mit literarischen Fertigkeiten und historischem Wissen verstanden werden, das auf intellektuelle Selbstvergewisserung zielt, einerseits durch das Durchschauen der literarischen Fiktion, andererseits durch das Austesten und Suspendieren des historisch Möglichen oder Faktischen. Muir, Life 186, verweist auf den nostalgischen Zug der Zweiten Sophistik als Hin-

2.1 Der griechisch-römische Brief

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der dem Großen und seinem ehemaligen Lehrer Aristoteles, der die Wunder Indiens beschreibt.95 Noch deutlicher ist das Moment der Unterhaltung in der zweiten Art von Kunstbriefen, die ebenfalls dem Kontext der im Rhetorikunterricht erlernten und eingeübten Kunst der Ethopoiie entstammen: die Typenbriefe, bei denen sich der Verfasser nicht in eine historische Person hinein fühlte, sondern in eine literarische Figur, nämlich in die typischen Charaktere der hellenistischen Komödie.96 Auch hier bestand das Vergnügen für den Leser einerseits im Witz und im Esprit der Briefe, andererseits im Wiedererkennen der literarischen Vorbilder. Diese Form des literarischen Kunstbriefes wird erstmals im 2. Jahrhundert n. Chr. fassbar. Der griechisch schreibende Römer Claudius Aelianus lässt die Bauernfiguren der Neuen Komödie als Briefschreiber auftreten. Dagegen wählt Philostratos für seine fiktiven Liebesbriefe ihre typischen Liebespaare.97 Vergleichbar war wohl die verlorene Sammlung erotischer Briefe des Lesbonax (2. Jh. n. Chr.).98 Aus der Spätantike hat sich die Sammlung der erotischen Briefe des Aristainetos erhalten. Neben Fischern, Bauern und Parasiten wählte Alkiphron (ca. 170–220 n. Chr.) aus der Neuen Komödie als Schreiber für seine fiktiven Briefe außerdem Hetären.99 Da es sich bei ihnen nicht um fiktive Gestalten, sondern um berühmte Hetären aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. (Phryne, Laina, korinthische Hetären etc.) handelt, schafft Alkiphron mit seinen Hetärenbriefen eine Art Synthese aus dem Typenbrief und dem pseudonymem Brief.100 Die frühbyzantinische Sammlung des Theophylaktos Simokates belegt, dass diese Form des Kunstbriefes über die Antike hinaus gepflegt wurde und sich bei den Gebildeten bleibender Beliebtheit erfreute. Wenn auch der Brief im Rhetorikunterricht nicht um seiner selbst willen geübt wurde, so beeinflusste seine Verwendung im Rhetorikunterricht dennoch den Briefstil der Gebildeten.101 Durch das Abfassen fiktiver Übungsbriefe tergrund der Pseudepigraphie, d. h. auf ihr Interesse an der »großen Zeit« der Griechen zwischen den Perserkriegen und Alexander dem Großen. 95 Vgl. Dihle, Literatur 94 und 375; Hose, Literaturgeschichte 230; Klauck, Briefliteratur 112f.; ders., Ancient Letters 134–136. Es existierten außerdem Briefe von Alexander mit seiner Mutter Olympias, seiner Braut Roxane, indischen Weisen, den Amazonen u. a.; zusammen mit anderen Überlieferungen bildeten sie die Quellen des im 3. Jh. n. Chr. entstandenen »Alexanderromans«. Dazu auch Muir, Life 186–189; Rosenmeyer, Literary Letters 130–138. 96 Vgl. dazu auch Stirewalt, Studies 24f. 97 Dazu Dihle, Literatur 353. Unter den Papyrusbriefen findet sich interessanterweise kein Beispiel für einen echten Liebesbrief; vgl. Schneider, Brief (RAC) Sp. 573; dazu auch Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 214–216; Gauger, Brief Sp. 210. 98 Vgl. Lesky, Geschichte 970. 99 Vgl. Dihle, Literatur 245. 100 Dazu Hose, Literaturgeschichte 194. 101 Vgl. Koskenniemi, Studien 29; Schneider, Brief (RAC) Sp. 570. Negativ bewertet wird der Einfluss von Schule und Rhetorikunterricht auf Briefpraxis und Briefstil bei Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 218; Schneider, Brief (RAC) Sp. 570.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

entwickelten sich klare Vorstellungen über Form und Stil des idealen Briefes; die daraus abgeleiteten Regeln für die Übungsbriefe wurden im Laufe der Zeit auch zum Maßstab für die echten Briefe der Privatkorrespondenz. Der Brief galt als ein Kunstprodukt (ἔντεχνον), das hohen stilistischen Anforderungen zu genügen hatte.102 In der privaten und offiziellen Korrespondenz signalisierte ein fein stilisierter Brief die Wertschätzung gegenüber dem Adressaten und diente der Selbstempfehlung des Absenders. Zugleich wurde der schöne und raffinierte Privatbrief für die Gebildeten zu einem idealen Mittel der Selbstdarstellung. Das Medium des publizierten Privatbriefes ermöglichte es ihnen, nicht nur ihre Bildung und literarische Kompetenz zu demonstrieren, sondern sich durch den Reigen illustrer Briefpartner darüber hinaus im vertrauten und freundschaftlichen Umgang mit den Mächtigen und Gebildeten ihrer Zeit zu präsentieren, mit denen sie in Briefkontakt standen.103 Während Privatbriefe früher erst nach dem Tod ihres Verfassers von Freunden ediert wurden, stellten deshalb nun einzelne Briefschreiber selbst Sammlungen mit ihren besonders gelungenen Privatbriefen für die Veröffentlichung zusammen.104 Das frühestes Beispiel dafür wäre, wenn es sich tatsächlich um echte Privatbriefe und nicht um reine Kunstbriefe handelt, die lateinische Briefsammlung des jüngere Plinius. Die ältesten griechischen Sammlungen entstanden erst etwas später im 2. Jahrhundert n. Chr.; die in der frühbyzantinischen Literatur erwähnten Briefsammlungen des Herodes Atticus, des Aristokles von Pergamon und des Timagenes von Milet sind jedoch nicht erhalten.105 Die erhaltenen griechischen Sammlungen stammen alle erst aus der Spätantike, darunter die Briefe des Rhetors Libanios, der als Meister und Höhepunkt des griechischen Briefstils galt (zu den anderen spätantiken Briefsammlungen vgl. S. 14).106 Die Entwicklung des lateinischen Briefes wird erst ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. greifbar und lässt sich aufgrund der Überlieferungslage nur in Ansätzen rekonstruieren.107 Ab dieser Zeit aber steht der lateinische Brief, der Privatbrief ebenso wie der literarische Brief, weitgehend unter dem Einfluss der griechischen Epistolographie.108 Aus der älteren Zeit hat sich ein Brief der Cornelia (2. Jh. v. Chr.) an ihren Sohn C. Gracchus erhalten, dessen Echtheit allerdings nicht zweifelsfrei gesichert ist (Warnung vor der Bewerbung um das Tribunat).109 Noch weiter zurück reichen zwei nur fragmentarisch erhaltene Briefe 102

Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 196. Für die Sammlung des jüngeren Plinius Conte, Latin Literature 526–528. 104 Näheres zu Entstehung, Inhalt und Form edierter Privatkorrespondenzen bei Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 197–200. 105 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 197. 106 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 197f. 107 Zeugnisse für den lateinischen Brief vor Cicero bei Cugusi, Evoluzione 151–157. 108 Zur Geschichte des lateinischen Briefes vgl. auch Albrecht, Geschichte 1, 408–414. 109 Vgl. Klauck, Briefliteratur 117; ders., Ancient Letters 142; Cugusi, Evoluzione 152; Albrecht, Geschichte 1, 410. 103

2.1 Der griechisch-römische Brief

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des Cato (234–149 v. Chr.) an seinen Sohn Marcus, von denen der eine in der Art eines Lehrbriefes die Pflichten eines Staatsmannes und Hausvaters darlegte.110 In dieser Tradition steht die als Brief an den eigenen Sohn stilisierte Lehrschrift de officiis des M. Tullius Cicero, die aufgrund ihrer Länge (Aufteilung in drei Bücher) an sich kaum mehr als Brief bezeichnet werden kann.111 Die umfangreiche Korrespondenz Ciceros jedoch gewährt mit der Vielfalt der Adressaten Einblick in den regen privaten Briefverkehr der römischen Oberschicht in der späten Republik.112 In Form und Inhalt stehen die Briefe Ciceros eindeutig unter dem Einfluss des griechischen Briefes.113 Ihre Publikation bestimmte die weitere Rezeption der Briefform in der römischen Literatur.114 Dies zeigt Senecas Sammlung von Kunstbriefen mit moralisch-philosophischen Unterweisungen ebenso wie die Sammlungen der (vorgeblichen) Privatbriefe des jüngeren Plinius und Frontos (vgl S. 18).115 Die literarische Qualität und Raffinesse dieser Briefe verdankt sich auch dem Umstand, dass sich der Brief in Rom spätestens in der Kaiserzeit als Stilübung des Grammatik- und Rhetorikunterrichts etabliert hatte (Quint. inst. 9,4,19–21; Plin. epist. 7,9,7f.).116 Die Verwendung des Briefes in der frühen Kaiserzeit im Kontext der römischen Rhetorenschulen für ethopoietische und stilistische Übungen dokumentieren wohl auch die beiden zusammen mit Exzerpten aus den Werken des Sallust überlieferten, sicher nicht authentischen Epistulae ad Caesarem Senem de Republica, die im Stil von beratenden Briefen C. Iulius Caesar zur Wiederherstellung der Republik auffordern.117 Mit ihren theoretischen Ausführungen zur Staatstheorie, verbunden mit moralischen Ratschlägen, sind die beiden Briefe deutlich vom (philosophischen) Lehrbrief, aber auch von der im Rhetorikunterricht gepflegten Beratungsrede (suasoria) beeinflusst. Die zunehmende Wertschätzung des Briefes als einer literarischen Kunstform in Rom dokumentiert außerdem die Praxis, dass Autoren ihren Werken einen elaborierten 110

Dazu Klauck, Briefliteratur 116; ders., Ancient Letters 141f.; Cugusi, Evoluzione 152. Dazu Gibson/Morrison, Letter 9–13. 112 Vergleichbare Briefsammlungen gab es auch von anderen Zeitgenossen Ciceros, die allerdings nicht erhalten sind, so z. B. die Briefe von Caesar (Suet. Iul. 56), M. Antonius (Suet. Aug. 86–87) und Brutus (Quint. inst. 9,4,75); vgl. Schneider, Brief (RAC) Sp. 569. 113 Im einzelnen bei Thraede, Brieftopik 27–47. 114 Vgl. Schneider, Epistolographie (KP) Sp. 326; Cugusi, Evoluzione 173–176. 115 Vgl. Thraede, Brieftopik 65–77; Peter, Brief 101–135. 116 So Thraede, Brieftopik 21 und 74. Außerdem Lebek, Epistolographie 61, der ein Graffito aus Pompeji (ca. 50–62 n. Chr.), das in Form eines gepflegten Briefes geschrieben ist, als Indiz dafür wertet, dass Briefformular und epistolare Formeln in der Kaiserzeit auch im lateinischen Bereich Gegenstand des Schulunterrichts waren. 117 Dazu Conte, Latin Literature 243; Albrecht, Geschichte 1, 368f. Die Unechtheit der Briefe zeigt sich in einem übertrieben sallustianischen Stil, der sich geradezu als Cento von Phrasen aus den authentischen Werken des Sallust charakterisieren lässt. Die Echtheit der beiden Briefe vertritt dennoch Fuhrmann, Geschichte 176f. Zu den Briefen und der Frage ihrer Authentizität vgl. auch Klauck, Ancient Letters 146f. 111

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Widmungsbrief voranstellten; solche finden sich in den Naturales Historiae des älteren Plinius, den Epigrammen des Martial und in der institutio oratoria des Quintilian.118 Die Rezeption des philosophischen Lehrbriefes (Epikur) und des wissenschaftlichen Briefessays (Dionysios von Halikarnass) in der lateinischen Literatur belegen zu Beginn der Kaiserzeit in einer artistisch übersteigerten Form die Briefgedichte des Horaz.119 Er knüpft damit an ältere, in Prosa verfasste lateinische Briefessays zu wissenschaftlichen Themen an, die bis auf wenige Fragmente und indirekte Zeugnisse verloren sind (z. B. M. Terentius Varro).120 Etwas später transponierte Ovid mit seinen Heroides (Briefe von Heroinen an ihre Ehemänner und Liebhaber) den pseudepigraphen historisch-mythologischen Brief, wie er bei den Griechen im Rhetorikunterricht gepflegt wurde, in die Gedichtform; inspiriert wurde er dazu von dem mit ihm befreundeten Sextus Propertius (ca. 49–16 v. Chr.), der bereits eine seiner Elegien als Brief der Nymphe Arethusa an ihren weit entfernten Ehemann Lycotas gestaltet hatte.121 Außerdem verfasste Ovid autobiographisch gefärbte elegische Briefgedichte, die er aus dem Exil in Tomi am Schwarzen Meer zur Publikation nach Rom schickte und in denen er seine Situation als Verbannter reflektierte und literarisch zu bewältigen versuchte (Tristiae und Epistulae ex Ponto).122 Die eigentliche Hochblüte der Briefkunst aber fällt in Rom wie in Griechenland erst in die Spätantike; dies belegen die erhaltenen Briefsammlungen des Symmachus und vor allem jene der lateinischen Kirchenväter (vgl. S. 18). Der historische Überblick hat gezeigt, dass vor allem die römische Kaiserzeit bei Griechen und Römer eine Blütezeit des Briefes war, des literarischen wie auch des nichtliterarischen, des privaten wie des geschäftliche und amtlichen. Die gefundenen Papyrusbriefe belegen darüber hinaus, dass die »Kunst« 118

Vgl. Klauck, Ancient Letters 139f.; Albrecht, Geschichte 1, 410. Nach Thraede, Gebrauchstext 190–192, gehören Briefgedichte allerdings nicht mehr zur Gattung »Brief«, weil sich in der anspruchsvollen poetischen Gestaltung einen ästhetischen Anspruch und eine Intention ausdrückt, die dem Wesen des Briefes als »Gesprächsersatz« widerspricht. Da Gespräche in Prosa geführt werden, ist auch der Brief seinem Wesen nach in Prosa geschrieben. 120 Näheres dazu bei Peter, Brief 216–221, der als weitere Verfasser lateinischer Briefessays in Prosa unter anderem Simius Capito, Verrius Flaccus, M. Valerius Messalla (64 v. Chr. – 8 n. Chr.) und C. Asinius Pollio (76 v. Chr. – 5 n. Chr.) nennt. 121 Ovid selbst rühmte sich der Neuheit seiner Heroides (ars 3,345); vgl. Conte, Latin Literature 347; zu Prop. 4,3 ebd. 336. In der griechischen Literatur ist mit den Heroides der (in Prosa verfasste) Brief des Odysseus an Kalypso in den Wahren Geschichten Lukians (2. Jh. n. Chr.) formal und inhaltlich vergleichbar; dieser Brief transformiert die Tradition allerdings ins Paradox-Komische: Odysseus bedauert, Kalypso wegen Penelope verlassen zu haben, und will nun von der Insel der Seligen fliehen, um zu ihr zu kommen. Hier zeigt sich das für die Bildungskultur des 2. Jh.s n. Chr. typische Spiel mit mythologischen und literarischen Traditionen. Vgl. dazu auch Muir, Life 199. 122 Zu den Briefgedichten des Ovid insgesamt vgl. auch Thraede, Brieftopik 47–65. 119

2.1 Der griechisch-römische Brief

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des Briefschreibens in dieser Zeit von den Ungebildeten nicht weniger gepflegt wurde als von den Gebildeten.123 In dieser Zeit entstand auch die Mehrzahl der erhaltenen literarischen Briefsammlungen, zunächst – unter dem Vorzeichen der ethopoietischen Übungen des Rhetorikunterrichts – in der Form der historischen und mythologischen Pseudepigraphie sowie des Typenbriefes, bis schließlich seit dem Beginn der Spätantike rhetorisch-literarisch ambitionierte Briefschreiber begannen, ihre stilistisch äußerst raffinierten Privatkorrespondenzen selbst zu publizieren. Diese Sammlungen belegen, wie sehr allmählich der literarische Kunstbrief zum Maßstab auch für die Gestaltung privater Briefe geworden war. Diese Entwicklung beschränkte sich sicher nicht auf die gebildete Oberschicht, sondern die publizierten Meisterleistungen der Briefkunst wurden auch von weniger gebildeten Briefschreibern nachgeahmt und prägten den allgemeinen Briefstil. Gefördert wurde diese Entwicklung dadurch, dass seit späthellenistischer und frührömischer Zeit der Brief Gegenstand des schulischen Elementarunterrichts war. 2.1.3 Brieftheorie und Briefstil Eine theoretische Reflexion über das Wesen und die Funktion des Briefes sowie eine daraus abgeleitete Stilistik des (Privat-)Briefes ist zwar erst für die Kaiserzeit eindeutig belegt; die Wurzeln der gelehrten Diskussion über den Brief und den Briefstil aber reichen wohl bis in die hellenistische Zeit zurück.124 Die ältesten erhaltenen Ausführungen zur Brieftheorie und zum Briefstil finden sich in der Schrift περὶ ἑρμηνείας (de elocutione), die unter den Werken des athenischen Staatsmanns und Literaten Demetrios von Phaleron (360–280 v. Chr.) überliefert ist; wahrscheinlich jedoch wurde diese Schrift über die verschiedenen Stilarten erst in der frühen Kaiserzeit (zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr.) auf der Basis älteren, meist peripatetischen Materials von einem uns unbekannten Verfasser zusammengestellt (Ps.-Demetrios).125 Den Brief behandelt Ps.-Demetrios in Zusammenhang mit dem schlichten Stil (§§ 223–277), »da auch der Briefstil Schlichtheit verlange« (§ 223: ἐπεὶ δὲ καὶ ἐπιστολικὸς χαρακτὴρ δεῖται ἰσχνότητος). Die theoretische Diskussion 123

Da die Papyrusbelege mehrheitlich aus Ägypten stammen, stellt man immer wieder die berechtigte Frage, ob und inwiefern man die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse über Alphabetisierung, Schulbildung, Schreibpraxis etc. auf andere Regionen des Römischen Reiches übertragen kann und darf. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass die Schreibkultur Ägyptens in griechisch-römischer Zeit weniger isoliert ist, als viele immer wieder angenommen haben. Dazu Pitts, Hellenistic Schools 22f. (hier auch Verweise auf die relevante Forschungsliteratur). 124 Dazu Koskenniemi, Studien 16; Thraede, Brieftopik 19f.; auch Ludolph, Epistolographie 25. Zu den Quellen der antiken Brieftheorie vgl. auch Malherbe, Theorists 2–6. 125 Daneben wurde immer wieder auch eine Frühdatierung des Werkes ins 3. oder 2. Jh. v. Chr. erwogen; zum Werk und den Datierungsansätzen vgl. Klauck, Briefliteratur 149; ders., Ancient Letters 184f.; Thraede, Brieftopik 19–21; Koskenniemi, Studien 22f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

über den Briefstil wird danach in der griechischen Literatur erst wieder im 3. Jahrhundert n. Chr. bei Philostrat von Lemnos fassbar, der in kritischer Auseinandersetzung mit dem Rhetor und kaiserlichen ab epistulis Aspasios von Ravenna Regeln für den Briefstil benennt (Brief gegen Aspasios: soph. 2,33,3).126 Im 4. Jahrhundert bietet noch einmal Gregor von Nazianz in seinem Brief an Nikobulos eine theoretische Abhandlung über den Briefstil (epist. 51).127 Neben den genannten Ausführungen zur Brieftheorie und zum Briefstil haben sich zwei griechische Handbücher erhalten, die durch eine Sammlung von »Musterbriefen« eine Art praktische Anleitung und Hilfestellung für das Briefschreiben bieten wollen.128 Das ältere der beiden Werke, die τύποι ἐπιστολικοί, wurde ebenfalls unter dem Namen des Demetrios von Phaleron überliefert. Der Grundbestand der τύποι ἐπιστολικοί könnte bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen (2./1. Jh. v. Chr.); seine heutige Gestalt aber fand das Werk wohl erst im 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr.129 Nach einem einleitenden Abschnitt über Inhalt und Ziel des Werkes werden, jeweils mit Definition und Mustertext, 21 verschiedene »Brieftypen« vorgestellt, so z. B. der Freundschaftsbrief, der Empfehlungsbrief oder der Trostbrief. Das zweite Handbuch mit dem Titel περὶ ἐπιστολιμαίου χαρακτῆρος ist deutlich jünger (4. bis 6. Jh. n. Chr.); auch hier ist der Verfasser unbekannt. Von den beiden überlieferten Fassungen des Werkes trägt die eine den Namen des Rhetors Libanios, die andere den des Philosophen Proklos.130 In diesem jüngeren Handbuch sind die Brieftypen auf 41 angewachsen, die zudem nur teilweise mit denen in den τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios übereinstimmen. Im lateinischen Bereich findet sich erst im 4. Jahrhundert n. Chr. eine ausführliche und zusammenhängende theoretische Darstellung über Form und Stil des Briefes bei Iulius Victor in seinem Handbuch der Rhetorik (ars rhetorica). In einem eigenen Kapitel de epistulis findet sich am Ende des Handbuchs eine detaillierte Anleitung für die Form und den Inhalt des Briefes. Inhaltlich stimmen die Ausführungen des Iulius Victor mit der griechischen Brieftheorie überein.131 Dass man in Rom jedoch bereits wesentlich früher mit der gelehr126 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 190; Stowers, Letter Writing 34; Koskenniemi, Studien 20 und 29f. 127 Vgl. Koskenniemi, Studien 20; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 190. 128 Mit Olsson, Papyrusbriefe 6, muss man wohl festhalten, dass es sicher mehr als die beiden erhaltenen Handbücher gab, sowie dass an verschiedenen Orten auch verschiedene Handbücher in Gebrauch waren, die mitunter zu lokalen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten in der formalen Gestaltung von Briefen geführt haben könnten. 129 Zu Inhalt und Datierung des Werkes Klauck, Briefliteratur 157f.; ders., Ancient Letters 194f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 190f.; Thraede, Brieftopik 26; Koskenniemi, Studien 54–56. 130 Zum Werk vgl. Klauck, Briefliteratur 163; ders., Ancient Letters 202f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 191; Koskenniemi, Studien 56f. 131 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 190; Koskenniemi, Studien 31f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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ten griechischen Brieftheorie vertraut war, zeigen verschiedene Anspielungen auf das Wesen, die Form und den Stil des Briefes in den Briefen Ciceros (z. B. fam. 2,4; 4,13; 12,30,1; 15,16).132 Vertrautheit mit der griechischen Brieftheorie verraten auch gelegentliche Anspielungen in den Briefgedichten des Ovid (z. B. trist. 3,8,1–10; 4,4,23–26; Pont. 1,2,5–8; 2,10,17–20) und in den literarischen Briefsammlungen Senecas (z. B. epist. 75,1–2; 118,1–3) und des jüngeren Plinius (z. B. epist. 1,11; 2,5,12; 5,1,12).133 Da die genannten griechischen und lateinischen Autoren bzw. Werke in den Aussagen über das Wesen, den Stil und die Form des Briefes weitgehend übereinstimmen, kann sich eine Darstellung der antiken Brieftheorie mit den ältesten Ausführungen darüber bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας begnügen.134 Ergänzend ist ein Blick in das Handbuch des Ps.-Demetrios nötig, das gewissermaßen als Anleitung für die Umsetzung der Brieftheorie in der Praxis verstanden werden kann (das in seinen Grundzügen ähnliche Handbuch des Ps.Proklos/Libanios kann unberücksichtigt bleiben, da es trotz aller Unterschiede zumindest in den Grundzügen mit den τύποι ἐπιστολικοί übereinstimmt und zudem erst deutlich später entstanden ist).135 Die Tatsache, dass Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας die Brieftheorie und den Briefstil als eine Art Exkurs an die Ausführungen über den schlichten Stil (γένος ἰσχνόν; genus tenue/humile) anfügt, wird meist als Hinweis darauf gewertet, dass das Thema in der frühen Kaiserzeit aktuell war, aber noch keinen festen Platz in den rhetorischen Handbüchern hatte.136 Konkreter Anlass für den Exkurs war offensichtlich das Unbehagen des Verfasser mit der Praxis des Briefschreibens in seiner Zeit, die ihm als Verwilderung und Entartung des Briefes erschien. Ps.-Demetrios wollte deshalb seine Leser über das Wesen des Briefes belehren, damit sie die schlimmsten Verstöße gegen die angemessene Form und den angemessenen Inhalt des Briefes erkennen und künftig vermeiden konnten. Dennoch führt es wohl zu weit, die Schrift περὶ ἑρμηνείας als eine Art Reformprogramm für den Rhetorikunterricht zu verstehen, der den (Kunst-)Brief als ethopoietische Übung instrumentalisierte, die Unterweisung im alltäglichen Privatbrief aber vernachlässigte.137 Ps.-Demetrios selbst gibt klar zu erkennen, dass seine Überlegungen eine ältere theoretische Diskussion über Wesen und Stil des Briefes voraussetzen. 132

Vgl. Thraede, Brieftopik 27f.; Koskenniemi, Studien 32f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 190. 133 Im einzelnen zu den Elementen der gelehrten Brieftheorie bei den genannten Autoren Thraede, Brieftopik 47–77. 134 Vgl. Koskenniemi, Studien 27. 135 So Koskenniemi, Studien 54, der die beiden Briefsteller als »Verbindungsglied zwischen Brieftheorie und der Praxis« bezeichnet. 136 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 189; Koskenniemi, Studien 23. 137 Koskenniemi, Studien 23f., sah darin das eigentliche Ziel der Ausführungen über den Brief bei Ps.-Demetrios; skeptisch dazu dagegen Thraede, Brieftopik 20f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Denn gleich zu Beginn seiner Ausführung zitiert er die Definition des Briefes eines nicht näher bekannten Artemon (§ 223), der möglicherweise schon in der Zeit vor dem 2. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat. Dieser Artemon konnte in den Augen des Ps.-Demetrios offensichtlich deshalb als eine ausgewiesene Autorität auf dem Gebiet des Briefes gelten, weil er – wie ausdrücklich anmerkt wird – eine (uns nicht erhaltene) Sammlung der Briefe des Aristoteles herausgegeben hat.138 Dieser Artemon verglich den Brief mit der literarischen Gattung (!) des Dialogs. Da nämlich der Brief gleichsam »den einen Teil eines Dialogs« (τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου) darstelle, gelten für beide auch dieselben stilistischen Vorschriften, d. h. beide sollten den Stil des Gesprächs nachahmen. Aus der Tatsache, dass Artemon die Briefe des Aristoteles edierte, folgerte man, dass er selbst dessen Schule angehörte und deshalb auch die von ihm vertretene Brieftheorie in ihren wesentlichen Teilen für aristotelisch (bzw. peripatetisch) gehalten werden müsse; doch lässt sich eine solche Annahme nicht zwingend beweisen.139 Ps.-Demetrios signalisiert zwar seine prinzipielle Zustimmung, formuliert gleichzeitig aber eine grundsätzliche Kritik an der Definition des Artemon. Auch wenn Brief und Dialog einander ähnlich sind, so müssen beide dennoch funktional und formal unterschieden werden (§§ 224f.). Gemeinsam ist beiden ihre Rückbindung an das mündliche Gespräch. Damit stehen sowohl der Dialog als auch der Brief zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Während jedoch der Dialog lediglich eine literarische Nachahmung des Gesprächs ist (μιμεῖται), ist der Brief ein reales Gespräch, das sich allerdings im Medium der Schrift vollzieht (§ 231: δι’ ἐπιστολῆς λαλεῖν).140 Aufgrund dieser unterschiedlichen Funktion gelten für beide auch andere Prinzipien der formalen Gestaltung. Als Nachahmung des Gespräches muss der Dialog in Sprache und Gedankenführung möglichst spontan und improvisiert wirken. Da der Brief dagegen seinem Wesen nach eine schriftliche Mitteilung ist, gebührt ihm seitens des Verfassers auch die der Schriftlichkeit angemessene stilistische Sorgfalt und inhaltliche Planung. Die Forderung nach einem gegenüber dem Dialog gehobeneren Stil des Briefes begründet Ps.-Demetrios zusätzlich mit dem Hinweis, dass der Brief gewissermaßen ein Geschenk seines Schreibers an den Adressaten darstellt (§ 224). Damit zielt Ps.-Demetrios wohl auf eine in der 138

Näheres bei Koskenniemi, Studien 24–26; antike Belege für Artemon als Herausgeber der Briefe des Aristoteles ebd. 24 Anm. 3. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 189, identifizierte den bei Ps.-Demetrios genannten Artemon mit dem Grammatiker Artemon von Kassandreia aus dem 2. Jh. v. Chr.; diese allein auf der Namensgleichheit beruhende Gleichsetzung lässt sich jedoch nicht beweisen. 139 Herleitung der gesamten Brieftheorie des Artemon von Aristoteles bei Koskenniemi, Studien 24–27; ähnlich Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 189; Klauck, Briefliteratur 152; ders., Ancient Letters 184; ablehnend dazu dagegen Thraede, Brieftopik 20f. Vgl. außerdem White, Light 190f. 140 Ähnlich auch Thraede, Brieftopik 22f.; Koskenniemi, Studien 52.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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Schriftlichkeit begründete größere Materialität und Qualität des Briefes gegenüber den bloß mündlichen Äußerungen im Gespräch. Den Vergleich des Briefes mit dem Dialog macht Ps.-Demetrios noch in einem weiteren Punkt für seine theoretischen Überlegungen zur Funktion und zum Stil des Briefes fruchtbar. Wie der Verfasser eines Dialogs darauf zu achten hat, dass er die Charaktere der verschiedenen darin auftretenden Sprecher wahrt, so hat der Briefschreiber sorgfältig darauf zu achten, dass im Brief seine eigene Persönlichkeit, sein eigener Charakter (τὸ ἠϑικόν) treffend zum Ausdruck gebracht wird (§ 227).141 Dabei geht Ps.-Demetrios davon aus, dass der Brief wie jedes andere Schriftstück auch ganz von selbst und unweigerlich Rückschlüsse auf die Persönlichkeit seines Verfassers erlaubt. Dieser zunächst ungewollte und ungeplante Ausdruck der eigenen Persönlichkeit lässt sich aber durch geeignete stilistische und rhetorische Mittel bewusst gestalten. Im Hintergrund steht die Kunst der ἠϑοποιία, die der Briefschreiber nun ebenso auf sich selbst anwenden soll, wie zuvor im Rhetorikunterricht auf mythische, historische und fiktive Personen. Der Briefschreiber ist deshalb dazu angehalten, Worte und Stil so zu wählen, dass sie zu seinem Charakter (τὸ ἠϑικόν) passen. Dann wird der Brief zum wahren Spiegel seiner Seele, zum getreuen Abbild seines eigenen Selbst (εἰκὼν τῆς ψυχῆς). Damit sagt Ps.-Demetrios auch etwas über das Wesen und die Funktion des Briefes. Denn als Spiegel der Seele ist der Brief mehr als nur ein Mittel der Nachrichtenübermittlung; vielmehr schafft der Brief eine persönliche Begegnung, indem er die Person des Schreibers beim Adressaten gegenwärtig werden lässt.142 Für Ps.-Demetrios ergeben sich demnach aus der Definition des Briefes die Grundsätze des Briefstils: Stilistisch orientiert der Brief sich zwar am mündlichen Gespräch, verlangt wegen seiner Schriftlichkeit aber einen gegenüber dem alltäglichen Gespräch gehobeneren Stil; zugleich muss der Stil des Briefes der Person des Verfassers angemessen sein. Über diese allgemeinen Bestimmungen hinaus leitet Ps.-Demetrios aus der Verwandtschaft des Briefes mit dem mündlichen Gespräch weitere konkrete Regeln des Briefstils ab.143 Trotz seiner stilistischen Nähe zum Gespräch darf der Brief den Duktus des alltäglichen Sprechens nicht einfach nachahmen, sondern hat in der sprachlichen Form auf Klarheit und Eindeutigkeit zu achten (dies ist die von der rhetorischen Theorie geforderte Qualität der perspicuitas bzw. σαφήνεια, wie sie vor allem dem »schlichten Stil« eignet; vgl. Quint. inst. 8,2,22f.; 8,3,1.3; 12,10,59; 141 Dazu insgesamt Thraede, Brieftopik 23f.; vgl. auch Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 194f. Dagegen versteht Koskenniemi, Studien 40, die Aussage als Forderung, »dass im Brief ein persönlicher Ton (τὸ ἠϑικόν) herrschen soll«. 142 Vorsichtiger Koskenniemi, Studien 40f. Mustergültig formuliert den Zusammenhang von εἰκὼν τῆς ψυχῆς und Vergegenwärtigung des räumlich abwesenden Briefschreibers Basilius in seinem Brief an Jovinus (374 n. Chr.). 143 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 192.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Cic. orat. 23,76–26,90; Aristot. rhet. 3,2 [1404b]).144 Der Brief muss deshalb das für die Mündlichkeit typische Asyndeton meiden, da es zu Unklarheiten und Verständnisschwierigkeiten führen kann, die aufgrund der räumlichen Trennung zwischen den Briefpartnern und der zeitlich versetzten Kommunikation nicht sofort behoben werden können (§ 226).145 Bei dem Bemühen um einen gegenüber dem alltäglichen Sprechen gehobeneren Stil muss der Briefschreiber aber sorgsam darauf achten, nicht in die feierliche und metaphorische Sprache der Festreden (ἐπιδεικνύμενος) abzugleiten (§ 225).146 Ebenso hat er den komplizierten Periodenbau zu vermeiden, wie er z. B. bei Gerichtsrede (δίκη) üblich ist (§ 229). Damit bestimmt Ps.-Demetrios den Stil des Briefes als die Mitte zwischen den beiden anderen Gattungen, die der Mündlichkeit nahe stehen: dem bereits in der Definition genannten Dialog und der öffentlichen Rede.147 Zusammenfassend fordert er deshalb für den Brief einen schlichten Stil, der aber, vor allem wenn es der bzw. die Adressaten nahe legen, Elemente des gehobenen Stils enthalten kann und soll (§ 234f.).148 Ein Aspekt, der das Wesen und den Stil des Briefes tangiert, ist für Ps.-Demetrios auch die Frage seines angemessenen Umfangs. Dazu merkt er lapidar an, dass der Brief kurz sein muss, sonst handle es sich nicht mehr um einen Brief, sondern um einen Traktat mit Briefeinleitung (§ 228).149 Der echte Brief ist also kurz in Gegensatz zum entartetem Brief, d. h. dem philosophischen Lehrbrief und dem wissenschaftlichen Briefessay. Die Theorie und Definition des Briefes bei Ps.-Demetrios enthält noch ein weiteres, zunächst unausgesprochenes Element, aus dem sich die briefgemäßen Inhalte (πράγματα ἐπιστολικά) ergeben.150 Aus dem Vergleich mit dem Dialog abgeleitet, kann man den Brief durchaus die eine »Hälfte eines Gesprächs« nennen, das sich im Schreiben und Lesen vollzieht; zu ergänzen aber ist, dass es sich für Ps.-Demetrios beim Brief nicht um ein Gespräch zwischen beliebigen Personen handelt, sondern um ein Gespräch zwischen Freunden.151 144 Dazu auch Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 193; Cugusi, Evoluzione 45. Zum einfachen Stil (γένος ἰσχνόν; genus tenue/humile) allgemein vgl. Lausberg, Handbuch § 1079,1; Ueding/Steinbrink, Grundriß 232f. 145 White, Light 190f., fügt erklärend hinzu, dass die Klarheit und Eindeutig des Ausdrucks im Brief nötig ist, da die räumliche Trennung anders als im mündlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht die sofortige klärende Rückfrage nicht erlaubt. 146 Vgl. Koskenniemi, Studien 23f. 147 Ähnlich auch Koskenniemi, Studien 42–44. 148 Zu der von Ps.-Demetrios in § 235 angesprochenen Stilmischung vgl. auch Klauck, Briefliteratur 151 Anm. 12; ders., Ancient Letters 187 Anm. 11. Zu den einzelnen Stilarten (χαρακτῆρες τῆς λέξεως/genera dicendi) und ihren Charakteristika vgl. Ueding/Steinbrink, Rhetorik 231–234. 149 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 193; Cugusi, Evoluzione 69 und 74f. 150 Zur Herleitung der briefgemäßen Inhalte aus der Brieftheorie insgesamt vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 192f. 151 Vgl. Thraede, Brieftopik 22; Koskenniemi, Studien 35.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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Deshalb kann er den Brief als Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung (φιλοφρόνησις) definieren (§ 231). Der dem Brief angemessene Inhalt ist demnach das, was sich Freunde auch mündlich zu sagen haben.152 Der Brief handelt folglich in einfachen Worten über einen einfachen Gegenstand (περὶ ἁπλοῦ πράγματος ἔκϑεσις καὶ ἐν ὀνόμασιν ἁπλοῖς). Es verbieten sich dagegen logische Spitzfindigkeiten (σοφίσματα) sowie naturphilosophische Spekulationen (φυσιολογίαι; § 231) ebenso wie das Aufreihen von Sentenzen (γνωμολογεῖν) und Mahnungen (προτρέπεσϑαι; § 232). Damit werden der philosophische Lehrbrief und der wissenschaftliche Briefessay, wie bereits zuvor durch ihren Umfang, nun auch über ihren Inhalt als Entartung des Briefes ausgewiesen. Dennoch steht nach Meinung des Ps.-Demetrios auch dem echten Brief eine gewisse Geistigkeit an, nämlich volkstümliche Weisheiten, wie sie die Sprichwörter (παροιμίαι) verkörpern. Damit wird zwar die Schulweisheit aus dem Brief ausgeschlossen, nicht aber die Popularphilosophie.153 Ausgehend von den Ausführungen bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας lässt sich die griechische Brieftheorie unter den folgenden drei Stichworten zusammenfassen:154 1. φιλοφρόνησις: Der Brief gründet auf der Freundschaft zwischen dem Briefschreiber und seinem Adressaten.155 Er soll in gepflegtem Stil ihrer freundschaftlichen Gesinnung durch Freundschaftsbekundungen (§ 231: φιλικαὶ φρονήσεις) Ausdruck geben.156 Der kultivierte Freundschaftsbrief ist für Ps.-Demetrios und die griechische Brieftheorie insgesamt der Normalund Idealfall des (echten) Briefes.157 — 2. παρουσία: Die räumliche Trennung 152

Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 838. Näheres bei Thraede, Brieftopik 24f. Zum antiken (popular-)philosophischen Freundschaftsbegriff vgl. die Ausführungen auf S. 253f. mit S. 254, Anm. 339 (Quellen und Belege). 154 So zuerst bei Koskenniemi, Studien 35–47; zustimmend Klauck, Briefliteratur 153; ders., Ancient Letters 189. Von den drei Begriffen findet sich bei Ps.-Demetrios freilich nur φιλοφρόνησις; die beiden anderen lassen sich aus späteren brieftheoretischen Ausführungen herleiten. Vgl. auch die zusammenfassende Definition bei White, Documentary Letter 91. 155 Der (echte) Brief setzt folglich in der antiken Sicht eine vorausgehende persönliche Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern voraus. Der amtliche und offizielle Brief kann deshalb eigentlich nicht in den Bereich der Brieftheorie gehören; damit würden für ihn die von Ps.-Demetrios dargelegten formalen und inhaltlichen Regeln des Briefstils streng genommen nicht gelten. In § 234 deutet Ps.-Demetrios jedoch an, dass auch amtliche und offizielle Schreiben letztlich durch die Brieftheorie erfasst und damit unter die Regeln des Briefstils fallen. Dazu Koskenniemi, Studien 48f.; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 193. 156 Der Inhalt des Briefes erschöpft sich dennoch nicht in solchen Freundschaftsbekundungen, wie die Zusammenfassung bei Thraede, Brieftopik 24f., insinuiert. 157 Vgl. Thraede, Brieftopik 3. Unter den erhaltenen griechischen Papyrusbriefen aus der Zeit des Demetrius findet sich allerdings keiner, der diesen Typ vertritt. Dennoch kann man wohl nicht davon ausgehen, dass der Freundschaftsbrief erst im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden ist. Denn mit den Briefen Ciceros liegen zumindest hinreichende Beispiele für den lateinischen Freundschaftsbrief im 1. Jh. v. Chr. vor. Cicero und seine Briefpartner dürften kaum erst die Erfinder dieses Brieftyps gewesen sein. Dazu Thraede, Brieftopik 21; gegen Koskenniemi, Studien 120f. 153

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

(ἀπουσία) der Briefpartner stellt eine Krise und Gefährdung ihrer Freundschaft dar, die der Brief überwinden und bewältigen soll.158 Denn im Brief wird der Absender beim Adressaten gegenwärtig.159 Im Brief ereignet sich also die reale Begegnung der Freunde. — 3. ὁμιλία: Der Brief ist folglich ein wirkliches Gespräch (ὁμιλία), wenn auch die Mündlichkeit durch das Medium der Schrift ersetzt ist.160 Weil der Brief folglich als Gespräch unter Freunden definiert werden kann, ist sein Inhalt idealtypisch all das, was Freunde sich auch sonst zu sagen pflegen. Auch der wahrscheinlich etwas später lebende anonyme Verfasser der τύποι ἐπιστολικοί (2./3. Jh. n. Chr.) ist der Überzeugung, dass es mit der Praxis des Briefschreibens in seiner Zeit nicht zum besten steht; anders als der Verfasser von περὶ ἑρμηνείας aber hat er nicht den Privatbrief im Blick, sondern den offiziellen und amtlichen Briefverkehr in der Bürokratie und Verwaltung (dies zeigt sich auch darin, dass unter den vorgestellten Brieftypen, anders als im Handbuch des Ps.-Proklos/Libanios, der Liebesbrief fehlt). Diese Briefe sollten möglichst kunstvoll abgefasst werden (τέχνικῶτατα γράφεσϑαι), tatsächlich aber – so kritisiert der Verfasser in der Einleitung seines Werkes – werden sie von denen, die von den Inhabern öffentlicher Ämter damit beauftragt sind, aufs Geratewohl (ὡς ἔτυχεν) abgefasst.161 Bei den intendierten Lesern der Schrift handelt es sich also ganz offensichtlich nicht um Anfänger, sondern professionelle Epistolographen, d. h. um die Schreiber und Sekretäre der staatlichen Kanzleien, evtl. auch um höhere Beamte.162 Die τύποι ἐπιστολικοί sind also kein einführendes Lehrbuch für den Schulunterricht. Dies zeigt sich auch daran, dass elementare Dinge wie das Briefformular mit seinem formelhaften Einleitungs- und Schlussteil nicht besprochen und vorgestellt werden.163 Nicht völlig klar wird, ob der Verfasser bei seinen Lesern in der Schule Gelerntes nur auffrischen will, oder ob er mit seinen Ausführungen über die übliche schulische Unterweisung im Briefschreiben hinausgehen und Wissenslücken schließen will, die er für die Defizite im Briefstil verantwortlich sieht. Nach den kurzen einleitenden Anmerkungen über Anlass und Intention seines Werkes geht der Verfasser sofort zur Darstellung der 21 Brieftypen (τύποι ἐπιστολικοί) über. Für jeden Brieftyp bietet er eine meist nicht sehr ausführliche Definition, die seine Funktion und Verwendungssituation angibt, sowie einen kurzen illustrierenden Musterbrief (ohne die übliche Einleitungsund Schlussformel des Briefes). Dahinter steht die bereits in der Widmung am 158

Vgl. Koskenniemi, Studien 37; Klauck, Briefliteratur 155f.; ders., Ancient Letters 189; Thraede, Brieftopik 39. 44–47 u.ö. 159 Vgl. Koskenniemi, Studien 38f. 160 Bei Ps.-Proklos/Libanios περὶ ἐπιστολιμαίου χαρακτῆρος als ὁμιλία τις ἐγγράμματος aus (27,8) formuliert. Vgl. Koskenniemi, Studien 42–47; dazu auch Cugusi, Evoluzione 73f. 161 Vgl. Koskenniemi, Studien 55. 162 Vgl. Klauck, Briefliteratur 159; ders., Ancient Letters 197; Muir, Life 20. 163 So Klauck, Briefliteratur 162 ders., Ancient Letters 201.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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Anfang des Werkes ausgedrückte Überzeugung, dass es eine genau bestimmte Zahl von Briefsituationen gibt und dass jede Briefsituation ihr eigenes Darstellungsmuster verlangt. Die Aufgabe des Briefschreibers ist es, die Briefsituation richtig zu bestimmen und das dazu passende Darstellungsmuster zu wählen. Die Briefsituation besteht dabei nicht nur aus dem konkreten Anlass des Briefes (Bitte, Empfehlung, Beschwerde etc.), sondern schließt auch die gesellschaftliche Stellung der Briefpartner und ihre Relation zueinander zwingend ein.164 Der Briefschreiber hat also immer zu berücksichtigen, ob der Brief – aus der Sicht des Absenders (nicht des Schreibers) – an einen sozial niedriger, höher oder gleich Gestellten adressiert ist. Die bei den einzelnen Brieftypen angeführten Musterbriefe wollen also nicht als Formulare verstanden werden, die der Briefschreiber nach den notwendigen Anpassungen für den aktuellen Anlass mehr oder weniger wörtlich übernehmen kann. Die Musterbriefe sollen vielmehr als Orientierung und Anleitung dafür dienen, wie man für eine konkrete Briefsituation einen Brief schreibt, der in Ton und Stil dem Absender, dem Adressaten und dem Anlass gleichermaßen angemessen ist.165 Die verschiedenen Brieftypen des Ps.-Demetrios sind für den heutigen Leser in ihrer genauen Absicht und Funktion teilweise nur schwer zu identifizieren und gegeneinander abzugrenzen. Völlig unproblematisch ist es, Brieftypen wie den Empfehlungsbrief (συστατικός), den Dankesbrief (ἀνευχαριστικός) oder den Trostbrief (παραμυϑητικός) zu unterscheiden. Zwischen einem Brief, der Vorhaltungen macht (μεμπτικός), einem vorwurfsvollen Brief (ὀνειδιστικός), einem Scheltbrief (ἐπιτιμητικός), einem zurechtweisenden Brief (νουϑετητικός) und einem tadelnden Brief (ψεκτικός) dagegen sind Unterschiede, wenn überhaupt, dann nur als Nuancen wahrnehmbar, die den Ansatz eines eigenen Brieftyps aus der Sicht heutiger Leser des Handbuchs kaum zu rechtfertigen scheinen.166 Der Grund für solche Differenzierungen war wohl das Bestreben des Verfassers, verschiedene Nuancen der Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern mit jeweils einem eigenen Brieftyp zu benennen.167 Die Brieftypen eignen sich deshalb nur mit Einschränkungen für die Kategorisierung der erhaltenen antiken Briefe, geben aber Auskunft über die sozialen Situationen, in denen man Briefe schrieb, sowie darüber, in welchem Stil und welcher Tonlage man je nach der gesellschaftlichen Relation zwischen Absender und Adressat brieflich kommunizierte.168 164 Ausführlich dazu Stowers, Letter Writing 52–56; vgl. auch Koskenniemi, Studien 62; White, Light 190. 165 Vgl. Klauck, Briefliteratur 162f.; ders., Ancient Letters 201f.; Koskenniemi, Studien 62. Wie wichtig für die Griechen die Frage nach dem angemessenem Ton im Umgang miteinander (und damit auch im Brief) war, zeigen bereits die Einlassungen bei Theophrast (char. 24,13) oder Ariston (VI 36 fr. 14,ii); vgl. Muir, Life 4f. 166 So auch Klauck, Briefliteratur 159; ders., Ancient Letters 198; White, Light 202f. 167 Dazu Koskenniemi, Studien 62. 168 Vgl. Klauck, Briefliteratur 162f.; Stowers, Letter Writing 56f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Obgleich die τύποι ἐπιστολικοί (anders als die jüngere Schrift περὶ ἐπιστολιμαίου χαρακτῆρος) auf allgemeine brieftheoretische Ausführungen verzichten, lässt sich dennoch klar erkennen, dass auch ihr Verfasser unter dem Einfluss der gängigen griechischen Brieftheorie steht. Die Tatsache nämlich, dass die Reihe der Brieftypen mit dem Freundschaftsbrief (τύπος φιλικός) beginnt, dürfte zweifelsohne dessen zentraler Stellung in der Brieftheorie geschuldet sein. Damit dürfte sich auch für Ps.-Demetrios das Wesen des Briefes über das Konzept der φιλοφρόνησις definieren.169 Der Verfasser der τύποι ἐπιστολικοί aber folgert daraus nicht, dass der Brief zwingend die Freundschaft oder sonst eine Form der persönlichen Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern voraussetzt (anders der Verfasser von περὶ ἑρμηνείας). Entsprechend definiert er den Typos des Freundschaftsbriefes als den Brief, der von einem Freund an einen Freund geschrieben zu sein scheint (ὁ δοκῶν ὑπὸ φίλου γράφεσϑαι πρὸς φίλον). In der Realität nämlich wird ein Amtsträger immer wieder Briefe an Untergebene, an andere hohe Beamte oder an Vorgesetzte adressieren, ohne mit ihnen persönlich bekannt oder gar befreundet zu sein. Die hier vorausgesetzte Briefsituation des Freundschaftsbriefes ist also nicht reale Freundschaft, sondern die briefliche Kommunikation innerhalb der Administration. Die Briefe soll man dabei so gestalten, als wären sie an einen Freund geschrieben. Wie ausdrücklich zugegeben wird, ist der Ton des Freundschaftsbriefes im amtlichen Briefverkehr durch taktische Überlegungen motiviert; denn dem Anliegen eines Freundes wird man sich nicht verweigern.170 Der angebotene Musterbrief enthält dann auch die aus περὶ ἑρμηνείας bekannten Motive des Freundschaftsbriefes: Der Brief überwindet die leibliche Trennung und ist Ausdruck freundschaftlichen Gedenkens.171 Da die τύποι ἐπιστολικοί allem Anschein nach in Ägypten entstanden sind (vgl. die Erwähnung Alexandrias in § 18) und die erhaltenen Papyrusbriefe ebenfalls aus Ägypten stammen, scheint es relativ einfach, den Einfluss des Handbuches auf die Briefpraxis zu überprüfen.172 Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die τύποι ἐπιστολικοί als Handreichung für den amtlichen und offiziellen Briefverkehr von Beamten gedacht sind. Unter den Papyrusbriefen finden sich aber in erheblichem Maße Privatbriefe, die für einen solchen Ver169 Vgl. Koskenniemi, Studien 58f.; Klauck, Briefliteratur 159; ders., Ancient Letters 198; Dormeyer, Literaturgeschichte 191. Nach Thraede, Brieftopik 26, lässt sich zwar nicht eindeutig klären, ob die Ausführungen über den Freundschaftsbrief zum ältesten Bestand des Werkes gehören. »Wenn jedoch, wie allgemein anerkannt, Briefsteller bereits eingefahrene Formen zu systematisieren pflegten, dürfte zumindest inhaltlich unser τύπος φιλικός ins erste Jahrhundert [v. Chr.] zurückreichen, obwohl sein Verfasser vielleicht erst in der frühen Kaiserzeit gelebt hat« (ebd.). 170 Vgl. Klauck, Briefliteratur 162; ders., Ancient Letters 200; Thraede, Brieftopik 26f. 171 Näheres bei Thraede, Brieftopik 27; Koskenniemi, Studien 60f. 172 Die Gründe für die Annahme, dass die τύποι ἐπιστολικοί in Ägypten entstanden sind, bei Brinkmann, Briefsteller 311f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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gleich deshalb nur sehr bedingt herangezogen werden können. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass sich viele der Papyrusbriefe keinem der Typen des Handbuches zuordnen lassen.173 Zu bedenken ist auch, dass das Handbuch die Praxis professioneller Schreiber, die über eine höhere Schulbildung verfügen, regeln will. Bei den Schreibern der Papyrusbriefe dagegen handelt es sich mehrheitlich um Mitglieder der wenig gebildeten Unter- und Mittelschicht. Ein definitives Urteil über den Einfluss der τύποι ἐπιστολικοί auf die Briefpraxis ist anhand der Papyrusbriefe deshalb nicht zu gewinnen. Immerhin lässt sich für einzelne Brieftypen eine Übereinstimmung zwischen dem Briefmuster des Handbuchs und den realen Papyrusbriefen beobachten. Besonders deutlich ist die Übereinstimmung beim Empfehlungsbrief (vgl. P.Mert. II 62 [6/7 n. Chr.]; P.Oxy. IV 746 [16 n. Chr.]), aber auch beim Trostbrief (vgl. P.Oxy. I 115 [= WChr. 479; 2. Jh. n. Chr.]).174 Vorsichtig lässt sich aufgrund solcher Parallelen zwischen den Musterbriefen und den erhaltenen Papyrusbriefen vielleicht folgendermaßen über die Beziehung zwischen den τύποι ἐπιστολικοί und der alltäglichen Briefpraxis der Antike urteilen: »Die Brieftypen des Pseudo-Demetrios sind als nachträglicher Systematisierungsversuch an der brieflichen Praxis abgelesen und haben selbst nur partiell auf die Praxis zurückgewirkt.«175 Wenn auch die τύποι ἐπιστολικοί selbst nicht als Lehrbuch für den Schulunterricht intendiert waren, sondern der Auffrischung und der Vertiefung des bereits Gelernten im privaten Studium dienen sollten, so kann man dennoch davon ausgehen, dass die Brieftypen in der Kaiserzeit im Schulunterricht Gegenstand stilistischer Übungen waren.176 Einige Hinweise auf die Existenz solcher Lehrbücher haben sich unter den Papyrustexten erhalten. Auf P.Paris 63 (163/164 v. Chr.) sind neben Abschriften amtlicher Briefe (Kol. 1–7 und 13 = 173 Vgl. Koskenniemi, Studien 62. Insgesamt ist die Übereinstimmung zwischen den Mustertexten der Handbücher und den Papyrusbriefen aber doch größer als man zunächst wahrhaben wollte, wenn auch die Typen in der Regel in einem Brief nicht rein, sondern gemischt vorliegen; vgl. Olsson, Papyrusbriefe 8f. Zu bedenken ist außerdem, dass die erhaltenen Papyrusbriefe nur eine zufällige und fragmentarische Auswahl aus der tatsächlichen Briefpraxis der hellenistisch-römischen Zeit darstellen und keineswegs als repräsentativer Querschnitt gelten können. Denn unter den erhaltenen Briefen fehlen einige Gattungen, deren Existenz für die fragliche Zeit belegt ist (vor allem der Liebesbrief), und nicht alle Gattungen sind in dem Maß durch Originalbriefe vertreten, wie es ihrer tatsächlichen Verwendung in der Zeit entsprechen würde. Vgl. Gauger, Brief Sp. 210. 174 Zu den Übereinstimmungen Brinkmann, Briefsteller 312–314; Klauck, Briefliteratur 162; ders., Ancient Letters 201; zu Empfehlungsbrief und Trostbrief vgl. auch White, Documentary Letter 95f.; ders., Light 117f. und 184f. Definition und Mustertext des Empfehlungsbriefes mit Kommentierung in Abschnitt 4.2.4 dieser Studie, Textbeispiele aus dem Bereich der Papyrusbriefe und literarisch überlieferten Briefe mit kommentierenden Anmerkungen in Abschnitt 4.2.5. 175 Klauck, Briefliteratur 162, in Anschluss an Brinkmann, Briefsteller 313. 176 Vgl. White, Documentary Letter 90; ders., Light 189f.; Malherbe, Theorists 7–15.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

UPZ 110 und 111) zwei weitere Briefe notiert, wobei es sich bei dem einen um einen Brief in ärgerlichem Ton, bei dem anderen um einen Trostbrief für einen Unglücksfall handelt (Kol. 8f. und 11f. = UPZ 144 und 145). Bei diesen beiden Brieftexten handelt es sich, soweit ihre Form und ihr Inhalt erkennen lassen, ganz offensichtlich nicht um Abschriften echter Briefe, sondern um epistolographische Übungsstücke, mit denen Brieftypen eingeübt wurden.177 P.Bon. 5 (3./4. Jh. n. Chr.)178 bietet 10 bis 13 lateinische und griechische Briefe, die teilweise durch Überschriften bestimmten Brieftypen zugeordnet werden, so z. B. dem beratenden Brief (συμβουλευτική) oder dem Glückwunschbrief (συγχαριστική). Obwohl einleitende Definitionen fehlen, handelt es sich bei dem Papyrustext offensichtlich um das Fragment einer mit den τύποι ἐπιστολικοί vergleichbaren zweisprachigen Sammlung von Musterbriefen, wenn auch auf einem deutlich niedrigeren Niveau.179 2.1.4 Briefformular und Briefformeln Vorbemerkung: Der antike Brief besteht – nicht anders als der mittelalterliche und neuzeitliche – aus drei Teilen: Die stark formelhaften Teile an Anfang und Ende des Briefes rahmen das sogenannte Corpus, d. h. den eigentlichen Hauptteil des Briefes, der den Briefinhalt enthält. Der Anfangsteil, das sogenannte Präskript, besteht aus der Angabe des Absenders (superscriptio) und Adressaten (adscriptio) sowie aus einem Gruß (salutatio). Der Schlussteil, das sogenannte Postskript, formuliert eine Art Abschiedsgruß, der den Abschluss des Briefes markieren soll. Die (erhaltenen) Handbücher der antiken Briefsteller (Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios) haben auffälliger Weise dem Präskript und dem Postskript keine Aufmerksamkeit geschenkt.180 Die Konventionen und Vorschriften für diese charakteristischen und wesentlichen Teile des Briefes müssen folglich aus den erhaltenen antiken Briefen – den literarisch überlieferten und vor allem den Papyrusbriefen – erschlossen werden. A. Das Präskript des griechischen Briefes bleibt in der ganzen Antike relativ invariabel; seine Grundform lautet sowohl in den privaten als auch in den ge177

Im einzelnen bei Koskenniemi, Studien 57–59; Klauck, Briefliteratur 163f.; ders., Ancient Letters 204. Grundlegend bereits W. Schmid, Ein epistolographisches Übungsstück, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 145 (1892) 692–699. 178 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 44–57. 179 Näheres bei Koskenniemi, Studien 59; Klauck, Briefliteratur 164; ders., Ancient Letters 204f. Nach Malherbe, Theorists 4f., handelt es sich bei P.Bon. 5 nicht um das Fragment eines epistolographischen Handbuches, sondern lediglich um eine von einem Schüler, dessen Muttersprache weder Griechisch noch Latein ist, als Übung erstellte Abschrift aus einem solchen Handbuch. 180 Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es in der Antike eigene Abhandlungen über das Briefformular gab; vgl. dazu die Hinweise auf die theoretische Diskussion über das Präskript in der folgenden Anmerkung.

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schäftlichen und amtlichen Briefen ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν.181 In begrenztem Maße sind jedoch Erweiterungen möglich.182 Der Gruß kann durch eine steigernde adverbiale Bestimmung zu πόλλα/πλεῖστα χαίρειν ergänzt werden. Beim Adressaten wird seit hellenistischer Zeit häufig die Bezeichnung der verwandtschaftlichen Beziehung (τῷ πατρί, τῇ μητρί, τῷ ἀδελφῷ κτλ.) oder τῷ φιλτάτῳ/τιμιωτάτῳ als Ausdruck der Ehrerbietung angefügt.183 Auch Freunde werden gerne mit ἀδελφός tituliert.184 Erweiterungen beim Name des Adressaten oder auch Absenders sind um so ausführlicher, d. h. förmlicher, je weniger man sich persönlich bekannt war und nahe stand.185 Daraus entwickelte sich in der Kaiserzeit der Brauch, im amtlichen Briefverkehr bei den Namen von Absender und Adressaten die oft pompösen offiziellen Titulaturen möglichst vollständig aufzulisten. Im Blick auf die konkrete Funktion des Briefes und den Adressaten kann das Präskript gelegentlich auch andere Formen annehmen.186 So begnügt man sich in Privatbriefen öfter mit der abgekürzten Formulierung ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι. In Geschäftsbriefen steht meist [ὑπόμνημα] τῷ δεῖνι παρὰ τοῦ δεῖνος.187 In Petitionen an den Herrscher und hohe Magistrate wiederum wird als Zeichen der Hochachtung und Ergebenheit gerne der Adressat an die Spitze des Präskripts gestellt: τῷ δεῖνι χαίρειν ὁ δεῖνα.188 Seit spätptolemäischer Zeit findet sich zudem die Verbindung des Eröffnungsgrußes mit einem Gesundheits181 Zur Herleitung und zum Hintergrund dieses an sich unvollständigen Satzes, mit dem der Brief eröffnet wird, vgl. Klauck, Briefliteratur 36f.; ders., Ancient Letters 18f.; Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 839; Koskenniemi, Studien 155–158. Die eigenartige Formel ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν wurde bereits in der Antike diskutiert; entsprechende Ausführungen fanden sich bei Apollonios Dyskolos in seinem Werk über die Syntax; außerdem gab es eine Monographie eines nicht näher identifizierbaren Dionysios über das χαίρειν im Präskript (Schol. in Aristoph. Plut. V. 322: περὶ τοῦ ἐν τῇ συνηϑείᾳ χαίρειν τοῦ τε ἐν ταῖς ἐπιστολαῖς γέγραπται). Ausführlich dazu bei Gerhard, Untersuchungen 27–38. 182 Vgl. Exler, Form 62f.; White, Documentary Letter 93f. 183 Der Hintergrund für die Einfügung solcher quasi-titularer Erweiterungen der Anrede in den Präskripten durch Verwandtschaftsbezeichnungen und ähnliches ist nach Gauger, Brief Sp. 210, das Hoftitelsystem der hellenistischen Monarchien mit seiner Vorstellung von der »Familie« des Herrschers, zu der auch Freunde, Vertraute, Beamte etc. gerechnet wurden. Die daraus abgeleitet Bezeichnung als Verwandter und Freund des Königs wurde damit zum auszeichnenden Titel. Diese Praxis wurde in weiten Kreisen der Gesellschaft dieser Reiche in den privaten Beziehungen nachgeahmt. Näheres zum Hoftitelsystem der hellenistischen Reiche bei H. H. Schmitt, Hoftitel. Lexikon des Hellenismus, Sp. 463–465. 184 Näheres bei Koskenniemi, Studien 97–104. 185 Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 839; außerdem Koskenniemi, Studien 95–97. 186 Vgl. Exler, Form 64; Tite, How to Begin 60–66. 187 Dazu auch Gerhard, Untersuchungen 58f. 188 Im einzelnen bei Exler, Form 64–68. Außer den genannten Formen des Präskripts finden sich auch stark abgekürzte Formeln wie τῷ δεῖνι [χαίρειν] und παρὰ δεῖνος oder sonstige Varianten wie παρὰ δεῖνος τῷ δεῖνι [χαίρειν] oder τῷ δεῖνι ὁ δεῖνα χαίρειν. Vgl. auch White, Documentary Letter 94; Koskenniemi, Studien 157–161.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

wunsch in der Form χαίρειν καὶ ἐρρῶσϑαι, die im 1. Jahrhundert n. Chr. in die Formulierung χαίρειν καὶ [διὰ παντὸς] ὑγιαίνειν abgewandelt wird. Insgesamt aber sind die Möglichkeiten der Variation nach dem Zeugnis der Papyrusbriefe gering.189 Ein fiktiver Brief des Dionysios an Speusippos (Kynikerbriefe) allerdings suggeriert, dass der Schreiber die Form des Präskripts relativ frei gestalten und mit der Wahl des Eröffnungsgrußes seine Lebensphilosophie ausdrücken könne.190 In der Tat scheinen Philosophen in ihren Briefen öfter eine abweichende Form des Eingangsgrußes verwendet zu haben (εὖ πράττειν bei Platon; εὖ διάγειν, ὑγιαίνειν und andere bei Epikur); Reflexe davon finden sich auch in einigen Papyrusbriefen (vgl. z. B. P.Bad. IV 51,1f. [2. Jh. v. Chr.] χαίρειν καὶ διὰ παντὸς ἐρρωμένον ζῆν ἀλύπως191; P.Mil. Vogl. I 11,1 [1. Jh. n. Chr.] εὖ πράττειν; P.Oxy. XIV 1664,1–3 [= SP I 148; ca. 200 n. Chr.] χαῖρε, κύριέ μου Ἀπίων, Φιλοσάραπίς σε προσαγορεύω εὐχόμενός σε σώζεσϑαι πανοικησίᾳ καὶ εὖ διάγειν192).193 Außerdem belegen die Papyrusbriefe, dass man in Kondolenzschreiben und Trostbriefen χαίρειν ob seiner wörtlichen Bedeutung für unpassend erachtete und deshalb gelegentlich durch εὖ πράττειν bzw. εὖ πράσσειν (P.Ross. Georg III 2,1 [ca. 270 n. Chr.]; P.Fouad 80,1f. [4. Jh. n. Chr.]194), εὐψυχεῖν (P.Oxy. I 115,1f. [= WChr. 479; 2. Jh. n. Chr.]195) oder 189 Vgl. dazu jedoch die Auflistung von Varianten bei Arzt, Philemon (PKNT) 121; zu den Variationen der salutatio in den Papyrusbriefen insgesamt ebd. 117–122. 190 Zum Brief des Dionysios an Speusippos Stowers, Letter Writing 20f.; vgl. auch Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 195, der auf Procl. 21,8 verweist, wo ausdrücklich für die traditionelle Form des Präskripts ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν plädiert werde. Beides könnte ein Hinweis sein, dass – freilich in sehr begrenztem Maße – in Kreisen der Gebildeten in späterer Zeit mit der Formulierung des Briefpräskripts »experimentiert« wurde. 191 Der Eingangsgruß in P.Bad. IV 51 variiert die bereits vorgestellte Verbindung von Eingangsgruß und formula valetudinis, die traditionell lautet χαίρειν καὶ ἐρρῶσϑαι bzw. seit dem 1. Jh n. Chr. χαίρειν καὶ [διὰ παντὸς] ὑγιαίνειν. Insofern kann man hier – trotz des Vorhandenseins des traditionellen Grußwortes χαίρειν – von einer unkonventionellen Modifikation des üblichen Eingangsgrußes des antiken griechischen Briefes sprechen. In der Formulierung des Gesundheitswunsches lehnt sich der Brief an die Proskynema-Formel an, ohne aber deren traditionelles Vokabular zu benutzen; zur Proskynema-Formel vgl. S. 48. 192 Auch in P.Oxy. XIV 1664 ist das traditionelle Grußort χαίρειν vorhanden (zur Formulierung des Präskripts und des Eingangsgrußes als direkte Anrede an den Adressaten vgl. die Angaben oben im Haupttext) und auch hier handelt es sich um eine unkonventionelle Variation des üblichen mit der formula valetudinis verbundenen Eingangsgrußes. Der Text des Briefes mit deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar bei Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 12–27 [Nr. 2], zu Präskript und Eingangsgruß ebd. 13–17. 193 Vgl. Koskenniemi, Studien 163; Parsons, Background 7. 194 Der relativ umfangreiche, in gebildeter Sprache und gutem Stil geschriebene Brief des Arztes Eudaimon an seine Mutter und seine Geschwister ist kein Kondolenzschreiben, sondern ein Trostbrief in einer aufgrund der Lücken des Textes nicht mehr genau bestimmbaren schwierigen Situation (möglicherweise ein Rechtsstreit in Erbschaftsangelegenheiten). 195 Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 172, merken zu Irene, der Absenderin des Briefes, an: »… the overall impression is one of a fairly well educated person writing under emotional

2.1 Der griechisch-römische Brief

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εὐϑυμεῖν (PSI XII 1248,1f. [235 n. Chr.]) ersetzte.196 Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. finden sich in den Papyrusbriefen außerdem Belege dafür, dass man im Eingangsgruß den Adressaten direkt anredete, entweder mit dem Imperativ χαίρε oder dem Optativ χαίροις (vgl. dazu S. 70).197 B. Das Corpus des Briefes besteht aus drei Teilen: Die Corpuseröffnung leitet vom Eröffnungsgruß zum Corpus, d. h. dem Hauptteil des Briefes, über, die Corpusmitte formuliert das eigentliche Anliegen des Briefe (Bitte, Dank, Lob, Empfehlung etc.) und der Corpusabschluss leitet zum Schlussgruß über.198 Die Corpuseröffnung und der Corpusabschluss thematisieren die Kontaktpflege zwischen den räumlich getrennten Briefpartner im Medium des Briefes und definieren ihre soziale Beziehung zueinander.199 Diese beiden rahmenden Abschnitte bestehen weitgehend aus konventionellen formelhaften Wendungen, die der individuellen Gestaltung nur wenig Raum lassen; konventionelle Phrasen und Formeln finden sich aber auch in der Corpusmitte.200 Für das Verständnis der meisten dieser brieflichen Formeln ist zu beachten, dass sie vor dem Hintergrund der Brieftheorie die nach antiker Auffassung für den Brief wesentliche freundschaftliche Gesinnung (φιλοφρόνησις) ausdrücken sollen. Deshalb darf man aus diesen Ausdrücken der Vertrautheit und Herzlichkeit nicht automatisch auf eine reale freundschaftliche Beziehung, nicht einmal auf eine Bekanntschaft zwischen den Briefpartnern schließen. Diese Formeln werden vielmehr stereotyp und unabhängig von der realen Beziehung zwischen den Briefpartnern gebraucht. (1) Formeln der Corpuseröffnung:201 Auch in förmlichen Briefen beginnt das Corpus mit einem Gesundheits- oder Wohlergehenswunsch (formula valetudinis), der zwar ursprünglich persönliche Verbundenheit ausdrückte, nun aber als reine Höflichkeitsfloskel gebraucht wird.202 In seiner frühesten Form lautet der Gesundheitswunsch: εἰ ἔρρωσαι, εὖ ἂν ἔχοι. ἐρρώμεϑα (oder ὑγιαίνομεν) καὶ ἡμεῖς. Wie bereits erwähnt, verschmolz der Gesundheitswunsch in spätptolemäischer Zeit mit dem Eingangsgruß zu χαίρειν καὶ ἐρρῶσϑαι und wurde ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. in χαίρειν καὶ [διὰ παντὸς] ὑγιαίνειν umformustress«. Diesen Eindruck über die Bildung der Verfasserin bestätigen zwei weitere Brief, die sich von ihr erhalten haben (P.Oxy. I 116 und SB XX 15180). 196 Dazu Koskenniemi, Studien 161f.; Parsons, Background 7. 197 Vgl. Exler, Form 53f. und 67f.; Koskenniemi, Studien 164–167. 198 Vgl. Klauck, Briefliteratur 38f.; ders., Ancient Letters 23f. 199 So White, Light 200–202 und 219; Reed, Epistle 180. 200 Dazu Exler, Form 101f. 201 Bei Klauck, Briefliteratur 37f.; ders., Ancient Letters 21–23; White, Documentary Letter 92f., dagegen werden diese »proömialen« Elemente dem Präskript zugerechnet bzw. als eigenständiges Element (Briefproömium) ausgegrenzt. 202 Vgl. Klauck, Briefliteratur 37f.; ders., Ancient Letters 21f.; White, Documentary Letter 94f.; Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 839; Cugusi, Evoluzione 76f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

liert.203 Daraus entwickelte sich noch im 1. Jahrhundert n. Chr. erneut die Formulierung eines selbständigen Gesundheitswunsches mit dem Verb ὑγιαίνειν.204 In seiner Grundform lautet er πρὸ μὲν πάντων (oder πρὸ τῶν ὅλων) εὔχομαί σε ὑγιαίνειν (gelegentlich auch ὁλοκλορεῖν); in der erweiterten Form wird dieser Gesundheitswunsch mit der sog. Proskynema-Formel verbunden zu πρὸ μὲν πάντων εὔχομαί σε ὑγιαίνειν καὶ τὸ προσκύνημά σου ποιῶ [καϑ’ ἑκάστην ἡμέραν] παρὰ τῷ κυρίῳ Σαράπιδι.205 Gelegentlich steht die Proskynema-Formel allein ohne den einleitenden Gesundheitswunsch als bloße Zusicherung des Gebetsgedenkens.206 Die Proskynema-Formel soll das unablässige Gedenken (μνεία) an den Adressaten zum Ausdruck bringen und kann mit der Bitte um ein ebensolches Gedenken verbunden werden.207 Statt des Gesundheitswunsches findet sich seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. zu Beginn des Corpus oft eine Grußformel mit dem Verb ἀσπάζεσϑαι, das gewöhnlich am Ende des Briefes gebraucht wird (vgl. bei den Formeln des Corpusabschlusses).208 In Petitionen und Urkunden in Briefform, häufig auch in einfachen Privatbriefen, fehlen diese für die Corpuseröffnung typischen Formeln.209 (2) Formeln des Corpusabschlusses: In Privatbriefen endet das Corpus gewöhnlich mit einem Wohlergehenswunsch, dessen Grundform ἐπιμέλου δὲ σεαυτοῦ ἵν’ ὑγιαίνῃς in der Praxis viele Variationen und Modifikationen erlaubt.210 Ab der römischen Zeit wird dieser Wohlergehenswunsch zunehmend durch die Grußformel ἀσπάζομαί σε ersetzt; damit kann ein Grußauftrag verbunden werden, der in seiner Grundform ἀσπάζου (oder ἄσπασαι) τοὺς σοὺς πάντας lautet.211 Der Corpusabschluss ist auch der Ort für die Grußübermittlung, d. h. der Absender übermittelt im Auftrag eines anderen Grüße an den Adressaten (ἀσπάζεταί σε).212 In Petitionen dagegen schließt das Corpus in der Regel mit einer meist wortreichen Formulierung der eigentlichen Bitte.213 Ist sie an den König oder an hohe Beamte gerichtet, wird die Bitte mit δέομαι einge203

Ausführlich Exler, Form 103–107; Koskenniemi, Studien 130–139. Vgl. Exler, Form 107. 205 Näheres bei Exler, Form 107–110; Koskenniemi, Studien 139–145. In den ägyptischen Papyrusbriefen findet sich in der Proskynema-Formel meist der Namen des populären Gottes Sarapis; stattdessen kann aber auch der Name anderer Götter oder der bloße Hinweis auf den Gott bzw. alle Götter stehen. Die Proskynema-Formel wurde von den Griechen in hellenistischer Zeit aus dem ägyptischen Brief übernommen; vgl. Olsson, Papyrusbriefe 5. 206 Dazu Exler, Form 110f.; White, Documentary Letter 94f. 207 Ausführlich bei Koskenniemi, Studien 145–148. 208 Vgl. Exler, Form 111f.; Mullins, Greeting 419f. 209 Vgl. Exler, Form 112f.; White, Documentary Letter 94. 210 Im einzelnen Exler, Form 113–116; vgl. auch Koskenniemi, Studien 133f. 211 Vgl. Exler, Form 116; White, Documentary Letter 95; Mullins, Greeting 420f.; ausführlich bei Koskenniemi, Studien 148–151. 212 Vgl. Klauck, Briefliteratur 39f.; ders., Ancient Letters 24f.; Exler, Form 116; White, Documentary Letter 95; Mullins, Greeting 421f. 213 Im einzelnen Exler, Form 116–122. 204

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leitet, bei niederen Beamten meist mit ἀξιῶ. An die Bitte schließt ein Finalsatz oder ein mit τούτου δὲ γενομένου (oder ähnlich) eingeleiteter neuer Hauptsatz an, der die Erfüllung der Bitte im Brief bereits vorwegnimmt.214 In Briefen, die rechtlichen Charakter besitzen (Urkunden, Verträge, Geschäftsbriefe etc.), findet sich im Corpusabschluss regelmäßig auch die Illiteraritätsformel, wenn der Absender selbst des Schreibens unkundig war und sich für die Abfassung des Briefes eines Schreibers bedienen musste. Sie lautet gewöhnlich: διὰ τὸ μὴ εἰδέναι (oder ἐπίστασϑαι) αὐτὸν γράμματα bzw. in der frühen Kaiserzeit meist ἔγραψα ὑπὲρ αὐτοῦ φαμένου (φάσκοντος) μὴ εἰδέναι γράμματα.215 In offiziellen Dokumenten kann im Corpusabschluss außerdem eine Schwurformel stehen, d. h. eine Formel der eidlichen Selbstverpflichtungen des Absenders, die in der Regel mit ὄμνυμι bzw. ὀμύνω eingeleitet wird.216 (3) Formeln in der Corpusmitte: Auch in der Corpusmitte finden sich konventionelle formelhafte Phrasen, die in der Brieftheorie verwurzelt und durch den Charakter des Briefes als Gespräch unter Freunden und Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung (φιλοφρόνησις) bedingt sind. Dazu gehört die Bitte um einen Brief und die Motivierung des Briefwunsches durch den Hinweis, dass man um den Adressaten in Sorge ist, weil man von ihm schon lange keine Nachricht mehr erhalten hat.217 Damit verbunden sind Hinweise auf die Freude, die ein Antwortbrief des Adressaten auslösen wird. Auch hierbei handelt es sich also um Formulierungen, die als Höflichkeitsfloskeln den Briefkonventionen geschuldet sind und deshalb keinen Rückschluss auf die tatsächliche Beziehung zwischen den Briefpartnern erlauben. Dies gilt auch für sonstige Aussagen über die Freude, die man beim Empfang früherer Briefe des Adressaten empfunden hat.218 Außerdem gehört zu diesen konventionellen Phrasen auch die sogenannte ἀφορμή-Formel, in der der Absender behauptet, er habe den Brief geschrieben, weil sich gerade eine günstige Gelegenheit für die Übermittlung (εὐκαιρία/καίρος ἐπιτήδειος) des Briefes bot, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Die Formel spiegelt die Verhältnisse einer früheren Zeit, als man oft lange warten musste, bis sich ein Reisender fand, der vom Ort des Absenders in die Gegend des Adressaten unterwegs war und der bereit war, den Brief zu übermitteln (vgl. S. 23). In hellenistisch-römischer Zeit ist auch diese Formel eine reine Höflichkeitsformel, die nichts mehr über die Umstände der Abfassung und Übermittlung des Briefes aussagt.219 214

Vgl. Exler, Form 122f. Näheres bei Exler, Form 124–127; hier auch weitere Varianten der Formel, wie sie vor allem ab dem 2. Jh. n. Chr. auftauchen. Vgl. auch White, Documentary Letter 95. 216 Vgl. Exler, Form 127–132. 217 Vgl. Klauck, Briefliteratur 154; ders., Ancient Letters 191; ausführlich Koskenniemi, Studien 64–75. 218 Dazu Koskenniemi, Studien 75–77. 219 Vgl. Klauck, Briefliteratur 154; ders., Ancient Letters 191; ausführlich Koskenniemi, Studien 77–82. 215

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Weniger deutlich lässt die Kundgabeformel (disclosure formula) γινώσκειν σε ϑέλω ὅτι (oder ähnlich) ihre Verbindung mit den philophronetischen Briefkonventionen erkennen (zur Formel vgl. auch S. 232); doch suggeriert auch sie das Bestehen einer freundschaftlichen Beziehung zwischen Absender und Adressat. Sie steht in vielen Briefen am Beginn der Corpusmitte und benennt den Anlass, aus dem der Brief geschrieben wurde.220 In umfangreicheren Briefen kann die Kundgabeformel aber auch zur Binnengliederung der Corpusmitte verwendet werden, indem sie einen neuen Gegenstand einführt.221 Außer der Kundgabeformel dient vor allem περὶ δέ τινος zur Themenangabe bzw. als Signal für Themenwechsel im Corpus des Briefes.222 Zu den philophronetischen Formeln des Briefes lassen sich auch die sogenannten brieflichen Klischees rechnen.223 Dabei handelt es sich meist um die Umschreibung von Befehlen und Aufträgen mit δέομαι, ἀξιῶ, ἱκετεύω und παρακαλῶ sowie mit καλὼς ἂν ποιήσεις, εἴ σοι δοκεῖ und ἐὰν φαίνεται. Dadurch soll der Brief einen höflichen und urbanen Ton erhalten. Zu den Klischees gehört aber auch die Einfügung des ethischen Dativs μοι in den Gesundheitswunsch (z. B. ἐπιμέλου ἵνα μοι ὑγιαίνῇς), die den persönlichen Ton des Briefes verstärken soll. C. Das Postskript des griechischen Briefes besteht in seiner Grundform aus dem Schlussgruß ἔρρωσο (bzw. ἔρρωσϑε) oder εὐτύχει bzw. ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. διευτύχει; ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. findet sich auch die höflichere indirekte Formulierung ἐρρῶσϑαί σε εὔχομαι.224 Soweit die numerische Verteilung in den Papyrusbriefen erkennen lässt, war die Wahl der Schlussformel – ähnlich wie beim Eingangsgruß – durch den Anlass des Briefes und seinen Adressaten bedingt; zahlreiche Ausnahmen belegen aber, dass es sich dabei eher um eine Tendenz als um eine feste Regel handelt.225 Die Schlussformel εὐτύχει bzw. διευτύχει findet sich vor allem in offiziellen Petitionen, die mit τῷ δεῖνι χαίρειν ὁ δεῖνα beginnen.226 In Schreiben des amtlichen Briefverkehrs, die mit dem normalen Eröffnungsgruß ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν beginnen, findet sich dagegen meist gar kein Schlussgruß; dies gilt auch für Urkunden und andere rechtliche Dokumente, die sich der Briefform bedienen, sowie für Geschäftsbriefe mit dem Briefeingang [ὑπόμνημα] τῷ δεῖνι παρὰ τοῦ 220 Vgl. Klauck, Briefliteratur 154; ders., Ancient Letters 191; White, Body 2–5; Koskenniemi, Studien 82–87. 221 Dazu White, Body 1–41. 222 Vgl. White, Body 16f.; ders., Documentary Letter 98. 223 Dazu Klauck, Briefliteratur 154f.; ders., Ancient Letters 191; außerdem White, Documentary Letter 100–102; ders., Light 211–213; für den lateinischen Brief vgl. Cugusi, Evoluzione 78–83. 224 Ausführlich bei Exler, Form 69f.; vgl. auch Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 839; White, Documentary Letter 95; 225 Ein erste Orientierung bietet die tabellarische Zusammenstellung bei Exler, Form 74. 226 Vgl. Exler, Form 71f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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δεῖνος.227 Der Gebrauch von ἔρρωσο bzw. ἐρρῶσϑαί σε εὔχομαι wiederum scheint sich hauptsächlich auf Briefe an Freunde und Familienangehörige beschränkt zu haben.228 In Verbindung mit dem Schlussgruß kann nochmals ein Gesundheitswunsch stehen (auch dann, wenn ein solcher bereits am Anfang des Corpus stand).229 Bei amtlichen Briefen und Geschäftsbriefen steht am Ende meist eine Datumsangabe; in privaten und weniger offiziellen Briefen findet sich eine solche eher selten.230 Bei auf Papyrus erhaltenen Privatbriefen ist das Postskript oft auch mit (eigenhändigen) Nachträgen des Absenders verbunden, die teilweise auf den Rändern des Papyrusblattes notiert sein können. Diese Praxis wird auch in den literarischen Briefen imitiert (vgl. z. B. die pseudepigraphen Platonbriefe). Das lateinische Briefformular: Hinsichtlich Formular und brieflicher Formeln entspricht der antike lateinische Brief weitgehend dem griechischen Brief, so dass einige kurze Anmerkungen genügen.231 Das Präskript lautet gewöhnlich aliquis alicui salutem ([plurimam] dicit) (vgl. P.Oxy. I 32 [= SP I 122/CEL I 169; Mitte 2. Jh. n. Chr.]) oder alicui aliquis salutem (dicit) oder alicui ab aliquo salutem, das Postskript vale bzw. cura ut valeas (Plaut. Pseud. 72; Persa 527; Bacch. 1035).232 Die brieflichen Formeln geben meist mehr oder weniger wörtlich die griechischen wieder, z. B. si vales bene est ego quidem valeo (εἰ ἔρρωσαι, εὖ ἂν ἔχοι, κἀγὼ δὲ ὑγιαίνω/ἔρρωμαι) oder ante omnia opto te bene valere [cum tuis omnibus] (πρὸ μὲν πάντων εὔχομαί σε ὑγιαίνειν).233 2.1.5 Anmerkungen zur Kategorisierung der antiken Briefe In den vorangehenden Ausführungen klang bereits an, dass es Texte gibt, die man einerseits unter bestimmten Aspekten als »Brief« ansprechen wird, die andererseits aber so wenig mit anderen »Briefen« gemein haben, dass ihre Zuordnung zur Gattung »Brief« fraglich erscheint. Solche Texte wären die um227

Vgl. Exler, Form 71f. Vgl. Exler, Form 70f. 229 Vgl. White, Documentary Letter 95. 230 Im einzelnen Exler, Form 78–100; vgl. Olsson, Papyrusbriefe 18–20; Muir, Life 56. 231 Zum lateinischen Briefformular und seinen brieflichen Formeln vgl. Cugusi, L’epistolografia 386; ders., Evoluzione 73ff.; Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 838–840. Zusätzlich zu den literarisch überlieferten Briefen finden sich Textbeispiele für lateinische Originalbriefe auf Papyrus im CEL (online zugänglich über die DDbDP bei papyri.info [vgl. Literaturverzeichnis]). Zur grundsätzlichen Vergleichbarkeit griechischer und lateinischer Papyrusbriefe in Formular und Formelsprache vgl. auch Kreinecker, 1. Thessaloniker (PKNT) 19–31. 232 Zum lateinischen Präskript, seinen Varianten und ihrer Verwendung vgl. Cugusi, Evoluzione 47–56; zum lateinischen Postskript ebd. 56–64. Vgl. außerdem Trapp, Letters 35. 233 White, Epistolary Literature 1734, weist darauf hin, dass der Gesundheitswunsch des griechischen Briefes im Vergleich mit dem lateinischen Brief weniger stereotyp ist, also größere Variationen erlaubt. Vgl. auch Trapp, Letters 36. 228

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

fangreichen wissenschaftlichen Briefessays des Dionysios von Halikarnass oder die Briefgedichte des Horaz und Ovid. Vor der Einteilung der erhaltenen antiken Briefe in verschiedene Kategorien stellt sich damit zunächst die allgemeine Frage, was überhaupt ein Brief ist, d. h. welche inneren und äußeren Kennzeichen ein Text aufweisen muss, damit man ihn als »Brief« bezeichnen kann. Dabei geht es um die Frage, ob alle Texte, die man zunächst aufgrund der gemeinsamen Briefform (Orientierung am Briefformular und den brieflichen Formeln) als »Brief« bezeichnen würde, unabhängig von Stil und Inhalt eine einheitliche Gattung »Brief« repräsentieren oder ob man aufgrund der gravierenden formalen und inhaltlichen Unterschiede die Texte trotz der gemeinsamen Briefform nicht doch verschiedenen Gattungen zuteilen muss. Die bereits genannte antike Definition, die Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας zitiert, sah den Brief als »den einen Teil eines Dialogs«. Wie die Analyse gezeigt hat, impliziert diese Definition neben funktionalen auch formale und inhaltliche Aspekte des Briefes. Unter Berücksichtigung der von Ps.-Demetrios an dieser Definition vorgenommenen Modifikationen wäre der Brief ein Teil eines Gesprächs zwischen zwei Freunden, das aufgrund räumlicher Trennung in schriftlicher Form fortgesetzte werden muss. Im Inhalt unterscheidet er sich nicht von ihren sonstigen Gesprächen, wenn auch der Stil des Briefes wegen der Schriftform etwas gehobener und sorgfältiger ist. Legt man diese Definition zugrunde, können etliche Texte, die durch bestimmte formale Elemente zunächst den Eindruck erwecken, ein Brief zu sein, der Gattung »Brief« im engeren Sinn nicht zugerechnet werden. Als Beispiel für Texte, die aus inhaltlichen Gründen nicht als Briefe gelten können, nennt Ps.-Demetrios selbst den philosophischen Lehrbrief und den wissenschaftlichen Briefessay. Will man diese Texte aufgrund ihrer unleugbaren formalen Ähnlichkeiten mit echten Briefen nicht von vornherein aus der Gattung »Brief« ausscheiden, müsste man ausgehend von der Definition des Briefes innerhalb der Gattung zumindest zwischen eigentlichen Briefen und Texten in Briefform differenzieren.234 Problematisch ist ausgehend von der bei Ps.-Demetrios zitierten Definition aber auch die Zuordnung der amtlichen Briefe zur Gattung »Brief«, da diese streng genommen nicht als schriftliche Fortsetzung eines Gesprächs unter Freunden gelten können. Dies gilt in gleichem Maße für die briefliche Kommunikation innerhalb der Administration wie für die brieflichen Eingaben von Privatleuten bei städtischen und staatlichen Behörden.235 Was diese Briefe angeht, ist allerdings bereits Ps.-Demetrios selbst nicht konsequent, sondern 234

Zurecht hält Doty, Classification 191, fest: »formally and stilistically the ‘epistel’ [i. e. der Kunstbrief im Gegensatz zum echten Brief] is a letter«. Anders Muir, Life 117. 235 Bereits bei Cicero unterscheidet deshalb, wohl im Rückgriff auf die epistolographische Theorie seiner Zeit, zwischen privaten und öffentlich-amtlichen Briefen: reliqua sunt epistularum genera duo, quae me magno opere delectant, unum familiare et iocosum, alterum severum et grave (fam. 2,4,1). Dazu Reed, Epistle 172f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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am Ende seiner Ausführungen spricht er davon, dass man gelegentlich auch Briefe an Städte und Herrscher schreibt, die stilistisch etwas anspruchsvoller sein sollen (§ 151). Man muss folglich wohl die amtlichen Briefe als dritte Untergruppe innerhalb der Gattung »Brief« ansetzen.236 Damit aber ergibt sich als weiteres Problem, wie man andere amtliche Schriftstücke einordnen soll, die sich nach dem Usus der hellenistischen und römischen Kanzleien der Briefform bedienten, aber nie als Brief verschickt worden sind. Soll man auch diese Texte aufgrund ihrer Form noch der Gattung Brief zuordnen und, wenn ja, wo soll man sie einordnen? Gehören sie mit den Lehrbriefen und Briefessays zu den Texten in Briefform, obwohl sie sonst in nichts miteinander zu vergleichen sind? Oder soll man sie einfach unter den amtlichen Briefen subsumieren? Oder bilden sie eine weitere Untergruppe? Ein weiteres Problem bilden die verschiedenen Arten von fingierten Briefen, d. h. Briefe an mythische, historische und fiktive Personen, die per se nicht als schriftliche Fortsetzung oder Ersatz eines mündlichen Gesprächs gelten können. Dazu zählen die den ethopoietischen Übungen des Rhetorikunterrichts entwachsenen pseudepigraphen und Typenbriefen sowie die fingierten Briefe in Romanen, Tragödien und Komödien, teilweise aber auch die Briefeinlagen (Briefzitate) bei den Historikern und Biographen (z. B. bei Thukydides, Herodot oder Plutarch). Will man diese bei Ps.-Demetrios nicht berücksichtigten Texte ebenfalls der Gattung »Brief« zurechnen, scheint es zunächst selbstverständlich, dass man sie nach Maßgabe der Definition des Ps.-Demetrios nicht zu den eigentlichen Briefen rechnen kann, da sie kein im Medium der Schrift geführtes Gespräch unter räumlich getrennten Personen sind. Allerdings ließe sich dagegen einwenden, dass sie in gewisser Weise doch zu den echten Briefen gerechnet werden können, weil genauso wie eine fingierte Rede im Rhetorikunterricht oder in einem historiographischen Werk eine Rede bleibt, auch ein fingierter Brief als Brief im eigentlichen Sinn zu verstehen ist. Denn der fingierte Brief erfüllt letztlich dieselben kommunikativen Funktionen wie der echte Brief, wenn auch nicht in der realen Welt, so doch im fiktionalen Raum eines dramatischen und narrativen Textes oder auch nur im virtuellen Kontext der ethopoietischen Imagination des Rhetorikunterrichts oder einer Prunkdeklamation.237 Der fiktive Liebesbriefe in einem Roman dürfte sich nämlich weder inhaltlich noch formal von echten Liebesbriefen unterscheiden lassen (die es sicher gegeben hat, auch wenn sich unter den Papyrusbriefen keiner erhalten hat).238 Damit aber stellt sich die Frage, ob und unter welchen Aspekten es zu rechtfertigen ist, die fingierten Briefe von den eigentlichen Briefen zu trennen und als vierte Untergruppe innerhalb der Gattung Brief auszuweisen. 236

Vgl. Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 840; ähnlich Schnelle, Einleitung 53. Dazu auch Ludolph, Epistolographie 26. 238 Zum antiken Liebesbrief und den damit verbundenen Fragen vgl. Schneider, Brief (RAC) Sp. 773; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 214-216. 237

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Schließlich ist eine Reihe weiterer Texte zu nennen, die sich der Briefform bedienen, ohne im eigentlichen Sinn ein Brief zu sein, die man aber nicht mit den philosophischen Lehrbriefen und wissenschaftlichen Briefessays zu einer Gruppe zusammenfassen kann. Dazu gehören aus dem Bereich der antiken Magie die in Briefform abgefassten Zauberpapyri, die dem Tradieren von Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln dienten, sowie Fluchtäfelchen, d. h. als Brief an die Unterweltsgötter verfasste Verwünschungen (κατάδεσμοι), die gewöhnlich auf Blei geschrieben und Verstorbenen als »Briefboten« mit ins Grab gegeben wurden.239 Auch Anfragen an Orakelgottheiten konnten in Briefform, d. h. als Briefe an diese Götter, abgefasst werden (z. B. P.Oxy. VIII 1148 [= SP I 193; 1. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. VIII 1149 [= SP I 194; 2. Jh. n. Chr.]; P.Fay. 137 [1. Jh. n. Chr.]).240 Den umgekehrten Fall stellen Briefe dar, die vorgeben, dass sie von Göttern an Menschen geschrieben sind. Solche Himmelsbriefe entstanden in Ägypten und Babylonien bereits im 2. Jahrtausend v. Chr.; bei den Griechen sind sie erst ab dem 2. Jh. n. Chr. eindeutig belegt (Paus. 10,38,13). Parodistische Brechungen dieser Himmelsbriefe finden sich in der Literatur bei Menippos (Diog. Laert. 6,101) und bei Lukian (Κρονικαὶ ἐπιστολαί).241 Soll man für diese Texte weitere Untergruppen innerhalb der Gattung »Brief« benennen? Oder kann man die in Briefform fixierten Zaubertexte doch den Lehrbriefen, die Fluchtäfelchen und Himmelsbriefe dagegen den fingierten Briefen zurechnen? Denn Götter, die Briefe schreiben oder erhalten, könnte man letztlich auch zu den Personen der mythischen »Vergangenheit« rechnen. Fluchtäfelchen unterscheiden sich jedoch von pseudonymen Briefen, da sie in den Augen derer, die sie schrieben bzw. in Auftrag gaben, durchaus Mittel einer realen Kommunikation waren, der man Wirkung zuschrieb. Von Unterweltsgöttern erwartete man nämlich, dass sie nach ordnungsgemäßer »Zustellung« des Briefes die darin formulierte Bitte um Verfluchung der Konkurrenten und Gegner erfüllten. Ähnlich hielten es viele für nicht ausgeschlossen, dass ein Gott einem Menschen einen Brief zukommen lassen konnte, der Offenbarungen enthielt oder dessen Anblick und Berührung von Krankheiten zu heilen vermochte (vgl. Aristeid. 23,2 [394k]). Die von der Definition des Briefes bei Ps.-Demetrios ausgehenden Überlegungen zu Abgrenzung und Untergliederung der Gattung antiker »Brief« haben gezeigt, dass man grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Gattungsdefinition hat: Einerseits kann man sich mit minimalen formalen Anforderungen begnügen, so dass jeder Text der Gattung »Brief« zugerechnet wird, der über 239 Vgl. dazu Klauck, Briefliteratur 72; ders., Ancient Letters 69; Schneider, Brief (RAC) Sp. 572; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 207; Deißmann, Bibelstudien 224f. 240 Die genannten Papyri sind mit Einführung, englischer Übersetzung und Kommentar abgedruckt bei White, Light 99–101 [Nr. 60]. 241 Vgl. Schneider, Brief (RAC) Sp. 572f.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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ein briefliches Präskript und Postskript verfügt.242 Andererseits kann man in Anlehnung an die Ausführungen bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας zusätzliche Kriterien festlegen, die ein Text über die bloße Briefform hinaus erfüllen muss, damit er der Gattung »Brief« zugerechnet werden darf. Solche zusätzlichen Anforderungen könnten sein, dass der Text tatsächlich verschickt worden ist (oder zumindest verschickt worden sein könnte) und dass er eine bestimmte Funktion in der Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern gehabt hat (oder gehabt haben könnte).243 Beide Definitionen der Gattung »Brief« haben ihre Vorteile und Nachteile. Minimale Gattungsanforderungen verhindern zwar, dass vorschnell und unüberlegt bestimmte Texte ausgeschlossen werden; sie führen aber auch dazu, dass an sich kaum vergleichbare Texte wie die hochstilisierten und nie verschickten Briefgedichte des Ovid und der zwar stilistisch unbeholfene, aber tatsächlich verschickte Papyrusbrief eines ungebildeten Arbeiters im selben Maße als Brief gelten, wenn sie auch innerhalb der Gattung »Brief« verschiedenen Untergattungen bzw. Kategorien zugeordnet sein mögen. Denn zwischen dem brieflichen Rahmen kann inhaltlich und stilistisch alles Erdenkliche stehen, ohne jede Folge für die Zuordnung zur Gattung »Brief«. Maximale Anforderungen wiederum können dazu führen, dass an sich vergleichbare und zusammengehörige Dinge wie der schon genannte fingierte Liebesbrief im Roman und der echte Liebesbrief allein durch das Kriterium der tatsächlichen Zustellung voneinander getrennt werden. Es bedarf dann zumindest der korrigierenden Einschränkung, dass ein Text auch dann der Gattung »Brief« zugerechnet werden muss, wenn er formal und inhaltlich den echten Briefen vergleichbar ist und deshalb theoretisch verschickt worden sein könnte. Aus den vorausgehenden Überlegungen zur Vielfalt und Uneinheitlichkeit der Gattung »Brief« dürfte deutlich geworden sein, wie schwierig die Klassifizierung und Einteilung der vorhandenen antiken Briefe in Kategorien ist. Im Blick auf die Brieftheorie und Briefpraxis der Antike erweist sich jedenfalls die allein an literarisch-ästhetischen Einschätzungen orientierte einfache Unterscheidung zwischen echtem Brief und Epistel mit ihren problematischen Implikationen bei Adolf Deißmann als ungenügend.244 Es bedarf einer stärker an 242 So die bewusst auf größtmögliche Weite angelegte Definition bei Doty, Classification 193, unter der sich letztlich alle (antiken) Dokumente zusammenfassen lassen, die sich auch nur annäherungsweise als Brief verstehen lassen: »A definition: a letter is a literary product, intended for a private or public reader/s, originally or only formally in letter form. Letter form is distinguished by 1) being sent or intended for sending; 2) from a writer or from writers; 3) to an addressee or addressees; 4) with greetings, conclusion, or other formally stylized components; and usually 5) with reference to or clear intent to be a letter.« Ähnlich schon Roller, Formular 28f. 243 Dieses Kriterium nutzt unter anderem Ludolph, Epistolographie 27, für die Unterscheidung von »Gebrauchsbriefen« und »literarischen Briefen«. Ähnlich Trapp, Letters 1. 244 So auch Doty, Classification 192.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

formal-funktionalen Kriterien orientierten Kategorisierung der antiken Briefe. Dabei können folgende Prinzipien leitend sein: (1) Überlieferung: Das einfachste Kriterium der Kategorisierung ist, zunächst von allen formalen und inhaltlichen Kriterien abzusehen und nur zu berücksichtigen, wie der Brief überliefert wurde, d. h. als Abschrift im Rahmen der Literatur oder als Originalbrief auf Papyrus (oder Ostrakon).245 Damit ergeben sich die beiden Gruppen der literarischen Briefe und der nichtliterarischen Briefe (documentary letter tradition). Bei den literarischen Briefen lässt sich nochmals differenzieren, ob sie als Briefbücher oder innerhalb eines anderen literarischen Werkes als Briefeinlagen überliefert sind. Problematisch sind die Sammlungen solcher Privatbriefe, die ursprünglich als echte Briefe tatsächlich verschickt wurden und dann erst durch Sammlung und Publikation zur Literatur geworden sind. Sie stehen letztlich zwischen beiden Gruppen, da sie mit den echten Papyrusbriefen die reale Gesprächsfunktion teilen, stilistisch aber den literarischen Briefen näher stehen.246 Als dritte Gruppe lassen sich die diplomatischen und königlichen/kaiserlichen Schreiben anfügen, da diese teilweise auch als Inschriften auf Stein überliefert sind.247 (2) Echter Brief oder literarischer Kunstbrief:248 Ein weiteres Kriterium zur Kategorisierung ist die Frage, ob ein Brief wirklich verschickt wurde oder ob er von vornherein allein für die Publikation in einem literarischen Werk verfasst wurde. Diese Unterscheidung differenziert »Briefe« nach ihrer kommunikativen Funktion; denn während echte Briefe der privaten oder amtlichen Kommunikation zwischen Absender und Adressat dienen, richten sich literarische Briefe nicht an den im Präskript genannten Adressaten und stammen (oft) nicht einmal vom dort genannten Absender, sondern wollen ein breites Publikum informieren, belehren und unterhalten.249 Damit lassen sich innerhalb der literarisch überlieferten Briefe die Gruppe der als echte Briefe verschickten und erst nachträglich publizierten Briefe von literarischen Kunstprodukten, 245 In diesem Sinne gliedert Klauck, Briefliteratur 72f., und ders., Ancient Letters 68–70, die überlieferten Briefe; er merkt dabei aber ausdrücklich an, dass das Problem der Klassifizierung und Kategorisierung der antiken Briefe (aber auch der späteren) letztlich unlösbar bleibt und man je nach Fragestellung eine pragmatische Entscheidung für die Einteilung/Kategorisierung treffen muss. 246 Vgl. auch Schneider, Brief (RAC) Sp. 570f.; Deißmann, Bibelstudien 206f. 247 Dazu Klauck, Briefliteratur 73; ders., Ancient Letters 69. 248 Dieses Differenzierungskriterium darf freilich nicht im Sinne von Deißmanns problematischer Unterscheidung von »(echtem) Brief« und »Epistel« verstanden werden, die sich an produktions-ästhetischen Kriterien orientiert und auf die Frage nach Authentizität und Unmittelbarkeit des Inhalts zielt (vgl. die Abschnitte 2.1 und 2.2 dieser Studie). Die Unterscheidung »echt« und »Kunst« ist hier dagegen als eine rein funktionale verstanden, die sich auf den Kommunikationskontext bezieht. 249 Dazu Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 187. Dieses Kriterium legt letztlich auch Dormeyer, Literaturgeschichte 191, seiner Differenzierung zwischen literarischem, rein privatem und offiziellem Brief zugrunde.

2.1 Der griechisch-römische Brief

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wie den pseudepigraphen und Typenbriefen unterscheiden (wobei allerdings die Pseudepigraphie oft so perfekt durchgeführt ist, dass es unmöglich ist zu entscheiden, ob ein Brief authentisch oder »gefälscht« ist)250. Dieses Kriterium begründet aber auch die Mittelstellung der Briefe der publizierten Privatkorrespondenzen von Philosophen und Staatsmännern zwischen den literarischen Kunstbriefen und den Papyrusbriefen. Diese Briefe sind von ihren Absendern von vornherein zugleich für den im Präskript genannten Adressaten, aber auch für ein potentiell größeres Publikum geschrieben worden.251 (3) Form, Inhalt und Funktion: Schon die antike Brieftheorie klassifizierte Briefe nach ihrer Absicht, ihrer Funktion und ihrem typischen sozialen Kontext (vgl. z. B. die Brieftypen in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.Proklos/Libanios).252 Ausgehend davon lassen sich die erhaltenen antiken Briefe zunächst im Blick auf ihre Adressaten in private, öffentliche und geschäftliche Briefe unterteilen. Anhand von Inhalt, Funktion und Form der Briefe sind weitere Ausdifferenzierungen in Freundschaftsbrief, Empfehlungsbrief, Bittbrief, Dankesbrief, Trostbrief etc. möglich.253 Da man davon ausgehen kann, dass es zunächst nur echte Briefe gab und literarische Briefe Nachahmungen echter Briefe sind, sind beide bei der Klassifizierung nicht zu trennen, sondern können, wo immer möglich, unter gemeinsamen Kategorien zusammengefasst werden. Dies gilt vor allem für die fingierten Briefe in Dramen, Romanen und bei Historikern (Briefeinlagen und Briefzitate). Die Unterscheidung zwischen authentischen und pseudepigraphen Briefen spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob ein Brief jemals verschickt wurde oder nicht. Als eigene Gruppen müssen dagegen die formal, inhaltlich und/oder funktional signifikant von echten Briefen abweichenden philosophischen Lehrbriefe, Briefessays und poetische Briefe ausgewiesen werden.254

250

Vgl. Hose, Literaturgeschichte 192. Vgl. dazu auch Cugusi, Evoluzione 188. 252 Dazu Stowers, Letter Writing 22f. Ansätze zu einer solchen Differenzierung finden sich schon in der antiken Brieftheorie, so in einer als Anhang zu den Briefen Philostrat überlieferten kurzen brieftheoretischen Abhandlung eines unbekannten Verfassers aus der Zeit nach dem 3. Jh. n. Chr. (epist. II 257,29–258,28 [bei Malherbe, Theorists 42f., als de Epistulis überschrieben]); vgl. Reed, Epistle 173f. 253 Diese Differenzierung kann sich an den Brieftypen bei Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/ Libanios orientieren; vgl. Klauck, Briefliteratur 72; Aune, Environment 161; Stowers, Letter Writing 54f. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Ps.-Demetrios im Unterschied zu Ps.Proklos/ Libanios nur die amtliche Korrespondenz im Blick hat (weshalb bestimmte Typen von Briefen fehlen, z. B. der Liebesbrief); außerdem ist zu fragen, ob die in diesen Handbüchern vorgenommene Ausdifferenzierung für eine Klassifizierung wirklich hilfreich ist, oder ob man die Typen nicht reduzieren sollte. Eine entsprechende Klassifizierung hat Cugusi, Evoluzione 105–135, für die lateinischen Briefe durchgeführt. 254 So bei Dziatzko, Brief (PRE) Sp. 842; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 200. 251

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

2.2 Der Brief im Frühjudentum 2.2.1 Das Corpus der frühjüdischen Briefe Da das Christentum innerhalb des Judentums entstand und Paulus und die meisten der anderen Verfasser der neutestamentlichen und frühchristlichen Briefe als Juden – wenn auch nicht im jüdischen Mutterland, sondern in der Diaspora – geboren wurden, stellt sich die Frage, ob bei ihren Briefen nicht nur mit einem Einfluss der griechischen, sondern auch einer eigenen jüdischen Brieftradition zu rechnen ist. Die Annahme einer eigenständigen Form und eventuell Theorie des Briefes bei den Juden liegt insofern nahe, als sich ihre Kultur und Literatur seit dem ausgehenden 2. Jahrtausend v. Chr. unter dem Einfluss der altorientalischen Großreiche und Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens entwickelt hatte und die Juden, als sie im Zuge der Eroberungen Alexanders des Großen in den Bannkreis der griechisch-hellenistischen Kultur, Sprache und Literatur gerieten, bereits über eigene literarische Traditionen und Konventionen verfügten. Damit verbunden ist die prinzipielle Dreisprachigkeit der Juden in hellenistisch-römischer Zeit: das Hebräische als »heilige Sprache« für den Gottesdienst und die religiöse Literatur, das Aramäische, die Verwaltungssprache des assyrischen, neubabylonischen und persischen Reiches, als Alltags- und Umgangssprache der Juden Palästinas und das Griechische als offizielle Verwaltungs- und Verkehrssprache für alle Juden unter griechischer und dann römischer Herrschaft, das für die Juden der westlichen Diaspora schließlich zur alleinigen Sprache wurde.255 Hinzukommt, dass die Juden spätestens seit der Zeit der persischen Oberhoheit aus dem Bereich der staatlichen Administration mit einer hoch entwickelten Briefpraxis, einschließlich des (amtlichen) Briefformulars, in aramäischer Sprache, vertraut waren und auch in griechischer Zeit unter den Juden weiterhin Briefe in aramäischer (und hebräischer) Sprache ausgetauscht wurden. Damit stellt sich die Frage nach dem Aussehen dieses Formulars und Interferenzen zwischen dem aramäischen (bzw. hebräischen) und griechischen Formular. Außerdem stellt sich die Frage, ob sich auch die Praxis des Paulus, die von ihm gegründeten Gemeinden nach seinem Weggang aus der Ferne durch Briefe zu leiten, eventuell an ein »jüdische Tradition gemeindeleitender Briefe« anlehnen konnte.256 Um diese Fragen zu klären, ist zunächst ein Überblick über das Corpus der jüdischen Briefe nötig. Diese lassen sich – wie auch die griechischen Briefe – in literarisch überlieferte Briefe und erhaltene Originalbriefe aufteilen. Bei den literarisch überlieferten Briefen handelt es sich (nahezu) ausschließlich um Briefzitate bzw. Briefeinlagen sowie Brieferwähnungen in reli255

Näheres zu den Sprachen der Juden und den Sprachverhältnissen in Palästina in hellenistisch-römischer Zeit bei Bauer, Messiasreich 86–94. 256 Vgl. Taatz, Frühjüdische Briefe 9.

2.2 Der Brief im Frühjudentum

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giösen Schriften, aber auch in Geschichtswerken. In chronologischer Ordnung lassen sich aus den biblischen und frühjüdischen Schriften folgende literarisch überlieferte Briefe benennen:257 (a) Samuel- und Königsbücher (7./6. Jh. v. Chr.): Zitate aus der diplomatischen und amtlichen Korrespondenz der Könige von Juda/Israel (2 Sam 11,15; 1 Kön 21,8–10; 2 Kön 5,5–7; 10,1–8; 19,10–13 par. Jes 37,10–13 [2 Kön 20,12 par. Jes 39,1]; alle ohne Präskript); hebräisch. (b) Jesaja-Buch (7./6. Jh. v. Chr.): Zitat(e) aus der diplomatischen Korrespondenz des Königs Hiskija von Juda (Jes 37,10–13 [par. 2 Kön 19,10–13; Jes 39,1 par. 2 Kön 20,12]; ohne Präskript); hebräisch. (c) Jeremia-Buch (6./5. Jh. v. Chr.): »Brief« des Jeremia aus Jerusalem an die Verbannten in Babel (Jer 29,4–23[.26–28]; dem Text fehlen allerdings brieftypische Elemente); hebräisch. (d) Chronikbücher (4./3. Jh. v. Chr.): Zitate aus der diplomatischen und amtlichen Korrespondenz der Könige von Juda/Israel (2 Chr 2,10–15 [par. Ios. ant. Iud. 8,50–57; Eupolemos F2 bei Eus. praep. 9,33,1–34,3]; 21,12–15; alle ohne Präskript); hebräisch. (e) Esra-Buch (4./3. Jh. v. Chr.): Amtlicher Briefwechsel der Perserkönige (Xerxes,) Artaxerxes und Dareios mit ihren Statthaltern in den Angelegenheiten der jüdischen Heimkehrer ([4,6] 4,11b–16.17–22; 5,7b–17) sowie ein Brief des Artaxerxes an den jüdischen Schriftgelehrten Esra (7,12–26); die vollständig zitierten Schreiben in Aramäisch (während der Rest des Buches hebräisch abgefasst ist).258 (f) Nehemia-Buch (4./3. Jh. v. Chr.): Erwähnung von Empfehlungsschreiben des Artaxerxes für den neu ernannten jüdischen Statthalter Nehemia (2,7–10) sowie eines amtlichen Briefwechsels des Nehemia mit den benachbarten, den Juden feindlich gesinnten persischen Statthaltern (6,6–7). (g) Hebräisches Ester-Buch (3. Jh. v. Chr.): Erwähnung von Briefen, deren Inhalt jedoch nur kurz paraphrasiert wird, so ein Erlass des Königs Xerxes, der die Ausrottung aller Juden im Perserreich erlaubte (3,12–15), ein weiterer Erlass, der den Juden erlaubte, sich gegen die Angreifer zu wehren (8,7–12), und ein Brief des Juden Mordechai an alle Juden im Perserreich 257

Überblicke zum Corpus der literarisch überlieferten »jüdischen« Briefe bei Alexander, Epistolary Literature 579–582; Klauck, Briefliteratur 181–191 und 194–221; ders., Ancient Letters 229–248 und 253–289; vgl. auch Taatz, Frühjüdische Briefe 14–17; Aune, Environment 174–179. Zu den einzelnen Schriften neben der in den folgenden Anmerkungen genannten Literatur: für die alttestamentlichen Schriften Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1,1), Stuttgart u. a. 52004; Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament (UTB 2745), Göttingen 2006; Hans-Christoph Schmitt, Arbeitsbuch zum Alten Testament (UTB 2146), Göttingen 2004; Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 121979; Rudolf Smend, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart u. a. 41989; für die frühjüdischen Schriften die Einleitungen zu den Übersetzungen der einzelnen Schriften in den JSHRZ; für die rabbinischen Schriften allgemein Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992; ders., Geschichte der jüdischen Literatur, München 1977; ders., Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit (70 n. Chr. bis 1040 n. Chr.), München 1979. 258 G. Steins, Esra, Esraschriften I.1 atl. Buch Esra. LThK3 3 (1995) Sp. 887; vgl. außerdem D. Schwiderski, Handbuch des nordwestsemitischen Briefformulars. Ein Beitrag zur Echtheitsfrage der aramäischen Briefe des Esrabuches (BZAW 295), Berlin/New York 2000.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

über die Einführung des Purimfestes zur Erinnerung an ihre Rettung (9,20–32); diese Briefe sind wie das ganze Buch eine pseudohistorische Fiktion.259 (h) Daniel-Buch (3./2. Jh. v. Chr.): Zwei fingierte königliche Rundschreiben: König Nebukadnezar von Babylon über seinen Traum und dessen Deutung durch Daniel (3,31 – 4,34 MT [4,1–37 Theod.]; vgl. das kürzere Rundschreiben des Königs in 4,37b.c LXX) sowie des Perserkönigs Dareios (6,26–28) über die Macht des jüdischen Gottes; aramäisch. (i) Brief des Jeremia [in der Vulgata das 6. Kapitel des Baruchbuches] (3./2. Jh. v. Chr.?): In der Einleitung »Brief« genannt, aber ohne brieftypische Elemente; formal und inhaltlich eine Gottesrede in Anlehnung an Jer 10,1–16 und Jes 44,9–20; griechisch, geht aber wohl auf ein hebräisches Original zurück.260 (j) Griechische Zusätze zum Ester-Buch (2. Jh. v. Chr.): Vollständige Texte für die beiden im hebräischen Esterbuch nur kurz paraphrasierten fiktiven Erlasse des Perserkönigs Xerxes [bzw. Artaxerxes] (3,13a–g [B 1–7]; 8,12a–x [E 1–24]); griechisch, in Jerusalem entstanden.261 Der letzte Zusatz (10,3l [11,1 Vulg.; F11]) bezeichnet das ganze griechische Esterbuch als »Brief über die Phrourai (Purim)«, der nach Ägypten gesandt wurde (um als Festlegende zu dienen). (k) Eupolemos [Fragmente] (157/156 v. Chr.): Bei Eusebius von Caesarea überlieferter Auszug aus dem verlorenen Werk des jüdischen Geschichtsschreibers Eupolemos (vgl. 2 Makk 4,11) mit einem fiktiven Briefwechsel des König Salomo mit dem Pharao Vapres von Ägypten und König Hiram von Tyros über die Vorbereitungen zum Tempelbau in Jerusalem (F2 Eus. praep. 9,33,1–34,18 [vgl. FGrH 273 F19]; par. 2 Chr 2,10–15; Ios. ant. Iud. 8,50–57); griechisch, der schwerfällige Stil aber lässt semitischen Einfluss vermuten; wohl in Palästina entstanden.262 (l) Der halachische Brief 4QMMT/4Q394–399 aus Qumran (2. Jh. v. Chr.?): Soweit die gefundenen Fragmente erkennen lassen, gab es in Qumran sechs Kopien dieses Textes. Ob ein brieflicher Rahmen je bestand, ist ungewiss, da er nicht durch die Textfragmente bezeugt ist; insofern ist die Klassifizierung des Textes als »Brief« nicht unproblematisch. Der Text, der sich mit Kalenderfragen beschäftigt und zur Befolgung der Rechtsvorschriften der Tora anhält, galt in der Forschung zunächst als ein authentischer Brief des »Lehrers der Gerechtigkeit«; diese Annahme wird aber zunehmend bezweifelt. Die Entstehung und Funktion des Briefes ist möglicherweise im Kontext der Anfänge der essenischen Bewegung und ihrer Konflikte mit dem Jerusalemer Hohenpriester Jonathan (160–143 v. Chr.) zu sehen. Das Hebräisch dieses Briefes steht sprachgeschichtlich zwischen dem späten Bibelhebräisch und dem Hebräisch der rabbinischen Schriften.263 (m) Aristeasbrief (145/100 v. Chr.): In dem Werk, das entgegen seiner Bezeichnung kein Brief ist, sondern ein Bericht, sind drei fiktive Briefe integriert: 1. Eingabe des alexandrinischen Bibliothekars Demetrios von Phaleron an König Ptolemaios II. Philadelphos bezüglich der Über259

E. Zenger, Ester, Esterbuch. LThK3 3 (1995) Sp. 894f. E. Sitarz, Jeremiabrief. NBL 2 (1995) Sp. 287; C. Wolff,Jeremia II.2 Brief des Jeremia. LThK3 5 (1996) Sp. 774. 261 U. Mittmann-Richert, Zusätze zu Ester, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 97–113. 262 U. Mittmann-Richert, Eupolemos, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 174–184. 263 Klauck, Ancient Letters 250f.; J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Bd. 2: Die Texte der Höhle 4, München 1995, 144–147 und 361–376; H. v. Weissenberg, 4QMMT. Reevaluating the Text, the Function and the Meaning of the Epilogue (StTDJ 82), Leiden 2009; J. Kampen/M. J. Bernstein (Hg.), Reading 4QMMT. New Perspectives on Qumran Law and History (SBL.SS 2), Atlanta GA 1996. 260

2.2 Der Brief im Frühjudentum

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setzung des Gesetzes (Tora) der Juden (29–32 [par. Ios. ant. Iud. 12,35–39]) und 2. Brief des Königs an den jüdischen Hohenpriesters Eleazar in derselben Angelegenheit (35–40 [par. Ios. ant. Iud. 12,40–51]) mit 3. Antwortschreiben des Eleazar (41–46 [par. Ios. ant. Iud. 12,51–57]). Die Briefe sind wie das Gesamtwerk in gebildetem, wenn auch nicht literarisch hochstehendem Griechisch verfasst; entstanden ist die Schrift wohl in Alexandria.264 (n) 1. Makkabäerbuch (um 100 v. Chr.): Paraphrasen und Zitate von Briefen aus der diplomatischen Korrespondenz der Anführer des Makkabäeraufstandes mit den syrischen Königen Demetrios I., Alexander Balas, Demetrios II., Antiochos VI. und Antiochos VII. (10,3.8; 10,18– 19 [par. Ios. ant. Iud. 13,44–46]; 10,25–45 [par. Ios. ant. Iud. 13,47–57]; 11,30–37 [par. Ios. ant. Iud. 13,125–128]; 12,57; 13,36–40; 15,2–9) sowie mit dem römischen Senat und den Spartanern (12,1–4; 12,6–18 [par. Ios. ant. Iud. 13,165–170]; 12,19–23 [par. Ios. ant. Iud. 12,225–227]; 15,16–21); daneben findet sich ein Brief, mit dem die bedrängten Juden von Gilead Judas Makkabäus um Hilfe bitten (5,10–13), sowie die Erwähnung von Briefen des Mörders des Hohenpriesters Simeon und seiner Söhne, mit denen er sich die Macht sichern will (16,18f.); die zitierten (und paraphrasierten) Briefe gelten heute ebenso wie die im 1. Makkabäerbuch zitierten Bündnisverträge und Dekrete mehrheitlich als authentische Dokumente aus der Zeit des Makkabäeraufstandes (175–134 v. Chr.); das erhaltene Werk ist vermutlich die griechische Übersetzung eines verlorenen hebräischen Originals, das in Jerusalem verfasst wurde.265 (o) 2. Makkabäerbuch (um 100 v. Chr.): Das Buch beginnt mit zwei offiziellen Festbriefen der Jerusalemer Juden nach Alexandria anlässlich des Laubhütten- bzw. Tempelweihfestes (1,1–9; 1,10 – 2,19); der erste Brief ist ein authentischer Festbrief aus dem Jahr 124 v. Chr., der zweite Brief ein fingiertes Schreiben, das 164 v. Chr. unter der Autorität des Judas Makkabäus verfasst sein will (Entstehungszeit unklar). Die beiden Einleitungsbriefe (oder zumindest der erste) des originär griechisch verfassten Buches sind Übersetzungen hebräischer oder aramäischer Vorlagen. Die vier diplomatischen Schreiben zwischen Juden, Syrern und Römern (11,17–21.22– 26.27–33.34–38) werden heute als authentische Dokumente aus der Zeit des Makkabäeraufstandes angesehen. Als unecht gilt jedoch der Brief des sterbenden syrischen Königs Antiochos IV. Epiphanes an die Juden (9,19–27). Umstritten ist, ob das 2. Makkabäerbuch tatsächlich, wie es in 2,23f. angibt, die Epitome zu einem fünfbändigen Geschichtswerk eines Jason von Kyrene ist; auch sein Abfassungsort ist strittig.266 (p) 3. Makkabäerbuch (1. Jh v. Chr./1. Jh. n. Chr.): Zwei fiktive amtliche Schreiben des ägyptischen Königs Ptolemaios IV. zugunsten der Juden in seinem Reich (3,11–30; 7,1–9); griechisch; das Buch ist eine in Alexandria verfasste Diasporalegende.267 (q) 1. Esrabuch LXX [3. Esrabuch Vulg.] (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.): Amtlicher Briefwechsel des Perserkönigs Xerxes mit seinen Statthaltern wegen der jüdischen Heimkehrer (2,15–25 ‖ Esra 4,6–24), Referat eines Begleitschreibens des Königs Dareios für den jüdischen Statthalter Serubabel (4,47–63) sowie Briefwechsel des Königs Artaxerxes mit benachbarten, den Juden 264 G. S. Oegema, Aristeasbrief, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 174–184; J. B. Bauer, Aristeasbrief. LThK3 1 (1993) Sp. 972. 265 U. Mittmann-Richert, 1. Makkabäerbuch, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 20–39; G. Schmuttermayr, Makkabäer, Makkabäerbücher III.1 Erstes M.-Buch. LThK3 6 (1997), Sp. 1226f. 266 Klauck, Ancient Letters 261–271; ders., Briefliteratur 199–207; G. Schmuttermayr, Makkabäer, Makkabäerbücher III.2 Zweites M.-Buch. LThK3 6 (1997), Sp. 1227f.; U. Mittmann-Richert, 2. Makkabäerbuch, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 40–62 (bes. 46f.). 267 U. Mittmann-Richert, 3. Makkabäerbuch, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 63–81; G. Schmuttermayr, Makkabäer, Makkabäerbücher IV.1 Drittes M.-Buch. LThK3 6 (1997) Sp. 1228.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

feindlich gesonnenen Statthaltern (6,8–21 ‖ Esra 5,6–17); griechisch überliefert, aber Übersetzung aramäischer Vorlagen.268 (r) Philon von Alexandria (39/40 n. Chr.): In seiner Legatio ad Gaium erwähnt er mehrere amtliche Schreiben des Kaisers Caligula, des jüdischen Königs Agrippa I. und hoher römischer Beamter nach der Zerstörung des Altares für den Kaiserkult in Jamnia durch Juden und dem kaiserlichen Befehl, im Tempel von Jerusalem ein Bild des Kaisers zu errichten (leg. Gai. 199– 203. 207. 254. 259–260. 276–329. 330–334); griechisch.269 (s) Flavius Josephus (Ende 1. Jh. n. Chr.): Nach dem Usus griechisch-römischer Historiographie enthalten das Bellum Iudaicum und die Antiquitates Iudaicae zahlreiche Erwähnungen und Zitate von Briefen, die mehrheitlich aus der amtlichen und diplomatischen Korrespondenz der jüdischen Hohenpriester/Herrscher (vgl. ant. Iud. 13,64–71; 14,131) und der benachbarten Großmächte, wie den Seleukiden, Ptolemäern und Römern stammen (vgl. ant. Iud. 12,134–145. 257–264; 14,211–216. 224–227. 241–243. 244–246. 252. 254; 16,166–173; 18,308f. ‖ bell. Iud. 2,203), darunter das hochoffizielle Schreiben des Kaisers Claudius, mit dem er die Rückgabe des hohepriesterlichen Ornats an die Juden verfügt (ant. Iud. 20,11–14); andere Briefe sind Dubletten zu Briefzitaten in den alttestamentlichen und älteren jüdischen Schriften (vgl. dort). Erwähnt und zitiert werden auch Briefe und Brieffälschungen im Zusammenhang mit den Intrigen innerhalb der Familie des jüdischen Königs Herodes I. (ant. Iud. 17,134–141 ‖ bell. Iud. 1,602–661) sowie Briefe im Kontext der Inhaftierung und Freilassung des späteren jüdischen Königs Agrippa I. in Rom (ant. Iud. 18,161–164. 234f.). In seiner Autobiographie erwähnt/zitiert Flavius Josephus Briefe aus dem Kontext seiner Tätigkeit als jüdischer General im Krieg gegen die Römer (vita 48–51. 216–236) sowie seinen Briefwechsel mit König Agrippa II. über sein Bellum Iudaicum (vita 364–366). Alle Briefzitate in griechisch.270 (t) syrische Baruchapokalypse (100–130 n. Chr.): Fiktiver Brief des Baruch an die Exilierten in Babel bzw. die verschleppten Nordstämme (77,17 – 88,1); die erhaltene syrische Fassung geht auf einen griechischen Text zurück, der wahrscheinlich die Übersetzung eines hebräischen oder aramäischen Originals ist (teilweise Annahme, dass der griechische Text das Original ist; so bei Oegema); in Palästina entstanden.271 (u) Paraleipomena Jeremiou (2. Jh. n. Chr.; evtl. aber auch noch 1. Jh. n. Chr.): Fiktiver Brief des Baruch an Jeremia (6,17–23) und fiktiver Antwortbrief des Jeremia (7,23[24]–29[35]); wohl originär in Griechisch verfasst; in Palästina entstanden.272 (v) Testament des Salomo (1./3. Jh. n. Chr.; christlich bearbeitet, falls nicht sogar christlich verfasst): Brief des Königs von Arabien an König Salomo (22,1–5), archaisierender Brief des Salomo (C 13,11–12); Brief des Assyrerkönigs an Salomo (E 7,1–2); griechisch.273

268 F. J. Klijn, Esra, Esraschriften II.1 3. Esrabuch. LThK3 3 (1995) Sp. 888; U. MittmannRichert, 3. Esra-Buch, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 4–19. 269 F. Siegert, Philon v. Alexandrien. LThK3 8 (1999) Sp. 245f. 270 H. Schreckenberg, Josephus Flavius. LThK3 5 (1996) Sp. 1005–1007. 271 Klauck, Ancient Letters 272–280; ders., Briefliteratur 209–214; J. Schreiner, Baruch, Baruchschriften II.1 syrBar. LThK3 2 (1994) Sp. 49f.; G. S. Oegema, Die syrische Baruchapokalypse, in: JSHRZ 6,1,5 (2001) 58–75. 272 Klauck, Ancient Letters 280–289; ders., Briefliteratur 215–221; C. Wolff, Jeremia II.1 Paralipomena Jeremiae. LThK3 5 (1996) Sp. 773f.; U. Mittmann-Reichert, Paraleipomena Jeremiou, in: JSHRZ 6,1,1 (2000) 139–155. 273 M. Lattke, Salomo III.3 Testament S.s. LThK3 8 (1999) Sp. 1492.

2.2 Der Brief im Frühjudentum

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(w) Rabbinische Schriften (1./3. Jh. n. Chr.?): In den rabbinischen Schriften aus der tannaitischen Zeit finden sich kaum Zitate und Erwähnungen von Briefen; die Zuschreibung der wenigen hier überlieferten Briefe an bedeutende Rabbinen des 1./3. Jahrhunderts n. Chr. ist zweifelhaft: 1. drei aramäische Briefe, die Rabbi Gamaliël (I.: um 25/50 n. Chr., oder II.: um 70/110 n. Chr.) zugeschrieben werden (jSan 18d [par. jMSh 56c; tSan 2,6]). — 2. zwei hebräische Briefe, die von Rabbi Simon ben Gamaliël und Rabbi Johanan ben Zakkai (um 66/74 n. Chr.) gemeinsam verfasst sein sollen (MTann 26,23). — 3. ein aramäischer Brief, der Rabbi Simon ben Gamaliël (Mitte 1. Jh. n. Chr.) zugeschrieben wird (jSan 11a; eine Dublette zum 3. Brief des Gamaliël s. o.). — 4. ein hebräischer Brief der Juden von Jerusalem an die in Alexandria (1. Hälfte 1. Jh. n. Chr.) wegen der Einsetzung des Juda ben Tabbai als Patriarch (Nasi) in Jerusalem (jChag 77d [par. jSan 23c; bSan 107b; bSota 47a]). — 5. Anfang eines hebräischen Briefes von Rabbi Juda I. ha-Nasi (gest. um 220 n. Chr.) an Kaiser Antoninus (BerR 75,5) und Verweis auf drei Briefe des Rabbi Juda I. ha-Nasi an Rabbi Hannania (jSan 19a; jNed 40a).274

Unter den in der alttestamentlich-jüdischen Literatur überlieferten Briefen – deren Absender nur zu einem kleinen Teil Juden sind – lassen sich einige relativ leicht als fiktive oder pseudepigraphe Briefe, d. h. als »Fälschungen«, erkennen. Dies gilt für den Brief am Ende der syrischen Baruchapokalypse, die beiden Briefe in den Paralipomena Jeremiou, die Briefe der griechischen Zusätze zum Esterbuch und die Korrespondenz des Salomo bei Eupolemos. Für die Briefe in den Makkabäerbüchern und bei Flavius Josephus ist die Frage, authentisch oder fingierte, wie auch bei den griechischen und römischen Historikern für jeden Brief einzeln zu treffen.275 Dabei ist mit der Bearbeitung erhaltener Originaldokumente und ähnlichem zu rechnen. Für einige Briefe wird die Frage der Authentizität offen bleiben müssen. Ähnliches gilt für die aramäischen Briefe im kanonischen Esra-Buch der hebräischen Bibel. Die durch die beiden Einleitungsbriefe des 2. Makkabäerbuches (1,1–9 und 1,10–2,19) bereits für das 2. Jahrhundert v. Chr. belegte Praxis der Festbriefe, die von den religiösen Autoritäten Jerusalems in die Diaspora verschickt wurden, setzten nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. offensichtlich die Rabbinen des Lehrhauses von Jabne fort (vgl. bBQ 99a; tShab 13,13). Denn die aramäischen Briefe des Rabbi Gamaliël I. (II.?) repräsentieren möglicherweise die Gewohnheit autoritativer Rundschreiben des jüdischen Lehrhauses an alle Gemeinden der Diaspora (vgl. jSan 18d).276 Die Praxis solcher religiöser Unterweisungen in Briefform entstand bei den Juden in der hellenistisch-römischen Zeit wohl unter dem Einfluss des griechischen philosophischen Lehrbriefes.277 Daneben belegen die rabbinischen Schriften den Brauch, Boten mit 274

Dazu Klauck, Ancient Letters 258–260; ders., Briefliteratur 197f.; Alexander, Epistolary Literature 581f.; außerdem Pardee, Handbook 183f.; Taatz, Frühjüdische Briefe 82–90. 275 Ausführlich Alexander, Epistolary Literature 585–588. 276 Taatz, Frühjüdische Briefe 86–90; Aune, Environment 180. 277 Vgl. dazu auch Schneider, Brief (RAC) Sp. 567; Alexander, Epistolary Literature 584. Nach Deißmann, Bibelstudien 230–234, erfolgte die jüdische Rezeption des griechischen philosophischen Lehrbriefes (der Epistel) im hellenistisch geprägten Diasporajudentum in Alexandria. Er müsste dann von dort in das palästinische Judentum übernommen worden sein.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Empfehlungsbriefen an die Gemeinden in der Diaspora zu schicken (jChag 76c; jNed 42b; jMQ 81c; vgl. Apg 9,1f.; 28,2f.). Insgesamt aber zeigt die geringe Anzahl von Briefzitaten und -erwähnungen in den rabbinischen Schriften, dass der Brief im rabbinischen Judentum nach 70 n. Chr. nicht dieselbe Bedeutung erlangte wie für das Christentum.278 Anschaulich führt Flavius Josephus mit seiner romanhaft ausgeschmückten Erzählung über das intrigante Spiel mit echten und gefälschten Briefen am Hof des Herodes I. dem Leser vor Augen, dass bei den Juden Palästinas in der frühen römischen Zeit auch das Schreiben von mehr oder weniger privaten Briefen zumindest in der Oberschicht selbstverständlich und weit verbreitet war.279 Davon haben sich aber, anders als aus Ägypten, keine originalen Zeugnisse erhalten. Die wenigen in Palästina gefundenen jüdischen Originalbriefe gehören in den Bereich der amtlichen Korrespondenz und stammen zudem aus einem zeitlich und personell eng umgrenzten Bereich. Wie auch die literarisch überlieferten Briefe sind diese jüdischen Originalbriefe – entsprechend der Sprachsituation in Palästina in hellenistisch-römischer Zeit – in Hebräisch, Aramäisch und Griechisch verfasst. Unter den 173 entdeckten Texten (in Hebräisch, Aramäisch, Griechisch, Latein und Arabisch) von Murabba‘ât fanden sich auch acht (bzw. elf) hebräische Briefe aus der Zeit des 2. Jüdischen Aufstandes unter Simon bar Kosiba (Bar Kochba; 132–135).280 Alle diese Briefe stammen aus dem Kreis der Anführer des Aufstandes (zwei von Bar Kochba selbst) und dienen zur Regelung militärisch-administrativer Angelegenheiten.281 Von Simon bar Kosiba (bzw. seinem Umfeld) stammen auch vierzehn (bzw. fünfzehn) Briefe aus Naḥal Ḥever; von diesen Briefen sind vier hebräisch, acht (bzw. neun) aramäisch und zwei griechisch verfasst.282 Interessant sind die Brieffunde von Naḥal Ḥever 278

Vgl. Stowers, Letter Writing 41. Vgl. Stowers, Letter Writing 41. 280 Zu den Bar Kochba-Briefen vgl. auch Klauck, Ancient Letters 289–296; ders., Briefliteratur 321–226. 281 Dazu Pardee, Handbook 119f.; Taatz, Frühjüdische Briefe 100. Die beiden Briefe Bar Kochbas sind Mur 43 und 44; vgl. DJD II,159–163. Die übrigen sechs Briefe sind Mur 42 und 45–49; vgl. DJD II,155–159 und 163–168. Weitere Briefe aus diesem Kreis könnten die in nur kleinen Fragmenten erhaltenen Texte Mur 50–52 sein; vgl. DJD II,168f. Der Adressat des Briefes Mur 42 und der beiden Briefe Bar Kochbas ist Yeshua b. Galgula, einer der Anführer aus dem Kreis um Bar Kochba; er ist eventuell auch der Adressat der Briefe Mur 51 und 52 (falls es sich bei diesen Fragmenten um Teile von Briefen handelt). 282 Dazu Pardee, Handbook 141; Taatz, Frühjüdische Briefe 100; Fitzmyer, Notes 209. Die hebräische Briefe sind 5/6 Ḥev [P.Yadin] 49, 51, 60 und 61 (die beiden letzten nur sehr fragmentarisch). Die aramäischen Briefe sind 5/6 Ḥev [P.Yadin] 50, 53, 54, 55, 56, 57, 58 und 63; als neunten Brief kann man eventuell auch das Fragment 5/6 Ḥev [P.Yadin] 62 zu diesen aramäischen Briefen rechnen; doch ist dieser Text so Bruchstückhaft, dass weder über seinen Inhalt noch über seine Sprache Klarheit besteht. Die beiden griechischen Briefe sind 5/6 Ḥev [P.Yadin] 52 und 59. Die Texte mit Übersetzung und Kommentar in JDS III. 279

2.2 Der Brief im Frühjudentum

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auch deshalb, weil sie belegen, dass man in den national-revolutionären Kreisen des Bar Kochba keine Bedenken gegen die Sprache der »Heiden« hatte, sondern sich bedenkenlos des Griechischen bediente. Ein weiterer hebräischer Brief an Bar Kochba wurde in Naḥal Ṣe’elim gefunden.283 Aus der Zeit vor 73 n. Chr. stammen ein griechischer Papyrusbrief und ein aramäischer Brief auf einem Ostrakon aus Masada.284 Auch von den griechischen Papyrusbriefen aus Ägypten lassen sich mit einer gewisse Sicherheit zumindest einige jüdischen Absendern zuweisen.285 Darunter findet sich nur ein Privatbrief im eigentlichen Sinn (CPJ II 424 [= P.Bad. II 35; 87 n. Chr.]). In den meisten dieser Briefe geht es um Probleme des ländlich-bäuerlichen Alltags (CPJ I 4 [= P.Cair. Zen. I 59076/SB III 6790; 257 v. Chr.]; CPJ I 5 [= P.Cair. Zen. I 59075/SB III 6719; 257 v. Chr.]; CPJ I 12 [= P.Cair. Zen. III 59509; um 250 v. Chr.]; CPJ I 13 [um 250 v. Chr.]; CPJ I 141 [1. Jh. v. Chr.]). Daneben finden sich auch Eingaben an Behörden (CPJ I 37 [222 v. Chr.]; CPJ I 43 [= P.Ryl. IV 578; 159/158 v. Chr.]; CPJ I 128 [= P.Ent. 23; 218 v. Chr.]) und Geschäftsbriefe (CPJ III 469 [= P.Princ. II 73; 3. Jh. n. Chr.]; CPJ III 479 [= P.Got. 114; 3./4. Jh. n. Chr.]). Der Vollständigkeit halber seien hier auch die aramäischen Briefe aus der jüdischen Militärkolonie von Elephantine in Ägypten (4. Jh. v. Chr.) genannt, bei denen es sich nahezu ausschließlich um amtliche Briefe handelt.286 2.2.2 Zum Formular der frühjüdischen Briefe Vorbemerkung: Will man aus den genannten literarisch überlieferten und im Original erhaltenen Briefen das bei den Juden in hellenistisch-römischer Zeit gebrauchte Briefformular rekonstruieren, ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten.287 Bei den literarisch überlieferten Briefen ist zu beachten, dass ein Großteil dieser Briefe nicht von Juden geschrieben ist und dass es sich bei vielen dieser »Briefzitate« nicht um authentische Briefe handelt. Da es sich bei den Briefzitaten zudem mehrheitlich um offizielle, amtliche und diplomatische Schreiben handelt, lassen sich aus ihnen kaum Erkenntnisse über das Formular des Privatbriefes gewinnen. Hinzukommt, dass es sich bei etlichen der in den griechisch verfassten Schriften zitierten Briefe, sofern sie authentisch sind, um Übersetzungen aramäischer oder hebräischer Vorlagen handeln muss. Bei Übersetzungen ist damit zu rechnen, dass das Formular (in der Regel nur das Präskript, da das Postskript meist fehlt) griechischen Gewohnheiten angepasst 283

Der Text des Briefes XḤev/Se 30 mit einer englischen Übersetzung und kommentierender Einführung in DJD XXVII,103f. 284 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 579. 285 Im einzelnen bei Klauck, Briefliteratur 193f.; ders., Ancient Letters 251f.; zum Problem der Identifizierung jüdischer Briefe unter den ägyptischen Papyri vgl. auch Alexander, Epistolary Literature 579 Anm. 1. 286 Dazu Taatz, Frühjüdische Briefe 91–99. 287 So bei Schneider, Brief (RAC) Sp. 566.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

wurde.288 Als sichere Basis für die Erschließung der Briefgewohnheiten der Juden in der Kaiserzeit bleiben also nur die im Original erhaltenen Briefe aus Masada, Naḥal Ḥever, Naḥal Ṣe’elim und Murabba‘ât (sowie die jüdischen Papyrusbriefe aus Ägypten).289 Auch wenn dieses Corpus für definitive Aussagen zu klein ist, ergibt sich daraus, bei zusätzlicher Berücksichtigung der literarisch überlieferten Briefe, in etwa folgendes Bild: A. Hebräische Briefe:290 (1) Das Präskript besteht in den hebräischen Originalbriefen aus Naḥal Ḥever und Murabba‘ât aus der Angabe von Absender und Empfänger mit »von X an Y [mit Titel]« (… ‫ )מן־ … ל־‬und dem Eingangsgruß 291 ‫( שלום‬Friede, Heil, Wohlergehen). Diese Eröffnungsformel findet sich auch im Brief des Rabbi Simon ben Gamaliel und Rabbi Johanan ben Zakkai (jSan 11a) und im Brief der Juden von Jerusalem an die Juden in Alexandria (jChag 77d).292 In Briefen an höher gestellte Personen konnte offenbar – wie im griechischen Briefe – als Zeichen der Ehrerbietung der Name des Adressaten vorangestellt werden (vgl. XḤev/Se 30)293. Diese Umstellung findet sich aber auch im Präskript eines Briefes von Bar Kochba selbst (Mur 48); möglicherweise lautete der Eingangsgruß in diesem Brief ‫»( דברי שלום מן שמאון‬Worte des Grußes von Simon …«). Den Beginn des Briefcorpus kann, wie im griechischen Brief, eine mit ‫ ידע‬gebildete Kundgabeformel anzeigen (Mur 42).294 — (2) Das Postskript scheint in seiner vollen Form aus dem Schlussgruß und der »Unterschrift« des Absenders zu bestehen (Mur 42; 46; XḤev/Se 30); es kann aber auch nur der Schlussgruß (Mur 44) oder nur die Namensunterschrift stehen (Mur 43).295 Der Schlussgruß ist – in Rückgriff auf den Eingangsgruß – mit 288

Vgl. Alexander, Epistolary Literature 586. Vgl. Alexander, Epistolary Literature 589; Pardee, Handbook 120. 290 Erhalten sind neben den Briefzitaten in der hebräischen Bibel und den genannten hebräischen Originalbriefen ungefähr 48 weitere hebräische Originalbriefe (fast alle auf Ostraka) aus der Zeit 630–586 v. Chr., die jedoch aufgrund des zeitlichen Abstandes für die Frage nach der jüdischen Briefpraxis bzw. dem jüdischen Briefformular in hellenistisch-römischer Zeit kaum von Belang sind. Vgl. zu diesen Briefen Aune, Environment 175; Pardee, Handbook passim; die Texte mit englischer Übersetzung und Einführung bei Lindenberger, Letters. 291 Insgesamt dazu Pardee, Handbook 145–149; Alexander, Epistolary Literature 590; Pardee, Handbook 126; Aune, Environment 175f. Nur in vier der älteren hebräischen Briefe (7./6. Jh. v. Chr.) findet sich im Präskript die Angabe des Absenders; man ging offenbar davon aus, dass diese Information vom Überbringer des Briefes dem Empfänger mündlich mitgeteilt wurde. Zu den Präskripten der älteren hebräischen Briefe vgl. auch Lindenberger, Letters 7f. (Adresse) und 9 (Grußformel). 292 Vgl. Pardee, Handbook 188; Alexander, Epistolary Literature 593. 293 Das Präskript in diesem Brief, der an den als »Fürst Israel« titulierten Simon bar Kochba (ben Kosiba) gerichtet ist, lautet: ‫ה … שלמ‬/‫»( לשמעון בן כוסבא נסי ישראלמנ שמעון בן מתנים‬an Simon ben Kosiba den Fürsten Israels von Simon dem Sohn des Matnim/Matnih …: Gruß!«). 294 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 593. 295 Dazu der Überblick bei Pardee, Handbook 151f. Die älteren hebräischen Briefe besit289

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2.2 Der Brief im Frühjudentum ‫( שלום‬bzw. ‫ )הוה שלום‬als Wohlergehenswunsch formuliert.

296

Diese Formel könnte eine Nachahmung des griechischen ἔρρωσο sein, da ein Schlussgruß in den älteren hebräischen (und aramäischen) Briefen durchgängig fehlt.297 Die Unterschrift hat in den Briefen aus Naḥal Ḥever und Murabba‘ât gewöhnlich die Form »X Sohn von Y, Schreiber (‫( «)כתבה‬Mur 42); nicht immer ist klar, ob hier der Absender oder der Schreiber des Briefes gemeint ist. Neben ‫ כתבה‬finden sich auch Zusätze wie ‫»( אל נפכה‬für sich selbst«; vgl. Mur 42; 43) oder ‫עד‬ und ‫( מעיד‬zur Angabe von Zeugen oder ähnlichem; vgl. Mur 42).298 Die Unterschriftsformel scheint gewöhnlich nach dem Schlussgruß zu stehen (Mur 42; 48; XHev/Se 30); möglich ist offenbar jedoch auch die umgekehrte Reihenfolge (Mur 46; so auch in den beiden griechischen Briefen aus Naḥal Ḥever; s. u.).299 Die genannten frührabbinischen Briefe haben (nach älterem Brauch) weder Schlussgruß noch Unterschrift. B. Aramäische Briefe:300 (1) Das Präskript der aramäischen Briefe von Naḥal Ḥever lautet in der vollen Form »X an Y ‫( שלום‬Frieden, Heil, Wohlergehen)« (5/6 Ḥev 54; 56; 58).301 Die in älteren Briefen belegte erweiterte Grußformel zen keine Schlussformeln, sondern enden sofort nach der Mitteilung des Briefcorpus; vgl. Lindenberger, Letters 9f. 296 Ein umfangreicherer Schlussgruß findet sich in dem offiziellen Verwaltungsdokument Mur 42: ‫»( אהוה שלומ וכל בית ישראל‬Heil sei [dir] und dem ganzen Haus Israel«). 297 Vgl. Pardee, Handbook 127; Alexander, Epistolary Literature 592; Aune, Environment 175. 298 Dazu Pardee, Handbook 125 und 127. Mit ‫ כתבה‬scheint eindeutig nur in dem aramäischen Brief 5/6 Ḥev 56 der Sekretär gemeint zu sein. Vgl. auch Alexander, Epistolary Literature 590f.; Fitzmyer, Notes 217. In XḤev/Se 30 steht die Namensunterschrift (hier eindeutig der Absender) ohne ‫( כתבה‬hier nach dem Schlussgruß). 299 Näheres dazu bei Alexander, Epistolary Literature 590; außerdem Pardee, Handbook 131 und 136f. 300 Das Corpus der erhaltenen aramäisch Briefe umfasst ca. 120 Texte (auf Papyrus, Pergament, Ostraka), fast alle stammen aus dem 5./4. Jh. v. Chr.; fast alle davon sind private oder öffentliche/amtliche Briefe, nur wenige literarisch, wie z. B. die beiden fingierten königlichen Rundschreiben in Dan. Auch hier sind die älteren Briefe aufgrund des großen zeitlichen Abstandes (und nichtjüdischer Provenienz) für die Frage nach der Form des jüdischen Briefes in hellenistisch-römischer Zeit nicht von Belang; die Texte mit englischer Übersetzung und Einführung bei Lindenberger, Letters. Zu den älteren nichtjüdischen aramäischen Briefen aus der Zeit vor und um 500 v. Chr. sei auf die Ausführungen bei Fitzmyer, Notes passim, und Dion, Family Letter passim, verwiesen. 301 Fitzmyer, Notes 211–213, nennt für das gesamte Corpus der erhaltenen aramäischen Briefe fünf Varianten der Angabe von Adressat und Absender: (1) An X, dein Knecht/Bruder/ Sohn [Grüße], (2) Von X an Y [Grüße], (3) An X von Y [Grüße], (4) X an Y [Grüße], (5) An X [Grüße]. Dabei drückt die Selbstbezeichnung »Knecht« (analog die Anrede »Herr«, die ebenfalls im Präskript verwendet werden kann) nicht das Verhältnis Herr/Sklave zwischen den Briefpartnern aus, sondern ist Ausdruck der Höflichkeit bei sozial nicht Gleichgestellten; die Selbstbezeichnung und Anrede mit »Bruder« dagegen steht im Briefwechsel zwischen sozial Gleichgestellten. Vgl. auch Lindenberger, Letters 8f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

‫שׁלָמָא כֹלָּא‬ ְ (»Fülle des Heils«; vgl. Esra 5,7) begegnet in den aramäischen Briefen aus Naḥal Ḥever nicht. Die Grußformel wurde offensichtlich als nicht zwingend notwendig erachtet, da sie in einigen Briefen fehlt (5/6 Ḥev 50; 57; 63).302 Absender und Adressat konnten offenbar auch wie im hebräischen Brief mit »von X an Y« (… ‫ )מן־ … ל־‬angegeben werden (so im Brief des Juda haNasi an Antoninus Pius in BerR 75,5 und in 5/6 Ḥev 58).303 Singulär sind die Eröffnungen »Ein Brief des Simon bar Kosiba (Bar Kochba): Grüße an Jonathan bar Manasse« (5/6 Ḥev 53) und »Simon bar Kosiba an Jehonathan und Mesabalah: ein Brief« (5/6 Ḥev 55)304. Die drei aramäischen Briefe des Rabbi Gamaliël (jSan 18d; jMSh 56c; tSan 2,6) benutzen die abweichende Grußformel ‫שלמכון‬ ‫»( ישגא‬möge Euer Wohlergehen sich mehren«), möglicherweise in Nachahmung der beiden aramäischen Briefe des Danielbuches (Dan 3,31; 6,26).305 Außerdem fehlt im Präskript der drei Briefe des Gamaliël die Nennung des Absenders; man ging offenbar davon aus, dass in bestimmten Fällen zur Identifizierung des Absenders auch der Briefbote und die Unterschrift genügen konnten (s. u.). Das Ende des Präskripts und den Beginn des Briefcorpus markiert (in den Briefen aus Naḥal Ḥever) gewöhnlich ein ‫די‬, das den Wechsel vom indirekt formulierten Briefeingang zur direkten Anrede des Adressaten anzeigt (sog. di recitativum) oder eine mit ‫ ידע‬gebildete Kundgabeformel (wie in den hebräischen Briefen).306 — (2) Das Postskript der aramäischen Briefe aus Naḥal Ḥever ist wie bei den hebräischen Briefen im Rückgriff auf das ‫ שלם‬des Eröffnungsgrußes als Wohlergehenswunsch ‫הוו[ הוא שלם‬/‫הוי‬/‫( ]הוה‬es sei Friede/ Wohlergehen) formuliert (vgl. 5/6 Ḥev 53; 56; 57; 58; 63); der Schlussgruß war möglicherweise nicht obligatorisch (vgl. 5/6 Ḥev 55).307 Ein Brief schließt statt

302

Vgl. Alexander, Epistolary Literature 589f. Nach Alexander, Epistolary Literature 952f., ist der Brief des Juda ha-Nasi der einzige aramäische Beleg für diese Form des Präskripts, da er von der älteren Rekonstruktion des Textes von 5/6 Ḥev 58 ausgeht (Fitzmyer/Harrington, Manual 160f. [Nr. 57]; anders bei Yadin in JDS III). Ein weiterer Beleg könnte der sehr fragmentarisch erhaltene 5/6 Ḥev 61 sein, wenn seine Sprache doch als aramäisch, nicht hebräisch zu bestimmen ist. 304 Mit Yadin (JDS III); anders Fitzmyer/Harrington, Manual 160f. [Nr. 59]. 305 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 590; Fitzmyer, Notes 214–216. In den älteren, nichtjüdischen Briefen findet sich auch die Formeln ‫שלם מראי אלהיא כלא ]ישכלו[ שגיא בכל‬ ‫( עדן‬das Wohlergehen meines Herrn mögen sich alle Götter angelegen sein lassen für alle Zeiten); daneben auch Formeln mit ‫( ברך‬segnen), die in finiter Verbform formuliert werden (ich segne dich im Namen des [Gottes] …; sei gesegnet von …). In einigen der älteren aramäischen Briefe ist dem Präskript eine Anrufung der lokalen Gottheit in Form eines Grußes an ihren Tempel vorangestellt (Gruß an den Tempel von …); vgl. Fitzmyer, Aramaic 32; Aune, Environment 174. 306 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 590 und 593. 307 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 589f. In den älteren (?) nichtjüdischen aramäischen Briefen stehen statt des kurzen Schlussgrußes ‫ הוא שלם‬auch längere Formeln in der Art von ‫( לשלמכי שלחת ספרה זנה‬zu Deinem Wohlsein habe ich diesen Brief geschickt); vgl. Fitzmyer, Notes 217; außerdem Lindenberger, Letters 9f. 303

2.2 Der Brief im Frühjudentum

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des Schlussgrußes mit der auch in den hebräischen Briefen belegten Unterschriftsformel »X Sohn von Y, Schreiber (‫( «)כתבה‬5/6 Ḥev 50); bei dem hier genannten Simon, den Sohn des Jehuda, handelt es sich zweifelsohne um den Schreiber, der den Brief im Auftrag des Absenders Simon bar Kosiba (Bar Kochba) ausgefertigt hat; in dem ebenfalls ohne einen Schlussgruß schließenden Brief 5/6 Ḥev 54 könnte der am Ende genannte Schemuël, der Sohn des Ammi, ebenfalls der Schreiber sein, der den Brief im Namen des Absenders Simon bar Kosiba (Bar Kochba) ausgefertigt hat, doch fehlt hier der Zusatz 308 ‫כתבה‬. Das Schwanken in der Gestaltung des Briefschlusses mag daher rühren, dass – wie bereits angemerkt – die älteren aramäischen und hebräischen Briefe keine derartige Schlussformel besaßen und diese erst in Anlehnung an das griechische Briefformular geschaffen wurde. Insofern ist es nicht auffällig, dass die aramäischen Gamaliël-Briefe keine Schlussformel besitzen. C. Griechische Briefe: (1) Das Präskript der beiden griechischen Originalbriefe aus Naḥal Ḥever (5/6 Ḥev 52; 59) folgt der üblichen griechischen Form ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν.309 — (2) Das Postskript der beiden Originalbriefe lautet wie in griechischen Briefen üblich ἔρρωσο (5/6 Ḥev 52) bzw. verbunden mit der Anrede des Adressaten ἔρρωσο ἀδελφέ (5/6 Ḥev 59), wie sie auch in anderen auf Papyrus erhaltenen griechischen Briefen zu finden ist (vgl. die Belege auf S. 246 zu Gal 6,18).310 Die Unterschrift steht in den beiden Briefen vor dem Schlussgruß (nur der Name ohne den in den aramäischen und hebräischen Briefen üblichen Zusatz »Schreiber«); wegen der Namensgleichheit handelt es sich hier eindeutig um den Absender selbst, nicht um einen Schreiber. Auch die Briefzitate in den jüdischen Geschichtswerken folgen hinsichtlich Präskript und Postskript in der Regel dem griechischen Formular, z. B. die drei Briefe im Aristeasbrief (wobei allerdings nur der letzte einen jüdischen Verfasser hat); öfter ist jedoch der Schlussgruß weggelassen. Die ägyptischen Papyrusbriefe (vermutlich) jüdischer Verfasser (in CPJ) zeigen im Formular gegenüber anderen griechischen Originalbriefen keine signifikanten Besonderheiten. Auswertung: Insgesamt erweisen sich demnach die griechischen, aramäischen und hebräischen Briefen im Briefformular als prinzipiell ähnlich und vergleichbar.311 Signifikant ist auf den ersten Blick allerdings der Unterschied in 308 Nach Alexander, Epistolary Literature 590f., kann die Formel an sich sowohl für die Namensunterschrift des Absenders als auch zur Angabe eines Sekretärs dienen; vgl. auch Fitzmyer, Notes 217 (er nimmt für die aramäischen Briefe die Angabe eines Sekretärs an); Pardee, Handbook 125. 309 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 589f. 310 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 591. Für die Anfügung einer direkten Anrede des Adressaten an den Schlussgruß im griechischen Brief vgl. auch Exler, Form 74–77. 311 Vgl. Alexander, Epistolary Literature 592. Zieht man zusätzlich die älteren aramäischen Briefe heran, lassen sich einige auffällige Berührungen in den brieflichen Formeln zwi-

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

der syntaktischen Gestaltung des Präskripts: Die semitischen, d. h. die aramäischen und hebräischen Briefe, formulieren den Eingangsgruß in direkter Anrede, indem sie nach der Angabe des (Absenders und) Adressaten das auch bei mündlichen Gesprächen als Grußformel verwendete Nomen ‫שלום‬/‫ שלם‬setzen (»X [sc. schreibt/sagt] an/zu Y: »Sei gegrüßt!«). Die griechischen Briefe dagegen überführen den direkten Gruß χαίρε durch die Wahl des Infinitivs χαίρειν in die indirekte Form (X [sc. sagt] dem Y, dass er gegrüßt sein soll). Relativierend ist jedoch anzumerken, dass das Empfinden für die syntaktische Struktur des griechischen Präskripts allmählich verblasste und der Infinitiv χαίρειν zunehmend als eine von der Absender- und Adressatenangabe (ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι) losgelöste, selbständige Grußformel empfunden wurde, die man schließlich auch durch einen direkten Gruß (χαίρε oder χαίροις) ersetzen konnte (vgl. S. 47); dies minimiert den Unterschied zwischen einem semitischen und einem griechischen Briefpräskript.312 Bei der Übersetzung kann das aramäische Präskript wörtlich ins Griechische übertragen werden, so z. B. in Esra 5,7b: Δαρείῳ τῷ βασιλεῖ εἰρήνη πᾶσα ְ ‫לְדָ רְ יָוֶשׁ מַלְכָּא‬. Die griechische Übersetzung (LXX) für aramäisch ‫שׁלָמָא כֹלָּא‬ eines im Original in Aramäisch verfassten Festbriefes der Jerusalemer Autoritäten an die Juden in Ägypten aus dem Jahr 124/123 v. Chr., der am Beginn des 2. Makkabäerbuches steht, dagegen vermischt griechische und orientalische Briefkonventionen, indem sie das griechische χαίρειν durch das Nomen εἰρήνην ἀγαϑήν ergänzt: τοῖς ἀδελφοῖς τοῖς κατ᾿ Αἴγυπτον Ἰουδαίοις χαίρειν οἱ ἀδελφοὶ οἱ ἐν Ἱεροσολύμοις Ἰουδαῖοι καὶ οἱ ἐν τῇ χώρᾳ τῆς Ἰουδαίας εἰρήνην schen den aramäischen und griechischen Briefen feststellen. Äquivalente finden sich in den aramäischen Briefen z. B. für die griechische Proskynema-Formel, den Gesundheitswunsch und die mit ἀσπάζομαι/ἀσπάζεται formulierten Grußformeln außerhalb des Präskripts. Diese Ähnlichkeiten verdanken sich wohl der Tatsache, dass sowohl der griechische als auch der aramäische Brief von der ägyptischen Brieftradition beeinflusst sind; denn die genannten Elemente in den aramäischen und griechischen Briefen lassen sich problemlos auf entsprechende Formulierungen in den ägyptischen Briefen zurückführen. Dazu Dion, Family Letter 66–71. 312 Gerhard, Untersuchungen 33f., verweist auf ein in den Aristophanes-Scholien (zu Plut. V. 322) überliefertes Zitat aus der verlorenen Monographie eines gewissen Dionysios über das χαίρειν im Briefpräskript. Hier wird χαίρειν als περιττὸν καὶ περὶ τὴν σύνταξιν ἀσύστατον bezeichnet; demnach wurde χαίρειν nach ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι als überschüssig und überflüssig empfunden und konnte deshalb – wie auch Beispiel unter den Papyrusbriefen belegen – nach Belieben angefügt oder weggelassen werden. Dies lasse erkennen, dass man das Präskript im griechischen Brief (zumindest ab einer bestimmten Zeit) nicht zwingend als syntaktische Einheit verstand; in der allgemeinen Wahrnehmung verselbständigte sich das χαίρειν offenbar zunehmend, da das Wissen um die Ellipse λέγει und damit auch um die syntaktische Struktur des Präskripts verloren ging. Auf dieses Verblassen des Wissens um die ursprüngliche syntaktische Konstruktion des Präskripts gehen – in den Augen Gerhards – auch die veränderten Formen des Präskripts zurück, die sich nicht mehr durch das Ausfallen eines λέγει erklären lassen (z. B. τῷ δεῖνι παρὰ τοῦ δεῖνος χαίρειν, wo eindeutig ein gedanklicher Einschnitt vor dem Grußwort und damit Zweigliedrigkeit des Präskripts anzunehmen ist). Vgl. dazu auch Koskenniemi, Studien 164–167.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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ἀγαϑήν (1,1).313 Das Präskript des daran anschließenden, ursprünglich wahrscheinlich ebenfalls aramäisch verfassten zweiten Festbriefes (aus dem Jahr 164/163 v. Chr.?) wiederum besitzt die übliche griechische Form: οἱ ἐν Ἱεροσολύμοις καὶ οἱ ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ καὶ ἡ γερουσία καὶ Ἰουδας Ἀριστοβούλῳ διδασκάλῳ Πτολεμαίου τοῦ βασιλέως ὄντι δὲ ἀπὸ τοῦ τῶν χριστῶν ἱερέων γένους καὶ τοῖς ἐν Αἰγύπτῳ Ἰουδαίοις χαίρειν καὶ ὑγιαίνειν (2 Makk 1,10).314 Eine interessante Sonderform bietet das Präskript des Briefes in der sogenannten syrischen Baruchapokalypse: »So spricht Baruch, der Sohn des Neria, zu den Brüdern, die gefangen weggeführt wurden: Erbarmen und Friede sei mit Euch!« (2 Bar 78,2; vgl. Jer 29,4). Die Formel findet sich als mündlicher Segenswunsch auch im Buch Tobit (7,11: ἔλεος καὶ εἰρήνη); und eine ähnliche Formel steht ebenfalls als Segenswunsch im griechisch verfassten Buch der Weisheit (χάρις καὶ ἔλεος 3,9; 4,15).315 Der auffällige Eingangsgruß der Briefes der syrischen Baruchapokalypse könnte also als »Abweichen« vom Briefstil zur Rede (Predigt) gewertet werden. Ein singuläres, in seiner Form nicht eindeutig herleitbares Präskript bietet der Brief des Baruch in den Paralipomena Jeremiou, das lautet: Βαροὺχ ὁ δοῦλος τοῦ ϑεοῦ γράφει τῷ Ἱερεμίᾳ ἐν τῇ αἰχμαλωσίᾳ τῆς Βαβυλῶνος· χαῖρε καὶ ἀγαλλιῶ, ὅτι … (6,19).316

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie 2.3.1 Das Corpus der frühchristlichen Briefe Die große Bedeutung des Briefes im frühen Christentum zeigt schon allein die Tatsache, dass von den 27 Schriften des Neuen Testaments 21 – wenn man die Johannesoffenbarung hinzunimmt, sogar 22 – zumindest ihrer Form nach als Briefe bezeichnet werden können.317 Überhaupt beginnt die Geschichte der christlichen »Literatur«, soweit sie in ihrer schriftlichen Gestalt rekonstruier-

313

Ausführlich Taatz, Frühjüdische Briefe 18–28. Näheres bei Taatz, Frühjüdische Briefe 29–43. Eckstein, Gemeinde 260, sieht darin den Versuch der korrekten Wiedergabe der aramäischen Schalom-Formel ‫שלם וחין שלהת לך‬. 315 Vgl. Taatz, Frühjüdische Briefe 66f. 316 Dazu Taatz, Frühjüdische Briefe 78–80. Eine gewisse Analogie zu dieser Briefeinleitung bietet allerdings das in einigen privaten Papyrusbriefen des 1.–3. Jh. n. Chr. belegte Präskript mit χαῖρε bzw. χαίροις, das ebenfalls den Adressaten direkt anredet; der Adressat ist hier allerdings als Vokativ angegeben, der Absender (falls genannt) mit παρά τινος oder der nachgestellten Formel ὁ δεῖνά σε προσαγορεύω/ἀσπάζομαι; vgl. dazu Exler, Form 35f. und 67f. (hier auch die entsprechenden Papyrus-Belege). Dennoch unterscheidet sich das dem Brief des Baruch vorangestellte »Präskript« von anderen Briefpräskripten dadurch, dass dem Grußwort eine Einleitungsformel vorangestellt wird, die »Absender« und »Adressat« nennt und mit dem Verb γράφει die schriftliche Kommunikation im Brief thematisiert. 317 Vgl. Theißen, Entstehung 19–25. 314

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

bar ist318, mit einem Brief, nämlich jenem Brief, den der judenchristliche Missionar Saulus Paulus um das Jahr 50 n. Chr. von Korinth aus an die von ihm kurz zuvor gegründete christliche Gemeinde in Thessalonich in Nordgriechenland/Makedonien geschrieben hat (der 1. Thessalonicherbrief, der in seiner kanonischen Gestalt allerdings ein nachpaulinisches Kompilat aus mindestens zwei ehemals eigenständigen Briefen des Paulus an diese Gemeinde sein könnte).319 Zeitgleich mit den im Neuen Testament überlieferten Briefen entstanden in den christlichen Gemeinden weitere Briefe, die bei der Frage nach den Anfängen der christlichen Epistolographie ebenfalls zu berücksichtigen sind. Nimmt man als zeitlichen Rahmen die ältesten und jüngsten neutestamentlichen Briefe, so ergibt sich folgendes Corpus der frühchristlichen Briefe (die chronologische Abfolge lässt sich in einzelnen Punkten nur annäherungsweise bestimmen):320 (a) Die echten Paulusbrief (ca. 50/57): Von Paulus haben sich sieben Briefe erhalten, die alle an christliche Gemeinden adressiert sind: Thessaloniki, Galatien, Korinth, Philippi, Rom und die Hauskirche des Philemon (in Kolossae?).321 Die Briefe dienten mit Ausnahme des Römerbriefes der Kontaktpflege des Paulus mit den von ihm gegründeten Gemeinden, der Klärung aktueller Fragen und Konflikte in den Gemeinden, aber auch zwischen Paulus und seinen Gemeinden (Gal, 2 Kor). Der Römerbrief diente der Selbstempfehlung des Paulus und seiner Predigt bei der ihm bisher noch unbekannten Christengemeinde in Rom, von der er sich Unterstützung bei einer Mission im Westen des Mittelmeeres erhoffte (Spanien).322 Es gab ursprünglich wohl mehr als die erhaltenen sieben Briefe (vgl. 1 Kor 5,9); bei einigen Briefen (1/2 Kor, Phil, Röm, 1 Thess) wird zudem erwogen, dass sie aus zwei oder mehr kleineren Briefen kompiliert wurden (vgl. im Abschnitt 1.3).323 318 Allerdings könnte die synoptische Apokalypse in Mk 13 älter sein, wenn es zutrifft, dass sie auf einer schriftlichen christlichen Vorlage beruht (»Apokalyptisches Flugblatt«), die möglicherweise bereits in der Zeit Caligulas (37–41) verfasst wurde. Vgl. Theißen, Entstehung 93, der deshalb auch von Jesus und Paulus als den beiden charismatischen Gestalten am Anfang der christlichen »Literatur« spricht: Jesus als Anfang einer biographischen Traditionsbildung, die zur Spruchsammlung Q und zum Markusevangelium führt, und Paulus als Schöpfer des christlichen Gemeindebriefes. 319 Zur Datierung des 1. Thessalonicherbriefes vgl. Klauck, Briefliteratur 267f.; ders., Ancient Letters 356f.; Schnelle, Einleitung 62; Pokorný/Heckel, Einleitung 206. 320 Zum Folgenden insgesamt vgl. auch Aune, Environment 158–160. 321 Mit der kritischen Paulusforschung der letzten beiden Jahrhunderte ist davon auszugehen, dass nicht alle kanonischen Paulusbriefe wirklich Paulus als Verfasser haben. Diese inzwischen »klassische« Annahme wird allerdings in den letzten Jahren, vor allem von nordamerikanischen Exegeten, wieder zunehmend in Frage gestellt; so z. B. bei Richards, Paul 141–156. Offensichtliche formale und inhaltlich-theologische Unterschiede zwischen den echten und pseudepigraphen Paulusbriefen werden dabei einerseits relativiert, andererseits, wie schon bei Roller, Formular 19–23, mit dem Hinweis auf den unterschiedlichen Grad der Inanspruchnahme/Beteiligung eines Sekretärs bei der Abfassung der Briefe erklärt. 322 Zu den Entstehungsbedingungen der paulinischen Briefe Theißen, Entstehung 94f. 323 Vielhauer, Geschichte 81–89 und 103–190; Schnelle, Einleitung 61–172; Pokorný/ Heckel, Einleitung 196–320; Broer, Einleitung 339–472; Klauck, Ancient Letters 300–315. 317–320. 355–386; Lona, Paulus 47–85.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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(b) Deuteropauline Briefe (70/90): Sprache und Stil sowie inhaltlich-theologische Gründe sprechen dagegen, dass der Kolosser-, Epheser- und 2. Thessalonicherbrief von Paulus stammen; sie sind in Nachahmung der echten Paulusbriefe in der ersten Generation nach dem Tod des Paulus im Kreis seiner Schüler wohl in Ephesus entstanden. Sie wollen die Lehre des Paulus aktualisieren (vor allem Taufe und Eschatologie) und neu entstandene Irrlehren (Gnosis?) abwehren.324 (c) Hebräerbrief (nach 80): Rhetorisch und stilistisch ausgefeilte Mahn- und Trostrede (13,22 λόγος τῆς παρακλήσεως), die auffälligerweise mit einem brieflichen Postskript schließt. Die für den Namen verantwortliche Überschrift πρὸς Ἑβραίους ist sekundär. Aufgrund der entwickelten christologischen Reflexion kann der »Brief« nicht sehr früh entstanden sein.325 (d) 1. Petrusbrief (um 90): Der pseudepigraphe Brief, der den Apostel Petrus als Absender nennt, ist als Rundschreiben an die Christen in den kleinasiatischen Provinzen adressiert. Er gibt in gutem Griechisch Anweisungen für den Alltag der Christen in ihrer heidnischen Umwelt. Als Entstehungsorte sind Rom (»Babylon« in 5,13 als Symbolname für Rom) oder eine der Städte Kleinasiens möglich.326 (d) Jakobusbrief (vor Ende 1. Jh.): Der Verfasser des pseudepigraphen Briefes nennt sich Jakobus, womit wohl der Herrenbruder und Leiter der Jerusalemer Gemeinde gemeint sein soll; der in sehr gepflegtem Griechisch verfasste Brief ist in der Art eines Rundschreibens an die »zwölf Stämme der Zerstreuung« adressiert. Inhalt des Briefes sind religiös-sittliche Unterweisungen für den Alltag der Christen. Über Abfassungsort und -zeit sind keine verlässlichen Angaben möglich.327 (f) Judasbrief (90/100): Der Verfasser will offenbar als Judas, der Bruder Jesu und des Jakobus gelten (vgl. Mk 6,3); der Brief richtet sich an alle Christen und dient der Bekämpfung libertinistischer Irrlehren. Über seinen Entstehungsort sind keine Angaben möglich; über die Entstehungszeit lässt sich nur sagen, dass er dem Verfasser des zweiten Petrusbriefes vorlag, der ihn als Vorlage benutzte.328 (g) 1. Clemensbrief (um 96 n. Chr.): Offizielles Schreiben in feierlichem Ton und gehobenem literarischen Stil, mit dem die römische Christengemeinde in einen Konflikt innerhalb der Christengemeinde in Korinth eingreift und die Wiedereinsetzung abgesetzter Gemeindeleiter (Presbyter) fordert; als Brief einer Gemeinde an eine andere lässt er sich mit dem Festbrief in

324 Vielhauer, Geschichte 89–103 und 191–215; Schnelle, Einleitung 328–367; Pokorný/Heckel, Einleitung 623–654; Broer, Einleitung 475–528; Klauck, Ancient Letters 315–317. 320–322. 387–408; Lona, Paulus 111–125; Theißen, Entstehung 165–170. 325 M. Karrer, Der Hebräerbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 474–495; Klauck, Ancient Letters 334–337; Vielhauer, Geschichte 237–251; Schnelle, Einleitung 405–420; Broer, Einleitung 569–590; Pokorný/Heckel, Einleitung 672–689. 326 M. Gielen, Der erste Petrusbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 511–521; Vielhauer, Geschichte 580–594; Schnelle, Einleitung 437–452; Pokorný/Heckel, Einleitung 689–705; Broer, Einleitung 613–629; Klauck, Ancient Letters 339–341; Theißen, Entstehung 177f. 327 M. Konradt, Der Jakobusbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 496–510; Vielhauer, Geschichte 567–580; Schnelle, Einleitung 421–436; Pokorný/Heckel, Einleitung 715–728; Broer, Einleitung 593–612; Klauck, Ancient Letters 337–339; Theißen, Entstehung 176f. 328 M. Gielen, Der Judasbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 552–558; Vielhauer, Geschichte 589–594; Schnelle, Einleitung 452–460; Pokorný/Heckel, Einleitung 705–715; Broer, Einleitung 630–640; Klauck, Ancient Letters 345–347; Theißen, Entstehung 178.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

2 Makk 1,1–9 vergleichen.329 (Der sog. 2. Clemensbrief ist in formaler Hinsicht kein Brief, sondern eine Predigt und bleibt deshalb unberücksichtigt.) (h) Johannesbriefe (Ende 1. Jh.): Der Absender (bzw. die Absender) der drei Briefe bleibt anonym (1 Joh ohne eigentliches Präskript; im Präskript von 2 Joh und 3 Joh: ὁ πρεσβύτερος). Die Briefe warnen die Adressaten vor der Gemeinschaft mit doketischen Irrlehrern, die leugnen, dass Jesus (bzw. das Wort des Lebens) »im Fleisch gekommen« ist. Die drei Briefe entstammen offensichtlich demselben Kreis wie das ebenfalls anonym verfasste Johannesevangelium. Zusammen mit dem Evangelium wurden sie erst sekundär mit der kleinasiatisch-ephesinischen Johannestradition verbunden (Herrenjünger und Presbyter). Ob daraus auch die Entstehung der Briefe in Ephesus gefolgert werden kann, ist ungewiss.330 (i) Johannesoffenbarung (um 100 n. Chr.): Die Johannesoffenbarung beginnt nach einem Prolog in 1,4ff. mit einem brieflichen Präskript und endet in 22,21 mit einen Segenswunsch, der als brieflicher Schlussgruß verstanden werden kann. Die Johannesoffenbarung als ganze (nicht nur die sieben sog. Sendschreiben in Offb 2–3) repräsentiert damit den Typus des in Vision und Audition empfangenen und vom Seher übermittelten Himmelsbriefes.331 (j) Tritopauline Pastoralbriefe (100/150): Pseudepigraph sind auch die an die Paulusmitarbeiter Timotheus und Titus adressierten Briefe, die aus stilistischen und inhaltlichen Gründen nicht von Paulus stammen können; hinsichtlich der vorausgesetzten kirchlichen Organisation und theologischen Entwicklung sind sie nochmals mindestens eine Generation später entstanden als die deuteropaulinen Briefe. Auch ihnen geht es um eine weitere Aktualisierung der Lehre des Paulus und um die Bekämpfung von Irrlehrern (Gnosis? Markion?). Die Briefe sind wohl als Briefsammlung konzipiert worden, wahrscheinlich in Kleinasien (Ephesus).332 (k) Ignatiusbriefe: Sieben Briefe, die nach ihren eigenen Angaben von Bischof Ignatius von Antiochia auf seinem Transport als Gefangener nach Rom (vor 117; vgl. Eus. h.e. 3,36,2–11) von Smyrna und Troas aus an die christlichen Gemeinden in Ephesus, Magnesia, Tralles, Rom, Philadelphia und Smyrna sowie an Bischof Polykarp von Smyrna geschrieben wurden (»Mittlere Rezension« in Anschluss an Eus. h.e.). Die Authentizität der Briefe ist allerdings fraglich, so dass eine Entstehung der Briefe erst gegen Mitte des 2. Jh. oder noch später möglich ist.333 329 A. Lindemann, Der Erste Clemensbrief, in: Pratscher, Apostolische Väter 59–82; Vielhauer, Geschichte 529–540; A. Gregory, 1 Clement: An Introduction, in: Foster, Apostolic Fathers 21–31; Günther, Einleitung 43–53; J. Hofmann, Clemens von Rom. LACL3 154f.; Altaner/Stuiber, Patrologie 45–47. 330 J. Kügler, Der erste/zweite/dritte Johannesbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 530– 551; Vielhauer, Geschichte 460–481; Schnelle, Einleitung 471–503; Broer, Einleitung 229– 248; Pokorný/Heckel, Einleitung 533–586; Klauck, Ancient Letters 342–344 mit 27–40. 331 S. Schreiber, Die Offenbarung des Johannes, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 559–585; Vielhauer, Geschichte 494–507; Schnelle, Einleitung 545–566; Pokorný/Heckel, Einleitung 587–615; Broer, Einleitung 659–681; Klauck, Ancient Letters 349–353; Theißen, Entstehung 258–266. 332 G. Häfner, Die Pastoralbriefe, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 450–473; Vielhauer, Geschichte 215–237; Schnelle, Einleitung 367–388; Pokorný/Heckel, Einleitung 654–672; Broer, Einleitung 529–568; Lona, Paulus 125–139; Klauck, Ancient Letters 322–327. 333 H. Löhr, Die Briefe des Ignatius von Antiochien, in: Pratscher, Apostolische Väter 104– 129; P. Foster, The Epistles of Ignatius of Antioch, in: ders., Apostolic Fathers 81–107; Vielhauer, Geschichte 540–552; Günther, Einleitung 64–75; F. R. Prostmeier, Ignatius von Antiochien. LACL3 346–348; Altaner/Stuiber, Patrologie 47–50.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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(l) Barnabasbrief (130/132): Trotz brieflicher Rahmung kein echter Brief, sondern ein theologischer Traktat in Briefform, der keinen Absender/Verfasser nennt und erst von der altkirchlichen Überlieferung Barnabas, dem Lehrer und Gefährten des Paulus, zugeschrieben wurde. Innere Gründe sprechen für eine Abfassung vor dem römischen Wiederaufbau Jerusalems als Aelia Capitolina unter Kaiser Hadrian (16,3f.), vermutlich in Alexandria.334 (m) 2. Petrusbrief (evtl. 110/150): Der Brief, der ebenfalls vom Apostel Petrus verfasst sein will, ist an alle rechtgläubigen Christen adressiert. Der Verfasser schreibt den kurzen Judasbrief aus und konzentriert dessen Ketzerpolemik auf diejenigen, die die Parusie Christi leugnen. Zur Abfassungszeit des Briefes lässt sich nicht mehr sagen, als dass er den 1. Petrusbrief und den Judasbrief voraussetzt.335 (n) Polykarpbrief (um 120/135): Brief des Polykarp von Smyrna an die Christengemeinde in Philippi; nach eigenen Angaben wurde der Brief auf Bitte der Gemeinde von Philippi geschrieben (3,1). Behandelt wird der Fall des Presbyters Valens, der zusammen mit seiner Frau Geld unterschlagen hat, das Auftreten von Häretikern und das Thema der Gerechtigkeit. Der Schluss des Briefes ist bis auf ein kleines Fragment nur in einer wenig zuverlässigen lateinischen Übersetzungen erhalten. Aufgrund (vermeintlicher) innerer Spannungen wird eine Teilung in zwei Briefe erwogen; das Schlusskapitel 13 sei demnach der Rest eines früheren Schreibens, mit dem Polykarp auf deren Bitte hin der Gemeinde von Philippi die Briefe des Ignatius von Antiochia übersandt habe.336 (o) Polykarpmartyrium (155/160): Der Bericht über das Martyrium des Polykarp von Smyrna besitzt eine briefliche Rahmung und wurde wohl tatsächlich als Rundschreiben verschickt; entstanden ist es bald nach der Hinrichtung des Polykarp in Smyrna.337

Außer diesen Briefen und Briefsammlungen sind noch zwei Briefzitate in der um 100 n. Chr. entstandenen Apostelgeschichte zu nennen: das sogenannte Aposteldekret, d. h. der Brief, mit dem die Jerusalemer Gemeinde die Gemeinde in Antiochia am Orontes über die getroffene Vereinbarung bezüglich der gesetzes- und beschneidungsfreien Heidenmission informiert (Apg 15,23b– 29), und das Begleitschreiben des römischen Militärkommandanten Claudius Lysias, mit dem er den gefangenen Paulus von Jerusalem an den römischen Statthalter Felix nach Caesarea am Meer überstellt (Apg 23,26–30). Die beiden Briefe gehen auf den Verfasser der Apostelgeschichte zurück und sind folglich 334 F. R. Prostmeier, Der Barnabasbrief, in: Pratscher, Apostolische Väter 39–58; ders., Barnabasbrief. LACL3 108f.; J. C. Paget, The Epistle of Barnabas, in: Foster, Apostolic Fathers 72–80; Vielhauer, Geschichte 599–612; Günther, Einleitung 34–42; Altaner/Stuiber, Patrologie 53–54. 335 M. Gielen, Der zweite Petrusbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 522–529; Vielhauer, Geschichte 594–599; Schnelle, Einleitung 460–469; Pokorný/Heckel, Einleitung 705– 715; Broer, Einleitung 641–656; Klauck, Ancient Letters 408–419. 336 B. Dehandschutter, Der Polykarpbrief, in: Pratscher, Apostolische Väter 130–146; M. Holmes, Polycarp of Smyrna. Epistle to the Philippians, in: Foster, Apostolic Fathers 108– 125; Vielhauer, Geschichte 552–566; Günther, Einleitung 76–83; H. König, Polykarp von Smyrna. LACL3 585; Altaner/Stuiber, Patrologie 50–52. 337 G. Buschmann, Das Martyrium des Polykarp, in: Pratscher, Apostolische Väter 147– 169; S. Parvis, The Martyrdom of Polycarp, in: Foster, Apostolic Fathers 126–146; Günther, Einleitung 88–91; Altaner/Stuiber, Patrologie 51f.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

keine authentischen Dokumente, wenn auch das Aposteldekret sicher eine ältere Überlieferung aufgreift.338 Das Corpus der frühchristlichen Briefe umfasst folglich sowohl echte Briefe (Paulusbriefe, 1 Clem, 2 Joh, 3 Joh, Polyk) als auch reine Kunstbriefe, die meist bereits an ihrer Adresse erkennen lassen, dass sie nicht für einen konkreten Adressaten, sondern für einen zumindest potentiell unbegrenzten Leserkreis bestimmt sind (vgl. 1 Petr 1,1; 2 Petr 1,1; Jud 1).339 Letztere unterteilen sich in Traktate in Briefform (Hebr, 1 Joh, Barn [MPolyk])340 und pseudepigraphe Briefe. Die größte Gruppe unter den frühchristlichen Pseudepigraphen bilden die deutero- und tritopaulinischen Briefe, die auf die Fortführung und Absicherung der paulinischen Lehrtradition unter dem Druck neuer theologischer Herausforderungen und »innerkirchlicher« Kontroversen zielten. In diesen »gefälschten« Paulusbriefen der zweiten und dritten christlichen Generation wird so etwas wie eine paulinische »Schule« fassbar, die wohl auf Paulus selbst zurückgeht. Der Ort dieser »Paulusschule« war wahrscheinlich Ephesus (vgl. Apg 19,9f.), wo Paulus am längsten gewirkt hat.341 Neben Paulus erscheinen Simon Petrus und der Herrenbruder Jakobus als Verfasser fingierter Briefe. Eventuell sind auch die Briefe des Märtyrer-Bischofs Ignatius von Antiochia zu dieser Gruppe zu rechnen.342 Insgesamt lässt sich im Blick auf die frühchristliche Pseudepigraphie sagen, dass sie weder ethopoietische Übung noch einfacher Ausdruck biographischen Interesses an den großen Anfangsgestalten ist (wie mehrheitlich die »paganen« pseudepigraphen Briefe), sondern der Autorisierung und Legitimation theologischer Positionen diente.343 An den echten Paulusbriefen lassen sich drei grundlegende Funktionen frühchristlicher Briefe erkennen: a. die Kontaktpflege zwischen dem Missionar und den von ihm gegründeten Gemeinden, b. die Klärung theologischer Fragen und c. die Übermittlung von Anweisung für das Leben der Gemeinde.344 338

Näheres zu den beiden Briefeinlagen in der Apostelgeschichte bei Klauck, Briefliteratur 315–326; ders., Ancient Letters 419–434; zu Apg 15,23b–29 vgl. auch Weiser, Apostelgeschichte (ÖTK) 2, 384–386 mit 367–377; Haenchen, Apostelgeschichte (KEK) 392–395 und 410–414; zu Apg 23,26–30 vgl. Weiser, Apostelgeschichte (ÖTK) 2, 622f.; Haenchen, Apostelgeschichte (KEK) 575f. Zur Frage der Datierung der Apostelgeschichte vgl. Schnelle, Einleitung 304f.; Broer, Einleitung 156f. 339 Vgl. Vielhauer, Geschichte 62f. 340 Dazu auch Roller, Formular 25. 341 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 616–619; Schnelle, Einleitung 46–51. 342 Näheres dazu bei R. Hübner, Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius, in: ZAC 1 (1997) 44–72. 343 Vgl. Brox, Verfasserangaben 117–119. Zur frühchristlichen Pseudepigraphie vgl. außerdem Schreiber, Brief 260–263; Broer, Einleitung 316–319; Pokorný/Heckel, Einleitung 619–623; Schnelle, Einleitung 321–325; vgl. auch Dihle, Literatur 219; Muir, Life 174f. Vgl. auch W. Speyer/K. Berger, Pseudepigraphie. LThK3 8 (1999) Sp. 706f. 344 Ausführlich dazu Pokorný/Heckel, Einleitung 118–121; Schreiber, Brief 255f.; Exler, Form 20.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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Dieselben Funktionen lassen sich auch am 1. Clemensbrief und am Polykarpbrief ablesen, wenn auch hier eigenständige Gemeinden bzw. deren Leiter miteinander in Kontakt treten. Impulse für die Entstehung und Pflege brieflicher Kommunikation im Frühchristentum waren demnach zum einen das Bewusstsein der überregionalen Zusammengehörigkeit der überall im römischen Reich entstehenden christlichen Gemeinden, zum anderen aber auch die Absicht der Belehrung und Unterweisung (analog zu den hellenistischen philosophischen Lehrbriefen bei den Epikureern und Stoikern).345 Die frühchristlichen Gemeindebriefe sind insofern mit den Fest- bzw. Lehrbriefen vergleichbar, die zunächst vom Hohenrat und dem Hohenpriester in Jerusalem, dann von den Rabbinen des Lehrhauses von Jabne an die jüdischen Diasporagemeinden verschickt wurden (vgl. S. 63); ob diese Briefe aber als unmittelbares Vorbild für die Praxis der frühchristlichen Gemeindebriefe gelten können, muss offen bleiben, nicht zuletzt weil die Zahl der erhaltenen jüdischen Festund Lehrbriefe zu gering ist.346 Aus einer Notiz des Paulus am Ende des 1. Thessalonicherbriefes geht hervor, dass derartige Gemeindebriefe offensichtlich im Rahmen der (gottesdienstlichen) Versammlungen laut vorgelesen wurden (1 Thess 5,27).347 Aus einer Notiz am Ende des deuteropaulinen Kolosserbriefes kann man zudem erschließen, dass sich im Laufe der Zeit die Praxis entwickelte, derartige Gemeindebriefe an andere Gemeinden weiterzugeben, damit sie auch dort verlesen werden konnten (vgl. Kol 4,16).348 Gleichzeitig lässt diese Notiz erkennen, dass der Briefaustausch zwischen den Gemeinden die Voraussetzung war, die die Publikation und Verbreitung pseudepigrapher Briefe ermöglichte (d. h. bei diesem Prozess ließen sich den vorhandenen echten leicht neue Briefe hinzu345

Vgl. Stowers, Letter Writing 42; Dihle, Literatur 216; dazu auch Pokorný/Heckel, Einleitung 118–121. 346 Anders Aune, Environment 180, der meint, die Frage aus dem erhaltenen Material positiv beantworten zu können; ähnlich Andresen, Formular 241–243; Eckstein, Gemeinde 262f.; Theißen, Entstehung 108f. 347 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 117 und 668; Dihle, Literatur 217. Theißen, Entstehung 119, merkt zu 1 Thess 5,27 an, dass sich in dieser Anweisung die Neuheit des Modells »Gemeindebrief« abzeichne, d. h. Paulus muss der Gemeinde erst erklären, dass der Brief, anders als ein Privatbrief, allen verlesen werden soll und muss. Dazu ist zumindest anzumerken, dass bereits aus der adscriptio τῇ ἐκκλησίᾳ Θεσσαλονικέων hinreichend hervorgeht, wem der Brief mit seinem Inhalt zur Kenntnis gebracht werden soll. Vielleicht ist die Mahnung in 1 Thess 5,27 deshalb auch so zu verstehen, dass sie nicht nur dazu auffordert, den Brief allen Mitgliedern der Gemeinde in Thessalonich bekannt zu machen, sondern auch den Mitgliedern weiterer christlicher Gemeinden, mit denen man in Kontakt steht. 348 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 117f. Dafür, dass Paulus selbst mit einer Weitergabe seiner Briefe rechnete und sie sogar intendierte, lässt sich auch auf die adscriptio seines 2. Korintherbriefes verweisen: τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ ϑεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνϑῳ σὺν τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαΐᾳ (falls diese – im Falle einer Briefkompilation – nicht dem Redaktor zuzuschreiben ist); vgl. zu 2 Kor 1,1f. auch Klauck, 2. Koritherbrief (NEB) 17.

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

fügen). Auf die Praxis, Briefe in der Gemeindeversammlung zu verlesen und Briefe miteinander auszutauschen, ist es wohl auch zurückzuführen, dass das Frühchristentum auch anderen Lehrschriften zunächst die Briefform gab, um ihnen auf diesem Wege ebenfalls die Verbreitung und Rezeption in den Gemeinden zu sichern (z. B. Hebr, Barn). 2.3.2 Zum Formular der frühchristlichen Briefe Vorbemerkung: Im Briefformular, d. h. in der Gestaltung von Präskript und Postskript, weichen die meisten frühchristlichen Briefe auffällig von den Konventionen des griechischen Briefes ab. Da Paulus, der älteste christliche Briefschreiber, wie vermutlich auch die meisten anderen Verfasser frühchristlicher Briefe, Judenchrist war, stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich diese Unterschiede aus jüdischen Briefkonventionen herleiten. Aus den erhaltenen Originalbriefen von Juden (aus Palästina und Ägypten) allerdings ist zu erkennen, dass man sich in griechisch verfassten Briefen des üblichen griechischen Präskripts ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν bediente, während in aramäischen und hebräischen Briefen das Präskript als direkte Anrede mit dem Grußwort hebr. ‫שלום‬ bzw. aram. ‫»( שלם‬Gruß/Heil [dir]«) formuliert ist. Inwiefern sich aber die Abweichungen im Formular der frühchristlichen Briefe tatsächlich aus den diesen aramäischen und hebräischen Briefen zugrunde liegenden Konventionen erklären, lässt sich nicht definitiv beantworten. Denn auch wenn die ältesten der frühchristlichen Briefe von Judenchristen geschrieben wurden, so stammte – mit Ausnahme des Verfassers der Johannesoffenbarung349 – dennoch keiner von ihnen aus dem aramäisch bzw. hebräisch sprechenden Judentum des palästinischen Mutterlandes, sondern sie alle gehörten zum griechisch sprechenden Judentum der Diaspora in Kleinasien, Alexandria, Syrien (Antiochia mit Umland) und Rom.350 Zudem war für sie alle Griechisch ihre Muttersprache und sie alle verfügten – einschließlich Paulus351 – bestenfalls über rudimentäre Kenntnisse des biblischen Hebräisch, jedoch kaum über Kenntnisse des Aramäischen. Da sie alle in hellenistisch-römischen Städten aufgewachsen und weitgehend auch sozialisiert waren, kannten und benutzten sie nicht anders als ihre griechisch sprechenden juden- und heidenchristlichen Adressaten in ihrer alltäglichen privaten Korrespondenz auf jeden Fall das übliche griechische Briefformular; wenn sie in ihren Gemeindebriefen oder auch in fingierten, pseudepigraphen Briefen davon abwichen, geschah dies also wohl kaum unbeabsichtigt und diese Abweichungen sollten sicher auch von den Lesern als solche wahrgenommen werden und Aufmerksamkeit wecken.352 349 Zu Herkunft und Bildung des Verfassers der Johannesoffenbarung vgl. Bauer, Messiasreich 328–347. 350 Dazu Fitzmyer, Notes 202f.; vgl. auch Schneider, Brief (RAC) Sp. 574–576. 351 Zur Frage der Hebräisch- und Aramäischkenntnisse des Paulus vgl. Becker, Paulus 35. 352 Auf diesen Aspekt hebt besonders Roller, Formular 55–92, ab.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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Die Forschung zum frühchristlichen Briefformular konzentrierte sich vor allem auf die echten Paulusbriefe und erhob Paulus zum Standard des Briefschreibens im Frühchristentum schlechthin.353 Der Ansatz bei Paulus ist insofern berechtigt, als die Geschichte des christlichen Briefes mit ihm beginnt und seine Briefe die Form des christlichen Briefes entscheidend geprägt haben. Dennoch zeigt ein Blick in die frühchristlichen Briefe, dass sich nicht alle hier feststellbaren Modifikationen des traditionellen griechischen Briefformulars von Paulus herleiten lassen (vgl. z. B. die Präskripte der Ignatiusbriefe); auf diesem Gebiet bedarf es noch weitergehender Untersuchungen, die auch die anderen frühchristlichen und nicht nur die neutestamentlichen Briefe angemessen berücksichtigen – eine Aufgabe, die hier nicht einmal im Ansatz zu lösen versucht werden soll und kann. Im Folgenden soll das paulinische Briefformular ausgehend vom 1. Thessalonicherbrief als ältestem Paulusbrief vorgestellt und anschließend kurz mit dem Formular der anderen frühchristlichen Briefe verglichen werden.354 A. Präskript: Für die Beurteilung des paulinischen Präskripts sei nochmals daran erinnert, dass es auch bei paganen griechischen Briefen in der Praxis offensichtlich durchaus öfter zu Abweichungen von der »Norm« kam, wie der bereits erwähnte Brief des Dionysios an Speusippos und das Plädoyer für die klassische Form im Handbuch des Ps.-Proklos/Libanios vermuten lassen (vgl S. 46).355 Das Präskript des 1. Thessalonicherbriefes lautet (1 Thess 1,1): a. superscriptio: Παῦλος καὶ Σιλουανὸς καὶ Τιμόϑεος b. adscriptio: τῇ ἐκκλησίᾳ Θεσσαλονικέων ἐν ϑεῷ πατρὶ καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ Χριστῷ, c. salutatio: χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη

Die Nennung von Mitabsendern ist in den Papyrusbriefen zwar nicht häufig, aber deshalb noch nicht ungewöhnlich und auffällig.356 Außer im Römerbrief 353

Vgl. Stowers, Letter Writing 20. Theißen, Entstehung 94, hebt hervor, dass der 1. Thessalonicherbrief zwar der älteste der erhaltenen Paulusbriefe ist (wenn auch nicht auszuschließen ist, dass es sich bei ihm um eine Briefkompilation handelt), dass er aber nicht der erste Brief war, den Paulus geschrieben hat. Im Vorgriff auf die Ergebnisse dieser Studie, kann man ihm darin zuzustimmen, dass Paulus sicherlich bereits vor der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes andere Briefe geschrieben hat, da dieser Brief einen mit den epistolaren Konventionen vertrauten und im Abfassen von Briefen geübten Verfasser erkennen lässt. Ob es sich dabei aber lediglich um Privatbriefe handelte oder ob Paulus schon vor der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes den Brief in der Kommunikation mit Gemeinden oder als Mittel zur Unterstützung seiner Mission und Verkündigung eingesetzt hat, darüber sind mangels eindeutiger Indizien in den zur Verfügung stehenden Quellen nur Spekulationen möglich. 355 In diesem Sinne auch Roller, Formular 61f. 356 Gegen Roller, Formular 58f. Vgl. auch Stirewalt, Paul 37–44, der darauf hinweist, dass Mitabsender unüblich waren und in der Antike vorwiegend in amtlichen Briefen und nur selten in Privatbriefen vorkommen; ähnlich Adams, Letter Opening 40–42. 354

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

nennt Paulus in all seinen Briefen Mitabsender.357 Dadurch erscheint Paulus für seine Gemeinden im Mittelpunkt eines Mitarbeiterstabes; als Mitabsender wählt er offensichtlich immer einen Mitarbeiter, der zur angeschriebenen Gemeinde in einer besonderen persönlichen Beziehung steht.358 — Adressiert ist der Brief, wie alle Briefe des Paulus (einschließlich des Philemonbriefes) an eine Gruppe, nämlich die »Versammlung« der Thessalonicher; dass es sich dabei nicht um die Volksversammlung der Stadt handelt, signalisiert ein qualifizierender Zusatz, der ihren Grund und Ursprung benennt (zu einer Personengruppe als Adressaten der paulinischen Briefe und Parallelen dazu in der antiken Epistolographie vgl. auch S. 219). Mit der Anrede der Gemeinden als ἐκκλησία (τοῦ ϑεοῦ) nimmt Paulus eine Selbstbezeichnung der Jerusalemer Urgemeinde auf, in der sie im Rückgriff auf die heiligen Schriften das Bewusstsein ihrer Erwählung und Konstituierung zum (neuen) Gottesvolk artikulierte (vgl. ‫ קהל יהוה‬in Dtn 23,2–8; ‫ קהל אל‬in Neh 13,1–3); es handelt sich also um eine durchaus ehrende Anrede der Adressaten, die synonym ist mit ἅγιοι, das Paulus im Präskript als Ergänzung oder Ersatz für ἐκκλησία verwenden kann (vgl. Röm 1,7; Phil 1,1).359 Die paulinische salutatio scheint griechische und semitische Briefkonventionen zu verbinden. Wie im semitischen Brief wird der Gruß als direkte Anrede an den Adressaten formuliert; dabei nimmt χάρις den griechischen Briefgruß χαίρειν auf, εἰρήνη gibt das hebr. ‫ שלום‬bzw. aram. ‫ שלם‬wieder.360 Diese salutatio der paulinischen Briefe erinnert an die Grußformel »Erbarmen und Friede« im Brief des Baruch in der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar 78,2; vgl. S. 71).361 Sie gibt wohl eine mündliche Segensformel wieder und soll den Adressaten über den Gruß hinaus von Gott geschenktes Wohlergehen zusagen.362 Die paulinische Verbindung von Gnade und Friede allerdings ist vor 357 Sosthenes in 1 Kor 1,1; Timotheos in 2 Kor 1,1; Phil 1,1; Phlm 1; »alle Brüder bei mir« in Gal 1,2. Richards, Paul 33–36, plädiert dafür, die von Paulus genannten Mitabsender als Mitautoren der Briefe zu sehen. Nach Adams, Letter Opening 42–44, hat die Nennung von Mitabsendern bei Paulus strategische Funktionen im Blick auf die Adressaten und das Anliegen des Briefes. 358 Ausführlich Schnider/Stenger, Studien 4–7. 359 Im einzelnen bei Schnider/Stenger, Studien 15–24; vgl. auch J. Roloff, ἐκκλησία. EWNT 1 (21992) Sp. 998–1011; E. W. Stegemann/W. Stegemann, Sozialgeschichte 228–230. 360 Zustimmend Roller, Formular 61; Klauck, Briefliteratur 43f.; ders., Ancient Letters 30; Adams, Letter Opening 45–48; Lona, Paulus 43; ablehnend Schnider/Stenger, Studien 25f.; Berger, Apostelbrief 191. Vgl. auch Arzt, Philemon (PKNT) 115f.; Jegher-Bucher, Galaterbrief 24–27; Richards, Paul 122f. 361 Dazu Alexander, Epistolary Literature 593; Taatz, frühjüdische Briefe 67; Berger, Apostelbrief 197f. Dies rechtfertigt aber noch nicht die Schlussfolgerung bei Berger, Apostelbrief 201: »Χάρις zu Briefbeginn ist demnach nicht Ersetzung von χαίρειν, sondern hat eine eigenständige Funktion als Segensgut in einem als Segensrede formulierten Briefeingang.« 362 Nach Berger, Apostelbrief 192–195, und Schnider/Stenger, Studien 25f., soll χάρις die Gnade der geoffenbarten Erkenntnis und εἰρήνη die Mitteilung des Heils an die Auser-

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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den Briefen des Paulus nur einmal im 1. Henochbuch belegt (1 Hen 5,7).363 Durch das semitische Präskript, das die salutatio als direkte Anrede des/der Adressaten versteht (vgl. S. 70), könnte unter Umständen auch die betonte Setzung von ὑμῖν, wie die vor dem Hintergrund der griechischen Briefkonventionen insgesamt untypische Verwendung der 1. und 2. Person in den paulinischen Präskripten motiviert sein (vgl. Gal 1,1–3; Röm 1,1–7; Phlm 1–3; 1 Kor 1,1–3).364 Ähnliches lässt sich jedoch, wohl bedingt durch das schwindende Verständnis für die syntaktische Struktur des klassischen Präskripts ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν, ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. auch in den griechischen Papyrusbriefen beobachten (vgl. S. 70).365 Insofern ist die Annahme, dass die spezifische Gestaltung des paulinischen Präskripts sich einem direkten, bewussten Rückgriff auf ein semitisch-orientalisches Briefformular verdanke, weniger zwingend als es zunächst den Anschein hat. Im Vergleich mit dem 1. Thessalonicherbrief weisen die Präskripte der anderen Paulusbriefe erhebliche Erweiterungen auf. So fügt Paulus seinem eigenen Namen in der superscriptio »Titel« hinzu, in denen sich sein Selbstverständnis ausdrückt.366 Als ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; vgl. Gal 1,1; Röm 1,1) beansprucht er für sich und die Botschaft des Briefes Autorität und Legitimation; denselben Zweck erfüllt das ebenfalls als Ehrentitel verstandene δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ, das er neben dem Aposteltitel (Röm 1,1) bzw. als Ersatz für den Aposteltitel (Phil 1,1) verwendet.367 Dies gilt wohl auch wählten ausdrücken. Vgl. auch White, Ancient Greek Letters 98. 363 Vgl. Berger, Apostelbrief 197. 364 Dazu Roller, Formular 58–61 mit 434–436; zurecht vorsichtiger Schenke/Fischer, Einleitung 1, 32. 365 Vereinzelt findet sich die Verwendung der 1. und 2. Person und damit die Wendung von der indirekten zur direkten Anrede auch in jüngeren, nicht-christlichen Papyrusbriefen, z. B. in P.Oxy. XIV 1769,1 (3. Jh. n. Chr.) und P.Fay. 99 (159 n. Chr.). Vgl. dazu auch Koskenniemi, Studien 167. 366 Richards, Paul 128f., merkt zur paulinischen superscriptio an, dass es auffällig ist, dass Paulus sich nicht mit seinem vollen Namen und einer Herkunftsbezeichnung vorstellt, also etwa »Saulus Paulus aus Tarsus«. Dies findet sich z. B. in antiken Geschäftsbriefen (vgl. P.Oxy. II 267,1 [= MChr. 281; 36 n. Chr.]; P.Oxy. II 269,1 [= SP I 69; 57 n. Chr.]). 367 Ausführlich Schnider/Stenger, Studien 7–12; vgl. dazu auch Berger, Formen 326f.; Adams, Letter Opening 51–54. Den legitimatorischen Aspekt des Titels ἀπόστολος zeigt neben dem Zusatz »Jesu Christi« vor allem auch das in Röm 1,1 und 1 Kor 1,1 vorangestellte κλητός bzw. das in 1 Kor 1,1 und 2 Kor 1,1 hinzugefügte διὰ ϑελήματος ϑεοῦ, womit Paulus auf seine Einsetzung im »Apostelamt« nicht durch Menschen, sondern durch Gott rekurriert, so expressis verbis in der superscriptio des Galaterbriefes (Gal 1,1; vgl. Gal 1,10–24; 1 Kor 9,1f.; 15,3–11). Die Verwendung von δοῦλος in Ergänzung zu bzw. statt ἀπόστολος in Röm 1,1 und Phil 1,1 ist jeweils pragmatischen Überlegungen geschuldet; in beiden Fällen soll der Autoritätsanspruch weniger stark akzentuiert werden, ohne aber auf ihn zu verzichten – den römischen Christen gegenüber, weil Paulus diese Gemeinde nicht gegründet hat und bei ihren Mitgliedern, denen er persönlich nicht bekannt ist, erst um Anerkennung für sich und »sein« Evangelium werben muss, den Christen in Philippi gegenüber, weil er sich dieser Gemeinde

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

für das singuläre δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ im Präskript des Philemonbriefes (zu Phlm 1 vgl. S. 122).368 Diese Titulaturen in den Präskripten der Paulusbriefe erinnern an die Amtsbezeichnungen bei Empfängern und Absendern in den amtlichen Briefen bzw. Eingaben, wie sie vor allem in römischer Zeit üblich wurden (vgl. S. 45).369 Die Titulaturen in der superscriptio des Römer- und des Galaterbriefes haben zusätzlich umfangreiche Erweiterungen, die der jeweils spezifischen Briefsituation geschuldet sind. Während die Erweiterung im Römerbrief auf die werbende Selbstvorstellung des Paulus gegenüber einer Gemeinde zielt, der er persönlich noch unbekannt ist, betont und legitimiert sie im Galaterbrief den Autoritätsanspruch des Apostels gegenüber den von ihm gegründeten Gemeinden, die im Begriff sind, zu konkurrierenden Missionaren überzulaufen (zu Gal 1,1 vgl. S. 202). Die Gruß- und Segensformel χάρις καὶ εἰρήνη weist Paulus in seinen späteren Briefen durch den erweiternden Zusatz ἀπὸ ϑεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ nicht nur eindeutiger als von Gott hergeleitete Heilsgüter aus, sondern er betont damit zugleich die spezifisch christliche Dimension des zugesprochenen Segens und Heils.370 Im Galaterbrief wird die salutatio im Blick ob ihrer Fürsorge mehr als allen anderen, die er gegründet hat, persönlich verbunden fühlte. Dass mit der Selbstbezeichnung als δοῦλος kein Autoritätsverzicht und kein Bescheidenheitsgestus verbunden ist, kann die Verwendung im oben bereits zitierten Präskript des Briefes des Baruch in den Paraleipomena Jeremiou zeigen. Dazu auch Schmuttermayr, ΑΔΕΛΦΟΙ 14f., Anm. 2; J.-A. Bühner, ἀπόστολος. EWNT 1 (21992) Sp. 342–351, hier 344–364; A. Weiser, δουλεύω κτλ. EWNT 1 (21992) Sp. 844–852, hier 851f. 368 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 13. 369 Vgl. Roller, Formular 58f. und 80–84; Adams, Letter Opening 49–51. Die paulinischen Briefe wegen der auffallend ausführlichen Titulaturen des Präskripts als mehr oder weniger bewusste Nachahmung der kaiserlichen Mandaten zu sehen, aber geht m. E. zu weit (vgl. ebd. 87f.). Die formale Affinität der paulinischen Briefe zu den Schreiben von Königen bzw. Kaisern an die städtischen Ekklesiai betont auch Berger, Formen 274f.; zurückhaltender Broer, Einleitung 307; ähnlich auch Muir, Life 175. Als Vergleichstext wird immer wieder auf P.Lond. VI 1912 (= CPJ II 153; 10. Nov. 41 n. Chr.; Präskript in den Zeilen 14–16), den Brief (Edikt) des Kaisers Claudius an die Alexandriner in den Angelegenheiten der dort ansässigen Juden; der Text mit Einführung und Kommentar bei White, Light 131–137. Ähnliches gilt auch für die bei Stirewalt, Paul 33–46, (und anderen) vertretene Herleitung des paulinischen Briefes und seines Formulars (besonders der Form des paulinischen Präskripts) aus dem zeitgleichen amtlichen Briefverkehr; so urteilt Stirewalt: »It is worth noting briefly that Paul owed something of the tone of his addresses to the personal letter. He wrote with familiarity and often tenderness; note his repeated use of ‘beloved’ and ‘adelphoi’. But this warmth was conveyed within an adaption of the official convention; sender, co-sender, and recipients are all identified using forms that parallel those used by ranking officials to the people of their jurisdictions« (ebd. 46). Kritisch dazu Dormeyer, Literaturgeschichte 193. Arzt-Grabner, 1. Korintherbrief (PKNT) 31, bemerkt zudem, dass die von Stirewalt als besondere Kennzeichen des amtlichen Briefverkehrs identifizierten Merkmale des paulinischen Präskripts sich auch in zeitgleichen Privatbriefen finden lassen. 370 Näheres bei Schnider/Stenger, Studien 28–33. Berger, Apostelbrief 203f., dagegen sieht darin eine Abwandlung der griechischen Absenderangabe mit παρὰ/ἀπὸ τοῦ δεῖνος, so

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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auf die konkrete Briefsituation noch zusätzlich erweitert und durch die Betonung der Erlösungstat Christi zu einer indirekten polemischen Invektive gegen die konkurrierenden Missionare, auf deren Verkündigung hin, die Galater bereit sind, sich beschneiden zu lassen und damit die volle jüdische Gesetzesobservanz zu übernehmen (zu Gal 1,3–5 vgl. S. 203f.). B. Postskript: Statt des üblichen griechischen Schlussgrußes ἔρρωσϑε steht in den Briefen des Paulus – korrespondierend mit dem Eingangsgruß – ein Segenswunsch, der meist ἡ χάρις τοῦ κυρίου (ἡμῶν) Ἰησοῦ Χριστοῦ μεϑ᾿ ὑμῶν bzw. μετὰ τοῦ πνεύματος ὑμῶν lautet (1 Thess 5,28; Röm 16,20; Gal 6,18; Phil 4,23; Phlm 25).371 In den beiden Korintherbriefen ist dieser Schlusssegen stark erweitert zu ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ μεϑ᾿ ὑμῶν, ἡ ἀγάπη μου μετὰ πάντων ὑμῶν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (1 Kor 16,23f.) bzw. ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ ἡ ἀγάπη τοῦ ϑεοῦ καὶ ἡ κοινωνία τοῦ ἁγίου πνεύματος μετὰ πάντων ὑμῶν (2 Kor 13,13). Die christologische Formulierung des Schlusssegens zeigt, dass es sich bei ihm um eine christliche Schöpfung handeln muss, dass er also nicht aus jüdischer Praxis übernommen sein kann.372 Vergleichbar ist vielleicht die ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. in den griechischen Papyrusbriefen auftauchende erweiterte Fassung des Schlussgrußes ἐρρῶσϑαί σε/ὑμᾶς [πολλά/πολλοῖς χρόνοις] εὔχομαι (z. B. in P.Oxy. XII 1422 [128]; P.Giss. 27 [= WChr. 17/CPJ II 439; 2. Jh.]), die ab dem späten 3. Jahrhundert in christlichen Briefen noch den Zusatz ἐν [κυρίῳ] ϑεῷ erhalten kann (z. B. P.Grenf. II 73 [= WChr. 127; spätes 3. Jh.]; PSI III 208 [4. Jh.]373).374 C. Danksagung und Corpus: Vom Präskript zum eigentlichen Briefcorpus leitet Paulus mit dem Bericht über ein Dankgebet an Gott für den gegenwärtigen Heilsstand der Adressaten über. Im 1. Thessalonicher beginnt die Danksagung mit εὐχαριστοῦμεν τῷ ϑεῷ πάντοτε περὶ πάντων ὑμῶν μνείαν ποιούμενοι ἐπὶ τῶν προσευχῶν ἡμῶν, ἀδιαλείπτως μνημονεύοντες … (1 Thess 1,2ff.).375 Diese dass durch den Zusatz nicht die salutatio χάρις καὶ εἰρήνη erweitert und qualifiziert werde, sondern Gott zum eigentlichen Absender des Briefes gemacht werde, dem Paulus als »Sekretär« nur die Hand leiht. 371 Näheres bei Roller, Formular 68–70; Schnider/Stenger, Studien 131–135; Weima, Sincerly 340–344. 372 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 72. Dagegen plädiert Berger, Apostelbrief 204–206, für eine Herleitung des paulinischen Schlussgrußes aus dem Abschiedssegen in Erscheinungsberichten und der jüdischen Testamenten-Literatur. 373 Der Schlussgruß ἐρρῶσϑαί σε ἐν ϑεῷ εὔχομαι korrespondiert in diesem christlichen Brief mit der Formulierung des Eingangsgrußes im Präskript: χαῖρε ἐν κυρίῳ, ἀγαπητὲ ἄδελφε Πέτρε, Σώτας σε προσαγορεύω. 374 Zu Erweiterungen des Schlussgrußes in den Papyrusbriefen vgl. Exler, Form 74–77. 375 Die Danksagung besitzt in den Paulusbriefen eine immer gleiche Struktur: 1. Verb des Dankens, dessen Subjekt der Absender ist, 2. Gott als Adressat des Dankes, 3. »allezeit«, 4. für die angeredeten Adressaten des Briefes, 5. mehrere prädikative Partizipien bzw. kausaler Ne-

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Formulierung lässt erkennen, dass Paulus sich an der Motivik der Proskynema-Formel des griechischen Briefes orientiert (πρὸ μὲν πάντων εὔχομαί σε ὑγιαίνειν καὶ τὸ προσκύνημά σου ποιῶ [καϑ’ ἑκάστην ἡμέραν] παρὰ τῷ κυρίῳ Σαράπιδι).376 Wie die Proskynema-Formel ist auch die briefliche Danksagung bei Paulus Ausdruck des freundschaftlichen Gedenkens (μνεία; vgl. S. 48) und wurzelt damit im philophronetischen Charakter des griechischen Briefes.377 Als captatio benevolentiae und durch ihre inhaltlichen Akzentsetzungen schafft sie die Voraussetzung für die Ausführungen des Corpus; insofern kann sie nicht als eigenständiges Element vom Corpus abgetrennt werden.378 In den Paulusbriefen fehlt die Danksagung allein im Galaterbrief; dieses Fehlen darf man nicht vorschnell theologisierend dahingehend interpretieren, dass der Zustand der Gemeinden keinen Dank zulässt, sondern das Fehlen der Formel ist zunächst Ausdruck und Spiegel der gestörten Kommunikation zwischen Paulus und seinen Adressaten in Galatien (vgl. S. 222). Zwischen beiden Briefbensatz zur Angabe des Grundes/Inhaltes für den Dank, 6. Final- oder Konsekutivsatz, der Hoffnung ausdrückt, dass der gute Zustand der Adressaten auch in Zukunft andauert; vgl. Schnider/Stenger, Studien 46f. 376 So Schnider/Stenger, Studien 27; vgl. auch Roller, Formular 63–65; White, Epistolary Literature 1741f.; Richards, Paul 131f. Nach Mullins, Formulas 382, ist die paulinische Danksagung in ihrer Motivik zwar von der Proskynema-Formel abhängig, in ihrer Struktur folge sie aber der gewöhnlichen Danksagung; als Parallele zitiert er BGU III 816,3ff. (πάτερ, εὐχαριστῶ πολλὰ Ἰσιδώρῳ τῷ ἐπιτρόπῳ, ἐπεὶ συνέστοκέ κτλ.). Vgl. jedoch die der paulinischen Danksagung analoge Formulierung von Gesundheitswunsch und Proskynema-Formel in dem nicht-christlichen Brief eines Soldaten an seinen Vater BGU II 423,3–8 (= WChr. 480/ SP I 112; 2. Jh. n. Chr.): πρὸ μὲν πάντων εὔχομαί σε ὑγιαίνειν καὶ διὰ παντὸς ἐρωμένον εὐτυχεῖν μετὰ κτλ. εὐχαριστῶ τῷ κυρίῳ Σαράπιδι κτλ. Dazu auch Schubert, Pauline Thanksgivings 165–168. Kritisch zur Verankerung der paulinischen Danksagung im griechisch-hellenistischen Brief Berger, Apostelbrief 220: »Die hellenistischen Parallelen erklären nur, dass Briefe mit einer Danksagung eingeleitet werden konnten, aber nicht, weshalb dieses in frühchristlichen Briefen zum Schema und gerade so ausgestaltet wurde.« Vgl. dazu insgesamt ebd. 219–224. Capes/Reeves/Richards, Paul 58f., heben zudem hervor, dass die Danksagung in den paulinischen Briefen deutlich umfangreicher und elaborierter ist als ihre Äquivalente in den Papyrusbriefen (oder auch in den literarischen Briefen). Berger, Formen 337, schlägt eine Herleitung der paulinischen Danksagung aus den hellenistischen Königsbriefen vor, da in ihnen zu Beginn den Göttern dafür gedankt werde, dass sie dem angeredeten König die Herrschaft verliehen haben. Gegen eine derartige Herleitung spricht, dass diese Formel ebenfalls als eine Variante der allgemeinen Proskynema-Formel gelten muss, die wiederum aus dem ägyptischen in den griechischen Brief übernommen wurde; vgl. Olsson, Papyrusbriefe 5. Eine Erörterung möglicher hellenistischer Parallelen zu den paulinischen Danksagungen bei R. F. Collins, A Significant Decade. The Trajectory of the Hellenistic Epistolary Thanksgiving, in: Porter, Ancient Letter Form 159–184. 377 Vgl. dazu auch White, Ancient Greek Letters 92f. 378 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 42–45; Mullins, Formulas 381f.; dazu außerdem D. W. Pao, Gospel within the Constraints of an Epistolary Form. Pauline Introductory Thanksgiving and Paul’s Theology of Love, in: Porter, Ancient Letter Form 101–127; sowie P. ArztGrabner, Paul’s Letter Thanksgiving, in: ebd. 129–158.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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partnern ist, so will Paulus seinen Adressaten in Galatien signalisieren, aufgrund ihres drohenden Abfalls vom paulinischen Evangelium eine Störung der φιλοφρόνησις eingetreten, weshalb ein freundschaftliches Gedenken derzeit nicht möglich ist (was aber nicht bedeutet, dass der Galaterbrief insgesamt auf philophronetische Elemente verzichtet; vgl. Gal 4,13–20). Ergänzend ist anzumerken, dass die Danksagung in der Corpuseröffnung des 2. Korintherbriefes streng genommen nicht als formales Äquivalent zur Proskynema-Formel des griechischen Briefes gewertet werden kann, da hier kein Gebetsbericht, sondern ein direktes Gebet oder zumindest eine Aufforderung zum Gebet vorliegt (2 Kor 1,3–7: εὐλογητὸς ὁ ϑεὸς καὶ πατὴρ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ κτλ.; vgl. auch Eph 1,3; 1 Petr 1,3) An die Danksagung schließt Paulus eine Art briefliche Selbstempfehlung an, die den Blick von den Adressaten weg auf den Absender lenkt (z. B. 1 Thess 2,1–12; Röm 1,13–15). Dieser Abschnitt erinnert die Adressaten an ihre bestehende Beziehung zu Paulus und lässt ihn und sein Wirken im Gedenken der Adressaten gegenwärtig werden (παρουσία).379 Diese briefliche Selbstempfehlung dient – wie der entsprechende Abschnitt am Beginn einer Rede – der Ethosbeschaffung; sie stattet den Absender mit dem nötigen Ethos (ἦϑος) aus, das ihn bei den Adressaten glaubwürdig macht. Dazu zielt sie vor allem auf die Emotionen der Adressaten. Das Corpus endet meist mit einer Schlussparänese, die den Inhalt des Briefes noch einmal zusammenfassen und auf den Schlussgruß vorbereiten soll.380 Auch dieser Abschnitt des Briefes ist durch Motive der φιλοφρόνησις bestimmt. Er drückt das Verlangen des Paulus aus, die Adressaten zu sehen (1 Kor 16,6; Phil 4,1; Phlm 22), oder er enthält die Bitte des Paulus um das Fürbittgebet der Adressaten (Röm 15,30; 1 Thess 5,25; Phlm 22) oder er kündigt seinen eigenen Besuch (Röm 16,24.28; 1 Kor 16,5–7) oder den eines seiner Mitarbeiter an (Röm 16,1f.; 1 Kor 16,10–12). Durch diese Elemente des wechselseitigen Gedenkens soll die Gegenwart (παρουσία) des Apostels in der angeschriebenen Gemeinde über das Verlesen seines Briefes hinaus verlängert werden.381 In Verbindung mit der zusammenfassenden Schlussmahnung findet sich in einem Teil der Paulusbriefe eine Art Segenswunsch, der mit εἰρήνη formuliert ist und möglicherweise als ein christlicher »Ersatz« für die traditionelle philophronetische formula valetudinis finalis gedeutet werden kann, die von Paulus in seinen Briefen ebenso wenig wie die formula valetudinis initialis gebraucht wird (Röm 15,33; 16,20a; 2 Kor 13,11; Gal 6,16; Phil 4,9b; 1 Thess 5,33; vgl. 2 Thess 3,16).382 379

Ausführlich bei Schnider/Stenger, Studien 50–59. Näheres bei Weima, Sincerly 320–324. 381 Im einzelnen dazu Schnider/Stenger, Studien 91–107. 382 Vgl. Roller, Formular 66f. und 197f.; White, Ancient Greek Letters 97. Ausführlich zu den einzelnen Belegstellen Weima, Sincerly 310–320, der jedoch die Peace Benediction als Teil 380

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

Zum Corpusabschluss aller Paulusbriefe, mit Ausnahme des Galaterbriefes, gehören auch Grußauftrag (ἀσπάσασϑε: Röm 16,3–16; 2 Kor 13,12a; Phil 4,21; 1 Thess 5,26) und/oder Grußausrichtung (άσπάζεται/ἀσπάζονται: Röm 16,21– 23; 1 Kor 16,19f.; 2 Kor 13,12b; Phil 4,22; Phlm 23), die in denselben Formulierungen auch in den zeitgleichen griechischen Privatbriefen üblich sind.383 Das Fehlen des Grußauftrages und der Grußausrichtung im Galaterbrief ist wohl wiederum durch das gespannte Verhältnis zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden bedingt. Ein Namensunterschrift, verbunden mit einem Eigenhändigkeitsvermerk, findet sich bei Paulus lediglich am Ende des 1. Korintherbriefes: ὁ ἀσπασμὸς τῇ ἐμῇ χειρὶ Παύλου (1 Kor 16,21; vgl. die »amtlichen« jüdischen Briefe aus dem Kreis des Bar Kochba). Sonst hat Paulus wohl nach griechischem Brauch ohne eine Namensunterschrift lediglich den Schlussgruß eigenhändig unter den (von einem Sekretär/Mitarbeiter niedergeschriebenen) Brief gesetzt (vgl. den Eigenhändigkeitsvermerk in Gal 6,11).384 Auswertung: Abweichungen des paulinischen Briefformulars von den Konventionen des griechischen Briefes lassen sich nicht leugnen. Es stellt sich aber die Frage, ob diese Abweichungen genügen, um die Einzigartigkeit und Unableitbarkeit des paulinischen Briefes (und mit ihm des christlichen Briefes insgesamt) von der griechischen Brieftradition zu behaupten.385 Vorsicht ist – wie des Postskripts versteht; eine tabellarische Übersicht zu den Formulierungen der einzelnen Briefe ebd. 312. 383 Vgl. Roller, Formular 67f.; Schnider/Stenger, Studien 108 und 119–131; Weima, Sincerly 325–336. 384 Dazu Schnider/Stenger, Studien 135–137; Weima, Sincerly 337–340. In den pseudepigraphen (!) Deuteropaulinen findet sich die auffällige Kombination von Namensunterschrift und Eigenhändigkeitsvermerk (Kol 4,18; 2 Thess 3,17). 385 Roller, Formular 130, betont zwar die Einzigartigkeit des paulinischen Formulars, hält aber gleichzeitig, ebd. 237f., fest, dass sich das paulinische Formular aus dem gemeingriechischen, nicht einem semitischen Formular herleite; ähnlich Stirewalt, Paul 25f. Anders Jegher-Bucher, Galaterbrief 24, nach deren Ansicht, das Formular der paulinischen Briefe »mehr hebräische und aramäische als griechische Züge zeigt«; so auch Vielhauer, Geschichte 65. Dahinter steht die Annahme einer grundsätzlichen formalen Unvereinbarkeit zwischen dem griechischen und dem hebräisch-aramäischen (oder orientalischen) Briefformular; eine solche aber muss – wie bereits S. 70 im Anschluss an Gerhard, Untersuchungen 33f., gezeigt wurde – deutlich relativiert werden. Zu einer alle möglichen Herleitungen der paulinischen Briefe verbindenden und integrierenden Sicht kommt Theißen, Entstehung 109f., wenn er formuliert: »Wir kommen daher zu dem Ergebnis: Paulus hat den Gemeindebrief geschaffen, indem er den antiken Freundschaftsbrief durch Anlehnung an den Herrscherbrief und den ›literarischen Brief‹ umgestaltet hat. Er aktiviert dabei vielleicht auch eine im Judentum schon vorhandene Tradition gemeindeleitender Briefe. Die Anlehnung an Herrscherbriefe erklärt sein Vollmachtsbewusstsein, die Anlehnung an literarische Briefe die exzeptionelle Länge, die Anlehnung an gemeindeleitende Briefe die Ausrichtung auf die Adressaten. Paulus gab nach solchen Modellen dem Freundschaftsbrief ein autoritatives Gewicht, einen kollektiven Adressaten und einen gewichtigen Inhalt, der die Länge seiner Briefe erklärt.«

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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bereits angemerkt – gegenüber einer solchen Annahme schon deshalb geboten, weil Paulus in einer hellenistischen Großstadt (vermutlich Tarsus in Kilikien) aufgewachsen ist und weil Griechisch seine Muttersprache ist. Auch die vorausgehenden Beobachtungen zum paulinischen Brief haben gezeigt, dass Paulus alle typischen Elemente des griechisches Briefformulars übernommen, diese aber um- bzw. weitergebildet hat.386 Demgegenüber tritt vor allem Klaus Berger (1974) vehement für eine genuin christliche Brieftradition ein, ohne freilich zu bestreiten, dass sich die christlichen Briefe in manchen Aspekten mit den hellenistischen Philosophenbriefen vergleichen lassen.387 Die Wurzeln des christlichen Briefes lägen in den Erscheinungsberichten, der jüdischen Testamenten-Literatur und in der weisheitlichen Mahnrede; die Deutung der paulinischen und frühchristlichen Briefe dürfe sich deshalb auch nicht primär auf die Papyrusbriefe oder den antiken Freundschaftsbrief stützen.388 Das paulinische Präskript diene nämlich vor allem dazu, den Inhalt des »Briefes« als göttliche Offenbarung zu erweisen und den Apostel als bloßen Vermittler einer empfangenen Offenbarung und des göttlichen Segens zu qualifizieren.389 Es handle sich deshalb bei den Paulusbriefen auch nicht um Briefe, sondern um eine auf Gott zurückgeführte schriftliche Offenbarungsrede.390 Kritisch ist anzumerken, dass die Qualifizierung des Apostelbriefes als Offenbarungsmitteilung das persönliche Moment in den Briefen des Paulus übersieht.391 Richtig 386 Vgl. Roller, Formular 54f.; Schneider, Brief (RAC) Sp. 575; Exler, Form 20; vgl. auch Thraede, Brieftopik 95–97; Richards, Paul 130; Marxsen, Einleitung 27f. Eine Herleitung, des paulinisch-frühchristlichen Briefformulars, wie es erstmals im 1. Thessalonicherbrief in Erscheinung tritt, aus einem ›hellenistischen, synagogalen Formular‹, wie bei Vouga, Brief 11–16, behauptet, ist m. E. nicht haltbar. Denn zum einen stimmen die drei Briefe, durch die er dieses Formular repräsentiert sieht – 2 Makk 1,1–9; 1,10 – 2,18; 2 Bar 78,2 – 86,3 –, in den durch das Formular bestimmten Teilen weder untereinander noch mit dem 1. Thessalonicherbrief so überein, dass dies nicht durch unabhängige Modifikation des griechischen und/oder jüdischen Formulars (evtl. unter dem Einfluss von Briefzitaten in den biblischen Schriften) erklärbar wäre (der Brief in 2 Bar besitzt zudem kein eindeutiges Briefpräskript; dazu bereits S. 71). Zum anderen gibt es neben den drei genannten Briefen, von denen der des 2 Bar jünger ist als der 1. Thessalonicherbrief, keine zusätzlichen Belege, es sei denn man rechnet die ebenfalls jüngeren Briefe der rabbinischen Überlieferung (Gamaliël-Briefe) hierher, die hinsichtlich der Form aber ebenfalls keine sicheren Indizien liefern (vgl. S. 68). 387 Vgl. Berger, Apostelbrief 212f.; ders., Formen 273f.; dazu auch Schnider/Stenger, Studien 26–33; in diesem Sinne auch Dihle, Literatur 217f. Die Annahme einer eigenständigen, genuin christlichen Briefgattung, des »apostolischen Briefes«, vertrat kurz vor Berger bereits E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte (BEvTh 74), München 1970, 111–115; kritisch dazu Vielhauer, Geschichte 62f. 388 Anders Pokorný/Heckel, Einleitung 116; Dormeyer, Literaturgeschichte 192f. 389 Ausführlich bei Berger, Apostelbrief 207–212; ders., Formen 274. 390 Vgl. Berger, Apostelbrief 219. 391 So trotz ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu Berger Schnider/Stenger, Studien 27f.; vgl. auch Roller, Formular 24f. Diese Kritik weist Berger, Formen 274, mit dem Hinweis

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

daran ist aber zumindest, dass Paulus seine Briefe als Fortsetzung seiner mündlichen Missionspredigt verstand und Elemente daraus in die Briefe aufgenommen hat.392 Da er zudem damit rechnete, dass seine Briefe in der Gemeindeversammlung verlesen werden (1 Thess 5,27), kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass Paulus selbst seine Briefe in einer gewissen Affinität zur öffentlichen Rede sah.393 Abschließend ist ein Blick auf die anderen frühchristlichen Briefe nötig.394 Die beiden Briefzitate in der Apostelgeschichte folgen dem üblichen griechischen Formular (vgl. Apg 15,23.29; 23,26), ebenso der Jakobusbrief (dieser endet aber ohne Postskript mit der zusammenfassenden Schlussparänese).395 Die Briefe des Ignatius von Antiochia orientieren sich ebenfalls am griechischen Briefformular, doch ist bei ihnen vor allem im Präskript durch eingeschobene Relativsätze dessen Grundstruktur kaum mehr erkennbar; auch die syntaktischen Bezüge sind hier nur mehr schwer durchschaubar (vor allem in IgnRöm und IgnPhil).396 Die deutero- und tritopaulinen Briefe ahmen natürlich weitgehend das Formular der echten Paulusbriefe nach. Das Präskript des 1. Petrusbriefes gleicht einerseits dem der Paulusbriefe, weicht andererseits aber davon ab, indem er an die übliche »paulinische« salutatio χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη das Verb πληϑυνϑείη anfügt (Optativ); damit erinnert die salutatio des 1. Petrusbriefes an die Formel ‫( שלמכון ישגא‬möge Euer Wohlergehen sich mehren), wie sie in den aramäischen Gamaliël-Briefen bezeugt ist (vgl. dazu S. 68).397 Auch der Schlussgruß im Postskript des 1. Petrusbriefes εἰρήνη ὑμῖν πᾶσιν τοῖς ἐν Χριστῷ erinnert zwar an den paulinischen, modifiziert ihn aber zugleich, vor allem indem er das typisch paulinische Gruß- und Segenswort χάρις durch εἰρήνη ersetzt – vielleicht in Rückgriff auf den in den hebr. und aram. Briefen verwendeten Schlussgruß ‫ שלום‬bzw. ‫שלם‬. Dieselbe Form des Präskripts wie der 1. Petrusbrief verwenden mit kleinen Modifikationen auch der 2. Petrusbrief und der Judasbrief sowie der 1. Clemensbrief, der Polykarpbrief und das Polykarpmartyrium. Damit verwandt ist auch das Präskript des 2. Johannesbriefes; doch lautet die salutatio hier ἔσται zurück, dass die persönliche Bemerkungen in den Paulusbriefen nicht Ausdruck ihres privaten Charakters sind, sondern analog zum Philosophenbrief diese biographischen Selbstzeugnisse eine exemplarische Funktion haben, d. h. den Lehrer und sein Leben dem Schüler als Vorbild vor Augen stellen sollen. Kritisch zu Berger in diesem Punkt auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 23f. 392 So schon Wikenhauser/Schmid, Einleitung 382; ähnlich Kümmel, Einleitung 213f.; Theißen, Entstehung 20, Anm. 9. 393 Vgl. Dormeyer, Literaturgeschichte 62; dazu auch Stirewalt, Paul 30f. 394 Insgesamt dazu auch White, Epistolary Literature 1752–1755. 395 Vgl. Broer, Einleitung 305; Kümmel, Einleitung 213. 396 Dazu Schnider/Stenger, Studien 3. 397 Dazu insgesamt Schnider/Stenger, Studien 33–36; Aune, Environment 185; allein auf den paulinischen Einfluss hebt dagegen White, Epistolary Literature 1752, ab.

2.3 Die Anfänge der christlichen Epistolographie

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μεϑ᾿ ἡμῶν χάρις ἔλεος εἰρήνη παρὰ ϑεοῦ πατρὸς καὶ παρὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ υἱοῦ τοῦ πατρὸς ἐν ἀληϑείᾳ καὶ ἀγάπῃ. Im Postskript unterscheiden sich die genannten Briefe deutlich voneinander: Der Schlussgruß des 1. Clemensbriefes gleicht dem paulinischen, wird aber durch eine angefügte Schlussdoxologie ergänzt (eine solche findet sich zwar auch beim Römerbrief des Paulus, doch ist diese in der handschriftlichen Überlieferung nicht eindeutig bezeugt). Nur mit einer Schlussdoxologie enden der 2. Petrusbrief (auf Christus bezogenen) und der Judasbrief. Der Schlussgruß des Polykarpbriefes hatte wohl – soweit der nur in einer lateinischen Übersetzung erhaltene Schluss des Briefes erkennen lässt – die übliche griechische Form ἐρρῶσϑε (incolumnes estote), wenn auch mit einer Ergänzung, die möglicherweise gezielt an den typisch paulinischen Schlussgruß erinnern sollte (in domino Christo in gratia cum omnibus vestris). Über die (ursprüngliche) Gestalt des Postskripts des Polykarpmartyriums ist keine sichere Aussage möglich, da die Schlusskapitel und damit auch der heutige Briefschluss wahrscheinlich eine spätere Ergänzung sind (hier der typisch griechische Briefschluss ἐρρῶσϑαι ὑμᾶς εὐχόμεϑα erkennbar).398 Im 2. Johannesbrief wiederum vertritt offensichtlich eine umfassend formulierte Grußausrichtung ἀσπάζεταί σε τὰ τέκνα τῆς ἀδελφῆς σου τῆς ἐκλεκτῆς den eigentlichen Schlussgruß. Das Präskript des 3. Johannesbriefes folgt der üblichen griechischen Variante ὁ δεῖνος τῷ δεῖνι ohne salutatio; im Postskript greift dieser Brief mit εἰρήνη σοι – ähnlich wie der 1. Petrusbrief – auf den hebräisch-aramäischen Schlussgruß zurück (‫ שלום‬bzw. ‫)שלם‬. Der 1. Johannesbrief beginnt ebenso wie der Hebräerbrief ohne ein Präskript; er endet auch ohne Postskript, während der Hebräerbrief die paulinische Formel des Schlussgrußes aufgreift. Singulär ist das Präskript des Barnabasbriefes, das die Adressaten wie bei einer mündlichen Rede direkt anspricht χαίρετε, υἱοὶ καὶ ϑυγατέρες, ἐν ὀνόματι κυρίου τοῦ ἀγαπήσαντος ἡμᾶς ἐν εἰρήνῃ; doch bezeugen auch einige pagane griechische Briefe die Sitte, das Präskript als Gruß im Imperativ und mit einer Anrede des Adressaten im Vokativ zu formulieren (so z. B. P.Rein. I 48 [2. Jh. n. Chr.]399; BGU III 821 [2. Jh. n. Chr.]400; zum Präskript mit χαῖρε/χαίρετε im griechischen Brief vgl. auch S. 47).401 Ähnlich singulär ist auch das Postskript des Barnabasbriefes: Mit σώζεσϑε variiert und modifiziert er wohl den griechischen Schlussgruß, indem er ihn soteriologisch und eschatologisch konnotiert; daran fügt er den Segens- und Beistandswunsch ὁ κύριος τῆς δόξης καὶ πάσης 398

Näheres zur Frage der literarischen Integrität des Polykarpmartyriums G. Buschmann, Das Martyrium des Polykarp, in: Pratscher, Die Apostolischen Väter 147–169, hier 150f.; S. Parvis, The Martyrdom of Polycarp, in: Foster, Apostolic Fathers 126–146, hier 132–136. 399 Auch in diesem Brief ist das Präskript als eine direkte Anrede des Absenders an den Adressaten Sarapodoros formuliert, wobei eine Angabe des Namens des Absenders fehlt: χαῖρε κύριέ μου Σαραπόδωρε (Z. 1–2). 400 Das Präskript lautet hier: χαῖρε κύριέ μου πάτερ Ἡραίσκος σὲ ἀσπάζομαι (Z. 1–2). 401 Vgl. Koskenniemi, Studien 164f. (hier auch der Barn als Bsp. genannt).

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2. Brief und Epistolographie in der Kaiserzeit

χάριτος μετὰ τοῦ πνεύματος ἡμῶν, der an die Schlussgrüße im Corpus Paulinum erinnert (vgl. besonders 2 Tim 4,22 ὁ κύριος μετὰ τοῦ πνεύματός σου. ἡ χάρις μεϑ᾿ ὑμῶν).

Kapitel 3

Desiderate und methodische Überlegungen für die Analyse frühchristlicher Briefe 3.1 Zwischen Papyrusbrief und literarischem Brief Noch immer werden die frühchristlichen Briefe in der Forschung primär unter theologisch-inhaltlichen Aspekten analysiert und ausgewertet.1 Die frühchristlichen Briefe erscheinen dabei hauptsächlich als Quellen zur Beschreibung der theologie- und verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen in der Zeit der frühesten Kirche. Die Einordnung der frühchristlichen Briefe in den Kontext der antiken Epistolographie und die Berücksichtigung der Funktion(en) des Briefes in der frühen römischen Kaiserzeit (1. und 2. Jahrhundert n. Chr.) bleibt dabei meist eine nur untergeordnete und nebensächliche Fragestellung.2 Die Analyse und Interpretation frühchristlicher Briefe läuft damit jedoch Gefahr, so vorzugehen, als wären die ersten Christen und ihre Schriften nicht wirklich Teil der antiken Welt und der griechisch-römischen Kultur.3 Die methodische Einbeziehung der antiken Epistolographie bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit neutestamentlichen und frühchristlichen Briefen kann und darf sich jedoch nicht damit begnügen, dass sie ausgehend von Adolf Deißmanns Unterscheidung zwischen Brief und Epistel über den Briefcharakter dieser Schriften reflektiert, um dann auf dieser Basis Aussagen darüber machen zu können, ob die Aussagen eines neutestamentlichen oder frühchristlichen Briefes situativ bedingt sind oder auf Allgemeingültigkeit zielen. Ein solches Vorgehen ist nicht nur deshalb problematisch und ungenügend, weil Adolf Deißmann mit dieser Unterscheidung Werturteile verband, die dem Wesen des antiken Briefes nicht gerecht werden, sondern weil – wie die Überlegungen zur Kategorisierung der antiken Briefe gezeigt haben – die simple Unterscheidung von (echtem) Brief und Epistel weder der formalen noch der inhaltlichen noch der stilistischen Vielfalt der antiken Briefe gerecht wer1

Vgl. Stowers, Letter Writing 15f.; Pokorný/Heckel, Einleitung 118f. So z. B. Stowers, Letter Writing 23: »The work done by scholars on early Christian letters is extremely valuable but ought to be integrated into a less atomistic and more functional approach to letters. Above all, it is necessary to compare Christian letters to the whole range of letters and to approach them with a knowledge of epistolary and rhetorical theory.« 3 In diesem Sinne kritisiert auch Stowers, Letter Writing 24, das methodische Vorgehen vieler Exegeten. 2

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

den kann.4 An die Stelle der einfachen Aufteilung der frühchristlichen Briefe in echte Briefe und Episteln, hat deshalb eine stärker an formalen und funktionalen Kriterien orientierte Beschreibung und Einordnung zu treten. Im Gefolge von Adolf Deißmann setzte sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass die »echten Briefe« des Frühchristentums, sofern man sie im Rahmen der antiken Epistolographie verorten will, am ehesten mit den nichtliterarischen Papyrusbriefen meist nur mäßig gebildeter Verfasser zu vergleichen seien; die Frage nach Berührungen mit den literarischen Briefe dagegen wurde weitgehend vernachlässigt.5 Einer solchen einseitigen Sicht gegenüber aber ist im Blick auf die Funktion und Stellung des Briefes im Bildungssystem der (frühen) Kaiserzeit Vorsicht angebracht (vgl. S. 29). Da der Brief im höheren Schulunterricht als Übungsmittel eingesetzt wurde und damit auch die literarischen Ansprüche an den Privatbrief wuchsen, sollte man durchaus genauer prüfen, wie groß tatsächlich die Gemeinsamkeiten der frühchristlichen Briefe mit den Papyrusbriefen, aber auch die Unterschiede zu den literarisch gestalteten Briefen sind.6 Denn man wird wohl kaum ausschließen können, dass zumindest ein Teil der Verfasser der frühchristlichen Briefe auch einen höheren Schulunterricht erhalten hat und deshalb mit den stilistischen Konventionen des literarischen Briefes vertraut war. Dafür spricht zumindest, dass die frühchristlichen Briefe im Vergleich zu den Papyrusbriefen Ungebildeter kaum Syntaxfehler aufweisen und auch stilistisch weit sorgfältiger gestaltet sind. Auch hinsichtlich ihrer Länge sind die frühchristlichen Briefe – abgesehen vom 2. und 3. Johannesbrief (und eventuell noch dem Philemon- und Judasbrief) – eher mit literarischen Briefen als mit Papyrusbriefen vergleichbar.7 Blickt man auf die Briefe des Paulus, die man zumindest unter dem Aspekt, dass sie tatsächlich an die in der adscriptio genannten Gemeinden verschickt worden sind, eindeutig als echte Briefe bezeichnen kann, so ist auch für diese Briefe festzuhalten, dass sie in ihrem Inhalt nicht einfach nur situationsbedingt sind. Wenn die echten Paulusbriefe auch zweifelsohne durch eine konkrete Situation im Leben der angeschriebenen Gemeinde und des Paulus veranlasst sind und in diese konkrete Situation hinein sprechen, so kann gleichzeitig nicht bestritten werden, dass das, was gesagt wird, von Paulus und seinen Adressaten, als über die konkrete Situation hinaus relevant und allgemein gültig verstanden wurde. Insofern sind die Paulusbriefe nicht mit alltäglichen Gelegenheitsbriefen vergleichbar, wie sie durch die dokumentarischen Papyrus4

Dazu auch Stowers, Letter Writing 19. Ähnlich die Kritik bei Klauck, Briefliteratur 95; ders., Ancient Letters 103. 6 Aune, Environment 160, kommt zu dem nicht unberechtigten Urteil, dass Adolf Deißmann – sicher auch im Überschwang der Begeisterung für die neu entdeckten Texte aus der ägyptischen Wüste – ohne Gespür war für die Unterschiede zwischen den neutestamentlichen Briefen und den Papyrusbriefen. Vgl. auch Broer, Einleitung 303f. 7 Vgl. Roller, Formular 34–41; dazu auch Hose, Literaturgeschichte 213; Eckstein, Gemeinde 240f.; Anderson, Ancient Rhetoric 96f.; Richards, Secretary 213. 5

3.1 Zwischen Papyrusbrief und literarischem Brief

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briefe repräsentiert werden, sondern stehen, was ihren Anspruch angeht, den philosophischen Lehrschreiben deutlich näher.8 Außerdem sind bei der formalen und stilistischen Analyse der Paulusbriefe die Konventionen des antiken Briefstils zu beachten (worauf im Grunde schon Eduard Norden hingewiesen hatte)9. Angesichts der hier formulierten Forderung nach einem schlichten und einfachen Stil für den Brief, stellt sich die Frage, welche Rückschlüsse tatsächlich erlaubt sind, wenn sich Sprache und Stil der Paulusbriefe bzw. der frühchristlichen Briefe insgesamt als »unliterarisch«, d. h. als von den Werken der literarischen Kunstprosa unterschieden, erweisen sollten.10 Darf man daraus dann wirklich – wie es Adolf Deißmann und in seiner Nachfolge viele andere getan haben – weitreichende Folgerungen hinsichtlich Bildung und sozialer Herkunft der Verfasser und Adressaten dieser Briefe ziehen? Ein grundlegendes Problem stellt dabei zudem die Frage dar, anhand welcher Kriterien Sprache und Stil eines Textes als »literarisch« bzw. »unliterarisch« qualifiziert werden können (vgl. dazu die Überlegungen auf S. 100). Umgekehrt ist zu fragen, ob man die Paulusbriefe, wenn sich stilistische Unterschiede zu den literarischen Privatbriefen oder zu den philosophischen Lehrbriefen feststellen lassen, schon allein deshalb, den Papyrusbriefen ungebildeter Verfasser gleichstellen oder zumindest als reine Gelegenheitsschreiben ausweisen kann (oder vielleicht sogar muss). Kann man allein aufgrund solcher Divergenzen schon folgern, dass Paulus und auch einige andere unter den Verfassern der frühchristlichen Briefe keine höhere Schulbildung besaßen und deshalb der sozialen Unterschicht zuzurechnen sind? Hieße das nicht, von der irrealen Annahme auszugehen, dass die hochstilisierten Privatbriefe der publi8

So Broer, Einleitung 303; Roller, Formular 24f.; Pokorný/Heckel, Einleitung 116. Vgl. Norden, Kunstprosa 2, 492. 10 »Kunstprosa« hier verstanden im engen Sinn wie bei Eduard Norden für die klassische attische und die kaiserzeitliche attizistische Literatursprache, wie sie bei Thukydides, Xenophon, Isokrates und den attischen Rednern Demosthenes, Aischines und Lysias grundgelegt und in der Kaiserzeit von den Vertretern der Zweiten Sophistik nachgeahmt wird. Grundsätzlich wäre hier zudem zu bemerken, dass man sich bei der Bewertung von Sprache und Stil der neutestamentlichen und frühchristlichen Briefe (und der frühchristlichen Literatur insgesamt) hüten muss, unbesehen die Kriterien und Maßstäbe der Klassischen Philologie des 19. und frühen 20. Jh. mit ihrer einseitigen Wertschätzung des Prosastils bei Platon (bzw. Cicero) zugrundezulegen. Sprache und Stil der neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften sind demgegenüber vielmehr an den Maßstäben ihrer eigenen Zeit zu messen, wie sie in den stilkritischen Schriften des Dionysios von Halikarnass und bei Ps.-Longin fassbar sind. Außerdem müsste beachtet werden, dass die griechische Sprache (wie jede Sprache) mehr Register zur Verfügung hatte als die einfache Einteilung in »literarisch« und »unliterarisch« nahe legt. Vorsicht ist dabei schon allein deshalb geboten, weil sich für das Griechische nicht einfach die Literatursprache benennen lässt, sondern die griechische Literatursprache ist ausdifferenziert in gattungsspezifische Literatursprachen, die sich durch dialektale Färbung (attisch, ionisch, dorisch) und syntaktische Strukturen (parataktisch, hypotaktisch) unterscheiden. Dazu auch Landfester, Stilistik 26–37. 9

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

zierten spätantiken Korrespondenzen (für die neutestamentliche Zeit fehlen aus dem griechischen Bereich entsprechende Vergleichstexte) nicht absolute Spitzen- und Ausnahmeleistungen der antiken Briefkunst sind, sondern dass sie den Regelfall darstellen? Ist es tatsächlich realistisch anzunehmen, dass jeder, der eine höhere Schulbildung erhalten hat, genau so kunstvoll durchgestaltete Privatbriefe schreiben kann und muss? Muss man nicht vielmehr mit einer größeren stilistischen Breite und Vielfalt sowie mit Zwischenstufen zwischen den Briefen Ungebildeter und denen der Meister der antiken Briefkunst rechnen (vgl. dazu S. 100f.)?11

3.2 Konvention, Theorie und Praxis des antiken Briefes Wie der Überblick zum frühjüdischen Brief gezeigt hat, ist ein signifikant vom griechischen Brief abweichendes jüdisches Briefformular, an dem sich die frühchristlichen Briefe orientiert haben könnten, für die frühe Kaiserzeit nicht nachweisbar (vgl. S. 69).12 Die formalen Auffälligkeiten frühchristlicher Briefe sind deshalb als Abweichungen vom griechischen Formular zu erklären. Sie sind offenbar bewusst gestaltet und sollen wahrgenommen werden (vgl. S. 78). Die auffällige salutatio der Paulusbriefe, die nur teilweise von anderen frühchristlichen Briefschreibern nachgeahmt wird, verdankt sich wahrscheinlich einer mündlichen Segensformel und könnte durch die Praxis der Verlesung des Briefes im Gottesdienst bedingt sein (vgl. S. 80). Insgesamt zeigen sich die Briefe des Paulus, wie auch die anderen frühchristlichen Briefe, von der griechischen Brieftheorie geprägt, insbesondere integrieren sie die typischen Formeln und andere Elemente des philophronetischen Briefes (vgl. S. 47 und 84).13 Dies zeigt, dass das frühe Christentum, das in diesen Briefen seinen schriftlichen Niederschlag gefunden hat, und mit ihm die Anfänge der christlichen Literatur nicht von der hellenistischen Kultur und Bildung getrennt werden können. Die Analyse und Interpretation frühchristlicher Briefe muss folglich ihre Verwurzelung in der antiken Briefkultur bedenken und genau beachten, dass beispielsweise Ausdrücke des wechselseitigen freundschaftlichen Gedenkens und Wohlwollens durch die Konventionen des philophronetischen Briefes bedingt sind und daher keine unmittelbaren Schlüsse auf das tatsächliche Verhältnis zwischen den Briefpartnern oder 11 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Dormeyer, Literaturgeschichte 10 und 62f.; einen ersten Eindruck von der sprachlich-stilistischen Inhomogenität bereits bei den erhaltenen Papyrusbriefe, je nach sozialer Herkunft und Schulbildung ihrer Absender, geben die Anmerkungen bei Winter, Life and Letters 89–94; außerdem Schubart, Jahrtausend xxx–xxxvi. 12 Dazu auch Aune, Environment 179f.; Roller, Formular 54f. und 61f. 13 Ausführlich bei Thraede, Brieftopik 95–106, ausgehend von 1 Thess 2,17; 1 Kor 5,3f.; Kol 2,5; vgl. auch Dormeyer, Literaturgeschichte 193f.; Broer, Einleitung 307.

3.2 Konvention, Theorie und Praxis des antiken Briefes

95

auf die besondere Bedeutung des Freundschaftsethos für die frühen Christengemeinden erlauben (vgl. S. 47). Um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, setzt die Arbeit an frühchristlichen Briefen deshalb nicht weniger als bei allen anderen antiken Briefen eine gründliche Kenntnis der gelehrten Brieftheorie und die Beachtung der Briefkonventionen, d. h. nicht nur des Briefformulars, sondern auch der damals im Brief üblichen Formeln und Phrasen, voraus.14 Vor allem die Papyrusbriefe lassen erkennen, dass sich die meist kurzen Briefe weniger Gebildeter an ihre Verwandten und Freunde in einer geradezu stereotypen Formelhaftigkeit erschöpfen, die für Individuelles und Persönliches kaum Raum lässt.15 Daneben ist zu bedenken, dass der Brief mit seinem Inhalt und seiner formalen Gestaltung in der Antike Gegenstand theoretischer Reflexion und praktischer Unterweisung war. Für die Antike kann und muss man deshalb klare und allgemein verbindliche Vorstellungen darüber voraussetzen, was ein Brief ist und wie ein Brief sowohl hinsichtlich seiner Form als auch seines Inhalts aussehen muss. Aus diesem Grund können auch Privatbriefe – anders als von Adolf Deißmann postuliert – nicht als natürlicher, kunstloser und spontaner Ausdruck der Person des Absenders und seiner Empfindungen interpretiert werden. Persönliche Äußerungen des Absenders sind im Kontext der antiken Brieftheorie zu deuten, die vom Brief verlangt εἰκὼν τῆς ψυχῆς zu sein (vgl. S. 37). So zufällig und unbeabsichtigt sie auch erscheinen mögen, es ist zumindest in den Briefen derjenigen, die über mehr als nur eine elementare Schulbildung verfügen, immer damit zu rechnen, dass sie gezielt gesetzt und mit den Mittel der rhetorischen ἠϑοποιία gestaltet sind. In diesem Zusammenhang ist nochmals an die Thesen Adolf Deißmanns zu erinnern, dessen Unterscheidung von Brief und Epistel nicht nur funktionale und ästhetische, sondern auch inhaltliche Wertungen einschloss (vgl. S. 6). Der Nachweis, dass es sich bei den Paulusbriefen um echte Briefe handle, sollte garantieren, dass sie unmittelbarer und authentischer Ausdruck der Person und des sittlich-religiösen Empfindens des Paulus sind; denn wären sie Kunstbriefe, wäre alles an ihnen künstlich gestaltet und damit verfälscht und geheuchelt. Diese Sicht verkennt sowohl die Gebundenheit des antiken Briefes durch Formeln und Konventionen als auch die aus dem Konzept der φιλοφρόνησις abgeleiteten inhaltlichen Forderungen der Brieftheorie, die sich letztlich bis in die stets wiederkehrenden allgemeinen Phrasen und die standardisierte Formelsprache des antiken Briefes durchschlagen. Im Blick auf Adolf Deißmann muss man deshalb die Frage stellen, wie nahe man der Person und dem Empfinden des Paulus in seinen Briefen wirklich kommen kann, selbst wenn er ein 14 Ansätze in diese Richtung bei Schnelle, Einleitung 52f. Zur Problematik der Toposverkennung und ihre Folgen für die Interpretation und das Verständnis antiker Briefe vgl. auch Thraede, Brieftopik 5–8. 15 Vgl. Olsson, Papyrusbriefe 11f.

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

Mitglied der ungebildeten Unterschicht wäre, das nicht über die nötigen literarischen Fertigkeiten zur Abfassung eines Kunstbriefes (Epistel) verfügte.16 Die absichtsvolle Gestaltung des Präskripts und des Corpuseingangs im Galaterbrief, die für Paulus letztlich eine genaue Kenntnis der griechischen Briefkonventionen voraussetzt, mahnt in diesem Punkt jedenfalls zu größter Vorsicht (vgl. dazu auch S. 82f.). Die Beachtung der antiken Brieftheorie ist auch für die Analyse und Bewertung von Sprache und Stil der frühchristlichen Briefe wichtig. Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας fordert für den Brief wegen seiner Nähe zum Gespräch grundsätzlich einen schlichten Stil; zugleich aber verbiete seine Schriftlichkeit eine stilistische Unbekümmertheit. Unter bestimmten Umständen, insbesondere als Zeichen der Reverenz gegen den Adressaten, kann es nach Meinung des Ps.-Demetrios sogar angebracht sein, sich im Brief dem gehobenen Stil anzunähern. Sprache und Stil des Briefes sollen sich demnach von der attizistischen Literatursprache ebenso unterscheiden wie von der vulgären Umgangssprache (vgl. S. 38).17 Daraus, und nicht aus Sprache und Stil der in der Neuzeit zu den maßgebenden Schulautoren des Griechischunterrichts erkorenen Autoren, ergeben sich die Maßstäbe für die Bewertung von Sprache und Stil der Paulusbriefe und der frühchristlichen Briefe allgemein.18 Berücksichtigt werden müssen auch die »Briefmuster« bzw. Brieftypen, wie sie in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios vorgestellt werden.19 Wenn sich auch in den erhaltenen Papyrusbriefen nur teilweise der Einfluss dieser τύποι ἐπιστολικοί nachweisen lässt, so ist es dennoch sinnvoll, frühchristliche Briefe auch im Blick darauf zu untersuchen, inwiefern sie Elemente dieser Briefmuster realisieren, da sie in der Kaiserzeit offensichtlich Gegenstand stilistischer Übungen im Schulunterricht waren (vgl. S. 43). Dabei geht es nicht um die Frage, wie genau ein konkreter Brief einem oder mehreren dieser Musterbriefe entspricht (Ps.-Proklos/Libanios nennt als letzten seiner »Brieftypen« den gemischten, der aus mehreren anderen zusammengesetzt ist). Zu bedenken ist vielmehr, dass es sich bei den Brieftypen um typische Briefsituationen und die ihnen angemessenen Darstellungs- und Kommunikationsmuster handelt (vgl. S. 40f.). Insofern lenken die τύποι ἐπιστολικοί bei der Analyse die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Form, sondern auch auf 16

Kritisch zur Annahme, »echte Briefe« wären eine Art unverfälschtes und authentisches Selbstzeugnis ihres Verfassers/Absenders auch Ludolph, Epistolographie 14. 17 Dazu auch Roller, Formular 66; ähnlich Hutchinson, Documents 26. 18 Insofern ist der »nichtliterarische« Stil der Paulusbriefe und der meisten anderen frühchristlichen Briefe nicht allein vor dem Hintergrund der popularphilosophischen Diatribe der Zeit zu erklären, sondern auch als »briefgemäßer« Stil zu verstehen. Dadurch wird der Blick frei für das Wesen der Diatribe als Form der Argumentation und Darstellung statt als »Qualität« von Sprache und Stil. Vgl. dazu auch Stowers, Diatribe 74–76 und 80–82. Ausführlicher zur Diatribe auf S. 311. 19 Dazu auch Stowers, Letter Writing 56.

3.2 Konvention, Theorie und Praxis des antiken Briefes

97

die Funktion und den sozialen Kontext eines Briefes, d. h. auf die konkrete »Briefsituation« bzw. ihre Deutung durch den Verfasser des Briefes.20 Die in den Brieftypen ausgedrückten sozialen Kontexte brieflicher Kommunikation sind vor dem Hintergrund der pyramidalen Gesellschaftsstruktur des römischen Reiches und den damit verbundenen Rollenzuweisungen und Statusunterschieden in die Analyse der Briefe einzubeziehen.21 Der Rekurs des Absenders auf seinen eigenen höheren Status bzw. den niedrigeren des Adressaten kann nämlich als Argument eingesetzt sein. Dabei ist zu beachten, dass die im Brief ausgedrückte soziale Relation zwischen Absender und Adressat sich nicht mit ihrem tatsächlichen sozialen Status decken muss.22 Seitens des Absenders ist ein realer oder auch scheinbarer Statusverzicht (Understatement bzw. fishing for compliments) ebenso möglich wie die unberechtigte Statususurpation. Aufgrund der hohen Bedeutung der »Ehre« für die soziale Stellung in der Kaiserzeit ist es für die Wirkung des Briefes von Bedeutung, wie man mit der Ehre des Adressaten und mit der eigenen Ehre umgeht.23 Dabei hängt alles von der Fähigkeit des Briefschreibers ab, die soziale Relation zum Adressaten in seinem Sinn zu definieren und seine Deutung ihres Verhältnisses akzeptabel und plausibel zu machen. Diese Frage ist besonders für die Paulusbriefe von Interesse, die als echte Briefe verschickt worden sind. Denn die Briefsituation ist in diesen Briefen in sozialer Hinsicht zum einen durch die etablierte Gesellschaftsordnung des römische Reiches definiert, zum anderen durch die sich eben erst etablierenden Strukturen der christlichen Gemeinden.24 Beide konnten durchaus miteinander in Konkurrenz treten, wenn Paulus mit dem Anspruch des Gemeindegründers und Apostels Gemeindemitgliedern gegenüber als befehlende Autorität auftrat, die im Kontext der »profanen« Gesellschaftsordnung durch Abstammung und/oder Reichtum über eine höhere soziale Stellung und höheres soziales Prestige als er verfügten. 20

Vgl. Stowers, Letter Writing 22f. Gegen die Berücksichtigung der Brieftypen, wie sie in den τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios dargelegt sind, zur Analyse und Beschreibung der Briefsituation bei der Interpretation neutestamentlicher (und anderer) Briefe lässt sich aus methodischer Sicht nicht einwenden, dass dieses Handbuch (primär) für Beamte und den amtlichen Briefverkehr gedacht war und deshalb die Praxis der neutestamentlichen und frühchristlichen Briefschreiber, die alle wohl anderen Berufsgruppen angehörten, nicht oder höchstens marginal beeinflusst haben kann. Dass jedoch das Wissen um die Brieftypen keineswegs auf die Klasse der Beamten und damit auch die Anwendung der entsprechenden Kommunikationsmuster nicht auf den amtlichen Briefverkehr beschränkt gewesen sein kann, belegen das mit den τύποι ἐπιστολικοί vergleichbare, wenn auch jüngere Handbuch des Ps.-Proklos/Libanios sowie die bereits besprochenen, aus dem Schulunterricht stammenden Papyrusfragmente P.Paris 63 Kol. 8f. und 11f. (= UPZ 144 und 145) sowie P.Bon 5, die die Existenz und den Gebrauch weiterer derartiger Handbücher in neutestamentlicher Zeit bezeugen. 21 Vgl. Stowers, Letter Writing 27f.; Stirewalt, Studies 2. 22 Vgl. Stowers, Letter Writing 54. 23 Vgl. Stowers, Letter Writing 27. 24 Dazu auch Stowers, Documentary Letter 97.

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

Ausgehend von der antiken Briefpraxis ist außerdem zu bedenken, dass es üblich war, Briefe nicht eigenhändig zu schreiben (vgl. S. 24). Auch Paulus bediente sich beim Abfassen (all) seiner Briefe ohne Zweifel eines »Sekretärs«.25 Im Römerbrief meldet sich dieser am Ende namentlich und mit einem eigenen Gruß an die Adressaten zu Wort (Röm 16,22: ἀσπάζομαι ὑμᾶς ἐγὼ Τέρτιος ὁ γράψας τὴν ἐπιστολὴν ἐν κυρίῳ).26 Damit stellt sich die Frage nach dem Anteil des Sekretärs an Inhalt und Form des Briefes. Grundsätzlich lassen sich für das Altertum vier Rollen des Sekretärs beim Abfassen von Briefen unterscheiden: 1. Er ist bloßer Schreiber nach wörtlichem Diktat, 2. er formuliert den Brief anhand von Notizen aus einem Gespräch mit dem Absender (»Rohentwurf«), 3. er ist Mitautor, der den Brief anhand weniger vom Absender vorgegebener Stichworte und Argumentationslinien ausarbeitet, und 4. er ist der eigentliche Autor, der Briefe im Auftrag des Absenders ohne genauere Vorgaben selbständig beantwortet oder schreibt.27 Für die Paulusbriefe hat Otto Roller (1933) zurecht all diese Möglichkeiten diskutiert, stieß damit aber weitgehend auf Ablehnung.28

3.3 Schulunterricht, Bildung und Briefstil Die Papyrusbriefe zeigen, dass die Form des Briefes im Elementarunterricht gelehrt und eingeübt wurde, so dass jeder, der Lesen und Schreiben konnte, Grundkenntnisse darüber besaß, wie ein Brief auszusehen hat (vgl. S. 26); Verstöße gegen diese Konventionen wiegen deshalb schwer. Gleichzeitig veränderte und prägte die Verwendung des Briefes als Übungsform im höheren Schulunterricht den Briefstil der Gebildeten (vgl. S. 26).29 Insofern ist es selbst25

Vgl. Roller, Formular 19–23; Bahr, Paul 468. Zum Verständnis von Röm 16,22 vgl. Bahr, Paul 465f. 27 Dazu Klauck, Briefliteratur 64f.; ders., Ancient Letters 59f.; außerdem Roller, Formular 16–19; Bahr, Paul 475f. 28 Roller, Formular 20–23, hält es für möglich, dass einige der paulinischen Briefe nicht nach wörtlichem Diktat, sondern nur nach einem mündlich mitgeteilten Konzept von Mitarbeitern des Paulus ausgearbeitet wurden; ähnlich Richards, Paul 59–93. Ablehnend zu dieser These Wikenhauser/Schmid, Einleitung 383, und im Wesentlichen die gesamte weitere Forschung. Die These Rollers ist m. E. an sich nicht unbegründet; problematisch ist lediglich, was Roller und in seiner Nachfolge Richards mit dieser Annahme erklären wollen. Es geht ihnen nämlich darum, die hinsichtlich Sprache und Stil (und auch im Inhalt) von den echten Paulusbriefen stark abweichenden deutero- und tritopaulinischen Briefe doch noch für Paulus als »Autor« und Absender festhalten zu können und damit ihren pseudepigraphen Charakter zurückweisen zu können. 29 Vgl. auch Aune, Environment 160f. Es ist zweifellos richtig, wie Classen, Rhetorische Theorie 162, anmerkt, dass die Progymnasmata den Brief als Übungsstück des Rhetorikunterrichts nicht um seiner selbst willen, sondern vor allem als ethopoietisches Übungsstück thematisierten (Abfassen fiktiver Briefe). Das bedeutet m. E. aber nicht, dass diese Übungen des26

3.3 Schulunterricht, Bildung und Briefstil

99

verständlich, dass sich echte Privatbriefe formal und inhaltlich je nach dem Bildungsgrad ihres Verfassers erheblich unterscheiden werden.30 Der Gebildete wird auch bei den formlosesten Mitteilungen die rhetorische und literarische Schulung nicht verleugnen (lehrreich ist hierfür – trotz der Sprachdifferenz – ein stilistischer Vergleich der Briefe Ciceros mit den Papyrusbriefen der ägyptischen Wüste). Daher macht es keinen Sinn, mit Adolf Deißmann einen absoluten Gegensatz zwischen Brieflichkeit und literarischer Gestaltung zu postulieren.31 Der Gebildete wird sich eines gepflegteren und anspruchsvolleren Stils bedienen, auch ohne dass er bei der Abfassung seines Briefes schon an dessen potentielle Publikation denkt. Dennoch ist Vorsicht geboten, wenn man ausgehend von einem konkreten Brief den Bildungsgrad seines Verfassers erschließen will (Bildungsgrad im Sinne von Schullaufbahn). Denn es wäre irreal für alle Gebildeten der Kaiserzeit ein einheitliches sprachliches und stilistisches Niveau anzunehmen. Auch bei gleichem Schulunterricht können nämlich je nach individueller Begabung die Briefe und andere Texte einzelner Schreiber hinsichtlich Stil und Komposition sehr unterschiedlich ausfallen.32 Außerdem ist zu bedenken, dass das Niveau des höheren Schulunterrichts lokal sehr unterschiedlich sein konnte, d. h. es dürfte in einer gewöhnlichen Landstadt anders ausgesehen haben als in kulturellen Zentren wie Alexandria, Antiochia, Ephesus, Pergamon, Athen oder auch Korinth.33 Die publizierten Privatkorrespondenzen der Spätantike (wie auch die pseudepigraphen und andere literarische Briefe) können deshalb nur sehr bedingt als repräsentativ für den Briefstil der Gebildeten gelten. Um Aussagen über den »gewöhnlichen« Briefstil von Mitgliedern der gebildeten höheren Schichten treffen zu können, bedarf es einer breiteren Basis; dazu wäre es nötig, die erhaltenen Papyrusbriefe dahingehend zu untersuchen, ob sich unter ihnen mit einiger Sicherheit solche Briefe identifizieren lassen, die von gebildeten Verfassern stammen, d. h. solchen, die den Unterricht beim Grammahalb keinen Einfluss auf die alltägliche Briefpraxis rhetorisch geschulter Absender hatte (was Classen so wohl auch nicht behaupten will). 30 Vgl. dazu Exler, Form 16f. In diesem Sinn urteilt auch Olsson, Papyrusbriefe 10: »Die Verschiedenheiten in der Sprache der Briefe können natürlich infolge des verschiedenen Bildungsgrades, der sozialen Stellung der Absender u. dgl. sehr gross sein. Neben solchen Briefen, die in einer korrekten und gepflegten Sprache, die der Literatursprache nahesteht, verfasst sind, finden sich andere, die davon Zeugnis ablegen, dass Orthographie, Formenlehre und Syntax ihren Schreibern unübersteigbare Hindernisse bereiteten.« 31 Dazu Ludolph, Epistolographie 15f. 32 Dieses simple Faktum kannte und berücksichtigte bereits die rhetorische Theorie der Antike, indem sie neben Unterricht (παιδεία/doctrina) und Erfahrung (ἐμπειρία/usus) auch auf die Begabung (φύσις/natura) als eine der notwendigen Voraussetzungen für den vollkommenen Redner verwies; weder Begabung ohne Übung noch Übung ohne Begabung nutzen etwas (vgl. z. B. Plat. Phaidr. 269d; Isokr. or. 15,187–191. 292; Cic. de orat. 2,38; 3,121–125; Quint. inst. 2,19,2). Dazu auch Andersen, Rhetorik 219–223. 33 Ähnlich auch Marrou, Erziehung 235.

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

tiker oder sogar Rhetor besucht haben (Indizien dafür wären Titel für höhere Verwaltungs- und Ehrenämter bei Absender und/oder Adressat). Erste Überlegungen in diese Richtung hat bereits Walter Döllstädt (1934) in seiner Untersuchung zu den griechischen Papyrusprivatbriefen in gebildeter Sprache angestellt. Dabei weist er auf das grundlegende Problem hin, dass sich nur sehr schwer benennen lässt, woran man einen Privatbrief in gebildeter Sprache erkennt, was also die Kennzeichen eines familiären, aber gebildeten Briefstils sein sollen. Er fragt, ob orthographische Korrektheit genügt, und ob Schreibfehler allein schon den Verfasser als ungebildet erweisen.34 Außerdem weist er darauf hin, dass auch Ungebildete nicht einfach schreiben, wie sie sprechen; sondern auch sie bedienen sich mitunter der Formeln und Wendungen der Hochsprache, die sie zufällig aufgeschnappt haben, und möchten – mit mehr oder weniger Erfolg – die Schriftsprache nachahmen (bzw. das, was sie dafür halten).35 Als verlässlichste Kriterien erscheinen ihm letztlich die Beachtung der Syntax und die Wortwahl (vgl. dazu auch S. 104f.).36 Was bedeutet dies für die Analyse und Bewertung der Briefe des Paulus? Einzelne stilistische Ungeschicklichkeiten im Vergleich mit den literarischen Briefen besagen nicht zwangsläufig, dass er keine höhere Ausbildung genossen hat (etwa beim Grammatiker).37 Nur weil die literarische Qualität seiner Briefe 34

Vgl. Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 1. Dazu Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 2f. Vgl. auch Olsson, Papyrusbriefe 10, der zu dem Urteil kommt, dass der Einfluss der alltäglichen, gesprochenen Sprache bei den Papyrusbriefen von weniger gebildeten Absendern nicht überschätzt werden sollte; die Sprache der Papyrusbriefe enthalte insgesamt relativ wenig Züge, in denen sich die Sprache einer späteren Zeit ankündige und die sich bis ins Neugriechische erhalten haben. 36 Vgl. Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 4. 37 Kern, Rhetoric 167–203, vermischt in seinem Durchgang durch die frühchristlichen Zeugnisse über die stilistische Eigenart der neutestamentlichen Schriften – einschließlich des Urteils des Kelsos, eines der schärfsten Kritiker der Kirche im ausgehenden 2. Jh. n. Chr., über die literarische Qualität der neutestamentlichen Schriften – zwei Aspekte, die getrennt behandelt werden müssen: die sprachlich-stilistische Qualität und die rhetorische Disposition der Briefe. Für Kern scheint beides austauschbar: Wenn die literarische Qualität der Schriften als gering angesetzt wird, heißt das, dass sie auch nicht nach rhetorischen Prinzipien gegliedert sind; ebenso können sie keine literarische Qualität besitzen, wenn nicht ihre rhetorische Gliederung positiv herausgestellt werden kann. Zudem wäre es nötig, die Aussagen über die literarische Qualität der neutestamentlichen Schriften differenzierter zu betrachten: Es wäre nötig zu unterscheiden, wer welche Schriften wie bewertet, in welchem Kontext die Aussagen stehen, mit welchen Intentionen und Funktionen sie verbunden sind etc. Beispielsweise lässt sich beobachten, dass eine (vermeintlich) geringe literarische Qualität dieser Schriften von Christen sehr bald gezielt als apologetisches Argument instrumentalisiert wird. Dabei knüpft man offensichtlich an die traditionelle philosophische Rhetorikkritik an, nach der die Wahrheit des rhetorischen Wortprunks nicht bedarf und Rhetorik nichts anderes ist als eine Kunst, die die eigenen Interessen ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt durchsetzen will (so als Beweis vielzitierte Diktum des Sophisten Protagoras τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν; vgl. Plat. Prot. 317b). Zur philosophischen Rhetorikkritik in der Antike vgl. Whitmarsh, Sophistic 15–19; 35

3.4 Brief und Rhetorik

101

gegenüber den literarischen Spitzenleistungen abfällt, kann man sie noch nicht auf das Niveau von Papyrusbriefen der mehr oder weniger Ungebildeten stellen.38 Die Forschung hat zudem auf einen gewissen Einfluss der Rhetorik bei Paulus hingewiesen.39 Als Erklärung für das Vorhandensein rhetorischer Techniken und Figuren in seinen Briefen dürfe wohl kaum der Hinweis genügen, Paulus habe sich diese zufällig bei Rednern abgelauscht und sie eher unbewusst eingesetzt.40 Ebenso wenig sollte man einfach auf so etwas wie die natürliche Begabung und das unverbildete Genie des Paulus rekurrieren, das sich in seinen Werken spiegle.41 Weit plausibler scheint die Annahme, dass er, wie viele andere seiner Zeit, den höheren Schulunterricht durchlaufen hat.42 Dabei ist zu bedenken, dass er seine rhetorische Ausbildung sicher nicht bei einem der Großen seiner Zeit und in keinem der renommierten Bildungszentren des römischen Reiches erhalten hat. Ähnliche Überlegungen lassen sich natürlich auch für die übrigen frühchristlichen Briefe und ihre Verfasser anstellen.

3.4 Brief und Rhetorik Die Verwendung des Briefes als Übungsform im Rhetorikunterricht legt es nahe, Briefe auch unter rhetorischen Aspekten zu untersuchen.43 Denn wie beAndersen, Rhetorik 184–194 und 201–208; Ueding/Steinbrink, Grundriß 15–23; Fuhrmann, Rhetorik 30–41. Zur christlichen Rezeption solcher popularphilosophischer Bildungskritik und Bescheidenheitstopik in der christlichen Wertung der biblischen Schriften (Altes und Neues Testament) in der Alten Kirche auch Thraede, Ursprung 137–140. Desweiteren ist zu beachten, dass sich im 2. Jh. n. Chr. mit der Zweiten Sophistik die Stilvorstellungen und die Erwartungen an literarische Texte ändern (Attizismus). Folglich sind die neutestamentlichen Schriften in einer Situation des Umbruchs der griechischen Literaturgeschichte entstanden. Dazu auch Reiser, Sprache 24–27. Aufgrund dieses Wandels in der griechischen Literatursprache musste das Urteil über ihre literarische Qualität bereits wenige Jahrzehnte nach ihrer Abfassung anders ausfallen als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Näheres dazu bei Hose, Literaturgeschichte 167–184; vgl. auch Frösén, Prolegomena 85–133; Rydbeck, Fachprosa 186– 199; Dormeyer, Literaturgeschichte 42–46. Außerdem müssten in höherem Maße die speziellen Anforderungen des Briefstils berücksichtigt werden, wie sie in dieser Studie ausgehend von den Aussagen bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας dargestellt wurden (Abschnitt 2.1.3). 38 Dazu auch Stowers, Letter Writing 25. 39 Näheres bei Norden, Kunstprosa 2, 502–510; Lona, Paulus 10–12. 40 Gegen Classen, Rhetorik 31f.; Schreiber, Brief 257; Schnider/Stenger, Studien 26f. 41 Gegen Reiser, Sprache 69f. 42 Zustimmend Dormeyer, Literaturgeschichte 62; Becker, Paulus 54–59; ablehnend Dihle, Literatur 219; zurückhaltend Klauck, Briefliteratur 179f.; ders., Ancient Letters 226f. 43 Dazu auch Kremendahl, Botschaft 16f. Klauck, Briefliteratur 169, und ders., Ancient Letters 210f. verweist zurecht darauf, dass bei der Frage nach der Berechtigung einer rhetorischen Analyse von Briefen zuerst zu fragen ist, was man unter Rhetorik versteht. Denn in den modernen Literatur- und Kommunikationswissenschaften lasse sich eine deutliche Ausweitung des Begriffs »Rhetorik« und damit auch der rhetorischen Analyse beobachten. Unter

102

3. Desiderate und methodische Überlegungen

reits angedeutet, steht zu vermuten, dass die hier erlernten stilistischen, kompositorischen und argumentativen Techniken auch in den Briefen ihre Spuren hinterlassen haben.44 Die ältere Forschung konzentrierte sich bei der rhetorischen Untersuchung ausschließlich auf die Frage des ornatus, d. h. auf die Benennung der verwendeten Stilmittel.45 Eine Neuorientierung der rhetorischen Analyse initiierte in der neutestamentlichen Exegese Hans Dieter Betz mit seinen Arbeiten zum Galaterbrief (1975, 1979).46 Er versuchte nachzuweisen, dass Paulus sich bei der Gliederung dieses Briefes am Aufbauschema der Gerichtsrede orientiere.47 Ziel seiner rhetorischen Analyse war der Nachweis, dass die Briefe des Paulus keineswegs konfus und unstrukturiert sind, wie es in der Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert basierend auf den stilistischen Urteilen von Franz Overbeck, Eduard Norden und Paul Wendland immer wieder behauptet wurde.48 In der Folge wurden ähnliche Überlegungen von verschiedener Seite für nahezu alle Paulusbriefe durchgeführt.49 Eine methodische Präzisierung hat die von Hans Dieter Betz initiierte rhetorische Analyse der neutestamentlichen Schriften vor allem durch George A. Kennedy (1984) erfahren.50 Eine gewisse »Rhetorik« verstehe man zunehmend alle Aspekte persuasiver Kommunikation, nicht mehr allein ein tradiertes, schulisch vermitteltes sowie gesellschaftlich akzeptiertes und rezipiertes System formal-stilistischer Regeln für die Gestaltung der öffentlichen Rede. Für eine Dispensierung des engen Systems der antiken Rhetorik und einer Ausweitung von Gegenstand und Ziel der rhetorischen Analyse auf alle Techniken und Strategien der Überzeugung der Adressaten votiert beispielsweise Tolmie, Persuading 24–30. 44 Ähnlich Reed, Epistle 176–186. 45 Eine Auflistung der rhetorischen Figuren in den Briefen des Paulus bei Norden, Kunstprosa 2, 502–510; vgl. auch die in dieser Tradition stehende Liste von »Stilmitteln« in den echten Paulusbriefen bei Porter, Paul of Tarsus 567–584. Dazu auch Lona, Paulus 10f.; Klauck, Briefliteratur 177; ders., Ancient Letters 222. 46 Dem Galaterkommentar voraus ging sein Vortrag zum Galaterbrief und der Gattung des apologetic letter auf der 29. SNTS-Tagung in Sigtuna/Schweden 1974, der 1975 in den NTS veröffentlicht wurde. Zum Ansatz von Betz und seinem Einfluss auf die weitere Analyse der paulinischen Briefe vgl. auch Strecker, Literaturgeschichte 86–88; Kremendahl, Botschaft 7f.; Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 378–380. 47 Betz gliedert den Galaterbrief nach den partes orationis folgendermaßen: exordium (1,1– 11), narratio (1,12 – 2,14), propositio (2,15–21), probatio (3,1 – 4,31), exhortatio (5,1 – 6,10); dazu Klauck, Briefliteratur 177f.; ders., Ancient Letters 222f.; Classen, Rhetorik 8–16. Zu den Teilen der Rede in der klassischen Rhetorik vgl. Fuhrmann, Rhetorik 81–98; Ueding, Rhetorik 72–74; Andersen, Rhetorik 50–59; Ueding/Steinbrink, Grundriß 259–277. 48 Durchaus polemisch Betz, Composition 354: »Scholars of the later twentieth century seem in basic agreement, that Paul’s letters are ‘confused’, disagreeing only about whether the confusion is caused by emotional disturbances, ‘Diktierpausen’ or ‘rabbinic’ methodology.« Vgl. auch ders., Galaterbrief 54f. 49 Ein Überblick zu den wichtigsten Studien und zur Rezeption des Ansatzes von Betz in der neutestamentlichen Exegese allgemein bei Classen, Rhetorische Theorie 146–153; Porter, Paul of Tarsus 538–561; vgl. auch Tolmie, Persuading 20–23. 50 Grundlegend Kennedy, Interpretation 13–30.

3.4 Brief und Rhetorik

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Rechtfertigung dieses Verfahren kann man darin sehen, dass Paulus selbst seine Briefe offensichtlich als schriftliche Fortsetzung seiner mündlichen Predigt verstanden hat (vgl. S. 88) und er davon ausging, dass sie in der Gemeindeversammlung als Ersatz für seine Predigt laut verlesen wurden (vgl. S. 77).51 Da seine Briefe damit gewissermaßen die Aufgabe einer Rede erfüllen sollten und für einen mündlichen Vortrag gedacht waren, kann man nicht ausschließen, dass Paulus bei der Komposition seiner Briefe auch auf die Prinzipien für die Gestaltung einer Rede zurückgegriffen hat.52 Dennoch ist der Rückgriff auf die Rhetorik bei der Briefanalyse kein unproblematisches Verfahren und hat Grenzen.53 Denn bereits Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας trennt den Brief durch die in seinem Wesen begründete Schriftlichkeit klar von der mündlichen Rede.54 Zudem wird sie durch den Verweis auf stilistische Unterschiede explizit gegen die epideiktische (§ 225) und die dikanische Rede (§ 229) abgegrenzt (in dem Verweis auf Ermahnungen als nicht briefgemäßen Inhalt könnte eventuell eine inhaltliche Abgrenzung zur symbuleutischen Rede impliziert sein; vgl. § 232).55 Trotzdem wird man vor dem 51

Vgl. Malherbe, Exhortation 68; Botha, Letter Writing 18. Dies ist kein Spezifikum paulinischer oder allgemein frühchristlicher Briefe. Ähnliches lässt sich auch für den authentischen 2. Brief des Demosthenes sagen, den er als Selbstverteidigung und -rechtfertigung aus dem Exil an die Volksversammlung und den Rat seiner Heimatstadt Athen geschrieben hat. Auch dieser Brief ist der Ersatz für einen persönlichen Auftritt vor der Versammlung, der dem Exilierten nicht möglich ist; und ebenso wie die Paulusbriefe soll dieser Brief laut vor den Versammelten verlesen werden. Entsprechend zeigt der Brief klar Elemente einer Rede, bei gleichzeitigem Zurücktreten der brieftypischen Formelsprache. Dazu Reed, Epistle 187. 53 Zur Problematik der Verbindung von Rhetorik und Epistolographie Klauck, Briefliteratur 178–180; ders., Ancient Letters 224–226; Classen, Rhetorik 29–33; Porter, Justification 115f.; Kremendahl, Botschaft 15–20; Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 380–386. 54 Nur weil es die rhetorisch-epistolographische Theorie, wie sie bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας fassbar wird, nicht erlaubt, heißt das noch nicht, dass es nicht dennoch Leute gab, die Briefe nach Art einer Rede gestalteten. Die Tatsache, dass ein Handbuch über den Stil entsprechende Mahnungen und Zurückweisungen aussprechen muss, lässt vielleicht sogar eher das Gegenteil vermuten. Die Frage und Suche nach rhetorischen Strukturen in Briefen kann also nicht einfach mit dem Hinweis auf die Einlassung bei Ps.-Demetrios a priori abgewiesen werden. Dies gilt umso mehr für Briefe aus der Kaiserzeit, deren Kultur, Literatur und Kommunikation durch eine zunehmende Rhetorisierung gekennzeichnet ist. 55 Dazu Classen, Rhetorik 5f.; Klauck, Briefliteratur 166f.; ders., Ancient Letters 207f.; Auf die grundsätzliche Verschiedenheit von Brief und Rede und die darin begründeten Grenzen einer Übertragung von Gliederungsschemata etc. der Rede auf die Briefe insistiert auch Dormeyer, Literaturgeschichte 190. Dagegen verweisen Malherbe, Theorists 2, und in seiner Nachfolge Kremendahl, Botschaft 16f., als Beleg für eine grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Epistolographie und eine darin gerechtfertigte rhetorische Analyse antiker Briefe auf die Verwendung des Briefes als ethopoietische Übung im Rahmen der Progymnasmata des Rhetorikunterrichts im Handbuch des Theon von Alexandria aus dem 1. Jh. n. Chr. (vgl. die Ausführungen auf S. 26); dies allein ist m. E. aber noch keine ausreichende Begründung für die Annahme, Briefe würden in der Antike nach dem Schema von Reden geglie52

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3. Desiderate und methodische Überlegungen

Hintergrund der allgemeinen Rhetorisierung der Bildung, Kultur und Literatur in der Kaiserzeit (παιδεία und Zweite Sophistik) bei der Briefanalyse von der Rhetorik nicht absehen können.56 Der Brief konnte sich genauso wenig wie alle anderen Formen der Literatur dem dominierenden Einfluss der Rhetorik entziehen.57 Ein nach rhetorischen Maßstäben »schöner« Brief konnte in diesem Kontext als Zeichen der Wertschätzung des Adressaten und als »Visitenkarte« des Absenders verstanden werden. Zu bedenken ist, dass die Rhetorik in der römischen Kaiserzeit als eine »Kunst« (τέχνη) galt, d. h. für eine lehr- und lernbare Fertigkeit gehalten und deshalb in einem eigenem Unterricht vermittelt wurde.58 Die erhaltenen antiken Hand- und Lehrbücher zeigen zudem, dass die Rhetorik und der Rhetorikunterricht ein relativ gleichförmiges System bildeten.59 Die rhetorische Analyse von antiken Briefen bedarf deshalb einer weiteren Fragestellung, nämlich inwiefern der Brief eines rhetorisch geschulten Verfassers insgesamt durch die einzelnen im Rhetorikunterricht erlernten Techniken bestimmt und beeinflusst ist.60 Dabei geht es beispielsweise um die Frage der Anwendung der standardisierten rhetorischen Argumentations- und Beweisverfahren.61 Außerdem ist damit zu rechnen, dass bei der Abfassung eines längeren Briefes die im Rhetorikunterricht erlernten Methoden zum Auffinden des Stoffes (εὕρεσις/ inventio) und seiner optimalen Gliederung (τάξις/dispositio) durchaus hilfreich waren.62 Auch für die möglichst wirksame sprachliche Einkleidung und Gestaltung (λέξις/elocutio) wird ein solcher Briefschreiber auf das im Rhetorikunterricht Erlernte zurückgreifen.63 Dabei geht es über die bloße Figurendert (eine entsprechende Analyse damit zu legitimieren, beabsichtigt zumindest Kremendahl). Kritischen Anmerkungen zu Kremendahl bei Classen, Rhetorische Theorie 161f. 56 Vgl. Ueding, Rhetorik 79–87; Andersen, Rhetorik 255–271; dazu auch Classen, Rhetorik 6; Hall, Rhetorical Outline 29f. 57 Nicht unberechtigt ist deshalb die vermittelnde methodologische Einsicht bei Pokorný/ Heckel, Einleitung 213, dass der bloße Rekurs auf die Regeln der Rhetorik eine epistolographische Analyse nicht ersetzen kann; dennoch aber helfe das Instrumentarium der Rhetorik, um den Aufbau der paulinischen Argumentation und die Funktion einzelner Textabschnitte besser zu verstehen (das zentrale Anliegen bei Betz). 58 Vgl. Andersen, Rhetorik 18; zum Programm des Rhetorikunterrichts ebd. 243–255. 59 Näheres bei Andersen, Rhetorik 13–17. 60 In eine ähnliche Richtung zielt das von Kennedy, Interpretation 13–30, vorgeschlagene Programm für die rhetorische Analyse neutestamentlicher Texte; doch bleibt dieses – zugleich in Anknüpfung an und kritischer Absetzung von Betz – stärker an der Frage der Gliederung (dispositio) eines Textes nach den Idealschemata des Rhetorikunterrichts interessiert. Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei Albrecht, Geschichte 1, 411 (unter Hinweis auf Plin. epist. 1,11); Classen, Rhetorische Theorie 162. 61 In diesem Sinne auch Classen, Rhetorik 2f. Zu den rhetorischen Beweismitteln und Argumentationsformen vgl. Andersen, Rhetorik 40–47; Martin, Rhetorik 97–137. 62 Vgl. Reed, Epistle 176–182; ders., Rhetorical Categories 301–308; Porter, Paul 570– 576; Andersen, Rhetorik 49. 63 Vgl. Reed, Rhetorical Categories 308–311.

3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen

105

lehre hinaus um die Beachtung der allgemeinen Stilqualitäten (ἀρεταὶ τῆς λέξεως/virtutes dicendi), die sich mit den Stichworten Ἑλληνισμός, σαφήνεια, κόσμος und πρέπον umschreiben lassen.64 Hier könnte die Antwort auf die Frage liegen, woran sich der Briefstil gebildeter Verfasser erkennen lässt. Ganz allgemein lässt sich auch die Frage nach den mit einem Brief beabsichtigten Wirkungen (delectare, docere, movere) stellen sowie nach den Mitteln, mit denen der Verfasser sie zu erreichen versucht, da die Rhetorik auch hierfür standardisierte Techniken und Verfahren zur Verfügung stellt, die sich in der Praxis bewährt hatten und deshalb im Unterricht sowie durch Lehrbücher vermittelt wurden.65 Dass derartige Überlegungen und Annahmen für die Zeit des Paulus nicht unbegründet und deshalb in der Analyse neutestamentlicher und frühchristlicher Briefe zu berücksichtigen sind, lässt sich am Beispiel der Lucilius-Briefe des jüngeren Seneca illustrieren, in denen sich durchaus Elemente der Rhetorik nachweisen lassen (dazu S. 310). Es geht bei der rhetorischen Analyse frühchristlicher und anderer Briefe also um mehr als nur darum, die verwendeten »Stilmittel« zu suchen und möglichst vollständig aufzulisten, und es geht um mehr als nur darum, für einen Brief die Gliederung nach dem idealen Strukturschema einer der drei Redegattungen vorzuschlagen, wie sie aus den antiken Rhetorikhandbüchern abgeleitet werden können.66

3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen Bei der Analyse neutestamentlicher und frühchristlicher Brief wären außerdem verstärkt neuere kommunikationstheoretische Überlegungen zu berücksichtigen, wie sie von Matthias Ludolph (1997) und Jan Radicke (1997, 2003)

64 Näheres dazu bei Martin, Rhetorik 247–258; Andersen, Rhetorik 64–69; Fuhrmann, Rhetorik 38f. 65 Vgl. Andersen, Rhetorik 48f. 66 Dass eine solche breit gefasste rhetorische Analyse eines antiken Briefes sinnvoll ist und dass sich die oben angesprochenen rhetorischen Aspekte in einem echten Brief nachweisen lassen, kann exemplarisch P.Oxy. XVIII 2190 (= SB XXII 15708; ca. 100 n. Chr.) belegen und illustrieren. Bei diesem Text handelt es sich um den Brief eines Studenten aus Alexandria an seinen Vater, einen Oberpriester. Absender und Adressaten gehören somit offensichtlich der Oberschicht an und der Absender absolviert gerade in Alexandria die für die Mitglieder dieser sozialen Schicht übliche Rhetorikausbildung. Die rhetorische Ausbildung seines Verfassers verrät der Brief in Sprache, Stil und Komposition, aber auch in den gewählten Argumentationsverfahren. Damit verbunden ist auch eine gezielte, dem Anliegen des Briefes dienliche Selbstdarstellung des Absenders (»self-fashoning«). Der Text des Briefes mit Übersetzung und Kommentar bei Hutchinson, Documents 19–28. Ähnliche Überlegungen am Beispiel von P.Ryl. II 116 (= SP II 287; 194 n. Chr.), einer offiziellen Eingabe in einer Rechts- und Vermögensangelegenheit, bei Reed, Epistle 188f.

106

3. Desiderate und methodische Überlegungen

bei ihren Studien zu den Briefen des jüngeren Plinius herangezogen wurden.67 Damit ließe sich eine einseitige Autorenzentriertheit bei der Analyse und Interpretation neutestamentlicher und frühchristlicher Briefe vermeiden, die übersieht, dass die antike Literaturtheorie von einem Autor forderte, sich auf seinen Leser bzw. sein Publikum einzustellen.68 Traditionell bestimmt man die Funktionen des Briefes unter den drei Aspekten: Information mitteilen, Anweisungen/Bitten übermitteln und persönliche Kontakte pflegen.69 Das in der modernen Kommunikationstheorie entwickelte Organon-Modell ermöglicht demgegenüber eine präzisere und damit auch weiterführende Beschreibung der Brieffunktionen. Das Organon-Modell geht davon aus, dass jede Kommunikationssituation durch drei Komponenten konstituiert ist: 1. den Sprecher/ Textproduzent, 2. den Hörer/Textrezipient und 3. den Gegenstand/Inhalt; diese drei werden durch das »Werkzeug« (griech. »Organon«) der Sprache bzw. des Textes miteinander in Verbindung gesetzt.70 Ausgehend davon lassen sich drei Arten oder Funktionen von sprachlichen Äußerungen bzw. Texten unterscheiden: 1. die »Darstellung«, die auf den Gegenstand zielt, 2. der »Appell«, der auf den Hörer zielt, und 3. der »Ausdruck«, der auf den Sprecher zielt. Wichtig ist dabei, dass eine sprachliche Äußerung bzw. ein Text zwar immer primär einer dieser drei Funktionen dient, die beiden anderen dadurch aber nicht ausgeschlossen werden; d. h. während eine der drei Funktionen explizit realisiert wird, sind die beiden andere immer implizit gegeben. Ausgehend von diesem Modell lassen sich drei Arten von Briefen unterscheiden: 1. solche, die der Darstellung dienen (expressiv), 2. solche, die dem Appell dienen (persuasiv) und 3. solche, die dem Ausdruck dienen 67 Ein differenzierter Überblick zu den Ansätzen der modernen Kommunikationswissenschaft bei Reck, Kommunikation 1–67. In seiner Studie nimmt Reck jedoch weniger die Frage in den Blick, wie die Berücksichtigung kommunikationswissenschaftlicher bzw. kommunikationstheoretischer Ansätze das Verständnis von Inhalt, Funktion und Form eines paulinischen (oder frühchristlichen) Briefes fördern kann; ihm geht es primär um die paulinischen Gemeinden als Kommunikationsgemeinschaft(en) und die Formen und Voraussetzungen der Kommunikation innerhalb und zwischen den paulinischen Gemeinden. 68 Die antike rhetorische Theorie thematisiert dies unter dem Aspekt des πρέπον bzw. aptum, wozu auch die Angemessenheit der Rede im Blick auf die intellektuelle und emotionale Verfasstheit des Publikums gehört; vgl. Quint. inst. 11,1,43–45; Cic. de orat. 3,211; orat. 21,70f. Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß 225; Lausberg, Handbuch §§ 53–57. 69 In diese Richtung White, Ancient Greek Letters 95; ders., Epistolary Literature 1731. 70 Ausführlich bei Ludolph, Epistolographie 30–33; außerdem Thraede, Gebrauchstext 186–190, der auf der Grundlage derselben methodischen Voraussetzungen von einem »Dreieck der Briefsituation« spricht. Die Analyse antiker Texte auf der Grundlage des Organon-Modells ist insofern dem Vorwurf eines anachronistischen Zugriffs entzogen, als es mit der antiken rhetorischen Theorie konvergiert (und davon abgeleitet ist). Nach Aristoteles (rhet. 1,3,1 [1358a–1358b]) konstituieren das kommunikative Dreieck einer Rede (1) ὁ λέγων [Sprecher/ Absender], (2) πρὸς ὅν λέγει [Hörer/Adressat] und (3) περὶ οὗ λέγει [Gegenstand/Inhalt]. Vgl. dazu Lausberg, Handbuch § 59; Kremendahl, Botschaft 18.

107

3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen

(referentiell).71 Gleichzeitig macht dieses Modell darauf aufmerksam, dass sich die Analyse und die Interpretation eines Briefes nicht allein auf die jeweilige Hauptfunktion konzentrieren kann und darf, sondern auch fragen muss, inwiefern die beiden anderen Funktionen realisiert sind. Gegenstand (Inhalt)

ORGANON sprachl. Äußerung (Brief )      

Sprecher (Absender)

Hörer (Adressat)

DARSTELLUNG

referentiell

APPELL

persuasiv

AUSDRUCK

expressiv

Dies ist besonders im Blick auf den »Ausdruck«, d. h. die Selbstdarstellung des Absenders im Brief, von Interesse.72 Während Briefe bzw. Abschnitte von Briefen, die explizit dem »Ausdruck« gewidmet sind, beim Lesen dem Verdacht unterliegen, dass es sich hier um eine kontrollierte und bewusst gestaltete Selbstdarstellung des Absenders handelt, entsteht dort, wo die Person des Absenders nur implizit im »Appell« und in der »Darstellung« mitaufscheint, der Eindruck, hier träten sein Wesen und sein Charakter (ἦϑος) unbewusst und damit unkontrolliert und authentisch zu Tage. Doch ist damit zu rechnen, dass auch dieser scheinbar unbewusste und unkontrollierte »Ausdruck« gezielt im Blick auf die erstrebte Selbstdarstellung des Absenders und den gewünschten Eindruck beim Adressaten gestaltet ist.73 Die literarische und die rhetorische Kompetenz eines Briefschreibers wird sich vor allem in der Gestaltung des scheinbar unkontrollierten Ausdruck erweisen.74 Aufgrund der Tatsache, dass der Brief auch im Dienst der Selbstdarstellung des Absenders steht, muss das »Ich« des Briefes immer zuerst als ein bewusst gestaltetes, nicht als ein unmittelbarer, authentischer und ungekünstelter Ausdruck des »Selbst« des Verfassers gesehen werden.75 Die Berechtigung und Notwendigkeit solcher Überlegungen ergibt sich aus der Konvergenz dieser kommunikationstheoretischen Überlegungen mit den Vorgaben der antiken 71

White, Epistolary Literature 1731, verteilt derartige Funktionen auf die Teile des Briefes: (1) in Präskript/Postskript Beziehungseben, (2) im Corpus Information/Anliegen. Dies ist jedoch wenig sinnvoll, da sich expressive Elemente oft auch im Corpus eines Briefes finden. 72 Vgl. Ludolph, Epistolographie 31f. 73 Dazu Ludolph, Epistolographie 32f. 74 Vgl. Ludolph, Epistolographie 32. 75 Entsprechende Überlegungen ausgehend von den Briefen des jüngeren Plinius bei Ludolph, Epistolographie 16–19 und 36–40; auch Vogt-Spira, Selbstinszenierung 52.

108

3. Desiderate und methodische Überlegungen

Brieftheorie. Da der Brief als der »Spiegel der Seele« erachtet wurde, kann man insbesondere bei gebildeten Verfassern davon ausgehen, dass sie in ihren Briefen um ein adäquates Selbstbild bemüht waren und dass sie deshalb das »Ich« des Briefes entsprechend gestaltet haben, unabhängig ob der Brief für eine spätere Veröffentlichung intendiert war oder nicht.76 Die dafür nötigen Techniken hatten sie im Kontext der ethopoietischen Übungen des Rhetorikunterrichts erlernt und eingeübt. Die Kommunikationstheorie weist außerdem darauf hin, dass ein Sprecher sich um der größtmöglichen Wirkung seiner Rede willen automatisch und unbewusst auf seine Hörer einstellt. Dies hat zur Folge, dass jeder, der spricht, mit wechselnden Zuhörern auch verschiedene Rollen annimmt. Auch hieraus ergibt sich wieder, dass das »Ich« des Briefes kein authentischer und unmittelbarer Ausdruck des Charakters des Absenders ist, sondern eine gezielt im Blick auf den/die Adressaten gestaltete Selbstdarstellung. Die Angemessenheit dieser Überlegungen für den antiken Brief ergibt sich aus der antiken Rhetorik, die darauf hinwies, dass die Person des Redners und seine Glaubwürdigkeit eines der rhetorischen Beweismittel (ἦϑος) und damit entscheidend für den Erfolg der Redners sind (Aristot. rhet. 1,2,2–4 [1355b–1356a]; Quint. inst. 4,1,12f.).77 Die im Blick auf die Adressaten effiziente Gestaltung des »Ichs« des Sprechers war deshalb Teil der rhetorischen Ausbildung. Wichtig ist dabei für den Redner wie für den Briefschreiber, dass er, um glaubwürdig zu bleiben, auf ein möglichst konsistentes, d. h. widerspruchsfreies Selbstbild achtet, das jedoch nicht authentisch sein muss.78 Dies bedeutet nicht, dass der Redner oder Briefschreiber nur eine einzige oder ein überschaubares Set kompatibler Rollen annehmen kann; dies stünde ja der Notwendigkeit, sich auf ein mitunter wechselndes Publikum einzustellen, im Wege. Der Briefschreiber hat wie der Redner vielmehr darauf zu achten, dass dieselben Adressaten nicht mit von ihm angenommenen widersprüchlichen Rollen in Berührung kommen (Publikumssegregation). Dieses Problem ist zumindest für die Paulusbriefe interessant, da sie offenbar von Anfang an für ein relativ breites Publikum bestimmt waren und Paulus zudem mit dem Austausch seiner Briefe zwischen verschiedenen von ihm gegründeten Gemeinden rechnen musste (vgl. S. 77). Aus diesen Gründen war für Paulus die sorgfältige Gestaltung seiner Selbstdarstellung in den Briefen unerlässlich.79 Dass Paulus um eine entsprechende Selbstdarstellung und gelenkte Wahrnehmung seiner Person durch die Adressaten bemüht war, zeigen nicht zuletzt die von ihm zur Selbstvorstellung gebrauchten Titel in der super76

Dazu auch Ludolph, Epistolographie 19. Näheres bei Andersen, Rhetorik 41f. 78 Dazu insgesamt Ludolph, Epistolographie 30 und 33–36. 79 Anders z. B. Eckstein, Gemeinde 238, der das Bemühen des Paulus um einen unverfälschten Ausdruck des Selbst in seinen Briefen betont. 77

3.5 Kommunikationstheoretische Überlegungen

109

scriptio seiner Briefe, die seine Rolle definieren. Hier sei auch nochmals an die besonders ausführlichen Erweiterungen in den superscriptiones des Römerund Galaterbriefes erinnert, wo die besondere Brief- bzw. Kommunikationssituation jeweils eine spezifische Akzentuierung der Selbstdarstellung des Absenders Paulus erforderte (vgl. S. 82).

Kapitel 4

Der Brief an Philemon 4.1 Zum Stand der Forschung 4.1.1 Hintergrund, Ort und Zeit der Abfassung Der Philemonbrief ist mit Abstand der kürzeste der erhaltenen Briefe des Paulus; seine Adressaten sind der von Paulus einige Zeit zuvor bekehrte Philemon (Phlm 19) und seine christliche Hausgemeinde. Abgefasst ist der Brief zugunsten des Sklaven Onesimus, der sich unerlaubt aus dem Haus seines Herrn Philemon entfernt hat, daraufhin irgendwie mit Paulus zusammengetroffen ist, von ihm für den christlichen Glauben gewonnen und schließlich mit dem Brief zu Philemon zurück geschickt wurde (Phlm 10–14). Zu Ort und Zeit seiner Abfassung bietet der Philemonbrief ebenso wenig direkte Angaben wie zum Wohnort seiner Adressaten. Da Paulus sich in der superscriptio selbst als δέσμιος tituliert (Phlm 1), geht man davon aus, dass der Philemonbrief in der Situation einer realen Gefangenschaft des Paulus entstanden sein muss.1 Die Apostelgeschichte weiss von einer zweijährigen Haft des Paulus im Prätorium des römischen Statthalters in Kaisareia am Meer (Apg 23,33–35; 24,27) und der anschließenden leichten Haft in einer Privatwohnung in Rom, während er auf seinen Prozess vor dem Kaisergericht wartete (Apg 28,16). Aus Angaben in den echten Paulusbriefen, die nicht recht zu einer Haft in Kaisareia oder Rom zu passen scheinen, schließt man jedoch darauf, dass Paulus bereits zuvor in Kleinasien, vermutlich in Ephesus, inhaftiert gewesen sein muss, obwohl die Apostelgeschichte keine Erinnerungen daran bewahrt hat (vgl. 2 Kor 1,8f.; Phil 1,12–18).2 Das Zusammentreffen des Paulus mit dem entlaufenen Sklaven Onesimus und die im Brief geäußerte Absicht des Paulus, nach der erhofften baldigen Entlassung aus der Haft Philemon zu besuchen (Phlm 22), wertet man meist als Indiz dafür, dass der Haftort des Paulus und der Wohnort des Philemon 1 Die im Folgenden genannten verschiedenen Thesen zum Ort der Haft des Paulus mit ihren Vertretern bei Fitzmyer, Philemon (AB) 9–11. 2 Zu den Gründen für die Annahme einer Gefängnishaft des Paulus in Ephesus, die von der Apostelgeschichte nicht belegt und in den Briefen bestenfalls indirekt angedeutet wird, vgl. Lohse, Paulus 179–181; Becker, Paulus 169f. Gegen die Annahme einer Haft des Paulus in Ephesus unter anderem Schnelle, Paulus 408f., der deshalb auch die Abfassung der »Gefangenschaftsbriefe«, d.h. des Philipper- und Philemonbriefes, in Rom annimmt.

4.1 Zum Stand der Forschung

111

nicht allzu weit voneinander entfernt lagen.3 Doch diese Annahme mündet letztlich in einen Zirkelschluss, da sich weder Abfassungs- noch Zielort des Briefes mit hinreichender Sicherheit bestimmen lassen. Mehrheitlich plädiert man heute für eine Abfassung des Briefes während eines Gefängnisaufenthalts des Paulus in Ephesus.4 Die Hauskirche des Philemon lokalisiert man meist in Kolossae bzw. dessen näherer Umgebung.5 Daneben plädiert man auch für Pergamon6 und gelegentlich sogar Ephesus7 als Wohnort des Philemon. Bei einer Abfassung des Philemonbriefes in Ephesus ist er in die Zeit um 53/55 n. Chr. zu datieren.8 Da jedoch – wie angemerkt – eine Haft des Paulus in Ephesus in der Apostelgeschichte nicht erwähnt wird und nur aus vagen Andeutungen in den Paulusbriefen erschlossen ist, sehen einige (mit der älteren Paulusforschung) die Annahme als zwingend, dass Paulus den Philemonbrief erst während seiner Haft in Rom geschrieben habe; dafür spreche auch die im Brief vorausgesetzte milde Haftsituation, in der Paulus ungehindert Besuch empfangen und Briefe diktieren kann (vgl. Apg 28,30).9 Möglicherweise wären dann auch die Adressaten des Briefes in Rom zu lokalisieren.10 Sollte der Brief tatsächlich in Rom geschrieben sein, wäre er erst in den Jahren nach 60 n. Chr. entstanden.11 Als weitere Möglichkeit bliebe natürlich auch, dass der 3

Vgl. Broer, Einleitung 400f. Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 289f.; Schenk, Philemon 3480f.; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 4; Arzt, Philemon (PKNT) 70–76; Dunn, Philemon (NIGTC) 307f. Nach Reinmuth, Philemon (ThHK) 19, handelt es sich um eine Untersuchungs-, nicht eine Strafhaft, da Paulus sonst keinen Besuch empfangen und keine Briefe diktieren und erhalten könnte. Vgl. auch Stuhlmacher, Philemon (EKK) 20f. 5 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 290; Reinmuth, Philemon (ThHK) 19f.; Jülicher, Einleitung 124; skeptisch dagegen Schenk, Philemon 3481. Dass Philemon in Kolossae oder Umgebung wohnt und der Philemonbrief folglich dorthin geschickt worden ist, wird daraus gefolgert, dass im Kolosserbrief in 4,9 Kolossae als Heimat des Onesimus genannt wird, der zusammen mit Tychikus den Brief überbringt, sowie in 4,17 Archippus, einer der Adressaten des Philemonbriefes (Phlm 2); außerdem enthält die Grußliste in Kol 4,10–14 dieselben Namen wie die in Phlm 24. Der Wert dieser Parallelen für die Frage, wohin der Philemonbrief adressiert wurde, ist allerdings sehr zweifelhaft, da der Kolosserbrief zu den pseudepigraphen Deuteropaulinen gehört und erst in der ersten nachpaulinischen Generation entstanden ist. Ob hinter Kol 4,9.17 eine authentische Personaltradition über Onesimus steht und dieser mit dem Onesimus des Philemonbriefes identisch ist, bleibt deshalb Spekulation. Dazu auch Wolter, Philemon (ÖTK) 238f.; Ebner, Philemonbrief 402f.; zuversichtlicher Wengst, Philemon (ThKNT) 29. 6 Die Argumente dafür bei Schenk, Philemon 3482f. 7 Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 5f. 8 Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 4f. 9 So Schnelle, Einleitung 166; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 154. Kritisch zu den für die Abfassung in Rom vorgebrachten Argumente Broer, Einleitung 401f. 10 So der Vorschlag bei Ebner, Philemonbrief 403f. Diese Möglichkeit will auch Broer, Einleitung 401f., nicht grundsätzlich ausschließen. 11 Vgl. Ebner, Philemonbrief 404. 4

112

4. Der Brief an Philemon

Brief während der Haft in Kaisareia am Meer, also noch vor dem Abtransport nach Rom geschrieben wurde.12 4.1.2 Intention und Funktion Das Hauptaugenmerk liegt in der Auslegung des Philemonbriefes auf dem Problem der Sklavenfrage, d. h. auf der Frage nach der Haltung des Paulus und des Frühchristentums zur Sklaverei.13 Ob Paulus dem Philemon eine Freilassung des Onesimus nahe legt (Phlm 16), wird heftig diskutiert, ohne dass sich die Frage entscheiden ließe.14 Insgesamt aber zeigt man sich enttäuscht über das Fehlen einer eindeutigen Absage des Paulus an die Sklaverei.15 Der Philemonbrief illustriert nämlich am konkreten Einzelfall, dass in der christlichen Gemeinde zwar der Unterschied zwischen Herr und Sklave aufgehoben ist (Gal 3,28; 1 Kor 12,13), die tradierte soziale Ordnung aber nicht in Frage gestellt wird (1 Kor 7,21); weder ist der christlich gewordene Herr verpflichtet, seinen Sklaven die Freiheit zu schenken, noch hat der christliche Sklave einen Anspruch auf Freilassung durch seinen christlichen Herrn. Um die Haltung des Paulus und der frühen Christen zu erklären, verweist man unter anderem darauf, dass die Christen keine Möglichkeit zu einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung hatten, dass die Aussicht auf Freilassung viele Sklaven zu einer unaufrichtigen Annahme des Christentums verleitet und die finanziellen Möglichkeiten der frühchristlichen Gemeinden überfordert hätte, dass man wegen der Erwartung des baldigen Endes der Zeiten keine Notwendigkeit zu sozialen Reformen sah, dass die Stellung als libertus keine soziale Verbesserung bedeutet hätte, oder dass die Pflicht zur Sklavenfreilassung die vermögenden Christen finanziell so stark belastet hätte, dass sie keine freien Mittel 12

So Suhl, Philemonbrief (ZBK) 15. Näheres bei Schnelle, Einleitung 169f.; Pokorný/Heckel, Einleitung 291f.; Ebner, Philemonbrief 404–406; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 58–69. Zur Wertung des Status Sklave/Freier in den Paulusbriefen und der darin implizierten Haltung des Paulus zur Sklaverei vgl. auch Funk, Status 160–178. 14 Vgl. Broer, Einleitung 399; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 42–45; Baumert, Freundesbrief 131–133. 15 Barclay, Paul 161: »The peculiar modern characteristic in discussion of this issue is the post-abolitionist conviction that Christianity (as we understand it) is fundamentally opposed to the institution of Slavery.« Vgl. auch Reinmuth, Philemon (ThHK) 3–7; Wolter, Philemon (ÖTK) 234f. Vor allem in jenen Regionen und Gesellschaften, die noch in der Neuzeit die Einrichtung der Sklaverei kannten, wird deshalb dem Philemonbrief – unabhängig von der Frage seiner »ursprünglichen« Intention und Funktion – von Christen bis heute eine besondere Relevanz als Stellungnahme zur Sklavenfrage beigemessen; vgl. dazu folgende neuere Beiträge: R. Atkins, Contextual Interpretation of the Letter to Philemon in the United States, in: Tolmie, Philemon 205–221; J. Punt, Paul, Power and Philemon. “Knowing Your Place”. A Postcolonial Reading, in: Tolmie, Philemon 223–250; P. J. J. Botha, Hierarchy and Obedience. The Legacy of the Letter to Philemon, in: Tolmie, Philemon 251–271. 13

4.1 Zum Stand der Forschung

113

mehr gehabt hätten, um die Gemeinden zu unterstützen.16 Solchen Thesen gegenüber ist jedoch darauf zu verweisen, dass die Sklaverei in der kaiserzeitlichen Gesellschaft insgesamt als ein gegebenes und (wirtschaftlich) notwendiges Faktum hingenommen wurde, dessen Abschaffung nicht einmal ehemalige Sklaven forderten, die als Literaten publizistisch tätig waren (Terenz, Publilius, Phaedrus).17 Die Erwartung, solche Forderungen bei den frühen Christen zu finden, ist deshalb eher unrealistisch und anachronistisch. Heftig diskutiert wurde in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Frage nach Anlass und Ziel des Briefes. Gegenwärtig werden vier teilweise erheblich divergierende Positionen vertreten: (1) Die traditionelle Sicht sieht Onesimus als entflohenen Sklaven (fugitivus) im eigentlichen Sinn des Wortes (Phlm 15). Er hatte offensichtlich seinen Herrn bestohlen (Phlm 18); dabei muss offen bleiben, ob der Diebstahl der Anlass für die Flucht war, oder ob er seinen Herrn bestahl, um die Flucht zu finanzieren.18 Ziel seiner Flucht war (vermutlich) Ephesus, um hier entweder unterzutauchen oder im Artemisheiligtum Tempelasyl zu finden (plädiert man für Rom als Ort der Abfassung des Briefes, ist das Ziel der Flucht des Onesimus selbstverständlich hier zu suchen).19 Unter welchen Umständen und warum Onesimus hier mit Paulus zusammentraf, kann nur vermutet werden, da der Brief darüber schweigt. Dass Onesimus von der Polizei aufgegriffen und ins Gefängnis gebracht wurde, wo er mit Paulus zusammentraf, schließt man gewöhnlich aus; denn in diesem Fall hätte Paulus nicht über ihn verfügen und ihn nicht mit einem Brief zu seinem Herrn zurückschicken können.20 Beide müssten demnach bereits vor der Verhaftung des Paulus aufeinander getroffen sein. Ob dies durch Zufall geschah, oder ob Onesimus Paulus bewusst aufsuchte, und, wenn ja, mit welchem Ziel, lässt sich nicht klären. Jedenfalls dürfte Onesimus bereits bei seinem Herrn, der ja von Paulus bekehrt wurde, von diesem gehört haben, eventuell auch, dass er sich zu dieser Zeit in Ephesus (bzw. Rom) aufhielt. Sicher ist jedenfalls, dass Onesimus von Paulus für den christlichen Glauben gewonnen wurde und dass Paulus zur Überzeugung kam, Onesimus habe sich ernsthaft bekehrt (Phlm 10–12). Schließlich schickte Paulus, der Onesimus gerne als Helfer behalten hätte, ihn mit dem Brief zu sei16

Ausführlich dazu Barclay, Paul 175–182; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 46–49. Dazu Christ, Geschichte 99f. 18 Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 2; Suhl, Philemonbrief (ZBK) 21; Wengst, Philemon (ThKNT) 32f. 19 Dazu Rapske, Prisoner 189f. Zur Illustration vgl. auch Cic. ad Q. fr. 1,2,14; hier schildert Cicero den Fall eines Sklaven, der seinem Herrn in Rom entlaufen und in Athen, dann in Ephesus untergetaucht ist. Hier wurde er aufgegriffen und ins Gefängnis geworfen. Quintus soll ihn nun in Ephesus ausfindig machen und dann an seinen Herrn, der mit ihm und Cicero befreundet ist, zurückschicken. 20 Näheres zu den damit verbundenen Fragen und Problemen bei Rapske, Prisoner 187– 195; Arzt-Grabner, Onesimus 140f. 17

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4. Der Brief an Philemon

nem Herrn zurück.21 Der Begleitbrief des Paulus sollte Onesimus eine freundliche Wiederaufnahme im Haus seines Herrn ermöglichen und ihn bei seiner Rückkehr vor den damals üblichen Strafen für Sklavenflucht (Prügel, Fesselung, Brandmarkung, Kreuzigung) bewahren.22 (2) Das Problem dieser traditionellen Sicht bleibt, dass sie das Zusammentreffen von Paulus und Onesimus nicht befriedigend erklären kann. Peter Lampe (1985) schlägt deshalb im Blick auf römische Rechtstexte eine modifizierte Sicht der Briefsituation vor.23 Denn ein Sklave, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen und deshalb mit einer schweren Bestrafung durch seinen Herrn oder sogar um Leib und Leben fürchten musste, konnte sich unerlaubt entfernen, ohne als fugitivus zu gelten, um einen Freund seines Herrn aufzusuchen und ihn um Vermittlung zu bitten (qui ad amicum domini deprecaturus confugit, non est fugitivus).24 Der Sklave musste dabei allerdings bewei21

Insgesamt dazu Gnilka, Philemonbrief (HThK) 2f.; Lohse, Philemon (KEK) 263. Vgl. Vielhauer, Geschichte 171f.; Broer, Einleitung 399. 23 Im Anschluss an Bellen, Studien 18 und 78. 24 Vgl. Proclus (Dig. 21, 1,17,4), Vivianus (Dig. 21, 1,17,5), Ulpian (Dig. 21, 1,17,3), Paulus (Dig. 21, 1,43,1 [hier die oben zitierte Definition]) Labeo und Caecilius (Dig. 21, 1,17,12); dazu Lampe, Sklavenflucht 135–137; Rapske, Prisoner 197; Wolter, Philemon (ÖTK) 228f.; Hübner, Philemon (HNT) 33f. Gegen die Heranziehung dieser Belege für die Interpretation des Falles des Onesimus im Philemonbrief wird immer wieder eingewandt, dass die genannten Belege aus der akademischen Diskussion, nicht aus der Rechtspraxis stammen, und dass das fragliche Material erst im 6. Jh. gesammelt und zusammengestellt wurde; so Harrill, Jurists 135–138; Llewelyn, Pursuit 40–46. Dem schließt sich auch Reinmuth, Philemon (ThHK) 11f., an, der ebenfalls meint, dass aus den juristischen Formulierungen nicht unmittelbar auf die tatsächliche Praxis im 1. Jh. geschlossen werden dürfe; die Diskussion bei den Juristen sei vielmehr als Hinweis auf eine gegenteilige Praxis zu werten (in der Diskussion spiegle sich also das Bemühen um eine erwünschte Fortentwicklung der Rechtspraxis). Skeptisch hinsichtlich der Anwendbarkeit dieser juristischen Diskussion für die Erklärung der Situation im Philemonbrief auch Wengst, Philemon (ThKNT) 31f.; Broer, Einleitung 398. Eine Zurückweisung der gegen ihn vorgebrachten Einwände bei Lampe, Affects 63–66; dazu auch ArztGrabner, How to Deal with Onesimos 123–133. Zur Überlieferung des römischen Rechts und zu den Rechtsquellen insgesamt vgl. auch Bürge, Privatrecht 94–114. Arzt-Grabner, Onesimus 141–143, stimmt P. Lampe darin zu, dass der im Philemonbrief erkennbare Sachverhalt nicht für Onesimus als fugitivus passe; er verweist jedoch darauf, dass dies noch nicht voraussetze, dass Onesimus seinen Herrn von Anfang an deshalb verlassen habe, um Paulus in einem Konflikt als amicus domini aufzusuchen. Die Art und Weise, wie Paulus den Fall des Onesimus darstelle, lasse ihn vielmehr als »Herumtreiber«, d. h. als Sklaven, der sich als »notorischer Vagabund« nicht auf Dauer, sondern auf Zeit dem Zugriffsrecht seines Herrn entzieht (lat. erro, griech. ῥέμβος), erscheinen (vgl. Phlm 11.15); das Problem solcher Sklaven werde auch bei den römischen Juristen, wie z. B. Ulpian, erörtert (vgl. Dig. 21, 1,17,14). Im Blick auf die Sicht bei P. Arzt-Grabner lässt sich jedoch anmerken, ob Phlm 18f. nicht doch voraussetzt, dass zwischen Onesimus und Philemon etwas vorgefallen ist, wodurch sich der Sklave den Unwillen seines Herrn zugezogen hat und nun eines Vermittlers bedurfte; es sei denn man reduziert den Schaden, den Paulus dem Philemon begleichen will, auf die ausgefallene Arbeitsleistungen, die dieser sich von Onesimus erwartet hatte. 22

4.1 Zum Stand der Forschung

115

sen können, dass er nicht flüchtig war, sondern die feste Absicht der Rückkehr hatte.25 Die Rolle des Paulus wäre demnach als amicus domini zu beschreiben, den Onesimus als Fürsprecher und Vermittler aufsuchte.26 Das heißt auch, dass nicht erst der Fluchtplan Anlass für einen Diebstahl war (Phlm 18f.), sondern dass Onesimus floh, weil er seinem Herrn auf irgendeine Weise finanziell geschädigt hatte.27 Der von Paulus erbetene Verzicht auf Bestrafung bezieht sich damit ebenfalls auf dieses Delikt, nicht auf die allgemein üblichen harten Strafen für Sklavenflucht.28 Der Philemonbrief und die Rolle des Paulus wären folglich durchaus mit dem Brief des jüngeren Plinius an Sabinianus vergleichbar, auch wenn Plinius für einen libertus, nicht für einen Sklaven eintritt (epist. 9,21 [weiteres dazu S. 149f.]; vgl. auch epist. 9,24).29 (3) Zu einer völlig anderen Sicht des Briefhintergrundes kommt Sara C. Winter (1987). Sie sieht Onesimus als nichtchristlichen Sklaven, der von seinem Herrn bzw. im Auftrag von dessen Hausgemeinde mit einem besonderem Auftrag zu Paulus geschickt wurde.30 Paulus bittet nun mit seinem Brief darum, dass der von ihm bekehrte Sklave von seinem Dienst für die Gemeinde entbunden und ihm als Unterstützung bei der Mission überlassen werden.31 Da die christliche Gemeinde Onesimus nach dessen Bekehrung nicht länger als Sklave betrachten könne, legt Paulus seine Freilassung nahe. Als Argument für dieses Sicht genügt allerdings der Hinweis nicht, dass der Philemonbrief 25

Vgl. Rapske, Prisoner 198. Auch wenn Paulus das Wort »Freund« im Philemonbrief nicht gebraucht, passt nach Rapske, Prisoner 199f., das ausgedrückte Verhältnis zwischen Paulus und Philemon gut zum Konzept des amicus domini. 27 Vgl. Lampe, Sklavenflucht 137. 28 Vgl. Lampe, Sklavenflucht 135–137. 29 Dazu auch Wolter, Philemon (ÖTK) 230f.; Fitzmyer, Philemon (AB) 20–23; Dunn, Philemon (NIGTC) 304f. 30 Vgl. Winter, Philemon 2–5. Ähnlich Schenk, Philemon 3460f., der meint folgende detaillierte »Vorgeschichte« des Philemonbriefes rekonstruieren zu können: Apphia, Archippus und andere waren am Adressatenort Christen geworden. Sie hatten besonders unter der Bedrängnis durch den Nicht-Christen Philemon zu leiden. Schließlich wird aber auch Philemon Christ und stellt den Christen sein Haus für Versammlungen zur Verfügung. Philemon schickt seinen nichtchristlichen Sklaven Onesimus zu Paulus, der ihn über eine besondere (nicht näher bekannte) Guttat des Philemon unterrichten soll. Onesimus wird von Paulus bekehrt und zu seinem Herrn zurückgeschickt. Da er von Philemon den Sklaven Onesimus übernehmen will, versichert er, dass er auch eventuell vorhandene Schulden des Sklaven bei seinem Herrn mitübernehmen werde (vgl. ebd. 3467f.). Eine derartige Rekonstruktion der Briefsituation ist m. E. pure Phantasie und am Text des Briefes nicht zu erweisen. 31 Näheres Winter, Philemon 6f. Nach dieser Deutung dürfe παρακαλῶ περί τινος in Phlm 10 nicht als »ich bitte für …«, sondern müsse als »ich bitte um …« verstanden werden; vgl. auch Schenk, Philemon 3466. Bei den angeführten Belegen handelt es sich aber immer um eine Sache, um die gebeten wird; in den einzigen drei Belegen, wo es um einen Menschen geht, ist immer nur die Übersetzung »bitten für« sinnvoll (Polyb. 16,20,8; BGU II 531,2,14–17; Diog. Laert. 6,89). Dazu Arzt, Philemon (PKNT) 101f. 26

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4. Der Brief an Philemon

nicht explizit davon spreche, dass Onesimus seinem Herrn entlaufen wäre.32 Die Tatsache, dass Paulus ganz offensichtlich bemüht ist, der »Trennung« des Onesimus von Philemon eine positive Deutung zu geben (Phlm 15f.), legt jedenfalls nahe, dass diese nicht in beiderseitigem Einverständnis erfolgt sein kann.33 Außerdem stellt sich die Frage, warum man ausgerechnet einen nichtchristlichen Sklaven in Gemeindeangelegenheiten zu Paulus geschickt haben sollte.34 Eine Variante dieser Rekonstruktion von Hintergrund, Anlass und Intention des Philemonbriefes hat Scott S. Elliott (2011) vorgelegt. Er meint, dass Philemon, als Patron des Paulus, diesem den Sklaven Onesimus als Geschenk ins Gefängnis geschickt habe; Paulus jedoch habe dieses Geschenk abgelehnt und deshalb Onesimus mit einem Brief, der diese Zurückweisung erklären und mildern sollte, zu Philemon zurückgeschickt.35 Problematisch ist bei dieser Deutung, dass Paulus in Phlm 13f. ausdrücklich sagt, dass er Onesimus gerne als Hilfe bei sich behalten hätte, einer Entscheidung des Philemon aber nicht vorgreifen wollte und Onesimus deshalb zurückgeschickt habe. Es scheint fraglich, ob man diese Verse mit Scott S. Elliott wirklich als »a rather clever way of saying, ‘Thanks, but no Thanks’«36 verstehen kann. (4) Allen Dwight Callahan (1993) schließlich schlägt vor, Onesimus sei nicht der Sklave, sondern der Bruder des Philemon.37 Als Argument bezieht er sich auf Phlm 16, wo zum einen durch die Formulierung οὐκέτι ὡς δοῦλον angezeigt werden, dass Onesimus nicht im eigentlichen, sondern nur im übertragenen Sinn gegenüber Philemon den Status eines Sklaven hatte, zum anderen durch den Zusatz σοὶ καὶ ἐν σαρκὶ καὶ ἐν κυρίῳ klar zum Ausdruck gebracht 32 Wie Barclay, Paul 164f., zurecht anmerkt, genügt dies nicht als Begründung dafür, die Sklavenflucht zu bestreiten: »The fact that the letter makes no explicit reference to Onesimus’ running away is no conclusive evidence that he did not do so. A tactfull letter of appeal written on behalf of a runaway might well avoid refering directly to the offending facts, and in this light it is easy to see why Paul should use the vague expression ἐχωρίσϑη in v. 15, especially as the passive carries possible connotations of the divine will. Indeed, the extraordinarily tactful approach that Paul adopts throughout this letter is a clear indication that he recognices that he is dealing with a delicate situation in which Philemon could well react awkwardly.« 33 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 229; Ebner, Philemonbrief 401. 34 Vgl. Baumert, Freundesbrief 134f.; Rapske, Prisoner 188f.; Broer, Einleitung 397. 35 Im einzelnen Elliott, Thanks 52–54. Als Indiz dafür, dass es in der Welt und Zeit des Paulus üblich war, einen Sklaven zum Geschenk zu machen, verweist Elliott auf eine Aussage in einem Brief des M. Tullius Cicero an seinen Bruder Quintus, in dem er seinen Adressaten dafür lobt, in seiner Funktion als Statthalter der Provinz Asia ihm von vornehmen Bewohnern offerierte Sklaven und andere Geschenke nicht angenommen zu haben (ad Q. fr. 1,1,8). Dass hier – was der Artikel mit keinem Wort problematisiert – ein anderer gesellschaftlicher und politischer Kontext und eine andere soziale Relation zwischen Schenkendem und Beschenktem vorliegt als bei der von Elliott zwischen Philemon und Paulus angenommenen Zuwendung eines Patrons zu seinem Klienten, muss nicht schon per se gegen die Rekonstruktion sprechen, favorisiert sie aber auch nicht. 36 Elliott, Thanks 59. 37 Vgl. Callahan, Philemon 362 und 371.

4.1 Zum Stand der Forschung

117

sei, dass ἀδελφός hier nicht nur metaphorisch zur Umschreibung der gemeinsamen Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde diene. Da beide Brüder miteinander in Konflikt geraten seien, wollte Paulus mit seinem Brief zwischen beiden als Schlichter auftreten.38 Doch muss zurecht bezweifelt werden, ob der Text in Phlm 16 eine so weitreichende Deutung zulässt.39 Am meisten dürfte für die These von Peter Lampe sprechen, obgleich man nicht außer acht lassen sollte, dass nicht eindeutig zu erweisen ist, ob die von ihm herangezogenen Rechtstexte tatsächlich die rechtliche Sicht und Praxis im 1. Jahrhundert wiedergeben.40 Gleichgültig, ob Onesimus als fugitivus mehr oder weniger zufällig zu Paulus gekommen war oder ob er ihn gezielt als amicus domini aufgesucht hatte, angesichts der geltenden Rechtslage blieb Paulus nichts anderes übrig, als Onesimus zurückzuschicken und Philemon die freie Entscheidung zu überlassen.41 Er konnte lediglich versuchen, mithilfe seines Briefes Onesimus eine möglichst wohlwollende Aufnahme zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist zu bewerten, dass der Brief sehr sorgfältig und überlegt konstruiert ist, zugleich aber bezüglich seiner Bitten oder gar Forderungen an Philemon sehr unpräzise und unklar bleibt.42 Der Brief vermeidet es offenbar bewusst, in die Rechte des Philemon als dominus des Onesimus einzugreifen (vgl. S. 142f.). 4.1.3 Briefcharakter und Stil Einigkeit besteht in der Forschung weitgehend darüber, dass der Philemonbrief als »echter Brief« und nicht als Epistel zu gelten hat.43 Zugleich aber betont man, dass er, obwohl er der kürzeste aller Paulusbriefe ist, noch immer deutlich umfangreicher ist als die meisten Papyrusbriefe.44 Von seinem Formular her zeige der Philemonbrief eher einen offiziellen und amtlichen Charakter und könne deshalb nicht mehr als Privatbrief gelten.45 Dafür spreche auch, 38

Vgl. Callahan, Philemon 375f. Vgl. Baumert, Freundesbrief 135f.; Mitchel, John Chrysostom 135–148; Arzt-Grabner, Onesimus 140; Arzt, Philemon (PKNT) 84f.; Broer, Einleitung 397. 40 Zustimmend auch Arzt-Grabner, Onesimus 141; Fitzmyer, Philemon (AB) 17–20. 41 Vgl. Reinmuth, Philemon (ThHK) 16; zu den rechtlichen Bestimmungen vgl. auch Rapske, Prisoner 191f. 42 Ausführlich dazu Barclay, Paul 170–174; vgl. auch Reinmuth, Philemon (ThHK) 9f. 43 Deißmann, Licht 169; ders., Paulus 15–17; dazu auch Pokorný/Heckel, Einleitung 288; Arzt, Philemon (PKNT) 57f.; Vielhauer, Geschichte 171. 44 So Roller, Formular 37–39. Dass aber auch Papyrusbriefe, d. h. echte antike Privatbriefe, deutlich länger sein konnten, zeigt der nicht vollständig erhaltene Brief des Ammon an seine Mutter Senpetechensis, der im Umfang dem paulinischen Galaterbrief entsprochen haben dürfte (P.Congr. XV 22 [= P.Ammon I 3; 348 (?) n. Chr.]); vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 57f.; ders., 1. Korintherbrief (PKNT) 29f. 45 So Roller, Formular 147; vgl. auch Pokorný/Heckel, Einleitung 288; Wikenhauser/ Schmid, Einleitung 381f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 24. 39

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4. Der Brief an Philemon

dass der Philemonbrief letztlich nicht an eine Einzelperson, sondern an eine Gemeinde adressiert werde (Phlm 1f.: … Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ καὶ συνεργῷ ἡμῶν καὶ Ἀπφίᾳ τῇ ἀδελφῇ καὶ Ἀρχίππῳ τῷ συστρατιώτῃ ἡμῶν καὶ τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ). Da der Philemonbrief sich damit an ein größeres Publikum wendet, sehen einige ihn näher an der Rede als am Brief.46 Weitgehend singulär ist die Betonung der literarischen Qualität des Briefes durch Detlev Dormeyer (1993); er rühmt am Philemonbrief die »rhetorische Eleganz eines kleinen literarischen Briefes, der für die Öffentlichkeit geschrieben ist«47. Unter den neueren Kommentatoren des Philemonbriefes bemüht sich vor allem Michael Wolter (1993), den Brief ausgehend von der antiken Epistolographie zu analysieren und zu verstehen. Er qualifiziert den Philemonbrief als Empfehlungsbrief; weist aber darauf hin, dass er in Form und Struktur nicht mit den auf Papyrus erhaltenen Empfehlungsbriefen (und dem entsprechenden Mustertext in den τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios) übereinstimmt.48 Dafür enthalte er deutliche Elemente des Bittbriefes.49 Außerdem betont Michael Wolter, dass der Philemonbrief durch die Topik des antiken Freundschaftsbriefes bestimmt ist.50 Ganz offensichtlich inspiriert durch die Arbeiten von Hans Dieter Betz (vgl. S. 102 und 195) zu Brief und Rhetorik bei Paulus, bemüht sich Joachim Gnilka (1982) in seinem Kommentar, den Philemonbrief nicht nur nach dem Modell der Gerichtsrede zu gliedern, sondern ihn auch in seinen inhaltlichen Details und in seiner Funktion ganz von dieser Redegattung her zu erklären.51 Nach dem oben bereits zu Brief und Rhetorik Gesagten dürfte deutlich sein, dass einer so weitgehenden Gleichsetzung von Brief und Rede gegenüber Vorsicht angebracht ist. Als weiterführend können dagegen die Überlegungen von Andrew Wilson (1992) gelten, der unter dem Aspekt pragmatics of politeness den Philemonbrief auf der Basis der sozialen Beziehung zwischen Paulus und Philemon analysiert und interpretiert; dabei lässt er sich von neueren soziologischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft inspirieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass es sowohl für Paulus als auch für Philemon wichtig ist, vor der Gemeinde den eigenen Status und das eigene Prestige wahren zu können (Vermeiden eines »Gesichtsverlustes«); diese Notwendigkeit prädisponierte den Brief des Paulus sowohl in seinem Inhalt als auch in seiner »Tonla46

Vgl. Schnider/Stenger, Briefformular 50f.; ähnlich Gnilka, Philemonbrief (HThK) 10–12, bes. 12. 47 Dormeyer, Literaturgeschichte 196f. (Hervorhebung vom Vf.); ähnlich auch Vielhauer, Geschichte 173. 48 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 236; dazu auch Ebner, Philemonbrief 399; Kim, Form 121f.; Arzt, Philemon (PKNT) 59–63. 49 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 236; Ebner, Philemonbrief 399; Wengst, Philemon (ThKNT) 26. 50 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 236. 51 Näheres Gnilka, Philemonbrief (HThK) 7–9; zustimmend Schnelle, Einleitung 168.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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ge«.52 Ein solcher Ansatz konvergiert in überraschender Weise mit der antiken Epistolographie (ohne dass Andrew Wilson sich dieser Konvergenz bewusst zu sein scheint); denn die τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios verweisen ausdrücklich darauf, dass ein Briefschreiber die »Tonlage« des Freundschaftsbriefes in bestimmten Kommunikationssituationen wählt, weil man damit leichter seine Absicht durchsetzen kann, nicht weil man mit dem Adressaten tatsächlich in Freundschaft verbunden wäre (vgl. S. 42).

4.2 Analyse und Kontextualisierung 4.2.1 Gedankenführung Der kurze Brief erweist sich als überaus überlegt gestaltet und sorgfältig strukturiert. Hier soll nur auf einige Aspekte hingewiesen werden; das weitere wird sich im Verlauf der Analyse zeigen. Der Strukturierung dient vor allem die Wiederaufnahme von Begriffen und Motiven: 1. In der bei Paulus üblichen Weise sind auch im Philemonbrief der abweichend von der Konvention des griechischen Briefes formulierte Anfangs- und Schlussgruß durch das gemeinsame Stichwort χάρις aufeinander bezogen, so dass sie einen Rahmen um den Brief bilden. Durch die dem Philemon beigegebenen ehrenden Epitheta (Phlm 1) ist jedoch zusätzlich ein signifikanter Bezug zur Mitte und zum Abschluss des Corpus hergestellt. Als συνεργός wird Philemon in den Kreis der am Ende als Grüßende genannten Mitarbeiter des Paulus eingereiht (Phlm 22), zugleich ist er als ἀγαπητός mit seinem Sklaven Onesimus im Verhältnis zu Paulus und zu Christus auf eine Stufe gestellt (Phlm 16). — 2. Dem Gebetsgedenken des Paulus am Anfang des Corpus (Phlm 4) entspricht der Rekurs auf die Gebete der Adressaten am Ende (Phlm 22), so dass der Brief und damit Absender und Adressaten in Gebetsgemeinschaft zusammengeschlossen werden. — 3. Wie Philemon den σπλάγχνα der Mitglieder seiner Hausgemeinde Ruhe verschafft hat (Phlm 7), so will Paulus es von ihm für seine eigenen erhoffen (Phlm 20), die er mit Onesimus gleichsetzt (Phlm 12), zu dessen Gunsten er den Brief geschrieben hat. — 4. Weil Paulus die Qualitäten seines Adressaten kennt, kann er getrost auf den Einsatz seiner Autorität verzichten (Phlm 8) und dem freiwilligen Entgegenkommen des Philemon Raum geben (Phlm 14), weil er weiß, dass dieser seinem Anliegen auch so entsprechen wird (Phlm 21). Weitere Bezüge innerhalb des Philemonbriefes in Form von Stichwort- und Motivverknüpfungen sind in der Übersicht auf der folgenden Seite markiert. Zu den in dieser Übersicht angezeigten Verbindungen zwischen der Danksagung (Phlm 4–7) und der Corpusmitte (Phlm 8–20) vgl. auch die Tabelle auf S. 127.

52

Zu den methodischen Grundlagen vgl. Wilson, Pragmatics 108–110.

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4. Der Brief an Philemon 1 Παῦλος δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ καὶ Τιμόϑεος ὁ ἀδελφὸς Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ καὶ συνεργῷ ἡμῶν 2 καὶ Ἀπφίᾳ τῇ ἀδελφῇ καὶ Ἀρχίππῳ τῷ συστρατιώτῃ ἡμῶν καὶ τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ, 3 χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ϑεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ. 4 Εὐχαριστῶ τῷ ϑεῷ μου πάντοτε μνείαν σου ποιούμενος ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου, 5 ἀκούων σου τὴν ἀγάπην καὶ τὴν πίστιν, ἣν ἔχεις πρὸς τὸν κύριον Ἰησοῦν καὶ εἰς πάντας τοὺς ἁγίους, 6 ὅπως ἡ κοινωνία τῆς πίστεώς σου ἐνεργὴς γένηται ἐν ἐπιγνώσει παντὸς ἀγαθοῦ τοῦ ἐν ἡμῖν εἰς Χριστόν. 7 χαρὰν γὰρ πολλὴν ἔσχον καὶ παράκλησιν ἐπὶ τῇ ἀγάπῃ σου, ὅτι τὰ σπλάγχνα τῶν ἁγίων ἀναπέπαυται διὰ σοῦ, ἀδελφέ. 8 Διὸ πολλὴν ἐν Χριστῷ παρρησίαν ἔχων ἐπιτάσσειν σοι τὸ ἀνῆκον 9 διὰ τὴν ἀγάπην μᾶλλον παρακαλῶ, τοιοῦτος ὢν ὡς Παῦλος πρεσβύτης νυνὶ δὲ καὶ δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ· 10 παρακαλῶ σε περὶ τοῦ ἐμοῦ τέκνου, ὃν ἐγέννησα ἐν τοῖς δεσμοῖς, Ὀνήσιμον, 11 τόν ποτέ σοι ἄχρηστον νυνὶ δὲ [καὶ] σοὶ καὶ ἐμοὶ εὔχρηστον, 12 ὃν ἀνέπεμψά σοι, αὐτόν, τοῦτ᾿ ἔστιν τὰ ἐμὰ σπλάγχνα· 13 ὃν ἐγὼ ἐβουλόμην πρὸς ἐμαυτὸν κατέχειν, ἵνα ὑπὲρ σοῦ μοι διακονῇ ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου, 14 χωρὶς δὲ τῆς σῆς γνώμης οὐδὲν ἠϑέλησα ποιῆσαι, ἵνα μὴ ὡς κατὰ ἀνάγκην τὸ ἀγαϑόν σου ᾖ ἀλλὰ κατὰ ἑκούσιον. 15 Τάχα γὰρ διὰ τοῦτο ἐχωρίσθη πρὸς ὥραν, ἵνα αἰώνιον αὐτὸν ἀπέχῃς, 16 οὐκέτι ὡς δοῦλον ἀλλ᾿ ὑπὲρ δοῦλον, ἀδελφὸν ἀγαπητόν, μάλιστα ἐμοί, πόσῳ δὲ μᾶλλον σοὶ καὶ ἐν σαρκὶ καὶ ἐν κυρίῳ. 17 εἰ οὖν με ἔχεις κοινωνόν, προσλαβοῦ αὐτὸν ὡς ἐμέ. 18 εἰ δέ τι ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει, τοῦτο ἐμοὶ ἐλλόγα. 19 ἐγὼ Παῦλος ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί, ἐγὼ ἀποτίσω· ἵνα μὴ λέγω σοι ὅτι καὶ σεαυτόν μοι προσοφείλεις. 20 ναὶ ἀδελφέ, ἐγώ σου ὀναίμην ἐν κυρίῳ· ἀνάπαυσόν μου τὰ σπλάγχνα ἐν Χριστῷ. 21 Πεποιϑὼς τῇ ὑπακοῇ σου ἔγραψά σοι, εἰδὼς ὅτι καὶ ὑπὲρ ἃ λέγω ποιήσεις. 22 ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν· ἐλπίζω γὰρ ὅτι διὰ τῶν προσευχῶν ὑμῶν χαρισϑήσομαι ὑμῖν. 23 Ἀσπάζεταί σε Ἐπαφρᾶς ὁ συναιχμάλωτός μου ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, 24 Μᾶρκος, Ἀρίσταρχος, Δημᾶς, Λουκᾶς, οἱ συνεργοί μου. 25 Ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ τοῦ πνεύματος ὑμῶν.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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4.2.2 Briefformular und epistolare Formeln Vorbemerkung: Wie jeder Brief besteht der Philemonbrief aus den brieftypischen Einleitungs- und Schlussabschnitten, die sich auf die brieftypische Kommunikationssituation – die schriftlich übersandte »Hälfte« eines Gesprächs – beziehen, sowie dem dazwischen liegenden Corpus des Briefes, das den Briefinhalt formuliert. Das Präskript (Phlm 1–3) und das Postskript (Phlm 25) folgen der bei Paulus üblichen modifizierten Form des griechischen Briefes (vgl. dazu S. 79ff.). Das Corpus besteht aus der Corpuseröffnung mit der für Paulus üblichen, als Gebetsbericht formulierten Danksagung (Phlm 4–7), der Corpusmitte mit dem eigentlichen Anliegen des Briefes (Phlm 8–20) und dem Corpusabschluss mit einem zusammenfassenden Schlussstatement (Phlm 21) sowie einer Besuchsankündigung (Phlm 22) und Grußausrichtungen (Phlm 23–24), die zum Postskript überleiten.53 A. Präskript – Phlm 1–3: Singulär und ungewöhnlich ist im Vergleich mit den anderen Paulusbriefen die Selbsttitulatur des Paulus als δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ in der superscriptio.54 Diese Selbsttitulatur dürfte für die Zeitgenossen des Paulus (und damit wohl auch für die Adressaten des Philemonbriefes) zumindest beim ersten Hören oder Lesen auffällig und befremdend gewesen sein, da die in der superscriptio eines griechisch-römischen Briefes gebrauchten Titulaturen an sich dazu dienten, den sozialen Status und die Autorität des Absenders auszudrücken, um dadurch seine Gleichwertigkeit oder auch seine Überlegenheit im Vergleich mit den Adressaten zu markieren (analog gilt dies bei den Titulaturen der adscriptio für den Adressaten).55 Andere Arten ausführlicher erklärender Zusätze zum Namen des »Absenders«, die der Identifikation der Person dienen sollen, finden sich in den Urkunden in Briefform (vgl. z. B. 53

Die angegebene Gliederung des Philemonbriefes weicht in der Abgrenzung des Briefcorpus bewusst von den sonst üblichen Gliederungen ab; exemplarisch z. B. bei Arzt, Philemon (PKNT) 59: 1–6 Briefanfang, 2–22 Briefcorpus, 23–25 Briefschluss. Die vorgeschlagene Gliederung geht demgegenüber davon aus, dass Präskript und Postskript streng auf die eigentlichen, der brieflichen Kommunikationssituation geschuldeten Eröffnungs- und Abschlussformeln zu begrenzen sind. Elemente wie Danksagung, Besuchsankündigungen und Grußausrichtungen/-aufträge dagegen gehören zu den Briefinhalten (Mitteilungen) und damit zum Corpus. Ähnlich auch Arzt-Grabner, 1. Korintherbrief (PKNT) 46; vgl. außerdem die Ausführungen bei Abschnitt 2.3.2. Für den Philemonbrief weist zudem Wolter, Philemon (ÖTK) 237, explizit auf die enge Zusammengehörigkeit der Danksagung (»Proömium«) mit dem Corpus hin, die ihre Abtrennung verbietet. 54 Diese Selbstbezeichnung wurde von hier in den deuteropaulinischen Epheserbrief (Eph 3,1; 4,1) und in den tritopaulinischen 2. Timotheusbrief übernommen (2 Tim 1,8); in Eph 3,1 und evtl. auch 4,1 scheint δέσμιος übertragen gebraucht zu sein, in 2 Tim 1,8 im eigentlichen Sinn. 55 Zur Bedeutung des sozialen Gefälles zwischen Absender und Adressat in der antiken brieflichen Kommunikation Stowers, Letter Writing 27–31.

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4. Der Brief an Philemon

P.Mich. III 183,1f. [182 v. Chr.]56). Der Verzicht auf die sonst übliche Selbstbezeichnung als ἀπόστολος und/oder das äquivalente δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ, in denen sich in den Präskripten seiner anderen Briefe das Selbstbewusstsein und der Autoritätsanspruchs des Paulus ausdrücken, erfolgt im Philemonbrief aus pragmatischen Überlegungen; diese Selbstbezeichnung signalisiert jedenfalls keinen Status- und Autoritätsverzicht des Paulus gegenüber den Adressaten.57 Im Gegenteil, wie die erklärende Wiederaufnahme mit ἐν τοῖς δέσμοις τοῦ εὐαγγελίου in Phlm 13 zeigt, qualifiziert und legitimiert sie Paulus in ganz besonderer Weise, weil er für das Evangelium und für Jesus Christus Leiden und Gefahren auf sich nimmt.58 Der Verweis auf die Gefangenschaft ist also nicht primär Appell an das Mitleid der Adressaten, um sie dem Anliegen des Briefes gewogen zu machen (entsprechend ist auch die Wiederholung der Selbstbe56 Die »Absenderin«, d.h. die hier einer rechtlichen Vereinbarung zustimmt, identifiziert sich mit der Angabe ihres Vaters und ihrer Herkunft aus Makedonien sowie der Angabe ihres Ehemannes: Εἰρήνη Ὄρφεως Μακέτα μετὰ κυρίου τοῦ ἑαυτῆς ἀνδρὸς Ἀγαμέμνονος τοῦ Χρυσέρμου Λαλασσέως. Zum Brief vgl. White, Light 59 [Nr. 30]. 57 Näheres dazu Baumert, Freundesbrief 140f.; Wolter, Philemon (ÖTK) 243; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 14f.; Wengst, Philemon (ThKNT) 45f.; Schnider/Stenger, Studien 13; Weima, Persuasive Prose 33; gegen Reinmuth, Philemon (ThHK) 22. 58 Dafür, dass man aus dem Verzicht auf den Aposteltitel (oder seine Äquivalente) keinen Autoritätsverzicht des Paulus folgern sollte (auch nicht einen rhetorisch/strategisch motivierten »scheinbaren«), spricht eine Beobachtung bei Dautzenberg, Selbstdarstellung 150–153, zu 2 Kor 2–8, einem Abschnitt, der – unter Ausklammerung der nichtpaulinischen Interpolation 6,14 – 7,1 – nach weit verbreiteter Ansicht einmal einen selbständigen Brief des Paulus innerhalb seiner umfangreichen Korrespondenz mit der Gemeinde von Korinth gebildet haben könnte (sog. »Versöhnungsbrief«). In diesem ganzen Abschnitt des 2. Korintherbriefes fehlt auffälligerweise der Aposteltitel, wenn auch der damit verbundene und darin begründete autoritative Anspruch des Paulus durchaus präsent ist (vgl. 2 Kor 5,2). An die Stelle der Selbstbezeichnung als Apostel treten διάκονος (3,6) und διακονία (3,7–9; 4,1; 5,18; 6,3). Das Fehlen des Aposteltitels in 2 Kor 2–8 erklärt sich nach Dautzenberg daraus, dass der Anspruch des Paulus auf den Aposteltitel nach der Aussöhnung bei der Gemeinde in Korinth nicht mehr umstritten ist und deshalb auch nicht mehr explizit betont werden muss. Analoges dürfte im Verhältnis des Paulus zu Philemon und seiner Hausgemeinde gelten; weil Paulus und sein Anspruch nicht umstritten, sondern akzeptiert sind, kann er den Aposteltitel beiseite lassen und ein situationsadäquates Substitut wählen, ohne Gefahr zu laufen, dadurch seinen Autoritätsund Leitungsanspruch preiszugeben. Auch in der mit dem Verzicht auf den Aposteltitel verbundenen Selbstdarstellung und Autoritätsbegründung lassen sich 2 Kor 2–8 und der Philemonbrief vergleichen. Dautzenberg hebt hervor, dass die von Paulus in 2 Kor 2–8 gewählten Begriffe διάκονος und διακονία auf eine Autorität zielen, die darin begründet ist, dass seine Lebensführung in allem dem an ihn ergangenen göttlichen Auftrag entspricht (vgl. 2 Kor 5,16). Diese Treue zum göttlichen Auftrag realisiert sich auch im Leiden für das Evangelium, wie der Peristasenkatalog in 2 Kor 6,3–10 zum Ausdruck bringt. In derselben Weise rekurriert Paulus auch im Philemonbrief auf eine Autorität, die durch sein Leiden für das Evangelium begründet und ausgewiesen ist. Zur argumentativen Funktion und performativen Dimension der Selbstvorstellung des Paulus als δέσμιος in der superscriptio des Philemonbriefes vgl. insgesamt auch Weima, Persuasive Prose 32–35.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

123

zeichnung in Phlm 9 zu deuten). Warum und wozu Timotheus als Mitabsender genannt wird, ist nicht erkennbar. Mitabsender finden sich in antiken Briefen nicht sehr häufig (vgl. z. B. P.Fay. 18,2 [1. Jh. v. Chr.]; P.Oxy. XIV 1672,1 [37/41 n. Chr.]; P.Tebt. II 396,1–3 [188 n. Chr.]).59 Wo ein Mitabsender genannt wird, muss man davon ausgehen, dass er in irgendeiner Form am Inhalt des Briefes beteiligt und/oder durch sein Anliegen betroffen ist. Dasselbe könnte auch für Timotheus gelten (zu den Mitabsendern in den echten Paulusbriefen vgl. auch S. 79).60 Der Brief ist an drei namentlich genannte Einzelpersonen und die christliche Gemeinde, der Philemon in seinem Haus Gastrecht für die Feier des Herrenmahls (und wohl auch für andere Anlässe) gewährt, gerichtet. Die Bezeichnung ἡ κατ’ οἶκόν σου ἐκκλησία, die Paulus in der adscriptio gebraucht, ist offenbar von Anfang an stehender Ausdruck für eine solche Hausgemeinde (zu ἐκκλησία als Ehrentitel vgl. S. 80).61 Ob, wie immer wieder gemutmaßt, eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Philemon, Apphia und Archippus (Ehefrau und Sohn des Philemon) besteht, ist weder dem Wortlaut der adscriptio noch dem Rest des Briefes zu entnehmen.62 Hauptadressat ist der an erster und damit ausgezeichneter Stelle genannte Philemon, der im Corpus des Briefes auch der allein Angesprochene ist.63 Durch die Nennung von Mitadres59

Vgl. Roller, Formular 153; weitere Textbeispiele aus der Zeit des Paulus bei Arzt, Philemon (PKNT) 114f. Da Mitabsender also durchaus belegt sind, muss man dieses Element nicht als »atypical of letters of Paul’s day« bezeichnen, wie bei Weima, Persuasive Prose 30. 60 So jedenfalls nach Roller, Formular 153–187; Schnider/Stenger, Studien 4–6; skeptisch dagegen Pokorný/Heckel, Einleitung 174. Nach Gnilka, Philemonbrief (HThK) 15, beeinträchtigt die Nennung des Timotheus als Mitabsender nicht die alleinige Autorschaft des Paulus, sondern bedeutet lediglich, dass das Anliegen des Paulus dem Timotheos bekannt ist und von ihm unterstützt wird. Auffällig jedoch bleibt an Phlm 1, wie Richards, Paul 34, zurecht hervorhebt, dass und dass nur Timotheus als Mitabsender des Briefes genannt wird, obwohl man aus der Grußliste am Ende des Briefes wohl folgern kann und muss, dass bei der Abfassung des Briefes noch mehr Mitarbeiter bei Paulus sind; zumindest legt die Tatsache, dass sie explizit als Grüßende genannt werden, die Annahme nahe, dass sie auch am selben Ort wie Paulus sind und mit ihm in Kontakt stehen. 61 Vgl. BDR § 259,2; Arzt, Philemon (PKNT) 164–167. 62 Traditionell sieht man in Apphia die Ehefrau, in Archippus den Sohn oder zumindest einen sonstigen Verwandten des Philemon; vgl. dazu Gnilka, Philemonbrief (HThK) 16; Lampe, Philemon (NTD) 209; Arzt, Philemon (PKNT) 82f. Gegen eine verwandtschaftliche Beziehung spricht für Schnelle, Einleitung 167, dass τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ steht; andernfalls müsste ὑμῶν stehen. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass Philemon in jedem Fall als Besitzer und Herr des Hauses gilt und deshalb zurecht σοῦ steht. Daraus kann also nicht gefolgert werden, dass Philemon, Apphia und Archippus nicht verwandt sind. 63 Fitzmyer, Philemon (AB) 81, nennt als Parallele für einen Brief, der im Präskript mehrere Adressaten nennt, im Corpus aber nur zu einer dieser Personen spricht, den – allerdings erst sehr späten – christlichen Brief P.Giss. 54 (= WChr. 420; 4./5. Jh. n. Chr.), dessen adscriptio lautet κυρί[ῳ] μου τιμιωτάτῳ ἀδελφῷ Ὀλυμπιοδώρῳ καὶ Ἑρμαείωνι, der im Corpus aber in der 2. Pers. Sg. nahezu ausschließlich den an zweiter Steller genannten Hermaeion anredet.

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4. Der Brief an Philemon

saten soll das Anliegen des Briefes aus dem Kontext des Häuslich-Privaten gelöst und in die Öffentlichkeit der Gemeinde gestellt werden; zu welchem Zweck dies geschieht, gilt es im Folgenden zu bedenken.64 Beispiele für Briefe, die an zwei oder gar drei oder vier Adressaten gerichtet sind, finden sich auch unter den Papyrusbriefen (vgl. P.Paris 32,1–4 [= UPZ I 61; 162 v. Chr.]; P.Oxy. IV 744,1–3 [= SP I 105; 1. Jh. v. Chr.]; P.Ryl. II 183,2f. [16 n. Chr.]).65 Auffällig ist der Wortreichtum der Adresse, der wohl zumindest von gebildeten Griechen als unziemliche Schmeichelei empfunden werden konnte; doch lassen auch hier einzelne Papyrusbriefe eine Tendenz erkennen, das Präskript durch über das normale Maß hinausgehende Ausschmückungen zu erweitern, auch wenn diese bei der adscriptio meist weniger ausgeprägt und auffällig sind (vgl. P.Grenf. II 36,1–5 [= SP I 103; 95 v. Chr.]; P.Tebt. I 56,1–5 [SP I 102; spätes 2. Jh. v. Chr.]; P.Mich. VIII 466,1f. [107 n. Chr.]) als bei der salutatio, vor allem dort, wo der Gruß mit der formula valetudinis verbunden ist (vgl. BGU IV 1206,2f. [28 v. Chr.]; P.Mert. II 63,2f. [57 n. Chr.]).66 Die teilweise umfangreichen Intitulationen bei den Namen von Absender und Adressaten entspricht dem Stil amtlicher Briefe der späten Ptolemäerund der römischen Kaiserzeit (vgl. P.Tebt. I 48,1–4 [= WChr. 409; 113 v. Chr.]; P.Meyer 6,1f. [125 n. Chr.]; P.Oxy. IX 1189,2–5 [= CPJ II 445; 117/118 n. Chr.]). Auch dann, wenn größere Personengruppen als Adressaten erscheinen, werden diese mit ihrer möglichst genauen Amts- und Funktionsbezeichnung benannt (vgl. P.Oxy. I 88,1–4 [179 n. Chr.] an die Aufseher der staatlichen Kornspeicher in der Toparchie Petne; SB I 5216,1–3 [= SP I 104; 1. Jh. v. Chr.] an zwei Gruppen von Priestern im Totentempel des Amenemhet III.). Der Mitabsender Timotheus und die unter den Adressaten genannte Apphia werden lediglich mit der unter den Christen üblichen Anrede als ἀδελφός bzw. ἀδελφή tituliert.67 Archippus erhält den Titel συστρατιώτης (in Phil 2,25 für Epaphroditus gebraucht); dieses Ehrenprädikat zielt wohl, ähnlich wie die Bezeichnung des Epaphras als συναιχμαλωτός in der Grußliste in Phlm 23, auf einen besonderen Einsatz im Dienst des Evangeliums.68 Der Hauptadressat Philemon wird dadurch herausgehoben, dass er als einzige der drei in der adscriptio genann64

Vgl. Schnider/Stenger, Studien 22; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 13f. Nach Pokorný/Heckel, Einleitung 291, sollen so allen in der Gemeinde (die von ihnen offenbar als deckungsgleich mit dem Haushalt des Philemon gesehen wird) die Gründe für die Verhaltensänderung ihres Herrn bekannt werden, um Missdeutungen seines Verhaltens zu verhindern. 65 Weitere Textbeispiel aus der Zeit des Paulus bei Arzt, Philemon (PKNT) 111–114. Vgl. auch das Präskript mit drei Adressaten bei Plat. epist. 6 (Πλάτων Ἑρμείᾳ καὶ Ἐράστῳ καὶ Κορίσκῳ εὖ πράττειν). 66 Vgl. Roller, Formular 107; Pokorný/Heckel, Einleitung 174. Vgl. aber auch die Ausführungen bei Kim, Form 10–21, zu den üblichen Modifikationen und Erweiterungen des Präskripts in griechischen Empfehlungsbriefen. 67 Dazu auch J. Beutler, ἀδελφός. EWNT 1 (21992) Sp. 67–72, bes. 71. 68 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1586.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

125

ten Einzelpersonen mit zwei Titeln bezeichnet wird. Dabei drückt seine Qualifizierung als ἀγαπητός die persönliche emotionale Verbundenheit mit Paulus aus, die Bezeichnung als συνεργός seine funktionale Zuordnung zu Paulus und seinem Dienst am Evangelium.69 Der ehrende Charakter der Anrede als συνεργός ist daran zu erkennen, dass sie Philemon in den Kreis derer einordnet, die am Ende des Briefes in der Grußliste als συνεργοί des Paulus genannt und in der Gemeinde als solche bekannt sind. Die in der Anrede ausgedrückte Auszeichnung signalisiert das Vertrauen und die Wertschätzung, die Paulus dem Philemon entgegenbringt, impliziert aber auch eine besondere Verpflichtung des Philemon dem Paulus und seinem Anliegen gegenüber.70 Die salutatio erfolgt in der bei Paulus üblichen Form, die den gewöhnlichen griechischen Briefgruß χαίρειν durch eine Segensformel ersetzt; dadurch wird das Schreiben aus dem Kontext alltäglicher Briefkommunikation herausgehoben und seine religiöse Dimension betont (vgl. S. 80). B. Corpus – Phlm 4–24: Das Corpus eröffnet eine Danksagung (Phlm 4–7), die in Analogie zu der im griechischen Brief üblichen Proskynema-Formel als Gebetsbericht formuliert ist und das damit verbundene Motiv des freundschaftlichen Gedenkens aktualisiert (πάντοτε μνείαν σου ποιούμενος ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου); im Unterschied zum griechischen Brief bezieht sich das Gebet des Paulus aber nicht auf die Gesundheit des Adressaten, sondern auf seine sittlich-religiöse Vollkommenheit (vgl. S. 83f.).71 Hinsichtlich der Motive und der Wortwahl entspricht die briefliche Danksagung des Philemonbriefes weitgehend denen in den anderen Paulusbriefen, auch wenn der Gegenstand des Dankgebetes des Paulus im Philemonbrief nicht wie sonst der Heilsstand der ganzen Gemeinde, sondern allein der des Philemon ist.72 An den Gebetsbe69 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 22; Wolter, Philemon (ÖTK) 243f.; Wengst, Philemon (ThKNT) 47f. 70 Ähnlich Weima, Persuasive Prose 34–36. 71 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 250; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 33; Wengst, Philemon (ThKNT) 52. Nach O’Brien, Thanksgivings 47, ist die Danksagung des Philemonbriefes im Vergleich mit denen der anderen Paulusbriefe »formally and functionally more closely related to the ordinary private and personal letters of the time«. Nach Kim, Form 29f., gibt es keinen Beleg für die Verwendung der Proskynema-Formel in einem Empfehlungsschreiben. 72 Vgl. Winter, Philemon 3; Reinmuth, Philemon (ThHK) 27; Weima, Persuasive Prose 39–43. Die Vergleichbarkeit mit den übrigen paulinischen brieflichen Danksagungen gilt unbeschadet der bei O’Brien, Thanksgivings 45–50, aufgelisteten Unterschiede. Gegen O’Brien, ebd. 49f., und Weima, Persuasive Prose 41f., ist mit der großen Mehrheit der Kommentatoren außerdem daran festzuhalten, dass die Danksagung nicht schon mit Phlm 6, sondern erst mit Phlm 7 endet. Phlm 7 ist nämlich durch das einleitende γάρ eindeutig als eine nachträgliche Begründung für die vorhergehende, in Phlm 6 mit εὐχαριστῶ eröffnete Passage ausgewiesen. Phlm 8 dagegen setzt mit δίο neu an; mit diesem δίο wird zum eigentlichen Anliegen des Briefes übergeleitet und die briefliche Danksagung als captatio benevolentiae der Kommunikationsabsicht des Briefes dienstbar gemacht. Ähnlich bei Dunn, Philemon (NIGTC) 316. Die

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4. Der Brief an Philemon

richt schließt in Phlm 7 eine Bekundung der Freude des Paulus über den Einsatz des Philemon für die Gemeinde an (χαρὰν γὰρ πολλὴν ἔσχον καὶ παράκλησιν). Die Formulierung erinnert an die üblichen epistolaren Formeln zum Ausdruck der Freude darüber, dass man gute Nachrichten über den Adressaten (Wohlbefinden, besondere Verdienste, Auszeichnungen etc.) erhalten hat (P.Col. III 11,1–3 [257 v. Chr.]); damit kann ein Dank an die Götter verbunden sein (vgl. P.Giss. 17,5–7 [= WChr. 481/SP I 155; 113/120 n. Chr.]; P.Giss. 20,3f. [= WChr. 94; 113/120 n. Chr.]).73 In griechischen Briefen ist dieser Ausdruck der Freude meist mit dem Hinweis auf den Empfang eines Briefes verbunden, der eine erfreuliche Nachrichten enthält (vgl. ἀκούων in Phlm 5).74 Hier ist eine kurze Anmerkung zum Inhalt nötig. Schwierigkeiten bereitet die Formulierung τὴν ἀγάπην καὶ τὴν πίστιν, ἣν ἔχεις πρὸς τὸν κύριον Ἰησοῦν καὶ εἰς πάντας τοὺς ἁγίους in Phlm 5, die man meist als Chiasmus erklärt: Glaube an Christus und Liebe zu den Heiligen.75 Denkbar wäre auch ein Verständnis im Sinne von »die Liebe und die Treue, die du im Hinblick auf den Herrn Jesus auch zu allen Heiligen (d. h. zur ganzen Gemeinde) hast«. Das Dankgebet des Paulus aber erinnert nicht nur an das, was Philemon schon getan hat, sondern drückt zugleich die Gewissheit des Paulus aus, dass Philemon auch in Zukunft weiterhin so handeln wird, und nimmt damit in gewisser Weise bereits die Erfüllung seiner noch nicht geäußerten Bitte an Philemon vorweg (Phlm 6: ὅπως ἡ κοινωνία τῆς πίστεώς σου ἐνεργὴς γένηται ἐν ἐπιγνώσει παντὸς ἀγαϑοῦ τοῦ ἐν ἡμῖν εἰς Χριστόν).76 Die Danksagung ist insofern mehr als nur captatio benevolentiae, die Philemon schmeicheln und so wohlwollend stimmen soll. Paulus drückt vielmehr aus, dass er aufgrund des Charakters und des Wesens des Philemon seine Bitte mit der Zuversicht äußern kann, dass sie bei ihm Gehör und wohlwollende Aufnahme finden wird.77 Die Zusammengehörigkeit der Danksagung mit dem in der Corpusgrundlegende Analyse der brieflichen Danksagung in den Paulusbriefen und die Beschreibung ihrer Wortwahl und Motivik, die jeder Wertung und Interpretation von Phlm 4–7 zugrunde gelegt werde muss, erfolgte durch P. Schubert (1939); modifiziert und ergänzt wurden seine Ergebnisse durch P. T. O’Brien (1977) und L. A. Jervis (1991); zu den relevanten Arbeiten vgl. das Literaturverzeichnis. 73 Ausführlich dazu Arzt, Philemon (PKNT) 135–142. 74 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 175. 75 Vgl. BDR § 477, Anm. 5; Wolter, Philemon (ÖTK) 253. 76 Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 35; Wengst, Philemon (ThKNT) 56. 77 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 250f.; Weima, Persuasive Prose 43–46. Unter Absehung von den Konventionen und der Topik des antiken Briefes dagegen werden bei Reinmuth, Philemon (ThHK) 28–31, die Aussagen der brieflichen Danksagung in Phlm 3–7 als (implizite) Mahnungen an Philemon interpretiert; Philemon soll zu Beginn des Briefes daran erinnert werden, dass er aus der Gemeinschaft mit Paulus und der Gemeinde herausfallen wird, wenn sein künftiges Handeln, d. h. der Umgang mit Onesimus und der Bitte des Paulus, nicht an seinem früheren Verhalten Maß nimmt. Ähnlich hatte er schon die Nennung der Hausgemeinde als Mitadressaten gedeutet (vgl. ebd. 26).

4.2 Analyse und Kontextualisierung

127

mitte formulierten Anliegen des Briefes zeigt sich auch darin, dass sie durch zentrale Stichworte miteinander verbunden sind.78 Danksagung (Phlm 4–7)

Corpusmitte (Phlm 8–20)

v. 4

ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου

[v. 22

διὰ τῶν προσευχῶν ὑμῶν]

v. 5

σου τὴν ἀγάπην

v. 9

διὰ τὴν ἀγάπην

v. 7

ἐπὶ τῇ ἀγάπῃ σου

v. 16

ἀδελφὸν ἀγαπητόν

v. 6

ἡ κοινωνία τῆς πίστεώς σου

v. 17

με … κοινωνόν

ἐνεργὴς γένηται ἐν ἐπιγνώσει παντὸς ἀγαϑοῦ

v. 14

ἵνα μὴ ὡς κατὰ ἀνάγκην τὸ ἀγαϑόν σου

v. 14

χωρὶς δὲ τῆς σῆς γνώμης

τὰ σπλάγχνα τῶν ἁγίων ἀναπέπαυται διὰ σοῦ

v. 12 v. 20

αὐτόν, τοῦτ᾿ ἔστιν τὰ ἐμὰ σπλάγχνα ἀνάπαυσόν μου τὰ σπλάγχνα

ἀδελφέ

v. 16

ἀδελφὸν ἀγαπητόν

v. 7

Wie in den Paulusbriefen üblich, folgt nach der Danksagung eine Art briefliche Selbstempfehlung (Phlm 8–9), die Paulus als Absender Autorität und Ethos verleihen soll (vgl. S. 85).79 Dass die Selbstempfehlung auf die Emotionen des Adressaten zielt, zeigt sich im Philemonbrief darin, dass Paulus zum einen ausdrücklich auf die ihm dem Adressaten gegenüber zukommende apostolische Autorität verzichtet und zum anderen durch die Wiederaufnahme der Selbstvorstellung als δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ nochmals seine eigene Situation als Gefangener in Erinnerung ruft. Dass der Hinweis auf die Gefangenschaft eine neue, zusätzliche Legitimierung und Autorisierung des »Bittstellers« Paulus bedeutet und nicht nur Appell an das Mitleid des/der Adressaten des Philemonbriefes ist, macht Paulus, wie bereits angemerkt, nach der Formulierung seines Anliegens in Phlm 13 deutlich. In der eigentlichen Corpusmitte des Philemonbriefes finden sich nur wenige epistolare Formeln. Mit παρακαλῶ (Phlm 9.10) greift Paulus die für den antiken Brief typische Petitions- bzw. Ersuchensformel auf (z. B. P.Sarap. 95,4–6 [= SB III 6297; 2. Jh. n. Chr.]; vgl. auch den auf S. 145 zitierten Empfehlungsbrief des Theon).80 Der Eigenhändigkeitsvermerk in Phlm 19 ist nicht bloß eine Authentizitätserklärung, sondern hat juristische Funktion; er setzt den Sachverhalt rechtlich in Geltung.81 In der üblichen Form solcher bestätigender 78

Näheres dazu bei Wolter, Philemon (ÖTK) 255; Church, Rhetorical Structure 23. Vgl. Schnider/Stenger, Studien 58. 80 Zur Formel White, Epistolary Literature 1736; vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 258f.; Schnider/Stenger, Studien 172f.; Arzt, Philemon (PKNT) 193f.; Weima, Persuasive Prose 46–48. 81 Näheres bei Arzt, Philemon (PKNT) 240–243; Schnider/Stenger, Studien 136f.; vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 276; Lampe, Philemon (NTD) 225; Weima, Sincerly 339f.; 79

128

4. Der Brief an Philemon

Hypographai besteht die Schuldverschreibung des Paulus in Phlm 19 aus einem Eigenhändigkeitsvermerk und einem resümierendem Rückverweis auf den Vertragsinhalt durch ἐγὼ ἀποτίσω (vgl. SB XIV 12138,14f. [41/54 n. Chr.]; P.Oxy. III 495,15–18 [181/189 n. Chr.]); der eigentliche Vertragsinhalt steht in Phlm 18 (εἰ δέ τι ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει, τοῦτο ἐμοὶ ἐλλόγα).82 Mit einer Beschwörungsformel bekräftigt Paulus seine Selbstverpflichtung; statt der klassischen Form ναὶ πρὸς τῶν γονάτων gebraucht Paulus allerdings ναὶ ἀδελφέ (da ἀδελφέ die übliche Anrede unter Christen war, verpflichtet Paulus sich Philemon im Hinblick auf die beiden gemeinsame Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde).83 Ergänzend sei angemerkt, dass bei Urkunden und Verträgen (in Briefform) lediglich die den Inhalt resümierende Formel am Ende von der sich verpflichtenden Person (Absender) eigenhändig geschrieben wurde, der Rest dagegen aus der Hand eines professionellen Schreibers stammte. Deshalb erlaubt ἐγὼ Παῦλος ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί keinen Rückschluss darauf, dass der Philemonbrief als ganzer von Paulus eigenhändig geschrieben wurde.84 Dies lässt sich auch nicht aus ἔγραψα (statt εἶπον) in Phlm 21 folgern, da der Ausdruck der allgemeinen Briefsituation, d. h. der schriftlichen Kommunikation, geschuldet ist. Die zahlreichen Belege für γράφω, ἔγραψα oder γέγραφα in den Papyrusbriefen zeigen, dass der Absender damit am Ende des Corpus nochmals die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aussage lenken wollte, im Philemonbrief also auf die damit verbundene Vertrauensformel.85 Den Übergang zum Corpusabschluss markiert die im griechischen Brief übliche Vertrauensformel (confidence formula); sie begegnet in Phlm 21 zum einen in der konventionellen Formulierung εἶδως [ὅτι] (SB XIV 12172,20f. [7 n. Chr.]; P.Oslo II 60,6 [2. Jh. n. Chr.]; P.Lond. III 897,21f. [84 n. Chr.]; P.Oxy. VI 929,3f. [2. Jh. n. Chr.]; vgl. P.Oxy. IV 745,8 [ca. 1 n. Chr.]) zum anderen in der Variante πεποιϑώς τῇ ὑπακοῇ σου (P.Köln IV 186,24 [2. Jh. v. Chr.]; SB XVIII 13590,13f. [1./2. Jh. n. Chr.]; vgl. Röm 15,14f.; 2 Kor 2,3; 7,16; 9,1–2; Gal 5,10).86 Die Formel ist eine indirekte und höfliche Aufforderung zu verantwortungsbewusstem Handeln. Sie wird benutzt, wenn der Adressat und der Absender des Briefes sozial auf einer Stufe stehen; als freundliches Entgegenkommen ist die Verwendung der Formel zu werten, wenn der Absender sozial höher steht und sich damit unter Verzicht auf die eigene Überlegenheit mit unzutreffend dagegen Stirewalt, Paul 51, der die Formel als Einleitung des eigenhändigen Postskripts deutet. 82 Vgl. Schnider/Stenger, Studien 145. Zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund dieser »befreienden Schuldübernahme« vgl. Eger, Rechtsgeschichtliches 43–45. 83 Vgl. BDR § 441, Anm. 2. 84 Dafür, dass der gesamte Philemonbrief eigenhändig von Paulus geschrieben wurde, plädiert Roller, Formular 189f. und 592. 85 Vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 194f. 86 Zur Formel White, Light 205f.; ders., Epistolary Literature 1746; Arzt, Philemon (PKNT) 248–252; vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 277.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

129

dem Adressat auf die gleiche Ebene stellt. Aus der Verwendung der Formel kann man also schließen, dass Paulus den Brief an Philemon nicht aus einer Haltung sozialer Unterlegenheit geschrieben hat. Denn einem sozial Unterlegenen steht eine solche Formulierung, mit der er eine Entscheidung zu eigenen Gunsten vorwegnimmt, gegenüber einem sozial höher stehenden in der Regel nicht an. Zusammen mit der Beschwörungsformel in Phlm 20 bildet Phlm 21 einen zusammenfassenden Schlussappell, der signalisiert, dass der Brief an sein Ende gekommen ist (vgl. Röm 15,30–32; 1 Kor 16,13f.; 2 Kor 13,11; 1 Thess 5,12–22).87 Es folgen noch zwei für den Corpusabschluss typische Elemente, die mit dem eigentlichen Briefanliegen nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Als erstes steht in Phlm 22 eine Besuchsankündigung in Form einer Bitte an den Adressaten, eine Unterkunft vorzubereiten (eine ähnliche Formulierung in P.Cair.Zen. II 59254,3f. [= SB III 6992; 252 v. Chr.]); sie darf nicht als Drohung verstanden werden, die der Bitte des Paulus an Philemon Nachdruck verleihen soll, sondern sie ist Ausdruck der φιλία zwischen den Briefpartnern.88 Der in Aussicht gestellte Besuch sollte durch die Vorfreude bei den Adressaten die παρουσία des Absenders über den Moment des Empfangs und (Ver-)Lesens des Briefes hinaus verlängern.89 Dies wird im Philemonbrief verstärkt durch den Hinweis auf das ständige Gebet der Gemeinde für Paulus, das seinen Besuch ermöglichen wird (bzw. ermöglichen soll). Mit diesem Hinweis auf die Gebete kommt erstmals seit der adscriptio wieder ausdrücklich die Hausgemeinde des Philemon als (Mit-)Adressaten des Briefes in den Blick. Indem Paulus ihre Gebete nicht erst erbittet, sondern als selbstverständlich voraussetzt, bringt er die wechselseitige Verbundenheit und Nähe zwischen sich und der Gemeinde zum Ausdruck.90 Das zweite für den Corpusabschluss typi87

Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 277; dazu auch White, Body 25. Die philophronetische Dimension der Besuchsankündigung besteht darin, dass sie Ausdruck der Sehnsucht nach Überwindung der Trennung der Freunde ist; das Zusammensein (τὸ συζῆν) aber steht nach der antiken Freundschaftstheorie im Zentrum der φιλία. Vgl. dazu Koskenniemi, Studien 35–37 und 169–172. Dagegen betont White, Body 29–31, dass die Besuchsankündigung am Briefende verschiedene Konnotationen haben kann; sie kann neutral, wohlwollend, aber auch drohend sein. Schnider/Stenger, Studien 77 und 92–99, sehen die Besuchsankündigung vordringlich als Ausdruck des Autoritätsanspruchs des Paulus (apostolische Parusie) und nehmen deshalb an, dass sie im Philemonbrief zur Erfüllung der Bitte des Paulus veranlassen soll (vgl. ebd. 97). Auch Weima, Persuasive Prose 56, versteht die in der Besuchsankündigung artikulierte apostolische Parusie als eine Element der Drohung an den Adressaten Philemon; ebenfalls in diesem Sinn zu Phlm 22 Reinmuth, Philemon (ThHK) 53. Den Hintergrund der Besuchsankündigung in Phlm 22 in der Freundschaft zwischen Paulus und Philemon betont Dunn, Philemon (NIGTC) 345f., wenngleich auch er einen engen Zusammenhang mit der Erwartung der Erfüllung der Bitte zugunsten des Onesimus herstellt. Zu ähnlichen Formulierungen in den Papyrusbriefen vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 253–258. 89 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 280. 90 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 280. 88

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4. Der Brief an Philemon

sche Element sind die Grußausrichtungen in Phlm 23 (keine Grußaufträge). Solche Grußausrichtungen finden sich nur in Privatbriefen, d. h. in Briefen an Freunde und Familienangehörige (vgl. z. B. P.Oxy. II 300,9f. [spätes 1. Jh. n. Chr.]).91 Auffällig ist angesichts der adscriptio, dass Philemon der alleinige Adressat dieser Grüße ist (dafür, dass sich die Hausgemeinde in ihrem Gastgeber mitgegrüßt fühlen soll, bietet Phlm 23 keine Anhaltspunkte – wenn auch eine solche Intention nicht ausgeschlossen werden kann). C. Postskript – Phlm 25: Mit dem Schlussgruß wendet sich Paulus in Entsprechung zum Präskript wieder an die ganze Hausgemeinde des Philemon. Wie in allen Paulusbriefen steht statt des üblichen griechischen Schlussgrußes, der auf das leibliche Wohlergehen des/der Adressaten zielt, ein Segenswunsch, der den Blick auf den Heilsstand der Adressaten (d. h. immer der Gemeinde in ihrer Gesamtheit, aber auch in ihren einzelnen Gliedern) lenkt und damit die religiöse Dimension des Briefes betont.92 Wie in antiken Privatbriefen üblich, fehlt im Philemonbrief eine Datumsangabe.93 Auch das Fehlen einer Unterschrift entspricht griechisch-römischem Usus (vgl. dagegen die hebräischen, aramäischen und griechischen Bar-Kochba-Briefe).94 Auswertung: Insgesamt lässt sich für den Philemonbrief sagen, dass er einerseits in seinem Formular individuell und unverwechselbar ist, dass er andererseits aber dennoch erkennbar an das traditionelle Formular und die üblichen epistolaren Formeln des griechischen Briefes gebunden bleibt. Schwierig ist die Frage, wie dieser Befund zu werten ist. Denn die griechische Brieftheorie kennt sehr wohl die Forderung nach einem persönlichen Briefstil, da der Brief εἰκὼν τῆς ψυχῆς ist.95 Gleichzeitig aber zeigen die erhaltenen griechischen Briefe, was die Gestaltung von Präskript und Postskript angeht, eine so große Homogenität und Traditionsgebundenheit, dass man die Abweichungen des Philemonbriefes (und der Paulusbriefe insgesamt) vom griechischen Formular kaum mehr als mögliche Varianten unter dem Aspekt persönlicher Stil bewerten kann; zugleich aber bleibt der Philemonbrief so nah an den Konventionen des griechischen Briefes, dass man auch nicht von einem Traditionsbruch sprechen kann.

91

Vgl. Exler, Form 115f.; auch Schnider/Stenger, Studien 128. Dazu White, Ancient Greek Letters 98f.; Wolter, Philemon (ÖTK) 281f. 93 Olsson, Papyrusbriefe 19, listet allerdings eine Reihe datierter Empfehlungsschreiben in den Editionen der Papyrusbriefe auf: P.Petr. II 2 (3) (26. Apr. 222 v. Chr.); PSI V 520 (2. Sept. 250 [249] v. Chr.); P.Cair. Goodsp. 4 (5. Apr. 152 [141] v. Chr.); P.Oxy. IV 746 (30. Sept. 16. n. Chr.); P.Oxy. IV 787 (6. April 16 n. Chr.). Das mag seinen Grund darin haben, dass Empfehlungsschreiben sehr häufig im amtlichen (oder quasi-amtlichen) Briefverkehr begegnen. 94 Vgl. Roller, Formular 70f. 95 Vgl. Koskenniemi, Studien 40f. 92

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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4.2.3 Brieftheorie und Briefstil Für die antike Brieftheorie bildet der Freundschaftsbrief den Normalfall des Briefes und die Norm für jede briefliche Kommunikation; der Brief wird deshalb als Gespräch unter Freunden definiert und hat grundsätzlich philophronetischen Charakter (vgl. S. 38f.). Auch der Philemonbrief ist in diesem Sinn eindeutig durch das Ideal des antiken Freundschaftsbriefes geprägt, d. h. die φιλοφρόνησις zwischen Paulus und Philemon wird als Hintergrund ihrer brieflichen Kommunikation vorausgesetzt und bestimmt die Motivik und den Ton des Briefes. Die traditionelle popularphilosophische Freundschaftslehre wird allerdings unter dem Aspekt der Verbundenheit im Glauben modifiziert und transformiert (ausführlicher dazu auch S. 253f.).96 Ausdruck der freundschaftlichen Gesinnung und Verbundenheit ist die Anrede des Philemon mit ἀγαπητός (Phlm 1) und ἀδελφός (Phlm 7.20). Die φιλοφρόνησις äußert sich auch in Rekursen auf die ὁμόνοια, d. h. das Einvernehmen und die Vertrautheit zwischen den Briefpartnern.97 Im Philemonbrief zeigt sich dies dort, wo Paulus seine Rücksicht und seinen Respekt gegenüber Philemon zum Ausdruck bringt, d. h. dort, wo er auf die ihm zustehende Autorität verzichtet (Phlm 8) und wo er betont, dass er nicht eigenmächtig und nicht gegen den Willen des Philemon handeln will (Phlm 14). Dass dieser Autoritätsverzicht weder ein reiner Gunsterweis noch ein bloß vordergründiger Verzicht ist, der durch die Negation den Autoritätsanspruch affirmieren soll, sondern dass er in der ὁμόνοια begründet ist, zeigt Phlm 21: Paulus kann getrost seine Bitte und mit ihr Onesimus dem Philemon anvertrauen, weil er ihn kennt und deshalb weiß, dass er ganz nach seinem Sinn handeln wird. Typisch für den Freundschaftsbrief sind auch φιλικαὶ φρονήσεις, d. h. Komplimente an den Adressaten (vgl. S. 39), wie sie im Philemonbrief vor allem in der brieflichen Danksagung formuliert werden (Phlm 4–7). Hinzukommt eine Anzahl traditioneller philophronetischer Formeln und Phrasen. Die briefliche Danksagung integriert in Phlm 4 mit πάντοτε μνείαν σου ποιούμενος (vgl. Röm 1,9; 1 Thess 1,2; Eph 1,16; 2 Tim 1,3) in einer nahezu klassischen Formulierung das philophronetische Motiv des wechselseitigen Gedenkens (vgl. P.Lond. I 42,4–5a [= UPZ I 59/SP I 97/WChr. 97; 179/168 v. Chr.]).98 Dieses Motiv blieb ein fester Bestandteil des griechischen Briefes vom Anfang bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. (vgl. dazu S. 48).99 Im Philemonbrief 96

Die φιλία als Hintergrund des Freundschaftsbriefes klingt möglicherweise im Begriff der κοινωνία in Phlm 6 (vgl. κοινωνός in Phlm 17) an, der in spezifischer Weise zu κοινωνία τῆς πίστεώς σου erweitert ist. Die Zusammengehörigkeit von κοινωνία und φιλία ist ausgedrückt bei Aristot. eth. Nic. 8,11 (1159b31); Plat. Gorg. 507de; Cic. Lael. 17 (16); Lukian. Tox. 5. Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 254; J. Hainz, κοινωνία. EWNT 2 (21992) Sp. 749–755, hier 751. 97 Vgl. Thraede, Brieftopik 45. 98 Vgl. Reinmuth, Philemon (ThHK) 28; Arzt, Philemon (PKNT) 131f. 99 Dazu Koskenniemi, Studien 145–147.

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4. Der Brief an Philemon

drückt diese Formel das herzliche Einvernehmen zwischen Paulus und Philemon aus.100 Die Vertrauensformel in Phlm 21 als weiteres Signal des freundschaftlichen Einvernehmens mit dem Adressaten Philemon klang bereits an.101 Mit dem Hinweis auf die Gebete, die die Hausgemeinde des Philemon für den gefangenen Paulus verrichtet, in Phlm 22 wird die ganze Gemeinde, die ja zusammen mit Philemon Adressat des Briefes ist, in dieses philophronetische Gedenken und damit in das freundschaftliche Einvernehmen mit hinein genommen. Ausdruck der φιλοφρόνησις ist auch die Besuchsankündigung, wie sie Paulus in Phlm 22 formuliert, nicht nur weil sie die Sehnsucht nach dem Wiedersehen mit dem Freund ausdrückt, sondern weil sie durch die Aussicht auf das Wiedersehen den Absender des Briefes trotz seiner leiblichen Abwesenheit (ἀπών) in der Vorfreude schon jetzt beim Adressaten gegenwärtig (παρών) werden lässt. Zugleich aber wird – über den Brief selbst hinaus – Onesimus als Überbringer des Briefes zum Medium, durch das sich die παρουσία des Absenders beim Adressaten realisiert, indem Paulus in Phlm 12 Onesimus zu seinem Repräsentanten erklärt (ὃν ἀνέπεμψά σοι, αὐτόν, τοῦτ᾿ ἔστιν τὰ ἐμὰ σπλάγχνα).102 Gleichzeitig weist Paulus in Phlm 13 auf die Möglichkeit hin, dass Onesimus auch zum Medium der παρουσία des Philemon werden kann, wenn er ihn (mit einem Begleitschreiben) als seinen Stellvertreter zu Paulus zurückschickt (ὃν ἐγὼ ἐβουλόμην πρὸς ἐμαυτὸν κατέχειν, ἵνα ὑπὲρ σοῦ μοι διακονῇ ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου). Das für den philophronetischen Charakter des Briefes typische Motiv der παρουσία überlagert und transformiert damit den Anlass des Briefes, das Eintreten für den Sklaven Onesimus und seine Freistellung für den Dienst bei Paulus. Insgesamt gilt, dass durchgängig der philophronetische Ton und damit die idealtypische Briefsituation des Gesprächs unter räumlich getrennten Freunden gewahrt wird; die Briefsituation wird von Paulus also nicht ins Didaktische und Psychagogische und damit in eine Lehrsituation aufgelöst (anders bei Seneca).103 In der antiken Brieftheorie wird zwar einerseits ganz selbstverständlich vorausgesetzt, dass hinter jedem Brief ein reale Beziehung der Freundschaft zwischen den Briefpartnern steht oder stehen soll (so bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας); andererseits aber kann der Freundschaftsbrief auch als der Brief definiert werden, der sich lediglich den Anschein gibt, er wäre von einem Freund an einen anderen Freund geschrieben (so bei Ps.-Demetrios, τύποι 100

Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 34f. Zur Funktion derartiger Vertrauensbekundungen vgl. auch Wilson, Pragmatics 117f. 102 Vgl. dazu insbesondere Schnider/Stenger, Studien 94–99. Für Schnider/Stenger steht dahinter aber weniger das φιλία-Motiv als die Betonung der Autorität und Vollmacht des Paulus (apostolische Parusie, d. h. Gegenwart des Autoritätsträgers). 103 Zur Überführung der Briefsituation in eine Lehrsituation bei Seneca vgl. Thraede, Brieftopik 70f. 101

4.2 Analyse und Kontextualisierung

133

ἐπιστολικοί). Insofern ist der philophronetische Charakter des Philemonbriefes noch kein Beweis dafür, dass zwischen Paulus und Philemon die konkrete persönliche Beziehung der Freundschaft (φιλία) existierte. Deshalb kann auch nicht einfach ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass Paulus und Philemon, wie von der antiken Freundschaftslehre gefordert, sozial auf einer Stufe standen. Denn, wie die τύποι ἐπιστολικοί betonen, schreiben Vorgesetzte in taktischer Absicht Briefe an ihre Untergebene im Stil des Freundschaftsbriefes (vgl. S. 42).104 Interessant sind diese Beobachtungen im Blick auf die für viele christliche Ausleger ärgerliche Tatsache, dass der Philemonbrief Paulus in so vertrautem Umgang und in freundschaftlicher Verbindung mit einem Sklavenhalter präsentiert.105 Es ließe sich ja immerhin vermuten, der freundschaftliche Ton des Briefes sei nicht mehr als konventioneller Briefstil und verdanke sich zudem taktischen Überlegungen des Paulus. Doch für solche Vermutungen bietet der Philemonbrief keine Anhaltspunkte. Die Tempora werden im Philemonbrief entsprechend den Konventionen des Briefstils nicht vom Augenblick des Schreibens, sondern vom Augenblick des Briefempfangs her verwendet.106 So erscheint die Gegenwart des Briefschreibers im Aorist (z. B. ἔσχον Phlm 7; ἀνέπεμψα Phlm 12; ἔγραψα Phlm 19.21); dabei wird in Phlm 13–14 sauber zwischen der durativen »Hintergrundhandlung« im Imperfekt (ἐβουλόμην) und der punktuellen Entscheidung im Aorist (ἐϑέλησα) differenziert. Im Präsens stehen Handlungen, die der Brief aktualisiert (παρακαλῶ Phlm 9.10; ἀσπάζεται Phlm 22), bzw. Aussagen, die in gleicher Weise zur Zeit der Abfassung und des Empfangs des Briefes in Geltung sind (z. B. εὐχαριστῶ Phlm 4; ἐλπίζω Phlm 22). Auch in der Tempuswahl zeigt sich im Philemonbrief also das Bemühen um eine sorgfältige stilistische Gestaltung. Blickt man auf die Wortwahl des Philemonbriefes, so fallen zunächst die vielen Fachtermini aus dem Bereich der Geschäfts- und Rechtssprache auf.107 Das Verb ἀναπέμπω ist der juristische Fachterminus für das Überstellen einer Person an einen höher stehenden Amtsträger bzw. an die zuständigen Behörden (Phlm 12).108 In die juristische Sprache gehört auch ἀπέχω, das eigentlich nur den Empfang von Sachen bezeichnet; für einen Sklaven ist der Gebrauch des Terminus durchaus korrekt, da Philemon mit Onesimus einen eigenen Vermögenswert zurückerhält (Phlm 15).109 Aus der Geschäftssprache stammt 104

Näheres bei Stowers, Letter Writing 28–30. So programmatisch Baumert, Freundesbrief 131. 106 Zum Tempusgebrauch im Brief bzw. zum Aorist des Briefstils insgesamt Koskenniemi, Studien 189–200; BDR § 334. 107 Vgl. Winter, Philemon 2; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 23f. 108 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 102f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 117. 109 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 162f.; Arzt, Philemon (PKNT) 216–217; daneben auch Wolter, Philemon (ÖTK) 270; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 41; Reinmuth, Philemon (ThHK) 46. 105

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4. Der Brief an Philemon

προσλαμβάνειν κοινωνόν, womit die Hinzunahme eines gleichberechtigten Geschäftspartners bezeichnet wird (Phlm 17).110 Ein terminus technicus der kaufmännischen Sprache ist auch ἐλλογάω111 (statt klass. ἐλλογέω) »auf die Rechnung setzen« (P.Ryl. II 243,11 [2. Jh. n. Chr.]; P.Stras. I 32,10 [= P. Flor. II 134; 260 n. Chr.]) in Phlm 18; in diesen Bereich gehören auch die Verben ἀδικέω, ὀφειλέω und ἀποτίνω112 (Phlm 18f.; P.Tebt. III,1 821,13–15 [209 (?) v. Chr.]). Daneben finden sich auch einige philosophische Begriffe und Vorstellungen.113 Die Rede vom ἀγαϑόν, das Philemon verwirklichen soll (Phlm 6.14), könnte aus der stoischer Philosophie entliehen sein.114 Dies gilt eventuell auch für τὸ ἀνήκον in Phlm 8 (als Synonym zu τὸ καϑήκον; lat. officium).115 Auf einen philosophischen Hintergrund weist auch die Unterscheidung von Handlungen, die κατὰ ἀνάγκην und κατὰ ἑκούσιον geschehen, in Phlm 14 (vgl. Aristot. eth. Nic. 3,1–3. 7f.).116 Trotz dieser Fachtermini bleiben Wortwahl und Stil des Philemonbriefes im Rahmen der gepflegten Umgangssprache der Gebildeten. Der Wortschatz ist insgesamt weder vulgär noch übertrieben literarisch, d. h. Paulus gebraucht nahezu durchgehend Wörter, die in der (klassischen) Literatur belegt sind, die in hellenistischer Zeit aber in den allgemeinen Sprachgebrauch, die gehobene Koine, übergegangen waren.117 πάντοτε (Phlm 4) findet sich in der hellenisti110

Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 815f.; Arzt, Philemon (PKNT) 226–234 (mit Textbeispielen aus den dokumentarischen Papyri); Wolter, Philemon (ÖTK) 273. 111 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 509; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 471. Bei ἐλλογεῖν handelt es sich um eine »Hypostasierung«, d. h. das Verb ist aus dem präpositionalem Ausdruck ἐν λόγῳ τίϑεναι abgeleitet; vgl. BDR § 123, Anm. 5; zur Vermischung der Konjugationstypen auf -εω/-αω in der hellenistischen Koine vgl. BDR § 90. Zu ἐλλογεῖν in den dokumentarischen Papyri vgl. auch Arzt, Philemon (PKNT) 238–239. 112 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 203, Gnilka, Philemonbrief (HThK) 85. 113 Vgl. Winter, Philemon 2; Hübner, Philemon (HNT) 37. Bei Jegher-Bucher, Galaterbrief 31, findet sich die Anmerkung, dass es in der Zeit des Paulus als besonders chic galt, in Briefe Fachtermini aus dem Bereich der Medizin, Literatur und Philosophie einzubauen; für den Galaterbrief verneint sie Entsprechendes mit dem Hinweis (oder der Folgerung), dass Paulus bei seinen Adressaten nicht als chic gelten wollte. Abgesehen davon, dass die Aussage über den kaiserzeitlichen Briefstil überpointiert und verzeichnend ist, müsste man dann einräumen, dass sich Paulus im Philemonbrief nicht von derartigen Ressentiments leiten ließ; auch für den Galaterbrief ist die Behauptung so nicht haltbar, wie noch zu zeigen ist. 114 Näheres dazu bei Gnilka, Philemonbrief (HThK) 36f. Vgl. auch Ch. Tornau, agathon, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 10–14. 115 Ähnlich Fitzmyer, Philemon (AB) 104. Das καϑήκον bedeutet für den Stoiker ὁμολογούμενος ζῆν, d. h. in Übereinstimmung mit dem Logos und der Natur leben (vgl. Diog. Laert. 7,107ff.); vgl. L. Jansen, kathêkon, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 236; J. B. Bauer, ἀνήκω. EWNT 1 (21992) Sp. 235f. 116 Dazu F. Buddensiek, anankê, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 40f.; ders., hekôn, in: ebd. 184f.; A. Strobel, ἀνάγκη. EWNT 1 (21992) Sp. 185–190. 117 Auf den Einzelnachweis wird hier verzichtet, da die Behauptung anhand von Liddell/ Scott. Lex., und Bauer/Aland, Wb.NT, leicht zu verifizieren ist. In der Wortwahl und der

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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schen Prosa seit Dionysios von Halikarnass, wenn auch die Attizisten weiterhin ἑκάστοτε, διαπαντός oder ἀεί vorziehen.118 χωρίς (Phlm 14) ist als uneigentliche Präposition mit Genitiv zwar bereits seit Pindar in der griechischer Literatur belegt, vor allem aber in der hellenistischen Literatur.119 In Phlm 13f. stehen nebeneinander das in hellenistischer Zeit eher volkstümliche ϑέλω und das eher literarische βούλομαι.120 Dem Usus der Zeit entspricht es auch, wenn in Phlm 15f. der Potentialis durch Indikativ mit τάχα umschrieben wird (statt des klass. Optativ mit ἄν), da der Optativ zunehmend ungebräuchlich und sein Gebrauch deshalb als literarisch empfunden wurde.121 Auf gehobenen Stil weist deshalb ὀναίμην in Phlm 20, wenn auch der Optativ zum Ausdruck des erfüllbaren Wunsches außerhalb der literarischen Sprache noch nicht ganz ungewöhnlich war.122 Sicheren Einfluss der Literatursprache verrät dagegen der bloße partitive Genitiv bei ὀνίναμαι in Phlm 20 (σου ὀναίμην).123 Außerdem finden sich im Philemonbrief einige Begriffe, die sich der jüdischen Herkunft des Paulus verdanken, wenn sie auch teilweise außerhalb der Septuaginta und der frühjüdischen Literatur belegt sind. Dazu gehören προσευχή124 (Phlm 4), ἀγάπη125 (Phlm 5) und διακονέω126 (Phlm 13). Die Verwendung von τέκνον zur Bezeichnung der »geistlichen Kindschaft« des Schülers zu seinem Lehrer ist traditionell und in der hellenistischen Umwelt der frühen Christen beheimatet (vgl. PGM 4,475; Eun. vit. soph. 7,1,13; vor allem auch als Anrede der Schüler durch den »Lehrer«, d.h. das Haupt einer Philosophenschule).127 Eine Breite des Wortschatzes trifft sich der paulinische Philemonbriefes demnach durchaus mit dem, was Hutchinson, Documents 26, als gebildeten Briefstil versteht und exemplarisch an P.Oxy. XVIII 2190 (= SB XXII 15708; um 100 n. Chr.), dem Brief eines Rhetorikstudenten vornehmer Herkunft, aufzeigt. 118 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1232; BDR § 105. 119 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1775f.; BDR § 216,2. 120 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 291f. und 721f.; BDR § 369,2 (auch Anm. 5). 121 Vgl. BDR § 385, Anm. 1; Arzt, Philemon (PKNT) 222f.; Moulton/Turner, Grammar 3, 118–122. 122 Dazu BDR § 384; außerdem Moulton, Sprache 306–309. 123 Vgl. BDR § 169, Anm. 7; Lampe, Philemon (NTD) 226f. 124 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1429. Das Verb προσεύχομαι ist in der griechischen Literatur seit Herodot und Aischylos belegt (ebd.). Als »Gebet« ist προσευχή in den Papyri erst in nachchristlicher Zeit belegt (pagan BGU IV 1080,5 [= WChr. 478; 3. Jh. n. Chr.]; christlich P.Lond. III 981,13 [= WChr. 130; 4. Jh. n. Chr.]), als Bezeichnung für das jüdische »Bethaus« jedoch bereits seit dem 3. Jh. v. Chr. (vgl. P.Ent. 30,5 [= P.Lille II 35/WChr. 56/CPJ I 129; 218 v. Chr.]); vgl. auch Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 399 und 3, 262f. 125 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 9f.; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 5 (Verb und Verbaladjektiv in den Papyri bereits seit dem 3. Jh. v. Chr.; das Nomen erst ab dem 6. Jh. n. Chr.). 126 Das Verb διακονέω findet sich nur selten in den Inschriften und Papyri, aber in der griechischen Literatur, es ist nicht in der LXX, aber in frühjüdischen Schriften belegt; vgl. Bauer/ Aland, Wb.NT Sp. 368; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 351. 127 Dazu bei Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1612f.; G. Schneider, τέκνον. EWNT 3 (21992) Sp. 817–820; außerdem Norden, Agnostos Theos 290f. (mit Hinweis auf die Wurzeln in der

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4. Der Brief an Philemon

spezifisch christliche Neuschöpfung des Paulus ist jedoch die Verbindung mit γεννάω zur Umschreibung der Neugeburt in der Taufe (1 Kor 4,15).128 Insgesamt lässt sich sagen, dass die Sprache des Philemonbriefes sowohl in ihrer Wortwahl als auch in der Syntax weder gekünstelt noch kolloquial ist. Der Philemonbrief erfüllt damit durchaus die bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας genannten Anforderungen an einen briefgemäßen Stil (vgl. S. 38). 4.2.4 Brieftypen und Briefsituation Versucht man den Philemonbrief anhand seines Inhaltes und der in ihm aufscheinenden sozialen Relation von Absender und Adressat (konzentriert auf den Hauptadressaten Philemon, der im Corpus der allein Angesprochene ist) einem der in den τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios genannten Briefmuster zuzuordnen, liegt mit Blick auf die Definition und den Mustertext die Zuordnung zum Empfehlungsschreiben (τύπος συστατικός) nahe.129 [Definition] ὁ δὲ συστατικός, ὃν ὑπὲρ ἄλλου πρὸς ἄλλον γράφομεν, ἔπαινον συγκαταπλέκοντες ἅμα καὶ τοὺς πρότερον ἠγνοουμένους λέγοντες ὡς ἐνγνωσμένους, οὕτως· [Briefmuster] (a) τὸν δεῖνα τὸν παρακομίζοντά σοι τὴν ἐπιστολὴν καὶ ἡμῖν κεκριμένον καὶ δι᾽ ἣν ἔχει πίστιν ἀγαπωμένον. (b) καλῶς ποιήσεις ἀποδοχῆς ἀξιώσας καὶ δι᾽ ἐμὲ καὶ δι᾽ αὐτόν, ἔτι δὲ καὶ διὰ σαυτόν· οὐ μεταμελήσῃ γὰρ ἐν οἷς ϑέλεις εἴτε λόγον ἀπόρρητον εἴτε πρᾶξιν εἰπεῖν. (c) ἀλλὰ καὶ σὺ πρὸς ἑτέρους ἐπαινέσεις αὐτόν, αἰσϑόμενος ἣν ἐν παντὶ δυνατός ἐστι χρείαν παρασχέσϑαι.130

Die auf Papyrus erhaltenen Empfehlungsbriefe entsprechen in Form und Inhalt (teilweise bis in die Phraseologie) weitgehend dem »Mustertext« im Handbuch des Ps.-Demetrios (wie auch dem im jüngeren Handbuch des Ps.Proklos/Libanios).131 Die inhaltliche und formale Struktur des Empfehlungsbriefes (ἐπιστολὴ συστατική) ergibt sich aus einem Dreiecksverhältnis von Briefschreiber (A), Briefempfänger (B) und Empfohlenem (C): 1. A versichert B die besondere Integrität von C, der den Brief überbringt. — 2. Dazu erläutert A seine eigene Beziehung zu C. — 3. Außerdem erinnert der Brief an das Beorientalisch-ägyptischen Vorstellung von der παράδοσις, der Weitergabe einer Geheimlehre); zu den parallelen Vorstellungen im pharisäischen und rabbinischen Judentum Stuhlmacher, Philemon (KEK) 38. 128 Vgl. dazu Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 310–312; A. Kretzer, γεννάω. EWNT 1 (21992) Sp. 584–586. Analoge Vorstellungen waren möglicherweise bereits mit der jüdischen Proselytentaufe verbunden und wurden von den Christen von hier übernommen (Philon spec. 1,52; bJev 22a, 62a, 97b; bBekh 47a); vgl. Derrett, Functions 78f. 129 Näheres bei Kim, Form 123–128; Arzt, Philemon (PKNT) 59–63; Muir, Life 60f.; außerdem E. Wendland, “You Will Do Even More Than I Say” 83f. 130 Text bei Malherbe, Theorists 32 [Ps.-Demetrios 2]. Vgl. auch den motivisch identischen Mustertext des Empfehlungsbriefes bei Ps.-Proklos/Libanios bei Malherbe, Theorists 74 [Ps.-Proklos/Libanios 55]. 131 Vgl. Stowers, Letter Writing 154f.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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stehen einer freundschaftlichen Beziehung zwischen A und B. — 4. Auf der Basis dieser Freundschaft erfolgt die Bitte an B, er möge C freundlich aufnehmen bzw. ihm beistehen.132 Dementsprechend hat das Corpus solcher Empfehlungsschreiben gewöhnlich folgenden Aufbau:133 a. Vorstellung des Empfohlenen in seiner Relation zum Absender b. Bitte um Beistand für den Empfohlenen seitens des Adressaten c. Nutzen für den Adressaten bzw. Versicherung der Dankbarkeit Der Philemonbrief folgt zwar in seiner Grundstruktur erkennbar diesem Schema (a. Phlm 10–12; b. Phlm 17[.20]; c. Phlm 21), erweitert es jedoch um zusätzliche Motive und unterscheidet sich in der Formulierung signifikant sowohl vom Mustertext des Ps.-Demetrios als auch von den auf Papyrus erhaltenen Empfehlungsschreiben.134 Deshalb hat man für den Philemonbrief mit Hinweis auf das Verb παρακαλῶ als typische Einleitung der Petitions- bzw. Ersuchensformel die Klassifizierung als Bittbrief (Petition) mit Elementen des Empfehlungsschreibens vorgeschlagen.135 Doch genügt der Hinweis auf παρακαλῶ allein nicht, um eine Zuordnung zu den Bittbriefen zu rechtfertigen. Denn παρακαλῶ findet sich auch in Empfehlungsschreiben als Einleitung der Bitte um Beistand für den Empfohlenen (vgl. z. B. den auf S. 145 zitierten Empfehlungsbrief des Theon).136 Im Aufbau bzw. Strukturmuster gibt es zwischen dem Empfehlung- und dem Bittbrief zudem keinen signifikanten Unterschied; auch der Bittbrief besteht aus a. Hintergrundinformation, b. eigentlicher Bitte und c. Versicherung der Dankbarkeit gegenüber dem Adressaten.137 Was die soziale Relation zwischen dem Absender und dem Adressaten des Briefes angeht, aber sind beide Brieftypen einander völlig entgegengesetzt. 132

Zu diesem Schema des Empfehlungsbriefes Klauck, Briefliteratur 75–77; ders., Ancient Letters 72–76; White, Light 203; Muir, Life 58. Vgl. auch Rees, Recommendation 156–159, der für den Empfehlungsbrief von einem »amicitia triangle« spricht. 133 Zu den Gliederungselementen bzw. dem typischen Aufbau des antiken Empfehlungsbriefes vgl. Kim, Form 7; Stowers, Letter Writing 153–155; White, Documentary Letter 95– 97; ders., Light 204. 134 Dazu auch Kim, Form 122–124. 135 So Schnelle, Einleitung 168; Wengst,Philemon (ThKNT) 26; ähnlich Stowers, Letter Writing 155. Noch stärker ablehnend Schenk, Philemon 3446f., der die Zuordnung des Philemonbriefes zum Typos des Empfehlungsbriefes als »textpragmatische Fehlbestimmung« bezeichnet; lediglich die Sequenz Phlm 10b–13 habe eine gewisse Nähe zum Empfehlungsbrief, so dass man von einem »Stileinschlag der Empfehlungsschreiben« sprechen könne. 136 Vgl. Klauck, Briefliteratur 77; ders., Ancient Letters 74f.; Arzt, Philemon (PKNT) 194. 137 Dazu White, Ancient Greek Letters 90f.; ders., Light 204; ders., Epistolary Literature 1736f. Der Bittbrief (τύπος ἀξιωματικός) in den τύποι ἐπιστoλικοί des Ps.-Demetrios bezieht sich offenbar auf die spezifische Situation, dass der Absender den Empfänger gegen sich aufgebracht hat und ihn nun besänftigen will. Weder die angegebene Briefsituation noch der Mustertext lassen sich mit den auf Papyrus erhaltenen Bittbriefen zusammenbringen; vgl. dazu White, Light 203.

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4. Der Brief an Philemon

Während der Bittbrief aus der Situation sozialer Inferiorität des Absenders gegenüber dem Adressaten geschrieben wird und sich einer entsprechenden Diktion bedient, setzt das Empfehlungsschreiben die soziale Gleichrangigkeit der beiden Briefpartner voraus.138 Vor diesem epistolographischen Hintergrund ist es fraglich, ob man den Philemonbrief tatsächlich als Bittbrief qualifizieren kann und will, da der philophronetische Ton des Briefes entsprechend der antiken Brieftheorie und der philosophischen Freundschaftslehre voraussetzt, dass Paulus dem Philemon innerhalb des relevanten sozialen Kontextes (christliche Gemeinde und/oder griechisch-römische Gesellschaft) gleichgestellt oder sogar überlegen ist. Die Definition des Empfehlungsschreibens (τύπος συστατικός) bei Ps.-Demetrios setzt eigentlich voraus, dass der Empfohlene dem Adressaten des Briefes zuvor unbekannt war (τοὺς πρότερον ἠγνοουμένους λέγοντες ὡς ἐγνωσμένους). Für den Philemonbrief trifft dies auf den ersten Blick nicht zu, da der empfohlene Onesimus der Sklave des Adressaten Philemon und folglich diesem bereits bekannt ist. Zugleich aber ist der (entlaufene) Sklave Onesimus durch seine Konversion und Taufe (Phlm 10) ein anderer geworden, einer, den Philemon so noch nicht kennt, und der deshalb der Neuvorstellung durch ein Empfehlungsschreiben des Paulus bedarf.139 Der neu vorgestellte und empfohlene Onesimus ist nicht (mehr) der dem Philemon bekannte »nutzlose« Sklave, sondern ein »überaus nützlicher« und zudem sein »geliebter Bruder« (vgl. Phlm 11.15–17). Überdies war es in der Praxis offenbar durchaus nichts Ungewöhnliches, Empfehlungsschreiben auch für Personen zu schreiben, die dem Adressaten bereits von früher bekannt waren (z. B. P.Mich. I 6 [257 v. Chr.]; P.Cair.Zen. II 59284 [= PSI VI 575; 251 v. Chr.]; P.Cair.Zen. III 59342 [246 v. Chr.]; P.Petr. III 53 (n) [3. Jh. n. Chr.]).140 Zu der für ein Empfehlungsschreiben typischen Briefsituation passt auch, dass Onesimus als der Empfohlene selbst der Überbringer des Schreibens an Philemon ist (soweit ὃν ἀνέπεμψά σοι in Phlm 12 erkennen lässt)141. Die Iden138

Vgl. White, Ancient Greek Letters 90f. Richtig erkannt bei Wolter, Philemon (ÖTK) 262f. 140 Vgl. Kim, Form 52f. 141 Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 45. Nach Arzt, Philemon (PKNT) 61, könnte die Verbindung des Empfohlenen mit ἀνέπεμψα in Phlm 12 eine Entsprechung haben in dem Empfehlungsbrief SB V 8005,7 (2. Jh. n. Chr.). Außerhalb eines Empfehlungsschreibens für das Entsenden einer Person (MChr. 88,4,20 [142 v. Chr.]), auch im Sinne der amtlichen Anweisung, vor einer Behörde oder einem Gericht zu erscheinen (P.Oxy. III 486 recto,12 [= MChr. 59; nach 131 n. Chr.]), für das Einreichen einer offiziellen Eingabe bei einer Behörde (P.Oxy. XXXIV 2712,15 [292/293 n. Chr.]; SB VIII 9905,7 [171 n. Chr.]) oder das Übersenden (amtlicher) Schriftstücke (P.Meyer 3,6 [148 n. Chr.]; P.Mil. Vogl. IV 210 (= SB XVI 12345 [127/128 n. Chr.]), oder auch nur für das Übersenden einer Sache (P.Iand. II 9,41 [2. Jh. n.Chr.]). Nach Schenk, Philemon 3448, bedeute ἀνέπεμψα in Phlm 12 jedoch nicht »zurückschicken«, sondern »aufsprossen lassen, hervorbringen« (mit Verweis auf Pind. P. 9,83; Plut. mor. 447d) und sei deshalb als Synonym zu ἐγέννησα auf die Bekehrung des Onesimus zu deuten. 139

4.2 Analyse und Kontextualisierung

139

tifikation des Empfohlenen geschieht dabei gewöhnlich in Termini seiner familiären und/oder einer sonstigen sozialen Beziehung zum Absender des Briefes; dazu wird in der Regel die viergliedrige Formel aὁ δεῖνα | bὁ ἀποδιδούς σοι τὴν ἐπιστολήν | cἐστιν | dἀδελφός μου [bzw. die Bezeichnung für eine andere familiäre bzw. soziale Beziehung].142 Obwohl im Philemonbrief diese Formel bestenfalls rudimentär in ὃν ἀνέπεμψά σοι in Phlm 12 aufscheint, so wird trotzdem Onesimus in derselben Art in seiner Beziehung zu Paulus empfohlen, indem er ihn, noch vor der Nennung des (dem Philemon bekannten) Namens, als τὸ ἐμοῦ τέκνον (Phlm 10) vorstellt, das er schließlich ganz mit sich selbst identifiziert (Phlm 12: αὐτόν, τοῦτ᾿ ἔστιν τὰ ἐμὰ σπλάγχνα; Phlm 17: προσλάβου αὐτὸν ὡς ἐμέ).143 Auch diese Gleichsetzung bzw. Identifizierung des Empfohlenen mit dem Schreiber des Briefes hat Entsprechungen in anderen antiken Empfehlungsbriefen; so empfiehlt ein gewisser Diogenes seinem »Bruder« Pythagoras seinen eigenen Hausgenossen Theon mit den Worten: καλῶς οὖν ποιήσεις, ἀδελφέ, τοῦτον ὑποδεξάμενος ὡς ἂν ἐμέ (P.Oslo II 55,7–9 [2./3. Jh. n. Chr.]).144 Da der Empfohlene im Philemonbrief dem Adressaten an sich kein Unbekannter ist, wird die Nennung des Namens, der in der konventionellen Formel die Vorstellung des Empfohlenen einleitet, aufgeschoben und stattdessen die Angabe seiner Relation zum Absender vorangestellt, um so zum einen Spannung zu erzeugen und zum anderen zu insinuieren, dass es sich beim Empfohlenen doch um einen den Adressaten noch unbekannten handle (zur Vorbereitung auf die Gegenüberstellung ποτέ/νυνί in Phlm 11). Der Empfehlung des Onesimus dient auch die Aussage, dass Paulus ihn – we142 Ausführlich dazu Kim, Form 37–53. Statt ἀποδίδωμι findet sich in den Handbüchern κομίζω/παρακομίζω; in den Papyrusbriefen ist außerdem ἀναδίδωμι sowie ab dem 2. Jh. auch φέρω, καταφέρω und προσφέρω belegt. In dieser Formel drückt sich nicht nur die Tatsache aus, dass der Empfehlungsbrief in der Regel vom Empfohlenen selbst überbracht wird, sondern auch, was die eigentliche Funktion des Empfehlungsschreibens ist, nämlich die Begegnung zwischen dem Überbringer und dem Empfänger des Briefes zu motivieren und zu ermöglichen und dadurch eine Beziehung zu initiieren, in der der Empfohlene auf Beistand und Beförderung seines Anliegens hoffen kann; vgl. Head, Letter-Carrier 286; Kim, Form 72–87; Stowers, Letter Writing 153. 143 In diesem Sinne Kim, Form 125f.: »It is noteworthy that the credentials Paul presents in Philemon … are basically the same as those of many papyrus letters: Paul commends Onesimus in reference to himself. We have already observed that the writer usually identifies the recommended in terms of family relationship or by degree of intimacy, in the hope that the recipient would accept him as if the writer himself were being recommended. Such a wish is strongly expressed in Philemon. Paul identifies Onesimus as ‘my child’ (v. 10) and testifies that Onesimus is now useful both to Philemon and to Paul himself (v. 11) … Like many writers of papyrus letters of recommendation Paul is quite conscious of the fact that the identification of Onesimus with himself (μου τέκνον, τὰ ἐμὰ σπλάγχνα, and ὡς ἐμέ) is a better credential than his testimonial about Onesimus’ own usefulness (εὔχρηστος); he therefore puts much emphasis on the relationship between Onesimus and himself.« Vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 261f. 144 Vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 60f.

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4. Der Brief an Philemon

gen seiner Qualitäten und seiner Brauchbarkeit – am liebsten bei sich behalten würde (Phlm 13–14).145 Zugleich aber geht der Philemonbrief damit über das eigentliche Ziel eines Empfehlungsschreibens deutlich hinaus; denn dieser Wunsch enthält die implizite Bitte des Paulus um die Rücksendung des Onesimus (die aber in Brief nirgends explizit ausgesprochen wird).146 Den Corpusabschluss des Empfehlungsschreibens bildet gewöhnlich ein Satz, der den Dank und die Anerkennung für den Adressaten vorwegnimmt (in der Form τοῦτο δὲ ποιῶν εὐχαριστήσεις μοι oder durch eine andere Formulierung mit χαρίζομαι).147 Der Philemonbrief realisiert dieses typische Element in Form der Vertrauensformel in Phlm 21. Wie bereits angemerkt, setzt der Tonfall des Philemonbriefes eine Situation voraus, in der Absender und Adressat des Briefes sich kennen und miteinander vertraut sind (philophronetischer Freundschaftsbrief).148 Die Vertrauensformel in Phlm 21 impliziert zudem, dass kein signifikantes soziales Gefälle zwischen den beiden Briefpartnern besteht.149 Der Adressat Philemon gehört, soweit der an ihn gerichtete Brief erkennen lässt, zum Kreis der Wohlhabenden, da er ein hinreichend großes Haus und die nötigen finanziellen Mittel besitzt, um die Gemeindeversammlung zu beherbergen; möglicherweise besaß er neben Onesimus noch weitere Sklaven (besäße er nur den einen Sklaven, wäre das Ansinnen des Paulus, Onesimus als »Leihgabe« zurückzuerhalten, wohl reichlich unverfroren).150 Hinsichtlich der sozialen Relation zwischen Paulus und Philemon ist zudem zu bedenken, dass ein Sklave der bei einem amicus domini Beistand gegen seinen Herrn suchte, wegen besserer Aussicht auf Erfolg in der Regel »nach oben« floh, d. h. zu einem, der aufgrund eines höheren sozialen Status Einfluss auf seinen eigenen Herrn hatte.151 Dies zeigen die aus der Literatur bekannten Beispiele des Freigelassenen des Sabinianus, der zu Plinius floh (Plin. epist. 9,21), und des Sklaven des Pollio, der bei Au145

So Gnilka, Philemonbrief (HThK) 47. Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 265f. 147 Kann auch als Variante der philophronetischen Formel der Bitte um einen Brief auftreten: γράφε δὲ καί συ πρός με, ὧν ἂν χρείαν ἔχῃς. Ausführlich Kim, Form 89–96. 148 Vgl. Baumert, Freundesbrief 156. 149 Dazu White, Light 206. 150 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 227f.; Arzt, Philemon (PKNT) 81f. (unter Einbeziehung soziologischer Daten zu Sklavenbesitzern, wie sie sich aus den ägyptischen Papyri erheben lassen). Dass Philemon mehr als nur einen Sklaven besessen haben muss, erklärt Ebner, Philemonbrief 402, wohl zurecht mit dem Hinweis: »Im Haushalt des Philemon gibt es nicht nur einen einzigen Sklaven, sonst könnte Paulus nicht insgeheim darauf spekulieren, dass Philemon ihm Onesimus zur Evangeliumsverkündigung überlässt (V. 13f.).« Ähnlich Wengst, Philemon (ThKNT) 28; vorsichtiger dagegen Stuhlmacher, Philemon (EKK) 20. Insgesamt wäre bei der Frage nach dem sozialen Status des Philemon und der Anzahl seiner Sklaven jedoch stärker zu bedenken, dass in Kleinasien der Anteil von Sklaven an der Gesamtbevölkerung in der frühen Kaiserzeit wohl nicht zu hoch war; vgl. Christ, Geschichte 100. 151 Ausführlich dazu Rapske, Prisoner 198–202. 146

4.2 Analyse und Kontextualisierung

141

gustus Beistand suchte (Suet. Aug. 2,17).152 Auch Onesimus dürfte vor seiner »Flucht« klar die Chancen »kalkuliert« haben.153 Die Tatsache, dass er bei Paulus Zuflucht und Beistand suchte (sofern er nicht nur zufällig auf Paulus gestoßen ist; vgl. S. 113ff.) setzt also voraus, dass er sich darüber im Klaren war, dass Paulus mehr war als nur ein »guter Mensch«. Er muss um das besondere Prestige und den Einfluss des Paulus bei seinem Herrn und dessen Hausgemeinde gewusst haben, d. h. er wusste sowohl um die persönliche Beziehung zwischen Paulus und seinem Herrn als auch um die Rolle des Paulus in der christlichen Gemeinde.154 Demnach setzt der Philemonbrief eine Situation voraus, bei der in irgendeiner Form ein soziales Gefälle zwischen Paulus und Philemon besteht, wobei Paulus das eindeutig höhere soziale Prestige zukam.155 Dieses Gefälle wird im Brief durch den betonten Autoritätsverzicht in Phlm 8–9 affirmiert (πολλὴν ἐν Χριστῷ παρρησίαν ἔχων ἐπιτάσσειν σοι τὸ ἀνῆκον διὰ τὴν ἀγάπην μᾶλλον παρακαλῶ). Dabei wird durch ἐν Χριστῷ auf die christliche Gemeinde als soziales Bezugssystem rekurriert, in dem Paulus über Philemon steht.156 Die Autorität, die Paulus für sich in Anspruch nimmt und die ihm seitens des Philemon und seiner Gemeinde auch zuerkannt wird, ist die des Apostels; diese 152

Vgl. unter anderem bei Fitzmyer, Philemon (AB) 20–23. Vgl. Rapske, Prisoner 202f. 154 Dazu insgesamt Rapske, Prisoner 201f. 155 Dagegen meint Reinmuth, Philemon (ThHK) 22f., dass Paulus sich durch seine Gefangenschaft in einer Ausnahmesituation befinde, die einen signifikanten Ehrverlust bedeute und in der Paulus deshalb Philemon gegenüber nicht als sozial Gleichberechtigter auftreten könne. Paulus setze aus diesem Grund gezielt auf das Mitleid des Philemon als argumentativ-rhetorische Strategie und initiiere deshalb schon im Präskript ein Rollenspiel, das dem Philemon ein gnädiges Entgegenkommen dem gefangenen Paulus gegenüber ermöglicht, der durch seine Gefangenschaft auf einer sozialen Stufe mit dem Sklaven Onesimus stünde. Ähnlich auch Lohse, Philemon (KEK) 277f. Dem widerspricht allerdings, dass Paulus in Phlm 8 und 21 sehr wohl voraussetzt, dass er auch in seiner momentanen Situation an Prestige und Autorität dem Philemon überlegen und daher auch zu befehlen berechtigt wäre. Die Situation der Gefangenschaft (sofern sie nicht vielleicht doch nur metaphorisch zu verstehen ist) mag zwar im politisch-rechtlichen Kontext einen Ehrverlust bedeuten, nicht aber im Kontext der Gemeinde, wo sie im Gegenteil einen Zugewinn an Ehre und Prestige bedeutet, weil der Grund der Haft – wie ja von Paulus explizit angegeben wird – kein Verbrechen ist, sondern das Eintreten für das Evangelium, d. h. die religiös-ethischen Überzeugungen der eigenen Gruppe. Paulus weist sich damit als besonders bewährt und damit überlegen aus. Vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 243f. Zu bedenken ist auch, dass im Kontext der zeitgleichen Philosophie eine entsprechende Selbstdarstellung als Autorisierungs- und Legitimierungsstrategie durchaus gebräuchlich war; erinnert sei an Dion von Prusa, der in seinen Schriften/Reden immer wieder als um seiner philosophischen Überzeugung willen vom Kaiser Verbannter auftritt; vgl. Hose, Literaturgeschichte 172–174. Im Hintergrund steht die Figur des verurteilten und hingerichteten Sokrates, wie sie in den Dialogen Platons entworfen wird. 156 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 259; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 41f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 36f.; Hübner, Philemon (HNT) 32f. 153

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4. Der Brief an Philemon

bezeichnet Paulus auch an anderen Stellen mit dem Terminus παρρησία (vgl. 2 Kor 3,12; 7,4; Phil 1,20; 1 Thess 2,2).157 Über seine Stellung in der christlichen Gemeinde hinaus nennt Paulus in Phlm 19 einen »persönlichen« Grund, warum Philemon seiner Autorität verpflichtet ist, nämlich seine Bekehrung und Taufe durch Paulus. Dabei geht es analog zu Phlm 10 um die Autorität des »Vaters« und »Lehrers«, die Paulus gegenüber Philemon in Anspruch nehmen kann.158 Das Autoritätsgefälle zwischen Paulus und Philemon wird zudem in Phlm 21 durch πεποιϑὼς τῇ ὑπακοῇ σου betont.159 Diese innergemeindliche Rollenverteilung wird aber schon in der superscriptio des Philemonbriefes von Paulus bewusst unterlaufen, indem er auf den Titel des ἀπόστολος verzichtet und sich dem Philemon und seiner Gemeinde als δέσμιος χριστοῦ Ἰησοῦ präsentiert. Wenn mit dieser Selbstvorstellung auch nicht einfach ein völliger Autoritätsverzicht verbunden ist (vgl. dazu S. 122), so ermöglicht sie Paulus doch, im Brief vor dem Hintergrund der Rollenerwartung, die Philemon und seine Gemeinde an ihn herantragen (Auftreten als Apostel), ein kontrastierendes Rollenverhalten zu inszenieren (Auftreten als Bittsteller).160 Die Diskrepanz zwischen Rollenerwartung und tatsächlichem Rollenverhalten sowie das Nebeneinander von Autoritätsverzicht und Autoritätsbehauptung im Philemonbrief erklärt sich aus der Briefsituation, die durch die sozialen Relationen zwischen Paulus, Philemon, Onesimus und der Gemeinde definiert ist. Ein Insistieren des Paulus auf seine Autorität würde nicht nur in die Rechte des Philemon als Eigentümer des Onesimus eingreifen, sondern auch die Ehrenstellung und das Prestige des Philemon gefährden, die ihm in seiner Hausgemeinde sowohl wegen seines Vermögens und seines gesellschaftlichen Status als auch wegen seiner Verdienste um die Gemeinde zukommen.161 Umgekehrt würde ein unkommentiertes Auftreten des Paulus als demütiger Bittsteller die Autorität des Paulus als durch tradierte gesellschaftliche Konventionen begrenzt und Paulus als dem Philemon unterlegen erscheinen lassen und damit das Ansehen des Paulus in der Hausgemeinde des Philemon untergraben. Insofern musste Paulus im Philemonbrief einen Modus 157 Vgl. H. Balz, παρρησία κτλ. EWNT 3 (21992) Sp. 105–112, hier Sp. 109f.; H. Schlier, παρρησία κτλ. ThWNT 5 (1954) 869–884, hier 881f. 158 Vgl. dazu Barclay, Paul 171f.; Schnider/Stenger, Studien 56; Wolter, Philemon (ÖTK) 276f. 159 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 278f. Hier kommt Reinmuth, Philemon (ThHK) 52, mit seiner Deutung, dass Paulus den Brief an Philemon im Wissen um seine soziale Unterlegenheit und in tiefer Beschämung über seinen Ehrverlust schreibe, in Schwierigkeiten; um die Deutung aufrecht zu erhalten, muss er die ὑπακοή des Philemon auf Christus beziehen, nicht auf Paulus. Ähnlich auch bei Gnilka, Philemonbrief (HThK) 87f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 52. 160 Näheres dazu bei Wolter, Philemon (ÖTK) 260; vgl. auch Lampe, Philemon (NTD) 212–214; ders., Affects 70f.; Wilson, Pragmatics 115–117. 161 Ähnliche Überlegungen bei Lampe, Affects 71f.

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4.2 Analyse und Kontextualisierung

der Kommunikation finden, der vor der Öffentlichkeit der Gemeinde seiner eigenen Ehre ebenso Rechnung trug wie der Ehre des Philemon (vgl. dazu auch S. 118).162 1. christliche Gemeinde (ἐν κυρίῳ) παρρησία ἐπιτάσσειν ὑπακοή

Paulus ἀδελφὸς ἀγαπητός συνεργός Philemon

2. griech.-röm. Gesellschaft (ἐν σαρκί) χωρὶς τῆς σῆς γνώμης

Philemon δοῦλος Onesimus

Normenkonflikt durch konkurrierende soziale Bezugssysteme (1)

Das zentrale Problem für Paulus bestand darin, dass im Fall des Sklaven Onesimus zwei soziale Bezugssysteme – das religiöse (ἐν κυρίῳ) und das häusliche (ἐν σαρκί) – mit ihren jeweiligen Verhaltensnormen in Konflikt geraten. Die beiden sozialen Ordnungssysteme mit ihren eindeutigen Statuszuweisungen für Paulus, Philemon und Onesimus existierten zunächst nebeneinander, ohne miteinander zu interferieren. Im religiösen Bereich wusste Philemon sich der Autorität des Paulus untergeordnet, im häuslichen der Sklave Onesimus seinem Herrn Philemon. Die beiden sozialen Ordnungssysteme kollidierten, als der Sklave Onesimus im häuslichen Bereich durch sein eigenes Verschulden eine Strafe seines Herrn zu befürchten hatte, gleichzeitig aber in eine neue Beziehung zu Paulus trat.163 Seit der Bekehrung und Taufe des Onesimus durch Paulus standen Herr und Sklave in der Gemeinde und in ihrem Verhältnis zu Paulus plötzlich auf derselben Stufe, ohne dass sich dadurch ihre aus der hellenistisch-römischen Welt ererbte Relation im Haus geändert hatte. Gleichzeitig musste Paulus sich für das Wohlergehen seines »Kindes« Onesimus, das er »gezeugt« hatte, verantwortlich wissen. Damit ergab sich für Paulus das Dilemma, ob er zugunsten seines Kindes Onesimus seine Autorität ἐν κυρίῳ auch ἐν σαρκί ausspielen darf, oder umgekehrt, ob er mit Hinweis auf die Normen ἐν σαρκί von seiner Verantwortung gegen Onesimus ἐν κυρίῳ absehen durfte. Die Ehre des Philemon verbietet es Paulus, ihm unmittelbar zu befehlen; die eigene Ehre wiederum verbietet es Paulus, seine eigene Autorität nicht zugunsten des Onesimus einzusetzen.164 Im Hauptteil des Corpus des Phi162

Vgl. dazu auch Muir, Life 62. Ausführlich dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 256–258. 164 Die Intervention des Paulus zugunsten des Onesimus fällt nach Wilson, Pragmatics 108–110, unter sogenannte Face Threatening Acts (FTA). »We might therefore expect Paul to take paticular care to mitigate any FTAs with politeness strategies to reduce the apparent cost to Philemon in both face and material terms, in order to avoid damaging his standing within the Christian community at Colossae [Wilson nimmt mit der Mehrheit der Ausleger hier den Wohnort des Philemon an; vgl. S. 110f.]« (ebd. 109f.). 163

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4. Der Brief an Philemon

lemonbriefes (Phlm 8–20) bemühte sich Paulus deshalb das diffizile soziale Gefüge zwischen ihm, Philemon und Onesimus mit seinen konkurrierenden Über- und Unterordnung zu respektieren, zugleich aber musste er Philemon eine freiwillige Anerkennung seiner Autorität ermöglichen, die für jenen vor seiner Gemeinde keinen Ehr- und Gesichtsverlust bedeutete.165 4.2.5 Vergleich mit literarischen Briefen und Papyrusbriefen Einen guten Eindruck von den Briefen der beinahe Ungebildeten der unteren sozialen Schichten (Illiteraten), die einen Großteil der Papyrusbriefe ausmachen, bietet der Brief eines gewissen Antonius an seinen Bruder Apuleius und seine Schwägerin Valerias (P.Mich. III 201 [95 n. Chr.]) mit seinen zahlreichen Fehlern in Orthographie und Syntax sowie einigen auffälligen Irregularitäten im Briefformular (obwohl es sich um einen Privatbrief an Familienangehörige handelt, fehlt der Schlussgruß; dafür steht die in Privatbriefen an sich ungebräuchliche Datumsangabe; Text auf S. 406).166 Ähnliche Auffälligkeiten zeigt der »Erpresserbrief« des Knaben Theon an seinen Vater Theon (P.Oxy. I 119 [2./3. Jh. n. Chr.]).167 Mit derartigen Briefen lässt sich – wie nach den vorausgehenden Erwägungen deutlich geworden sein dürfte – der Philemonbrief hinsichtlich Sprache und Stil nicht vergleichen. Unter den Papyrusbriefen finden sich aber durchaus auch solche, die nicht schlicht und unbeholfen sind, deren Absender (Verfasser) also über Bildung und literarische Übung verfügten. Zu nennen wäre hier der längere Brief des Ammonios an Apollonios, den Sohn des Apollo (P.Oxy. XLII 3057 [1./2. Jh. n. Chr.]).168 Ein weiteres Beispiel wäre ein sprachlich und stilistisch äußerst eleganter Brief aus der Korrespondenz von zwei Mitgliedern der ägyptischen Oberschicht, nämlich des Priesters Philosarapis an Apion, den Gymnasiarchen und ehemaligen Strategen von Antiopolis (P.Oxy. XIV 1664 [= SP I 148; 3. Jh. n. Chr.]).169 Für den Vergleich des Philemonbriefes mit echten Empfehlungsschreiben, die sich auf Papyrus erhalten haben, kommen demnach nur solche in Betracht, die eindeutig von Mitgliedern der ägyptischen Oberschicht, d. h. von Personen aus der Schicht der Gebildeten, stammen und deshalb eine gewisse sprachlich-stilistische Eleganz und Gewandtheit erwarten lassen. (1) Eindeutig in den Kontext der gebildeten Oberschicht Ägyptens gehört das Empfehlungsschreiben des Apollonios für Isidor, ein Mitglied seines Haus165

Zur Bedeutung des sozialen Gefüges zwischen den Hauptpersonen mit den konkurrierenden Über- und Unterordnungen für die Argumentation im Hauptteil des Philemonbriefes vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 39; Wolter, Philemon (ÖTK) 256; Gerber, Paulus 208f. 166 Text mit englischer Übersetzung und Kommentar bei White, Light 156 [Nr. 100]. 167 Text mit Übersetzung und Kommentar bei Deißmann, Licht 168–171. 168 Der Text des Briefes mit Übersetzung bei Arzt, Philemon (PKNT) 61–63. 169 Text des Briefes mit Übersetzung und ausführlicher sprachlich-stilistischer Analyse bei Döllstädt, Papyrusprivatbriefe 12–27.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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halts (οἶκος), an den Strategen und Gymnasiarchen Sarapion (P.Mert. II 62 [6 n. Chr.]); denn das hohe Verwaltungsamt eines Strategen und die Ehrenstellung eines Gymnasiarchen wurden in Ägypten von den Mitgliedern der griechischen Oberschicht bekleidet.170 Ἀπολλώνιος Σαραπίωνι τῷ στρατηγῷ καὶ γυμνασιράχῳ πλεῖστα χαίρειν καὶ διὰ παντὸς ὑγιαίνειν. (a) Ἰσίδωρος ὁ φέρων σοι τὴν ἐπιστολὴν ἔστιν μου ἐκ τῆς οἰκίας. (b) ἐρωτηϑεὶς ἔχε αὐτὸν συνεσταμένον, καὶ ὑπὲρ ὧν ἐάν σοι προσέλϑῃ, εἰς τὴν ἐμὴν καταλογὴν πoίησον αὐτῷ. (c) τοῦτο δὲ ποήσας ἔσῃ μοι κεχαρισμένος. καὶ σὺ δὲ περὶ ὧν ἐὰν αἵρῃ σήμανον, καὶ ἀνόκνως ποιήσω πρὸς αὐτῶν ὅμοια. ἐπιμέλου σεαυτοῦ ἵν᾽ ὑγιαίνῃς. ἔρρωσο.171

Das kurze, wenig originelle Empfehlungsschreiben folgt in seinem Grundduktus weitgehend dem Mustertext im Handbuch des Ps.-Demetrios und bietet auch sprachlich und stilistisch keine signifikanten Auffälligkeiten (Text des Briefmusters zitiert auf S. 136; die Buchstaben a, b, c beziehen sich auf das dort angegebene und ausgeführte Strukturmuster). (2) Aus dem Kontext der ägyptischen Oberschicht stammt auch das von einem professionellen Schreiber niedergeschriebene Empfehlungsschreiben des Theon für seinen Bruder Herakleides, einen hohen Verwaltungsbeamten (βασιλικὸς γραμματεύς)172 in Ägypten (P.Oxy. II 292 [= SP I 106; 25 n. Chr.]). Θέων Τυράννῳ τῷ τιμιωτάτῳ πλεῖστα χαίρειν. (a) Ἡρακλείδης ὁ ἀποδιδούς σοι τὴν ἐπιστολήν ἐστιν μου ἀδελφός· (b) διὸ παρακαλῶ σε μετὰ πάσης δυνάμεως ἔχειν αὐτὸν συνεσταμένον. ἠρώτησα δὲ καὶ Ἑρμίαν τὸν ἀδελφὸν διὰ γραπτοῦ ἀνηγεῖσϑαί σοι περὶ τούτου. (c) χαρίεσαι δέ μοι τὰ μέγιστα ἐάν σου τῆς ἐπισημασίας τύχῃ. πρὸ δὲ πάντων ὑγιαίνειν σε εὔχομαι ἀβασκάντως τὰ ἄριστα πράττων. ἔρρωσο.173

Auch dieses Empfehlungsschreiben folgt in seinem Grundduktus dem Mustertext des Ps.-Demetrios. Wie im Philemonbrief ist auch in diesem Brief die Bit170 Zum Amt des Strategen in der ägyptischen Verwaltung vgl. Rupprecht, Papyruskunde 55; Preisigke, Wb.Pap. 3, 158–164; zum Gymnasiarchen vgl. Rupprecht, Papyruskunde 55f.; Preisigke, Wb.Pap. 3, 105f. 171 Zitiert nach White, Light 117 [Nr. 77]; hier auch eine englische Übersetzung und ein kurzer Kommentar. 172 Dies gilt, insofern der Absender Theon mit dem Verfasser von P.Oxy. IV 746 (16 n. Chr.) identisch ist, einem Empfehlungsschreiben an den als »Bruder« angesprochenen βασιλικὸς γραμματεύς Herakleides in den Gauen Oxyrhynchites und Kynopolites (diese Amtsbezeichnung nennt die Außenadresse des Briefes). Für die Identität spricht, dass beide Briefe offensichtlich vom selben professionellen Schreiber geschrieben wurden. Vgl. White, Light 118 [Nr. 78]; außerdem Olsson, Papyrusbriefe 62f. [Nr. 15]. Zum Amt des βασιλικὸς γραμματεύς in Ägypten vgl. Preisigke, Wb.Pap. 3, 101–103; Rupprecht, Papyruskunde 45f.; zur Gaueinteilung in Ägypten ebd. 44f. 173 Griechischer Text bei White, Light 118f. [Nr. 79]; hier auch eine englische Übersetzung und ein kurzer Kommentar; Text mit deutscher Übersetzung und kurzem Kommentar auch bei Olsson, Papyrusbriefe 68–70 [Nr. 18]; Schubart, Jahrtausend 50 [Nr. 41].

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4. Der Brief an Philemon

te um Beistand für den Empfohlenen mit παρακαλῶ eingeleitet.174 Insgesamt unterscheiden sich die beiden zitierten Empfehlungsschreiben in ihrer Kürze und stereotypen Formelhaftigkeit auffällig vom Philemonbrief.175 (3) Als Kontrast zu den beiden Empfehlungsschreiben von und an Mitglieder der ägyptischen Oberschicht sei der in Sprache, Stil und Orthographie primitive Empfehlungsbrief des ägyptischen Papas Koar, des christlichen Dorfpriesters von Hermupolis, zitiert, mit dem dieser bei dem Offizier Flavius Abinnaios (P.Lond. II 417 [= WChr. 129/SP I 161; ca. 346 n. Chr.]) für den desertierten Soldaten Paulos eintritt, der, nachdem er sich längere Zeit herumgetrieben hat, wieder zu seiner Garnison zurückkehren möchte.176 τῷ δεσπότη μου καὶ ἀγαπητῶ ἀδελφῶ Ἀβιννέω πραι [= πραιποσίτῳ, von lat. praepositus] Κάορ πάπας Ἑρμουπόλεως χαίρειν. ἀσπάζομαι τὰ πεδία σου πολλά. γινόσκιν σε ϑέλω, κύριε, περὶ Παύλω τοῦ στρατιότη περὶ τῆς φυγῆς, συνχωρῆσε αὐτοῦ τοῦτω τὸ ἅβαξ, ἐπειδὴ ἀσχολῶ ἐλϑῖν προς σὲν αὐτεημερέ. καὶ πάλειν, ἂμ μὴ παύσεται, ἔρχεται εἰς τὰς χειρὰς σου ἄλλω ἅβαξ. ἐρρῶσϑαί σε εὔχομαι πολλοῖς χρόνοις, κύριε μου ἀδελφέ.177

Ähnlich wie Paulus im Philemonbrief beginnt auch der Papas Koar mit einer philophronetischen Aussage, indem er auf eine bestehende Beziehung zwischen sich und dem Adressaten rekurriert; denn im ausdrücklichen Gruß an die Kinder des Adressaten soll sich in der Corpuseröffnung des Briefes sowohl die Vertrautheit des Absenders mit dem Adressaten und seinen Familienverhältnissen ausdrücken als auch die wohlwollende Sorge um ihn und seine Angehörigen. Dadurch soll beim Adressaten Wohlgestimmtheit erzeugt und die Basis für die Bitte um gnädige Wiederaufnahme des Deserteurs geschaffen werde. Und wiederum ähnlich wie Paulus im Fall des Onesimus verweist der Papas Koar auf die vollzogene Verwandlung dessen, den er empfiehlt. Wegen 174

Vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 59. Weitere Beispiele für antike Empfehlungsschreiben unter den ägyptischen Papyri bei Olsson, Papyrusbriefe 62f. [Nr. 15 und 16], jeweils Text mit Kommentar: P.Oxy. IV 746 (16 n. Chr.), an den schon genannten Ἡρακλείδης, einen βασιλικὸς γραμματεύς in Oxyrhynchos und Kynopolis, also aus dem Kontext der Oberschicht; P.Oxy. IV 787 (16 n. Chr.); beide ebenfalls formelhaft, kurz und nahe am Mustertext bei Ps.-Demetrios. Dasselbe gilt auch für ältere im Original erhaltene Empfehlungs- bzw. Begleitschreiben, wie z. B. folgende Briefe aus dem Briefarchiv des Zenon: P.Lond. VII 2026 (Mitte 3. Jh. v. Chr.), P.Lond. VII 2027 (Mitte 3. Jh. v. Chr.), P.Cair.Zen. II 59192 (= SB III 6817/SP I 92; 255 v. Chr.); eine englische Übersetzung mit Kommentar bei Muir, Life 58–60. Diese älteren Textbeispiele belegen, dass der Mustertext bei Ps.-Demetrios also letztlich nichts anderes ist als die schematisierte Wiedergabe des in der Praxis schon lange üblichen und bewährten Formulars. 176 Zu πάπας als Bezeichnung eines Funktionsträgers im christlichen Kult vgl. Preisigke, Wb.Pap. 3, 404. 177 Text als Faksimile mit Umschrift sowie Übersetzung und Kommentar bei Deißmann, Licht 183–188 (die Orthographie folgt der hier abgedruckten Umschrift); vgl. zum Brief auch Stuhlmacher, Philemon (EKK) 25f.; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 11f. 175

4.2 Analyse und Kontextualisierung

147

dieser Vergleichbarkeit der Briefsituation fallen beim Brief des Papas Koar die sprachlichen und stilistischen Unterschiede zum Philemonbrief umso deutlicher auf (selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Brief dreihundert Jahre jünger ist und damit eine spätere Stufe des Griechischen repräsentiert).178 Insgesamt ist das in den Texten aufscheinende Bildungsgefälle zwischen dem Papas Koar und dem Verfasser des Philemonbriefes eklatant. Einige Empfehlungsschreiben finden sich auch unter den literarisch überlieferten Briefen, darunter authentische, vor allem aber fiktive, d. h. pseudepigraphe. Die meisten von ihnen zeigen, nicht anders als die Beispiele aus den Papyrusbriefen, eine gewisse Nähe zum Briefmuster in den τύποι έπιστολικοί des Ps.-Demetrios, so z. B. das Empfehlungsschreiben des Königs Phraotes an den Lehrer Iarchas für Apollonios von Tyana (1. Jh. n. Chr.)179, ein Empfehlungsschreiben des Aischines für Aristos an Philokrates (2. Jh. n. Chr.)180 oder das Empfehlungsschreiben des Chion von Herakleia an seine eigene Mutter für Archepolis Lemnios (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.)181.182 Unter den pseudepigraphen Briefen des Diogenes findet sich ein originelles und witziges Empfehlungsschreiben für den Philosophen Menodoros an Apolexis (1. Jh. v. Chr./3. Jh. n. Chr.). Der Brief, den Diogenes auf Bitten der Jugend von Megara verfasst haben soll, empfiehlt Menodoros mit dem Hinweis, dass ein solches Empfehlungsschreiben grundsätzlich unnötig ist, da man den wahren Philosophen an seinem Leben und an seiner Rede erkennen kann und der Eifrige (σπουδαῖος) sich selbst empfiehlt (also eine paradoxe Empfehlung durch den Hinweis auf die Unnötigkeit eines Empfehlungsschreibens).183 Beispiele für Empfehlungsschreiben finden sich auch unter den Platonbriefen und den Sokratikerbriefen. (4) Hier sei das Empfehlungsschreiben des Dion von Prusa (gest. nach 111 n. Chr.) für Herennios an Musonios Rufus zitiert, da es sich in einigen Punkten inhaltlich mit dem nur wenige Jahrzehnte älteren Philemonbrief vergleichen lässt (wie bei vielen literarisch überlieferten Briefen fehlen hier Prä- und Postskript). 178 Eine gewisse motivliche Nähe zwischen dem Philemonbrief und dem Brief des Papas Koar ist gewiss nicht zu leugnen; doch sollte man diese nicht so zu erklären versuchen, in beiden Texten spiegle sich dieselbe ungekünstelte Art des Ungebildeten (oder besser Unverbildeten), aufrichtige Briefe zu schreiben, in denen er sein echtes religiös-menschliches Empfinden ohne Heuchelei und ohne Haschen nach dem künstlerischen Effekt zum Ausdruck bringt. Da der Brief des Papas Koar deutlich jünger ist und zudem einem christlichen Hintergrund entstammt, wäre eher zu überlegen, ob dieser Brief nicht als die sprachlich-stilistisch unbeholfene Nachahmung des Philemonbriefes durch einen mäßig gebildeten christlichen Amtsträger angesehen werden muss. 179 Text bei Hercher, Epistolographi 128 [Apollonios Nr. CVII]. 180 Text bei Hercher, Epistolographi 37 [Aischines Nr. VI]. 181 Text bei Hercher, Epistolographi 199 [Chion Nr. VIII]. 182 Ähnliches gilt für die zahlreichen Empfehlungsschreiben im Corpus der Briefe Ciceros, z. B. fam. 13,2 und 13,49; vgl. dazu Rees, Recommendation 151–156. 183 Text bei Hercher, Epistolographi 239f. [Diogenes Nr. XVIII].

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4. Der Brief an Philemon

Ἑρέννιον τὸν ἐμὸν ἑταῖρον φϑάνεις μὲν ἐπιστάμενος, οὔπω δὲ ἱκανῶς, ὅσον ἐγὼ βούλομαι. οὐδὲ γὰρ νῦν ἂν δυναίμην ἴσως εἰπεῖν ἅπαντα τὰ προσόντα αὐτῷ· τοσαῦτα μέντοι ἄξιον αὐτὸν μαρτυρῆσαι ὡς καὶ γέγονεν ἡμῖν ἐκ πλείονος φίλος καὶ ὅσα πεῖραν ἤδη τῷ χρόνῳ δέδωκε. καὶ περὶ τοὺς λόγους πρότερον μὲν ἐζήλωσε, νῦν δὲ καὶ ὑπερεβάλετο. ἔστι γὰρ ῥήτωρ ἀγαϑός, ἔτι δ᾽ ἂν γένοιτο βελτίων σοὶ συνὼν καὶ ὑπὸ σοῦ προαγόμενος. σὺ δέ μοι τὰ πολλὰ περὶ πολλὼν χαριζόμενος ἐν τοῖς μάλιστα ἂν χαρίζοιο καὶ Ἑρέννιον σαυτοῦ νομίζων.184

Wie beim Philemonbrief kennt der Adressat des Briefes den Empfohlenen bereits von früher (findet sich öfter bei Empfehlungsbriefen; vgl. S. 138); und wie beim Philemonbrief werden der frühere und der jetzige Zustand des Empfohlenen miteinander verglichen (πρότερον/νῦν). Vor diesem Hintergrund soll, wieder ganz ähnlich dem Philemonbrief, ein neues Verhältnis zwischen Absender, Adressat und Empfohlenen begründet werden. Gemeinsam ist beiden Briefen auch ein freier und »kreativer« Umgang mit dem Briefmuster des Empfehlungsbriefes, wie es von Ps.-Demetrios in den τύποι ἐπιστολικοί überliefert ist und nach Evidenz der Papyrusbriefe in der Praxis durchaus Anwendung fand. Im Blick auf diesen kleinen Empfehlungsbrief des Dion einerseits und die beiden oben zitierten Empfehlungsbriefe von Mitgliedern der Oberschicht (Punkt 1 und 2) andererseits stellt sich in der Tat die Frage, wie weit man den Philemonbrief von den literarischen Briefen abrücken kann und darf.185 Jedenfalls scheint es nicht ganz unberechtigt, dem Philemonbrief eine gewisse Eleganz und literarische Qualität zuzugestehen (vgl. dazu das auf S. 118 zitierte Urteil von Detlev Dormeyer). (5) Als weiteres Beispiel für einen literarisch überlieferten Empfehlungsbrief, der sich hinsichtlich seiner Motive und seiner Gestaltung mit dem Philemonbrief und dem eben zitierten Empfehlungsbrief des Dion von Prusa vergleichen lässt, ließe sich der (möglicherweise authentische) Brief des Isokrates (gest. 338 v. Chr.) nennen, mit dem er seinen Schüler Diodotos und dessen Sohn dem makedonischen Feldherren Antipater (398–319) empfiehlt (epist. 4; vgl. auch S. 21).186 Der Brief, der deutlich länger ist als der Brief des Dion von Prusa und der Philemonbrief, unterscheidet sich ebenso wie diese beiden Briefe von den auf Papyrus erhaltenen Empfehlungsschreiben nicht nur durch seine Länge, sondern auch durch seinen Stil. Auch bei diesem Brief handelt es sich um einer Art »nachgereichte« Empfehlung, da der Empfohlene dem 184

Text bei Hercher, Epistolographi 259 [Dion Nr. II]; Text auch LCL. Eine ähnliches Ergebnis bei Stowers, Letter Writing 156, ausgehend von den Empfehlungen in Röm 16,1–2; Phil 2,25–30; 4,2–3; 1 Kor 16,15–16.17–18; 1 Thess 5,12–13: »Although Paul employs language and certain formal features that parallel the rather schematized papyrus letters, his freedom in writing introductions, commendations, and intercessions makes him better resemble the generally more educated writers of literarily transmitted letters.« 186 Text bei Hercher, Epistolographi 325–327 [Isocrates Nr. IV]; identisch mit dem Text in LCL 373; englische Übersetzung (Auszug) mit Kommentar bei Muir, Life 57f.; zu den Briefen des Isokrates und der Frage ihrer Authentizität vgl. auch Lesky, Geschichte 659. 185

4.2 Analyse und Kontextualisierung

149

Adressaten bereits bekannt ist. Zur Illustration seien hier nur die entscheidenden Passagen aus der Empfehlung für Diodotos und das Ende des Briefes zitiert (wie bei den meisten literarisch überlieferten Briefen fehlen auch in diesem Brief Präskript und Postskript): 1 ἐγὼ, καίπερ ἐπικινδύνου παρ’ ἡμῖν ὄντος εἰς Μακεδονίαν πέμπειν ἐπιστολὴν, οὐ μόνον νῦν ὅτε πολεμοῦμεν πρὸς ὑμᾶς, ἀλλὰ καὶ τῆς εἰρήνης οὔσης, ὅμως γράψαι πρὸς σὲ προειλόμην περὶ Διοδότου, δίκαιον εἶναι νομίζων ἅπαντας μὲν περὶ πολλοῦ ποιεῖσϑαι τοὺς ἐμαυτῷ πεπλησιακότας καὶ γεγενημένους ἀξίους ἡμῶν, οὐχ ἥκιστα δὲ τοῦτον καὶ διὰ τὴν εὔνοιαν τὴν εἰς ἡμᾶς καὶ διὰ τὴν ἄλλην ἐπιείκειαν. 2 μάλιστα μὲν οὖν ἐβουλόμην ἂν αὐτὸν συσταϑῆναί σοι δι’ ἡμῶν· ἐπειδὴ δὲ δι’ ἑτέρων ἐντετύχηκέ σοι, λοιπόν ἐστί μοι μαρτυρῆσαι περὶ αὐτοῦ καὶ βεβαιῶσαι τὴν γεγενημένην αὐτῷ πρὸς σὲ γνῶσιν. ἐμοὶ γὰρ πολλῶν καὶ παντοδαπῶν συγγεγενημένων ἀνδρῶν καὶ δόξας ἐνίων μεγάλας ἐχόντων, τῶν μὲν ἄλλων ἁπάντων οἱ μέν τινες περὶ αὐτὸν τὸν λόγον, οἱ δὲ περὶ τὸ διανοηϑῆναι καὶ πρᾶξαι δεινοὶ γεγόνασιν, οἱ δ’ ἐπὶ μὲν τοῦ βίου σώφρονες καὶ χαρίεντες, πρὸς δὲ τὰς ἄλλας χρήσεις καὶ διαγωγὰς ἀφυεῖς παντάπασιν· 3 οὗτος δ’ οὕτως εὐάρμοστον τὴν φύσιν ἔσχηκεν ὥστ’ ἐν ἅπασι τοῖς εἰρημένοις τελειότατος εἶναι. καὶ ταῦτ’ οὐκ ἂν ἐτόλμων λέγειν εἰ μὴ … 8 … oὐ μὴν ἀλλ’ ἐπειδὴ συνέστηκέ σοι, καλῶς ποιεῖ. 9 λογίζομαι γὰρ αὐτῷ συνοίσειν, μάλιστα μὲν τῇ φιλανϑρωπίᾳ τῇ σῇ στοχαζόμενος, ἣν ἔχειν ὑπείληψαι παρὰ τοῖς ἔξωϑεν ἀνϑρώποις, ἔπειτα νομίζων οὐκ ἀγνοεῖν ὑμᾶς ὅτι πάντων ἥδιστόν ἐστι καὶ λυσιτελέστατον πιστοὺς ἅμα καὶ χρησίμους φίλους κτᾶσϑαι ταῖς εὐεργεσίαις καὶ τοὺς τοιούτους εὖ ποιεῖν, ὑπὲρ ὧν πολλοὶ καὶ τῶν ἄλλων ὑμῖν χάριν ἕξουσιν. ἅπαντες γὰρ οἱ χαρίεντες τοὺς τοῖς σπουδαίοις τῶν ἀνδρῶν καλῶς ὁμιλοῦντας ὁμοίως ἐπαινοῦσι καὶ τιμῶσιν ὥσπερ αὐτοὶ τῶν ὠφελειῶν ἀπολαύοντες. … 13 καὶ μὴ ϑαυμάσῃς μήτ’ εἰ μακροτέραν γέγραφα τὴν ἐπιστολὴν, μήτ’ εἴ τι περιεργότερον καὶ πρεσβυτικώτερον εἰρήκαμεν ἐν αὐτῇ· πάντων γὰρ τῶν ἄλλων ἀμελήσας ἑνὸς μόνον ἐφρόντισα, τοῦ φανῆναι σπουδάζων ὑπὲρ ἀνδρῶν φίλων καὶ προσφιλεστάτων μοι γεγενημένων.

Der Appell an den Adressaten wird am Ende des Briefes durch eine Selbstempfehlung des Absenders verstärkt, die im pointierten Understatement die literarische Qualität des Empfehlungsschreibens hervorhebt. Darin zeigt sich, dass der Absender Isokrates den Brief mit dem Ziel stilistischer Schönheit und Vollkommenheit komponiert hat, so dass er von seinem Adressaten Antipater als literarisches Geschenk und damit gleichsam als Gegengabe für seine den beiden Empfohlenen erwiesene Gunst empfunden werden konnte187. Diesen Aspekt sollte man durchaus auch für den sorgfältig konstruierten Brief des Paulus an Philemon in Betracht ziehen. (6) Als letztes Beispiel aus dem Bereich der literarischen Briefe sei ein Brief des jüngeren Plinius zitiert (epist. 9,21), der ob der vergleichbaren Briefsituati187 Entsprechend hebt auch Thraede, Brieftopik 30, hervor: »… wenn ein Brief δῶρον πέμπεται … dürfen feine Stilisierung und anspruchsvoller Stoff ebenso ›philophronetisch‹ heißen wie ein zweckgebundenes ἄτεχνον, je nachdem wie der Empfänger das versteht und goutiert« (mit Bezug auf Ps.-Demetrios περὶ ἑρμενείας 224).

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4. Der Brief an Philemon

on in der Forschung immer wieder als Vergleichstext zum Philemonbrief angegeben wird (wobei ein ausführlicher Textvergleich, der durchaus lohnenswert wäre, aber noch aussteht).188 C. Plinius Sabiniano suo s. 1 Libertus tuus, cui suscensere te dixeras, venit ad me advolutusque pedibus meis tamquam tuis haesit. Flevit multum, multum rogavit, multum etiam tacuit, in summa fecit mihi fidem paenitentiae verae: credo emendatum quia deliquisse se sentit. 2 Irasceris, scio, et irasceris merito, id quoque scio; sed tunc praecipua mansuetudinis laus, cum irae causa iustissima est. 3 Amasti hominem et, spero, amabis: interim sufficit ut exorari te sinas. Licebit rursus irasci, si meruerit, quod exoratus excusatius facies. Remitte aliquid adulescentiae ipsius, remitte lacrimis, remitte indulgentiae tuae. Ne torseris illum, ne torseris etiam te; torqueris enim cum tam lenis irasceris. 4 Vereor ne videar non rogare sed cogere, si precibus eius meas iunxero; iungam tamen tanto plenius et effusius, quanto ipsum acrius severiusque corripui, destricte minatus numquam me postea rogaturum. Hoc illi, quem terreri oportebat, tibi non idem; nam fortasse iterum rogabo, impetrabo iterum: sit modo tale, ut rogare me, ut praestare te deceat. Vale.

Wenn der Brief an Sabinianus und der Philemonbrief auch eine vergleichbare Situation skizzieren, so dürfen dennoch einige wesentliche Unterschiede nicht übersehen werden. Im Brief an Sabinianus handelt es sich um einen Freigelassenen (libertus), nicht um einen Sklaven (servus); dieser ist außerdem nicht entlaufen, sondern wurde von seinem patronus Sabinianus wegen eines nicht näher bezeichneten Vergehens aus dem Haus geworfen.189 In dieser Situation bittet der Freigelassene Plinius um Fürsprache, damit er wieder in das Haus seines patronus aufgenommen wird; mit dem zitierten Brief kam Plinius dieser Bitte nach. Gemeinsam ist dem Brief an Sabinianus und dem Philemonbrief die Bitte an den »Herrn« um Milde sowie der Hinweis auf eine grundlegende Änderung der Gesinnung bzw. der Persönlichkeit des Delinquenten, die den »Herrn« zu einer Änderung seiner Haltung ihm gegenüber motivieren soll.190 Allerdings wird im Brief an Sabinianus keine neue soziale Relation zwischen libertus und patronus anvisiert und es fehlt das für den Philemonbrief charakteristische Neben- und Ineinander zweier konkurrierender sozialer Ordnungssysteme. Nichtsdestotrotz lässt aber auch der Brief an Sabinianus erkennen, dass die Bitte des Plinius einen für den Fürsprecher äußerst diffizilen Eingriff in das soziale Gefüge zwischen den drei Personen bedeutet (vgl. in 4: vereor ne videar non rogare sed cogere), da dem patronus ein Rechtsverzicht abverlangt werden muss. Auch fehlt dem Brief des Plinius die von Familie und Intimität 188

Text des Briefes nach R. A. B. Mynors (OCT); vgl. Literaturverzeichnis; Kommentar zu Plin. epist. 9,21 bei Sherwin-White, Letters; vgl. auch Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 159f. 189 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 230f.; Wengst, Philemon (ThKNT) 75–78. 190 Vgl. Suhl, Philemonbrief (ZBK) 23f.; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 10f.; Church, Rhetorical Structure 31f.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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geprägte Bildersprache des Philemonbriefes.191 Vielleicht aber darf man – auch wenn hier letztlich ein griechischer und ein lateinischer Brief miteinander verglichen werden – trotzdem von einer gewissen stilistischen Nähe des Philemonbriefes zu Plinius epist. 9,21 sprechen.192 Wie epist. 9,24 erkennen lässt, hatte Plinius Erfolg mit seiner Fürsprache; dafür, ob auch Paulus Erfolg hatte, fehlen die Möglichkeiten einer historischen Überprüfung.193 4.2.6 Elemente der Rhetorik Vorbemerkung: Die Frage nach dem Einfluss der Rhetorik im Philemonbrief konzentriert sich auf zwei Aspekte, die Kunst der Ethopoiie und die rhetorische Argumentationstechniken. Die Frage nach der Ethopoiie im Philemonbrief verdient deshalb Aufmerksamkeit, weil der Brief unter diesem Aspekt in der Kaiserzeit zu den Progymnasmata des Rhetorikunterrichts gehörte (vgl. dazu S. 26). Die Frage nach den rhetorischen Argumentationstechniken hat ihre Berechtigung darin, dass im kaiserzeitlichen Rhetorikunterricht mit der Topos-Lehre (τόποι/loci) und der Status-Lehre (στάσεις/status) ein ausgefeiltes System zur Präzisierung der Problemstellung und für die Auffindung von zweckdienlichen Argumenten und Beweisen gelehrt und eingeübt wurden, mit deren Einfluss deshalb auch in anderen Texten zu rechnen ist, zumindest, wenn ihr Verfasser eine grundlegende rhetorische Schulung erhalten hatte.194 Ethopoiie und Argumentation gehören dabei inhaltlich zusammen, da nach der rhetorischen Lehre Person und Charakter des Redners ebenso wie der Charakter seines Gegners und anderer beteiligter Personen vielversprechende »Orte« (loci bzw. τόποι) für die Auffindung hilfreicher und überzeugender Argumente sind. Auf die Behandlung der Frage, inwiefern sich das Corpus des Philemonbriefes nach dem Teilen der Rede gliedern lässt, kann verzichtet werden, da aufgrund der Kürze des Philemonbriefes eine weitergehende Unterteilung des Corpus als in Proömium, Hauptteil und Epilog kaum sinnvoll und berechtigt scheint (zur Problematik solcher Gliederungen auch S. 102).195

191

Dazu Frilingos, Onesimus 91f. So Broer, Einleitung 405. 193 Gegen Stuhlmacher, Philemon (EKK) 52–54, der meint, aus dem deuteropaulinischen Kolosserbrief (4,7–9) die freundliche Wiederaufnahme und Freilassung des Philemon ableiten zu dürfen. Ob dem Verfasser des Kolosserbriefes jedoch zuverlässige Personaltraditionen über Onesimus vorlagen, lässt sich nicht nachprüfen. 194 Ausführlich zur Status-Lehre vgl. Lausberg, Handbuch §§ 139–254; Fuhrmann, Rhetorik 99–113; Andersen, Rhetorik 162–164; Ueding, Rhetorik 40f.; zur Topos-Lehre vgl. Lausberg, Handbuch §§ 373–399; Andersen, Rhetorik 156–162; Ueding, Rhetorik 57–65; UEding/Steinbrink, Grundriß 239–258. 195 Weiter kommt letztlich auch Gnilka, Philemonbrief (HThK) 7–9, nicht, der – ähnlich wie Betz für den Galaterbrief – in der Gerichtsrede das Modell für die Analyse und das Verständnis des Philemonbriefes sieht. 192

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4. Der Brief an Philemon

A. Ethopoiie: Im Dienste seiner Argumentation muss Paulus seinen Adressaten nicht nur seinen eigenen Charakter (ἦϑος) möglichst wirkungsvoll präsentieren, sondern muss zudem auf eine dem Anliegen des Briefes förderliche Darstellung der Charaktere des Philemon und des Onesimus achten. In der Tat gelingt es Paulus, in dem kurzen Brief auf minimalem Raum mit relativ einfachen Mitteln drei Charakterskizzen bzw. Portraits zu entwerfen, die dennoch in der Lage sind, den größtmöglichen Eindruck zu erzielen. (1) Paulus: Das ἦϑος des Redners galt in der antiken Rhetorik als das stärkste unter den Überzeugungsmitteln (πίστεις) der Rede (vgl. Aristot. rhet. 1,2,3–4 [1355b–1356a]).196 Es gehört zu den πίστεις ἔντεχνοι, d. h. zu den nicht einfach gegebenen (deshalb πίστεις ἄντεχνοι), sondern erst durch die Kunst des Redners hergestellten Überzeugungsmitteln.197 Die Aufgabe des Redners war es deshalb, gleich zu Beginn der Rede die Zuhörer (bzw. die Richter) für sich einzunehmen (vgl. Quint. inst. 3,8,12f.; 4,1,6–15; vgl. auch 6,2,18f.).198 Dazu musste er sich selbst, d. h. sein eigenes ἦϑος, so darstellen, dass die Zuhörer bereit waren, ihm unabhängig von der Logik seiner Worte und den Sachzwängen der Beweise, zu vertrauen und zuzustimmen. Es ging folglich um die gezielte Herstellung von persönlicher Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft in einer konkreten Kommunikationssituation, nicht um die Authentizität der Selbstdarstellung. Der Redner sollte seine Zuhörer (bzw. die Richter) davon überzeugen, dass er die drei zentralen charakterlichen Tugenden der Klugheit (φρόνησις), der moralischen Integrität (ἀρετή) und der wohlwollenden Haltung (εὐνοία) besitzt.199 Die Darstellung des ἦϑος des Paulus beginnt im Präskript mit der Selbstbezeichnung als δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ, in der Autoritätsverzicht und Legitimation eine paradoxe Verbindung eingehen (vgl. S. 122). Mit der schmachvollen Situation einer Gefangenschaft, die er nicht als Verbrecher, sondern um Christi willen erduldet, gewinnt Paulus in der christlichen Gemeinde eine neue moralische Autorität, um derentwillen er seine alte, bloß »amtliche« Autorität suspendieren kann. Dieser Paulus, der um Christi willen seine Freiheit und Ehre gering achtet und der sich deshalb so große Verdienste um das Evangelium erworben hat, verzichtet in der Gemeinde freiwillig auf seine Rechte und tritt 196

Es geht nicht um eine bereits vorgefasste Meinung des Publikums (bzw. im Fall des Paulus der Adressaten) über den Charakter des Sprechers, sondern darum, wie der Sprecher mit Hilfe des Wortes seine moralische Persönlichkeit so aufbauen kann, dass sie die Zuhörer (bzw. Adressaten) in seinem Sinn beeinflusst. Vgl. Andersen, Rhetorik 41–43. 197 Vgl. Fuhrmann, Rhetorik 90. Zur Unterscheidung von πίστεις ἄτεχνοι und ἔντεχνοι insgesamt vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß 239 und 266f.; eine ausführliche Auflistung der beiden Arten von »Überzeugungsmitteln« bei Martin, Rhetorik 97–119, und Lausberg, Handbuch §§ 350–426. 198 Dazu Ueding/Steinbrink, Grundriß 261. 199 Vgl. Andersen, Rhetorik 42; Ueding, Rhetorik 35–37 und 76f.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

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stattdessen als Bittender auf.200 Dies bringt eindringlich die briefliche Selbstempfehlung (Phlm 8–9) zum Ausdruck, die in der Form der conduplicatio eine nachgeschobene Erklärung der unerwarteten Selbstvorstellung als δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ in der superscriptio bietet.201 Dabei mag Paulus es vielleicht durchaus bewusst in Kauf nehmen, dass seine Situation als δέσμιος zugleich an das Mitleid des Philemon und seiner Hausgemeinde appelliert (vgl. Phlm 13); doch liegt hier nicht der eigentliche Skopos dieser Selbstbezeichnung. Wenn der bittende Paulus in Phlm 9 zusätzlich auf sein Alter verweist, zielt dies ebenfalls auf den Verzicht seiner »amtlichen« Autorität, nicht auf das Mitleid des Philemon.202 Zugleich aber kann τοιοῦτος ὢν ὡς Παῦλος πρεσβύτης auch als eine Art Wortspiel verstanden werden, in dem πρεσβευτής anklingen und damit verhalten auf die Stellung des Paulus als Gesandter, d. h. seine Stellung als Apostel, hingewiesen werden soll (in 2 Kor 5,20 umschreibt Paulus seinen Dienst mit dem zugehörigen Verb πρεσβεύω); die Selbstbezeichnung als πρεσβύτης brächte also die in Alter und Sendung begründete Autorität des Paulus zur Sprache.203 Das Spiel mit Rekurs auf die eigene Autorität und gleichzeitigem betonten Autoritätsverzicht in Phlm 8–9, verbunden mit einem persönlichen und liebenswürdigen Ton, zeigt, dass Paulus bei der Darstellung seines ἦϑος, auch auf Charme setzt, also charmant sein will.204 Zum ἦϑος des Paulus gehören demnach Bescheidenheit und Respekt. Dies zeigt auch der Abschluss des Corpus. Hier affirmiert Paulus zunächst die Rechte und Ansprüche des Philemon, indem er sich bereit erklärt, den durch Onesimus erlittenen Schaden zu begleichen (Phlm 18f.); Philemon muss also für Paulus keine Opfer bringen. Dies bietet Paulus die Gelegenheit, sich nochmals – unter ausdrücklichem Verzicht auf die eigenen Ansprüche – mit einer drängenden Bitte an Philemon zu wenden (Phlm 19f.). Indem Paulus schließ200

Vgl. dazu auch Wilson, Pragmatics 112–114. Vgl. Lausberg, Handbuch § 612; Wolter, Philemon (ÖTK) 261. 202 Ähnlich Gnilka, Philemonbrief (HThK) 42f. 203 So Baumert, Freundesbrief 137–139; ähnlich Suhl, Philemonbrief (ZBK) 31f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 37f.; Weima, Persuasive Prose 48f.; vgl. dazu auch BDR § 268,2; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1403. Anders Reinmuth, Philemon (ThHK) 36f., für den Paulus in Phlm 9 allein seine tatsächlichen Lebensumstände und seine tiefe soziale Beschämung und Entehrung ausdrücken will. Zu 2 Kor 5,20 vgl. auch Dautzenberg, Selbstdarstellung 151. Aufgrund der Lehre des Hippokrates von den sieben Lebensaltern des Menschen, in der die sechste Periode als πρεσβύτης bezeichnet wird und die das Alter zwischen 49 und 56 umfasst, meint man mitunter in Phlm 9 eine unmittelbare Angaben über das Lebensalter des Paulus bei Abfassung des Briefes und damit einen indirekten Hinweis auf das Geburtsdatum zu finden. Demgegenüber ist nicht nur aufgrund der rhetorischen Abzweckung der Aussage in Phlm 9 Vorsicht geboten, sondern auch weil die Definition des Hippokrates wohl keineswegs als eine allgemein gültige gelten kann. Die Lehre des Hippokrates über die Lebensalter zitiert Philon opif. 105; in Übersetzung bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 1064; dazu auch Fitzmyer, Philemon (AB) 105. 204 Dazu Schnider/Stenger, Studien 58; vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 260. 201

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4. Der Brief an Philemon

lich dezidiert sein Vertrauen in die Person seines Adressaten Philemon betont, stellt er heraus, warum er im Fall des Onesimus getrost auf seine Autorität verzichten und als Bittsteller auftreten kann. Damit bringt er zugleich zum Ausdruck, dass er sich mit Onesimus solidarisch weiß und sein Schicksal ernst nimmt. Diese Solidarität geht soweit, dass er sich sogar nicht einmal scheut, sich mit dem Sklaven zu identifizieren (Phlm 12.17). (2) Philemon: Das Eingehen auf das ἦϑος des Adressaten (oder in der Rede: der Hörer bzw. der Richter) – sei es durch Lob, sei es durch Tadel – ist ein wichtiges Moment, um diesen in die notwendige Stimmung zu versetzten, damit er dem Anliegen des Absenders (oder des Redners) gewogen ist (captatio benevolentiae). Deshalb verwundert es nicht, dass Paulus bereits in der brieflichen Danksagung dem Philemon sein außerordentliches Lob ausspricht (Phlm 4–7).205 Damit folgt er der rhetorischen Regel, dass man im Proömium jene Tugenden der Hörer oder Richter besonders herausstellen soll, die für das Anliegen der Rede wichtig sind (vgl. dazu Quint. inst. 3,8,6f.; 4,1,16f.).206 Die von Paulus an Philemon gerühmten Eigenschaften sind πίστις und ἀγάπη, die sich sowohl in seinem Verhältnis zu Jesus Christus als auch in seinen Verdiensten für die Gemeinde bewährt haben. Die außerordentliche Qualität des Charakters und der Werke des Philemon wird dadurch betont, dass Paulus erklärt, dass sie für ihn sowohl Anlass für beständige Dankgebete (εὐχαριστῶ Phlm 4) als auch zu persönlicher Freude (χάρα Phlm 7) sind.207 Damit verbunden wird die philophronetische Aussage des beständigen Gedenkens (Phlm 4), womit Paulus seine persönliche Verbundenheit und seine Freundschaft mit Philemon herausstellt. Philemon darf sich damit also als Freund des Paulus angesprochen wissen. Diese Komplimente sollen den Adressaten sein eigenes ἦϑος in Erinnerung rufen, damit es auch im konkreten Fall des Onesimus – wie Paulus in Phlm 6 selbst sagt – wirksam werden kann (ἐνεργὴς γένηται). (3) Onesimus: Besonders wichtig ist im Philemonbrief die Darstellung des ἦϑος des Onesimus (analog zur Darstellung des ἦϑος des Beklagten in der Verteidigungsrede), da Paulus nachweisen muss, dass Onesimus der Zuwendung des Philemon und der Sympathie seiner Hausgemeinde würdig ist. Dies ist im Falle des Onesimus jedoch nicht unproblematisch, da dieser sich in der Vergangenheit keineswegs durch seine Persönlichkeit ausgezeichnet hat. Paulus muss also mit besonderem Nachdruck den grundlegenden Wechsel im 205

Dazu auch Wilson, Pragmatics 114f.; außerdem Lampe, Affects 73f. So jedenfalls nach Gnilka, Philemonbrief (HThK) 34. Vgl. auch Wolter, Philemon (ÖTK) 256: »Durchgängig treffen die jeweiligen Aussagen im Proömium [Phlm 4–7] globale und allgemeine Feststellungen über diejenigen Qualitäten Philemons, auf die es im Folgenden ankommt, während es im Corpus darum geht, diese im konkreten Einzelfall zu zeigen.« 207 Vgl. BDR § 488,1; Wolter, Philemon (ÖTK) 253f. 206

4.2 Analyse und Kontextualisierung

155

Charakter des Onesimus herausstellen. Dazu bedient er sich eines Wortspiels, indem er in Phlm 10–11 mit ἄχρηστος und εὔχρηστος auf die Wortbedeutung von Ὀνήσιμος, der »Brauchbare« oder »Nützliche«, Bezug nimmt und den radikalen Umschwung im Charakter des Onesimus pointiert zum Ausdruck bringt.208 Die Kunstfertigkeit und ein gewisser (intellektueller) Anspruch dieses Wortspiels bestehen darin, dass Paulus von der Wurzel ονα- zur synonymen Wurzel χρη-/χρα- wechselt. Die Vokabeln sind offensichtlich mit Bedacht gewählt, da man mit χρηστός gewöhnlich das bezeichnet, was von einem Sklaven erwartet wird. Das Adjektiv ἄχρηστος wird nur für unbrauchbar gewordene Gegenstände – einschließlich Vieh oder auch Ackerland – verwendet (z. B. P.Oxy. XLVII 3357,18 [spätes 1. Jh. n. Chr.]; O.Claud. I 129,2f. [107 n. Chr.]), das kontrastierende εὔχρηστος dagegen für Personen in Empfehlungsschreiben (z. B. P.Petr. III 53 (n),5 [3. Jh. n. Chr.]).209 Die Wortwahl signalisiert damit auch, dass Onesimus mit Bekehrung und Taufe von einem Sklaven, der ein bloßer Besitzgegenstand und zudem noch ein unbrauchbarer war, zu einer Person geworden ist, die jetzt der Empfehlung wert ist.210 In Phlm 20 wird das Wortspiel mit dem Namen Ὀνήσιμος noch einmal aufgegriffen, nun aber mit 208 Für ein bewusstes Wortspiel in Phlm 10–11 votieren Wolter, Philemon (ÖTK) 263f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 39; Schenk, Philemon 3447f., Anm. 34; Fitzmyer, Philemon (AB) 107 und 108f.; Reinmuth, Philemon (ThHK) 42; Gnilka, Philemonbrief (HThK) 45; Dunn, Philemon (NIGTC) 328f.; Church, Rhetorical Structure 26f. Unklar bleibt, ob mit einem weiteren Wortspiel auf der Basis des Itazismus gerechnet werden kann und muss, d. h. dass neben dem un-brauchbar/gut-brauchbar auch un-Christ/gut-Christ mitgehört wurde; so z. B. Baumert, Freundesbrief 142f.; Suhl, Philemonbrief (ZBK) 32; Lohse, Philemon (KEK) 279. Dagegen spricht m. E., dass χριστός keine Selbstbezeichnung der Christen war, sondern titular verstandener Beiname Jesu; vgl. auch Arzt, Philemon (PKNT) 206f.; Fitzmyer, Philemon (AB) 109. Arzt-Grabner, Onesimus 135f., verweist zudem darauf, dass ἄχρηστος in die übliche Sklaventerminologie gehört, z. B. Sklavenverkauf διὰ τὸ ἄχρηστον εἶναι; vgl. Epikt. diatr. 1,19,19–22; P.Oxy. VII 1070,51f. (3. Jh. v. Chr.). Zum etymologisierenden Wortspiel, das der Figur der Paronomasie zugeordnet werden kann, vgl. auch Landfester, Stilistik 106. Bill. 3,668 verweist auf ein vergleichbares Wortspiel aus dem Bereich des Sklavenhandels in der rabbinischen Literatur, das ebenfalls auf der griechischen Sprache fußt (und folglich wohl aus der hellenistischen Welt übernommen wurde): ‫( קאקוגריסין‬von κακὴ αἵρεσις) oder ‫קקפרסין‬ (von κακὴ πρᾶσις), also von schlechter Art bzw. schlechter Verkauf, gegen ‫( קאלוגריסין‬von καλὴ αἵρεσις) oder ‫( קאלפרסין‬von καλὴ πρᾶσις), also von guter Art bzw. mit Garantie verkauft [in ExR 43(99c)]. 209 Zur Verwendung von ἄχρηστος und εὔχρηστος in den Papyri vgl. Arzt, Philemon (PKNT) 206–215. 210 Weima, Persuasive Prose 49, dagegen sieht ἄχρηστος in anderer Weise auf das Anliegen des Briefes bezogen. Paulus wolle Philemon damit motivieren, ihm den Sklaven Onesimus zu überlassen, da ihm dieser bisher ohnehin wenig nützlich war und sich daher für ihn der Verlust durch seine Überlassung an Paulus in Grenzen halte. Diese Erklärung lässt jedoch offen, warum Paulus gleichzeitig die neue Nützlichkeit des Onesimus betont haben sollte; dies wäre dem Anliegen doch eher abträglich, da sich nun doch auch Philemon selbst einen Nutzen von seinem Sklaven versprechen könnte und ihm der potentielle Verlust durch seine Überlassung an Paulus nun umso größer erscheinen müsste.

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4. Der Brief an Philemon

der zum Namen gehörenden Wurzel ονα- fortgesetzt (mit dem Verb ὀνίνημι/ ὀνίναμαι).211 Die Bitte des Paulus ἐγώ σου ὀναίμην ἐν κυρίῳ trägt demnach, ohne das Anliegen expressis verbis zu formulieren, die unmissverständliche Konnotation »ich möchte von dir Onesimus haben«. Das Wortspiel in Phlm 10–11.20 verdankt sich eventuell dem Einfluss der rhetorischen Topos-Lehre.212 Zu den aus der Person abgeleiteten Topoi (loci a persona) gehört nämlich auch der Name einer Person (nomen); der Topos beruht auf der Überzeugung, dass der Name, besonders ein Bei- und Spitzname, Rückschlüsse auf den Charakter seines Trägers erlaubt (Quint. inst. 5,10,30).213 Paulus rekurriert mit seinem Wortspiel in Phlm 10–11 also darauf, dass Onesimus aufgrund seines Namens »brauchbar« bzw. »nützlich« und deshalb der Zuneigung und Unterstützung würdig sei. Vor dem Hintergrund der ToposLehre impliziert das Wortspiel auch, dass Onesimus früher sich selbst entfremdet war, durch Bekehrung und Taufe nicht nur ganz er selbst geworden ist, sondern über sich hinausgewachsen ist (εὔχρηστος statt nur χρηστός). Der Höhepunkt und die Pointe der kurzen Charakterskizze des Onesimus in Phlm 10–12 liegt in dem Schlusssatz, der Onesimus mit Paulus identifiziert: αὐτόν, τοῦτ’ ἔστιν τὰ ἐμὰ σπλάγχνα (Klimax).214 Nichts kann letztlich den Onesimus mehr empfehlen, als Repräsentant des Paulus zu sein, der im Brief klar sein innergemeindliches Prestige und seine Verdienste um das Evangelium zum Ausdruck gebracht hat (vgl. auch Phlm 17). B. Argumentation: Das Anliegen des Paulus im Philemonbrief kann ganz allgemein als ein rhetorisches bezeichnet werden; denn er versucht einen Gegen211 Für ein bewusstes Wortspiel Arzt, Philemon (PKNT) 246f.; Schenk, Philemon 3447f., Anm. 34; Dunn, Philemon (NIGTC) 341; dagegen BDR § 488, Anm. 4; Reinmuth, Philemon (ThHK) 51; Lohse, Philemon (KEK) 285; zurückhaltend auch Fitzmyer, Philemon (AB) 119. Für den emotional-pathetischen Wert dieser Formulierung, mit der Paulus die Argumentation des Briefes abschließt, vgl. auch die bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 1072, angeführten Paralleltexte Demosth. or. 28,20 und Eurip. Alc. 332–335. 212 Die rhetorische Topos-Lehre ist ein systematisiertes Verfahren zur Stofffindung (inventio), das den Redner davor bewahrt, bei der Ausarbeitung der Rede aufs Geratewohl nach Argumenten suchen zu müssen. Vgl. Andersen, Rhetorik 156–162; Ueding, Rhetorik 55–65; Fuhrmann, Rhetorik 94–97. 213 Zum nomen als locus a persona (ἀπὸ τοῦ ὀνόματος) vgl. Lausberg, Handbuch § 376; Martin, Rhetorik 110; Andersen, Rhetorik 160f.; außerdem Ueding/Steinbrink, Grundriß 248f.; Ueding, Rhetorik 61. 214 Dazu auch Wolter, Philemon (ÖTK) 264f. Dagegen sieht Lampe, Affects 67, die Funktion der Selbstidentifikation des Paulus mit dem Sklaven Onesimus darin, dass Paulus dadurch die Aggression und den Ärger des Philemon von Onesimus weg auf sich selbst lenken und dadurch mildern bzw. bzw. in Liebe verwandeln will. Zuzustimmen ist ihm zumindest soweit, dass die Bewältigung negativer Affekte und die Erregung positiver Affekte bei Philemon Teil der von Paulus im Philemonbrief gewählten rhetorischen Strategie ist. Zur Klimax vgl. Landfester, Stilistik 143.

4.2 Analyse und Kontextualisierung

157

stand – den Fall des »entlaufenen« Sklaven Onesimus – im Sinne seines parteiischen Standpunkts zu einer Entscheidung zu bringen. Im strengen Sinn aber kann man den Philemonbrief (nach den Maßstäben der antiken Rhetorik) nicht schon allein deshalb als rhetorisch qualifizieren, weil er auf eine bestimmte Wirkung zielt; die Wirkung muss vielmehr mit den Mitteln der rhetorischen Kunst (!) erstrebt werden, wie sie in den antiken Handbüchern des Rhetorikunterrichts niedergelegt sind.215 Der Argumentationsstruktur im Corpus des Philemonbriefes liegt insgesamt ein Enthymem zugrunde. Das Enthymem ist ein typisches rhetorisches Beweisverfahren und gehört zu den πίστεις ἔντεχνοι (vgl. S. 152), die weniger durch strenge Logik als durch affektive Mittel überzeugen wollen. Das Enthymem geht im Gegensatz zum philosophischen Syllogismus nicht von unhinterfragbaren und zwingenden Prämissen aus, sondern von Wahrscheinlichkeiten und versucht für die darauf beruhenden Schlussfolgerungen bei den Zuhörern größtmögliche Plausibilität zu erzeugen (vgl. Aristot. rhet. 2,22–24 [1395b–1402a]; Quint. inst. 5,14,1–4.24–26).216 Da die Prämissen nicht unhinterfragbar sind, werden sie entweder nicht klar ausgesprochen oder die Verbindung zwischen Prämissen und Schlussfolgerungen wird im Vagen gelassen. Dadurch sind die Hörer gezwungen, sich die nur angedeuteten Prämissen selbst zu erschließen und damit als ihre eigene Überzeugung oder ihr eigenes Wissen zu »entdecken«, von dem ausgehend sie zu keinem anderen Ergebnis als der Redner kommen können. Dieselbe affektive Art des Überzeugens ergibt sich, wenn die Hörer selbstständig, die ungenau belassene Beziehung zwischen Prämissen und Schlussfolgerungen präzisieren müssen. Beides setzt darauf, dass ein aufmerksamer Hörer bestrebt ist, die Argumentation der Rede nachzuvollziehen, das Voranschreiten der Rede ihm aber nicht die nötige Zeit lässt, alle logischen Implikationen und Voraussetzungen der Argumentation im Detail zu überprüfen. In Phlm 8–14 sind die angedeuteten Prämissen die Aussagen über den Charakter und die Verdienste des Philemon. Diese bilden die Grundlage für den Autoritätsverzicht des Paulus und für die Bitte zugunsten des Onesimus. Zwischen diesen beiden Aussagen lässt sich die »logische« Verbindung herstellen, Paulus kann auf seine Autorität verzichten, weil Philemon wegen seines Charakters gar nicht anders handeln kann, als Paulus es von ihm erbittet. Damit 215

Vgl. Andersen, Rhetorik 17–28; Ueding, Rhetorik 29–37. Grundsätzlich Ueding/Steinbrink, Grundriß 267: »Das Enthymem (enthymema, ratiocinatio) ist die spezifische rhetorische Argumentationsweise, der ›rhetorische Syllogismus‹ (Aristoteles), mit dessen Hilfe der Redner seine Beweisführung aufbaut. Heute meist als verkürzter Syllogismus bezeichnet, bedeutet das Enthymem für die antike Rhetorik sehr viel mehr, nämlich eine besondere Art des Schlußverfahrens, das nicht formallogisch zu sein brauchte, sondern als Teil der Topik verstanden wurde.« Zum Enthymem vgl. auch die weiterführenden Ausführungen bei Lausberg, Handbuch §§ 367–372; Andersen, Rhetorik 150– 153; Martin, Rhetorik 102–107; Fuhrmann, Rhetorik 93f.; Landfester, Stilistik 144f. 216

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4. Der Brief an Philemon

wiederum lässt sich die Aussage, dass Paulus den Onesimus zu Philemon zurückgeschickt hat, obwohl er ihn gerne bei sich behalten hätte, in dem Sinne »logisch« verbinden, dass Paulus ihn getrost zu Philemon zurückschicken kann, weil er ihn von einem solchen Menschen wieder zurückerhalten wird. Der darin implizierte Appell, dass Philemon gemäß seinem von Paulus so gelobten Charakter handeln soll, wird durch eine – erst bei einer genaueren Lektüre erschließbaren – Mahnung ergänzt: Müsste Philemon, der Paulus soviel verdankt (Phlm 19), nun Paulus nicht gerade jetzt in seiner schwierigen Lage genauso zu Diensten sein wie seiner eigenen Hausgemeinde? Im Moment erfüllt an seiner Statt Onesimus diese Verpflichtung (Phlm 13: ἵνα ὑπὲρ σοῦ μοι διακονῇ ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου). Wer aber wird es tun, wenn er Onesimus nicht zurückschickt? Genauso ist in Phlm 15–20 die Argumentation in der Art eines Enthymems gestaltet. Die Schlussfolgerung, die Philemon nachvollziehen und sich affektiv aneignen soll, ist die Aussage, dass er seinen Sklaven Onesimus, mit dem ihn eine nicht spannungsfreie Vorgeschichte verbindet, nun, d. h. nach seiner Konversion und Taufe, als seinen »geliebten Bruder« ansehen soll (Phlm 16). Die angedeuteten Prämissen, die Philemon damit verbinden soll, sind die Aussagen, dass Onesimus durch Bekehrung und Taufe zum Kind des Paulus geworden ist (Phlm 10), wie er selbst es schon vorher war (vgl. Phlm 19); sind sie aber beide Kinder des Paulus, dann sind sie beide auch Brüder.217 Dieser Appell an Philemon wird durch die Figur der correctio, d. h. durch die explizite Selbstkorrektur seiner zuvor gemachten Aussage (ἵνα μὴ λέγω σοι ὅτι …), zusätzlich verstärkt.218 Zugleich liegt dabei in Phlm 19 die ebenfalls auf Verstärkung des Ausdrucks zielende Figur der praeteritio (oder occupatio) vor, indem Paulus ausdrücklich erklärt, welche Begründung seines Anliegens er Philemon gegenüber nicht in Anspruch nehmen wird und sie auf subtile Weise dadurch doch zur Sprache bringt.219 Für diese Einsicht bietet Paulus dem Philemon noch einen zweiten Argumentationsgang. In Phlm 16 fordert er Philemon expressis verbis auf, den Sklaven Onesimus als seinen »geliebten Bruder« zu sehen, wie und weil auch er selbst Onesimus als seinen Bruder erachtet. Wenn nämlich Philemon sich selbst von Paulus die ehrende Anrede als ἀγαπητός (Phlm 1) und ἀδελφός (Phlm 7.20) gefallen lässt und weiterhin gefallen lassen will, muss er folglich sein Verhältnis zu Onesimus neu definieren (ἀδελφός statt 217 Dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 262; Wengst,Philemon (ThKNT) 69f.; in diesem Sinn auch Lampe, Affects 77, der im Blich auf Phlm 19 von einem »insinuated syllogism« spricht, was wohl als unvollständiger Syllogismus, d. h. als Enthymem, zu verstehen ist. 218 Vgl. BDR § 495,4b; speziell zu Phlm 19 Anm. 12; zur correctio vgl. Lausberg, Handbuch §§ 784–786; Ueding/Steinbrink, Grundriß 315. 219 Vgl. Reinmuth, Philemon (ThHK) 50f.; zur Figur vgl. Landfester, Stilistik 145; Lausberg, Handbuch §§ 882–886; Ueding/Steinbrink, Grundriß 318f.

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4.2 Analyse und Kontextualisierung

δοῦλος).220 Zugleich mag hier das aus der Topos-Lehre stammende argumentum a fortiore gegeben sein: Wenn schon Paulus den Sklaven Onesimus als seinen Bruder anerkennen kann, dann muss es auch Philemon tun.221 Das von Paulus in seiner rhetorischen Argumentation – unter den Vorzeichen von Bruderschaft und Sohnschaft – neu definierte Beziehungsgeflecht zwischen Paulus, Philemon und Onesimus lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:222 (1) Bruderschaft in Christus ἀδελφός

(2) gemeinsame Sohnschaft durch Taufe

Paulus

Paulus ἀδελφὸς ἀγαπητός

(Phlm 7.20)

ἀγαπητός

(Phlm 16)

(Phlm 1)

Philemon ἀδελφὸς ἀγαπητός Onesimus

καὶ σεαυτόν μοι προσοφείλεις

τὸ ἐμοῦ τέκνον, ὃν ἐγέννησα

(Phlm 19)

Philemon

(Phlm 16)

(Phlm 10)

(ἀδελφός)

Onesimus

Dabei werden die beiden konkurrierenden Ordnungssysteme des griechischrömischen Hauses und der christlichen Gemeinde miteinander verbunden (vgl. dazu auch das vorausgehende Schema zum Normenkonflikt durch konkurrierende soziale Bezugssysteme auf. S. 143). 1. christliche Gemeinde (ἐν κυρίῳ) Onesimus ἀδελφὸς ἀγαπητός

2. griech.-röm. Gesellschaft (ἐν σαρκί) Philemon

καὶ ἐν σαρκὶ καὶ ἐν κυρίῳ

δοῦλος Onesimus

Normenkonflikt durch konkurrierende soziale Bezugssysteme (2)

In beiden Ordnungs- und Bezugssystemen soll Philemon sich künftig in derselben Relation zu Onesimus erkennen und sich ihm gegenüber entsprechend verhalten.223 Um dies zu ermöglichen und zu begründen, wird von Paulus eine radikale Umkehrung der geltenden Gesellschafts- und Werteordnung insinuiert, die er mit Hilfe der Rechts- und Geschäftssprache ausdrückt. Dazu bezeichnet Paulus sich selbst und Philemon als Geschäftspartner. In diese Geschäftspartnerschaft soll als dritter gleichberechtigter Partner der Sklave Onesimus aufgenommen werden (Phlm 17). Damit drückt Paulus die in der Taufe vollzogene 220 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 268f.; Stuhlmacher, Philemon (EKK) 42; Lampe, Philemon (NTD) 213f.; Wengst, Philemon (ThKNT) 66–68. 221 Zum argumentum a fortiore vgl. Fuhrmann, Rhetorik 95. 222 Ein ähnliches Schema bei Wolter, Philemon (ÖTK) 257. 223 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 270–272; Funk, Status 173f.

160

4. Der Brief an Philemon

Gleichstellung und Gleichberechtigung des Onesimus aus, da nach antikem Empfinden ein Sklave nicht in ein solches gleichberechtigtes Geschäftsverhältnis mit seinem Herrn eintreten konnte (vgl. Aristot. eth. Eud. 1241b; Plat. leg. 756e–757a; Sen. epist. 47).224 Im Hintergrund dieses Versuchs des Paulus, den Widerspruch zwischen zwei Verhaltensnormen – in der Gemeinde als Bruder, im Haus als Sklave – auszugleichen, könnte die rhetorische Statuslehre stehen, die unter dem status legale auch den Widerspruch zweier Gesetze (ἀντινομία/ leges contrariae) verhandelt.225 Der Statuslehre geht es dabei nicht darum, eine Lösung für einen solchen Gesetzeswiderspruch aufzuzeigen, sondern den Redner im Rahmen der Stofffindung (inventio) auf dieses Problem aufmerksam zu machen und einen Ansatzpunkt für die eigene Argumentation zu bieten. Auswertung: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Argumentation des Philemonbriefes, wie in der antiken Rhetorik gefordert, auf Pathos, Logos und Ethos gegründet ist.226 In der rhetorischen Theorie und Praxis der Antike spiegelte sich nämlich die allgemeine menschliche Erfahrung, dass die Überzeugungskraft einer Rede nicht allein auf der Stimmigkeit der Ausführungen zum Sachverhalt und der damit zusammenhängenden Argumentation (λόγος) beruht, sondern – wie in der vorausgehenden rhetorischen Analyse bereits angedeutet – in gleicher Weise von der Glaubwürdigkeit des Redners (ἦϑος) wie von der emotionalen Gewogenheit und den affektiven Regungen seiner Hörer (πάϑος) abhängt (vgl. dazu Aristot. rhet. 1,2,3–7 [1356a–1356b]; Quint. inst. 6,2,1–11).227 (1) Ethos: Paulus präsentiert seine eigene Person bereits mit der superscriptio als eine, die aufgrund der eigenen Integrität bittend für Onesimus eintreten kann und es wegen ihrer Verdienste verdient, mit ihrer Bitte Gehör zu finden. — (2) Pathos: Durch Komplimente wird Philemon in eine Stimmung versetzt, die ihn der Bitte des Paulus zugänglich und gewogen macht; zugleich wird Philemon in einer Art persönlich in die Argumentation involviert, die es ihm unmöglich macht, sich der »Logik« des Paulus zu entziehen. — (3) Logos: Dass es vernünftig ist, der Bitte des Paulus zu entsprechen, 224 Näheres dazu Wolter, Philemon (ÖTK) 274f.; Lampe, Philemon (NTD) 212f.; Dunn, Philemon (NIGTC) 337f.; vgl. auch Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 1070f. Zur Frage der Geschäftsfähigkeit von Sklaven und zur tatsächlichen juristischen Handhabung zivilrechtlicher Geschäfte und Verträge, die mit und von Sklaven geschlossen wurden, in der alltäglichen Praxis (auf der Grundlage des Prinzips der Stellvertretung) vgl. aber Bürge, Privatrecht 171–203; mit Belegen aus den dokumentarischen Papyri Arzt-Grabner, How to Deal with Onesimos 137–139. 225 Zum status/genus iudiciale und besonders zum legum contrariarum status Fuhrmann, Rhetorik 109–113; Lausberg, Handbuch §§ 218–220, bes. 220; Martin, Rhetorik 48–50. 226 So Gnilka, Philemonbrief (HThK) 40; auf Ethos, Pathos und Logos als Grundlage der Argumentation im Philemonbrief verweist auch Klauck, Briefliteratur 247f.; ders., Ancient Letters 329; ähnlich E. Wendland, “You Will Do Even More Than I Say” 106f. 227 Vgl. Martin, Rhetorik 96f.; Ueding/Steinbrink, Grundriß 276f.; Mack, Rhetoric 35f.

4.3 Zusammenfassung und Interpretation

161

wird durch die neu gewonnenen charakterliche Integrität und den neuen Status des Onesimus ἐν Χριστῷ erwiesen.

4.3 Zusammenfassung und Interpretation Die Analyse des Philemonbriefes hat gezeigt, dass der Brief unter verschiedenen Aspekten als überaus sorgfältig und anspruchsvoll gestaltet bezeichnet werden kann und muss.228 In Sprache und Stil entspricht er in vollem Umfang den in der antiken Brieftheorie gestellten Anforderungen. Der Philemonbrief enthält sich einer übertriebenen Literatursprache (Attizismus) ebenso, wie er auch ein Abgleiten in die gewöhnliche Umgangssprache vermeidet. Angesichts dieses Befundes fällt die weitgehend zurückhaltende Wertung der »literarischen Qualität« des Philemonbriefes in der Forschung auf. Dies hängt sicher auch mit den Thesen von Adolf Deißmann zusammen. Denn auf der Grundlage seiner Unterscheidung von Brief und Epistel stand fest, dass der Philemonbrief – wie alle Paulusbriefe – möglichst wenig bewusste kunstvolle Gestaltung besitzen darf, damit er nicht als Kunstbrief, d. h. Epistel, bezeichnet werden muss. Wäre er nämlich eine Epistel, wäre auch sein Inhalt wertlos, da alles an ihm dann künstlich und damit nicht mehr authentischer Ausdruck des religiösen Empfindens des Paulus wäre (vgl. S. 6). Trennt man sich jedoch von solchen theologischen Vorurteilen, gewährt der Philemonbrief durchaus spannende kulturgeschichtliche Einblicke in die Welt und Mentalität des Frühchristentums. Am Philemonbrief zeigt sich, dass die Kommunikation unter den frühen Christen nicht einfach unter die Kategorien Lehren und Mahnen gefasst werden kann und dass sie sich nicht fernab und unberührt von den Konventionen ihrer Umwelt vollzieht. Art und Ton der Kommunikation zwischen Paulus und Philemon bzw. zwischen Paulus und der Hausgemeinde des Philemon lassen erkennen, dass auch die Schönheit und Sorgfalt eines Briefes offenbar nicht unwesentlich waren (vgl. auch 2 Kor 10,10). Ein schöner Brief konnte von den Adressaten als Kompliment empfunden werden (vgl. Sen. epist. 75,1); die gepflegte Form eines Briefes konnte also dem Anliegen des Absenders durchaus förderlich sein.229 Die für den Brief aufgewendete Mühe lässt sich nämlich als Ausdruck der Wertschätzung für den/die Adressaten interpretieren. Die sorgfältige und anspruchsvolle 228

Dies betont zurecht auch Weima, Persuasive Prose 59f. In der unter dem Namen Philostrats überlieferten Abhandlung (epist. II 257,29 – 258,28) und bei Gregor von Nazianz (epist. 51) wird χάρις »Charme« ausdrücklich als besondere und erwünschte Qualität eines Briefes genannt; Texte bei Malherbe, Theorists 4f. und 58–61. Vor diesem Hintergrund betont Weima, Persuasive Prose 29f., – wenn auch ohne ausdrücklichen Bezug auf die antike Brieftheorie – für den Philemonbrief zurecht die Notwendigkeit, bei der Analyse nicht nur zu fragen, was gesagt wird, sondern auch wie etwas gesagt wird. 229

162

4. Der Brief an Philemon

Gestaltung des Philemonbriefes lässt sich aber zugleich unter dem Aspekt der brieflichen Selbstdarstellung des Paulus bewerten. Im Kontext des von der Rhetorik bestimmten Bildungsideals der Zeit präsentiert sich Paulus im Philemonbrief als einer, der in sich die Einheit von Gut-Denken, Gut-Reden und Gut-Handeln verwirklicht, und deshalb als Vorbild seiner Gemeinde gelten kann (diese Art der Selbstdarstellung lässt sich analog zum orator perfectus verstehen).230 Dies bestimmt auch die Art der innergemeindlichen Autoritätsausübung, wie sie im Philemonbrief vorgestellt wird. An die Stelle des Insistierens auf eigene, charismatisch oder institutionell begründete Vorrechte treten die moralische Integrität und Vorbildlichkeit sowie freundschaftlich-familiäre Zuneigung und Wohlwollen. Mit Schönheit und Sorgfalt der Gestaltung des Philemonbriefes verbindet sich zudem so etwas wie ein charmanter, kultivierthöflicher Umgangston, der die Ehre des Gegenübers respektiert und auf freiwillige Zustimmung statt Zwang setzt (pragmatics of politeness). Die Analyse und Interpretation des Philemonbriefes darf nicht übersehen, dass der Brief letztlich nicht an eine Einzelperson, sondern an eine »Kirche«, nämlich die Hausgemeinde des Philemon, adressiert ist.231 Daraus ergibt sich eine doppelte Auffälligkeit des Briefes bzw. der brieflichen Kommunikation zwischen Paulus und Philemon: 1. Der Philemonbrief artikuliert in seinem Corpus als Freundschaftsbrief die φιλοφρόνησις zwischen Paulus und Philemon, ist andererseits durch sein Präskript aber nicht exklusiv an Philemon adressiert. Durch die adscriptio macht demnach Paulus die Hausgemeinde des Philemon zu Zeugen dieser Freundschaftsbekundung. — 2. Als Empfehlungsschreiben wendet sich der Philemonbrief in seinem Corpus ebenfalls exklusiv an Philemon, der allein die Sache seines Sklaven Onesimus entscheiden kann. Zugleich macht Paulus durch die von ihm gewählte adscriptio die Gemeinde zu Zeugen seiner Bitte. Kommunikation 1



Kommunikation 2

Sprecher/Absender

Paulus



Paulus

Hörer/Adressat

Philemon



Hausgemeinde des Philemon

Gegenstand/Inhalt

Onesimus



Philemon (und Onesimus)

Die Kommunikationsstruktur des Philemonbriefes ist demnach letztlich eine doppelte: Paulus kommuniziert gleichzeitig mit Philemon und mit seiner Hausgemeinde, die aber nur in der adscriptio, am Ende des Corpus und beim Schlusssegen direkt angesprochen wird, während Philemon im Corpus des Briefes als der alleinige und eigentliche Adressat und Gesprächspartner des Paulus erscheint. Durch die adscriptio aber ist die Hausgemeinde des Phi230

Vgl. Ueding, Rhetorik 46. Darauf insistiert Winter, Philemon 1, zurecht, wenn man auch sonst ihrer Auslegung des Briefes kaum zu folgen vermag. 231

4.3 Zusammenfassung und Interpretation

163

lemon durchgängig auch im Corpus des Briefes als »mithörende« bzw. »mitlesende« präsent.232 Man war immer wieder versucht, darin eine mehr oder weniger verhaltene Drohung an Philemon zu sehen, die ihn gemahnen sollte, dass er sich öffentlich blamieren wird, wenn er den Wunsch des Paulus nicht erfüllt.233 Einer solchen Lösung steht m. E. die antike Brieftheorie entgegen. Denn der insgesamt philophronetische Ton des Briefes sowie seine Bestimmung als Empfehlungsbrief setzen als idealtypische – wenn auch nicht zwingend als real gegebene – Briefsituation ein Verhältnis der Freundschaft und Gleichheit zwischen Paulus und Philemon voraus; dem »Freund« gegenüber mag zwar sanfter Tadel und Mahnung erlaubt sein, nicht aber Drohung. Dies widerspräche auch den mit einer taktischen Indienstnahme des Typos »Freundschaftsbrief« verbundenen Überlegungen, dass der philophronetische Ton und Charakter des Briefes zur Erfüllung des Briefanliegens gewogen mache. Der auffällige Sachverhalt, dass Paulus seine letztlich private Kommunikation mit Philemon durch die adscriptio in die Öffentlichkeit der Gemeinde stellt, lässt sich vielleicht in Analogie zur Publikation von Privatbriefen, wie z. B. in der Briefsammlung des jüngeren Plinius, erklären und verstehen. Im Privatbrief (Paulus/Philemon) dient die ausführliche Charakterisierung des Adressaten in der Regel dazu, um durch Lob die Appell-Funktion des Briefes zu verstärken, d. h. den Adressaten gewogen und aufnahmebereit zu machen. Wird ein solcher Brief veröffentlicht (Paulus/Hausgemeinde), wird das ursprünglich direkte Lob zur Würdigung des Adressaten vor einem »Lesepublikum«.234 Etwas ähnliches passiert im Philemonbrief durch die Adresse, die einer Publikation des Privatbriefes entspricht. Das »Lesepublikum« ist im Philemonbrief zunächst einmal die bei der Verlesung des Briefes in der gottesdienstlichen Versammlung im Haus des Philemon anwesende Gemeinde. Zu bedenken ist dabei auch, dass sich offensichtlich schon sehr früh die Praxis des Austausches von Briefen des Paulus unter seinen Gemeinden entwickelte; folglich ist nicht auszuschließen, dass Paulus auf eine durchaus weiter reichende Publikation des Lobes des Philemons zielte. Da der Gegenstand des »publizierten« Briefes das Lob des Philemon vor seiner Hausgemeinde bildet, lässt sich der Philemonbrief als Enkomion in Briefform bezeichnen (zur Tabelle vgl. auch das Organon-Modell auf S. 106f.).235

232

Vgl. Suhl, Philemonbrief (ZBK) 25f.; Ebner, Philemonbrief 398. So nahezu der sensus communis bei den Auslegern; vgl. z. B. Lampe, Philemon (NTD) 210; zuletzt auch Weima, Persuasive Prose 38f., der auch die Nennung von Mitabsendern im Präskript im Dienste der Ausübung von Druck auf Philemon erklärt. 234 Dazu Radicke, Privatbrief 25–31. 235 Enkomiastische Züge sind dem Empfehlungsbrief an sich nicht fremd, doch beziehen sie sich in der Regel auf den Empfohlenen, um ihn durch eine lobende Charakterskizze beim Adressaten ins rechte Licht zu setzen. Vgl. Rees, Recommendation 159–164. 233

164

4. Der Brief an Philemon Paulus an Philemon

→ Paulus an die Hausgemeinde

Ausdruck

Freundschaft und Wohlwollen für Adressaten

→ Respekt, Solidarität und Fürsorge für alle

Darstellung

Empfehlung und Lob des »neuen« Onesimus

→ Empfehlung und Lob des Philemon

Appell

Bitte um freundliche Wiederaufnahme des Onesimus

→ Aufforderung zur Nachahmung des Philemon

144444424444443

Empfehlung und Bitte

144444424444443



Enkomion in Briefform

Die Öffentlichkeit des Briefes hat zugleich mit Ehre und Gesichtswahrung zu tun. Die Entscheidung des Philemon in der Sache des Onesimus nach seiner Rücksendung durch Paulus – gleichgültig, ob gemäß der Bitte des Paulus oder nicht – wäre der Gemeinde nicht verborgen geblieben. Die Veröffentlichung des Briefes aber konnte Spekulationen über die Motive der beteiligten Personen vorbeugen. Die »Veröffentlichung« des Briefes, in dem Paulus zugleich seine ganze Autorität einsetzt und doch Philemon die freie Entscheidung zugesteht, bewahrte Philemon davor, als einer zu erscheinen, der von Paulus nach Belieben herumkommandiert werden kann. Umgekehrt bewahrte sie Paulus davor, im Falle einer Ablehnung seiner Bitte, als einer zu erscheinen, der vor Philemon »kuschen« muss oder von ihm brüskiert werden kann. Im Blick auf die Selbstdarstellung des Paulus durch den Philemonbrief in der Öffentlichkeit der Gemeinde ließe sich vor dem Hintergrund der hellenistisch-römischen Kultur ein weiteres bedenken. Durch die Art, wie er mit dem Fall des Sklaven Onesimus umgeht und wie er sein Verhältnis zu diesem Sklaven bestimmt, kann er sich und sein Handeln in den Kontext der popularphilosophische Ethik einordnen und seine humanitas bzw. φιλανϑρωπία erweisen.236 Einige Jahrzehnte später präsentiert sich der jüngeren Plinius ganz ähnlich wie Paulus in einem der ersten Briefe seiner Sammlung im humanem Umgang mit einem Sklaven, um dadurch den Lesern der Briefsammlung seine humanitas und philosophische Lebenshaltung vor Augen zu führen (vgl. epist. 1,4).237 In der Kultur der Kaiserzeit war die Sklaventhematik also offenbar eine Möglichkeit für die literarische Konstruktion und Qualifizierung der eigenen moralischen Person. Dies lässt sich auch in den Briefen Senecas an Lucilius be236 Zur φιλανϑρωπία vgl. auch U. Luck, φιλανϑρωπία, φιλανϑρώπως. ThWNT 9 (1973) 107–111; E. Plümacher, φιλανϑρωπία, φιλανϑρώπως. EWNT 3 (21992) Sp. 1015f. 237 Ausführliche Analyse zu Plin. epist. 1,4 und seiner Funktion in der Briefsammlung des Plinius (»Paradebriefe«) bei Ludolph, Epistolographie 133–141. Näheres zur humanitas als Briefthema des jüngeren Plinius bei Bütler, Geistige Welt 107–118; humanitas ist für Plinius und seine Zeit (d. h. auch für die Welt des Paulus) eine Empfindsamkeit gegenüber den Mitmenschen und umfasst Haltungen wie Einfühlungsvermögen, Nachsicht, Milde, Zartgefühl, Solidarität und Güte. Entsprechende Motive werden auch im Philemonbrief als Hintergrund der Intervention des Paulus zugunsten des entlaufenen Sklaven Onesimus greifbar.

4.3 Zusammenfassung und Interpretation

165

obachten, die immer wieder den menschlich-freundschaftlichen Umgang mit Sklaven thematisieren (epist. 31,11; 44,1–3; 47,10).238 Insofern ist es nicht unwahrscheinlich, dass Paulus sich von ähnlichen Überlegungen leiten ließ. Den Hintergrund einer solchen Selbstdarstellung bildet die stoische (bzw. kynischstoische) Popularphilosophie, für die alle Menschen untereinander als »Brüder« gleich sind (vgl. dazu auf S. 262 zu Gal 3,28). Der ehemalige Sklave Epiktet zieht daraus die explizite Folgerung, dass als Menschen selbst Herr und Sklave »Brüder« sind (so z. B. in diatr. 1,13,3f.9).239 Da Paulus nach der opinio communis bei der Abfassung des Philemonbriefes im Gefängnis war, stellt sich die Frage, wie und unter welchen Umständen hier ein so sorgfältig gestalteter Brief abgefasst werden konnte. Eine überlegte und in sich geschlossene Komposition wie der Philemonbrief lässt vermuten, dass zuerst ein Entwurf angefertigt wurde, der anschließend nochmals überarbeitet und schließlich in Reinschrift gebracht wurde.240 Kann man annehmen, dass Paulus dafür im Gefängnis die nötigen Materialien zur Verfügung hatte? War ihm das nötige Schreibmaterial zur Hand, damit er einen Entwurf ausarbeiten und überarbeiten konnte, der dann von einem »Sekretär« außerhalb des Gefängnisses in Reinschrift gebracht wurde? Die eigenhändige Schuldverschreibung am Ende des Corpus setzt aber voraus, dass man Paulus den Brief zur Fertigstellung noch einmal ins Gefängnis brachte. Oder wurde der ganze Brief von Entwurf bis Reinschrift quasi am Stück im Gefängnis erledigt? Wenn Paulus sich tatsächlich eines Sekretärs bediente, welchen Anteil hatte er dann an Inhalt, Form und Stil des Briefes? Sollte Paulus eventuell nur den Grundgedanken des Briefes an einen persönlichen »Sekretär« übermittelt und diesem die eigentliche Ausarbeitung und Ausformulierung des Briefes überlassen haben? Wie bereits angemerkt (vgl. S. 98), steht zumindest für den Römerbrief außer Zweifel, dass Paulus sich eines Sekretärs bediente (Titius in Röm 16,22); ähnliches darf man auch für andere seiner Briefe annehmen. Dazu bemerkt John L. White: »Given the care with which his letters were composed, especially the evidence of the adaptation of the existing practice, it is unlikely that Paul gave merely the sense of his communication to his secretary. Correspondingly, he would have depended on a trusted co-worker for a secretary, not on any available pen-man. It is not hard to imagine Paul reading the first draft, before sending off the good clean copy.«241

238

Vgl. Gnilka, Philemonbrief (HThK) 51f.; Lampe, Philemon (NTD) 220f.; Wengst,Philemon (ThKNT) 78–85; Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 1068–1070. 239 Vgl. Wolter, Philemon (ÖTK) 272; Lampe, Philemon (NTD) 220; Wengst, Philemon (ThKNT) 85–101; Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/2, 1068. 240 Als Beispiel für einen auf Papyrus erhaltenen Briefentwurf, bei dem nachträgliche Korrekturen erkennbar sind: BGU IV 1141 (13 v. Chr., aus Busiris in Ägypten); Text und Kommentar bei Olsson, Papyrusbriefe 44–53 [Nr. 9]. 241 White, Epistolary Literature 1741.

166

4. Der Brief an Philemon

Sollte man dann also davon ausgehen, dass der in der superscriptio des Philemonbriefes als Mitabsender genannte Timotheus einen wesentlichen Anteil an Inhalt und Form des Briefes hatte?242 In all diesen Fragen wird man über Spekulationen, die eine gewisse Plausibilität und Wahrscheinlichkeit beanspruchen können, nicht hinauskommen. Die Frage nach dem Anteil eines Sekretärs bzw. Mitarbeiters an Form und Inhalt des Philemonbriefes ist (oder wäre) aber auch unter einem anderen Aspekt von Interesse. Denn der Stil des Philemonbriefes erlaubt durchaus auch Rückschlüsse auf die Bildung und damit soziale Herkunft seines Verfassers. Da der Verfasser des Briefes sowohl mit der antiken Brieftheorie als auch mit der Rhetorik vertraut zu sein scheint, muss man annehmen, dass er eine höhere Schulbildung erhalten hat und deshalb wohl über den Grammatikunterricht hinaus auch den Rhetorikunterricht besucht haben dürfte. Damit aber muss man ebenfalls annehmen, dass er aus der Schicht der Begüterten stammte. Da man aber nicht endgültig klären kann, in welchem Umfang sich Paulus bei der Abfassung des Philemonbriefes der Hilfe eines Sekretärs oder Mitarbeiters bediente, kann er nicht als eindeutiger Beleg für die Bildung des Paulus gelten. Denn unter Umständen wären die Qualitäten des Briefes nicht der Bildung des Paulus, sondern der seiner Gehilfen zuzuschreiben. Gegebenenfalls aber, dass Paulus in vollem Umfang für Form und Inhalt des Briefes verantwortlich gemacht werden darf, ließe sich sagen, dass er keinesfalls ein »naiver« Schreiber ist. Denn der Philemonbrief ist kein »naiver« Brief, sondern bewusst gestaltet.243 Die dafür nötigen Fähigkeiten aber muss Paulus irgendwie erlernt haben, will man nicht eine Art natürliches Genie bemühen, dass ohne jeden Unterricht und ohne jeden Lehrer zu Perfektion gelangt. Insofern wäre eine höhere Schulbildung des Paulus nach den Maßstäben des hellenistischen Bildungsideals nicht zu leugnen. Dies wiederum schlösse ein, dass er einer begüterten Familie entstammte und damit zumindest der gehobenen Mittelschicht, wenn nicht sogar der Oberschicht seiner heimatlichen Polis angehörte (soweit dies bei einer jüdischen Familie in einer hellenistischen Polis möglich war).

242

In der Forschung wird diese Annahme weitgehend abgelehnt, ohne dass dafür aber zwingende Gründe benannt werden. Vgl. z. B. Wengst, Philemon (ThKNT) 26f. Für die Paulusbriefe insgesamt Wikenhauser/Schmid, Einleitung 384. Kritisch dazu jedoch Richards, Paul 28f.; vgl. auch Capes/Reeves/Richards, Paul 68–73. 243 Zu der sich im Philemonbrief zeigenden epistolographischen Kompetenz des Paulus vgl. auch Stirewalt, Paul 96.

Kapitel 5

Der Brief an die Galater 5.1 Zum Stand der Forschung 5.1.1 Hintergrund, Anlass und Intention Der Galaterbrief ist eine Art Zirkularschreiben des Paulus, das sich an eine größere Gruppe von christlichen Gemeinden wendet, die er selbst in Galatien gegründet hatte (vgl. Gal 1,8f.; 3,1–5; 4,19). Wo, d. h. in welchen Städten, diese Gemeinden situiert sind, ist dem Brief nicht zu entnehmen; denn Paulus begnügt sich im Präskript mit der summarischen adscriptio »an die Gemeinden Galatiens« (Gal 1,2). Seine Mission in dieser Gegend war, wie er selbst im Galaterbrief einräumt, an sich nicht geplant. Die Gründung dieser Gemeinden verdankte sich vielmehr dem Zufall, nämlich einem durch eine plötzliche Erkrankung erzwungenen Aufenthalt und seiner freundlichen Aufnahme bei den Adressaten des Galaterbriefes (Gal 4,13f.).1 Paulus scheint der erste gewesen zu sein, der bei ihnen das Evangelium von Jesus Christus verkündete. Da die von Paulus bekehrten Galater keine Juden, sondern Heiden waren (vgl. Gal 4,8f.; 5,2f.; 6,12f.), hatte er gemäß seiner auch von den Jerusalemer Autoritäten anerkannten Missionspraxis (vgl. Gal 2,2f.9) von ihnen nicht verlangt, sich vor der Taufe beschneiden zu lassen. Damit aber hatte er sie auch nicht zur Übernahme der Forderungen des jüdischen Gesetzes verpflichtet. Der Kern des von Paulus bei den Galatern verkündeten Evangeliums war das Bekenntnis, dass Gott im Kreuzestod Jesu Christi für die Menschen das Heil bereitet hat (vgl. Gal 1,4; 2,20; 3,1). Damit tritt an die Stelle der Werke des Gesetzes der Glaube an Jesus Christus als einzige Voraussetzung für die Erlangung des Heils (vgl. Gal 2,16.20; 3,5.11.22; 5,4f.).

1 Dazu merkt allerdings Vielhauer, Geschichte 109, an: »Ob die Wendung δι’ ἀσϑένειαν τῆς σαρκός den ›begleitenden Umstand‹ bezeichnete, dh Paulus sei während seiner Missionstätigkeit bei den Galatern erkrankt, oder den Grund, dh Paulus sei durch Krankheit gezwungen worden bei den Galatern Station zu machen, obwohl er eigentlich ein anderes Reiseziel hatte, und habe dann bei ihnen missioniert, ist kaum zu entscheiden.« Schenke/Fischer, Einleitung 1, 78, nehmen an, dass Paulus auf der Reise durch Galatien von Silvanus und Timotheus begleitet wurde, die – während Paulus krank darniederlag – begannen, selbständig unter den Galatern zu missionieren; nach seiner Genesung habe sich auch Paulus selbst an dieser Mission beteiligt. Ähnlich Rohde, Galater (ThHK) 5f.

168

5. Der Brief an die Galater

Auf den Gründungsaufenthalt folgte offensichtlich noch ein weiterer Besuch des Paulus bei den Gemeinden Galatiens (Gal 4,13).2 Dieser Aufenthalt diente wohl dazu, die galatischen Christen noch genauer im Evangelium zu unterrichten. Außerdem dürfte er bei dieser Gelegenheit in den Gemeinden Anordnungen für die ihm aufgetragene Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde getroffen haben (1 Kor 16,1; vgl. Gal 2,10). Bis zu diesem Zeitpunkt war das Verhältnis zwischen Paulus und seinen Gemeinden in Galatien allem Anschein nach ungetrübt. Einige Zeit nach der erneuten Abreise des Paulus aber trafen fremde Missionare in Galatien ein und warben für ein »anderes Evangelium«, wie Paulus es im Galaterbrief nennt (vgl. Gal 1,6f.; 5,10.12). Sie verkündeten den Galatern, dass es um des Heiles willen notwendig sei, sich beschneiden zu lassen (Gal 5,2.6.11f.; 6,12f.), sich auf das jüdische Gesetz zu verpflichten (Gal 5,2f. 3,2.5; 5,4) und bestimmte Kalendervorschriften zu beachten (Gal 4,10). Mit ihrer Verkündigung fanden sie in den galatischen Gemeinden durchaus Anklang. Als Paulus davon erfuhr, reagierte er mit äußerster Schärfe und Entschiedenheit, weil er die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus gefährdet und seine Gemeinden deshalb in ihrem Heil bedroht sah. Da er nicht erneut persönlich nach Galatien reisen konnte oder wollte (vgl. Gal 4,20), versuchte er durch einen Brief, den im Corpus Paulinum überlieferten Galaterbrief, in die Geschehnisse in Galatien einzugreifen. In diesem Brief schlägt Paulus nicht nur im Blick auf seine Gegner (vgl. Gal 1,8f.; 4,17; 5,10.12; 6,12f.), sondern auch gegen seine Adressaten (vgl. Gal 1,6; 3,1; 4,9) einen auffallend schroffen, mitunter polemisch-sarkastischen Ton an, so dass er selbst vor den Augen und Ohren seiner Leser als zorniger und leidenschaftlicher Kämpfer für die Wahrheit des Evangeliums erscheint.3 Die nachhaltige Störung in der Beziehung zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden drückt sich offenbar auch in der Gestaltung des Briefformulars aus; so verzichtet Paulus auf die briefliche Danksagung, mit der er sonst das Corpus seiner Briefe eröffnet (vgl. S. 84), sowie auf die sonst üblichen persönlichen Grüße (Grußaufträge und/oder Grußausrichtung) am Ende des Corpus (vgl. S. 86).4 Zugleich aber finden sich im Galaterbrief Passagen, in denen sich 2 Das auf den Gründungsaufenthalt bezogene τὸ πρότερον in Gal 4,13 bedeutet nicht zwingend, dass Paulus die Gemeinden in Galatien vor der Abfassung des Gal zumindest noch ein zweites Mal besucht hat, da τὸ πρότερον lexikalisch außer »das erste Mal« auch lediglich »einst« bedeuten kann; vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1445. Doch hat Vielhauer, Geschichte 109f., wohl recht, dass ein solcher Rückbezug nur dann Sinn mache, wenn es einen weiteren, vorausgehenden Besuch des Paulus bei den Adressaten gegeben hat; so auch Mussner, Galaterbrief (HThK) 9; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 417f.; Marxsen, Einleitung 45; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 79; Broer, Einleitung 441; Schlier, Galater (KEK) 17; Suhl, Galaterbrief 3069; anders Schnelle, Einleitung 116; Betz, Galaterbrief 49. 3 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 11; Pokorný/Heckel, Einleitung 207. 4 Dazu auch Lührmann, Galater (ZBK) 9; Broer, Einleitung 437.

5.1 Zum Stand der Forschung

169

Paulus seinen Adressaten in einem mehr freundschaftlichen und werbenden Ton zuwendet (Gal 3,15; 4,12–20.28; 5,1). Paulus will die Galater also nicht nur anklagen, sondern er hofft, sie umstimmen zu können. Dies setzt voraus, dass Paulus die Situation in Galatien noch nicht endgültig verloren sieht; er geht demnach davon aus, dass die galatischen Christen noch keine endgültige Entscheidung getroffen haben, also noch nicht beschnitten sind (vgl. Gal 4,9; 5,2.10; 6,13.16).5 Ob die briefliche Intervention des Paulus zum Erfolg führte, muss jedoch offen bleiben.6 5.1.2 Ort und Zeit der Abfassung Die Datierung des Galaterbriefes muss beim »autobiographischen« Passus in Gal 1,13 – 2,14(21) ansetzen, der das Wirken des Paulus von seiner Hinwendung zum Christentum bis zur »Jerusalemer Übereinkunft« (dem sog. »Apostelkonzil« in Apg 15,1–35, das man gewöhnlich auf 48 n. Chr. datiert) und dem wohl unmittelbar anschließenden »Zwischenfall« in Antiochia umfasst.7 Des weiteren geht man in der Forschung mehrheitlich davon aus, dass die Mission des Paulus in Galatien erst nach dem Antiochenischen Zwischenfall erfolgt sein kann, da man andernfalls erwarten würde, dass Paulus im »autobiographischen« Passus des Galaterbriefes auch auf dieses für seine Adressaten zentrale Ereignis der Mission und Gemeindegründung bei ihnen zu sprechen kommen würde. Der Gründungsaufenthalt wäre demnach in die Zeit um 49/50 n. Chr. zu datieren, bevor Paulus in Makedonien (Philippi, Thessaloniki; vgl. 1 Thess 2,2; Phil 4,16) und Achaia (Korinth; vgl. Apg 18,1f.; mit 1 Kor 16,19) missionierte.8 Sein zweiter Besuch bei den galatischen Gemeinden wäre dann wohl um 52/53 n. Chr. im Anschluss an seine Rückkehr nach Kleinasien 5

Vgl. Schlier, Galater (KEK) 18; Becker, Galater (NTD) 10; Borse, Galater (RNT) 18 und 180; Lona, Paulus 73; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 415. Jegher-Bucher, Galaterbrief 79f., will in den Gemeinden Galatiens verschiedene Gruppen unterscheiden, d. h. (1) solche, die bereits der Gesetzes- und Beschneidungspredigt erlegen sind, (2) solche, die noch unschlüssig sind, aber (3) auch solche, die treu zu Paulus und seinem Evangelium halten. Diese Annahme ist an sich plausibel, allein der Galaterbrief selbst lässt m. E. keine entsprechenden Differenzierungen erkennen, so dass die Annahme von Jegher-Bucher eine zwar mögliche, letztlich aber nicht beweisbare These bleibt. 6 Mit Lührmann, Galater (ZBK) 9f. und 108, muss man festhalten, dass wir letztlich nicht wissen können, wie der Brief von den Adressaten aufgenommen wurde. Vgl. auch Vielhauer, Geschichte 125; Becker, Paulus 287f. 7 Zum autobiographischen Zeugnis und zu seiner Bedeutung für die Datierungsfrage des Galaterbriefes vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 25–31; insgesamt auch Becker, Paulus 17–33; Lona, Paulus 23–30. 8 Vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 11; Becker, Paulus 287. Dagegen nimmt Suhl, Briefe 117f., die Gründung der Gemeinden in Galatien bereits im Winter 48/49 an; dies hängt damit zusammen, dass er – abweichend von der Mehrheit der Forschung – das Jerusalemer Abkommen über die Heidenmission (»Apostelkonzil«) nicht auf das Jahr 48, sondern bereits auf das Jahr 47 datiert; zur Begründung vgl. ebd. 47–50.

170

5. Der Brief an die Galater

von Ephesus aus erfolgt.9 Offen bleiben muss allerdings, wie viel Zeit nach diesem zweiten Besuch vergangen ist, bevor die konkurrierenden Missionare in den galatischen Gemeinden aufgetreten sind.10 Bedenkt man außerdem, dass nach dem Auftreten der fremden Missionare nochmals einige Zeit vergangen sein dürfte, bis Paulus von den Vorgängen Kenntnis erlangt hat, kann der Galaterbrief kaum vor 54 n. Chr. verfasst worden sein. Da der in Ephesus entstandene 1. Korintherbrief die Kollekte bei den Galatern als positives Beispiel erwähnt (1 Kor 16,1), dürfte zu diesem Zeitpunkt (noch) ein gutes Einvernehmen zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden bestanden haben. Man nimmt deshalb an, dass Paulus erst nach der Abfassung des 1. Korintherbriefes vom Auftreten konkurrierender Missionare in Galatien erfahren haben kann.11 Der Galaterbrief müsste somit nach dem möglicherweise auf 54/55 n. Chr. zu datierenden 1. Korintherbrief entstanden sein.12 Umgekehrt ließe sich im Blick auf die Kollektennotiz in 1 Kor 16,1 aber auch argumentieren, dass der Konflikt mit den galatischen Gemeinden bei der Abfassung des 1. Korintherbriefes bereits wieder beigelegt war.13 Der Galaterbrief müsste dann von Paulus noch vor dem 1. Korintherbrief abgefasst worden sein und der brieflichen Intervention des Paulus in Galatien wäre Erfolg beschieden gewesen. Von nur begrenztem argumentativen Wert ist allerdings der ergänzende Hinweis, dass der 1. Korintherbrief an einigen Stellen die im Galaterbrief ausgeführte Rechtfertigungslehre vorauszusetzen scheint (vgl. 1 Kor 1,30; 6,11; 15,56); denn es lässt sich nicht erweisen, dass die Rechtfertigungslehre von Paulus erst bei Abfassung des Galaterbriefes als Reaktion auf und in Auseinandersetzung mit der Beschneidungs- und Gesetzespredigt konkurrierender Missionare in Galatien entwickelt wurde.14 Ist der Galaterbrief äl9

So Vielhauer, Geschichte 110; Becker, Paulus 287. Die Aussage in Gal 1,6 (ὡς ταχέως) kann nicht für eine Chronologie der Ereignisse in Galatien ausgewertet werden; dazu Vielhauer, Geschichte 110; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 418f.; außerdem auch Longenecker, Galatians (WBC) 14; Schlier, Galater (KEK) 36, Anm. 2; Bruce, Galatians (NIGTC) 80; gegen Schnelle, Einleitung 116; Michaelis, Einleitung 183. Becker, Paulus 287, datiert das Auftreten der konkurrierenden Missionare in die Zeit um 54/55 n. Chr. Nach Rohde, Galater (ThHK) 38f., ist ὡς ταχέως »absolut zu verstehen«; es gehe nicht um die Zeit seit dem letzten Besuch des Paulus, sondern drücke aus, dass es die konkurrierenden Missionare nur wenig Zeit und Mühe gekostet habe, die Galater von ihrer Position zu überzeugen. 11 Dazu Becker, Galater (NTD) 15f.; Lührmann, Galater (ZBK) 10; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 79; Schnelle, Einleitung 113f. 12 Zur Datierung des 1. Korintherbriefes Schnelle, Einleitung 74f.; vgl. Klauck, Ancient Letters 305f. 13 In diesem Sinne Pokorný/Heckel, Einleitung 228. 14 Vgl. Pokorný/Heckel, Einleitung 228. Dagegen merkt Schnelle, Einleitung 74f., an, dass die für den Galaterbrief (und Römerbrief) zentrale Rechtfertigungslehre im 1. Korintherbrief fehlt; ausführlicher ders., Wandlungen 49–76. Zur Problematik einer Entwicklung im paulinischen Denken und in der paulinischen Theologie auch Th. Söding, Der Erste Thessa10

5.1 Zum Stand der Forschung

171

ter als der 1. Korintherbrief, fordert dies unabdingbar die Annahme seiner Abfassung in Ephesus; sollte er jünger sein, so schließt dies die Abfassung in dieser Stadt und damit eine Datierung in die Zeit vor 55 n. Chr. freilich nicht definitiv aus, fordert sie aber auch nicht.15 Für die Annahme, dass Paulus den Brief an die Galater erst nach seiner Abreise aus Ephesus in Makedonien oder Korinth geschrieben hat, könnten seine Berührungen mit zwei anderen Briefen des Paulus sprechen, die sich sicher in diese Phase seines Wirkens datieren lassen. So legen die inhaltlichen und theologischen Gemeinsamkeiten des Galaterbriefes mit dem Römerbrief, bis hin zu auffälligen Parallelen in Aufbau und Gedankenführung beider Briefe, die Vermutung nahe, dass der Galaterbrief in enger zeitlicher und damit auch räumlicher Nähe zum Römerbrief entstanden ist, der von Paulus wahrscheinlich um 56 (oder 58) n. Chr. in Korinth verfasst wurde.16 In seinem gereizten und polemischen Tonfall wiederum kann man den Galaterbrief mit den Kapiteln 10–13 des 2. Korintherbriefes vergleichen. Dies lässt sich allerdings nur dann als Argument für die Abfassung des Galaterbriefes auf der letzten Reise des Paulus von Ephesus nach Korinth werten, wenn man davon ausgeht, dass der überlieferte 2. Korintherbrief eine einheitliche Komposition aus der Hand des Paulus ist.17 Dieses Argument für eine Abfassung des Galaterbriefes in Makedonien um 55 (oder 57) n. Chr. aber fällt, wenn man der durchaus plausiblen Annahme folgt, der heutige 2. Korintherbrief sei eine Kompilation aus mindestens zwei ursprünglich selbständigen Briefen des Paulus. Bei dieser Annahme hat sich in 2 Kor 10–13 der in 2 Kor 2,4 erwähnte »Tränenbrief« erhalten, den Paulus von Ephesus aus an die korinthische Gemeinde geschrieben hat, nachdem sein kurzfristig unternommener Besuch in Korinth ein für beide Seiten wenig erquickliches Ende gefunden hatte (vgl. 2 Kor 2,7; 7,12); in Makedonien wäre lonicherbrief und die frühe paulinische Evangeliumsverkündigung. Zur Frage einer Entwicklung der paulinischen Theologie, in: BZ 35 (1991) 180–203. 15 So Schenke/Fischer, Einleitung 1, 81; Vielhauer, Geschichte 110f.; Lona, Paulus 74. 16 Mit einer Auflistung der inhaltlichen Parallelen zwischen dem Galater- und Römerbrief Radl, Galaterbrief (SKK) 9; Schnelle, Einleitung 111f.; vgl. auch Theobald, Römerbrief (EdF) 110–112; außerdem Borse, Galater (RNT) 9f.; ders., Standort 120–137; Broer, Einleitung 442f. Bei Wikenhauser/Schmid, Einleitung 419, dagegen der berechtigte Einwand, dass die inhaltlichen Berührungen nicht zwangsläufig eine räumliche und zeitliche Nähe beider Briefe bedeuten müssen. Zur Frage der Abfassung des Römerbriefes in Korinth und seiner Datierung Schnelle, Einleitung 129f.; Lona, Paulus 80f.; Klauck, Ancient Letters 301; Lohse, Römer (KEK) 42; Zeller, Römer (RNT) 12–15; Stuhlmacher, Römer (NTD) 11f.; Theobald, Römerbrief (SKK) 1, 11f.; ders., Römerbrief (EdF) 27f.; zu gewissen Indizien, die für eine Abfassung des Römerbriefes noch in Makedonien statt erst in Korinth sprechen könnten, vgl. Suhl, Briefe 191–194. 17 Näheres dazu bei Borse, Standort 144f.; ders., Galater (RNT) 12–16. Eine Abfassung in Makedonien 57 n. Chr. hält Egger, Galaterbrief (NEB) 8, im Anschluss an Borse zumindest für möglich; zustimmend zu Borse Mußner, Galaterbrief (HThK) 9–11; vgl. auch Schnelle, Einleitung 113; Broer, Einleitung 443f.; Suhl, Briefe 165f.

172

5. Der Brief an die Galater

dann allein der in 2 Kor 1–9 erhaltene »Versöhnungsbrief« geschrieben, nachdem es durch den vorausgehenden Brief und die Vermittlung des Titus zu einer Aussöhnung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde gekommen war.18 Insgesamt lässt sich somit über den Ort und die Zeit der Abfassung des Galaterbriefes mit einiger Gewissheit letztlich nicht mehr sagen, als dass der Brief in der Zeit vor der letzten Reise des Paulus nach Jerusalem und wahrscheinlich auch noch vor der Abfassung des Römerbriefes geschrieben ist.19 Der Galaterbrief wäre demnach irgendwann in der Zeit zwischen 54 und 58 n. Chr. entstanden, entweder noch in Ephesus oder bereits in Makedonien, falls nicht sogar erst in Korinth.20 Eine genaue Datierung des Galaterbriefes ist zudem dadurch belastet, dass in der absoluten Chronologie des Wirkens des Paulus, d. h. im exakten zeitlichen Ansatz der Stationen seines Lebens und Wirkens, in der Forschung bis heute kein Konsens erzielt worden ist. Ausgehend von den vorgestellten Überlegungen zur Datierung des Galaterbriefes scheint die von Theodor Zahn (1899, 1905) vertretene Annahme, der Galaterbrief sei bereits in der Zeit des Gründungsaufenthalts des Paulus in Korinth (ca. 49–51 n. Chr.) entstanden und folglich wahrscheinlich der älteste (erhaltene) Paulusbrief, wenig plausibel.21 Insofern überrascht es nicht, dass diese These nur wenig Akzeptanz gefunden hat. In neuerer Zeit aber wird vor allem von amerikanischen Exegeten erneut eine Frühdatierung des Galaterbriefes diskutiert, darunter Richard N. Longenecker, der in der renommierten Reihe Word Biblical Commentary eine ausführliche Kommentierung des Galaterbriefes vorgelegt hat (1990). Er geht davon aus, dass der Galaterbrief von Paulus bereits vor dem in Apg 15 beschriebenen »Apostelkonzil« (48 n. Chr.) 18

Näheres zur Datierung und zum Abfassungsort des 2. Korintherbriefes bzw. des »Tränenbriefes« bei Akzeptanz der Teilungshypothese zum 2. Korintherbrief Klauck, 2. Korintherbrief (NEB) 5–10; ders., Ancient Letters 309–311; Becker, Paulus 172f. (mit anderer Einordnung und Abgrenzung der Briefe); vgl. auch Schnelle, Einleitung 93 und 96–104; Lona, Paulus 68f. 19 Für eine Abfassung des Römerbriefes erst nach dem Galaterbrief spricht nicht so sehr der ruhigere Tonfall des ersteren als vielmehr ein höherer Grad in der Reflexion und Ausarbeitung der gemeinsamen theologischen Themen. Dazu Zeller, Römer (RNT) 12f.; Theobald, Römerbrief (EdF) 112; Becker, Paulus 359. 20 Ähnlich Betz, Galaterbrief 521, der die Entstehung des Briefes bereits in die Jahre 50–55 datiert. Vgl. Rohde, Galater (ThHK) 10f. Der in Gal 4,20 geäußerte Wunsch des Paulus, nicht nur in seinem Brief, sondern persönlich bei den Galatern anwesend sein zu können, sollte nicht als Argument dafür angeführt werden, dass Paulus bei der Abfassung des Galaterbriefes Kleinasien bereits verlassen hat. Die Formulierung in Gal 4,20 verdankt sich nämlich der antiken Brieftopik und besagt daher wenig über die reale Unmöglichkeit eines Besuches aufgrund einer zu großen räumlichen Entfernung von Galatien und anderer Reisepläne des Apostels; vgl. die Ausführungen zur Stelle auf S. 236. 21 Vgl. Zahn, Galater (KNT) 19f. [nach der 2. Aufl.]; ders., Einleitung 139–145 [nach der 2. Aufl.]; vgl. dazu Borse, Galater (RNT) 10.

5.1 Zum Stand der Forschung

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geschrieben wurde.22 Dies erfordert allerdings die Annahme, dass Gal 2,1–10 sich nicht auf die Ereignisse in Apg 15,1–35 bezieht, sondern auf den in Apg 11,27–30 erwähnten vorausgegangenen Besuch des Paulus und Barnabas in Jerusalem.23 Obwohl sich bei einer derartigen Frühdatierung des Galaterbriefes wegen der Angaben in Gal 1,18 und 2,1 Probleme für die Chronologie des Wirkens des Paulus ergeben24, scheint ihr Vorteil – zumindest auf den ersten Blick –, dass sich mit ihr das Problem eines offensichtlichen Widerspruches zwischen den autobiographischen Aussagen des Paulus im Galaterbrief und den Angaben der Apostelgeschichte umgehen lässt.25 Denn in der Darstellung der Apostelgeschichte befindet sich Paulus anlässlich des »Apostelkonzils« nach seiner »Bekehrung« bereits zum dritten Mal in Jerusalem (vgl. Apg 15,1–35); Paulus selbst hingegen erweckt in Gal 2,1 den Eindruck, die zur offiziellen Anerkennung der beschneidungsfreien Heidenmission unternommene Reise nach Jerusalem wäre erst die zweite seit seiner Hinwendung zum Christentum. Wenn also Apg 15,1–35 und Gal 2,1–10 dieselben Ereignisse beschreiben und Paulus im Galaterbrief nicht (absichtlich oder unabsichtlich) einen weiteren, vor Gal 2,1–10 liegenden Besuch in Jerusalem verschwiegen hat, stellt sich die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit und dem Quellenwert der Apostelge22

Näheres bei Longenecker, Galatians (WBC) lxxx–lxxxviii; ähnlich Capes/Reeves/Richards, Paul 100. Eine andere Form der Frühdatierung bei Bruce, Galatians (NIGTC) 55f., für den der Brief ›bald nach dem Apostelkonzil‹ entstanden ist (Adressaten sind die auf der »ersten Missionsreise« gegründeten »südgalatischen« Gemeinden). Allgemein zur Problematik einer Frühdatierung des Galaterbriefes Wikenhauser/Schmid, Einleitung 418f.; vgl. dazu auch Klauck, Ancient Letters 313; Vouga, Galater (HNT) 3. 23 Dazu auch C. H. Talbert, Again: Paul’s Visits to Jerusalem, in: NT 9 (1967) 26–40. 24 In Gal 1,18 datiert Paulus seinen ersten Jerusalembesuch mit dem Hinweis »dann nach drei Jahren«, gerechnet ab seiner Hinwendung zum Christentum (wenn nicht sogar erst ab der Rückkehr aus der Arabia nach Damaskus). Den zweiten Jerusalembesuch datiert er in Gal 2,1 mit »dann nach vierzehn Jahren«. Rechnet er in Gal 2,1 ab dem vorausgehenden Jerusalembesuch, läge der zweite Besuch 17 (oder sogar mehr) Jahre nach dem ersten. Als Lösung für dieses Problem schlägt Longenecker, Galatians (WBC) lxxxiii, deshalb vor: (1) Frühdatierung des Todes Jesu (30 n. Chr.); (2) Annahme, dass Paulus bei seiner Zählung angefangene und nicht abgeschlossene Jahre als ganze mitzählt; (3) die vierzehn Jahre in Gal 2,1 sind ebenfalls ab der »Bekehrung« des Paulus zu rechnen. Diese Annahmen sind nötig, um die Datierung des »Apostelkonzils« (Apg 15,1–35) auf das Jahr 48 n. Chr. halten zu können. Dieses kann wegen der relativ genauen Datierung der anschließenden Mission des Paulus in Korinth nicht später angesetzt werden: Ankunft des Paulus in Korinth nach der (wohl) 49 n. Chr. erfolgten Ausweisung der Juden aus Rom durch Kaiser Claudius (Apg 18,2) und eineinhalbjährige Tätigkeit in Korinth, bevor der Statthalter Gallio 51 oder 52 n. Chr. sein Amt antritt (Apg 18,12). Unlösbar werden die Fragen, wenn man mit Lüdemann, Paulus 1, 181–203, das Judenedikt des Claudius bereits in das Jahr 41 n. Chr. datiert und in Apg 18 die Erinnerung an zwei getrennte Aufenthalte des Paulus in Korinth in den Jahren 41/42 und 51/52 n. Chr. annimmt. 25 Ein Überblick zu den verschiedenen Versuchen der Harmonisierung der Angaben der Apostelgeschichte und des Galaterbriefes bei Fung, Galatians (NICNT) 9–28.

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5. Der Brief an die Galater

schichte.26 Die Angaben über einen Besuch des Paulus in Jerusalem in Apg 11,27–30 müssten dann nämlich entweder als eine freie Erfindung des Verfassers der Apostelgeschichte oder als Hinweis darauf gewertet werden, dass bereits die von ihm benutzten Quellen keine in allen Punkten authentische Erinnerung an das Leben und Wirken des Paulus bewahrt hatten. 5.1.3 Lokalisierung der Adressaten Da der Jerusalembesuch in Apg 11,27–30 für Richard N. Longenecker bei der Datierung des Galaterbriefes den terminus post quem, das »Apostelkonzil« dagegen wegen seiner Nichterwähnung im Galaterbrief den terminus ante quem bildet, verbindet er die Gründung der galatischen Gemeinden (und einen wahrscheinlich anzunehmenden zweiten Besuch des Paulus bei diesen Gemeinden) mit der ersten von drei Missionsreisen, die in der Apostelgeschichte das missionarische Wirken des Paulus strukturieren. Dies hat Folgen für die Frage nach der Identität und Lokalisierung der Adressaten des Galaterbriefes. Die erste Missionsreise, die Paulus mit Barnabas unternimmt, führt ihn von Antiochia am Orontes über die Insel Zypern in den Süden Kleinasiens, in die Gebiete Pamphylien, Pisidien und Lykaonien (Apg 13–14), nicht aber bis in die im Zentrum Kleinasiens gelegene Landschaft Galatien. In die Landschaft Galatien (Γαλατικὴ χώρα) kommt Paulus nach der Darstellung der Apostelgeschichte erst zu Beginn seiner zweiten Missionsreise (Apg 16,1), wobei jedoch ausdrücklich vermerkt wird, dass Paulus hier nicht missioniert. Als Paulus zu Beginn seiner dritten Missionsreise erneut die Landschaft Galatien aufsucht, gibt es hier aber offensichtlich doch bereits Christen (Apg 18,23), ohne dass der Leser erfährt oder sich erschließen kann, wer hier missioniert und Gemeinden gegründet hat. Die Angaben der Apostelgeschichte scheinen damit eher mit einer Spätdatierung des Galaterbriefes als mit seiner Frühdatierung vereinbar zu sein. Um die Frühdatierung des Galaterbriefes zu retten, muss man deshalb entweder davon ausgehen, dass Paulus entgegen den Angaben der Apostelgeschichte bereits vor dem »Apostelkonzil« in der Landschaft Galatien missioniert hat, oder man muss annehmen, dass die Adressaten des Galaterbriefes nicht in der 26

Dazu Th.J. Bauer, Who is who 208–218; vgl. auch Betz, Galaterbrief 37–40; Becker, Galater (NTD) 14f.; zum Quellenwert der Apostelgeschichte und ihrer Verwertbarkeit für die Rekonstruktion der Biographie des Paulus und die Chronologie seines Wirkens vgl. außerdem Lüdemann, Paulus 1, 22–57. Für eine prinzipielle Glaubwürdigkeit der Angaben der Apostelgeschichte und gegen die Kritik der »Tübinger Schule« votieren Hengel/Schwemer, Paulus 10–13; die Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte begründen sie mit dem Hinweis, dass sie von dem Arzt Lukas, dem Reisebegleiter des Paulus verfasst sei. Ebenso Hengel, Der vorchristliche Paulus 178–180. Zu den verschiedenen Versuchen, die autobiographischen Angaben des Paulus in Gal 1–2 mit den Aussagen der Apostelgeschichte zu verbinden und daraus Rückschlüsse für die Datierung zu gewinnen vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) lxxii–lxxv.

5.1 Zum Stand der Forschung

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Landschaft Galatien zu suchen sind, sondern in den Gebieten, die Paulus nach den Angaben in Apg 13–14 auf seiner ersten Missionsreise besucht hat. Diese Annahme scheint jedoch zunächst wegen der adscriptio des Galaterbriefes ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας (1,2) kaum berechtigt. Dieser Widerspruch lässt sich aber mit dem Hinweis lösen, dass »Galatien« im 1. Jahrhundert n. Chr. nicht nur eine Landschaft bezeichnete, sondern seit 25 v. Chr. auch auf eine römische Provinz verweist, die neben der besagten Landschaft auch die angrenzenden Gebiete umfasste, darunter eben jene Regionen im Süden Kleinasiens, die Ziel der ersten Missionsreise des Paulus in Apg 13–14 sind.27 Somit werden in der Forschung gegenwärtig zwei konkurrierende Thesen zur Lokalisierung der Adressaten des Galaterbriefes vertreten: (1) Landschaftshypothese (oder nordgalatische Hypothese):28 Die traditionelle Sicht vermutet die Adressaten des Galaterbriefes in der Landschaft Galatien (Galatia/Γαλατία), d. h. in der phrygischen Hochebene in Zentralkleinasien zwischen den Flüssen Halys und Sangarios. Ihren Namen verdankt die Landschaft keltischen Söldnern (Galliern), die sich nach 278/277 v. Chr. hier niedergelassen und ein eigenes Königreich gegründet haben, nachdem sie zuvor auf wechselnden Seiten den verschiedenen um die Vorherrschaft über Kleinasien rivalisierenden hellenistischen Fürsten gedient hatten.29 Eine Mission des Paulus in der Landschaft Galatien scheint – wie bereits erwähnt – auch in der Apostelgeschichte auf; in Apg 16,6 könnte sich die Erinnerung an den Gründungsaufenthalt des Paulus erhalten haben und Apg 18,23 ließe sich auf den im Galaterbrief angedeuteten zweiten Besuch des Paulus beziehen (vgl. Gal 4,13f.).30 Die christlichen Gemeinden werden von den Vertretern der Land27 Näheres zur Landschaft und zur Provinz Galatia bei K. Strobel, Galatia, Galatien. DNP 4 (1998) Sp. 742–745; H. Volkmann, Galatia. KP 2 (1979) Sp. 666–670; vgl. außerdem Broer, Einleitung 429f.; J. Eckert, Galatien. LThK3 4 (1995) Sp. 265f.; Rohde, Galater (ThHK) 1–4. 28 Zu den Argumenten zugunsten der Landschaftshypothese, aber auch ihren Problemen vgl. Vielhauer, Geschichte 107f.; daneben Wikenhauser/Schmid, Einleitung 412; Schnelle, Einleitung 114f.; Theobald, Galaterbrief 353–355; Longenecker, Galatians (WBC) lxiii– lxvi; Rohde, Galater (ThHK) 7f. 29 Zu Herkunft, Reichsgründung und weiterer Geschichte der Galater in Kleinasien vgl. neben der bereits genannten Literatur (S. 175, Anm. 27) auch Vielhauer, Geschichte 104f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 1–3; Longenecker, Galatians (WBC) lxiif. 30 Dazu Schlier, Galater (KEK) 17f.; Vielhauer, Geschichte 108; Mußner, Galaterbrief (HThK) 3–5. Apg 16,6 und 18,23 gehen allerdings – wie Schnelle, Einleitung 115f., zurecht betont – auf die redaktionelle Arbeit des Vf. der Apg zurück und sind deshalb historisch nur von begrenztem Wert, d. h. sie können nicht ohne weiteres als Argument für die umstrittene Auslegung von Gal 4,13 auf einen zweifachen Aufenthalt des Paulus in Galatien gewertet werden; er sieht deshalb auch nur Apg 18,23 als Reflex des Gründungsaufenthalts, der für ihn auch der einzige Besuch des Paulus bei den galatischen Gemeinden ist; vgl. auch Becker, Galater (NTD) 14f. Nach Witulski, Adressaten 14–17, lasse sich mit Apg 16,6 und 18,23 keine Mission des Paulus im Gebiet der keltischen Galater belegen; beide Stellen belegen mit ihrem Wortlaut vielmehr, dass Paulus hier keine Gemeinden gegründet habe. Andere Vertreter der

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5. Der Brief an die Galater

schaftshypothese in den größeren, hellenisierten Städten vermutet (z. B. Pessinus, Germa, Ankyra und Tavium).31 (2) Provinzhypothese (oder südgalatische Hypothese):32 Obwohl eine Lokalisierung der Adressaten des Galaterbriefes im Süden der Provinz Galatien bereits von Johann Joachim Schmidt (1748) und Jacob Peter Mynster (1825) vorgeschlagen wurde, verdankt die Hypothese ihre Akzeptanz in der Forschung vornehmlich William M. Ramsay (1893) und Theodor Zahn (1900, 1905); der Argumentation beider ist auch der schon genannte Kommentar von Richard N. Longenecker (1991) verpflichtet, auf den hier stellvertretend für eine wachsende Zahl von neueren Vertretern der Provinzhypothese verwiesen sei.33 Die Erinnerung an die Mission im Süden der galatischen Provinz bewahrt bei dieser Sicht – wie oben erwähnt – die erste Missionsreise der Apostelgeschichte (Apg 13f.). Die Adressaten des Galaterbriefes wären demnach im Süden Kleinasiens zu suchen, nämlich in den von der Apostelgeschichte genannten Städten Antiochia in Pisidien (Apg 13,14) sowie Ikonion (Apg 14,1), Lystra (Apg 14,8) und Derbe (Apg 14,20) in Lykaonien. Der Verweis auf einen zweiten BeProvinzhypothese wiederum versuchen nachzuweisen, dass die Γαλατική χώρα in Apg 16,6 und 18,23 nicht die Landschaft bezeichnet, sondern ebenfalls auf die Provinz und damit auf weitere Besuche bei den auf der ersten Missionsreise gegründeten Gemeinden im Süden von Kleinasien zu beziehen sind (was im Blick auf Apg 16,1–6 nicht unproblematisch ist); eine kritische Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Argumentation bei Broer, Einleitung 435–437; Theobald, Galaterbrief 354f. 31 Vgl. Schnelle, Einleitung 116. Diskutiert wird auch die Frage, inwiefern eine Mission in der Landschaft Galatien für den griechisch sprachigen Juden Paulus mit Sprachproblemen verbunden gewesen wäre. Richtig ist, dass in diesem Gebiet zur Zeit des Paulus zumindest auf dem Land noch das einheimische Phrygisch und wohl auch die keltische Sprache der Galater gesprochen wurde. Zumindest in den Städten (mit ihrer gemischten Bevölkerung) aber hat das Griechische im 1. Jh. n. Chr. den Gebrauch dieser Sprachen stark zurückgedrängt (oder sogar verdrängt). Problematisch ist die Verlässlichkeit des Zeugnisses des Hieronymus, er habe noch zu seiner Zeit gehört, wie in Galatien eine mit dem ihm aus Gallien vertrauten Keltisch verwandte Sprache gesprochen wurde (in Gal. 2 praef.); dazu Bruce, Galatians (NIGTC) 6. Näheres zu den Sprachverhältnissen in der Landschaft Galatien bei G. Neumann, Kleinasien, in: ders./J. Untermann (Hg.), Die Sprachen im römischen Reich der Kaiserzeit. Kolloquium vom 8. bis 10. April 1974 (Beihefte der Bonner Jahrbücher 40), Bonn 1980, 167–185, hier 174– 180; R. Schmitt, Die Sprachverhältnisse in den östlichen Provinzen des Römischen Reiches, in: ANRW II. 29.2 (1983) 554–586, hier 566–568. 32 Die für die Situierung der Adressaten des Galaterbriefes im Süden der Provinz vorgebrachten Argumente, aber auch kritische Anfragen dazu im einzelnen bei Vielhauer, Geschichte 106f.; vgl. auch Wikenhauser/Schmid, Einleitung 412f.; Schnelle, Einleitung 113f.; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 85f.; Kümmel, Einleitung 258f. 33 Näheres zur Argumentation von William M. Ramsay bei Bruce, Galatians (NIGTC) 8f.; Longenecker, Galatians (WBC) lxvi–lxviii; die darauf aufbauende Argumentation von Longenecker ebd. lxviii–lxxii. Weitere Vertreter der Provinzhypothese sind z. B. Riesner, Frühzeit 254–259; Bruce, Galatians (NIGTC) 18; Fung, Galatians (NICNT) 1–3; Witulski, Adressaten passim; C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU), Leiden 1996, bes. 113–119; ein weiterer, älterer Vertreter ist Burton, Galatians (ICC) xliv.

5.1 Zum Stand der Forschung

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such des Paulus bei den Adressaten in Gal 4,13 ließe sich dann mit der Notiz in Apg 14,21 erklären, dass Paulus und Barnabas nach der Mission in Derbe noch einmal die neu gegründeten Gemeinden in Lystra, Ikonion und Antiochia aufsuchten. Ein weiterer Besuch des Paulus bei den Adressaten des Galaterbriefes wäre am Beginn der zweiten Missionsreise erwähnt (Apg 16,1–5). Zugunsten der Provinzhypothese wird von ihren Vertretern darauf verwiesen, dass Paulus auch sonst in seinen Briefen (vornehmlich) die Namen der römischen Provinzen verwende, während die Vertreter der Landschaftshypothese mit denselben Belegstellen das genaue Gegenteil zu erweisen versuchen (vgl. Gal 1,21; 1 Thess 2,14; Röm 15,24). Dies ist möglich, weil die von Paulus verwendeten Bezeichnungen, wie z. B. Achaia oder Makedonien, meist sowohl für eine Landschaft als auch für eine (meist weitgehend deckungsgleiche) römische Provinz stehen, so dass im Einzelfall nicht zu entscheiden ist, ob Paulus von der Provinz oder der Landschaft spricht.34 Der zugunsten der Landschaftshypothese angeführte Hinweis, dass Galatia nie der offizielle Name der Provinz gewesen sei, sondern dass man gewöhnlich die einzelnen zugehörigen Gebiete aufzählte (bzw. durch summarische Formulierungen andeutete), ist zwar wahrscheinlich zutreffend, sein argumentativer Wert ist aber insofern begrenzt, als sich unter Umständen zumindest bei antiken Schriftstellern gelegentlich Galatia bzw. Γαλατία als eine Art abkürzende Bezeichnung für die gesamte Provinz nachweisen lässt.35 Gegen die Landschaftshypothese wird außerdem auf die Tatsache verwiesen, dass sich in der Landschaft Galatien jüdische Siedler im 1. Jahrhundert n. Chr. nicht eindeutig nachweisen lassen.36 Da Paulus aber nach dem Zeugnis 34 So Ἀχαΐα (Röm 15,26; 1 Kor 16,15; 2 Kor 1,1; 11,10; 1 Thess 1,7f.), Ἀσία (Röm 16,15; 1 Kor 16,19; 2 Kor 1,8), Ἰουδαία (Röm 15,31; 2 Kor 1,16; Gal 1,22; 1 Thess 2,14), Μακεδονία (Röm 15,26; 1 Kor 16,5; 2 Kor 1,16; 2,13; 7,5; 8,1; 11,9 Phil 4,15; 1 Thess 1,7f.; 4,10), Ἰλλυρικόν (Röm 15,19), Ἀραβία (Gal 1,17), aber wohl nicht Σπανία (Röm 15,24); die einzelnen Bezeichnungen diskutiert Witulski, Adressaten 23–33. Vgl. auch Rohde, Galater (ThHK) 7f. 35 So z. B. in IK Prusias ad Hypium 56 ἐπίτροπον τοῦ αὐτοῦ Σεβαστοῦ ἐπαρχείας Γαλατίας καὶ τῶν σύνενγυς ἐϑνῶν (81/96 o. 98/117); ILS I 263 (80 n. Chr.) leg. Aug. pro pr. provinciarum Galatiae Cappadociae Ponti Pisidiae Paphlaginoiae Lycaoniae Armeniae minoris; ähnlich ILS I 1017 (um 118 n. Chr.); Athen. Mitt. XII, 1887, S. 182; CIL Suppl. 6818; vgl. Schlier, Galater (EKK) 15; Vielhauer, Geschichte 105; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 413; Schnelle, Einleitung114. Nach Broer, Einleitung 431f., dagegen ist in den antiken Quellen (Literatur, Inschriften, Münzen) nicht immer klar, ob »Galatia« die Landschaft oder die Provinz bezeichnet; so auch Witulski, Adressaten 17–23, mit Verweis auf A. Steinmann, Der Leserkreis des Galaterbriefes. Ein Beitrag zur urchristlichen Missionsgeschichte (NTA 3/4), Münster 1908. Ähnlich Sänger, Adresse 14–18; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 411, mit Verweis darauf, dass sich bei »den Schriftstellern der Kaiserzeit (z. B. Tacitus, Plinius d. Ä.), nicht aber in den Inschriften (mit einer Ausnahme) … gelegentlich die abgekürzte Bezeichnung Galatia für die Provinz« findet. Vgl. G. Schille, Γαλατία κτλ. EWNT 1 (21992) Sp. 557–559, hier bes. 558. 36 Die Frage jüdischer Siedler und Synagogen in der Landschaft Galatien (Nord-Galatien) ist kaum eindeutig zu beantworten und in der Forschung umstritten. Trebilco, Jewish Com-

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der Apostelgeschichte in jeder Stadt mit seiner Mission immer bei der Synagoge ansetze und erst nach der Ablehnung durch die Juden den Weg über die Gottesfürchtigen zu den Heiden suche (vgl. Apg 13,14.44–48), müsse man die Adressaten des Galaterbriefes im Süden der Provinz in den Gebieten Pisidien und Lykaonien suchen, wo jüdische Gemeinden eindeutig bezeugt sind. Dieses Argument ist jedoch wenig stichhaltig, da es sich bei dieser »Missionsstrategie« lediglich um ein theologisch-heilsgeschichtlich motiviertes Konstrukt der Apostelgeschichte handelt, für das die Paulusbriefe keine Hinweise liefern.37 Zudem ließe sich darauf verweisen, dass die Mission in Galatien, wie Paulus in seinem Brief einräumt, sich weniger seiner Planung als dem Zufall verdankte (vgl. Gal 4,13). Da die Adressaten des Galaterbriefes offensichtlich ausschließlich ehemalige Heiden sind (vgl. Gal 4,8f.; 5,2f.; 6,12f.), wäre eher zu überlegen, ob man sie deshalb nicht in einem Gebiet vermuten muss, wo es kaum Juden gab, also in der Landschaft Galatien.38 Das Annahme einer jüdischen Gemeinde am Wohnort der Adressaten ist außerdem nur dann nötig, munities 137 mit 243, Anm. 47–51, nennt zwei griechische Inschriften aus Nord-Galatien aus dem 2./3. und 1. (?) Jh. n. Chr., von denen die jüngere möglicherweise auf eine Synagoge Bezug nimmt; die andere wegen δύναμις ὑψίστου jüdischer Herkunft sein könnte. Text der Inschriften bei S. Mitchell, Regional epigraphic catalogues of Asia Minor, Bd. 2: The Ancara District (British Archaeological Reports, International Series 135), Oxford 1982, Nr. 209b und 141; mögliche weitere Hinweise auf Juden in Nord-Galatien in den Inschriften ebd. Nr. 133, 246, 509–512. Die fehlende Eindeutigkeit und Aussagekraft des Belegmaterials betont Becker, Galater (NTD) 14f.; ablehnend zur Annahme einer synagogalen Präsenz in Nord-Galatien Breytenbach, Paulus 144–146; ähnlich Theobald, Galaterbrief 352; Sänger, Adresse 34f. Sollte der Galaterbrief zwingend voraussetzen, dass sich unter den von Paulus bekehrte »Galatern« ehemalige Juden befinden (was m. E. nicht der Fall ist), müsste der Brief – gesetzt den Fall, dass seine Adressaten tatsächlich in dieser Region zu suchen sind – die Beweislast für die Existenz jüdischer Gemeinden in der Landschaft Galatien beim gegenwärtigen Stand der Forschung weitgehend alleine tragen, da anderweitige literarische Zeugnisse fehlen. Dieser Befund kann sich aber durch neue archäologische Funde ändern, zumal von den zahlreichen Fundstätten aus römischer Zeit in Zentralanatolien bislang wenig systematisch erforscht ist. Zur Archäologie in Provinz und Landschaft Galatien vgl. T. Bechert, Die Provinzen der Römischen Reiches. Einführung und Überblick, Mainz 1999, 135f. 37 Dies räumt auch Sänger, Adresse 34, ein, betont zugleich aber, dass die »oft stilisiert wirkende Szenerie und der idealtypische Charakter der Vorgänge« nicht per se gegen die Historizität der Angabe der Apostelgeschichte sprechen. Zum »heilsgeschichtlichen« Programm der Apostelgeschichte insgesamt vgl. Mußner, Apostelgeschichte (NEB) 7–9 und 77. 38 Schnelle, Einleitung 116, spricht davon, dass die galatischen Christen »überwiegend« Heidenchristen waren; ähnlich B. VanOs, The Jewish Recipients of Galatians, in: Porter, Paul: Jew, Greek and Roman 51–62. Doch lässt der Galaterbrief m. E. an keiner Stelle aufscheinen, dass Paulus bei seinen Adressaten in irgendeiner Form eine Differenzierung vornehmen würde, wodurch man die Annahme rechtfertigen könnte, es gäbe in den angeschriebenen Gemeinden neben einer heidenchristlichen Mehrheit eine judenchristliche Minderheit. Vgl. dazu auch Wikenhauser/Schmid, Einleitung 412; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 79; Rohde, Galater (ThHK) 6; außerdem Lührmann, Galater (ZBK) 70f. (zu Gal 4,8f.); Scherer, Argumente 136f.; Jülicher, Einleitung 74f.

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wenn man den Konflikt um Beschneidung und Gesetz als eine lokale Auseinandersetzung zwischen paulinischen Christen und ortsansässigen Juden deutet, nicht als die Folge des Auftretens judenchristlicher Missionare, die von auswärts in die Gemeinden kamen (vgl. S. 188).39 Insofern die Provinzhypothese die Mission des Paulus bei den Adressaten des Galaterbriefes mit der ersten Missionsreise der Apostelgeschichte verbindet, ergibt sich der berechtigte Einwand, warum dann Paulus im autobiographischen Passus am Anfang des Briefes, der die Zeit bis zum »Apostelkonzil« und dem Zwischenfall in Antiochia umfasst, nicht auch auf seinen ersten Aufenthalt bei den Adressaten und die Gründung der Gemeinden zu sprechen kommt (also nach Gal 1,21).40 Dieses Problem lässt sich umgehen, wenn man wie Richard N. Longenecker die Ausführungen in Gal 2,1–10 nicht mit dem »Apostelkonzil« in Apg 15,1–35 verbindet, sondern mit der vorausgehenden Reise des Paulus nach Jerusalem in Apg 11,27–30. Eine derartige Verbindung ist jedoch keineswegs evident und zudem nur schwer mit den chronologischen Angaben in Gal 1,18 und 2,1 in Einklang zu bringen (Näheres dazu S. 173, Anm. 24).41 Bei einer genauen Abwägung der für die Provinzhypothese vorgebrachten Argumente entsteht der Eindruck, dass sie ebenso wie die Frühdatierung des Galaterbriefes letztlich eine apologetische Funktion im Blick auf die Apostelgeschichte und ihre Paulus-»Biographie« erfüllt. Ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt der Provinzhypothese ist nämlich, dass der Galaterbrief dann die Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte bestätigen würde, d. h. insbesondere die Historizität der ersten Missionsreise, für die sich in den Briefen des Paulus andernfalls keine Anhaltspunkte finden lassen.42 Dies nährt den Verdacht, dass 39

Vgl. Becker, Galaterbrief (NTD) 15. Bereits Jülicher, Einleitung 74f., hat hervorgehoben, dass die Gründung und Entwicklung der galatischen Gemeinden sich zunächst frei von jüdischen bzw. judenchristlichen Einflüssen vollzogen zu haben scheint und dass der Konflikt um Beschneidung und Gesetzesobservanz erst nachträglich durch judaisierende christliche Missionare in die Gemeinden hineingetragen wurde. Eine solche Entwicklung aber sei im Süden der Provinz, in den Städten von Pisidien und Lykaonien, wenig wahrscheinlich. 40 Diesen Einwand bringt z. B. Kümmel, Einleitung 259, gegen die Provinzhypothese vor; ähnlich Schnelle, Einleitung 114; Theobald, Galaterbrief 354; als nicht zwingend dagegen erachtet ihn Mußner, Galaterbrief (HThK) 7. 41 Vgl. dazu auch Becker, Paulus 89–99; Mußner, Galaterbrief (HThK) 127–132. 42 Dies stellt zurecht Broer, Einleitung 432, als das zentrale Anliegen der Provinzhypothese heraus, auch wenn dies von ihren Vertretern vehement bestritten werde. Vgl. auch Dunn, Galatians (BNTC) 6f.; Sänger, Adresse 9. Näheres zum Problem der Historizität der sog. ersten Missionsreise in Apg 13–14 bei Schnelle, Einleitung 40f.; Broer, Einleitung 332f.; ausführlich Becker, Paulus 87–89 (mit einer tabellarischen Gegenüberstellung der Selbstaussagen des Paulus in seinen Briefen und der Angaben im Fremdbericht der Apostelgeschichte); Lona, Paulus 31; Bornkamm, Paulus 63–68; Lohse, Paulus 74–76. Bei Witulski, Adressaten 176f., entsteht der entgegengesetzte Eindruck, dass nämlich das Selbstzeugnis des Galaterbriefes und der Apostelgeschichte (die »historischen Primär- und Sekundärquellen«) an sich hin-

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sich die Provinzhypothese dem Wunsch nach einer Harmonisierung divergierender Angaben in den (echten) Paulusbriefen und der Apostelgeschichte und damit einem argumentativen Zirkelschluss verdankt. Deshalb plädiert die kritische Forschung bis heute sicher zurecht mehrheitlich für die Landschaftshypothese.43 Für sie dürfte auch die Anrede der Adressaten als »Galater« in Gal 3,1 sprechen, da sie wohl doch eher für Bewohner der Landschaft Galatien als für die Pisidier und Lykaonier im Süden der Provinz zu passen scheint.44 Die Frage, ob der Galaterbrief an Christen in der zentralkleinasiatischen Landschaft Galatien oder an Christen in den Regionen Pisidien und Lykaonien weiter im Süden der damit verbundenen römischen Provinz gerichtet ist, ist nicht nur für die Rekonstruktion der Geschichte des Frühchristentums und der paulinischen Mission von Bedeutung, sondern hat Konsequenzen für das Verständnis und die Interpretation des Briefes selbst, wenn dies auch in der Forschung nicht genügend Beachtung findet.45 Geht man von der Landschaftssichtlich der Missionstätigkeit des Paulus im Süden der Provinz Galatia übereinstimmen und erst durch die Vertreter der Landschaftshypothese mit der Annahme einer Mission im Norden der Provinz Galatia den Eindruck eines Gegensatzes zwischen Selbstzeugnis des Paulus und Aussagen der Apostelgeschichte geschaffen haben. Demgegenüber ist aber auf die bereits genannten Aussagen in Apg 16,6 und 18,23 zu verweisen, in denen auch die Apostelgeschichte die Erinnerung an eine Mission des Paulus in der Landschaft Galatien bewahrt haben könnte. Außerdem stellt sich die Frage, warum – wenn der Galaterbrief so eindeutig erkennen lässt, dass er an Gemeinden im Süden der Provinz gerichtet ist – die Provinz- bzw. südgalatische Hypothese offenbar erst so spät formuliert wurde. 43 So z. B. Mußner, Galaterbrief (HThK) 7–9 Vielhauer, Geschichte 108; Kümmel, Einleitung 259f.; Rohde, Galater (ThHK) 7f. 44 Vgl. Schlier, Galater (KEK) 16; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 410f.; Schnelle, Einleitung 115; Borse, Galater (RNT) 122; Rohde, Galater (ThHK) 8. Nach Michaelis, Einleitung 185, passe die Anrede als Galater jedoch auch für Pisidier und Lykaonier, da diese schon geraume Zeit zur Provinz Galatia gehörten; ähnlich Burton, Galatians (ICC) xxix. Dies würde allerdings voraussetzen, dass es tatsächlich üblich war, die Provinz allein mit Galatia zu bezeichnen, eine Annahme, die in der Forschung mehrheitlich abgelehnt wird. In Tac. ann. 15,6 könnten allerdings die Bewohner der Provinz als Galatae bezeichnet sein, doch wäre dies der einzige Beleg; vgl. dazu Mußner, Galaterbrief (HThK) 8, Anm. 38a; Witulski, Adressaten 19f., mit 20, Anm. 41. Neuerdings verweist man zudem auf Belege bei Pausanias und Strabon, die zeigen, dass mit Γαλάται (als Äquivalent zum lateinischen Celtae) nicht exklusiv die Bewohner der Landschaft Galatia, sondern allgemein Menschen keltischer Abstammung bezeichnet werden; so bei Breytenbach, Paulus 149f.; Theobald, Galaterbrief 353; Sänger, Adresse 14f. Diese Beobachtungen haben aber nur einen relativen Wert, da sie eine Erklärung fordern, warum Paulus Christen im Süden der Provinz Galatia, die man sich wohl mehrheitlich von griechischer und jüdischer Abstammung denken muss, als »Kelten« anreden sollte. Insgesamt ist m. E. das Belegmaterial zu gering und in seiner Deutung zu unsicher, um eine These mit so weitreichenden Konsequenzen, wie sie die Provinzhypothese für den Adressatenkreis des Galaterbriefes darstellt, abzusichern. 45 Gegen Vouga, Galater (HNT) 11, der die Frage nach der genauen Identität der Adressaten für die Interpretation des Galaterbriefes für belanglos erklärt; vgl. auch ders., Galaterbrief 243f. Für Theobald, Galaterbrief 351f., besteht die Relevanz der Alternative Provinz oder

5.1 Zum Stand der Forschung

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hypothese aus, der wohl mit gutem Grund der Vorzug zu geben ist, so sind die Adressaten des Galaterbriefes der Musterfall für das, was Paulus in Gal 2,9 als Ergebnis der Jerusalemer Übereinkunft in der Streitfrage der beschneidungsund gesetzesfreien Heidenmission angibt: »wir [Paulus, Barnabas und die Antiochener] zu den Heiden, sie [d. h. Petrus, Jakobus und die Jerusalemer] zu den Juden«. Dies ist durchaus erhellend für die Funktion und den argumentativen Stellenwert des Berichtes über die Jerusalemer Übereinkunft im Kontext des Galaterbriefes; denn damit stellt sich die Frage, ob es hier tatsächlich um eine Apologie des Paulus und seiner Verkündigung geht, oder ob Paulus hier nicht vielmehr als Ankläger auftritt, der seinen Konkurrenten eine Kompetenzüberschreitung und den Bruch der zwischen ihm und den Autoritäten der Jerusalemer Gemeinde getroffenen Vereinbarung für die Heidenmission vorwirft. 5.1.4 Profil und Identität der konkurrierenden Missionare Seit beinahe hundert Jahren besteht in der neutestamentlichen Forschung kein Konsens mehr über die Identität jener Missionare, die in den galatischen Gemeinden nach dem Weggang des Paulus aufgetreten waren und deren Verkündigung er um der Wahrheit des Evangeliums willen im Galaterbrief so entschieden entgegentritt. Dies ist dadurch bedingt, dass der Galaterbrief die einzige Quelle für die Vorgänge in den galatischen Gemeinden und damit auch für die Rekonstruktion der Verkündigung der Konkurrenten des Paulus ist.46 Der Galaterbrief ist aber keine unproblematische Quelle. Denn zum einen sagt Paulus selbst nichts darüber, wer jene konkurrierenden Missionare sind oder woher sie kommen, so dass man sie mit bekannten Gruppierungen des Frühchristentums identifizieren oder zumindest verbinden könnte. Zum anderen liegt die Schwierigkeit in der Eigenart des Briefes selbst. Der Galaterbrief ist eine tendenziöse Quelle, in der nur eine der betroffenen Parteien zu Wort kommt; der Brief zielt nicht auf eine objektive und differenzierte Auseinandersetzung mit der gegnerischen Lehre, sondern, um seine eigene Position durchzusetzen, ist Paulus durchaus bemüht, seine Konkurrenten und ihre Lehre in

Landschaft in erster Linie in den Folgen für die Datierung des Galaterbriefes, da die Provinzhypothese – in Rückbindung an die Angaben der Apostelgeschichte (Apg 13f.) – eine Frühdatierung des Briefes und damit auch der darin entfalteten Rechtfertigungslehre ermögliche oder sogar erzwinge. Dies setzt allerdings ein hohes Vertrauen in die historische Zuverlässigkeit der Angaben der Apostelgeschichte über das Leben und Wirken des Paulus voraus. Ähnlich auch Rohde, Galater (ThHK) 5. Einige kritische Anmerkungen zur gegenwärtigen Tendenz der Forschung, die Frage nach den Adressaten des Galaterbriefes für die Auslegung des Briefes als belanglos zu erklären, bei Sänger, Adresse 3–7. 46 Eine Auflistung der im Galaterbrief enthaltenen, für eine historische Rekonstruktion relevanten Aussagen des Paulus über die Lehre und das Verhalten seiner »Gegner« in Galatien finden sich bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 11–14; vgl. auch Martyn, Mission 352–358.

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ein möglichst schlechtes Licht zu setzen. Daher besteht der berechtigte Verdacht, dass die stark polemisierenden Äußerungen des Paulus die Positionen seiner Konkurrenten überzeichnen und mitunter sogar absichtlich verzeichnen (vgl. besonders Gal 1,7; 4,17; 6,12f.).47 Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass Paulus im Galaterbrief mit keinem Wort erwähnt, wie und durch wen er von den in seinen Augen bedenklichen Vorgängen in den Gemeinden Kenntnis erhalten hat.48 Müsste man nicht erwarten, dass Paulus es in seinem Brief explizit erwähnen würde, wenn er die Nachrichten darüber durch eigene Mitarbeiter oder Vertreter der galatischen Gemeinden erhalten hätte (vgl. z. B. 1 Kor 1,11)? Deshalb ist nicht auszuschließen, dass Paulus nur sehr unzureichend informiert war und überdies manches falsch verstanden und eingeordnet hat, wozu auch seine früheren negativen Erfahrungen in Antiochia und mit Vertreten der Jerusalemer Gemeinde (vgl. Gal 2,4f.12) beigetragen haben könnten.49 Dies alles führt zu 47

Dazu Eckert, Verkündigung 229–238; Lührmann, Galater (ZBK) 104; Egger, Galaterbrief (NEB) 7; vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) lxxxix. Broer, Einleitung 438, weist jedoch darauf hin, dass das von Paulus gezeichnete Bild seiner »Gegner« ihnen und ihrer Verkündigung insgesamt wohl doch relativ nahe kommen muss; denn damit Paulus mit dem Galaterbrief überhaupt sein Ziel erreichen konnte, mussten seine Adressaten in seinen diskreditierenden Aussagen die bei ihnen aufgetretenen Prediger wiedererkennen können. 48 Rohde, Galater (ThHK) 10, nennt drei mögliche »Quellen« für das Wissen des Paulus über die Vorgänge in Galatien: ein Brief aus den dortigen Gemeinden, Boten der Gemeinden oder eigene Mitarbeiter, die wegen der Durchführung des Kollektenwerkes in Galatien waren. Nach Borse, Galater (RNT) 10f., erhielt Paulus wohl im Zusammenhang mit der Kollekte für Jerusalem Kenntnis von der veränderten Situation in Galatien, d. h. die von ihm wegen der Kollekte nach Galatien entsandten Boten kamen mit entsprechenden Nachrichten aus den Gemeinden zurück. Dies ist nicht per se auszuschließen, doch würde man in diesem Fall doch erwarten, dass der Galaterbrief in irgendeiner Form auf die Beiträge der Galater für die Kollekte des Paulus oder den an sie ergangenen Kollektenauftrag Bezug nehmen würde. Zur Kollektenaktion vgl. ebd. 16. 49 Borse, Galater (RNT) 21–23, hält es für möglich, dass Paulus von seinen Informanten nicht mehr erfahren hat, als dass die heidenchristlichen Gemeinden in Galatien nach seinem Weggang jüdische Bräuche übernommen haben. Daraus habe er – auch aufgrund seiner Erfahrungen in Antiochia (Gal 2,11–14) – den Schluss gezogen, dass dies nur durch die Einflussnahme seiner judenchristlichen Konkurrenten und Gegner geschehen sein kann, d. h. er kann sich die veränderte Situation nur durch das Auftreten von Unruhestiftern erklären, die von außen in die Gemeinden eingedrungen sind. Tatsächlich aber sei für die plötzliche Hinwendung der Galater zu Beschneidung und Gesetzesobservanz die Tatsache verantwortlich gewesen, dass Paulus die Galater bei seinem Gründungsaufenthalt wegen seiner Krankheit nur ungenügend über sein »gesetzesfreies« Evangelium belehren konnte, so dass sie nach seinem Weggang beim eigenen Studium der biblisch-jüdischen Schriften aus ihnen falsche Schlüsse über die christliche Lebensweise zogen. Eindeutige Anhaltspunkte für diese weitreichende These lassen sich m. E. jedoch dem Text des Gal nicht entnehmen. Zudem muss man wohl einen zweiten Besuch des Paulus in Galatien annehmen (vgl. Gal 4,13), bei dem er spätestens das Versäumte nachholen hätte können. Da nach Borse (vgl. S. 182, Anm. 48) Paulus durch eigene Boten über die Situation in Galatien informiert wurde, müsste man außerdem annehmen, dass diese

5.1 Zum Stand der Forschung

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der berechtigten Frage, wie sicher man aus den Aussagen des Paulus die Botschaft der in den galatischen Gemeinden aufgetretenen konkurrierenden Missionare wirklich rekonstruieren kann. So wundert es nicht, dass gegenwärtig in der Forschung mehrere, einander ausschließende Vorschläge zu Profil und Identität der »Gegner« des Paulus in Galatien gemacht werden. (1) Trotz verschiedener Einwände wird in der Forschung bis heute noch immer mehrheitlich die traditionelle Annahme vertreten, dass es sich bei den Konkurrenten des Paulus um Judaisten, d. h. »judaisierende Judenchristen«, handelt.50 Dafür spreche ihr im Galaterbrief eindeutig belegtes Eintreten für die Befolgung des jüdischen Gesetzes (Gal 3,2.5; 5,4) und die Beschneidung (Gal 5,2.6.11f.; 6,12f.), die sie offensichtlich für alle Christen als absolut heilsnotwendig erachteten (vgl. Apg 15,1).51 Die von ihnen geforderte Beachtung bestimmter Festzeiten (Gal 4,10) verweise auf eine im Frühjudentum verbreitete Kalenderfrömmigkeit.52 Umstritten ist jedoch, ob sich die Herkunft der konkurrierenden Missionare aus der judenchristlich geprägten Gemeinde von Jerusalem und damit eventuell sogar eine von Jerusalem aus geplante und organisierte antipaulinische »Gegenmission« belegen lässt.53 Damit muss auch Boten bei ihrem Aufenthalt bei den galatischen Gemeinden nur einen ungenügenden Einblick in die dortigen Verhältnisse bekommen hätten. Die These von Borse entfaltet eine bereits bei Schlier, Galater (KEK) 19, als kritische Anfrage formulierte Hypothese. Auch Marxsen, Einleitung 49f., tendiert zu der Annahme, dass Paulus nur ungenaue Nachrichten über die Vorgänge in Galatien besaß und diese überinterpretierte und dadurch zu einer falschen Einschätzung seiner »Gegner« kam. Ähnlich auch Eckert, Verkündigung 234–236; zurückhaltend dagegen Mußner, Galaterbrief (HThK) 27f. 50 Unter den Kommentatoren des Galaterbriefes vertreten diese Hypothese z. B. Mußner, Galaterbrief (HThK) 24f.; Becker, Galater (NTD) 13; Longenecker, Galatians (WBC) xcvf.; Dunn, Galatians (BNTC) 9–11; Egger, Galaterbrief (NEB) 8; Lührmann, Galater (ZBK) 11 und 106f. Auch die neutestamentlichen Einleitungen tendieren mehrheitlich für diese Hypothese; so z. B. Wikenhauser/Schmid, Einleitung 417; Vielhauer, Geschichte 123f. Schnelle, Einleitung 120–122; Pokorný/Heckel, Einleitung 214–218; vgl. auch Lona, Paulus 73. 51 Dazu Jewett, Agitators 200f. und 207. 52 Als Belege in der frühjüdischen Literatur ließen sich nennen 1QS 1,13–15; 9,26–10,8; 1QM 2,4; 10,15; CD 3,12–16; 16,2–4; Jub 6,32; 1 Hen 72,1; 75,3f.; 79,2; 82,4.7–10; vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 298–301; Schnelle, Einleitung 120f.; Lohse, Paulus 190f.; ausführlich dazu auch D. Lührmann, Tage, Monate, Jahreszeiten, Jahre (Gal 4,10), in: R. Albertz u. a. (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments (FS C. Westermann), Göttingen 1980, 428– 445. Argumente gegen eine Interpretation von Gal 4,10 (ἡμέρας παρατηρεῖσϑε καὶ μῆνας καὶ καιροὺς καὶ ἐνιαυτούς) auf den jüdischen Festkalender bei Witulski, Adressaten 152–157; das von ihm angeführte Fehlen des Sabbat in der Aufzählung, ist aber m. E. der polemischen Argumentation in Gal 4,8–11 geschuldet, mit der Paulus die Übernahme der jüdischen Gesetzesobservanz als Rückfall in den von den Galatern an sich bereits überwundenen heidnischen Götzendienst diskreditiert werden soll. Ausführlicher dazu auf S. 364f. 53 Für die Herkunft der judenchristlichen Konkurrenten des Paulus aus der Jerusalemer Gemeinde votiert z. B. Longenecker, Galatians (WBC) xcv; kritisch Vielhauer, Geschichte 118f.; vorsichtig auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 25–27. Hinweise auf Petrus als treibende Kraft hinter einer gezielten antipaulinischen Mission in Antiochia, Korinth und Galatien sieht

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5. Der Brief an die Galater

offen bleiben, ob und, wenn ja, welche Verbindungen es zwischen den judenchristlichen Missionaren in Galatien und den »Jakobusleuten« gab, die in Antiochia nach der Übereinkunft von Jerusalem erneut Unruhe gestiftet hatten (Gal 2,12); dasselbe gilt für die Frage nach möglichen Verbindungen zu den »falschen Brüdern«, die sich bereits zuvor in der Gemeinde von Antiochia »eingeschlichen« und gegen die dortige Evangeliumsverkündigung und Praxis opponiert hatten (Gal 2,4).54 (2) Nach Emanuel Hirsch (1930) dagegen sind die Gegner des Paulus Heidenchristen, die sich vom gesetzes- und beschneidungsfreien Evangelium, wie es Paulus vertrat, abgewandt und judaisierenden Forderungen zugewandt hatten.55 Nach Wilhelm Michaelis (1931) dagegen handelt es sich bei den Gesetzes- und Beschneidungspredigern um Heiden, die schon vor Beginn der gesetzes- und beschneidungsfreien Heidenmission Christen geworden waren und deshalb weiter für die Beschneidung der Heiden votierten.56 Möglicherweise handelte es sich – so Emanuel Hirsch – bei diesen von außerhalb in die galatischen Gemeinden gekommenen Missionaren um Christen aus dem Umfeld der Gemeinde Antiochias, die Paulus von früher bekannt waren und mit denen er sogar zusammengearbeitet hatte. Sie forderten die heidenchristlichen Galater auf, es ihnen gleich zu tun und sich ebenfalls beschneiden zu lassen. Dies ergebe sich aus dem Partizip Präsens περιτεμνόμενοι in Gal 6,13, d. h. Leute, »die sich gerade eben beschneiden lassen«; ginge es nämlich um Judenchristen, die schon von Geburt an beschnitten waren, müsste ein Partizip PerH. Lietzmann, Zwei Notizen zu Paulus, in: ders., Kleine Schriften II. Studien zum Neuen Testament, hrsg. von K. Aland (TU 68), Berlin 1958, 284–291, hier 287–291 [zuerst in: SPAW.PH 8 (1930) 151–156]. 54 Eine zumindest inhaltliche Affinität zwischen den Konkurrenten des Paulus in Galatien und den Jakobusleuten in Antiochia (Gal 2,12) sehen Schenke/Fischer, Einleitung 1, 83; vgl. auch Suhl, Briefe 164f. Eine Verbindung zu den »falschen Brüdern« aus Gal 2,4 halten Pokorný/Heckel, Einleitung 217, für denkbar; vgl. auch Lohse, Paulus 189. Für Schlier, Galater (KEK) 19f., dagegen lassen sich die fremden Missionare in Galatien nicht ohne Weiteres mit den Jakobusleuten verbinden, da jüdische Speisevorschriften bei der Kontroverse in Galatien offenbar nicht im Vordergrund standen. Vgl. auch Schmithals, Häretiker 26 und 33–38; ders., Judaisten 32. Jewett, Agitators 204–206, wiederum sieht den historischen Hintergrund der judenchristlichen Agitationen in Galatien darin, dass die Judenchristen in Palästina durch den wachsenden Einfluss der Zeloten in Galiläa und Judäa und ihre Forderung nach Reinheit und Abgrenzung Israels (Ios. ant. Iud. 20,113 und 118; bell. Iud. 2,254–257 und 264f.; 4,335– 344) immer mehr unter Druck gerieten und Verfolgungen fürchten mussten. Um den wachsenden Druck der Zeloten zu mindern und Repressalien zu entgehen, entschieden sich die palästinischen Judenchristen zu einer Forcierung des Nomismus, einschließlich der Beschneidungsforderung, und propagierten diese Haltung auch in den christlichen Gemeinden außerhalb Palästinas. Vgl. dazu auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 21f.; Longenecker, Galatians (WBC) cxiii. 55 E. Hirsch, Zwei Fragen zu Gal 6, in: ZNW 29 (1930) 192–197; dazu Mußner, Galaterbrief (HThK) 16; Rohde, Galater (ThHK) 16f. 56 W. Michaelis, Judaistische Heidenchristen, in: ZNW 30 (1931) 83–89.

5.1 Zum Stand der Forschung

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fekt stehen. Dieser Sicht schloss sich auch Hans Lietzmann (1932) an.57 Mehrheitlich verweist man jedoch darauf, dass der Kontext von Gal 6,13 eher für eine kausative Bedeutung des Partizips περιτεμνόμενοι spreche, also diejenigen, »die die Beschneidung fordern«.58 Für sich allein genügt das Partizip in Gal 6,13 jedenfalls nicht, um eine für das Verständnis des Galaterbriefes und die Geschichte des Frühchristentums so weitreichende These zu begründen. (3) Wilhelm Lütgert (1919) wiederum nahm an, dass Paulus in den galatischen Gemeinden gegen zwei Fronten kämpfen musste, nämlich gegen Judaisten und gegen libertinistische Pneumatiker.59 Denn der Galaterbrief wende sich einerseits gegen einen judaistischen Nomismus, der für eine strenge Gesetzesobservanz einschließlich der Beschneidung eintrat (vgl. Gal 2,16; 3,2.21; 4,21; 5,4), andererseits aber gegen einen antinomistischen Libertinismus, der falsche Konsequenzen aus der paulinischen Freiheits-Botschaft zog (vgl. Gal 5,13.16; 6,1.8). Denn man könne wohl kaum annehmen, dass Paulus dieselben Leute zunächst wegen ihres falschen Vertrauens auf die »Werke des Gesetzes« tadeln, dann aber vor einer allzu großen moralischen Unbekümmertheit warnen sollte. Kritisch lässt sich zur These Wilhelm Lütgerts anmerken, dass sie den usuellen Charakter der auf der Grundlage traditioneller Tugend- und Lasterkataloge formulierten Paränese verkennt und deshalb davon ausgeht, aus den antilibertinistischen Mahnungen des Schlussabschnittes des Briefes könne und dürfe man unmittelbare Rückschlüsse auf aktuelle Missstände in den galatischen Gemeinden ziehen.60 57

Vgl. Lietzmann, Galater (HNT) 44f.; daran anknüpfend J. Munck, Paulus und die Heilsgeschichte (Acta Jutlandica 16,1), Kopenhagen 1954, 79–126; dazu Mußner, Galaterbrief (HThK) 16f.; Longenecker, Galatians (WBC) xcif.; Bruce, Galatians (NIGTC) 24f.; Rohde, Galater (ThHK) 17f. 58 Ausführlich dazu Becker, Galater (NTD) 13 und 99f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 412f., Anm. 23; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 416; vgl. auch Eckert, Verkündigung 34f.; Schmithals, Häretiker 37f.; Jewett, Agitators 198f. und 202f. 59 W. Lütgert, Gesetz und Geist (BFChrTh 22/6), Gütersloh 1919; dazu Jewett, Agitators 198; Mußner, Galaterbrief (HThK) 15; Longenecker, Galatians (WBC) xci; Bruce, Galatians (NIGTC) 23. Eine modifizierte Form dieser Zwei-Fronten-Theorie bei R. T. Stamm, The Epistle to the Galatians, in: The Interpreter’s Bible 10 (1957) 429–593. Für R. T. Stamm sieht Paulus sich in den galatischen Gemeinden auf der einen Seite mit konservativen christlichen Judaisten konfrontiert, die den Glauben durch Gesetzesobservanz ergänzt sehen wollen, auf der anderen Seite mit progressiven christlichen Gesetzeskritikern, die Paulus der Erneuerung eines jüdischen Legalismus unter christlichem Vorzeichen bezichtigen. 60 In diesem Sinn auch Lührmann, Galater (ZBK) 85. Näheres zur Traditionsgebundenheit der neutestamentlichen Tugend- und Lasterkataloge sowie zum usuellen Charakter ihrer ethischen Ermahnungen neben der Studie von Anton Vöglte (Literaturverzeichnis) bei Lona, Paulus 78; Marxsen, Einleitung 29; Vielhauer, Geschichte 49–57; Dormeyer, Literaturgeschichte 135f.; vgl. auch Lührmann, Galater (ZBK) 90f. Die Prüfung der von Wilhelm Lütgert zugunsten seiner These angeführten Textstellen zeigt zudem, dass sich das Nebeneinander antinomistischer und antilibertinistischer Aussagen im Galaterbrief nicht einem »Zweifrontenkrieg« verdankt, sondern dass Paulus zum einen die Galater auf von ihnen nicht hinreichend

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5. Der Brief an die Galater

(4) Walter Schmithals (1956) identifiziert die von Paulus im Galaterbrief bekämpften Gegner als Vertreter einer judenchristlichen Gnosis.61 Bei den in den galatischen Gemeinden aufgetreten Missionaren könne es sich nämlich nicht um Judaisten im eigentlichen Sinn handeln, da diese von den Galatern nur die Beschneidung fordern, ohne ihnen gleichzeitig die volle Übernahme der Gesetzesverpflichtung aufzuerlegen; deshalb müsse erst Paulus die Galater auf diese Konsequenz aus der Beschneidung hinweisen (Gal 5,3; 6,13).62 Ihre Predigt der Beschneidung sei taktisch motiviert gewesen, da sie hofften, so die Anerkennung durch die Juden zu erlangen. Die Gegner des Paulus selbst tendierten demnach offensichtlich zu einem ethischen Libertinismus.63 Das Nebeneinander von Beschneidungsforderung und Libertinismus deute auf eine synkretistische Gruppierung, deren Identität sich aus dem Hinweis auf die Verehrung der στοχεῖα in Gal 4,9 erschließen lasse. Diese erinnern an die im deuteropaulinischen Kolosserbrief bekämpften »Irrlehrer«, die ebenfalls für die Verehrung der στοχεῖα τοῦ κόσμου warben (Kol 2,8.20).64 Eine weitere Verbindung der kolossischen »Philosophie« mit den Gegnern des Paulus in Galatien bestehe in ihrer Kalenderfrömmigkeit und in der Befolgung zumindest einzelner Gesetzesvorschriften (vgl. Kol 2,16f.). Dies spreche für einen gemeinsamen religionsgeschichtlichen Hintergrund beider Gruppen; da Walter Schmithals davon ausgeht, dass es sich bei der kolossischen »Philosophie« um Vertreter einer judenchristlichen Gnosis handelt (so seit dem 19. Jh. vertreten), meint er, dies auch für die Konkurrenten des Paulus in Galatien postulieren zu können. Einer derartigen Einordnung der kolossischen »Philosophie« bedachten Konsequenzen der Beschneidung hinweisen will (d. h. die volle Gesetzesverpflichtung), zum anderen einer libertinistischen Fehlinterpretation seiner Verkündigung (durch seine »Gegner«) vorbeugen will; vgl. dazu Mußner, Galaterbrief (HThK) 24f.; Becker, Galater (NTD) 12; Eckert, Verkündigung 232; Vielhauer, Geschichte 120; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 416; Schnelle, Einleitung 119f. Dagegen geht Schlier, Galater (KEK) 23f., von einer Gruppe von »Gegnern« aus, die beides – Nomismus und Libertinismus – in sich vereint; es handle sich demnach um Judenchristen, die sich mit den von Epiphanius beschriebenen Anhängern des Kerinth vergleichen lassen (vgl. haer. 28,1ff.). 61 Die relevanten Arbeiten von Schmithals im Literaturverzeichnis; kritische Anmerkungen zu seiner These bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 17f.; Vielhauer, Geschichte 120–123; Longenecker, Galatians (WBC) cxii; Schnelle, Einleitung 120; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 87f.; Kümmel, Einleitung 261f.; außerdem Rohde, Galater (ThHK) 18f.; Bruce, Galatians (NIGTC) 25. 62 Vgl. Schmithals, Häretiker 42f.; ders., Judaisten 51f. 63 Schmithals, Judaisten 55f., verwehrt sich zwar gegen den Vorwurf (bei Vielhauer), er habe jemals behauptet, die Konkurrenten des Paulus in Galatien hätten eine Form von Libertinismus vertreten; vgl. jedoch seine früheren Ausführungen in ders., Häretiker 55–59, bes. 55f. 64 Dazu Schmithals, Häretiker 48–50; (vorsichtiger nach der Kritik Vielhauers) ders., Judaisten 48f.; vgl. auch Pokorný/Heckel, Einleitung 217. Zur Frage nach der Bedeutung der στοιχεῖα τοῦ κόσμου im Galaterbrief und der Vergleichbarkeit mit den Aussagen im Kolosserbrief (in kritischer Auseinandersetzung mit den Thesen Schmithals) vgl. Vielhauer, Geschichte 115–117; außerdem Wolter, Kolosser (ÖTK) 122–124

5.1 Zum Stand der Forschung

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wird in der neueren Forschung aber entschieden widersprochen.65 Zudem ist unklar, ob und wie sich die Forderung der Beschneidung tatsächlich mit der Gnosis verbinden lässt.66 (5) Nikolaus Walter (1986) schließlich geht davon aus, dass es sich bei den Konkurrenten des Paulus in Galatien überhaupt nicht um christliche Missionare handelt, sondern um Juden; deren Auftreten sei im Kontext einer gezielt von den Juden betrieben antipaulinischen Gegenmission zu sehen, die eine Ausbreitung des gesetzes- und beschneidungsfreien Evangeliums verhindern soll (Hinweis dafür finden er in Apg 20f.).67 Eine ähnliche These vertritt auch 65 Näheres zum Problem der religionsgeschichtlichen Einordnung und zur Identifizierung der kolossischen »Philosophie« bei Luz, Kolosser (NTD) 215–219 (asketische Judenchristen); Wolter, Kolosser (ÖTK) 155–163 (Vertreter esoterischer Offenbarungsweisheiten jüdischhellenistischer Provenienz); Schnelle, Einleitung 337–340 (synkretistische Bewegung aus jüdischen Elementen, phrygisch-lydischer Volksfrömmigkeit, neupythagoreischer Philosophie und Mysterienkulten); vgl. auch Broer, Einleitung 499–504; Pokorný/Heckel, Einleitung 637–640. Der Hauptvertreter für die Identifizierung der kolossischen »Philosophie« als Gnosis ist G. Bornkamm, Die Häresie des Kolosserbriefes, in: ders., Das Ende des Gesetzes (BEvTh 16), München 31961, 139–156; vgl. auch W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis (EdF 208), Darmstadt 1984; ablehnend Markschies, Gnosis 73f. 66 Vgl. Becker, Galater (NTD) 12. In seiner ersten Stellungnahme zur Frage nach den »Häretikern« in Galatien, verwies Schmithals zur Begründung seiner These darauf, dass es nach dem »Apostelkonzil« kein Judenchristentum mehr gegeben habe, das die Beschneidung der Heidenchristen forderte; durch das Zeugnis der Kirchenväter (Tertullian, Hippolyt, Epiphanius u. a.) aber sei bekannt, dass (judenchristliche) Gnostiker dies taten; vgl. ders., Häretiker 43–48 (mit den Belegstellen bei den Kirchenvätern). In der späteren Präzisierung seiner These hat Schmithals dieses Argument nicht nochmals aufgegriffen; vgl. ders., Judaisten 48; zur Problematik dieses Arguments auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 18, Anm. 81. Nach Marxsen, Einleitung 52–55, lasse sich den Aussagen des Paulus im Galaterbrief entnehmen, dass die bei den Galatern gepredigte Beschneidung nicht die jüdische war, da sie nicht mit einer Verpflichtung auf das mosaische Gesetz verbunden war. Dies ergebe sich daraus, dass erst Paulus die Galater auf diese Konsequenz hinweisen muss (Gal 5,3). Denn für den ehemaligen pharisäischen Juden Paulus sei eine Beschneidung, die nicht dem Gesetz unterstellt und dem Judentum eingliedert, undenkbar. Aus der Tatsache der Verkündigung der Beschneidung ziehe Paulus deshalb aber zugleich den unzutreffenden Schluss, bei den konkurrierenden Missionaren handle es sich um Judaisten. Die Aussagen des Paulus, die auf eine jüdische bzw. judenchristliche Herkunft seiner Gegner schließen lassen, sind für Marxsen deshalb letztlich das Ergebnis einer Fehlinterpretation der Vorgänge in den galatischen Gemeinden und für eine Rekonstruktion des Profils der konkurrierenden Missionare, die er als Vertreter eines »christlich-jüdisch-gnostischen Synkretismus« identifiziert, nicht zu berücksichtigen. Kritisch lässt sich dazu anmerken, dass Marxsen den Wortlaut und den argumentativen Kontext der zur Begründung seiner These zentralen Aussage in Gal 5,3 nicht genügend beachtet: Paulus spricht explizit von ὅλον τὸν νόμον ποιῆσαι, was als Antithese eine nur partielle Erfüllung des Gesetzes konstituiert. Paulus will damit offensichtlich auf die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens und damit auch auf die Unmöglichkeit einer Selbstrechtfertigung durch die Werke des Gesetzes hinweisen (vgl. z. B. Röm 2,17–29; Gal 3,9–25). Kritisch zu Marxsen auch Schenke/ Fischer, Einleitung 1, 88; Rohde, Galater (ThHK) 19f. 67 Zu den entsprechenden Studien von Walter vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis.

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5. Der Brief an die Galater

Mark D. Nanos (2002).68 Doch kommen die jüdischen Konkurrenten des Paulus seiner Meinung nach nicht von außerhalb nach Galatien, sondern lebten schon früher in Nachbarschaft zu den von Paulus zum Christentum bekehrten Heiden; diejenigen, die die Gemeinden des Paulus verwirren und Unruhe stiften, sind demnach Mitglieder der lokalen Synagogengemeinden.69 Diese sehen sich mit dem Anspruch der von Paulus getauften Heiden konfrontiert, nun auch als »Söhne Abrahams« zum »Volk Israel« zu gehören; als Mitglieder der jüdischen religio licita setzen sie darauf, von der Pflicht zur Teilnahme am offiziellen Kult der Polis und des Reiches befreit zu sein (bes. Kaiserkult).70 Als sich die jüdischen Gemeinden gegen ihren Anspruch wehren, geraten die galatischen Christen wegen der Verweigerung der Kultteilnahme unter Druck. Um die Situation zu entschärfen, biete die Synagoge den unbeschnittenen Heidenchristen deshalb die Möglichkeit an, sich beschneiden zu lassen und als Proselyten förmlich dem Judentum beizutreten, ein Angebot, das die galatischen Christen aus Angst vor einem Verlust von Status und Privilegien anzunehmen bereit sind (religio licita).71 Der Haupteinwand gegen diese These besteht darin, dass ihre Voraussetzungen fraglich oder nicht haltbar sind. Zum einen lässt sich in der neutestamentlichen Zeit für die Landschaft Galatien die Existenz jüdischer Siedler, geschweige denn Synagogen, nicht zweifelsfrei nachweisen (vgl. S. 177). Zum anderen kannte die griechisch-römische Religion keine Partizipationspflicht und folglich auch keine Kontrolle der Kultteilnahme und keine Sanktionen bei Fernbleiben von öffentlichen Kulthandlungen und religiösen Feiern (dies galt auch für den Kaiserkult, der in den galatischen Städten für diese Zeit zwar nachweisbar ist [Pessinus und Ankyra], aber nur eine marginale Rolle spielte).72 Damit war für die Adressaten des Galaterbriefes die Fra68

Eine knappe Kritik zur These von Nanos bei Schnelle, Einleitung 121, Anm. 332. Zur Begründung vgl. Nanos, Irony 160–183. Eine ähnliche Hypothese wurde bereits von J. H. Ropes, The Singular Problem of the Epistle to the Galatians (HThS 14), Cambridge 1929, formuliert; zustimmend dazu K. Lake, Paul’s Controversies, in: F. J. Foakes Jackson/ders. (Hg.), The Beginnings of Christianity. Part I: The Acts of the Apostles, Vol. 5, London 1933, 212–223, hier 215; ablehnend zu solchen Thesen hingegen Wikenhauser/Schmid, Einleitung 416; Jülicher, Einleitung 70f.; Fung, Galatians (NICNT) 3f. 70 Ausführlich Nanos, Irony 260–271. 71 Im einzelnen dazu Nanos, Irony 217–242. 72 Näheres dazu bei Bauer, Messiasreich 292–314; ausführlich S. Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum (BZNW 127), Berlin/New York 2004. Die bei Plin. epist. 10, 96 genannten Opfer vor dem Kaiserbild können nicht als Gegenargument dienen, da es hier nicht um die Einforderung und Kontrolle einer allgemeinen, strafbewährten Kultpflicht geht, sondern um eine von Plinius d. J. als Statthalter und Richter ad hoc eingeführte Maßnahme zur Überprüfung, ob eine Person zurecht als Christ angezeigt wurde bzw. ob die Unschuldsbeteuerung eines Beschuldigte mehr als nur Lippenbekenntnis war. Diese Opfer sind nicht Teil eines verpflichtenden und kontrollierten Staatskultes, sondern Plinius nutzt sie als Mittel zur Überprüfung der Loyalität gegenüber der römischen Staatsmacht. Außerdem lassen die Anga69

5.1 Zum Stand der Forschung

189

ge nach der »Mitgliedschaft« in einer offiziell anerkannten und entsprechend privilegierten religio licita kaum relevant (zumal das römische Recht einen solchen Begriff nicht kannte).73 Aber selbst wenn man die von Mark D. Nanos vorgetragene Rekonstruktion der Vorgänge in Galatien beiseite lässt und wie Walter Nikolaus in den Gegnern des Paulus lediglich von außen kommende jüdische Missionare sieht, bleibt als Einwand immer noch die Frage, wie man jene Stellen des Briefes verstehen soll, an denen Paulus eindeutig davon auszugehen scheint, dass seine Gegner – nicht anders als er selbst – Jesus Christus verkünden (vgl. Gal 1,6f.; 3,26 – 4,7).74 Eine ähnliche Sicht wie bei Mark D. Nanos wurde zuvor und gleichzeitig von Bruce W. Winter (1994/2002) vorgetragen; er situiert die Vorgänge jedoch nicht im Norden, sondern im Süden der Provinz Galatia (Antiochia in Pisidien).75 (6) Auf den Kaiserkult als Hintergrund der von Paulus im Galaterbrief bekämpften Vorgänge in den adressierten Gemeinden fokussiert auch Thomas Witulski (2000).76 Das Besondere seiner These besteht jedoch in der von ihm ben des Plinius d. J. erkennen, dass das von ihm um 111 n. Chr. beschriebene Verfahren neu ist, d. h. erst von ihm als Reaktion auf stark zunehmende Anzeigen gegen Christen eingeführt wurde. Näheres bei A. Reichert, Durchdachte Konfusion. Plinius, Trajan und das Christentum, in: ZNW 93 (2002) 227–250, und K. Thraede, Noch einmal: Plinius d. J. und die Christen, in: ZNW 95 (2004) 102–128. Zum Kaiserkult in den galatischen Städten vgl. auch C. Miller, The Imperial Cult in the Pauline Cities of Asia Minor and Greece, in: CBQ 72 (2010) 314–352; außerdem Hardin, Galatians 68–71. 73 Der Begriff religio licita für das Judentum findet sich erst an der Wende vom 2. zum 3. Jh. bei dem Christen Tertullian (apol. 21,1); vgl. dazu insgesamt J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, hier 41f.; außerdem Hardin, Galatians 13 (hier auch Anm. 66). Nanos, Irony 260, beruft sich auf die bei Flavius Josephus zitierten römischen Dekrete zugunsten der Juden: ant. Iud. 16,162–165 Augustus an die einzelnen Provinzen; ant. Iud. 16,166 Augustus an Narbonus Flaccus; ant. Iud. 16,167f. M. Agrippa nach Ephesus; ant. Iud. 169f. M. Agrippa nach Kyrene; ant. Iud. 16,171 Proc. C. Narbonius Flaccus an den Magistrat von Sardes; ant. Iud. 16,172f. Proc. Julius Antonius nach Ephesus. Diese Dekrete, die das Leben nach jüdischen Gebräuchen (Sabbat) und die Tempelsteuer für Jerusalem erlauben, haben weder mit der Befreiung von einer offiziellen Kultpflicht noch mit der Konstituierung des Judentums als religio licita zu tun, sondern gehören in den Kontext der allgemeinen staatlichen Zulassung und Aufsicht über (religiöse) Vereine und Kollegien. Eine Befreiung von der »Kultpflicht« war weder nötig noch möglich, da es eine entsprechende Pflicht in der frühen Kaiserzeit nicht gab. Vgl. auch Frey, Judentum 13f.; außerdem M. Pucci Ben Zeev, Jewish Rights in the Roman World (TSAJ 74), Tübingen 1998. 74 Vgl. Becker, Galater (NTD) 12. 75 Vgl. B. W. Winter, Seek the Welfare of the City. Christians as Benefactors and Citizens (First-Century Christians in the Graeco-Roman World), Grand Rapids 1994, 123–144 (zu Gal 6,11–18); ders., The Imperial Cult and Early Christians in Pisidian Antioch (Acts XIII 13–50 and Gal VI 11–18), in: Th. Drew-Bear u. a. (Hg.), Actes du 1er Congrès International sur Antioche de Pisidie (Collection Archéologie et histoire de l’antiquité 5), Lyon 2002, 67–75. Dazu Hardin, Galatians 12f. 76 Für die folgenden Ausführungen vgl. im einzelnen Witulski, Adressaten 46–81 und 152–175; dazu Hardin, Galatians 14f.

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5. Der Brief an die Galater

für den Galaterbrief vertretenen Interpolationshypothese.77 Im ursprünglichen Galaterbrief habe Paulus – gemäß der traditionellen Sicht – Konkurrenten mit einer judaisierenden Gesetzes- und Beschneidungspredigt bekämpft. Der Abschnitt Gal 4,8–20 setze demgegenüber eine völlig andere Situation voraus, nämlich den Rückfall in die mit der Taufe an sich überwundene heidnische Religiosität, und gebe sich damit als nachträglicher Einschub zu erkennen. Dieser von einem nachpaulinischen Redaktor eingefügte Abschnitt sei ein Teil eines Paulusbriefes gewesen, der ebenso wie der ursprüngliche Galaterbrief an die paulinischen Gemeinden im Süden der Provinz adressiert war.78 Was Paulus in diesem Text als Rückfall in das Heidentum brandmarkt, ziele konkret auf die Gefahr, dass seine Adressaten der Faszination des Kaiserkultes erlagen, der in den Städten im Süden der Provinz Galatia mit einem großen Aufwand für Kultfeiern, spectacula und Speisungen betrieben wurde. Die »Tage, Monate, Festzeiten und Jahre« in Gal 4,10 bezögen sich deshalb auch nicht auf jüdische Kalenderobservanz, sondern auf den Festkalender des Kaiserkultes.79 Bei den von Paulus in Gal 4,17 attackierten und als seine Konkurrenten stilisierten Personen wiederum handle es sich um Mitglieder der lokalen Eliten (Dekurionen), die sich um ihres eigenen sozialen Prestiges und ihres Aufstiegs in der Reichshierarchie willen im Kaiserkult engagierten. Zuzustimmen ist Thomas Witulski sicher ganz allgemein darin, dass der Kaiserkult eine Herausforderung für die frühen christlichen Gemeinden darstellte, nicht wegen damit ver77 Zu den Wurzeln, den Argumenten, aber auch zur Problematik der Interpolationshypothese von Witulski vgl. die Ausführungen oben S. 10f., Anm. 49. 78 Als Begründung für die Annahme, dass der interpolierte Abschnitt Gal 4,8–20 ebenfalls aus einem Brief des Paulus an die Galater stammt, gibt Witulski, Adressaten 82, Anm. 2, an: »Daß in gleicher Weise wie im Gal ›A‹ [i. e. der ursprüngliche Galaterbrief] auch hier in Gal 4,8–20 Christen angeredet waren, die in der römischen Provinz Galatia leben, muß aufgrund der Tatsache, daß dieser Abschnitt nachträglich in den vorliegenden Gal ›A‹, dessen Adressaten aber als οἱ Γαλάται angesprochen werden, eingefügt wurde, m. E. als erwiesen gelten.« Es scheint, dass Witulski – was er allerdings so nicht explizit sagt – hier mit der Analogie zu anderen Paulusbriefen, für die Kompilationshypothesen vertreten werden, argumentieren will. Denn auch bei den beiden kanonischen Korintherbriefen geht man – sofern man in ihnen nicht von Paulus einheitlich konzipierte Schreiben sieht – davon aus, dass die in ihnen »verarbeiteten« Briefe nicht an verschiedene Gemeinden, sondern alle nach Korinth adressiert waren. Dies mag auch – sofern man der Interpolationshypothese zustimmten will – für den Galaterbrief plausibel sein, zwingend aber ist diese Annahme nicht. Die von Witulski, ebd. 215– 221, zusätzlich angeführten Argumente haben m. E. nur relativen Wert, da sie voraussetzen, dass die von ihm vorgenommenen Verbindung von Gal 4,8–20 mit dem Kaiserkult zwingend ist, und auf dieser Basis erklärt, dass dies die Lokalisierung der Adressaten im Süden der Provinz erfordere, da hier die Zentren des kleinasiatischen Kaiserkultes lagen und hier – genauer in Antiochia in Pisidien – just in der Zeit nach der Mission und Gemeindegründung des Paulus die öffentliche kultische Verehrung des Kaisers begonnen habe. Dazu auch Hardin, Galatians 71–81; Näheres bei Th. Witulski, Kaiserkult in Kleinasien. Die Entwicklung der kultisch-religiösen Kaiserverehrung (NTOA 63), Göttingen/Fribourg 2007. 79 Vgl. Witulski, Adressaten 158–168; zustimmend Hardin, Galatians 116–147.

5.1 Zum Stand der Forschung

191

bundener Christenverfolgungen oder der Verlockung zur tatsächlichen Lossagung vom christlichen Bekenntnis, sondern wegen der damit verbundenen spektakulären Inszenierungen, die auch bei Christen Neugier und Schaulust weckten.80 Fraglich bleibt jedoch – unbesehen der Problematik der von Thomas Witulski vorgetragenen Interpolationshypothese –, ob der Abschnitt Gal 4,8–20 wirklich so zwingend auf den Kaiserkult bezogen werden kann; einfacher scheint m. E. die Annahme einer polemisch motivierten Parallelisierung der Bereitschaft der Adressaten zu Beschneidung und Gesetzesobservanz mit Glaubensabfall und Rückkehr ins Heidentum (dazu ausführlicher S. 364f.). Von den verschiedenen Versuchen zur Identifizierung der Konkurrenten des Paulus in Galatien scheint noch immer die klassische Annahme am plausibelsten, dass es sich bei ihnen um Judenchristen bzw. christliche Judaisten handelt. Die gegen diese Annahme angeführten Textstellen des Galaterbriefes, aus denen man herauszulesen meint, Paulus kämpfe gegen Juden, Libertinisten, Gnostiker oder andere Formen eines religiösen Synkretismus, erklären sich dadurch, dass Paulus, wie Jost Eckert (1971) zurecht herausgestellt hat, seine Gegner und ihre Lehre durchaus diffamieren und ihre Forderungen als absurd erscheinen lassen will. Für die historische Bewertung und Einordnung der Vorgänge in den christlichen Gemeinden Galatiens stellt sich noch eine andere Frage: Verstanden sich jene Missionare, in denen Paulus seine Gegner sieht und die er so heftig bekämpft, selbst als Gegnern des Paulus? Wollten sie mit ihrer Verkündigung also gezielt gegen Paulus und sein Evangelium vorgehen und waren sie eventuell sogar Teil einer groß angelegten antipaulinischen Mission, die möglicherweise von Teilen der Jerusalemer Gemeinde gesteuert wurde (etwa von den Anhängern des Herrenbruders Jakobus; vgl. Gal 2,12)? Für die Beantwortung dieser Frage wird gemeinhin darauf verwiesen, dass Paulus sich in Gal 1–2 gegen eine Herabsetzung seiner Person und seiner Sendung durch die in Galatien aufgetretenen Missionare zur Wehr setze.81 Dies aber setzt voraus, dass Gal 1–2 tatsächlich als eine Apologie des Paulus zu lesen ist, die auf konkrete gegen ihn erhobene Vorwürfe antworten will. Möglicherweise lässt sogar Paulus selbst an zwei Stellen des Galaterbriefes noch erkennen, dass die judenchristli80 Vgl. dazu im Blick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Johannesoffenbarung H.-J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, in: Bib. 73 (1992) 153–182; ders., Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie, in: M. Küchler/K. M. Schmidt (Hg.), Texte – Fakten – Artefakte: Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung (NTOA 59), Göttingen/Fribourg 2006, 197–229. 81 So unter anderem bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 24; Schlier, Galater (KEK) 21– 23; Radl, Galaterbrief (SKK) 11; Eckert, Verkündigung 233; Wikenhauser/Schmid, Einleitung 415; Schenke/Fischer, Einleitung 1, 81; Lona, Paulus 73; Theobald, Galaterbrief 358; außerdem Schmithals, Häretiker 331–333; ders., Judaisten 31f; vorsichtiger dagegen Broer, Einleitung 440f.

192

5. Der Brief an die Galater

chen Missionare in Galatien zumindest nicht dezidiert als Konkurrenten und Gegner des Paulus auftraten: Ihre Absicht war offensichtlich nicht, die Verkündigung des Paulus zu ersetzen, sondern sie wollten sie durch die Beschneidung vervollständigen bzw. ergänzen (vgl. Gal 3,3; 5,11).82 Es ist also durchaus möglich, dass die judenchristlichen Missionar zugaben, dass Paulus den Galatern zumindest in den Grundzügen zuverlässig das Evangelium von Christus verkündet hatte, und dass sie sein Missionswerk lediglich als unvollständig ansahen – sei es weil in ihren Augen Paulus selbst nur unzureichend im Evangelium unterwiesen war, oder weil sie meinten, er habe seine Verkündigung bei den Galatern bisher noch nicht abschließen können. 5.1.5 Der Galaterbrief als Brief und Rede Ausgehend von Adolf Deißmanns Unterscheidung zwischen echtem Brief und Epistel wird der Galaterbrief in der neutestamentlichen Forschung trotz seines vergleichsweise großen Umfangs nahezu übereinstimmend als »echter Brief« qualifiziert; d. h. der Galaterbrief ist in seiner Form, seinem Inhalt und seiner Funktion (zunächst) auf eine konkrete Situation im Leben der beiden Briefpartner bezogen und nur für sie relevant (vgl. Gal 1,6).83 Zugleich betont man, dass der Galaterbrief, auch wenn es sich bei ihm um einen echten Brief handle, sich dennoch nicht einfach als Privatbrief und Gelegenheitsschreiben bestimmen lasse.84 So urteilt beispielsweise Richard N. Longenecker (1990): »Galatians in particular, while comparable in many ways to the private letters of the nonliterary papyri, indicates by its stress on apostleship (e.g., 1:1, 11–12; 2:8; 6:17), its adress to the ‘churches of Galatia’ (1:2; cf. 3:1), its tone of authority, and its style of teaching that it is more than merely a private letter, but must be understood as a missionary or pastoral letter written to a community (or communities) of Christians.«85

Von gewöhnlichen Privatbriefen, wie sie durch die nichtliterarischen Papyri dokumentiert sind, unterscheidet sich der Galaterbrief darin, dass er nicht an eine Einzelperson (bzw. an einige wenige Adressaten) adressiert ist, sondern sich als Zirkularschreiben an eine Gruppe mehrerer Gemeinden wendet und offensichtlich in den Versammlungen dieser Gemeinden öffentlich verlesen werden sollte.86 Auch inhaltlich ist der Galaterbrief mehr als nur ein Privat82

In diesem Sinne Theobald, Galaterbrief 356; Jewett, Agitators 207; ähnlich Howard, Paul 1–19; vgl. dazu auch Longenecker, Galatians (WBC) xciiif. 83 Vgl. Deißmann, Licht 201; ders., Paulus 17f. 84 So z. B. Roller, Formular 145f., der den Galaterbrief als den Versuch des Paulus wertet, eine neue Form des Briefes zu finden, die sich vom reinen Privatbrief trennt und den Charakter eines amtlichen »Mandats« annimmt. Ähnlich Jegher-Bucher, Galaterbrief 38 und 46; Kremendahl, Botschaft 116–119. 85 Longenecker, Galatians (WBC) cii. 86 Dazu Lührmann, Galater (ZBK) 12; Betz, Composition 356; Jegher-Bucher, Galaterbrief 38f. Aus der Tatsache, dass der Galaterbrief ein Rundschreiben an mehrere Gemeinden

5.1 Zum Stand der Forschung

193

oder Gelegenheitsbrief, weil das, was Paulus schreibt, letztlich über den primären Adressatenkreis und die aktuelle Situation hinaus Relevanz und Interesse beanspruchen kann.87 Dabei wird bisher in der Forschung allerdings nicht hinreichend berücksichtigt und diskutiert, ob man davon ausgehen kann oder sogar muss, dass bereits Paulus selbst seinem Brief eine gewisse Allgemeingültigkeit beimaß und deshalb seine Verbreitung über den Kreis der in der adscriptio genannten Adressaten hinaus intendierte, oder ob die grundsätzliche Bedeutung der Ausführungen des Paulus erst später im Kreis seiner Mitarbeiter und Schüler erkannt wurde, die dann eine Weiterverbreitung und damit eine »Publikation« des Briefes bewerkstelligten (im Kontext einer sukzessiven Sammlung seiner Briefe). Wegen der Störung in der Beziehung zwischen den Briefpartnern weiche der Galaterbrief, wie durchgehend betont wird, im Unterschied zu den anderen Briefen des Paulus vom Typos des antiken Freundschaftsbriefes ab (obgleich auch in diesem Brief philophronetische Elemente nicht fehlen; vgl. Gal 4,12–20).88 Dies zeige sich auch in der von den übrigen Paulusbriefen abweichenden Gestaltung des Briefformulars. Da Paulus angesichts des drohenden Abfalls der Galater von dem Evangelium, das er ihnen verkündet hat, keinen Grund habe, Gott für den Zustand seiner Gemeinden zu danken, fehle auch der Bericht über ein entsprechendes Dankgebet, der in den übrigen Paulusbriefen nach dem Präskript das Briefkorpus eröffnet (vgl. S. 84). Auch das Fehlen der in den Paulusbriefen sonst üblichen Grußausrichtungen und Grußaufträge am Ende des Briefkorpus (vgl. S. 86) solle den Galatern signalisieren, dass sie im Begriff sind, aus der Gemeinschaft mit Paulus und seinen übrigen Gemeinden herauszufallen. Otto Roller (1933) urteilte deshalb, dass der Galaterbrief in seinem Formular den Charakter eines Privatbriefes völlig aufgegeben habe und stattdessen einem im Amtsstil abgefassten Mandat gleiche, das alles Persönliche und Vertrauliche vermeide.89 Diese traditionelle Einordnung und Bewertung des Galaterbriefes wird von François Vouga (1996) in Zweifel gezogen. Für ihn ist der Galaterbrief kein echter, sondern ein fingierter Brief, der nicht (primär) für Gemeinden in Galatien intendiert war, sondern für die judenchristlichen Gegner des Paulus in Jerusalem. Beim Galaterbrief, wie er im Corpus Paulinum überliefert ist, handle sich um ein Kunstprodukt mit der möglicherweise lediglich fiktiven Adresse »an die Gemeinden Galatiens«, das den Römerbrief und die Korintherkorreist, folgert man zudem, dass der Brief einen (quasi) amtlichen Charakter hat; vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 18. Beispiele für antike amtliche und private (!) Zirkularschreiben auf S. 218f., Anm. 189 (hier auch Literaturhinweise). 87 Vgl. Betz, Galaterbrief 69; außerdem auch Vielhauer, Geschichte 112f.; Lührmann, Galater (ZBK) 49. 88 Vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 14; Jegher-Bucher, Galaterbrief 30. 89 Dazu Roller, Formular 145f.

194

5. Der Brief an die Galater

spondenz zusammenfassen will.90 Damit entfalle die in der Forschung ungelöste und letztlich unlösbaren Fragen nach der Lokalisierung der Adressaten und der Identität der Gegner des Paulus. Die Tatsache, dass letztlich sowohl die Adressaten als auch die Gegner im Brief so auffallend profillos bleiben, sei vielmehr ein Indiz dafür, dass der Galaterbrief in seiner heutigen Gestalt nicht in eine konkrete Situation hinein geschrieben sein kann.91 Die Frage, ob Paulus daneben auch einen – mit dem kanonischen Galaterbrief nicht identischen – Rundbrief an Gemeinden in Galatien verschickt hat, hält François Vouga für nicht entscheidbar. Die These von François Vouga ist in der Forschung (wohl zurecht) bisher eine Sondermeinung geblieben, die kaum kritisch diskutiert worden ist.92 Gegen sie spricht für Jürgen Becker (1998) der explizite Rückblick des Paulus auf die Gründung der galatischen Gemeinden in Gal 4,13f., der nicht als eine »typisierende« Aussage, also losgelöst von einem konkreten Ereignis der Vergangenheit und einer konkreten Beziehung zwischen den Briefpartnern, verstanden werden könne.93 Wie kein anderer hat Hans Dieter Betz (1974/75) mit seinen Arbeiten die gesamte neuerer Forschung zum Galaterbrief geprägt (vgl. S. 102). Er hielt die Qualifizierung des Galaterbriefes als echten Privatbrief für wenig geeignet, um seine Struktur und Funktion verstehen zu können. Stattdessen ordnete er den 90

Näheres Vouga, Galaterbrief 250 und 254–258; die Krise in Galatien ist nach Vouga nur der äußere oder sogar nur ein fiktiver Anlass für einen Brief, der sich an alle Christen der paulinischen Missionsgebiete, vor allem aber auch an die Jerusalemer Judenchristen wendet. Als Zusammenfassung des Römerbriefes und der Korintherbriefe ist der Galaterbrief für Vouga der jüngste Paulusbrief; folglich müsse er als das theologisch Testament des Paulus gelten (nicht der Römerbrief, wie es G. Bornkamm formuliert hat). 91 Ausführlich Vouga, Galaterbrief 244–247. 92 Eine abgeschwächte Form der These von Vouga wurde kurz vorher von David Trobisch (1994) vertreten. Für ihn ist der Galaterbrief eine von Paulus selbst erstellte »Autorenrezension« des ursprünglichen Gemeindeschreibens an die galatischen Christen. Dabei sei unter anderem die allgemeine adscriptio an die Stelle der ursprünglichen Adresse getreten (Paulus habe das Schreiben in mehreren Kopien an die verschiedenen Gemeinden Galatiens geschickt, wobei jede in der adscriptio die genaue Adressatenangabe enthielt). Außerdem habe er dabei das Subscript Gal 6,11–17 angefügt. Diese (modifizierte) Abschrift habe Paulus für die Christen in Ephesus erstellt. Sie war Teil einer ersten, von Paulus selbst erstellten Sammlung seiner Briefe und diente hier als Anklage der Jerusalemer Judenchristen, die ursprüngliche Abmachung gebrochen zu haben. Im einzelnen dazu Trobisch, Paulusbriefe 124–126, 130f. und 135f. Die Erfahrung mit dem (ursprünglichen) Galaterbrief war nach Trobisch der Anfang der Paulusbriefsammlung, da er in Paulus den Wunsch geweckt habe, seine Lehre der Nachwelt zu hinterlassen, und ihn motivierte, seine Korrespondenz mit den Korinthern in den beiden kanonischen Korintherbriefen zusammenzustellen und weitere Briefe zu schreiben (1 Thess, Phil, Röm). Dazu Trobisch, Entstehung 128–131. 93 Vgl. Becker, Galater (NTD) 16. Fraglich ist jedoch, wie zwingend dieses an sich berechtigte Argument von Becker ist, da der Rekurs auf die Gemeindegründung und Elemente der persönlichen Beziehung zwischen Absender und Adressaten auch Teil einer bewusst gestalteten Brieffiktion sein können.

5.1 Zum Stand der Forschung

195

Galaterbrief in die (literarische) Tradition des apologetischen Briefes (apologetic letter) ein, die er durch Platons berühmten siebten Brief repräsentiert sah (zu den Briefen Platons vgl. S. 22).94 Hinsichtlich seiner Form und Funktion sei der apologetische Brief mit einer Verteidigungsrede vor Gericht zu vergleichen (γένος δικανικόν oder genus iudiciale). Der Galaterbrief lasse sich deshalb als Verteidigungsrede in einem (fiktiven) Gerichtsverfahren verstehen, bei dem Paulus die Rolle des Angeklagten, seinen Gegnern die der Kläger und den Galatern die der Jury zufalle, die über die Anklage zu befinden habe.95 Da man den Galaterbrief deshalb als eine Verteidigungsrede in Briefform qualifizieren könne, stellt Hans Dieter Betz die methodische Forderung auf, ihn nicht nur als Brief, sondern auch als Rede zu analysieren (dazu bereits S. 102).96 Mit seiner auf der Grundlage der rhetorischen Theorie der Antike vorgenommenen Analyse des Galaterbriefes kommt er zu dem Ergebnis, dass der Brief nach dem Idealschema einer Gerichtsrede strukturiert ist, wie es in den klassischen Hand- und Lehrbüchern beschrieben wurde.97

94

Vgl. Betz, Galaterbrief 55f.; ders., Composition 354. Gegen die von Betz vorgenommen Klassifizierung des Galaterbriefes als »apologetic letter« wurde eingewandt, dass sich dieser Typos unter den erhaltenen antiken Briefen letztlich nicht eindeutig nachweisen lasse. Vgl. Fung, Galatians (NICNT) 28–32; vor allem aber auch die kritischen Anmerkungen dazu bei Longenecker, Galatians (WBC) ciii–cv; W. A. Meeks, Rez. zu H. D. Betz, Galatians, in: JBL 100 (1981) 304–307; D. E. Aune, Rez. zu H. D. Betz, Galatians, in: Religious Studies Review 7 (1981) 323–328. 95 Ausführlich Betz, Composition 377f.; ders., Galaterbrief 69f. Dazu auch Becker, Galater (NTD) 11; Tolmie, Persuading 2; vgl. außerdem die berechtigte Kritik bei Kremendahl, Botschaft 149. 96 Vgl. Betz, Galaterbrief 69f.; vgl. auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 46; im Anschluss an Berger, Apostelbrief 224–231; kritisch dagegen White, Body xii; Longenecker, Galatians (WBC) cv. 97 Eine detaillierte Gliederung mit Identifizierung der Redeteile und Darlegung von Gedankengang und Argumentation Betz, Galaterbrief 57–68; vgl. auch ders., Composition 359– 377. In der Forschung fand die von Betz vorgeschlagene Gliederung nach dem Modell einer antiken Rede bzw. Gerichtsrede weitgehend Zustimmung, auch wenn mehrheitlich darauf verwiesen wird, dass eine rhetorische Analyse die epistolographische nicht ersetzen kann und darf; vgl. Becker, Galater (NTD) 11f.; ders., Paulus 290–294; Theobald, Galaterbrief 348f.; Schnelle, Einleitung 117f.; Dormeyer, Literaturgeschichte 196; Pokorný/Heckel, Einleitung 213f.; Klauck, Ancient Letters 314f.; skeptischer Broer, Einleitung 447–450; Longenecker, Galatians (WBC) cx–cxiii. Ein Überblick zur Rezeption der These von Betz in der Forschung (Zustimmung, Kritik und Modifikation) unter anderem bei Tolmie, Persuading 3–19; vgl. auch Kremendahl, Botschaft 157–161. Berechtigte Kritik an der Gliederung des Galaterbriefes nach dem Muster einer Rede bei Betz und anderen übt Kern, Rhetoric 90–119; dabei diskutiert er im Detail, warum sich einzelne Teile des Briefes nicht mit den Abschnitten einer Rede gleichsetzen lassen, wie sie in den Mustergliederungen der antiken Rhetorikhandbücher genannt werden. Zur Problematik der Qualifizierung des Galaterbriefes als Gerichtsrede besonders auch Kern, Rhetoric 131–136. Vgl. zur Problematik insgesamt auch die Abschnitte 3.4 und 5.2.6 (Vorbemerkung) der vorliegenden Studie.

196

5. Der Brief an die Galater 1,1–5

Briefpräskript

1,6–11

exordium

Eröffnung

1,12 – 2,14

narratio

Schilderung der Streitfrage

2,15–21

propositio

Ankündigung des Beweisziels

3,1 – 4,31

probatio

Beweisführung

5,1 – 6,10

exhortatio

Ermahnung

6,11–18

Briefpostskript hat Funktion der conclusio (Abschluss)

Als Gerichtsrede sei der Galaterbrief eine Verteidigung des Paulus gegen die Infragestellung seiner Autorität und damit auch der Legitimität seiner Evangeliumsverkündigung, zugleich aber auch eine Aufforderung an die Adressaten, den Sachverhalt zu prüfen und aufgrund der von ihm und seinen Anklägern vorgebrachten Argumente eine Entscheidung zu treffen. Dabei aber überlasse Paulus die Entscheidung keineswegs allein der Vernunft der Galater. Durch den formalen Rückgriff auf den »magischen Brief« nämlich erzwinge er eine Entscheidung für sein Evangelium und gegen die Forderungen seiner Konkurrenten, indem er ihre Entscheidung unter die Androhung von Fluch (Gal 1,8f.) und die Zusage von Segen (Gal 6,16) stellt.98 Demselben Zweck diene die Stilisierung des Galaterbriefes als »Himmelsbrief«, wodurch Paulus sich selbst seinen Adressaten als Vertreter Jesu Christi und damit als Vertreter Gottes vorstelle (vgl. Gal 1,1).99 Dieser Zuordnung des Galaterbriefes zur Gerichtsrede bei Hans Dieter Betz widersprach George A. Kennedy (1984), wobei er aber dennoch an der engen Bindung dieses Briefes an die Gattung Rede festhielt. Er verwies darauf, dass die moralische Ermahnung der Adressaten (Paränese) am Ende des Briefes (ab Gal 5,13) nicht zu einer Verteidigungsrede passe.100 Die Bestimmung als Gerichts- bzw. genauer Verteidigungsrede passe auch nicht für den Abschnitt Gal 3,1 – 5,12; denn außerhalb von Gal 1–2 lasse sich im Brief eine apologetische Tendenz im eigentlichen Sinn nicht aufweisen.101 Deshalb bestimmt George A. Kennedy die Funktion des Galaterbriefes ausgehend von seinem paränetischen Schlussteil: Mit dem Brief ermahne Paulus seine Adressaten zu einer christlichen Lebensführung und warne sie vor der Übernahme der Beschneidung und der Gesetzesverpflichtung. Folglich gehöre der Galaterbrief zur rhetori98 Vgl. Betz, Composition 379; ders., Galaterbrief 70f.; vgl. auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 4 und 24; Tolmie, Persuading 2; kritisch Longenecker, Galatians (WBC) ciiif.; auch Klauck, Ancient Letters 315. 99 Vgl. Betz, Galaterbrief 71f.; dazu außerdem Jegher-Bucher, Galaterbrief 4; ablehnend Klauck, Ancient Letters 315. 100 Vgl. Kennedy, Interpretation 145–147; zu Kennedys Ansatz und seiner Kritik an Betz vgl. auch Kern, Rhetoric 86–88 und 136–156; Porter, Paul of Tarsus 543f. Eine ähnliche Kritik auch bei Hall, Rhetorical Outline 32f.; Smit, Letter 40–42. 101 Vgl. Theobald, Galaterbrief 348.

5.1 Zum Stand der Forschung

197

schen Gattung der Beratungsrede (γένος δημηγορικόν/συμβουλευτικόν oder genus deliberativum), die nach antiker Definition zum Nützlichen rate und vor dem Schädlichen warne (vgl. die Definition bei Quint. inst. 3,8,1–6).102 Auch Verena Jegher-Bucher (1991) ordnet den Galaterbrief grundsätzlich dem Genus der Beratungsrede zu.103 Zugleich aber bemüht sie sich gewissermaßen um eine vermittelnde Position zwischen den Ansätzen von Hans Dieter Betz und George A. Kennedy, indem sie betont, dass der Galaterbrief zwar Elemente einer Beratungsrede aufweise, diese jedoch der Gerichtsrede untergeordnet seien.104 Die von Hans Dieter Betz initiierte Annäherung des Galaterbriefes an die Gattung »Rede« kulminiert bei Verena Jegher-Bucher in der Aussage, dass es sich beim Galaterbrief nicht um einen Brief im eigentlichen Sinne, sondern um eine Rede mit brieflichem Rahmen bzw. eine »Rede im Briefumschlag« handle.105 Diese Qualifizierung sieht sie darin begründet, dass der Galaterbrief die für einen Brief typischen Anfangs- und Schlusselemente besitze und als echter Brief auf einen konkreten Anlass bezogen ist (vgl. Gal 1,6), zugleich aber als Rede in einer Gemeindeversammlung verlesen werden wolle und deshalb formal und stilistisch auch nach Art einer Rede gestaltet sei.106 Im Rückgriff auf eine von Paolo Cugusi (1983) vorgenommene Eintei102 Vgl. Kennedy, Interpretation 145–147; Vertreter dieser Sicht sind auch R. G. Hall, D. E. Aune, J. Smit, F. Vouga, D. Dormeyer und R. Bruckner; vgl. Classen, Rhetorische Theorie 158. Ablehnend Becker, Galater (NTD) 11f.; Kern, Rhetoric 136–156; kritisch auch Kremendahl, Botschaft 141–145; vgl. außerdem Tolmie, Persuading 7–10. 103 Dazu Jegher-Bucher, Galaterbrief 5 und 72–81; vgl. auch Tolmie, Persuading 16. Ähnlich, aber bei stärkerer Betonung des Briefcharakters Dormeyer, Literaturgeschichte 196, der den Galaterbrief als ›einheitlichen, formvollendeten deliberativen Brief‹ bezeichnet; in Rückgriff auf Hübner, Galaterbrief 249f.; Aune, Environment 206–208. 104 Vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 81; ähnlich Theobald, Galaterbrief 349; vgl. auch Tolmie, Persuading 6f.; Aune, Environment 207. Als »Mischgattung« bestimmen den Galaterbrief außerdem W. Harnisch, R. M. Bergmann und J. Schoon-Janssen; vgl. Classen, Rhetorische Theorie 158. Problematisch ist allerdings die Folgerung, die Jegher-Bucher, Galaterbrief 81, aus der Behauptung zieht, der Galaterbrief sei in erster Linie dem genus deliberativum zuzuordnen: »Daß [Paulus] für die Ekklēsiai in Galatien eine Beratungsrede wählt, sagt aus, daß er primär weder anklagt noch verteidigt noch einfach sein Evangelium preist. Es zeigt weiterhin, daß er – psychologisch geschickt – die Mitarbeit seiner HörerInnen herausfordert und sich nicht als alleinbestimmende Autorität verstanden wissen will.« Diese Aussage widerspricht m. E. in allen Punkten dem Textbefund und den rhetorisch-argumentativen Strategien des Galaterbriefes. Kritisch zur Qualifizierung des Galaterbriefes als Mischung der drei rhetorischen Gattung Kern, Rhetoric 157–161; positiv wertet er daran allerdings, dass dadurch der Blick dafür geöffnet werde, dass eine rhetorische Gattung nicht genüge um die Eigenart und die Struktur des Galaterbriefes zu erklären. 105 Vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 4f.; ablehnend Klauck, Ancient Letters 315. 106 Dazu die Zusammenfassung bei Jegher-Bucher, Galaterbrief 46f. Im Hintergrund stehen ganz offensichtlich die formalen und funktionalen Überlegungen von Klaus Berger (1975) zum »Apostelbrief«; seine Thesen zum »Apostelbrief« wurden bereits im Zusammenhang mit dem Formular der frühchristlichen Briefe besprochen; vgl. S. 87.

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5. Der Brief an die Galater

lung der antiken Briefe bestimmt sie den Galaterbrief insgesamt als »politischen Brief mit symbuleutischer Tendenz«.107 Ähnlich wie Verena Jegher-Bucher betont Dieter Kremendahl (2000), dass der Galaterbrief als Brief und Rede zu verstehen ist, und fordert, dass eine Analyse des Galaterbriefes deshalb in gleichem Maße von der antiken Epistolographie und der antiken Rhetorik ausgehen müsse.108 Die Analyse von Dieter Kremendahl aber konzentriert sich auf das Briefformular und die rhetorische Disposition, während Verena Jegher-Bucher auch Fragen der Brieftheorie und des Briefstils sowie typische Argumentationsschemata aus der antiken Rhetorik berücksichtigt hatte. Bei der formkritischen Einordnung des Galaterbriefes geht Dieter Kremendahl von den τύποι ἐπιστολοκοί des Ps.-Demetrios (vgl. dazu auch S. 40) aus. Da der Galaterbrief in seiner Struktur dem Mustertext des τύπος ἀπολγητικός (Nr. 18) folge, bestimmt er ihn, wie schon Hans Dieter Betz, als apologetischen Brief (ausführlich dazu S. 274).109 Zugleich definiert er in Anschluss an Johannes Schoon-Janssen (1991) »Apologie« in einem sehr allgemeinem Sinn als »jede Selbstrechtfertigung und Selbstdarstellung angesichts von Gegnern und Bestreitung«110. Durch diese begriffliche Weitung versucht er offensichtlich der gegen Hans Dieter Betz vorgebrachten Kritik zu entgehen, dass sich eine eigentlich apologetische Funktion des Briefes außerhalb von Gal 1–2 nicht belegen lasse. Wiederum wie Hans Dieter Betz folgert er aus der Bestimmung des Galaterbriefes als apologetischer Brief, dass er sich nach dem Schema einer antiken Verteidigungsrede gliedern lasse.111 Zugleich versucht er die Kritik bei George A. Kennedy, dass eine Paränese nicht in eine Gerichtsrede passe, zu berücksichtigen und unterteilt den Galaterbrief deshalb in zwei Reden: Die eigentliche Verteidigungsrede reiche bis Gal 5,6; dann folge in einer eigenhändigen subscriptio des Paulus (die nach Dieter Kremendahl bereits in 5,2 beginnt) eine paränetische Mahnrede.112 Antonio Pitta (1992) wiederum kommt nach der kritischen Durchsicht und Erörterung der bisherigen Gliederungsvorschläge und Gattungszuweisungen 107

Vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 38 mit 13f.; dazu Cugusi, Evoluzione 115. Vgl. Kremendahl, Botschaft 3f. 109 Ausführlich Kremendahl, Botschaft 127–140; kritisch zu seinen Ausführungen Classen, Rhetorische Theorie 163f. Meeks und Aune hatten an Betz kritisiert, er könne außer dem 7. Platonbrief kein weiteres Beispiel benennen, dass die Existenz der Gattung eines »apolgetic letter« belege (vgl. ihre S. 195, Anm. 94, genannten Rezensionen zum Kommentar von Betz); diesem Einwand glaubt Kremendahl durch eine Analyse des 2. Briefes des Demosthenes und den Hinweis auf den (pseudepigraphen) 5. Brief des Euripides, in denen er diesen bei Ps.-Demetrios belegten Typos ebenfalls repräsentiert sieht, standhalten zu können. 110 Schoon-Janssen, Apologien 9; dazu Kremendahl, Botschaft 149f. 111 Weitere Vertreter der Zuordnung des Galaterbriefes zur Gerichtsrede sind unter anderem B. H. Brinsmead, J. D. Hester und H. Hübner; vgl. Classen, Rhetorische Theorie 158; dazu auch Tolmie, Persuading 16. 112 Vgl. Kremendahl, Botschaft 158f. (Gliederungsschema ebd. 159); kritisch dazu Classen, Rhetorische Theorie 165–169. 108

5.1 Zum Stand der Forschung

199

zu dem Ergebnis, dass der Galaterbrief weder der Gerichts- noch der Beratungsrede zugeordnet werden könne, sondern zur epideiktischen Rede (γένος ἐπιδεικτικόν/πανηγυρικόν oder genus demonstrativum) gehöre.113 Daneben findet sich bei Carl Joachim Classen (1991) eine grundsätzliche Kritik an der Berechtigung des methodischen Vorgehens von Hans Dieter Betz.114 Auch Philip H. Kern (1995) lehnt eine rhetorische Analyse des Galaterbriefes in den von Hans Dieter Betz vorgezeichneten Bahnen ab.115 Auf Grund der genannten Probleme verzichtet auch D. Francois Tolmie (2005) darauf, den Galaterbrief einer bestimmten Redegattung zuzuordnen und ihn nach dem Idealschema einer antiken Rede zu gliedern. Das Ziel seiner »rhetorischen« Analyse ist vielmehr »a textcentered descriptive analysis of the way in which Paul attempts to persuade the Galatians«116. Dabei greift er bewusst nicht auf das rhetorische System zurück, wie es in den antiken Handbücher (Aristoteles, Cicero, Quintilian u. a.) überliefert ist, da deren tatsächlicher Einfluss auf die rhetorische Praxis in der Zeit des Paulus seiner Meinung nach unklar sei.117 Weiterführend ist der Ansatz im Kommentar von Richard N. Longenecker (1990). Auch er lehnt eine rhetorische Analyse ab, die den Galaterbrief nach dem Muster einer antiken Rede strukturieren will. Wie D. Francois Tolmie versteht er die rhetorische Analyse als Offenlegen der Strategien und Methoden, mit denen Paulus die Galater von seiner Position zu überzeugen versucht, doch orientiert er sich dabei – im Unterschied zu D. Francois Tolmie – dezidiert an der in den antiken Lehrbüchern fassbaren rhetorischen Theorie und Praxis, d. h. er fragt, inwiefern die Argumentation des Paulus im Galaterbrief auf den für die argumentativen Strategien der antiken Rhetorik zentralen Aspekten von Ethos, Pathos und Logos gegründet ist.118 Diesem Ansatz der rhe113

Vgl. Pitta, Disposizione 212; dazu Classen, Rhetorische Theorie 158; kritisch ablehnend Kern, Rhetoric 162–164. 114 Die wichtigsten Punkte finden sich Classen, Rhetorik 14f. und 29–32. 115 Vgl. vor allem die Konklusion am Ende des kritischen Überblicks zur Forschungsgeschichte Kern, Rhetoric 164–166 (insgesamt 90–166) sowie ebd. 256–261; kritisch zu einer rhetorischen Analyse des Galaterbriefes in der Nachfolge von Betz neben Kern auch R. D. Anderson Jr. [vgl. Literaturverzeichnis]; dazu Classen, Rhetorische Theorie 153. 116 Tolmie, Persuading 28. 117 Näheres zu Programm und Methode seiner Studie Tolmie, Persuading 27–30; zum forschungsgeschichtlichen Kontext vgl. Probst, Paulus 50–52. Berechtigte kritische Anmerkungen zu dem von Tolmie vertretenen methodischen Ansatz hat Klauck formuliert (dazu bereits S. 101, Anm. 43). Einen ähnlichen Ansatz wie Tolmie verfolgte gleichzeitig Susanne Schewe in ihrer Analyse des 3. Hauptteils der Corpus des Galaterbriefes (Gal 5–6); vgl. Schewe, Galater 40–42 und 60–65. Anzumerken ist hier, dass auch Schewe in ihrer Wahrnehmung der rhetorischen Analyse zu sehr auf die Frage der Gliederungsschemata und der Zuordnung zu einer Redegattung fixiert ist, und dabei nicht hinreichend bedenkt, dass das, was sie unter »textpragmatischer Analyse« versteht, sehr gut mit dem Anliegen der antiken Rhetorik konvergiert. 118 Ausführlich Longenecker, Galatians (WBC) cxiv–cxix; dazu auch Klauck, Ancient Letters 315; kritische Anmerkungen bei Kern, Rhetoric 88f. und 157–161. Ähnlich betont

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5. Der Brief an die Galater

torischen Analyse weiß sich auch die vorliegende Studie verpflichtet (vgl. dazu die Anmerkungen auf S. 105). Aus dem Überblick dürfte deutlich geworden sein, wie sehr die Forschung zum Galaterbrief seit Hans Dieter Betz unter dem Vorzeichen der Rhetorik steht. Der Galaterbrief als Brief geriet dabei weitgehend ins Hintertreffen, was methodisch keineswegs die Absicht bei Hans Dieter Betz gewesen war. Epistolographische Analysen beschränken sich im Wesentlichen auf die Besonderheiten des Briefformulars sowie auf die Frage des Briefgattung bzw. des Brieftyps, fokussiert auf die Problemstellung pro und contra apologetischer Brief. Darüber hinausgehende Ansätze finden sich bei Verena Jegher-Bucher (Brieftheorie und Briefstil) und Richard N. Longenecker (epistolare Formeln). Daneben wäre aber auch zu untersuchen, wie sich der Galaterbrief zum antiken Lehrbrief verhält; denn trotz seiner Situationsbezogenheit scheint der Galaterbrief sich nicht darin zu erschöpfen, sondern auch generelle Aussagen über das paulinische Evangelium zu formulieren, die über die konkrete Situation und die primären Adressaten des Briefes hinaus von Geltung und Bedeutung waren und sind.119

5.2 Analyse und Kontextualisierung 5.2.1 Gedankenführung und Inhalt Die folgenden Ausführungen sollen einen ersten Überblick zur Gliederung des Galaterbriefes und zu seinen Hauptinhalten bzw. zur inhaltlichen Verknüpfung der einzelnen Abschnitte verschaffen. Dabei muss teilweise bereits den Ergebnissen der folgenden Analyse vorgegriffen werden. Eine Rechtfertigung und Begründung der zugrunde gelegten Gliederung des Briefes, die sich vornehmlich an epistolographischen Vorgaben orientiert, erfolgt bei der Analyse des Briefformulars und der epistolaren Formeln. auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 121, dass die Argumentation des Briefes auf ἦϑος, πάϑος und λόγος beruhe, verzichtet aber darauf, dies am Text des Briefes im Detail aufzuzeigen. Hinsichtlich der Struktur des Galaterbriefes versucht Longenecker – ähnlich wie Kremendahl – offensichtlich eine Synthese aus dem Ansatz von Betz und der berechtigten Kritik bei Kennedy; vgl. Porter, Paul of Tarsus 546f. Ansätze einer derartigen rhetorischen Analyse finden sich auch bei Jegher-Bucher, Galaterbrief 116–128 (nur für Gal 2); daneben praktiziert sie vor allem eine »klassische« Untersuchung von Stil und ornatus im Sinne einer inventarisierenden Auflistung der »schmückenden Wort- und Gedankenfiguren«; vgl. ebd. 82–97. 119 So urteilte schon Vielhauer, Geschichte 113: Die durch den aktuellen Anlass bedingte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Heilsnotwendigkeit von Gesetz und Beschneidung »gibt dem Gal seine systematische Architektonik: er entfaltet aus äußerem Zwang und innerer Notwendigkeit das ›Herzstück‹ paulinischer Theologie in seiner Gesamtheit. So ist der Gal, ein als Kampfschrift konzipierter Rundbrief, zu einem Lehrbrief geworden, aktuelle Korrespondenz und doch von systematischer Geschlossenheit«.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

A B1 B 2–4 B2 B3 B4 B5 C D

Gal 1,1–5 Gal 1,6–9 Gal 1,10 – 6,6 Gal 1,10 – 2,21 Gal 3,1 – 5,12 Gal 5,13 – 6,10 Gal 6,7–10 Gal 6,11–17 Gal 6,18

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Präskript Corpuseröffnung Corpusmitte 1. Autobiographischer Hauptteil 2. Dogmatisch-lehrhafter Hauptteil 3. Paränetischer Hauptteil Corpusabschluss Eigenhändiges Subskript Postskript

A. Gal 1,1–5: Den inhaltlichen Kern der Gedankenführung des Galaterbriefes und seine argumentative Absicht gibt Paulus bereits im Präskript (Gal 1,1–5) klar zu erkennen, d. h. in den auffallenden, umfangreichen Erweiterungen, mit denen er die superscriptio (1,1) und die salutatio (1,4f.) versieht. Eine Erklärung dieser Erweiterungen darf sich nicht auf den Hinweis beschränken, Paulus wolle dadurch seinen Anspruch auf den Titel eines Apostels legitimieren oder gar gegen Angriffe verteidigen und zugleich im Blick auf sein Selbstverständnis und seine göttliche Sendung inhaltlich präzisieren.120 Ob die bei den Galatern aufgetretenen konkurrierenden Missionare in Abrede stellten, dass Paulus das Recht habe, sich Apostel zu nennen, und ob sie seine unmittelbare Sendung durch Gott und den auferweckten Christus Jesus bestritten, mag dahingestellt bleiben; dies gilt auch für die Frage, ob Paulus um entsprechende Angriffe auf seine Person und seine Sendung durch verlässliche Nachrichten wusste oder ob er bloße Vermutungen in diese Richtung anstellte. Die Art und Weise, wie er auf seinen Anspruch auf Titel und Sendung eines Apostels zu sprechen kommt, legt jedenfalls nicht zwingend nahe, dass es seine Absicht ist, sich gegen derartige Angriffe zu wehren. Die Berechtigung eines solchen Anspruchs nämlich wird von Paulus einfach affirmiert und als unhinterfragbar vorausgesetzt. Dies zeigt auch die Selbstverständlichkeit, mit der Paulus sich in Gal 1,17 als Apostel mit den anderen Aposteln, und d. h. offensichtlich den Jerusalemer Ur-Aposteln, in eine Reihe stellt (οὐδὲ ἀνῆλϑον εἰς Ἱεροσόλυμα πρὸς τοὺς πρὸ ἐμοῦ ἀποστόλους).121 120 Ähnlich Egger, Galaterbrief (NEB) 13; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 40f.; gegen Lührmann, Galater (ZBK) 15f.; Becker, Galater (NTD) 18f.; Longenecker, Galatians (WBC) 4f.; Eckert, Verkündigung 164. Auch Kremendahl, Botschaft 99, betont primär die apologetische Funktion der Erweiterung der intitulatio, die er als prägend für das ganze Präskript und den gesamten Brief erachtet. 121 Implizit bringt Paulus hier im Galaterbrief letztlich dasselbe Bewusstsein seiner Gleichrangigkeit mit den Jerusalemer Ur-Aposteln, allen voran Petrus (Kephas) und dem Herrenbruder Jakobus, zum Ausdruck, das er unmissverständlicher in der kombinierten Pistis-Formel 1 Kor 15,3–8 formuliert hat: Wie sie ist auch er Osterzeuge und zwar in einer ähnlich

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5. Der Brief an die Galater

Durch die auffällige Erweiterung des Aposteltitels in der superscriptio signalisiert Paulus aber seinen Adressaten von vornherein unmissverständlich, wessen Apostel er ist und wem er sich in absoluter Loyalität zu unverbrüchlicher Treue verpflichtet weiß: Er fungiert nicht als Abgesandter von Menschen (οὐκ ἀπ’ ἀνϑρώπων) und ist auch nicht von einem Menschen in seinen Dienst eingesetzt worden (οὐδὲ δι’ ἀνϑρώπου); vielmehr hat er Auftrag und Sendung von Christus Jesus und Gott, dem Vater, empfangen.122 Aus diesem Selbstverständnis resultiert der in Gal 1,10 als rhetorische Frage formulierte Hinweis an seine Adressaten, dass er allein Gott Gehorsam schuldet und dass ihm als »Sklave Christi« (Χριστοῦ δοῦλος) nicht am Beifall der Menschen gelegen ist. Mit dieser Erweiterung des Aposteltitels beschränkt sich Paulus jedoch nicht auf das bloße Faktum seiner göttlichen Beauftragung und Sendung, sondern verweist zugleich auf den zentralen Inhalt des an ihn ergangenen Auftrags.123 Denn der Gott, der ihn in seinen Dienst genommen hat, ist der Gott und Vater, der Jesus von den Toten auferweckt hat (ϑεοῦ πατρὸς τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ νεκρῶν). Damit rekurriert Paulus auf eine vorgeformte, traditionelle Bekenntnisformel, die aus dem Kontext der urchristlichen Missionspredigt und (Tauf-)Katechese stammt (vgl. 1 Thess 1,10; Röm 4,24; 8,11; 10,9; 2 Kor 4,14; Kol 2,12; Eph 1,19f.; 1 Petr 1,21).124 Dadurch legt Paulus seinen Adressaten nahe, seinen Dienst und seine Sendung als Apostel auf diese zentrale Tat Gottes und das daraus resultierende christliche Bekenntnis bezogen zu sehen. Mit der Erweiterung der salutatio zielt Paulus auf den Heilswillen Gottes und die darin begründetet Erlösungstat Christi Jesu: τοῦ δόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν, ὅπως ἐξέληται ἡμᾶς ἐκ τοῦ αἰῶνος τοῦ ἐνεστῶτος πονηροῦ κατὰ τὸ ϑέλημα τοῦ ϑεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν (Gal 1,4).125 Auch damit greift exponierten Stellung und Funktion wie Petrus: Dieser eröffnet als Erstzeuge die Reihe derer, denen der Auferstandene erschienen ist; Paulus beschließt diese Reihe und markiert somit den Endpunkt der Erscheinungen. 122 Vgl. dazu Schnider/Stenger, Briefformular 8f., unter Bezug auf die Interpretation von Gal 1,1 bei W. Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984, 88. Ähnlich Vouga, Galater (HNT) 18; Mußner, Galaterbrief (HThK) 45–47; Kremendahl, Botschaft 98; Bruce, Galatians (NIGTC) 72f. 123 Vgl. Bruce, Galatians (NIGTC) 73. 124 Die sog. Auferweckungs-Formel ist wahrscheinlich die älteste christliche Bekenntnisformel (oder Pistis-Formel) und geht wohl auf die palästinische Urgemeinde zurück. Sie fasst die Ostererfahrung und Glaubensüberzeugung der Jünger formelhaft zusammen. Referiert wird das bloße Faktum der Auferweckung Jesu; die Ausformulierung einer expliziten und weiterführenden Deutung erübrigt sich, da nach apokalyptisch-frühjüdischem Vorverständnis mit der Totenerweckung die Endzeit angebrochen ist und damit die Realisierung eschatologischen Heils begonnen hat. Näheres dazu bei Vielhauer, Geschichte 14–16 und 20–22; Dormeyer, Literaturgeschichte 125–130, bes. 126f.; ders., Theologie 33. 125 Vgl. Cook, Prescript 515f. Nach Mußner, Galaterbrief (HThK) 50f., verdankt sich diese Erweiterung der salutatio bloßem Formelzwang und steht (abgesehen von dem implizit enthaltenen sola-gratia-Motiv) in keinem unmittelbarem Zusammenhang mit dem Inhalt des Ga-

5.2 Analyse und Kontextualisierung

203

Paulus eine urchristliche Bekenntnisformel auf, die den Sühnecharakter des Todes Jesu und das darin begründete Heil thematisiert (vgl. Röm 8,32; Eph 5,2.25; 1 Tim 2,6; Tit 2,14; Mk 10,45).126 Zwar transformiert Paulus auch sonst in seinen Briefen den simplen Eingangsgruß des griechischen Briefes in eine Heilszusage an seine Adressaten, indem er den gewöhnlichen Gruß χαίρειν durch den Segenswunsch χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ϑεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ (bzw. nur χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη in 1 Thess 1,1) ersetzt (vgl. S. 80 und 82); aber nur im Präskript des Galaterbriefes versieht Paulus diesen Segenswunsch mit einem weiteren Zusatz, der Ursprung und Inhalt des Segens entfaltet und präzisiert: Heil und Segen für die Adressaten sind im göttlichen Heilsplan127 beschlossen. Dieser realisiert sich in der stellvertretenden Selbsthingabe Jesu Christi für die Sünden der Menschen. Dadurch werden die Menschen aus ihrer Verstrickung in die gegenwärtige böse Welt befreit, so dass ihnen der Weg zum Heil offen steht. Damit greift Paulus die apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre auf und interpretiert den Tod Jesu am Kreuz dadurch als unhintergehbare »Zeitenwende«, mit der unwiderruflich die eschatologische Heilszeit angebrochen ist.128 Indem Paulus sowohl die superscriptio als auch die salutatio des Galaterbriefes um diese beiden Bekenntnisformeln erweitert, die er aus der missionarisch-katechetischen Tradition der ersten Christen in seine Missionspredigt übernommen hat (vgl. 1 Kor 15,2–8), ruft er seinen Adressaten gleich zu Beginn seines Briefes den Kern des Evangeliums in Erinnerung, das er ihnen verlaterbriefes. Dagegen lässt sich einwenden, dass Paulus sich in seinen anderen Briefen auch nicht genötigt sieht, die salutatio aus Formelzwang zu erweitern. Die formale Singularität einer derartigen Erweiterung bei Paulus legt nahe, dass sie bewusst gesetzt ist, wenn bewusst, dann wohl aber auch (theologisch) überlegt. Vgl. außerdem Radl, Galaterbrief (SKK) 19; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 39; Kremendahl, Botschaft 98f. 126 Die traditionelle Herkunft der christologischen Formel gibt sich durch ihren sprachlich und inhaltlich unpaulinischen Charakter zu erkennen; eine Auflistung der unpaulinischen Elemente bei Vouga, Galater (HNT) 19. Die ursprüngliche Gestalt der Dahingabe-Formel lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Gal 1,4 repräsentiert wohl eine sekundäre Fassung; älter scheint die Fassung, bei der Gott als Subjekt erscheint, d. h. als derjenige, der seinen Sohn dahingegeben hat. Gegenüber der Auferweckungs-Formel stellt die Dahingabe-Formel ein fortgeschrittenes Stadium der theologischen Reflexion über die Bedeutung des Todes (und der Auferweckung) Jesu dar. Entstanden ist die Formel wohl nicht in der Jerusalemer Urgemeinde, sondern im hellenistischen Judenchristentum, da die im Hintergrund stehende Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod im hellenistischen, nicht aber im palästinischen Judentum bezeugt ist. Auch diese Formel fand in der Missionspredigt und (Tauf-)Katechese Verwendung. Näheres bei Vielhauer, Geschichte 16–18 und 20–22; auch hierzu nochmals Dormeyer, Literaturgeschichte 125–130; ders., Theologie 33f. 127 Näheres zu κατὰ τὸ ϑέλημα τοῦ ϑεοῦ als Hinweis auf den »göttlichen Heilswillen« G. Schrenk, ϑέλημα. ThWNT 3 (1938) 52–62, hier 57; M. Limbeck, ϑέλημα. EWNT 2 (21992) Sp. 338–34o, hier 340. 128 Vgl. Becker, Galater (NTD) 20; Egger, Galaterbrief (NEB) 13; Longenecker, Galatians (WBC) 7–9; Radl, Galaterbrief (SKK) 19.

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5. Der Brief an die Galater

kündet hatte, das sie angenommen und zu dem sie sich in der Taufe bekannt haben.129 Die soteriologische Relevanz des Evangeliums, das in diesen Formeln verdichtet ist und das die Galater in dieser Form von Paulus übernommen haben, unterstreicht Paulus dadurch, dass er die salutatio in eine Doxologie130 überführt und das Präskript mit einer bestätigenden Amen-Akklamation131 enden lässt. Damit fordert Paulus die Galater auf, in den dankenden Lobpreis Gottes einzustimmen und dadurch anzuerkennen, dass Gott durch den stellvertretenden Sühnetod seines Sohnes (vgl. Gal 4,4) ihm und ihnen das Heil geschenkt hat.132 Durch ihren Dank und Lobpreis aber sollen sie zugleich das Bekenntnis zu dem Evangelium erneuern, das sie durch die Predigt des Paulus angenommen haben. Was dieses Evangelium von ihnen fordert und was es bedeutet, in Treue zu dem von ihnen angenommenen Bekenntnis zu leben, entfaltet Paulus im weiteren Verlauf seines Briefes nicht einfach nur argumentativ, sondern in eindringlichen Worten wirft er seinen Adressaten vor, dass sie die »Wahrheit des Evangeliums« verraten und damit ihr Heil aufs Spiel gesetzt haben. Die Erweiterungen des Präskripts fungieren dabei, wie ein Durchgang durch den Galaterbrief zeigen kann, als Vorwegnahme und Präfiguration der zentralen Aspekte der Botschaft des Briefes. Mit anderen Worten: Der Galaterbrief ist in seiner Gesamtheit letztlich nichts anderes als die – im Ton sowohl heftig tadelnde als auch mahnende und werbende – Entfaltung der im Präskript aufgegriffenen urchristlichen Bekenntnisformeln und damit Offenlegung der in diesen Formeln enthaltenen »Wahrheit des Evangeliums«. B 1. Gal 1,6–9: Darüber, dass er die »Wahrheit des Evangeliums« in den Gemeinden Galatiens mehr als nur gefährdet sieht, lässt Paulus bei seinen Adressaten von Anfang an keinen Zweifel aufkommen. Die Verkündigung der fremden Missionare ist mit seiner eigenen unvereinbar, für die er in Anspruch nimmt, dass sie in vollem Umfang die »Wahrheit des Evangeliums« repräsen129 Die Funktion der Einfügung traditioneller, formelhafter Elemente im Präskript erklärt Lührmann, Galater (ZBK) 16, folgendermaßen: »Paulus liegt offenbar daran, durch solche ihn mit seinen Lesern verbindende Sprache und Denkstrukturen ein Einverständnis zu erzielen, das eine Verständigung in kontroversen Punkten ermöglichen soll. … Die Differenzen liegen erst in den Folgerungen, die im weiteren Brief aus dieser gemeinsamen Ausgangsposition gezogen werden.« 130 Näheres zu den urchristlichen Doxologien bei Vielhauer, Geschichte 35f.; zur literarischen Funktion der Doxologie als »Schlussformel« in den Briefen vgl. außerdem Berger, Formen 296. 131 Dazu auch H. Schlier, ἀμήν. ThWNT 1 (1933) 340–342; H.-W. Kuhn, ἀμήν, EWNT 1 2 ( 1992) Sp. 166–168. 132 Den performativen Charakter der Doxologie betont zurecht Vouga, Galater (HNT) 2o. Zur Doxologie als antwortendes Anerkennen der erfahrenen Heilszuwendung Gottes vgl. auch G. v. Rad/G. Kittel, δοκέω κτλ. ThWNT 2 (1935) 235–258, hier 248 und 241; H. Hegermann, δόξα. EWNT 1 (21992) Sp. 832–841, hier 835.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

205

tiert. Was die konkurrierenden Missionare predigen, ist deshalb nichts anderes als Glaubensabfall, der die, die ihnen folgen, in Fluch und Verderben führt. Damit gibt Paulus seinen Adressaten bereits zu Beginn seiner Ausführungen implizit zu verstehen, dass sie sich zwischen ihm und den fremden Missionaren entscheiden müssen, nimmt ihnen aber zugleich jede Wahlmöglichkeit, weil die Entscheidung gegen ihn letztlich einer Entscheidung gegen die »Wahrheit des Evangeliums« gleich kommt. B 2. Gal 1,10 – 2,21: Nach diesen Einleitungsabschnitt, in dem er den Anlass des Briefes benannt und die Situation seiner Adressaten gedeutet hat, kommt Paulus in einem längeren autobiographisch gefärbten Passus auf seine eigene Berufung und spezifische Sendung zu sprechen, aber auch auf seinen darin begründeten kompromisslosen Einsatz für die »Wahrheit des Evangeliums« bereits in der Zeit, bevor er nach Galatien kam und seinen Adressaten das Evangelium verkündete. Dabei kommt es Paulus nicht allein darauf an zu betonen, dass er unmittelbar von Gott berufen wurde (Gal 1,15f.; vgl. 1,1), sondern vor allem darauf, dass er durch die »Offenbarung des Sohnes« mit der Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden beauftragt wurde, seinem missionarischen Wirken also von Gott selbst ein fester »Bereich« zugewiesen wurde (Gal 1,16b; vgl. S. 323).133 Die Tatsache, einen eigenständigen Auftrag empfangen zu haben, betont er mit dem Hinweis, dass er nach seiner Berufung nicht den Anschluss an die Ur-Apostel und die Gemeinde in Jerusalem gesucht habe (Gal 1,17a), die sich zu dieser Zeit offensichtlich noch primär der Mission unter den Juden verpflichtet fühlten (vgl. Gal 2,7f.10), sondern dass er getreu seiner Sendung sofort mit der Mission in den Gebieten der Heiden begonnen hat (Gal 1,17b: Arabia, d. h. das Gebiet der nicht-jüdischen Nabatäer). Zugleich deutet er den Galatern mit der Notiz über seinen ersten Besuch bei der Jerusalemer Gemeinde in Gal 1,18–20 an, dass sein Wirken bei den Autoritäten in Jerusalem von Anfang an auf keinen Widerstand stieß. Denn auch nach seinem Zusammentreffen mit Kephas (Petrus) und dem Herrenbruder Jakobus konnte er seine eigenständige Mission unter den Heiden ungehindert fortsetzen (Gal 1,21); und er kann sogar auf die ausdrückliche lobende Anerkennung durch die (judenchristlichen) Gemeinden in Judäa verweisen (Gal 1,22–24). Auf das Spezifikum seiner Mission unter den Heiden kommt Paulus erst im Zusammenhang mit dem Bericht über seinen zweiten Besuch bei der Jerusalemer Gemeinde (Gal 2,1–10) zu sprechen, wohl auch weil er es bei seinen Adressaten als bekannt voraussetzen kann: Da er es abgelehnt hatte, die von ihm missionierten Heiden zu beschneiden und auf das jüdische Gesetz zu ver133 In diesem Sinne auch Lührmann, Galater (ZBK) 35: »Paulus betont die Identität seines Evangeliums von allem Anfang an, er hat nie ein anderes Evangelium als das eine vertreten, dessen Konsequenz von Anfang an die Heidenmission war und das er dann auch in Galatien verkündigt hat.«

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5. Der Brief an die Galater

pflichten, und deshalb zunehmend in die Kritik gesetzestreuer Judenchristen geraten war, bemühte er sich um die »offizielle« Zustimmung der Jerusalemer zu seiner Missionspraxis.134 Damals in Jerusalem, so gibt Paulus den Galatern zu verstehen, stand die »Wahrheit des Evangeliums« auf dem Spiel, und er hat unnachgiebig und mit Erfolg für sie gekämpft, nicht aus Eigensinn, sondern um ihretwillen, und damit für alle Heidenchristen (Gal 2,5b: ἵνα ἡ ἀλήϑεια τοῦ εὐαγγελίου διαμείνῃ πρὸς ὑμᾶς). Als Ergebnis kann er vorweisen, dass die Autoritäten der Jerusalemer Gemeinde, Kephas (Petrus), der Herrenbruder Jakobus und Johannes, nicht nur seine Praxis der beschneidungsfreien Heidenmission anerkannten, sondern zugleich auch in einer Art Kompetenzaufteilung seine Sendung und besondere Zuständigkeit für die Mission unter den Heiden bestätigten.135 Den autobiographischen Passus schließt Paulus mit einer Episode, die ihn noch eindringlicher als kompromisslosen und unerschrockenen Kämpfer für die Wahrheit des Evangeliums zeigt (Gal 2,11–14/21): Als strenge Verfechter der Gesetzesobservanz aus dem Kreis um den Herrenbruder Jakobus in die Gemeinde von Antiochia kamen, entschlossen sich die Judenchristen, darunter auch Barnabas und Kephas (Petrus), um einen offenen Konflikt zu vermeiden, vorübergehend die bisher gepflegte bedingungslose (eucharistische) Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen zu beenden. Er allein, so stellt Paulus heraus, sei treu bei der »Wahrheit des Evangeliums« geblieben und habe Kephas (Petrus) deshalb öffentlich für sein Tun zurechtgewiesen. Diese Zurechtweisung nutzt Paulus zur Gestaltung einer kurzen Rede (Gal 2,14b–21), in der er im Rückgriff auf die Bekenntnisformel in der salutatio des Präskripts die »Wahrheit des Evangeliums« inhaltlich präzisiert und damit die weiteren Ausführungen des Briefes vorbereitet.136 Die hier gemachten Aussagen mögen zwar für die ursprünglichen Adressaten des Briefes (sowie für Mitglieder anderer paulinischer Gemeinden) aufgrund ihres Vorwissens aus der mündlichen Predigt und Katechese des Paulus unmittelbar verständlich gewesen sein, einem heutigen Leser erschließen sie sich teilweise jedoch erst durch spätere Ausführungen des Briefes (oder anderer Briefe des Paulus, insbesondere des Römerbriefes).137 Die Grundthese lau134

Zur Begründung dieser Auslegung von Gal 2,2 vgl. S. 325f. Rohde, Galater (ThHK) 74f., meint, Paulus gehe es hier darum, die Anerkennung seiner Gleichberechtigung als Apostel durch die Jerusalemer Ur-Apostel herauszustellen, da seine Konkurrenten ihm die apostolische Würde bestritten hätten. Dagegen ist jedoch anzumerken, dass in Gal 2,1–10 weder von einer Apostel-Versammlung noch von der apostolischen Würde des Paulus die Rede ist. 136 Petrus (Kephas) ist eigentlich nur in Gal 2,14b angesprochen, ab 2,15 wendet sich Paulus an die Leser des Briefes. 137 Auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 180f., betont (speziell im Blick auf Gal 2,19), dass für das Verständnis neben dem ganzen Galaterbrief auch die Aussagen im Römerbrief vorauszusetzen sind; ähnlich Rohde, Galater (ThHK) 177f. Grundsätzlich bleibt es aber ein Problem, 135

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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tet: Durch »Werke des Gesetzes« wird kein Mensch »gerechtfertigt«, d. h. keiner erlangt durch seine »Verdienste« begründete Hoffnung, im Gericht Gottes bestehen zu können; Rettung gibt es für Juden und Heiden allein durch den Glauben an Jesus Christus (Gal 2,16; 3,11; vgl. Röm 3,20.28).138 Dies ist im Wesen des Gesetzes begründet: Wer sich auf das Gesetz verpflichtet, verpflichtet sich, alle seine Vorschriften zu befolgen; gleichzeitig stellt er sich damit auch unter die Fluchbestimmung des Gesetzes (vgl. Dtn 27,26), die jeden trifft, der das Gesetz übertritt; und das bedeutet in der die pharisäisch-jüdische Tradition radikalisierenden Auslegung des Paulus, schon dann, wenn er nur eine einzige Vorschrift verletzt (vgl. Gal 3,10). Dabei scheint Paulus vorauszusetzen, ohne dies freilich explizit auszusprechen, dass kein Mensch das Gesetz in all seinen Forderungen befolgt (oder befolgen kann). Jedenfalls schreibt er, dass er und andere Juden in Christus gerechtfertigt werden wollen; das aber bedeute das Eingeständnis, dass sie trotz ihrer jüdischen Abstammung und ihrer Zugehörigkeit zum Gottesvolk – nicht anders als die Heiden (Gal 2,15) – Sünder und folglich auf dem Weg des Gesetzes Gescheiterte sind (Gal 2,16b.17a).139 Als Übertreter des Gesetzes sind sie dem Fluch, d. h. der Todesforderung des Gesetzes, verfallen; stellvertretend aber hat Jesus Christus aus Liebe den Fluch auf sich genommen und ist anstelle der sündigen Menschen gestorben (Gal 1,4; 2,20b; 3,13; 4,5; vgl. Röm 8,3).140 Wirksam wird der stellvertretende Sühnetod Jesu für den einzelnen141 dadurch, dass er sich im Glauben zu Christus bekennt und sich taufen lässt (Gal 2,19; vgl. auch 3,26f.).142 Indem er in der Taufe mit Christus stirbt (zur Taufe als Hineinnahme in den Tod Jesu vgl. Röm in welchem Maße man zur »Verdeutlichung« in den Galaterbrief Gedanken aus dem Römerbrief eintragen darf. Dies gilt umso mehr, wenn man mit Söding und Schnelle eine Entwicklung im theologischen Denken des Paulus annehmen muss. Zur Problematik einer Auslegung des Galaterbriefes im Licht des Römerbriefes – insbesondere im Blick auf die Aussagen über die »Werke des Gesetzes« – vgl. Bergmeier, Gerechtigkeit 8–11. 138 Ein Versuch der Verortung der Aussagen des Paulus über das »Gesetz« im Kontext des Judentums seiner Zeit bei P. Coutsoumpos, Paul’s Attitude towards the Law, in: Porter, Paul: Jew, Greek and Roman 39–50, der m. E. allerdings die Kontinuität der paulinischen Gesetzesaussagen mit jüdischem Denken zu stark betont. 139 Dieses Verständnis von Gal 2,17 schlägt Radl, Galaterbrief (SKK) 42, vor; ähnlich auch Bruce, Galatians (NIGTC) 140f. Zur Begründung dieser Interpretation vgl. Heitsch, Glossen 176–180. Ähnlich zuletzt D. Hunn, Christ versus the Law. Issues in Galatians 2:17–18, in: CBQ 72 (2010) 537–555; vgl auch Bachmann, Sünder 37–40. Die Mehrheit der Ausleger versteht den Vers jedoch in einem anderen Sinn: Die Lehre von der Rechtfertigung in Christus und die daraus resultierende Dispensierung der Werke des Gesetzes könne zu einem libertinistischen Handeln führen, dem der Vorwurf der Sündhaftigkeit zu machen ist. Vgl. Becker, Galater (NTD) 43f.; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 102. Zu Gal 2,17 und den divergierenden Auslegungstraditionen des Verses vgl. auch Söding, Glaube 177–182. 140 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 43f. 141 Im Kontext von Gal 2,14b–21 können mit den entsprechenden Aussagen eigentlich nur ehemalige Juden, also die, die unter dem Gesetz waren, gemeint sein. 142 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 44.

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5. Der Brief an die Galater

6,6), ist an ihm nämlich die Todesforderung des Gesetzes erfüllt und er durch diesen »Tod« vom Fluch, d. h. der unheilvollen Macht des Gesetzes, befreit (vgl. Röm 6,14; 7,4).143 Dies dürfte der Sinn der rätselhaften Aussage διὰ νόμου τῷ νόμῳ ἀπέϑανον in Gal 2,19a sein.144 B 3. Gal 3,1 – 5,12: Diese grundsätzlichen Überlegungen stehen im Hintergrund der weiteren Ausführungen, mit denen Paulus den Galatern vor Augen führen will, dass es widersinnig ist, sich beschneiden zu lassen. Seine Argumentation verfolgt dabei zwei Grundlinien. Zum einen erinnert er die Galater daran, dass sie mit der Beschneidung die volle Gesetzesobservanz übernehmen und sich unter den Fluch des Gesetzes, d. h. die Todesforderung für die Gesetzesübertretung, stellen. Zum anderen will er seine Adressaten davon überzeugen, dass das Gesetz nie ein Heilsweg war und deshalb keine Option für sie sein kann. Dabei muss man die spezifische Kommunikationssituation des Briefes im Blick behalten, d. h. die Tatsache, dass Paulus sich an ehemalige Heiden wendet, die sich auf die Predigt judenchristlicher Missionare hin um ihres Heiles willen beschneiden lassen wollen, um dadurch Teil des Bundesvolkes zu werden und an seinen Verheißungen Anteil zu erhalten. Will Paulus sie davon abbringen, muss er ihnen eine befriedigende Antwort auf die sie bewegende Frage bieten, was ein Heide tun kann und tun muss, um das von Gott verheißene Heil zu erlangen – d. h. von jenem Gott, der sich durch sein Handeln in und an Israel, aber auch in und an Jesus Christus offenbar gemacht hat. Für Paulus bedeutete das, ihnen einsichtig zu machen, dass sie das Entscheidende schon getan haben, sie gleichzeitig aber davor zu warnen, das, was sie schon erreicht haben, durch vorschnelle Entscheidungen wieder preiszugeben. Er muss sie überzeugen, dass die von seinen judenchristlichen Konkurrenten propagierte Sicht – sowohl Glaube als auch Gesetz, sowohl Taufe als auch Beschneidung – mit der »Wahrheit des Evangeliums« unvereinbar ist, nach der die Erlösung Juden wie Heiden durch die Hingabe Jesu Christi geschenkt wird (vgl. Gal 2,21). Um seinen Adressaten die Torheit und Absurdität ihres Unterfangens vor Augen zu führen, verweist Paulus sie zunächst auf ihre eigenen Erlebnisse bei der Taufe, in denen sich für sie der Empfang des Geistes und damit die heilvolle Zuwendung Gottes manifestierte (Gal 3,1–5).145 Paulus geht es hier darum, dass die Galater sich diese Heilserfahrung nicht durch vorausgehende »Werke 143

Zu Gal 2,19f. als Teil der paulinischen Tauftheologie Schnelle, Gerechtigkeit 54–56. Dazu Schlier, Galater (KEK) 99–101; Mußner, Galaterbrief (HThK) 180f.; Schneider, Galater (GSL) 62f.; kritisch hinsichtlich einer solchen Interpretation von Gal 2,19 allerdings Heitsch, Glossen 180–183. 145 Es in Gal 3,2 wohl um ekstatische und enthusiastische Phänomene, in denen der Geistempfang bei der Taufe für die Galater und Paulus sichtbar und erfahrbar wurde (auf analoge Vorstellungen und Erfahrungen rekurriert auch Apg 10,44–48); vgl. Borse, Galater (RNT) 123; Egger, Galaterbrief (NEB) 22f. 144

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des Gesetzes« verdienen mussten; es genügte die Annahme des Evangeliums im Glauben. Der an die Galater gerichtete Vorwurf des Paulus, dass es töricht und absurd ist, wenn sie nun für ihr Heil zusätzlich auf die Beschneidung und »Werke des Gesetzes« setzen (vgl. Gal 3,3)146, greift aber nur, wenn man seine Ansicht teilt, dass Gesetz und Glaube sowie Taufe und Beschneidung absolut unvereinbar sind.147 Einen entsprechenden Nachweis versucht Paulus durch eine längere Erörterung über den göttlichen Heilsplan und die »heilsgeschichtliche« Stellung des Gesetzes zu erbringen. Mit einem Rekurs auf die Abrahamserzählung im Pentateuch (Gal 3,6–9) setzt Paulus seine Ausführungen über die Heilswirksamkeit des Glaubens fort: Abraham hat durch seinen Glauben bei Gott Gerechtigkeit erlangt (Gal 3,6; vgl. Gen 15,6). Jedoch geht es Paulus um mehr als nur einen illustrierenden Schriftbeweis; denn in der Abrahamserzählung findet er auch einen Beleg dafür, dass Gott die Rechtfertigung der Völker, d. h. der Heiden, durch den Glauben vorgesehen hat (Gal 3,8), schon bevor Israel das Gesetz und die Beschneidung erhalten hat. Denn bereits Abraham hat die Verheißung empfangen, dass in ihm alle Völker »gesegnet werden« (Gal 3,8b; vgl. Gen 12,3; 18,18), was für Paulus nichts anderes bedeutet als »gerechtfertigt werden«. Wenn Paulus es auch nicht explizit ausspricht, so scheint er letztlich doch vorauszusetzen, dass die Völker deshalb und insofern Segen bzw. Gerechtigkeit erlangen, weil sie durch ihren Glauben Abraham gleich werden (Gal 3,9: ὥστε οἱ ἐκ πίστεως εὐλογοῦνται σὺν τῷ πιστῷ Ἀβραάμ).148 Dieser Glaube konstituiert die Völker zugleich als Söhne Abrahams (Gal 3,7). Die Begründung und die Konsequenzen dieser Aussage, die das jüdische Privileg einer natürlichen Abstammung von Abraham relativiert, werden im Folgenden sukzessive entfaltet (vgl. Gal 3,16.19.29).149 Trotz der von Gott verheißenen Rechtfertigung der Völker »aus Glauben« bleibt immer noch die Möglichkeit, dass Gott für die Juden mit dem ihnen durch Mose gegebenen Gesetz einen eigenen Weg zum Heil vorgesehen hat 146 Die vorwurfsvolle Frage ἐναρξάμενοι πνεύματι νῦν σαρκὶ ἐπιτελεῖσϑε in Gal 3,3b besagt zunächst einen »Richtungswechsel« der Galater. Dabei sollen die Galater, zumindest bei σάρξ, durchaus auch die konkrete Bedeutung des Wortes mithören, wobei »Fleisch« im Sinne einer Metonymie für die »Vorhaut« bzw. auch für die mit dem und am Leib ausgeführten »Werke« steht. Im Hintergrund mag auch der typisch pejorative Gebrauch von σάρξ (Bereich der Sünde) bei Paulus stehen, der das Tun der Galater von vornherein als negativ und absurd konnotiert; dazu Lührmann, Galater (ZBK) 48. Vgl. auch E. Schweizer u. a., σάρξ κτλ. ThWNT 7 (1964) 98–151, bes. 124–136; A. Sand, σάρξ. EWNT 3 (21992) Sp. 549–557, bes. 550–552. Zu Gal 3,3 auch Egger, Galaterbrief (NEB) 23; Borse, Galater (RNT) 123. 147 In Gal 3,3 greift Paulus wohl polemisch-ironisierend das »sowohl als auch« der konkurrierenden judenchristlichen Missionare auf; dazu auch Schlier, Galater (KEK) 123f. 148 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 50; Borse, Galater (RNT) 126f. Mit Abraham findet Paulus in der »Schrift« den Typos, d. h. die verheißende Vorwegnahme der Rechtfertigung (allein) durch Glauben. 149 Dazu auch Becker, Galater (NTD) 49; Scherer, Argumente 133–135.

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5. Der Brief an die Galater

(Gal 3,10–14). Dies schließt Paulus nicht dadurch aus, dass er das Gesetz insgesamt verwirft. Offen bleibt, ob das Gesetz zumindest theoretisch als Weg zum Heil gelten kann (Gal 3,12b; vgl. Lev 18,5); weil jedoch das Gesetz jeden verflucht, der sich nicht an alle seine Vorschriften hält (vgl. Dtn 27,26), scheint für Paulus de facto jedenfalls niemand durch das Gesetz zum Heil zu gelangen (Gal 3,10f.; vgl. Dtn 28,58; 29,20f.; 30,10).150 Deshalb sind auch die, denen das Gesetz gegeben ist, für ihre Erlösung auf Jesus Christus, d. h. auf seinen stellvertretenden Sühnetod am Kreuz, verwiesen und haben somit keinen soteriologischen Vorrang vor den Heiden, deren Rechtfertigung (ἡ εὐλογία τοῦ Ἀβραάμ) ebenfalls an Jesus Christus gebunden ist (Gal 3,13f.; vgl. 3,21f.).151 Damit provoziert Paulus die Frage nach Sinn und Funktion des Gesetzes. Diese Frage verschärft er, indem er seine Adressaten darauf hinweist, dass das Gesetz mit seinen Vorschriften für sie keine Bedingungen zur Erlangung des Heils benennen kann (Gal 3,15–18). Ihr Heil ist nämlich in den Abraham gegebenen Verheißungen begründet (vgl. Gal 3,8), die das erst nachträglich ergangene Gesetz nicht aufheben oder modifizieren kann (Gal 3,17). Diese Behauptung begründet Paulus mit einer Analogie aus dem Erbrecht, nach dem ein Testament, sobald es wirksam geworden ist, nicht mehr nachträglich außer Kraft gesetzt oder verändert werden kann. Da dies voraussetzt, dass der, der das Testament ändern will, nicht sein Urheber ist, impliziert Paulus bereits hier, was in Gal 3,19f. erneut anklingt, dass nämlich das Gesetz nicht von dem Gott stammt, der Abraham die Verheißungen gegeben hat.152 Rätselhaft wirkt zunächst der Hinweis des Paulus, dass nach dem Wortlaut der »Schrift« die Verheißungen nicht einer Vielzahl von Nachkommen Abrahams gelten, sondern einem einzigen, der niemand anderer ist als Jesus Christus (Gal 3,16.19); doch wird sich im Folgenden zeigen, dass Paulus hiermit die Konstituierung der Nachkommenschaft Abrahams, d. h. derer, die als seine Erben das von Gott verheißene Heil erhalten werden, exklusiv an Jesus Christus bindet.153 Paulus kommt zu dem Schluss, dass das Gesetz den Menschen durch die Erfahrung des Scheiterns an seinen Vorschriften ihre Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit bewusst macht, sie aber nicht zum Heil führen kann (Gal 3,19–22; vgl. 2,16f.).154 Weil somit diejenigen, die durch Mose das Gesetz empfangen haben, durch das Gesetz um ihre Verfallenheit an die Sünde und die Strafe für Gesetzesübertretungen wissen, ohne sich aus dieser Verstrickung be150 Dazu auch Dunn, Galatians (BNTC) 170–174, mit Anmerkungen zu einem möglichen jüdischen Traditionshintergrund dieser »radikalisierten« Sicht des Zusammenhangs von Gesetz und Fluch bei Paulus. 151 Ähnlich Borse, Galater (RNT) 130f. 152 Vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 62. 153 Lührmann, Galater (ZBK) 61: »Der Segen Abrahams wird vermittelt durch den, der in der Beendigung des Fluches die Möglichkeit des Glaubens eröffnet und selber Inhalt des Glaubens ist.« 154 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 28; Borse, Galater (RNT) 135f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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freien zu können, vergleicht Paulus ihre Situation unter dem Gesetz mit der von Inhaftierten oder von unmündigen Kindern unter der Aufsicht eines »Pädagogen«155, d. h. eines Sklaven, der sie beaufsichtigen und züchtigen soll (Gal 3,23–25). Deshalb bedürfen auch sie der Erlösung durch Jesus Christus. Es ist also widersinnig, wenn die Galater sich um des Heiles willen dem Gesetz unterstellen wollen, zumal sie, wie Paulus ihnen ins Gedächtnis ruft, bereits am verheißenen Heil Anteil erhalten haben; denn durch Glaube und Taufe sind sie Jesus Christus eingegliedert und so in ihm zu Nachkommen und Erben Abrahams geworden, womit sie zugleich auch zu »Söhnen Gottes« geworden sind (Gal 3,26–29).156 Mit einer erneuten Analogie aus dem Erbrecht suggeriert Paulus seinen Adressaten, dass sie sich mit der Übernahme des Gesetzes paradoxerweise selbst entmündigen und die mit ihrer Rechtsstellung als Söhne und Erben verbundenen Vorrechte aufgeben, wenn sie sich durch die Beschneidung der Aufsicht und Vormundschaft des Gesetzes unterstellen, die nach der Festsetzung Gottes mit dem Kommen Christi eigentlich bereits ihr Ende gefunden hat (Gal 4,1–7).157 Damit vermengt sich der Gedanke, dass die Galater erst mit der Taufe den Statuswechsel vom Sklaven zum Sohn vollzogen haben und dadurch zum Erben eingesetzt wurden; denn seit ihrer Taufe sind sie ermächtigt, Gott als ihren Vater anzusprechen.158 Eine polemische Note gibt Paulus seinen Ausführungen, wenn er die Hinwendung seiner heidenchristlichen Adressaten zur jüdischen Gesetzesfrömmigkeit mit einem Rückfall in den heidnische Götzendienst gleichsetzt (Gal 4,8–11; vgl. besonders die identische Qualifizierung von Gesetzesfrömmigkeit und Götzendienst als στοιχεῖα-Dienst in Gal 4,3.9).159 Indem Paulus seiner Sorge Ausdruck verleiht, er könne sich vergeblich um die Galater bemüht haben (Gal 4,11), überführt er die sachliche Kontroverse auf der Ebene ihrer persönlichen Beziehung.160 Dabei kontrastiert er das ehemals gute Verhältnis zwischen sich und den Adressaten mit ihrer gegenwärtigen Beziehung, die – wie Paulus unterstellt – durch seine Konkurrenten aus eigensüchtigen Motiven vergiftetet wurde (Gal 4,12–20). Daraus konstruiert er 155

Näheres zum παιδαγωγός in der griechische Antike auf S. 361, Anm. 770. Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 61–63; Borse, Galater (RNT) 139. 157 Im Hintergrund steht die apokalyptische Vorstellung von der Zeitenwende, die in und mit Kreuz und Auferweckung Jesu Christi angebrochen ist und die von Paulus auch bereits im Präskript des Galaterbriefes thematisiert wurde (vgl. Gal 1,1.4f.); vgl. dazu Egger, Galaterbrief (NEB) 29f. Dagegen betont Borse, Galater (RNT) 142, stärker den individuell-biographischen Aspekt, dass es auch für die Christen eine Zeit der Unmündigkeit gab. 158 Zur Überlagerung zweier Aussagen und der »Uneinheitlichkeit des Bildes« in Gal 4,1–2 und 4,3–7 vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 63; zu den Verständnis- und Interpretationsschwierigkeiten in Gal 4,1–7 auch Goodrich, Guardians 252–257. Zur argumentativen Funktion der Abba-Anrede im Gebet vgl. auch Lührmann, Galater (ZBK) 69f.; Borse, Galater (RNT) 145. 159 Dazu auch Radl, Galaterbrief (SKK) 63; Lührmann, Galater (ZBK) 71. 160 Vgl. auch Fung, Galatians (NICNT) 195. 156

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5. Der Brief an die Galater

ein emotionales Argument, indem er den Adressaten offenlegt, dass sie sich mit der Hinwendung zu Gesetz und Beschneidung nicht nur von der »Wahrheit des Evangeliums«, sondern auch von ihm abwenden, da er – wie er zuvor im autobiographischen Passus aufgewiesen hat – diese Wahrheit verkörpert (vgl. die pointierte Frage in Gal 4,16: ὥστε ἐχϑρὸς ὑμῶν γέγονα ἀληϑεύων ὑμῖν;).161 Damit setzt Paulus darauf, dass den Galatern an einem Bruch mit ihrem Apostel nicht gelegen sein kann und sie deshalb wegen ihrer Beziehung zu ihm ihre Entscheidung überdenken und revidieren werden. Anschließend kehrt Paulus noch einmal zu seiner antinomistischen Auslegung der Abrahamserzählung zurück und deutet die beiden Frauen Abrahams und ihre Söhne als »Vorausbilder« der Antithese von Gesetz und Glaube (Gal 4,21–31).162 Die Sklavin Hagar und ihr Sohn Ismael stehen für die bloß leibliche Abstammung von Abraham und für den am Sinai geschlossenen Bund, d. h. für Beschneidung und Gesetzesobservanz. Weil Hagar eine Sklavin ist und als solche wieder Sklaven gebiert, folgert Paulus, dass keiner durch Beschneidung und Gesetzesobservanz zur Erlösung gelangt. Die Freie Sara und ihr Sohn Isaak dagegen stehen für die in der Verheißung begründete Abstammung von Abraham, damit aber dafür, dass derjenige, der durch Glaube und Taufe in Christus eingegliedert wird, das Heil erlangt. Ihre soteriologische Dimension und Relevanz erhalten die Gegensatzpaare Freier/Sklave bzw. Freiheit/ Sklaverei dadurch, dass nach antikem Erbrecht der frei geborene Sohn als Erbe den Vorrang hat; Abrahams Sohn und Erbe zu sein aber bedeutet für Paulus Teilhabe an dem von Gott ihm verheißenen Heil (vgl. Gal 3,16.29).163 Deshalb kann Paulus seine bisherigen Ausführungen in dem programmatischen Satz zusammenfassen: τῇ ἐλευϑερίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλευϑέρωσεν· στήκετε οὖν καὶ μὴ πάλιν ζυγῷ δουλείας ἐνέχεσϑε (Gal 5,1).164 B 4. Gal 5,13 – 6,6: Den paränetischen Teil seines Briefes eröffnet Paulus mit einer eindringlichen Warnung an die Adressaten. Sie sollen und müssen wissen, dass sie, wenn sie sich dem Gesetz unterstellen, das Heil wieder preisgeben, das sie durch Taufe und Glaube bereits erhalten haben (Gal 5,1–6).165 In Entsprechung zu Gal 3,1–5 erinnert Paulus die Galater nochmals daran, dass 161 Ähnlich Borse, Galater (RNT) 148–150; zur argumentativen Funktion des in Gal 4,16 mit ἀληϑεύων gegebenen Rückbezugs auf die Aussagen über das Eintreten des Paulus für die »Wahrheit des Evangeliums« vgl. auch Lührmann, Galater (ZBK) 74. 162 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 32–34; Radl, Galaterbrief (SKK) 72–75; Borse, Galater (RNT) 174. 163 Ausführlich zur Verwendung und Bedeutung von ἐλεύϑερος κτλ. und δοῦλος κτλ. bei Paulus Th.J. Bauer, Theologie der Freiheit bei Paulus? Eine Untersuchung zu den Freiheitsaussagen im Römerbrief [noch nicht veröffentlichtes Manuskript]. 164 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 35. 165 Vgl. Borse, Galater (RNT) 178–181; Egger, Galaterbrief (NEB) 35; Radl, Galaterbrief (SKK) 78f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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sie bereits auf dem richtigen Weg waren; davon sollen sie sich nicht leichtfertig wieder abbringen lassen (Gal 5,7–12). Mit der anschließenden Mahnung an die Adressaten, aus der »Wahrheit des Evangeliums« keine falschen Konsequenzen zu ziehen, will Paulus zugleich vorschnelle und unberechtigte Unterstellungen abwehren, mit denen seine Konkurrenten die »Wahrheit des Evangeliums«, wie er sie im Galaterbrief entfaltet hat, diskreditieren könnten (Gal 5,13–26).166 Die Ablehnung von Beschneidung und Gesetzesobservanz bedeutet nämlich nicht, dass die Christen von einer moralisch verantworteten Lebensführung entbunden sind; doch ist ihr Handeln nicht mehr durch die Todesforderung des Gesetzes motiviert, sondern durch den Geist, den sie bei der Taufe empfangen haben (Gal 5,18). Der Geist treibt sie dazu, den Nächsten zu lieben (Gal 5,14).167 Was dies konkret bedeutet, entfaltet Paulus im Rückgriff auf traditionelle Tugend- und Lasterkataloge (vgl. S. 185).168 B 5. Gal 6,7–10: Den paränetischen Teil schließt Paulus mit einer Reihe von Mahnungen, mit denen er die vorausgehende allgemeine Mahnung zum Tugendwandel im Blick auf das Zusammenleben in den Gemeinden – teilweise im Rückgriff auf sprichwörtliche Mahnungen – konkretisiert (Gal 6,7–10).169 C. Gal 6,11–17: An den Brief, den er einem Sekretär diktiert hat, fügt Paulus einen eigenhändigen Schlussabschnitt, in dem er noch einmal heftig gegen seine Konkurrenten polemisiert, indem er ihnen und ihrem »Evangelium« unlautere Motive unterstellt (zur epistolographischen Funktion eines solchen eigenhändigen subscriptio vgl. S. 241ff.).170 In Entsprechung zur Verfluchung aller, die die »Wahrheit des Evangelium« verfälschen, formuliert Paulus zum Abschluss einen bedingten Segen über alle, die der »Wahrheit des Evangeliums« folgen, wie er sie in seinem Brief entfaltet hat.171 D. Gal 6,18: Wenn Paulus im Postskript mit seinem Segenswunsch erneut das πνεῦμα aufgreift, erinnert er seine Adressaten wohl abschließend nochmals an ihre Taufe, bei der sie den Geist empfangen haben und in der ihr Heil begründet ist (vgl. Gal 3,1–5).

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Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 80; Borse, Galater (RNT) 189–191. Nach Rohde, Galater (ThHK) 226f., legt Paulus den Akzent darauf, bei den Galatern selbst ein Missverständnis seiner Freiheitsbotschaft abzuwehren. 167 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 39; Borse, Galater (RNT) 191. Dazu insgesamt auch B. S. Rosner, Paul and the Law. What he does not say, in: JSNT 32 (2010) 405–419. 168 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 82–85; Rohde, Galater (ThHK) 236–251. 169 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 39f. 170 Dazu auch Egger, Galaterbrief (NEB) 41f.; Borse, Galater (RNT) 219; Lührmann, Galater (ZBK) 101. 171 Vgl. Borse, Galater (RNT) 219; Egger, Galaterbrief (NEB) 14.

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5. Der Brief an die Galater

5.2.2 Briefformular und epistolare Formeln Vorbemerkung: Der Galaterbrief orientiert sich zwar grundsätzlich am üblichen paulinischen Briefformular, weist aber, wie bereits angemerkt, im Vergleich mit anderen Briefen des Corpus Paulinum einige Besonderheiten auf (vgl. S. 193).172 Im Präskript (Gal 1,1–5) sind die superscriptio und die salutatio im Blick auf die spezifische Kommunikationssituation signifikant erweitert. In der Corpuseröffnung (Gal 1,6–9) fehlt, möglicherweise ebenfalls situationsbedingt, die als Gebetsbericht formulierte Danksagung für den Heilsstand der Adressaten. Die Corpusmitte (Gal 1,10 – 6,6) weist, abgesehen von dem an vielen Stellen ungewöhnlich unfreundlichen und polemischen Ton, keine signifikanten Besonderheiten auf. Der Verzicht auf die in den Paulusbriefen sonst üblichen Grußausrichtungen und Grußaufträge im Corpusabschluss (Gal 6,7– 10) wird meist ebenfalls als Ausdruck des angespannten Verhältnisses zwischen den Briefpartnern gewertet. An das Briefcorpus fügt Paulus eine relativ lange eigenhändige subscriptio (Gal 6,11–17), in der er noch einmal das zentrale Anliegen des Briefes betont. Das Postskript (Gal 6,18) endet nach dem üblichen Schlusssegen singulär mit der nochmaligen Anrede der Adressaten als ἀδελφοί und der ἀμήν-Akklamation. A. Präskript – Gal 1,1–5: In der superscriptio stellt Paulus sich seinen Adressaten als ἀπόστολος »Gesandter« vor (zur Verwendung des Aposteltitels im Präskript der Paulusbriefe bereits S. 81).173 Auf die religiöse Dimension und die ekklesiale Relevanz dieser Funktionsbezeichnung verweist der erläuternde Zusatz οὐκ ἀπ’ ἀνϑρώπων οὐδὲ δι’ ἀνϑρώπου ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ ϑεοῦ πατρὸς τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ νεκρῶν (zur Funktion dieser Erweiterung bereits S. 202; ähnliche legitimierende Erweiterungen in 1 Kor 1,1 und 2 Kor 1,1). Damit erinnert Paulus die Galater an seinen Anspruch, zu jener (kleinen) Gruppe von Personen zu gehören, die durch eine Erscheinung des Auferstandenen eine besondere Sendung erhalten haben, dadurch aber auch gegenüber den anderen Mitgliedern der christlichen Gemeinden ausgezeichnet sind. Folglich signalisiert Paulus mit dem Gebrauch der Funktionsbezeichnung ἀπόστολος im Präskript des Galaterbriefes, dass er für sich einen den Adressaten überlegenen Status beansprucht. Damit gibt Paulus auch zu erkennen, dass 172 Longenecker, Galatians (WBC) cviiif., gliedert den Galaterbrief durch Verbindung der Formalia der Briefkonvention mit inhaltlichen Aspekten: 1,1–5 Salutations – 1,6 – 4,11 Rebuke Section (mit autobiographischen Aussagen und theologischer Argumentation) – 4,12 – 6,10 Request Section (Appell durch Rekurs auf persönliche Beziehung, Schriftbeweis und Ethik) – 6,11–18 Subscription. 173 Zur Herkunft und Bedeutung des Aposteltitels sowie zu seiner Funktion im paulinischen Briefpräskript J.-A. Bühner, ἀπόστολος. EWNT 1 (21992) Sp. 342–351, bes. 344–346; T. Holtz, Zum Selbstverständnis des Apostels Paulus, in: ThLZ 91 (1966) 324–330; R. Schnackenburg, Apostel I. Im Neuen Testament. LThK3 1 (1993) Sp. 851f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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die Kommunikationssituation des Galaterbriefes nicht als ein Gespräch unter Gleichgestellten intendiert ist, sondern als göttlich legitimiertes und deshalb autoritatives Sprechen verstanden und angenommen werden soll. Insofern lässt sich die titular erweiterte Selbstvorstellung des Paulus im Galaterbrief (und seinen anderen Briefen, abgesehen vom 1. Thessalonicherbrief) mit der Verwendung von Amtsbezeichnungen bei Absender und Adressat im offiziellen Briefverkehr der hellenistischen und kaiserzeitlich-römischen Administration vergleichen (vgl. S. 45); diese dienten ebenfalls dazu die soziale Relation zwischen den Briefpartnern zu definieren (so z. B. das Präskript im Brief eines ptolemäischen »Dorfschreibers« an einen anderen Beamten P.Tebt. IV 1099,1f. [114 v. Chr.]174 Μεγχῆς κωμογραμματεὺς Κερκεοσίρεως τῆς Πολέμωνος μερίδος Ὥρῳ χαίρειν, oder im Brief eines römischen Gerichtsbeamten aus Alexandria an einen lokalen Verwaltungsbeamten auf dem Lande P.Meyer 6,1–3 [125 n. Chr.]175 Ἀνδρόνεικος ὁ ἱερεὺς καὶ ἀρχιδικαστὴς τῷ τῇς Ἡρακλείδου μερίδος τοῦ Ἀρσινοίτου στρατηγῷ χαίρειν). Dies bedeutet dennoch nicht, dass sich das paulinische Präskript am amtlichen Briefverkehr orientiert. Ähnliches findet sich nämlich auch in Briefen, die nicht unmittelbar aus der brieflichen Kommunikation der offiziellen Bürokratie stammen (so z. B. das Präskript einer Urkunde in Briefform aus dem Tempelarchiv von Soknopaiou Nesos in Ägypten P.Amh. II 56,1–5 [146/135 v. Chr.]176 Διόδωρος ὃς καὶ Πετεσοῦχος Μαρρείους προφήτης Σοκνοπαίου ϑεοῦ μεγάλου Ἀμμωνίῳ χαίρειν). Als Mitabsender nennt Paulus im Präskript des Galaterbrief οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοί (Gal 1,2). Angaben von Mitabsendern sind in antiken Briefen selten (vgl. S. 123). Dabei werden, wie auch in anderen Paulusbriefen zu beobachten, in der Regel eine oder sehr selten zwei (oder drei) Personen namentlich genannt (vgl. 1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Phil 1,1; 1 Thess 1,1; Phlm 1; dazu bereits S. 79); ungewöhnlich ist die kollektive Angabe einer Personengruppe als Mitabsender wie im Präskript des Galaterbriefes.177 Flavius Josephus zitiert jedoch in seiner Autobiographie zwei Schreiben einer an ihn gerichteten Gesandtschaft der Anführer der jüdischen Aufständischen in Jerusalem (66 n. Chr.), deren Präskripte eine analoge Formulierung enthalten: Ἰωνάϑης καὶ 174

Der Text des Briefes mit Einführung und englischer Übersetzung bei White, Light 82f. [Nr. 46]. Als κωμογραμματεύς, wörtlich »Dorfschreiber«, bezeichnet man in ptolemäischer Zeit einen Verwaltungsbeamten auf der Eben eines Dorfes bzw. einer Gemeinde; vgl. White, Light 225; Rupprecht, Papyruskunde 69 (Literaturhinweise). 175 Der ἀρχιδικαστής ist ein römischer Beamter in Alexandria, der für zivilrechtliche Angelegenheiten zuständig war (P.Meyer 6 behandelt eine Erbschaftsangelegenheit); vgl. White, Light 225f.; Rupprecht, Papyruskunde 70 und 146 (mit Literaturhinweisen). Der στρατηγός ist in römischer Zeit der Vorsteher eines ägyptischen Verwaltungsbezirkes (νομή) und als solcher dem ἀρχιδικαστής als Mitglied der Zentralverwaltung in Alexandria untergeordnet. 176 προφήτης war die Bezeichnung für eine bestimmte Gruppe von Priestern in Ägypten; vgl. Olsson, Papyrusbriefe 74. 177 Dazu auch Stirewalt, Paul 94–101; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 38.

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5. Der Brief an die Galater

οἱ σὺν αὐτῷ πεμφϑέντες ὑπὸ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν Ἰωσήπῳ χαίρειν (Ios. vita 217) bzw. Ἰωνάϑης καὶ οἱ σὺν αὐτῷ Ἰωσήπῳ χαίρειν (vita 229; vgl. auch 2 Makk 1,10).178 Die Formulierung der superscriptio in den bei Flavius Josephus zitierten Briefen will der Tatsache Rechnung tragen, dass es sich bei den Absendern nicht einfach um eine Gruppe handelt, sondern dass diese Gruppe in sich »strukturiert« ist, d. h. einen Anführer oder bevollmächtigten Sprecher besitzt; dabei handelt es sich sicher nicht um eine jüdische Konvention, sondern die Präskripte der beiden Schreiben bei Flavius Josephus spiegeln wohl den Usus des amtlichen und diplomatischen Briefverkehrs.179 Die Verwendung der ersten Person in οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοί in Gal 1,2 verstößt allerdings gegen die Konvention, dass im griechischen Brief das Präskript gewöhnlich indirekt, also in der 3. Person formuliert wird (es müsste also σὺν αὐτῷ stehen); die Verwendung der 1. statt der 3. Person findet sich aber auch sonst in den Präskripten der Paulusbriefe (vgl. dazu S. 81).180 Es stellt sich die Frage, wen Paulus mit οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοί meint und wozu er sie im Präskript als Mitabsender nennt. Da ἀδελφός zunächst zur Bezeichnung der Mitglieder der christlichen Gemeinden dient, könnte der Ausdruck οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοί – wie in der Grußausrichtung in Phil 4,21 – allgemein für die Christen jener Gemeinde stehen, in der Paulus sich bei der Abfassung des Galaterbriefes aufhält (also die Christen in Ephesus, Makedonien oder Achaia).181 Ihre Erwähnung als Mitabsender würde signalisieren, dass jene Christen sich das Anliegen des Galaterbriefes zu eigen machen und sich mit Paulus mahnend an die Galater wenden.182 Vielleicht aber muss man σὺν ἐμοί nicht lokal verstehen, sondern als Ausdruck der Gesinnungsgenossenschaft; Mitabsender des Briefes wären dann alle, die in Gemeinschaft mit Paulus an der »Wahrheit des Evangeliums« festhalten.183 Der Galaterbrief wäre dann als Schreiben der Gesamtheit der »paulinischen Kirchen« zu verstehen, als deren Sprecher (und Leiter) Paulus auftritt. Nicht aus178 Vgl. Stirewalt, Paul 100f.; nicht nachvollziehbar aber ist die von Stirewalt aus dieser Formulierung abgeleiteten Annahme, hinter den in οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοί genannten Mitabsendern stünden Mitglieder offizieller Delegationen, die von den galatischen Gemeinden zur Klärung der Frage der Beschneidung und Gesetzesobservanz zu Paulus geschickt worden seien. 179 Als Parallele aus dem Bereich der Papyrusbriefe lässt sich auf P.Tebt. I 48,1–4 (= WChr. 409; ca. 113 v. Chr.) verweisen; allerdings gehört dieses Präskript zum Typ τῷ δεῖνι παρὰ τοῦ δεῖνος: Μεγχεῖ κωμογραμματεῖ Κερκεοσίρεως παρὰ Ὥρου κωμάρχου καὶ τῶν πρεσβυτέρων τῶν γεωργῶν τῆς αὐτῆς; Text mit Einführung und englischer Übersetzung bei White, Light 85f. [Nr. 50]. 180 Vgl. Klauck, Ancient Letters 313. 181 Zu ἀδελφός als Gemeindeterminus bei Paulus vgl. auch J. Beutler, ἀδελφός. EWNT 1 (21992) Sp. 67–72, bes. 71; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 29; H. von Soden, ἀδελφός κτλ. ThWNT 1 (1933) 144–146. 182 Vgl. Dunn, Galatians (BNTC) 29. 183 Ähnlich schon Schlier, Galater (KEK) 28f.; Vouga, Galater (HNT) 18.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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zuschließen ist allerdings, dass ἀδελφοί in Gal 1,2 im engeren Sinn als Bezeichnung für die Mitarbeiter im Dienst des Evangeliums gebraucht ist (vgl. 1 Kor 16,20; Phil 4,21).184 Dafür könnte die Tatsache sprechen, dass bei Paulus sonst – abgesehen vom Römerbrief – in der superscriptio immer ein oder zwei namentlich genannte Mitarbeiter als Mitabsender erscheinen. In diesem Fall ließe sich der Galaterbrief mit gewissen Einschränkungen als eine Art autoritatives Schreiben des »Führungsstabes« der »paulinischen Kirchen« verstehen. Durch die adscriptio ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας in Gal 1,2 ist der Brief als einziger der erhaltenen Paulusbriefe nicht an eine einzelne Gemeinde, sondern an eine Gruppe aus mehreren Gemeinden adressiert (vgl. jedoch die adscriptio in 2 Kor 1,1 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ ϑεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνϑῳ σὺν τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαίᾳ).185 Anhand der adscriptio des Galaterbriefes sollte man nicht das Problem seiner Zustellbarkeit thematisieren.186 Denn für die Zustellung des Briefes ist das Präskript und seine Formulierung unerheblich, da ein Brief vor der Übermittlung aufgerollt bzw. gefaltet und versiegelt wurde, so dass das Präskript für den Briefboten nicht lesbar war. Die eigentliche Adresse, d. h. die genaue Angabe des Ortes, wo und bei wem der Brief abzugeben war, wurde auf der Außenseite des verschlossenen Briefes notiert.187 Eine 184 So bei Radl, Galaterbrief (SKK) 17; Betz, Galaterbrief 91f.; Bruce, Galatians (NIGTC) 73f.; Burton, Galatians (ICC) 8–10 ; Oepke, Galater (ThHK) 44f. 185 Vgl. Schenke/Fischer, Einleitung 1, 77; Klauck, 2. Korintherbrief (NEB) 17. 186 Gegen Kremendahl, Botschaft 96. 187 Bei dem Brief P.Mich. III 201 (99 n. Chr.) mit der adscriptio Ἀποληείῳ καὶ Οὐαλεριᾶτι findet sich als Außenadresse die Anweisung ἀπόδος Ἀποληείῳ | ἀπόδος Οὐαλεριᾶτι, d. h. die Anweisung zur doppelte Zustellung bzw. Weitergabe des Briefes. Der Brief BGU IV 1079 (= CPJ II 152/WChr. 60/SP I 107; 41 n. Chr.) an einen Herakleides hat die (nicht vollständig erhaltene) Außenadresse ἀπόδος εἰς Ἀλεξάνδρειαν εἰς τὴν … ϑήκην ὥστε Ἡρακλείδῃ παρὰ Σαραπίωνος …ωνος τοῦ Σωσιπάτρου; der Brief enthielt demnach eine sehr genaue und detaillierte Angabe über den Ort, wo der Brief abzugeben war. P.Oxy. II 300 (spätes 1. Jh. n. Chr.) zeigt, dass die adscriptio im Präskript und Außenadresse nicht übereinstimmen musste; während das Präskript eine Thaisous als Adressatin nennt, enthält die Außenadresse die Anweisung, den Brief im Gymnasium an den Öllieferanten Theon zu übergeben (der ihn dann an Thaisous weiterreichen sollte). Allgemein lässt sich sagen, dass Art und Umfang der Außenadresse davon abhängig waren, wer den Brief überbringen sollte, d. h. ob der Adressat des Briefes und seine Wohnung dem Briefboten bekannt waren oder nicht. Zur Außenadresse vgl. auch White, Light 216f. Die für die Außenadresse notwendigen Angaben wurden, sofern sie den Briefpartnern nicht durch lange Vertrautheit oder vorherige Absprachen bekannt waren oder sich geändert hatten, im Rahmen der brieflichen Korrespondenz mitgeteilt. Wie man sich das vorstellen muss, zeigt P.Lond. III 897,17–19 (84 n. Chr.). In diesem Brief gibt der Absender eine genaue Anweisung, wohin sein Adressat den Antwortbrief zu adressieren hatte: ἐὰν δέ μοι ἐπιστολὰ[ς] πέμπῃς, πέμψεις εἰς τὸ Θέωνος τραγηματοπωλῖον ἐπὶ τὸ Χαριδήμου βαλανεῖον καὶ ἐν τῷ ἐργαστηρίῳ εὑρήσει Δεῖον τὸν τοῦ Σύρου καὶ αὐτός μοι ἀναδώσει ἢ παρὰ Ἡρακλειδίωνα τὸν τοῦ Ἄβα. Vgl. auch Olsson, Papyrusbriefe 143–147 [Nr. 50]. Diese Form der »Anschrift« entspricht der üblichen Form, in der man in der Antike – nicht nur für die Übermittlung eines Briefes – angab, wo und wie die eigene Wohnung bzw. das eigene Haus in

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5. Der Brief an die Galater

entsprechende Außenadresse ist auch für den Galaterbrief anzunehmen. Zusätzlich ist mit mündlichen Anweisungen an den Briefboten zu rechnen. Ob es sich dabei um einen Mitarbeiter des Paulus oder ein sonstiges Gemeindemitglied handelte, lässt sich nicht entscheiden. Wenn die Gemeinden in der Landschaft Galatien zu suchen sind, müssen dabei zusätzlich die mit der Zustellung des Briefes verbundenen logistischen Probleme bedacht werden. Die Zustellung durch einen Boten aus dem Kreis der Mitarbeiter oder Gemeindemitglieder bedeutete jedenfalls erhebliche Kosten für Paulus. Kostengünstiger, aber auch unsicherer war es, den Brief jemandem mitzugeben, der zufällig in diese Gegend reiste, den man jedoch unter Umständen nicht einmal persönlich kannte.188 Da Paulus, nach Inhalt und Ton des Briefes zu urteilen, seine Intervention in den galatischen Gemeinden offensichtlich als wichtig und drängend erachtete, scheint es jedoch fraglich, ob er zum einen auf eine sich zufällig bietende Gelegenheit zur Übermittlung des Briefes warten konnte, und ob er zum anderen tatsächlich riskieren wollte, dass der Brief unter Umständen seine Adressaten nie erreichte. Insofern darf man wohl annehmen, dass Paulus die Zustellung des Briefes durch einen verlässlichen Boten organisierte, der Anweisungen erhielt, wo und wie der Brief den verschiedenen Gemeinden verlesen werden sollte. Möglicherweise ließ er den Brief, der sich nicht an eine, sondern an eine Gruppe von Gemeinden richtete, auch nicht nur in einem Exemplar, sondern bereits in mehreren Abschriften zustellen. Als Zirkularschreiben, das an eine Mehrzahl von Gemeinden gerichtet ist, erweckt der Galaterbrief den Eindruck eines amtlichen Schreibens.189 Dies ist einer Stadt aufgefunden werden konnte (Straßennamen und Hausnummern standen dafür in der Regel nicht zur Verfügung). Für die neutestamentliche Zeit belegt dies ein Graffito aus den Vorstadtthermen in Herculaneum, in dem ein gewisser Hermeros eine Primigenia – nach einer in der Form eines Briefpräskripts formulierten Einleitung (Hermeros Primigeniae dominae) – auffordert, ihn in Puteoli zu besuchen; er weist ihr den Weg mit den Worten, sie solle dort in das Viertel Timnianos gehen und nach dem Geldwechsler Messius fragen, von dem sie dann offenbar weitere Auskünfte bzw. eine Wegweisung, möglicherweise in der Gestalt eines Kindes oder Sklaven, zur Wohnung des Hermeros erhalten wird (CIL IV 10676). Zum Graffito und seiner Interpretation vgl. G. Camodeca, Un vicus Tyanianus e i mestieri bancari a Puteoli. Rilettura del graffito ercolanese CIL IV 10676, in: Ostraka 9,2 (2000) 281–288. 188 Zu den Möglichkeiten und Risiken der Briefzustellung vgl. Klauck, Ancient Letters 60– 65; White, Light 214–216. 189 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 48. Dazu auch Stirewalt, Studies 80f., der folgende Belege für antike Zirkularschreiben anführt: Ios. ant. Iud. 11,3; vita 245; Lukian. Peregr. 41; Philon legat. 291; Xen. hell. 1,4,3, Xen. Kyr. 8,2,16f.; an keiner der genannten Stellen wird jedoch der Text eines Briefes zitiert, so dass sich Aussagen darüber machen ließen, wie die adscriptio eines solchen Zirkularschreibens formuliert war. Außerdem geht aus den Textstellen nicht hervor, ob der jeweilige Brief mehrfach ausgefertigt und den einzelnen Adressaten (in der Regel Städte) einzeln zugestellt oder ob nur ein Brief unter den Adressaten weitergegeben wurde. Als Beispiel für einen Privatbrief, der als Rundschreiben an die Kinder des Absenderin gerichtet war, nennt Roller, Formular 201–204 mit 598f. (Anm. 522), BGU I 332 (2./3. Jh. n. Chr.). Dass es sich um ein Rundschreiben handelt, ist dem Präskript, das in der adscriptio

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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vor allem darin begründet, dass er nicht an eine oder mehrere namentlich genannte Einzelpersonen adressiert ist, sondern an eine Gruppe von Gemeinden. Dadurch erinnert die adscriptio des Galaterbriefes an die in den hellenistischen Städten des Ostens als Monumentalinschriften »publizierten« Briefe hellenistischer Monarchen, die in der adscriptio den Rat und die Bürgerschaft dieser Städte nennen (z. B. in Syll.2 Suppl. 1,231 [um 205 v. Chr.]190 βασιλεὺς Ἀντίοχος Μαγνήτων τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ χαίρειν; ähnlich in Syll.3 I 344 [um 304/3 v. Chr.]191, einem Brief des Königs Antigonos an die Stadt Teos).192 Diese Form wurde von den Römern nicht nur für kaiserliche Edikte übernommen (so z. B. P.Stras. III 130,9–11 [= SB V 8012; 149 n. Chr.], einem Edikt Hadrians mit der adscriptio Ἀντινοέων Νέων Ἑλλήνων τοῖς ἄρχουσι καὶ τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ; modifiziert in P.Lond. VI 1912,14–16 [= CPJ II 153; 41 n. Chr.]193 Τιβέριος Κλαύδιος Καῖσαρ Σεβαστὸς Γερμανικὸς Αὐτοκράτωρ ἀρχιερεὺς μέγειστος δημαρχικῆς ἐξουσία ὕπατος ἀποδεδιγμένος Ἀλεξανδρέων τῇ πόλει χαίρειν), sondern auch für die Dekrete von Statthaltern (z. B. Syll.3 II 601 [193 n. Chr.] Μάρκος Οὐαλάριος Μάρκου στρατηγὸς καὶ δήμαρχοι καὶ ἡ σύγκλητος Τηΐων τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ χαίρειν). Auch die offiziellen Schreiben der römischen Administration wurden in den Städten als Inschriften publiziert, so dass ihre Form Paulus sicher aus persönlicher Anschauung bekannt war. Dennoch ist fraglich, ob diese Analogie in der adscriptio genügt, um die hellenistischen Königsbriefe und die von ihnen formal abhängigen amtlichen Briefe der römischen Kaiser und ihrer Statthalter als Vorbild und Modell des paulinischen Briefes zu deklarieren.194 Briefe, die an Personengruppen adressiert sind, finden sich nämlich auch sonst in amtlichen Briefen (z. B. P.Tebt. I 26,1 [= WChr. 330; 114 v. Chr.] Ὧρος τοῖς τοπογραμματεῦσι καὶ κωμογραμματεῦσι χαίρειν; P.Bour. 12,1–4 [= WChr. 12; SP II 41888 v. Chr.] Πλάτων τοῖς ἐν Παϑύρει ἱερεῦσι καὶ τοῖς ἄλλοις τοῖς κατοικοῦσι χαίρειν), aber auch im privaten Briefverkehr (z. B. Plat. epist. 7 und 8 τοῖς Δίωνος οἰκείοις τε καὶ ἑταίροις; drei Namen auflistet, nicht zu entnehmen. Die beiden von unterschiedlicher Hand stammenden Außenadressen belegen jedoch, dass der Brief von der Absenderin an einen der drei genannten Adressaten geschickt und von diesem dann an einen zweiten der Adressaten weitergeleitet wurde. 190 Der Brief genehmigt den Bürgern alle vier Jahre Spiele zu Ehren der Stadtgöttin Artemis durchzuführen; englische Übersetzung mit kurzem Kommentar bei Muir, Life 100f. 191 Der Brief ordnet die finanzielle Unterstützung für die Nachbarstadt Lebedos an; englische Übersetzung und kurzer Kommentar bei Muir, Life 92–94. 192 Ein Überblick zu den Briefen hellenistischer Monarchen mit Textbeispielen bei Muir, Life 92–105; vgl. auch Klauck, Ancient Letters 77–86; Gauger, Brief Sp. 211. 193 Kaiserliches Edikt zur Beilegung der Konflikte zwischen den Griechen und Juden in der Stadt Alexandria; Text mit englischer Übersetzung und Einführung bei White, Light 131–137 [Nr. 88]; englische Übersetzung mit Kommentar auch bei Klauck, Ancient Letters 83–100; deutsch ders., Briefliteratur 84–93. 194 Auf entsprechende Thesen bei Roller, Berger u. a. wurde bereits S. 82, Anm. 369, kritisch hingewiesen.

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5. Der Brief an die Galater

P.Amh. ΙΙ 40,1–3 [2. Jh. v. Chr.] Ἠπιόδωρος τῷ λεσώνει195 καὶ τοῖς ἱερεῦσι τοῦ Σοκνοπαίου χαίρειν). Unter den literarisch überlieferten authentischen und pseudepigraphen Briefen berühmter Persönlichkeiten finden sich auch solche, die in der Art der hellenistischen Königsbriefe an das Volk und den Rat von Städten adressiert sind (z. B. Demosth. epist. 4 τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ [nämlich der Athener]; Hippokr. epist. 11 Ἀβδεριτέων τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ).196 Es war demnach durchaus eine verbreitete Praxis, Briefe auch an Kollektive zu adressieren. Für die ursprünglichen Adressaten und ersten Leser der Paulusbriefe war die Assoziation mit kaiserlichen Edikten oder amtlichen Dekreten also keineswegs zwangsläufig und selbstverständlich. Im Vergleich mit den Präskripten der anderen (echten) Paulusbriefe fällt die Kürze der adscriptio des Galaterbriefes auf, die sich auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken scheint: ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας. Es fehlt eine präzisierende theologische Qualifizierung der Anrede mit ἐκκλησία wie in 1 Thess 1,1 (τῇ ἐκκλησίᾳ Θεσσαλονικέων ἐν ϑεῷ πατρὶ καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ Χριστῷ; vgl. 2 Kor 1,1) oder ihre Ergänzung durch Ehrentitel wie in 1 Kor 1,2 (τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ ϑεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνϑῳ, ἡγιασμένοις ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, κλητοῖς ἁγίοις κτλ.). Deshalb stellt sich die Frage, ob die Kürze der adscriptio des Galaterbriefes vielleicht als eine gezielte »Grobheit« des Paulus gegen seine Adressaten zu werten ist.197 Gewöhnlich sieht man in der knappen Anrede der Adressaten einen Ausdruck des Unwillens des Apostels über seine Gemeinden in Galatien; mit der »groben« adscriptio signalisiere er seinen Adressaten, dass ihr momentaner Zustand keine zusätzliche ehrende oder auszeichnende Anrede erlaube.198 Das Problem dieser Deutung ist jedoch, dass die Adressaten in Galatien eine genaue Kenntnis darüber besitzen müssten, wie ein »ordnungsgemäßes« paulinisches Präskript aussieht, um überhaupt eine solche Intention hinter der knappen adscriptio bemerken zu können.199 Außerdem ist bereits 195

λεσῶνις bezeichnet den obersten Aufseher und Verwalter eines Tempels in Ägypten; vgl. Liddell/Scott, Lex. 1041; Preisigke, Wb.Pap. 3,381. 196 An eine Gruppe gerichtet ist auch der erste der pseudepigraphen Briefe des Anacharsis, nämlich an die Athener (doch ohne echtes Präskript). 197 So unter anderem Roller, Formular 525; außerdem Tite, How to Begin 86–89. 198 So z. B. Radl, Galaterbrief (SKK) 17; ähnlich Mußner, Galaterbrief (HThK) 49. 199 Auf das grundsätzliche Problem, dass die Adressaten eine genaue Kenntnis des paulinischen Briefformulars besitzen müssten, damit sie derartige Abweichungen als bewusste Textsignale wahrnehmen könnten, weist auch Kremendahl, Botschaft 32f., hin. Ob ein solches Wissen vorausgesetzt werden darf, scheint jedoch insofern fraglich, als dem Galaterbrief selbst nicht zu entnehmen ist, dass Paulus den Galatern bereits zuvor einen Brief geschrieben hatte. Nicht ausgeschlossen werden kann freilich, dass sie Abschriften von Briefen des Paulus an andere Gemeinden kannten. Dabei müsste man allerdings fragen, wie derartige Abschriften von Briefen in die Landschaft Galatien gelangen konnten, da dem Brief nichts über Kontakte anderer paulinischer Gemeinden zu den galatischen Gemeinden zu entnehmen ist (es sei denn, man darf die Kollektennotiz in 1 Kor 16,1 als Indiz für die Vertrautheit zwischen den Gemeinden in Korinth und Galatien und damit auch für Kontakte zwischen den von Paulus gegrün-

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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ἐκκλησία im christlichen Kontext eine eindeutig ehrende Anrede, die den Adressaten ihren Heilsstand bestätigen und den Status als erwähltes endzeitliches Gottesvolk in Erinnerung rufen soll (dazu bereits S. 80). Auch wäre zu fragen, ob und inwiefern sich beispielsweise die adscriptio des Briefes an die Gemeinde in Philippi, der sich Paulus besonders verbunden wusste, in Elaboriertheit und Herzlichkeit von der des Galaterbriefes unterscheidet (Phil 1,1 πᾶσιν τοῖς ἁγίοις ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τοῖς οὖσιν ἐν Φιλίπποις; vgl. Röm 1,7); und auch die im Philemonbrief als Mitadressat genannte Hausgemeinde wird ohne jeden weiteren Zusatz als ἐκκλησία angesprochen. Erinnert sei auch an die Dekrete der hellenistischen Könige und römischen Kaiser, bei denen Rat und Bürgerschaft einer Stadt in der adscriptio ebenfalls ohne jeden ehrenden Zusatz genannt werden. Insofern lässt sich auch nicht damit argumentieren, die Adressaten des Galaterbriefes würden aufgrund damaliger Briefkonventionen eine ausgefaltete Anrede im Präskript erwarten und müssten sich daher durch die allzu knappe adscriptio brüskiert fühlen.200 Die salutatio ist im Galaterbrief wie in allen Briefen des Paulus in einen Segenswunsch transformiert (χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ϑεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ) und durch die von der griechischen Briefkonvention abweichende Verwendung der 1. und 2. Person als direkte Anrede formuliert (vgl. auch S. 81). Die bei Paulus singuläre Erweiterung der salutatio durch eine traditionelle christologische Bekenntnisformel (Dahingabeformel) in Gal 1,4f., die auf den Grund verweist, auf dem das paulinische Evangelium ruht, wurde bereits besprochen (vgl. S. 203).201 Singulär ist bei Paulus auch der Abschluss des Präskripts mit einer Doxologie und einer bekräftigenden ἀμήν-Akklamation (dazu bereits S. 204); dieser Zusatz wird meist mit dem Hinweis erklärt, Paulus wolle dadurch einen Ersatz für die im Galaterbrief im Blick auf die Briefsituation fehlende Danksagung in der Corpuseröffnung schaffen, um den Brief dennoch nicht ohne Gebetselement beginnen zu lassen.202 Kritisch ist dazu anzumerken, dass die Doxologie und die briefliche Danksagung nicht nur formal, sondern auch funktional zu unterscheiden sind. Als paulinisches Äquivalent zur griechischen Proskynema-Formel ist die briefliche Danksagung ein Gebetsbericht, der als Ausdruck des freundschaftlichen Gedenkens dem philophronetischen Charakter des antiken Briefes geschuldet ist (μνεῖα deten Gemeinden lesen). Ergänzend ist zu bedenken, dass die Tatsache, dass die Adressaten die Besonderheiten im Formular des Galaterbriefes nicht als absichtsvolle Gestaltung wahrnehmen konnten, noch nicht per se ausschließt, dass Paulus sich bei der Abfassung des Briefes von entsprechende Überlegungen leiten ließ. 200 Auch in Briefen an Einzelpersonen kann eine auf den Namen beschränkte adscriptio oft in Kontrast zu superscriptio mit Titel oder ähnlichen Ergänzungen stehen; vgl. z. B. P.Amh. II 56,1–5 (146 [135?] v. Chr.); P.Tebt. I 13,1f. (114 v. Chr.). 201 Vgl. Theobald, Galaterbrief 347. 202 So z. B. bei Schubert, Pauline Thanksgivings 162f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 52; Radl, Galaterbrief (SKK) 19; Schlier, Galater (KEK) 35; Cook, Prescript 518f.

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5. Der Brief an die Galater

und φιλοφρόνησις; vgl. dazu S. 83f.); die Doxologie dagegen ist Aufforderung zum aktiven Gotteslob. Insgesamt erscheint das Präskript des Galaterbriefes vor allem durch die Erweiterungen der salutatio im Blick auf die Intention und den Inhalt des Briefes dogmatisch-theologisch aufgeladen; ähnliches lässt sich im Präskript des Römerbriefes beobachten, doch konzentrieren sich die Erweiterungen hier auf die superscriptio, die von Paulus zu einer theologischen Legitimierung und Selbstempfehlung umgestaltet wurde. Außerhalb der Paulusbriefe findet sich eine derartig umfangreiche Erweiterung des Präskript nur in den (pseudepigraphen) Ignatiusbriefen (vgl. S. 74); bei deren Präskripten, die dem klassisch griechischem Modell ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν folgen (nur in IgnPhil ohne salutatio), besitzt die adscriptio regelmäßig derart ausufernde theologische, soteriologische und ekklesiologische Zusätze, dass die syntaktische Struktur des Präskripts beim ersten Lesen kaum mehr erkennbar ist. B 1. Corpuseröffnung – Gal 1,6–9: Im Galaterbrief fehlt, wie angemerkt, die als Gebetsbericht formulierte briefliche Danksagung für den Heilsstand der Adressaten, mit der Paulus sonst das Briefcorpus eröffnet (vgl. dazu S. 83).203 Dies ist sicher der konkreten Briefsituation, d. h. dem drohenden Abfall der Galater vom paulinischen Evangelium geschuldet. Damit aber drückt Paulus nicht einfach nur aus, dass der Zustand seiner Adressaten kein Dankgebet erlaubt; da der Bericht über das Gebetsgedenken zum Repertoire der philophronetischen Briefformeln gehört, in denen sich die freundschaftliche Beziehung zwischen den Briefpartnern artikuliert, ist das Fehlen dieser Formel Ausdruck einer nachhaltigen Störung dieser Beziehung.204 Dennoch bedeutet das Fehlen dieser philophronetischen Formel noch nicht zwangsläufig, dass der Galaterbrief kein Freundschaftsbrief ist und dass die Beziehung heillos und unwiderruflich zerstört ist (dagegen spricht der deutlich philophronetische Passus Gal 4,13–20; vgl. S. 251). Das Fehlen der brieflichen Danksagung ist zunächst nur als Signal an die Adressaten zu werten, dass ihre freundschaftliche Beziehung zu Paulus in Gefahr ist.205 Um diese Besonderheit im Formular des Galaterbriefes erkennen und einordnen zu können, war für die Adressaten (anders als beim Präskript) nicht zwingend eine Kenntnis anderer Briefe des Paulus nötig; hier genügte das Wissen um die allgemeinen Briefkonventionen, da, wie die 203 Vgl. Klauck, Ancient Letters 314; ders., Briefliteratur 237. In Analogie zur sonst üblichen Danksagung, die der Passus Gal 1,6–9 ersetzt, rechnet Theobald, Galaterbrief 347, diesen Abschnitt nicht zum Briefcorpus, sondern zum Briefeingang. Die Gründe, warum man den Abschnitt Gal 1,6–9 als Eröffnung zum Corpus rechnen sollte, sind dieselben wie bei der Danksagung; vgl. S. 121, Anm. 53. 204 Insofern greifen die Erklärungen bei Schnelle, Einleitung 117; Lührmann, Galater (ZBK) 18f., u. a. zu kurz. Nach Pokorný/Heckel, Einleitung 209, ist Gal 1,6–9 eine verfremdete Selbstempfehlung; vgl. auch Schnider/Stenger, Studien 57. 205 Dazu Matera, Galatians (Sacra Pagina) 48f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Papyrusbriefe reichlich belegen, die Proskynema-Formel in der Zeit des Paulus als Element der Corpuseröffnung fester Bestandteil des griechischen Briefformulars war (dazu S. 48).206 Die von Paulus gewählte Corpuseröffnung ϑαυμάζω ὅτι ist eine konventionelle briefliche Formel (rebuke formula oder expression of astonishment), mit der der Absender seine Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Adressaten zum Ausdruck bringt.207 In den Papyrusbriefen steht sie in der Regel unmittelbar im Anschluss an das Präskript anstelle eines philophronetischen Elements wie der einfachen formula valetudinis initialis (vgl. S. 47) oder der Proskynema-Formel (vgl. S. 48). Meist verbindet der Absender mit ihr einen Tadel an den Adressaten, weil er es unterlassen hat, ihn durch einen Brief über sein Ergehen zu informieren (P.Mich. VIII 479,4–6 [frühes 2. Jh. n. Chr.]208; P.Phil. 35,4–8 [2. Jh. n. Chr.]; P.Herm. 11,2–8 [4. Jh. n. Chr.]209). In diesem Fall eignet der Formel als Ausdruck der Sorge des Absenders um das Befinden des Adressaten ein durchaus philophronetischer Charakter.210 Der mit ϑαυμάζω formulierte Tadel kann sich aber auch auf andere Dinge beziehen, wie z. B. Vertragsbruch oder die Missachtung von Bitten oder Aufträgen (vgl. P.Bad. II 35,6f. [= 206 Ähnlich auch P. Arzt, The ‘Epistolary Introductory Thanksgiving’ in the Papyri and in Paul, in: NT 36 (1994) 29–46. Anders dagegen Robert E. van Voorst, Why Is There No Thanksgiving Period in Galatians? An Assessment of an Exegetical Commonplace, in: JBS 129 (2010) 153–172. Er verweist mit P. Arzt darauf, dass Danksagungen sich nicht in allen antiken Briefen finden; eher müsse man sie als die Ausnahme ansehen, weswegen den Galatern ihre Absenz nicht störend aufgefallen wäre und sie deshalb auch nicht zu weiterem Nachdenken darüber angeregt hätte. 207 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cvii; Aune, Environment 207; Jegher-Bucher, Galaterbrief 30; dazu auch Roller, Formular 468; Muir, Life 150; White, Introductory Formulae 96; ders., Light 210; außerdem Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 666; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 716. Im griechischen Brief dient die Formel oft der Motivierung der Bitte um einen Brief (Enttäuschung über die Unterbrechung bzw. den Abbruch der brieflichen Kommunikation); vgl. White, Body 50; Schnider/Stenger, Studien 173–175. Nach Kremendahl, Botschaft 99–104, deckt dies aber nur etwa ein Drittel der Papyrusbriefe, in denen ϑαυμάζω ὅτι/πῶς/εἰ in der Corpuseröffnung verwendet wird. Zusätzlich betont Nanos, Irony 40–42, dass ϑαυμάζω ὅτι/πῶς/εἰ nicht nur Ausdruck der Enttäuschung ist, sondern in Briefen an Freunden auch Ausdruck der Sorge und Zuneigung. 208 Hier steht die Formel in Verbindung mit der formula valetudinis initialis; auch inhaltlich zeigt sich in diesem Beispiel der philophronetische Hintergrund der Formel: πρὸ μὲν πάντων εὔχομαί σε ὑγιαίνειν καὶ εὐτυχεῖν, ὅ μοι εὐκταῖόν ἐστιν. ϑαυμάζω πῶς ἀναπλεύσας οὐκ ἀντέγραψάς μοι περὶ τῆς σωτηρίας σου, ἀλλὰ ἕως σήμερον ἀγωνιῶ διότι νωϑρευόμενος ἀπ’ ἐμοῦ ἐξῆλϑες. Text mit englischer Übersetzung und kommentierender Einleitung auch bei White, Light 175f. [Nr. 111]. 209 Die Corpuseröffnung dieses späten Briefes kommt Gal 1,6f. motivisch besonders nahe (wenn auch die frühere Anweisung, die vom Adressaten nicht ausgeführt wurde, hier nur darin bestand, brieflich Nachricht über das Befinden zu geben): ϑαυμάζω πῶς ἐπελάϑου τῶν ἐμῶν ἐντολῶν, ὧν πολλάκις σοι κατ’ ὄψιν ἐνετειλάμην, περὶ τοῦ συνεχῶς μοι δηλῶσαι πρῶτον μὲν περὶ τῆς σωτηρίας σου, ἔπειτα περὶ πάντων ὧν ἔπραξας ἐν Σαρβιττίῳ κτλ. 210 Vgl. Dahl, Galatians 119.

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5. Der Brief an die Galater

CPJ II 424; 87 n. Chr.]211; P.Oxy. I 113,20f. [2. Jh. n. Chr.]212; P.Mert. II 80,3–5 [2. Jh. n. Chr.]213; P.Prag. I 109,3–8 [249/269 n. Chr.]). Ein philophronetisches Moment ist oft auch in diesen Fällen noch gegeben; denn der mit der Formel ausgedrückte Tadel zielt letztlich darauf, dass der Adressat das getadelte Verhalten korrigiert, das den Adressaten verletzt und die Beziehung gestört hat.214 Die Formel will den Adressaten an seine freundschaftlichen Beziehung zum Absender erinnern, von der er sein Handeln bestimmen lassen soll.215 In diesem Sinne ist auch Gal 1,6f. als Tadel bzw. Zurechtweisung zu verstehen, die an die Galater appelliert, um der Freundschaft mit Paulus willen zu ihrem früheren »Verhalten« zurückzukehren bzw. daran festzuhalten. Am Ende der Corpuseröffnung in Gal 1,9 steht die auch in den Papyrusbriefen übliche Rekurs-Formel (statement of compliance); mit ihr erinnert der Absender den Adressaten nicht nur an eine ihm früher gegebene Anweisung, sondern fordert deren (bisher unterlassene) Umsetzung ein (z. B. P.Cair.Zen. Ι 59048,5 [= SB III 6722; 257 v. Chr.]; P.Warr. 14,5–13 [2. Jh. n. Chr.]216; P.Oxy. VII 1070,49f. [3. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. XIV 1669,2f. [3. Jh. n. Chr.]; SB XVI 12245,14f. [3. Jh. n. Chr.]).217 Die Formel besitzt gewöhnlich folgende Grundstruktur, die auch in Gal 1,9 deutlich erkennbar ist: a. eröffnendes Adverb ὡς, καϑώς oder καϑότι – b. Verb der Unterweisung (meist ἐντέλλω) in Vergangenheitsform – c. Inhalt der schon früher gegebenen Unterweisung – d. Hinweis auf die Folgen bei Erfüllung/Nichtfüllung der Anweisung (a ὡς b προειρήκαμεν 211 In diesem Brief wirft die Absenderin Johanna dem Adressaten Epagathos Vertragsbruch vor: ϑαυμάζω, πῶς τὴν πίστιν σου ἤλλαξαι; die vorangehende Corpuseröffnung zeigt den eindeutig tadelnden Charakter des einleitenden ϑαυμάζω an: οὐ καλῶς ἐποίησας ἅπαντα ὑπαλλάξας καὶ παραβάς σου τὴν συνταγὴν τὴν καὶ ἐπιδεξαμένην με κυρίαν εἶναι κτλ. 212 Hier steht die Formel allerdings nicht in der Corpuseröffnung, sondern erst gegen Ende des Corpus; die Beschwerde zielt darauf, dass ein Auftrag bzw. eine Bitte nicht ausgeführt wurde: περὶ ὧν σοι ἐγεγράφειν διὰ Κορβόλωνος πέμψαι μοι ϑαυμάζω πῶς οὐκ ἐδικαίωσάς μοι πέμψαι, καὶ ταῦτα ἐμοῦ χρῄζοντος εἰς ἑορτήν. 213 Auch hier geht es um den Tadel für eine unterlassene, vom Absender erwartete Handlung des Adressaten: ϑαυμάζω πῶς τοσούτων ἀνελϑόντων μετὰ καὶ κτηνῶν κενῶν οὐκ ἔπεμψας Σαραπάμμονα, εἰδὼς ὅτι χρεία αὐτοῦ ἐστὶν ἐνϑάδε. μέχρι νῦν οὐδείς σε ἐπεζήτησε. 214 Dazu auch White, Light 210. 215 Ähnlich Dahl, Galatians 119. 216 Die Rekurs-Formel soll hier durch die Erinnerung die Ausführung einer früher gegebenen Anweisung (in diesem Fall nicht an den Adressaten des Briefes selbst, sondern an ein Mitglied seiner Familie) nochmals indirekt anmahnen und absichern (die hochgestellten Buchstaben beziehen sich auf die oben im Text angegebene Struktur dieser Formel bzw. ihre dort genannten konstitutiven Elemente): a καϑὼς b ἐνετειλάμεϑα τῇ ἀδελφῇ σου Ἀρσοῦτι c περὶ τῶν ἑκατὸν εἴκοσι δραχμῶν, d οἴδαμεν ὅτι οὐκ ἀμελήσει δοῦναι τῇ γυναικὶ Ἀπόλλωνος καὶ ὑπομνῆσαι αὐτὴν πεπληρωμένης τοῦ τόκου τοῦ Ἁϑύρ. 217 Aufgrund der analogen Struktur darf man der Rekurs-Formel (statement of compliance) auch jene wiederkehrenden Aussagen zurechnen, in denen der Absender seinen Adressaten entweder an einen ihm früher von einer dritten Person gegebenen Auftrag erinnert oder ihn auffordert eine dritte Person an einen ihr gegebenen Auftrag zu erinnern.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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καὶ ἄρτι πάλιν λέγω· c εἴ τις ὑμᾶς εὐαγγελίζεται παρ’ ὃ παρελάβετε, d ἀνάϑεμα ἔστω).218 In Gal 1,9 erinnert Paulus die Galater also an Instruktionen, die er ihnen bei früherer Gelegenheit – entweder bei der Erstverkündigung oder bei seinem zweiten Besuch – gegeben hat und mahnt sie zu ihrer Befolgung.219 Die Formel erlaubt einen Einblick in den Inhalt der paulinischen Missionspredigt (vgl. auch die erneute Verwendung der Formel in Gal 5,21). Teil der paulinischen Predigt war demnach auch die für das Selbstverständnis des Paulus aufschlussreiche Aussage, dass er das Evangelium in dem von ihm verkündeten Wortlaut als absolut verbindlich und heilsnotwendig erachtete, d. h. den Anspruch erhob, dass sich in seiner Verkündigung die »Wahrheit des Evangeliums« manifestierte. Da die »Wahrheit des Evangeliums« als Kern der Verkündigung des Paulus im Zentrum des Galaterbriefes steht, ist die Rekurs-Formel in Gal 1,9 mehr als nur die Erinnerung an einen einzelnen Aspekt der mündlichen Predigt des Paulus vor den Adressaten; sie erinnert und verpflichtet die Galater viel mehr, dem von Paulus verkündeten gesetzes- und beschneidungsfreien Evangelium in seiner Gesamtheit die Treue zu bewahren. Der in der Rekurs-Formel übliche Hinweis auf die Folgen von Erfüllung und nicht Erfüllung des erinnerten Auftrags ist in Gal 1,9 durch die Fluchformel ἀνάϑεμα, die aus dem Bereich des heiligen Rechts stammt, ausgedrückt.220 Dies unterstreicht die besondere religiöse Dimension und soteriologische Relevanz der Anweisung des Paulus an die Galater. B 2–4. Corpusmitte – Gal 1,10 – 6,6: In der langen, inhaltsreichen Corpusmitte des Galaterbriefes markieren epistolare Formeln Einschnitte und Übergänge in Gedankenführung und Argumentation (meist Varianten der Kundgabeformel) oder setzen inhaltliche Akzente. Die Corpusmitte lässt sich in drei große Abschnitte gliedern: [B2] ein autobiographisch gefärbter Passus, in dem sich Paulus als bevollmächtigter Bote und standhafter Zeuge der »Wahrheit des Evangeliums« präsentiert (Gal 1,10 – 2,21) – [B3] eine argumentative Entfaltung der »Wahrheit des Evangeliums«, mit der Paulus die von seinen Konkurrenten erhobene Forderung nach Beschneidung und Gesetzesobservanz zurückweist (Gal 3,1 – 5,6) – [B4] eine ethische Ermahnung, die eine libertinistische Interpretation der in der »Wahrheit des Evangeliums« grundgelegten »Freiheit« von der Gesetzesobservanz zurückweist (Gal 5,13 – 6,6). Eine eindeutige Abgrenzung der drei Hauptabschnitte der Corpusmitte gegeneinander ist jedoch nicht möglich, da bei den beiden ersten Hauptabschnitten der Corpusmitte der Abschluss jeweils den nächsten Abschnitt inhaltlich vorbereitet und daher naht218

Vgl. White, Introductory Formulae 96; Schnider/Stenger, Studien 168–171. Nach Schnider/Stenger, Studien 169, dagegen ist Gal 1,9 ein einfacher Rückbezug auf Gal 1,8; ablehnend zu einer solchen Deutung Mußner, Galaterbrief (HThK) 61. 220 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 21; Borse, Galater (RNT) 49; dazu auch Becker, Galater (NTD) 23–25; Berger, Formen 240. 219

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5. Der Brief an die Galater

los in dessen Eröffnung übergeht (Gal 2,15–21 mit Gal 3,1–5; Gal 5,2–6 mit Gal 5,7–12).221 B 2. Gal 1,10 – 2,21: Die Formulierung γνωρίζω δὲ ὑμῖν (Gal 1,11f.) am Anfang des ersten Teils der Corpusmitte erscheint auf den ersten Blick als eine Variante der traditionellen Kundgabeformel (disclosure formula: γινώσκειν σε ϑέλω ὅτι, vgl. S. 50 und 232), wie sie Paulus auch in anderen seiner Brief in der Eröffnung des Hauptteils zur Einleitung und Themenangabe benutzt (vgl. Röm 1,13; Phil 1,12; 2 Kor 1,8).222 In dieser Funktion ist γνωρίζειν nur vereinzelt in älteren Papyrusbriefen belegt, dann allerdings in der Form γνώριζε (2. Pers. Imp. Präs. Akt.; vgl. P.Cair.Zen. ΙΙ 59140,12 [256 v. Chr.]223; P.Hamb. II 177,2 [241 v. Chr.]). Die Form γνωρίζω (1. Pers. Sg. Ind. Präs. Akt.) dagegen findet sich in den dokumentarischen Papyri (Verträge, Urkunden etc.) als juristischer Terminus in der Bedeutung von »bestätigen« (im Sinne von »verbindlich erklären, dass sich etwas so verhält«), und zwar zur Bestätigung eines Sachverhalts oder der Identität einer Person (vgl. P.Cair.Zen. IV 59643,20–22 [= PSI IV 445; 3. Jh. v. Chr.]224; P.Berl.Frisk 1,2,25 und 1,32,30 [155 n. Chr.]; P.Col. II 1 recto 4,10,23f. [155 n. Chr.]; P.Fay. 27,32 [175 n. Chr.]; P.Freib. II 10,13 [= SB III 6293; 195/196 n. Chr.]225).226 Demnach könnte es auch in Gal 1,11f. um 221

Dieses Problem zeigt sich vor allem in der sehr unterschiedlichen Abgrenzung des lehrhaften Teils (d. h. des zweiten Hauptabschnittes der Corpusmitte) in der Forschung: Wikenhauser/Schmid, Einleitung 413f.: A. Geschichtlicher Teil (1,10 – 2,21) – B. Lehrhafter Teil (3,1 – 5,12) – C. Ermahnender Teil (5,13 – 6,10); ähnlich Dunn, Galatians (BNTC) 20–22; Mußner, Galaterbrief (HThK) viif.; Vouga, Galater (HNT) viif.; Schlier, Galaterbrief (KEK) 8; Broer, Einleitung 431; so auch bei Becker, Galater (NTD); anders dagegen Borse, Galater (RNT) 257–262: A. Das paulinische Evangelium (1,11 – 2,21) – B. Gesetz und Glaube (3,1 – 4,20) – C. Gesetz und Freiheit (4,21–6,20); wieder anders bei Radl, Galaterbrief (SKK) 5–7: A. Das Apostelamt des Paulus (1,10 – 2,10) – B. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben (2,11 – 4,7) – C. Die Freiheit des Christen (4,8 – 6,10). 222 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cvii; White, Body 51; Schnider/Stenger, Studien 53; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 55. Dazu auch White, Introductory Formulae 92f.; White spricht hier allerdings von Corpuseröffnung, da er die Danksagung als eigenes Element vom Briefcorpus abtrennt. 223 Hier wird der Adressat des Briefes mit γνώριζε in funktionaler Entsprechung zur Kundgabeformel auf einen ihm noch nicht bekannten oder zumindest nicht richtig bewerteten Sachverhalt hingewiesen: γνώριζε οὖν Κριτίαν γράφοντά σοι ψευδῆ, ὃς καὶ τῶν παρὰ σοῦ στρατιωτῶν οὐ πέφεισται, ἀλλὰ καὶ κατὰ τούτων καταγέγραφέν σοι. 224 In einem Bericht über einen Rechtsstreit: παρῆν δὲ καὶ Πτολεμαῖος, ὃς ἐπετίμα αὐτῷ λέγων ὅτι, γνωρίζω τὸν τόπον ἅπαντα ὄντα Ζήνωνος. 225 In einer Urkunde über eine Freilassung: Χαιρήμων Διδύμου τοῦ Σαραπίωνος γνωρίζω τὴν τῆς Ζωσίμης ἐλευϑέρωσιν. 226 Vgl. auch Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 302; diese Bedeutung/Funktion des Verbs nicht angegeben bei Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 326. Vgl. auch Liddell/Scott, Lex. 355. Die aktiven Formen haben in der Literatur meist die Bedeutung »erkennen«; mit Dat. der Person und Akk. der Sache in Aischyl. Prom. 487 allerdings wohl in der Bedeutung »vertraut machen

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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mehr gehen als nur darum, den Adressaten in Galatien eine neue Information über Paulus, seine Sendung und sein Evangelium mitzuteilen oder etwas ihnen bereits Bekanntes erneut in Erinnerung zu rufen; es geht wohl vielmehr darum, in einem Akt von gleichsam rechtlicher Qualität den Anspruch des Paulus auf unmittelbare göttliche Sendung und Autorisierung seiner Verkündigung einzuschärfen und seine verbindliche Anerkennung einzufordern.227 Da Gal 1,11f. wahrscheinlich keine Kundgabeformel ist, sollte man in diesen Versen auch nicht die Themenangabe für den ersten Hauptabschnitt der Corpusmitte suchen.228 Die Themenangabe erfolgt nämlich bereits in Gal 1,10 durch eine rhetorische Frage, die ebenfalls auf Informationsmitteilung zielt, im Tonfall aber herausfordernder und aggressiver ist als die Kundgabeformel. Der Informationsgehalt der rhetorischen Frage und das Thema des folgenden Abschnittes ist: Paulus will als »Sklave Christi« Gott, nicht den Menschen gefallen; dies ist die Maxime, die sein Handeln bestimmt. Eine Begründung dafür liefert in Gal 1,11f. die in Art einer juristischen Formel mit γνωρίζω eingeleitete Versicherung über den nicht-menschlichen Ursprung seiner Verkündigung und Sendung.229 Diese Versicherung ist mit einer direkten Anrede der Adressaten mit dem Vokativ ἀδελφοί verbunden, wie sie Paulus auch sonst an den Beginn der Corpusmitte setzt (Röm 1,13; 1 Kor 1,10; 2 Kor 1,8; Phil 1,12; 1 Thess 1,4). Eine explizite Anrede der Adressaten im Vokativ innerhalb des Briefcorpus, die ihre Relation zum Absender angibt, findet sich gelegentlich auch in den Papyrusbriefen (z. B. φίλτατέ μου in P.Tebt. II 409,10 [5 n. Chr.]; ἄδελφε γλυκύτατε und ἄδελφε in SB III 6263,21f. u. 29 [= SP I 121; 2. Jh. n. Chr.]; μήτηρ in BGU III 846,10 [= SP I 120; 2. Jh. n. Chr.]) und in den literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefen (z. B. ὦ μήτηρ in Alki. epist. 1,11). Die direkte Anrede der Adressaten mit ἀδελφοί in Gal 1,11, die sie in ihrer Stellung als Mitglieder der christlichen »Bruderschaft« anspricht, ist insofern bemerkenswert, als Paulus sie erst kurz zuvor in der Corpuseröffnung nicht nur getadelt, sondern des Glaubensabfalls bezichtigt hat (in ihrer Bedeutung entspricht diese Anrede der adscriptio mit ἐκκλησίαι). Zumindest funktional könnte man ἠκούσατε γάρ in Gal 1,13 als Variante der Kundgabeformel (disclosure formula; vgl. S. 50) sehen; parallele Formuliemit«, im Sinne von »unterweisen« (ἐγνώρισ’ αὐτοῖς ἐνοδίους τε συμβόλου), in 1 Kön 10,8 LXX [1 Sam 10,8] im Sinne von »kundtun« (γνωρίσω σοι ἃ ποιήσεις). 227 Ähnliches gilt wohl auch für 1 Kor 12,3: διὸ γνωρίζω ὑμῖν ὅτι οὐδεὶς ἐν πνεύματι ϑεοῦ λαλῶν λέγει· ἀνάϑεμα Ἰησοῦς, καὶ οὐδεὶς δύναται εἰπεῖν· κύριος Ἰησοῦς, εἰ μὴ ἐν πνεύματι ἁγίῳ. Entsprechende Beobachtungen auch bei Kremendahl, Botschaft 169–173, der aber weder die rechtliche Dimension des Verbs noch seine Verwendung in den Papyri berücksichtigt. 228 Gegen Theobald, Galaterbrief 349. 229 Möglicherweise gliedert Gal 1,11f. mit der Antithese von Gott, nicht von Menschen die Ausführungen von Gal 1; so jedenfalls Mußner, Galaterbrief (HThK) 77, in Anschluss an J. Jeremias, Chiasmus in den Paulusbriefen, in: ZNW 49 (1958) 145–156, hier 152f.

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5. Der Brief an die Galater

rungen mit ἀκούω (in der 2. Pers. Sg./Pl. Ind. Aor. Akt.) finden sich allerdings nur vereinzelt in relativ späten Papyrusbriefen und in literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefen (vgl. P.Lond. VI 1914,3 [335 n. Chr.?]230; P.Oxy. XII 1593,10 [4. Jh. n. Chr.]231; Hippokr. epist. 14).232 Genau besehen dient die Formulierung nicht zur Mitteilung von neuem Wissen, sondern sie ermöglicht es, den Adressaten etwas bereits Bekanntes, das für das Anliegen wichtig scheint, noch einmal zur Sprache zu bringen oder etwas noch Unbekanntes so zu berichten, als müsste es den Adressaten bereits bekannt sein. Bei Gal 1,13f. handelt es sich um den Rekurs auf ein bei den Galatern wohl bereits vorhandenes Wissen; mit der Formel ruft Paulus ihnen seinen früheren, mustergültigen Lebenswandel als gesetzestreuer Jude ins Gedächtnis, um sich so vor ihnen als kompetent in der Frage des jüdischen Gesetzesobservanz auszuweisen. Nicht zu den epistolaren Formeln im eigentlichen Sinn gehört der Schwur ἰδοὺ b ἐνώπιον τοῦ ϑεοῦ c ὅτι οὐ ψεύδομαι in Gal 1,20. Derartige Schwurformeln finden sich vor allem in Urkunden und anderen rechtlichen Texten (z. B. P.Oxy. VII 1028,34–37 [86 n. Chr.]233); sie dienen der rechtlichen Beglaubigung und Versicherung, dass die vorweg gemachte Aussage korrekt und zuverlässig ist. Die Schwurformel besteht in der Regel aus a. dem einleitenden ὄμνυμι/ ὀμνύω, b. dem Namen einer Gottheit bzw. des Kaisers als Instanz, bei der man schwört, und c. der Versicherung, nicht zu lügen.234 Derartige Schwurformeln sind auch in Papyrusbriefen bezeugt (z. B. P.Paris. 47,2f. [= UPZ I 70; 152 v. Chr.]235; PSI VIII 943,6–11 [2. Jh. n. Chr.?]236) sowie in literarischen Briefen 230

Ganz ähnlich wie Gal 1,13 wird in diesem allerdings späten und christlichen Brief mit ἠκούσατε eine »autobiographische« Erzählung eingeleitet, deren Gegenstand bei den Adressaten als bereits bekannt vorausgesetzt oder zumindest vermutet wird: ἐξάφινα γὰρ ἠκούσατε ἃ ἐπάϑαμεν ἐν τῇ νυκτὶ ἐκείνῃ ἐν τῇ οἰκίᾳ Ἡρακλέου τοῦ κομμενταρησίου. εἰσὶν γὰρ καί τινες ἀδελφοὶ ἐκ τῶν ἐλϑόντων πρὸς ὑμᾶς μεϑ’ ἡμῶν ἐν τῇ οἰκίᾳ καὶ δύνονται καὶ αὐτοὶ τὰ πραχϑέντα ὑμῖν ἀναγγεῖλαι. 231 Auch hier signalisiert die Einleitung mit ἀκούω den Rekurs auf etwas, was der Adressat bereits wissen müsste oder sollte: πάλαι μὲν καὶ σύ, ἄδελφε, ἤκουσας ὅτι ἀπὸ μηνὸς Φαμενὼϑ ἕως μηνὸς Παῦνι οὐδὲ μίαν εὐϑύμησα, καὶ ϑεῷ χάρις. 232 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cvii; White, Body 51f.; ähnlich auch Matera, Galatians (Sacra Pagina) 62. 233 Ein Schwur beim Kaiser: καὶ a ὀμνύω b Αὐτοκράτορα Καίσαρα Δομιτιανὸν Σεβαστὸν Γερμανικὸν c μὴ ψεύσασϑαι; auch P.Oxy. I 75,34–36 (129 n. Chr.): καὶ a ὀμνύω b Αὐτοκράτορα Καίσαρα Τραιανὸν Ἁδριανὸν Σεβαστὸν c μὴ ἐψεῦσϑαι [die hochgestellten Buchstaben beziehen sich auf die oben im Text beschriebene Struktur der Formel]; vgl. P.Oxy. III 482,37–41 (109 n. Chr.); ähnlich in P.Wisc. I 16,14–16 (140 n. Chr.); SB XX 14312,22–38 (= P.Col. X 272; 203/204 n. Chr.); P.Princ. II 28,14–18 (219 n. Chr.). Zu Schwurformeln im (amtlichen) Briefverkehr mit Textbeispielen vgl. auch Exler, Form 127–132. 234 Vgl. auch Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 173–175 und 770. 235 Ein Schwur bei Sarapis: a ὀμνύω b τὸν Σάραπιν, c εἰ μὴ μικρόν τι ἐντρέπομαι, οὐκ ἄν με εἶδες τὸ πρόσωπόν μου πώποτε κτλ. 236 Hier folgt, im Unterschied zu Urkunden, statt der rückbezüglichen Versicherung, nicht zu lügen, unmittelbar die Aussage, die im Schwur bekräftigt wird: συνγνώσῃ, ἄδελφε, a ὄμνυμί

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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(vgl. Hippokr. epist. 20; Ail. epist. 5; Alki. epist. 4,18; ähnlich Themist. epist. 7 [doch hier kein Schwur im eigentlichen Sinn, da außer ὄμνυμι auch die Anrufung einer Gottheit fehlt]).237 Ähnliche Schwurformeln wie in Gal 1,20 werden von Paulus auch in anderen seiner Briefe zur Bekräftigung einer konkreten Aussage benutzt (Röm 9,1; 2 Kor 11,31; vgl. auch 1 Tim 2,7).238 Der Einsatz einer Schwurformel in Gal 1,20 ist wohl nicht dadurch motiviert, dass Paulus mit ihr die vorangehenden autobiographischen Aussagen über seinen ersten Besuch bei der Jerusalemer Gemeinde und das Zusammentreffen mit den dortigen Uraposteln gegen anders lautende Deutungen dieses Besuchs seitens der konkurrierenden Missionare in Galatien verteidigen und bei den Adressaten des Briefes für seine eigenen Version werben muss; es geht hier eher um ein Signal, dass die Aufmerksamkeit der Leser auf diese Stelle lenken soll.239 Es ist hier wohl wichtiger, wen er in Jerusalem sah, als wen er nicht sah; Paulus kann seinen Adressaten versichern, dass er die beiden entscheidenden Autoritäten in Jerusalem, Petrus und den Herrenbruder Jakobus, getroffen hat, mehr aber auch nicht. Damit affirmiert er weniger seine Unabhängigkeit von den Jerusalemer Aposteln/Autoritäten als die Tatsache, dass es bei dieser Gelegenheit zu keinen Kontroversen um seine Person sowie um die Legitimität seiner Sendung und seines Evangeliums gekommen ist (vgl. S. 337). Diese Harmonie und Zustimmung am Anfang unterstreicht auch der folgende Passus über die positive Reaktion der christlichen Gemeinden Judäas auf das missionarische Wirken des Paulus (Gal 1,24). Ergänzend sei im Blick auf den Inhalt des ersten Hauptabschnittes der Corpusmitte eine kurze Anmerkung zu autobiographischen Aussagen bzw. Passagen in antiken Briefen angefügt. Sollte der in seiner Authentizität umstrittene 7. Brief des Platon doch echt sein, wäre er nicht nur das älteste Beispiel für einen autobiographisch gefärbten Brief, sondern sogar der Anfang der Autobiographie in der griechischen Literatur. Die autobiographischen Aussagen im 7. Brief, aber auch in den anderen, zumindest zum Teil sicher nicht authentischen Platonbriefen wollen die Taten und Entscheidungen des berühmten Philosophen erklären und rechtfertigen (vgl. S. 22).240 »Autobiographische« Aussagen finden sich auch in den pseudepigraphen Briefen (vor allem in den Briefromanen) und stehen hier im Dienste der Ethopoiie und Verfasserfiktion σοι b τὸν μέγαν ϑεὸν Σάραπιν c ὅτι οὐκ οἶδα ποῦ τὸ ὀφφίκιον ἔχεις, ἵνα σοι ἐκεῖ ἔλϑω καὶ ἀσπάσωμαι σοῦ τὴν τειοτηταν ὄψιν. 237 Vgl. Arzt-Grabner, 1. Korinther (PKNT) 111. 238 Zu den Schwurformeln in den Paulusbriefen vgl. Schnider/Stenger, Studien 177–179; Kremendahl, Botschaft 74–78. 239 Gegen Mußner, Galaterbrief (HThK) 96f.; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 69; Longenecker, Galatians (WBC) 39f.; Lührmann, Galater (ZBK) 34f.; vorsichtiger Radl, Galaterbrief (SKK) 28. 240 Vgl. Sonnabend, Biographie 61; Erler, Philosophische Autobiographie 80f. Ausführlich zur antiken »Autobiographie« auch Lyons, Autobiography 17–73.

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5. Der Brief an die Galater

(vgl. S. 26).241 Aber auch in den Papyrusbriefen finden sich öfter autobiographische Elemente, d. h. narrative Passagen, in denen der Absender über Ereignisse aus seinem Leben berichtet, ohne einen zusammenfassenden Rückblick auf sein gesamtes bisheriges Leben geben zu wollen.242 Als Beispiele dafür lassen sich vor allem Briefe von Soldaten nennen, in denen sie ihre Familien (in Ägypten) über ihr Ergehen und wichtige Ereignisse ihres Lebens informieren, z. B. der erste der beiden viel besprochenen Briefe des Apion (BGU II 423 [= SP I 112; 2. Jh. n. Chr.]243) oder die beiden Briefe des Apollinaris an seine Mutter (P.Mich. VIII 490 und 491 [= SB IV 7352 und 7353; 2. Jh. n. Chr.]244). Ähnliches lässt sich auch in den Briefen des Cicero beobachten (z. B. Att. 15,11). In dem Brief eines gewissen Ptolemaios, der im Serapeum von Memphis als Inkluse lebte, hat sich sogar ein Beispiel für einen authentischen Brief mit einem autobiographischen Visions- bzw. Traumbericht erhalten (P.Paris 51 [= UPZ I 78; 159 v. Chr.])245, so dass selbst die Berichte des Paulus in Gal 1,15–17 und 2,2 im Kontext der antiken griechischen Epistolographie weniger ungewöhnlich erscheinen, als man zunächst vermuten könnte. Die autobiographischen Aussagen des Paulus in Gal 1,10 – 2,21 dürften seine Adressaten deshalb nicht unbedingt als ungewöhnlich und somit befremdlich empfunden haben. B 3. Gal 3,1 – 5,12: Eine namentliche Anrede der Adressaten im Briefcorpus, wie Paulus sie zu Beginn des zweiten Hauptteils in Gal 3,1 setzt (ὦ ἀνόητοι Γαλάται), findet sich häufig in den literarischen Briefen (so z. B. Eur. epist. 5 ὦ βέλτιστε Κηφισοφῶν; durchgängig Themist. epist.; Hippokr. epist. 10; 18; 20; Ail. epist. 13; Alki. epist. 2,15), aber auch in literarisch überlieferten Briefen (so z. B. Epik. Her. [Diog. Laert. 10,35]). Eine mit Gal 3,1 vergleichbare Anrede des Adressaten als »töricht« steht in einem der pseudepigraphen Themistoklesbriefe (Themist. epist. 14 ὦ μάταιε); bei diesem Brief handelt es sich analog zum Galaterbrief um einen tadelnden Brief mit paränetischem Impetus. In den Briefen des Paulus selbst ist eine solche namentliche Anrede der Adressaten im Briefcorpus relativ selten (Κορίνϑιοι 2 Kor 6,11; Φιλιππήσιοι Phil 4,15).246 Eine derartige persönliche Anrede soll als Akt der direkten Zuwendung an den Adressaten Emotionen erzeugen und Aufmerksamkeit wecken. 241 Die Ausführungen bei Berger, Formen 333f., zu autobiographischen Aussagen in Briefen und ihrer apologetischen Tendenz bedürfen insofern einer Präzisierung. 242 Dazu Kuhlmann, Autobiographische Zeugnisse 109f. 243 Text mit Einführung und englischer Übersetzung bei White, Light 159f. [Nr. 103]; Text mit englischer Übersetzung und Kommentar auch bei Klauck, Ancient Letters 9–14; deutsch ders., Briefliteratur 29–40. 244 Text mit Einführung und englischer Übersetzung bei White, Light 161–164 [Nr. 104]. 245 Vgl. Muir, Life 50f.; hier englische Übersetzung mit Kommentierung. 246 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 206; zur vokativischen Anrede der Gemeinde durch Rekurs auf ihren Wohnort in den (echten) Paulusbriefen auch Schmuttermayr, ΑΔΕΛΦΟΙ 28–30.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

231

Die mit der Anrede verbundene Frage τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν (Gal 3,1) spielt wohl mit einer konventionellen epistolaren Formel.247 Denn der traditionelle Gesundheitswunsch zu Beginn oder am Ende des Briefcorpus (formula valetudinis initialis oder finalis; vgl. S. 47 bzw. 48) enthielt seit römischer Zeit öfter den ausdrücklichen Wunsch, der Adressat solle zusammen mit seinen Hausgenossen und Freunden nicht nur körperlich gesund, sondern auch von Behexungen, d. h. von Schadenzauber, verschont bleiben (z. B. P.Oxy. II 292,11–13 [ca. 25 n. Chr.] πρὸ δὲ πάντων ὑγιαίνειν σε εὔχομαι ἀβασκάντως τὰ ἄριστα πράττων; O.Florida 15,2f.248 [2. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. XIV 1758,3–8249 [2. Jh. n. Chr.]; P.Phil. 35,3f. [2. Jh. n. Chr.]; SB III 6263,3–6 [= SP I 121; 2. Jh. n. Chr.]; P.Würzb. 21,3–7 [2. Jh. n. Chr.]).250 Gelegentlich wurde dieser Wunsch in die Grußformel integriert, die als Äquivalent für einen Gesundheitswunsch am Anfang oder Ende des Corpus dienen kann, indem man das Adjektiv ἀβάσκαντος an den Namen des/der Gegrüßten anfügt (vgl. P.Oxy. II 300,8f. [spätes 1. Jh. n. Chr.]; P.Sel.Warga. 12,3f. [= SB XVIII 13973 [2. Jh. n. Chr.]). Mit der Frage in Gal 3,1 wird also nicht nur das Wirken der Konkurrenten des Paulus 247

Die traditionelle Deutung versteht die Frage τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν in Gal 3,1 oft im Sinne der Vulgata (quis vos fascinavit) als »(mit Worten) bezaubern« und sieht den Vers folglich als einen Hinweis darauf, dass Paulus den Sinneswandel der Galater der rhetorischen Kunstfertigkeit (Überredungskunst) seiner »Gegner« zuschreibe; so bei Vouga, Galater (HNT) 66f.; andere dagegen weisen wohl zurecht darauf hin, dass eine solche Deutung von Gal 3,1 nicht genügt; so Mußner, Galaterbrief (HThK) 206f.; ähnlich Martyn, Galatians (AB) 282f.; Rohde, Galater (ThHK) 129. 248 In diesem Brief eines Vaters an seinen Sohn, der als Soldat dient, lautet die formula valetudinis initialis: καὶ διὰ παντὸς ὑγιαίνειν μετὰ τοῦ ἀβασκάντου σου ἵππου. Das Wohlergehen, dass der Vater seinem Sohn wünscht, wird hier also damit verbunden, dass dessen Pferd von einem Schadenzauber verschont bleibt. Der Vater hält diesen Aspekt für so wichtig, dass er ihn am Ende noch einmal durch eine ungewöhnliche Erweiterung des Schlussgrußes wiederholt: ἐρρῶσϑαί σε εὔχομαι μετὰ τοῦ ἀβασκάντου σου ἵππου (Z. 8f.). 249 Das dem Adressaten gewünschte Wohlergehen soll nicht nur dessen eigene Gesundheit umfassen, sondern auch dass seine Kinder von Schadenzauber verschont bleiben: πρὸ παντὸς εὔχομαί σε ὑγιαίνειν μετὰ τῶν ἀβασκάντων σου παιδίων, καὶ τὸ προσκύνημα ὑμῶν ποιῶ παρὰ τῷ μεγάλῳ Σαράπιδι εὐχομένη σοι τὰ κάλλιστα πανοικεί. 250 Zu ἀβασκάντως in den antiken Briefen vgl. auch Olsson, Papyrusbriefe 68; Deißmann, Licht 160, Anm. 5; Meecham, Light 144f.; außerdem Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 1 (mit weiteren Textbeispielen). Im Hintergrund steht die in neutestamentlicher Zeit in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitete Praxis, sich der Zauberei zu bedienen, um politischen Gegnern, Konkurrenten im Geschäftsleben oder der gegnerischen Fraktion beim Wagenrennen zu schaden, aber auch um die Zuneigung einer Angebeteten zu gewinne und allfällige Rivalen auszuschalten; entsprechende Zaubertexte (καταδέσμος/defixio) sind (meist) auf Bleitäfelchen erhalten. Umgekehrt bediente man sich verschiedener Zaubermittel (meist in Form von Amuletten), um sich vor entsprechender Behexung zu schützen. Vgl. auch Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/1, 537f. Zum Hintergrund insgesamt vgl. F. Graf, Gottesnähe und Schadenszauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996; C. A. Faraone/ D. Obbink (Hg.), Magika Hiera. Ancient Greek Magic and Religion, New York/Oxford 1991; A. M. Tupet, Rite magiques dans l’Antiquité romaine, in: ANRW II. 16.3 (1986) 2591–2675.

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5. Der Brief an die Galater

als Hexerei negativ konnotiert und eine Erklärung für den raschen Gesinnungswandel der Galater hin zur Unvernunft angeboten (vgl. dazu S. 332); die Frage in Gal 3,1 ist vielmehr die Anpassung einer traditionellen philophronetischen Formel an die spezifische Briefsituation und als solche Ausdruck der Sorge des Absenders um die Adressaten, die von der »Wahrheit des Evangeliums« abzufallen drohen, denen er sich aber noch immer in Freundschaft verbunden weiß. Auch die Aufforderung τοῦτο μόνον ϑέλω μαϑεῖν ἀφ’ ὑμῶν in Gal 3,2 geht auf eine traditionelle Formulierung in den Papyrusbriefen zurück, mit der der Absender vom Adressaten eine Information erbittet; meist hat sie die Form γράψον μοι ἵνα καὶ ἐγὼ μάϑω (vgl. O.Claud. II 228,14f. [2. Jh. n. Chr.]; PSI XIII 1331,15–17 [3. Jh. n. Chr.]; P.Lond. VI 1916,25f. [330/340 n. Chr.]). Paulus gebraucht die Formel in Gal 3,2 allerdings nicht, um die Galater um Informationen über einen Sachverhalt oder ein Ereignis zu bitten; es geht ihm vielmehr um eine Aufforderung an seine Adressaten, sich an ihre Taufe zu erinnern und nachzuprüfen, wie und wodurch sie den Geist empfangen haben.251 Diese aus der traditionellen epistolaren Formelsprache abgeleitete Einleitung gibt der Frage nach den Gründen für den Empfang des Geistes einen anklagenden und herausfordernden Ton.252 Funktional kommt Gal 3,2 damit in gewissem Sinn einer Kundgabeformel (disclosure formula; vgl. S. 50) nahe; Sinn der Aussage ist letztlich: »Wenn ihr euch prüft, müsst ihr zu der Erkenntnis kommen, dass ihr den Geist nicht durch Werke des Gesetzes empfangen habt, sondern durch die Botschaft des Glaubens253.« Bei γινώσκετε ἄρα ὅτι in Gal 3,7 handelt es sich um eine Kundgabeformel (disclosure formula; vgl. S. 50).254 Diese hat gewöhnlich die Struktur: a. ϑέλω (oder anderes Verb des Wollens) – b. Verb des Erkennens oder Verstehens im Infinitiv – c. auf den Adressaten bezogenes Personalpronomen – d. Mitteilung/ Information (die Anordnung der Elemente kann variieren); als zusätzliches Element steht oft eine direkte Anrede des Adressaten im Vokativ.255 In den Pa251

Näheres zu Gal 3,1–5 als interrogatio bei der rhetorischen Analyse auf S. 345f. Ähnlich merkt auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 206, zu Gal 3,1–5 an: »Die eigentümliche Fragetechnik … hat etwas erregendes an sich. Diese Fragen sind eher Appelle an die Galater, die einer gewissen zornigen Bitterkeit und Ironie nicht entbehren …« Vgl. auch Radl, Galaterbrief (SKK) 47. 253 Der von Paulus in Gal 3,2 gebrauchte Ausdruck ἐξ ἀκοῆς πίστεως lässt sich im Deutschen nur schwer wiedergeben. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 59, schlägt vor »infolge einer Predigt, die zum Glauben rief«. G. Schneider, ἀκούω, ἀκοή. ΕWNT 1 (21992) Sp. 126–131, hier 130f., betont, dass in dem Ausdruck sowohl der Akt des Hörens als auch das Gehörte eingeschlossen ist; in Anschluss an Mußner, Galaterbrief (HThK) 207, mit Anm. 15. Vgl. auch Matera, Galatians (Sacra Pagina) 112. 254 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cvii. 255 Zu Struktur und Funktion der Formel Mullins, Disclosure 46–49 (mit Textbelegen aus den Papyrusbriefen); White, Introductory Formulae 93f. 252

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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pyrusbriefen lautet die Formel meist b γινώσκειν c σε a ϑέλω d ὅτι κτλ. Diese indirekte Formulierung, die dem Brief einen höflichen und urbanen Ton verleihen soll, taucht allerdings erst an der Wende vom 1. Jh. v. Chr. zum 1. Jh. n. Chr. in den Papyrusbriefen auf; sie wird auch in den neutestamentlichen Briefen bevorzugt (vgl. Röm 1,13; 1 Kor 11,3; Phil 1,12; Kol 2,1; Hebr 13,23).256 Die Formulierung im Imperativ, wie sie in Gal 3,7 vorliegt, dagegen findet sich vor allem in den älteren Papyrusbriefen aus der ptolemäischen Zeit, aber auch noch in späteren Briefen (γίνωσκε/ἴσϑι/μάϑε ὅτι/ὡς; vgl. P.Lond. VII 2007,14 [248 v. Chr.?]; P.Oxy. II 295,2 [35 n. Chr.]; BGU IV 1078,2.10 [38 n. Chr.]; P.Fay. 117,3 [108 n. Chr.]; Chion epist. 3,5 ἴσϑι; O.Claud. II 379,5 [138/161 n. Chr.]). Vor dem Hintergrund der zeittypischen höflichen Umschreibung mit ϑέλω musste und sollte der Rückgriff des Paulus in Gal 3,7 auf die ältere Formulierung der Formel im Imperativ für die Adressaten durchaus harsch und unfreundlich wirken. Mit der Kundgabeformel in Gal 3,7 nimmt Paulus das Ergebnis der theologisch-argumentativen Ausführungen im zweiten Hauptabschnitt der Corpusmitte vorweg, dass nämlich der Glaube zu »Söhnen Abrahams« macht. Damit antwortet Paulus wohl auf einen zentralen Aspekt der Evangeliumsverkündigung seiner Konkurrenten und versucht den Galatern – vorbereitet durch die drängende Frage in Gal 3,2 – einen Schlüssel für das Verstehen seiner folgenden Ausführungen an die Hand zu geben.257 Die Konkurrenten des Paulus dürften bei den Galatern argumentiert haben, dass das in Christus erschlossene Heil zwar exklusiv den »Söhnen Abrahams« vorbehalten ist, dass durch Beschneidung und Gesetzesobservanz aber auch sie, die des Privilegs einer natürlichen Abstammung entbehren, zu »Söhne Abrahams« werden können. Dem hält Paulus entgegen, dass die Abrahams-Sohnschaft allein in Christus begründet und durch Taufe und Glaube vermittelt wird (vgl. die Setzung des betonten οὗτοι in Gal 3,7, wodurch er den exklusiven Anspruch der Glaubenden betont und sie gegen andere abgrenzt, die für sich den Vorzug der [natürlichen] Abrahams-Sohnschaft reklamieren). Der Nachweis dafür ist das Kernanliegen der Ausführungen in Gal 3,6 – 4,31. Funktional kommt auch δῆλον ὅτι in Gal 3,11 einer Kundgabeformel nahe (ähnlich P.Wisc. I 31 recto,1,14f. [149 n. Chr.] ἐπεὶ καὶ δι’ ἐμοῦ ἠϑέλησεν δῆλά σοι γενέσϑαι, ἃ ἐπέστειλεν). Damit führt Paulus nichts grundsätzlich Neues in die Argumentation ein, sondern schärft nochmals einen zentralen Gedanken ein, der bereits in Gal 2,16 zur Sprache kam, dass es nämlich auf dem Weg des Gesetzes für den Menschen keine Rechtfertigung bzw. Gerechtigkeit gibt. Dieser Gedanke wird im Folgenden durch die Offenlegung des Wesens und der Funktion der Gesetzes argumentativ untermauert. Ähnliches gilt für das eben256

Dazu Olsson, Papyrusbriefe 104; Meecham, Light 124. Ähnlich auch Longenecker, Galatians (WBC) 109f. und 114; vgl. auch Lührmann, Galater (ZBK) 54. 257

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5. Der Brief an die Galater

falls funktional und strukturell mit der Kundgabeformel verwandte τοῦτο δὲ λέγω in Gal 3,17.258 Es hebt ebenfalls einen Gedanken hervor, der für die weitere Argumentation wichtig werden wird: Das Gesetz kam erst lange nach der Verheißung von (bedingungslosem) Segen an Abraham und seine Nachkommen und kann die ihm gegebene Verheißung deshalb nicht ungültig machen. Auch die (rhetorischen) Fragen mit angefügten Antworten in Gal 3,19 und 3,21, die sich ebenfalls auf das Wesen und die Funktion des Gesetzes beziehen, muss man wohl als Ersatz für eine Kundgabeformel verstehen; denn auch hier geht es letztlich um die Mitteilung eines Sachverhalts (»ihr sollt wissen, dass es sich mit dem Gesetz so verhält …«). Diese dialogische Gestaltung der lehrhaften Ausführungen durch den Einsatz von Frage und Antwort entstammt der Diatribe, dem fingierten philosophischem Lehrgespräch.259 Mit λέγω δέ in Gal 4,1 zeigt Paulus an, dass die vorausgehenden Aussagen über die zeitlich begrenzte Geltung und Wirksamkeit des Gesetzes einer genaueren Erklärung bedürfen, die Paulus nun durch eine Analogie aus dem rechtlichen Bereich geben will (so auch in Gal 5,16).260 Wenn es sich dabei auch nicht um eine epistolare Formel handelt, so lässt sich dennoch ähnliches gelegentlich auch in den Papyrusbriefen beobachten (Erläuterung mit λέγω ὅτι P.Oxy. II 237,7,41 [186 n. Chr.]261; P.Oxy. LV 3813,44f. [3./4. Jh. n. Chr.]262; korrigierend mit οὐ λέγω ὅτι CPR V 4 verso,20 [237/238 n. Chr.]). Eine epistolare Formel im eigentlichen Sinn, nämlich eine Ersuchens- oder Bittformel (petition-formula), liegt dagegen in Gal 4,12 vor.263 Sie leitet sich aus dem amtlichen Briefverkehr ab; hier ist eine Formel üblich, die gewöhnlich folgende Grundform aufweist: a. Hintergrund (background) – b. Bittwort (petition) – c. Adressat der Bitte (address) – d. erwünschte bzw. erbetene Handlung (desired action). Trotz Umstellungen und syntaktischer Modifikationen lässt sich die Struktur der Formel auch in Gal 4,12 ausmachen: d γίνεσϑε ὡς ἐγώ, a ὅτι κἀγὼ ὡς ὑμεῖς, ἀδελφοί, b δέομαι c ὑμῶν. a οὐδέν με ἠδικήσατε. Das von Paulus gewählte Bittverb δέομαι zeigt die Formalität und den offiziellen Charakter der Bitte an, da δέομαι nicht in Privatbriefen, sondern vorzüglich in amtlichen Schreiben Verwendung fand (vgl. P.Oxy. II 237,7,10 [186 n. Chr.]; P.Oxy. III 487,12 [156 n. Chr.]; P.Oxy. IV 718,24 [179/181 n. Chr.]; P.Oxy. VI 899 recto,42 [200 n. Chr.]; auch 2 Kor 5,20).264 Zu beachten ist, dass Gal 4,12 258

So Schnider/Stenger, Studien 171. Zur Diatribe vgl. S. 310f. 260 Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 148. 261 Hier: διοριζόμενος γάρ σοι λέγω ὅτι Αἰγ̣ύπτιοι οὐ μόνον κτλ. 262 Hier: ἐὰν δὲ φλυαρῇ Ὦρος, εἴ γε περίεστιν, φάσκων αὐτοῦ εἶναι τοῦ ὄνομα ἔχειν πατρός, μαϑέτω ὅτι οὐδὲν νῦν ἰσχύσει παρὰ τὸ δίκαιον. λέγω δὲ ὅτι Καλόκερος, ὃν καὶ αὐτὸς οὐκ ἀγνοεῖ, ὅτι ἡμῖν μᾶλλον συναρεῖται ἢ τῷ προκειμένῳ Ὥρῳ. 263 Vgl. Mullins, Petition 48–50; Exler, Form 122f.; Schnider/Stenger, Studien 172f. 264 Dazu auch Mullins, Petition 54; zu Petitionen mit dem Bittverb δεῖσϑαι in den Papyrusbriefen vgl. ebd. 48. Zur Stelle ebd. 50: »For this is the one place in his letters where Paul 259

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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die einzige explizite und direkte Bitte im Galaterbrief ist. Mit ihr steigert Paulus die Emphase und appelliert an die Emotionen der Adressaten; dadurch bereitet er den Teil des Briefes vor, der am stärksten die persönliche Beziehung zwischen ihm und den Galatern thematisiert (Ga, 4,13–20; dazu S. 250f.).265 Bei οἴδατε ὅτι in Gal 4,13 handelt es sich nicht um eine Kundgabeformel (disclosure formula; vgl. S. 50), sondern um den Rekurs auf ein dem Absender und seinen Adressaten gemeinsames Wissen.266 Dadurch wird die Ebene der persönlichen Beziehung zwischen den Briefpartnern eingespiegelt. Ähnliches findet sich auch in den Papyrusbriefen (z. B. P.Tebt. III,1 760,1–4 [215/214 v. Chr.?]; BGU I 37,6f. [50 n. Chr.]; BGU II 625,13f. [= WChr. 21; 3. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. XL 2926,3–6 [270/275 n. Chr.]; P.Mert. II 85,8 [3. Jh. n. Chr.]). Paulus rekurriert mit οἴδατε auf den Beginn seiner Mission in Galatien und will damit bei den Adressaten die Erinnerung an die positiven Anfänge ihrer gemeinsamen Geschichte wachrufen und erneuern. Mit diesem Rekurs eröffnet Paulus den philophronetischen Passus in Gal 4,13–20 (vgl. S. 250f.; eine ähnliche Funktion hat der Rekurs auf ein gemeinsames Wissen in dem jüngeren Papyrusbrief P.Herm. 2,3–5 [ca. 317/323 n. Chr.]267). Innerhalb dieses philophronetischen Passus macht Paulus in Gal 4,15 mit μαρτυρῶ γὰρ ὑμῖν ὅτι zur Bekräftigung seiner Aussagen über das ihm entgegengebrachte Wohlwollen der Galater erneut eine Anleihe bei den juristischen Formeln; das Verb μαρτυρῶ dient nämlich in Urkunden und Verträgen dazu, am Ende die Zeugen aufzulisten, die den dargelegten Sachverhalt bestätigen (P.Oxy. I 105,13–20 [= MChr. 303; 117/137 n. Chr.]; P.Oxy. III 489,21–30 [117 n. Chr.]; P.Oxy. III 491,19–26 [=MChr. 304; 126 n. Chr.]).268 Die Bestätigung kann von der Sache auf eine Person übertragen werden im Sinne eines Zeugnisses, das man zugunsten einer Person und ihrer charakterlichen Integrität uses an unqualified δεῖσϑαι type petition, and his use is probably to be interpreted as more forensic than fond.« 265 Gegen Becker, Galater (NTD) 67f., der in der Bitte einen Ausdruck der Verzweiflung des Apostels sieht, der sich kein Mittel mehr weiß, um die Galater wieder für sich zu gewinnen (vgl. Gal 4,20). Unzutreffend ist auch die Deutung bei Burton, Galatians (ICC) 250, der Gal 4,20 als Ausdruck des momentanen Bedauerns des Paulus versteht, einen so harten Tonfall gegenüber seinen Adressaten gewählt zu haben. In der Sache zutreffend betont Radl, Galaterbrief (SKK) 69, dass Paulus hier persönlich um die Galater wirbt. 266 Gegen Longenecker, Galatians (WBC) cvii. 267 In diesem im Vergleich mit dem Galaterbrief sehr jungen Brief des Anatolios an »seinen Herrn Serapion« eröffnet die Phrase eine stark philophronetische Aussage in der Corpuseröffnung: οἶσϑα ὡς εὔχομαι, κύριέ μου, καὶ κατ’ ὄψιν σε ϑεάσασϑαι καὶ προσειπεῖν, ἅτε προστάτην ὄντα ἐμὸν καὶ προστατῶν τὸν ἀξιάγαστον κτλ. 268 Am Ende von Urkunden werden die Zeugen meist mit der Formel ὁ δεῖνα μαρτυρῶ τῷ δεῖνι τῇ τοῦ δεῖνος διαϑήκῃ καὶ εἰμὶ ἐτῶν … οὐλὴ … καὶ ἔστιν μου ἡ σφραγίς (oder einer ähnlichen) angegeben; z. B. Κῦρος Κύρου τοῦ Διδύμου ἀπὸ τῆς αὐτῆς πόλεως μαρτυρῶ τῇ τοῦ Εὐδαίμονος διαϑήκῃ καὶ εἰμὶ ἐτῶν … οὐλὴ … δεξιῷ καὶ ἔστιν μου ἡ σφραγὶς Τύχης κυβερνώσης (P.Oxy. III 491,18f. [= MChr. 304; 126 n. Chr.]). Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 51f.

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5. Der Brief an die Galater

ablegt (vgl. P.Lond. VI 1912,105 [= CPJ II 153/SP II 212; 41 n. Chr.]269). Dies schwingt auch in Gal 4,15 mit; die Aussage ist somit als Lob der Adressaten und damit als eine captatio benevolentiae zu verstehen. Im Unterschied zu anderen (echten) Paulusbriefen enthält der Galaterbrief keine Besuchsankündigung des Apostels (vgl. Röm 15,14–33; 1 Kor 4,14–21; 2 Kor 12,14 – 13,13; Phil 2,19–24; 1 Thess 2,17 – 3,13; Phlm 21f.).270 Trotzdem könnten in Gal 4,19f. einige typische Elemente gegeben sein, die sonst bei Paulus im Verbindung mit einer Besuchsankündigung bzw. einem Besuchswunsch stehen: die gegenwärtige räumliche Trennung, die persönliche Beziehung zu den Adressaten sowie der Sinn und Zweck des Besuchs bzw. die erhofften positive Folgen eines Besuchs.271 Die Aussage ἤϑελον παρεῖναι πρὸς ὑμᾶς in Gal 4,20 ist zunächst der antiken Brieftopik geschuldet und aktualisiert das brieftypische ἀπών/παρών-Motiv (vgl. S. 40).272 Die konkrete Ausformung, die eine schriftliche briefliche Kommunikation mit einem mündlichen Gespräch kontrastiert und die größere Effektivität eines Gesprächs von Angesicht zu Angesicht betont, findet sich so auch in anderen antiken Briefen (z. B. Isokr. epist. 1; Cic. Att. 1,17,3; 1,19,11; 14,13A,1; 14,13B,1).273 Ein solches Gegeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dürfte der rhetorischen Theorie entstammen, nach der zur Rede auch der Vortrag gehört, d. h. dass der Inhalt und die Rezeption eines Textes wesentlich auch durch Mimik, Gestik und Artikulation bestimmt sind (zur Illustration vgl. die Ausführungen bei Plin. epist. 2,3).274 269 Das Dekret des Kaisers Claudius, mit dem er die Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Juden in Alexandria regelt, schließt mit einem im freundschaftlichen Ton gehaltenen Zeugnis des Kaisers zugunsten von zwei Mitgliedern der alexandrinischen Gesandtschaft, die bei ihm in dieser Angelegenheit vorstellig geworden war: Βαρβίλλῷ τῷ ἐμῷ ἑταίρῷ μαρτυρῶ ἀεὶ πρόνοιαν ὑμῶν παρ’ ἐμοὶ ποιουμένῳ, ὃς καὶ νῦν πάσῃ φιλοτιμίᾳ περὶ τὸν ἀγῶνα τὸν ὑπὲρ ὑμῶν κέχρηται, καὶ Τιβερίῳ Κλαυδίῳ Ἀρχιβίῳ τῷ ἐμῷ ἑταίρῳ. Vgl. dazu auch Klauck, Ancient Letters 100; ders., Briefliteratur 93. 270 Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 162. 271 Ausführlich zu den Elementen, die sich in Verbindung mit dem Thema »Besuch« in den Papyrusbriefen und Paulusbriefen finden, Mullins, Visit Talk 352–354. Mit Mullins ist allerdings festzuhalten, dass es sich bei der Besuchsankündigung und den davon abgeleiteten Aussagen über Besuchswunsch oder Unmöglichkeit eines Besuches nicht um eine Formel im eigentlichen Sinn handelt, die sich als mehr oder weniger festes Strukturmuster beschreiben ließe; es handelt sich vielmehr um ein Briefthema, das unter verschiedenen Aspekten angesprochen wird. 272 Longenecker, Galatians (WBC) cvii, sieht hier primär einen Ausdruck, der im Dienst der apostolischen Parusie, der autoritativen Vergegenwärtigung des leiblich abwesenden Apostels, steht. 273 In Gal 4,20 findet sich also durchaus ein konventioneller Zug, keine eigenständige und originelle Modifikation des ἀπών/παρών-Motivs durch Paulus, wie Jegher-Bucher, Galaterbrief 28, vermutet. 274 Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß 236f. Insofern ist die Auslegung der Stelle bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 313f., in ihrer Tendenz durchaus richtig, wenn auch ein Verweis auf die rhetorische Theorie zu ergänzen ist. Ein solcher Hinweis dagegen bei Betz, Com-

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Auch in Gal 4,19f. geht es um diesen Vorrang und Mehrwert der viva vox vor dem bloß geschriebenen Wort (vgl. ἀλλάξαι τὴν φωνήν μου, das sich m. E. auf die den Inhalt unterstützende Modulation der Stimme bezieht und nicht im Sinne einer Drohung als »einen anderen Ton anschlagen« verstanden werden kann).275 In der räumlichen Trennung ist wohl auch die Ratlosigkeit begründet, die Paulus im Blick auf die Kommunikation mit den Adressaten zum Ausdruck bringt (Gal 4,20 ὅτι ἀποροῦμαι ἐν ὑμῖν); denn diese Trennung erschwert es ihm, sich in Wortwahl und Tonfall auf das Empfinden, die Absichten und Erwartungen der Adressaten einzustellen.276 Hinter der Aussage des Paulus ἤϑελον παρεῖναι πρὸς ὑμᾶς in Gal 4,19 steht zudem das ebenfalls brieftypische Sehnsuchtsmotiv, in dem sich der idealtypische philophronetische Charakter des Briefes konkretisiert (vgl. auch P.Giss. 17,10–12 [= WChr. 481/SP I 115; 2. Jh. n. Chr.]; P.Giss. 22,5f. [2. Jh. n. Chr.]).277 Der Wunsch des Paulus, bei den Adressaten zu sein, sagt deshalb nur bedingt etwas über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eines Besuches des Paulus in Galatien.278 Deshalb lässt sich die Aussage in Gal 4,19f. nicht als zwingendes Argument in der Frage nach dem Ort der Abfassung des Galaterbriefes heranziehen (vgl. S. 171f.); Gal 4,19f. ist also kein zwingendes Argument gegen eine Abfassung des Briefes in Ephesus, weil von hier aus eine Reise nach Galatien leichter möglich gewesen wäre als von Korinth oder Makedonien aus. Genauso wenig kann Gal 4,19f. als Beleg dafür dienen, dass Paulus den Brief als eine position 377. Nicht überzeugend ist dagegen der ergänzende Hinweis bei Betz, Galaterbrief 407f., ἀλλάξαι τὴν φωνήν μου wäre in dem Sinne als epistolarer Topos zu verstehen, dass es vor dem Hintergrund der Vorstellung, der Brief wäre der Ersatz für ein mündliches Gespräch, den unerfüllbaren Wunsch ausdrücke, die Stimme einzutauschen für den Brief. Abgesehen davon, dass man in diesem Fall eher die Formulierung erwarten würde, Paulus wolle »den Brief eintauschen«, nicht die »Stimme«, ist m. E. durch die genannten Parallelen hinreichend belegt, dass es hier um einen (rhetorischen) Topos geht, der die Defizite einer nur schriftlichen Kommunikation herausstellen soll. 275 Als Drohung versteht ἀλλάξαι τὴν φωνήν μου in Gal 4,20 offensichtlich Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 75. In P.Lips. I 107,3f. (253 n. Chr.) findet sich ἀλλάξας τὸν λόγον im Sinne von »das gegebene Wort/eine Zusage nicht halten« (wobei λόγος im Unterschied zu φωνή den inhaltlichen Aspekt hervorhebt); vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 57. Richtig deutet Becker, Galater (NTD) 70, ἀλλάξαι τὴν φωνήν μου auf die Wahl des richtigen Tons, die im persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht leichter möglich ist, als im Brief. So auch Rohde, Galater (ThHK) 190f. 276 Auch die antike Rhetorik betonte, dass der Vortrag einer Rede keine »Einbahnstraße«, sondern eine komplexe Interaktion zwischen Redner und Publikum ist, die vom Redner erfordert, sich spontan den Reaktionen des Publikums anpassen zu können. Vgl. dazu Andersen, Rhetorik 30ff. 277 Vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 30; Radl, Galaterbrief (SKK) 71. Zum Sehnsuchtsmotiv im antiken Brief besonders auch Thraede, Brieftopik 42. 61–65. 96f.; Koskenniemi, Studien 169–172. 278 Gegen Kümmel, Einleitung 265; Mußner, Galaterbrief (HThK) 9; Suhl, Galaterbrief 3077; vorsichtiger Matera, Galatians (Sacra Pagina)162.

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5. Der Brief an die Galater

Art defizitäre Notlösung versteht, weil ein persönlicher Besuch auf absehbare Zeit nicht möglich ist, die Sache aber keinen Aufschub duldet; denn die hier implizierte Aussage über den Mehrwert einer mündlichen gegenüber einer schriftlichen Kommunikation gehört letztlich in den Bereich konventioneller epistolarer und rhetorischer Topik.279 Nach dem philophronetischen Passus in Gal 4,13–20 lenkt Paulus in Gal 4,21 wieder von der emotional-persönlich gefärbten Argumentation zur Sachargumentation zurück; dazu bedient er sich mit λέγετέ μοι, ähnlich wie zuvor in Gal 3,2, einer Formulierung, in der die für den Brief typische Bitte um Information anklingt, die aber als Appell an das Wissen der Adressaten zu verstehen ist (vgl. S. 232). Die Aufforderung an den Adressaten, Informationen über eine bestimmte Sache mitzuteilen, wird in den Papyrusbriefen jedoch nur selten durch ein Wort des Sagens statt der Aufforderung γράψον μοι eingeleitet (λέγε neben γράψον in P.Alex.Giss. 48,6 [= SB X 10651 F; 117/138 n. Chr.]; P.Paris 44,5 [= UPZ I 68, 152 v. Chr.]). In Gal 4,21 ist λέγετέ μοι aber wohl eine bewusste oder auch unbewusste Übernahme des Gesprächsstils der Diatribe (vgl. z. B. Epikt. diatr. 2,1,23). Vor allem durch die polemische Anrede der Adressaten mit οἱ ὑπὸ νόμον ϑέλοντες εἶναι erhält die Aufforderung in Gal 4,21 zudem einen durchaus herausfordernden, zynisch-spöttischen Ton.280 Der vordergründige Appell an das Wissen der Adressaten wird letztlich zum Aufweis eines Mangels an Wissen über die jüdische »Schrift« und ihre richtige Auslegung (Erzählung von Hagar und Sara). Hinter ἴδε ἐγὼ Παῦλος λέγω ὑμῖν ὅτι in Gal 5,2 steht eine traditionelle epistolare Formel, mit der in den Papyrusbriefen der Anlass des Schreibens angegeben wird (motive for writing formula; vgl. PSI IV 317,7f. [95 n. Chr.]281; P.Fay. 117,19 [108 n. Chr.]; P.Oxy. XVIII 2182,24–26 [166 n. Chr.]; P.Oxy. IX 1217,3– 7 [3. Jh. n. Chr.]).282 Funktional entspricht die Formel in Gal 5,2 einer Kundgabeformel (abgekürzt für λέγω ὑμῖν [ἵνα εἰδῇτε] ὅτι).283 Deshalb enthält die Formel in Gal 5,2 einen impliziten Appell an die Verantwortung der Adressaten, d. h. sie sollen erkennen und verstehen, was Paulus ihnen sagen will, und dann entsprechend handeln.284 Zugleich wird die Formel durch die betonte Einlei279

Dazu auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 313f. Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 174. 281 Die Formulierung in PSI IV 317,7f. kommt in ihrer Struktur Gal 5,2 relativ nahe: καὶ περὶ τοῦ καλαμουργεῖν σοι γράφω ὅτι, ἐὰν μέλλῃς καλαμουργεῖν, γράψον μοι. 282 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cviii. 283 So Schnider/Stenger, Studien 171. Ergänzend und präzisierend ist anzumerken: Die motive for writing formula kann Funktion einer Kundgabeformel haben, wenn der Anlass für das Schreiben die Übermittlung einer Information ist (die natürlich Appell-Charakter haben kann), z. B. in der Form: διὸ γράφω σοι ἵν’ εἴδῃς σὺ εἴ τι δέον ἐστὶ τί πράξεις (P.Mert. II 80,11f. [2. Jh. n. Chr.]; vgl. P.Oxy. I 174,27 [88 n. Chr.]; P.Oxy. XLIX 3503,11 [1. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. XII 1482 verso 3 [2. Jh. n. Chr.]; P.Mich. VIII 512,6 [3. Jh. n. Chr.]). 284 Vgl. White, Body 62f.; dazu auch Becker, Galater (NTD) 75f. 280

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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tung ἴδε ἐγὼ Παῦλος zum Ausdruck und zum Mittel des paulinischen Anspruchs auf Autorität (vgl. 2 Kor 10,1).285 Derartige Formeln, bei denen sich die Kundgabefunktion mit dem Anlass bzw. Motiv der Abfassung des Briefes mischt, finden sich in den Papyrusbriefen meist am Corpusabschluss.286 Die in der schriftlichen brieflichen Kommunikation an sich merkwürdige Verwendung einer Form von λέγειν statt γράφειν in Gal 5,2 findet sich gelegentlich auch in den Papyrusbriefen (vgl. bei Gal 4,21; S. 238). Die Formulierung μαρτύρομαι δὲ πάλιν παντὶ ἀνϑρώπῳ περιτεμνομένῳ ὅτι in Gal 5,3 erinnert an Formulierungen in antiken Urkunden. Das Verb μαρτύρομαι ist in den Papyrustexten allerdings erst in nachneutestamentlicher Zeit bezeugt (z. B. P.Oxy. LIX 3992,32 [2. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. LIV 3759,23.33 [325 n. Chr.]; SB VI 9558,2.15 [325 n. Chr.]; P.Amh. II 141,17 [= MChr. 126; 350 n. Chr.]); hier bezeichnet μαρτύρομαί (τινι) »bezeugen« im Sinne von »(jemandem) in Bezug auf eine Sache bestätigen, dass es sich so verhält« einen rechtlich konnotierten Akt (teilweise analog zu μαρτυρῶ vgl. S. 235).287 Es geht demnach in Gal 5,3 um mehr als nur die Information an die Adressaten, dass sie, wenn sie sich beschneiden lassen, darauf verwiesen sind, sich durch die Erfüllung jeder einzelnen Vorschrift des Gesetzes das Heil zu verdienen, und es zugleich bei der ersten Übertretung vertan haben; als von Paulus ausgesprochene Anerkennung des rechtlichen Anspruchs des Gesetzes über jeden, der sich beschneiden lässt, bedeutet Gal 5,2 zugleich eine eindringliche Warnung an die Galater im Blick auf die Konsequenzen ihres Tuns. Bei ἐγὼ πέποιϑα εἰς ὑμᾶς ἐν κυρίῳ in Gal 5,10 handelt es sich um eine sogenannte Vertrauensformel (confidence formula; vgl. S. 128). Paulus bildet sie auch sonst mit Formen von πείϑομαι (vgl. Phlm 21; Phil 2,24; 2 Thess 3,4), während sie in den Papyrusbriefen in der Regel mit Formen von οἶδα gebildet wird (P.Oslo II 60,6 [2. Jh. n. Chr.]288; P.Oxy. VI 929 verso,3 [2./3. Jh. n. Chr.]289; P.Mich. I 87,6 [3. Jh. n. Chr.]; P.Oxy. XX 2275,8f. [4. Jh. n. Chr.]; P.Herm. 8,14f. [4. Jh. n. Chr.]).290 Als traditionelles Element, das dem grundsätzlichen philo285

Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 181; Mußner, Galaterbrief (HThK) 345f. Vgl. White, Light 204f. 287 Dazu auch Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 52f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1001. 288 Hier verbunden mit der motive for writing formula: καὶ εἰδὼς ὅτι ποιήσεις ἔγραψά σοι. 289 P.Oxy. VI 929 verso,3f. (frühes 2. Jh. n. Chr.) gebraucht die Vertrauensformel im Sinne einer captatio benevolentiae als Basis für die Formulierung eines Anliegens an den Adressaten: εἰδώς σου τὸ σπουδαῖον τὸ πρὸς πάντας καὶ νῦν ἓν τοῦτό μοι ὑπηρετήσεις. Vgl. auch P.Oxy. VII 1064,6f. (3. Jh. n. Chr.). 290 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cviii; White, Body 64f. Zur Formel vgl. auch White, Light 205f.; ders., Epistolary Literature 1746. Die Funktion der Vertrauensformel wird von Borse, Galater (RNT) 186, zu wenig beachtet, so dass er Gal 5,10 zu »wörtlich« versteht: »Anscheinend setzt Paulus voraus, daß sie [i. e. die Galater] trotz ihrer Hinwendung zum Gesetz des guten Glaubens waren, sie würden in Übereinstimmung mit Christus leben. Nachdem er ihnen die Unvereinbarkeit aufgezeigt hat, darf er hoffen, daß sie sich jetzt nicht von ihrer christlichen Berufung, sondern von Gesetzesdienst trennen werden.« 286

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5. Der Brief an die Galater

phronetischen Charakter des antiken Briefes geschuldet ist, erlaubt die Vertrauensaussage in Gal 5,10 nur bedingt Rückschlüsse auf die persönliche Einschätzung der Situation in Galatien durch Paulus, zumal die Formel ihrer Funktion nach als eine indirekte und höfliche Aufforderung an die Adressaten zu verantwortungsbewusstem Handeln verstanden werden muss (so bereits bei Phlm 21 angemerkt). Es lässt sich also nicht mit Hinweis auf Gal 5,10 behaupten, Paulus gehe davon aus, dass die Situation in Galatien noch nicht entschieden sei.291 Auch die Vertrauensformel erscheint in den antiken Briefen meist im Corpusabschluss.292 In Gal 5,10 markiert die Formel allerdings nicht den Corpusabschluss, sondern lediglich eine größere Zäsur zwischen zwei Hauptabschnitten der Corpusmitte. B 4. Gal 5,13 – 6,6: Wie bereits in Gal 4,1 zeigt Paulus auch in Gal 5,16 mit der Formulierung λέγω δέ die notwendige Präzisierung einer zuvor gemachten Aussage an (vgl. S. 234) und verleiht ihr dadurch zusätzlich Betonung und Nachdruck.293 Funktional kommt λέγω δέ auch hier einer Kundgabeformel (disclosure formula; vgl. S. 50) nahe. Inhalt des Wissens, das Paulus damit den Galatern vermitteln will, und Gegenstand der Präzisierung ist die Einsicht, dass der moralische Lebenswandel der Christen nicht in der jüdischen Gesetzesobservanz, sondern im Empfang des πνεῦμα (bei der Taufe) begründet ist. Mit der Formulierung λέγω δέ verankert Paulus also die moralische Belehrung in Form traditioneller Tugend- und Lasterkataloge (Gal 5,20f.) in den grundlegenden Lehraussagen über die Freiheit des Christen und ihre Verwirklichung in der Nächstenliebe (Gal 5,13f.[15]). Durch eine Rekurs-Formel (statement of compliance; vgl. S. 224) in Gal 5,21 erinnert Paulus die Galater, dass diese moralische Unterweisung nichts Neues ist, sondern dass er ihnen bereits bei früherer Gelegenheit, d. h. bei seinen beiden Aufenthalten in den Gemeinden, entsprechende Instruktionen gegeben hat (ähnlich in Gal 1,9).294 Gal 5,21 zeigt klar die typische Struktur der RekursFormel, nämlich a. eröffnende Adverb »wie« – b. Verb der Unterweisung – c. Hinweis auf den Inhalt der Unterweisung – d. Angabe der Folgen bei Nichtfüllung der Anweisung: a καϑὼς b προεῖπον c ὅτι οἱ τὰ τοιαῦτα πράσσοντες d βασιλείαν ϑεοῦ οὐ κληρονομήσουσιν. Mit dieser Erinnerung an den Inhalt seiner früheren Unterweisung vor den Galatern stellt sich Paulus dem möglichen Vorwurf entgegen, seine Lehre über die Erlösung allein durch den Tod Jesu und den Glauben hätte zu Missverständnissen und Unklarheiten über den christlichen Lebenswandel geführt. Aus 1 Thess 4,3–6 lässt sich erkennen, dass 291 Vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 82; Borse, Galater (RNT) 186; Mußner, Galaterbrief (HThK) 357f. 292 Vgl. White, Light 205f. 293 Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 199. 294 In der Sache ähnlich Becker, Galater (NTD) 90; Mußner, Galaterbrief (HThK) 383.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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ähnliche moralische Unterweisungen wie in Gal 5,13–26 tatsächlich ein herkömmlicher Gegenstand der mündlichen Predigt des Paulus waren (auch hier mit einer Rekurs-Formel). B 5. Corpusabschluss – Gal 6,7–10: Im Corpusabschluss des Galaterbriefes fehlen auf den ersten Blick, alle für den paulinischen wie allgemein für den antiken Brief typischen Elemente (vgl. S. 48f. und 86), so dass eine Identifizierung und Ausgrenzung dieses Briefteils schwierig und unsicher ist. Das Fehlen von Grußausrichtungen und/oder Grußaufträgen, wie sie sich in allen anderen (echten) Paulusbriefen am Corpusende finden, erklärt man meist mit einem Hinweis auf die besondere Briefsituation des Galaterbriefes; auch dies wäre Ausdruck des Unwillens und der Enttäuschung des Paulus über den (drohenden) Glaubensabfall seiner Adressaten.295 Eine derartige Intention des Paulus ist nicht auszuschließen und wäre für die Adressaten wohl durchaus erkennbar und verstehbar gewesen, da es sich bei Grußausrichtung und Grußauftrag um keine spezifisch paulinischen Formularelemente handelt, so dass man hier seitens der Adressaten auch nicht die Problematik einer vertieften Kenntnis paulinischer Briefkonventionen diskutieren muss (anders bei den Besonderheiten des Präskripts). Dennoch lassen sich in Gal 6,7–10 gewisse Anklänge an die Motivik des Corpusabschlusses erkennen. Die auf das eschatologische Heil der Adressaten gerichteten Mahnungen, kulminierend in Gal 6,9f., lassen sich wohl als Ersatz für bzw. als christliche Transformation des traditionellen Gesundheitswunsches deuten (σεαυτοῦ ἐπιμελοῦ, ἵν’ ὑγιαίνῃς. ἐπισκοποῦ τοὺς σοὺς πάντας in P.Oxy. IV 743,43 [2 v. Chr.] u. ö.296). Auch die im Hinblick auf das eschatologische Heil formulierte Ermahnung der Adressaten zu verantwortungsvollem Verhalten in diesem Abschnitt lässt sich als christlich modifizierte Variante der für diesen Briefteil typischen zusammenfassenden Schlussmahnung verstehen (wenn auch unter Verzicht auf die konventionelle epistolare Formelsprache).297 C. Subskript – Gal 6,11–17: Der ausdrückliche Eigenhändigkeitsvermerk298 ἴδετε πηλίκοις ὑμῖν γράμμασιν ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί in Gal 6,11 zeigt nicht nur an, dass hier ein neuer Abschnitt beginnt; er dokumentiert zudem, dass Paulus sich bei der Abfassung des Galaterbriefes eines Schreibers oder Sekretärs bediente, dem er die vorausgehenden Teile des Briefes diktiert hatte, während er 295

So Theobald, Galaterbrief 348; vorsichtiger Lührmann, Galater (ZBK) 103. Dazu auch Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 632. 297 Die üblichen Formeln in den Papyrusbriefen bei White, Light 205f. 298 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) cviii. In den erhaltenen Papyrusurkunden lautet dieser Eigenhändigkeitsvermerk (seit dem 2. Jh. n. Chr.) meist ἰδίᾳ [μου] χειρί; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 728. So z. B. in SB XIV,14 12138 (41/54 n. Chr.): τῇ ἰδίᾳ μου χειρὶ γράψας εὐδοκῶ πᾶσι τοῖς προγεγραμμένοις; ähnlich auch SB VI 9464,10 (7. Jh. n. Chr.); SB I 4500,3 (323/642 n. Chr.). 296

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5. Der Brief an die Galater

die Schlussteile in Gal 6,11–18 eigenhändig dem Brief angefügt hat (ἔγραψα ist als Aorist des Briefstils auf das folgende, d. h. Gal 6,11–18, nicht auf die Teile des Briefes bis Gal 6,10 bezogen).299 Der Eigenhändigkeitsvermerk in Gal 6,11 als solcher könnte zunächst der Tatsache geschuldet sein, dass die Adressaten, d. h. die einzelnen Mitglieder der galatischen Gemeinden, den Brief wohl nicht selbst lasen, sondern dass er ihnen in der Gemeindeversammlung verlesen werden sollte (dazu auch S. 77); der Eigenhändigkeitsvermerk dürfte demnach auch dazu dienen, den beim Lesen optisch wahrnehmbaren Schriftwechsel für die Gemeindemitglieder »hörbar« zu machen.300 Das würde aber auch bedeuten, dass Paulus es für wichtig erachtete, dass dieser Teil des Briefes von seinen Adressaten als von ihm eigenhändig angefügter Abschnitt wahrgenommen wurde. Damit stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Funktion solcher eigenhändiger Schlussabschnitte im antiken Brief. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob eventuell der vor dem Hintergrund der epistolaren Konventionen auffällige Hinweis auf die Art bzw. den Charakter der Handschrift des Paulus mehr soll, als nur einen visuellen Eindruck zu verbalisieren und dadurch für die Zuhörer wahrnehmbar zu machen. Derartige Hinweise auf die Art der Schrift eines Dokumentes finden sich zwar hin und wieder in den dokumentarischen Papyri (Urkunden und ähnliches), jedoch in der Regel nicht in Verbindung mit einem Eigenhändigkeitsvermerk wie in Gal 6,11 (vgl. P.Oxy. VIII 1100,3 [206 n. Chr.]301). Ein eigenhändiger Schlussabschnitt an sich ist in den antiken Privatbriefen (aber auch anderen Briefen) zunächst nichts Ungewöhnliches, da es ohnehin 299 Zum Aorist des Briefstils in Gal 6,11 vgl. auch BDR § 334, Anm. 2. Roller, Formular 189f. und 592, jedoch schließt aus, dass hier mit der Formel ein Wechsel des Schreibers ausgedrückt wird; der Galaterbrief sei vielmehr zur Gänze eigenhändig von Paulus geschrieben. Anders auch Kremendahl, Botschaft 39f., der davon ausgeht, dass der eigenhändige Schluss bereits mit ἴδε ἐγὼ Παῦλος λέγω ὑμῖν ὅτι κτλ. in Gal 5,2 beginnt. 300 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 90; Longenecker, Galatians (WBC) 289. Darauf weist auch Kremendahl, Botschaft 40f., hin; er sieht aber die Angabe πηλίκοις γράμμασιν primär als Hinweis auf die im Vergleich mit dem Sekretär ungelenke und ungeübte Handschrift des Paulus. Diese durchaus geläufige Deutung ist letztlich jedoch nur Spekulation; ähnlich Lührmann, Galater (ZBK) 100. Für Borse, Galater (RNT) 219, geht es Paulus nicht um die Größe der Buchstaben, sondern um die Andersartigkeit der Handschrift, auf die er die Galater als ein Signal für die Authentizität und zur Legitimierung des Briefes nachdrücklich hinweisen will. Dies lässt jedoch die Frage offen, warum Paulus diese Andersartigkeit der Handschrift ausgerechnet mit dem Hinweis auf die Größe der Buchstaben ausdrückt. 301 In diesem Papyrustext, dem Edikt eines Präfekten, findet sich ebenfalls ein Hinweis, der sich auf die Art der Handschrift eines Textes bezieht, wenn auch nicht auf die Schrift des Edikts und nicht auf die Handschrift des Absenders, sondern auf die Qualität der Schrift einer den Adressaten zugeschickten Abschrift eines anderen Dokuments, die für den öffentlichen Aushang bestimmt war: ἀντίγραφον ἔπεμψα ὑμῖν ὃ ὑμεῖς φροντίσατε εὐδήλοις γράμμασι. Weitere ähnliche Beispiel bei Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 305; zahlreich sind unter den Papyrustexten auch analoge Hinweise, die angeben, dass Texte in Hieroglyphen, demotischen und/oder griechischen Buchstaben geschrieben sind.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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üblich war, dass der Absender den Schlussgruß eigenhändig unter den Brief setzte, und er bei dieser Gelegenheit zuvor Vergessenes oder zusätzliche persönliche Bemerkungen anfügen konnte (vgl. S. 25).302 Derartige eigenhändige Nachträge sind in den erhaltenen Papyrusbriefen belegt (in der Regel erst nach dem Postskript); teilweise wurden diese Nachträge auf dem Rand des für den Brief verwendeten Papyrusbogens notiert (vgl. P.Paris. 43 [= UPZ I 66/SP I 99; 154 v. Chr.]303; BGU IV 1207,15–20 [28 v. Chr.]304). Derartige Nachträge lassen sich auch in den literarisch überlieferten antiken Briefen und Briefsammlungen, sowohl in den authentischen als auch in den pseudepigraphen, nachweisen (so z. B. Cic. Att. 12,1,2; ad Q. fr. 3,1,17–25; Sen. epist. 17,11f.).305 Bei Gal 6,11–17 handelt es sich jedoch nicht einfach nur um den Nachtrag von etwas, was Paulus beim Diktat vergessen und dann zusammen mit dem eigenhändigen Schlussgruß selbst noch an den Brief angefügt hat.306 Der Charakter von Gal 6,11–17 als mit Eigenhändigkeitsvermerk eingeleitete Zusammenfassung des Briefinhalts erinnert in gewisser Hinsicht eher an die eigenhändige subscriptio bzw. ὑπογραφή am Ende von Verträgen, die den Inhalt und Gegenstand des Vertrags nochmals zusammenfasst (vgl. z. B. die minimale Formulierung συνχωρῶ κατὰ τὰ προγεγραμμένα in P.Mich. III 183,12 [182 v. Chr.]; ausführlicher in P.Oxy. XVI 1901,58–74 [6. Jh. n. Chr.]307); analog zur Namens302

Vgl. Klauck, Ancient Letters 314; ders., Briefliteratur 237. Vgl. auch Deißmann, Licht 139–141, der als Beispiel für den optisch sichtbaren Wechsel in der Handschrift und damit als Erklärung für Gal 6,11 P.Oxy. II 246 (66 n. Chr.) bespricht; bei P.Oxy. II 246 handelt es sich jedoch nicht um einen Brief, sondern um eine Urkunde in Briefform, bei der der eigenhändige Schlussabschnitt eine besondere Funktion und Bedeutung hat, auf die Deißmann nicht eingeht, die für die Erklärung von Gal 6,11 – wie im Folgenden zu zeigen ist – von Interesse ist. 303 Hier ist am Rand vom Absender eigenhändig als Nachtrag eine Hochzeitseinladung an den Adressaten angefügt; Text mit englischer Übersetzung und Kommentar bei White, Light 73 [Nr. 40]. 304 In diesem Brief hat der Absender am Ende nach dem Schlussgruß in einem längeren Nachtrag eigenhändig Vergessenes nachgetragen; Text mit englischer Übersetzung und Kommentar bei White, Light 105 [Nr. 65]. 305 Die Bezeichnung dieser (meist) eigenhändigen Nachträge ist nicht unproblematisch, da die beim modernen Brief übliche Bezeichnung dieses Elements als »Postskript« im Formular des griechischen Briefes den Schlussabschnitt, d. h. den (eigenhändigen) Schlussgruß, bezeichnet. Der deshalb teilweise als Ersatz dafür gebrauchte Begriff ὑπογραφή oder subscriptio ist ebenfalls irreführend, da ὑπογραφή (und ὑπογράφειν) mit den lateinischen Äquivalenten ein bereits antiker Fachterminus ist, der in Rechtsdokumenten die »Vertragsunterschrift« bezeichnet und deshalb auch in der Beschreibung antiker Briefe und dokumentarischer Papyri dafür reserviert bleiben sollte; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 655–657. Man muss sich deshalb bei diesem Element des antiken (Privat-)Briefes mit der deutschen Bezeichnung als »(eigenhändiger) Nachtrag« begnügen. 306 Vgl. Weima, Sincerly 338f. 307 Flavius Pousi schließt sein Testament mit eigenhändiger ὑπογραφή/subscriptio, an deren Ende der Eigenhändigkeitsvermerk steht, mit dem das Testament in Kraft gesetzt wird (ohne einleitende Nennung des Namens, der bereits am Anfang der langen ὑπογραφή in Zeile 58

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5. Der Brief an die Galater

unterschrift in modernen Verträgen und Rechtsdokumenten diente sie dazu, einen Vertrag rechtlich in Geltung zu setzen.308 Wenn auch Gal 6,11 in der Formulierung keine der in den dokumentarischen Papyri belegten, typischen Formeln zitiert, so kann man wohl dennoch zumindest von einer gewissen Analogie zwischen Gal 6,11–17 und der ὑπογραφή/subscriptio der juristischen Dokumente sprechen.309 Dafür spricht auch der Vergleich mit dem Nachtrag in 1 Kor 16,21–24, der in Form und Inhalt dem Usus des Nachtrags im griechischen Privatbrief deutlich näher steht (vgl. auch Kol 4,18; 1 Thess 3,17). Zu bedenken ist, dass in einem Vertrag derjenige eine Verpflichtung übernimmt, der die ὑπογραφή/subscriptio eigenhändig unter das Dokument setzt; demnach würde also Paulus selbst mit Gal 6,11–17 eine rechtliche Verpflichtung übernehmen und nicht den Galatern eine solche auferlegen. Die Galater wären vielmehr diejenigen, denen gegenüber er eine solche Verpflichtung eingeht. Die Verpflichtung, die Paulus mit der ὑπογραφή/ subscriptio übernimmt, bestünde offensichtlich darin, ihnen in unverbrüchlicher Treue die »Wahrheit des Evangeliums« zu verkünden und einzuschärfen. steht): … ἀποκληρονόμους δὲ ποιῶ πάντας τοὺς πρὸς γένους τυγχάνοντας καὶ τυγχανούσας, καὶ συμφωνεῖ μοι πάντα τὰ προγεγραμμένα καὶ ὑπέγραψα χειρὶ ἐμῇ (Zeile 72–74); ähnlich, mit einer gerafften Zusammenfassung des Vertragsinhaltes P.Oxy. L 3600,24–30 [502 n. Chr.]: ὁ Φλάουιος Τιμόϑεος υἱὸς Ἰωάννου ὀφφικιάλιος ὁ προγεγγραμμένος πεποίημαι τὴν μίσϑωσιν καὶ ἀποδώσω τὸ ἐνοίκιον καὶ συμφωνεῖ μοι τὰ ἐγγεγραμμένα ὡς πρόκιται καὶ ἐπερωτηϑεὶς ὡμολόγησα καὶ ὑπογράψας χειρὶ ἐμῇ ἀπέλυσά. 308 Dazu Schnider/Stenger, Studien 144–151, bes. 147 und 150f.; auch Bahr, Subscriptions 28f. War derjenige, der sich vertraglich verpflichtete, selbst des Schreibens unkundig, wurde die ὑπογραφή, eingeleitet mit der Illiteraritätsformel, stellvertretend von jemand anderem angefügt (vgl. dazu oben S. 49). Vgl. auch Kremendahl, Botschaft 44–48 und 61–65; Beispiele aus den dokumentarischen Papyri, gegliedert nach der Art des Rechtsdokuments, ebd. 46, Anm. 4. Für Kremendahl beginnt – in Anschluss an Bahr, Subscriptions 35, u. a. – der eigenhändige Schlussteil allerdings bereits in Gal 5,2. Als Argument dient ihm vor allem die strukturelle und inhaltliche Parallelität von Gal 5,2–6 und 6,11–15; vgl. ebd. 48–61. Dazu ist anzumerken, dass Gal 5,2–6, zwar in der Tat in gewisser Hinsicht eine Zusammenfassung der vorausgehenden Briefinhalte darstellt, diese aber nicht als ὑπογραφή, sondern lediglich der Überleitung zu den Ausführungen über die praktischen Konsequenzen aus der »Wahrheit des Evangeliums« dient. 309 Vgl. Bahr, Paul 467f. Nach Kremendahl, Botschaft 47f., hat die ὑπογραφή/subscriptio in juristischen Dokumenten in der Regel die Form a. Eigenhändigkeitsvermerk – b. Namensnennung des Schreibenden – c. Rekapitulation des Hauptinhalte. Er hält deshalb das Fehlen der Namensnennung in Gal 6,11 für einen auffälligen Zug, der einer Erklärung bzw. Lösung bedürfe. Er sieht darin das zentrale Argument für seine These, dass der Anfang der eigenhändigen subscriptio im Galaterbrief bereits in Gal 5,2 zu suchen sei, wo Paulus seinen Namen nennt. Da sich in den Papyri durchaus subscriptiones finden lassen, bei denen der Unterzeichnende seinen Namen nicht nennt, ist dieses Argument jedoch keineswegs zwingend. Hinzukommt, dass die These Kremendahls offenbar noch durch andere Überlegungen bestimmt ist, die vor allem die Frage der Zuordnung des Galaterbriefes zu einer Redegattung und die damit verbundene Frage der Erklärung des paränetischen Schlussabschnittes betreffen; vgl. dazu die Ausführungen oben auf S. 198.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Insofern verbände Paulus mit der Stilisierung von Gal 6,11–17 als ὑπογραφή/ subscriptio die Absicht, sich vor den Galatern in scharfem Kontrast zu seinen Gegnern als lauterer Zeuge und Anwalt der »Wahrheit des Evangeliums« zu inszenieren, um dadurch den Ausführungen des Briefes nochmals Glaubwürdigkeit und Nachdruck zu verleihen. Die Stilisierung von Gal 6,11–17 als ὑπογραφή/subscriptio bedeutet aber dennoch nicht, dass Paulus seinen Brief als einen verpflichtenden Vertrag zwischen sich und den Galatern verstanden wissen will. Denn bei rechtlichen Konventionen und Formeln hat Paulus auch bereits an anderen Stellen seines Briefes Anleihen gemacht, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen (erinnert sei an Gal 4,15, wo sich Paulus mittels der juristischen Formel μαρτυρῶ ὑμῖν den Galatern als Vertragszeuge präsentiert; vgl. S. 235). Abschließend muss nochmals nach dem Sinn des auffälligen Hinweises auf die Größe der Buchstaben, mit denen er diese Worte schreibt, gefragt werden. Hier könnte es darum gehen, für die Hörer des Briefes in der Gemeindeversammlung das hörbar zu machen, was für einen Leser zu sehen ist. Die Intention des Paulus dabei dürfte nicht gewesen sein, den Galatern in Erinnerung zu rufen, dass er kein geübter Schreiber war.310 Es geht hier eher um die Kompensation eines Defizits der bloß schriftlichen Kommunikation gegenüber der mündlichen von Angesicht zu Angesicht. Der Hinweis auf die großen Buchstaben könnte in Gal 6,11 etwas Ähnliches leisten wie in der mündlichen Predigt die Modulation der Stimme sowie Mimik und Gestik. Die großen Buchstaben signalisieren wohl die emotionale Ergriffenheit des »Sprechers« Paulus und den abschließenden Höhepunkt seiner tadelnden und ermahnend »Rede« an die Galater. Der Hinweis auf die Größe der Buchstaben verleiht zusammen mit dem Eigenhändigkeitsvermerk den abschließenden Worten des Briefes Betonung und Nachdruck.311 D. Postskript – Gal 6,18: Der in Entsprechung zum Eingangsgruß formulierte Segenswunsch als Ersatz des konventionellen griechischen Schlussgrußes folgt dem bei Paulus üblichen Schema (vgl. S. 83). Auffällig und singulär ist im Vergleich mit anderen echten Paulusbriefen allerdings die Anfügung von ἀδελφοί 310 Deißmann, Licht 141, der davon ausgeht, dass Paulus wie die Mehrheit der Verfasser und Adressaten der neutestamentlichen Schriften der mäßig gebildeten Unterschicht der hellenistischen Städte entstammte, nimmt deshalb an, dass »die eigenhändige Unterschrift des Apostels Paulus eine kräftige, steife Handwerker-Unziale« war. Vgl. auch ebd. 132f., Anm. 6. Dazu auch Kremendahl, Botschaft 39f., der als Beispiele dafür P.Oxy. II 246 (66 n. Chr.), ein Verwaltungsdokument, und P.Oxy. XVIII 2191 (2. Jh. n. Chr.), einen Privatbrief, nennt. Für erhaltene Originalbriefe, in denen der gesamte Brief in der geübten Handschrift eines professionellen Schreibers, der eigenhändige Schlussteil aber in der deutlich schlechteren Handschrift des Absenders geschrieben ist, vgl. auch Richards, Paul 162f. 311 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 41; Longenecker, Galatians (WBC) 289f.; Rohde, Galater (ThHK) 271f.

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5. Der Brief an die Galater

und ἀμήν am Ende des Briefes.312 Eine nochmalige Anrede des Adressaten nach dem Schlussgruß ist, zumindest in der römischen Kaiserzeit, gelegentlich auch in Papyrusbriefen belegt und insofern vor dem Hintergrund des antiken Briefes nicht ungewöhnlich (vgl. z. B. den eigenhändig angefügten Schlussgruß ἔρρωσο, Σελήνη ἀδελφή in P.Amh. II 131,24 [frühes 2. Jh. n. Chr.]; ἔρρωσο, φίλτατε Ἀπολλώνιε in P.Harr. I 105,14f. [2. Jh. n. Chr.]; ἔρρωσο, τέκνον in P.Oxy. III 531,28 [2. Jh. n. Chr.]; vgl. auch SB III 6263,31 [= SP I 121; 2. Jh. n. Chr.]; P.Mich. VIII 498,26 [2. Jh. n. Chr.]).313 Auswertung: Zusammenfassend lassen sich die Beobachtungen zum Formular des Galaterbriefes ganz ähnlich bewerten wie beim Philemonbrief (vgl. S. 130): In seinem Formular ist der Galaterbrief deutlich von den Konventionen des antiken griechischen Briefes bestimmt, die Paulus durch originelle und souveräne Modifikationen gezielt für die Erfordernisse der innerchristlichen Kommunikation zwischen dem Missionar und Gemeindeleiter auf der einen und seiner Gemeinde bzw. seinen Gemeinden auf der anderen Seite adaptiert hat. Zugleich wird das dem Ideal des Freundschaftsbriefes verpflichtete konventionelle Briefformular durch die Reduktion seiner philophronetischen Elemente an die aktuelle Briefsituation, d. h. an die Krise im Verhältnis zwischen Paulus und seinen galatischen Adressaten, angepasst. Eine solche Anpassung des Briefformulars an die konkrete Briefsituation, d. h. an das Anliegen des Briefes sowie an den momentanen Stand der persönlichen Beziehung zwischen den Briefpartnern, ist keine Besonderheit des paulinischen Galaterbriefes, sondern lässt sich auch bei Papyrusbriefen beobachten. Als besonders instruktives Beispiel sei hier auf P.Paris 47 (= UPZ I 70/SP I 100 [152 v. Chr.])314 verwiesen. Hierbei handelt es sich um den Brief eines gewissen Apollonios an seinen älteren Bruder Ptolemaios, der als Prophet (d. h. 312

Die abschließende Doxologie mit Amen-Akklamation in Röm 16,25–27 ist textkritisch nicht sicher belegt und ist wohl ein sekundärer Zusatz, der dadurch bedingt ist, dass an den eigentlichen Schlusssegen in Röm 16,20 nochmals weitere Grüße angefügt sind (sofern Röm 16 ursprünglich zum Römerbrief gehört, wohl als Nachtrag, nachdem der Brief bereits durch das Anfügen des eigenhändigen Schlussgrußes des Paulus fertiggestellt war). Diese zusätzlichen Grüße sind wohl auch der Grund, warum in einem Teil der Handschriften der Schlusssegen in 16,20 fehlt und in modifizierter Form mit abschließendem »Amen« erst nach 16,23 steht (ein Teil der Handschriften bietet auch Mischtypen). 313 Weitere Beispiele unter den bei Exler, Form 74–77, aufgelisteten Schlussformeln; vgl. auch Trapp, Letters 35. Für Kremendahl, Botschaft 106–115, ist der gesamte Vers Gal 6,18 eine spätere Glosse. Der Galaterbrief würde demnach ursprünglich ohne einen Schlusssegen und ohne Schlussgruß enden, um damit die zerrüttete Beziehung zwischen den Briefpartnern auszudrücken. Die Annahme lässt sich allerdings nicht durch textkritische Befunde absichern, sondern beruht auf Überlegungen zur Sammlung und Redaktion des Corpus Paulinum. 314 Text mit englischer Übersetzung und kommentierender Einführung bei White, Light 75f. [Nr. 42]; eine deutsche Übersetzung mit kurzem Kommentar bei Schubart, Jahrtausend 25f. [Nr. 20]; vgl. zu dem Brief auch Muir, Life 51; Stowers, Letter Writing 134f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

247

Priester) im Serapeum nahe dem ägyptischen Memphis lebte.315 Ptolemaios hatte sich in einer nicht mehr rekonstruierbaren problematischen Lage auf die von den Göttern gesandten Träume seines Bruders verlassen, die ihm einen guten Ausgang verhießen. Als das genaue Gegenteil des Erhofften eingetreten war, schrieb Apollonios seinem Bruder, der weiter zu seinen Göttern hielt und ihnen vertraute, einen bösen und sarkastischen Brief, mit dem er seinen Bruder und dessen Götter beschimpfte. Diese gespannte Situation und die gestörte Beziehung zwischen den Brüdern zeigt sich im Brief nicht nur im harschen Ton, sondern auch im Weglassen der konventionellen formula valetudinis initialis und finalis. Derartige Anpassungen des Formulars an die Briefsituation, d. h. an Funktion und Inhalt des Briefes sowie an die persönlich-emotionale Beziehung zwischen den Briefpartnern, waren aber keineswegs obligatorisch und selbstverständlich (sofern die Papyrusbriefe in diesem Punkt ein verlässliches Bild der damaligen Briefpraxis liefern, waren sie eher die Ausnahme als die Regel).316 Als Gegenbeispiel zum Brief des Apollonios kann P.Lond. I 42 (= UPZ I 59/SP I 97 [168 v. Chr.])317 gelten, der ärgerliche Brief einer gewissen Isias an ihren Ehemann (und wohl auch Bruder) Hephaistion, der offensichtlich unbekümmert als eine Art Rekluse (κάτοχος) ebenfalls im Serapeum bei Memphis verweilte, während sie und ihr gemeinsames Kind auf sich allein gestellt um das Überleben kämpfen mussten. Trotz dieser gespannten und kritischen Situation im Leben und in der Beziehung der beiden Eheleute beginnt der Brief mit ausführlichem Gesundheitswunsch und einer Danksagung an die Götter und endet auch mit einem Gesundheitswunsch. Die philophronetische Briefkonvention dominiert also in diesem Brief gegenüber der aktuellen Briefsituation. 315

Apollonios spricht seinen älteren Bruder im Präskript respektvoll als πατήρ an; dass es sich bei beiden um Brüder handelt, geht aus dem Brief P.Paris 43 (= UPZ I 66/SP I 99 [144 v. Chr.]) hervor, der an die beiden adressiert ist (Σαραπίων Πτολεμαίῳ καὶ Ἀπολλωνίῳ τοῖς ἀδελφοῖς χαίρειν). Dass es sich um dieselben Personen handelt geht aus dem gemeinsamen Fundkontext im Serapeum bei Memphis hervor; dazu White, Light 63–65. 316 Als weiteres Beispiel lässt sich möglicherweise auch P.Fay. 111 (95/96 n. Chr.), ein tadelnd zurechtweisender Brief des Grundbesitzers Lucius Bellenus Gemellus an seinen Verwalter Epagathos, anführen; dessen Corpus beginnt ohne Gesundheitswunsch oder eine andere philophronetische Phrase unmittelbar mit μέμφομαί σε μεγάλως. Vgl. Stowers, Letter Writing 88f. Jedoch ist hier die spezifische soziale Relation der beiden Briefpartner zu bedenken sowie die Tatsache, dass die anderen Briefe des Gemellus an seinen Verwalter unabhängig von ihrem Inhalt ohne jede philophronetische Formel beginnen; dies gilt auch für die Briefe des Gemellus an seinen Sohn Sabinus und die anderen Briefe von Mitgliedern des Familie, die sich im Briefarchiv des Gemellus erhalten haben. Zum Briefarchiv des Gemellus vgl. White, Light 147–154 [Nr. 95–99]; Winter, Life and Letters 73f. 317 Text mit englischer Übersetzung und kommentierender Einführung bei White, Light 65f. [Nr. 34]; eine deutsche Übersetzung mit kurzem Kommentar bei Schubart, Jahrtausend 22f. [Nr. 18]; vgl. auch Muir, Life 49f.; Stowers, Letter Writing 87f.; Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 111f.

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5. Der Brief an die Galater

Eine weitere formale Auffälligkeit des Galaterbriefes ist hier zu benennen: Entgegen der zeitgenössischen Briefkonvention und seiner eigenen sonst üblichen Praxis vermeidet Paulus im Galaterbrief durchgängig die höflichere umschreibende Formulierung der Kundgabeformel (γινώσκειν σε ϑέλω ὅτι κτλ. oder ähnlich), sondern verwendet stattdessen die ältere Formulierung im Imperativ. Dazu passt auch der Verzicht auf andere der Höflichkeit geschuldete indirekte Formulierung von Appellen und Anweisungen, wie sie zur Zeit des Paulus üblich waren (sogenannte briefliche Klischees, vgl. S. 50). Der Ton des Galaterbriefes wird für die Adressaten dadurch nicht nur ungewöhnlich direkt, sondern zugleich vernehmlich hart und herausfordernd. 5.2.3 Brieftheorie und Briefstil A. Umfang und Inhalt: Nach der gelehrten antiken Brieftheorie, wie sie bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας entfaltet ist, sollte ein echter Brief kurz sein (vgl. S. 38). Außerdem merkte Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας zu den briefgemäßen Inhalten und Gegenständen (πράγματα ἐπιστολικά) an, dass ein Brief in einfachen Worten von einfachen Gegenständen handle, über die sich Freunde auch sonst im mündlichen Gespräch miteinander austauschten (vgl. S. 38f.). Damit scheint eine dritte zentrale Komponente der antiken Brieftheorie auf, nämlich dass der echte Brief wesentlich ein Freundschaftsbrief ist, d. h. dem Austausch und der Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen den räumlich getrennten Freunden diene (vgl. S. 38f.). In diesen drei genannten Aspekten lässt sich der Galaterbrief des Paulus offenbar kaum oder zumindest nur sehr schwer mit den Idealen der antiken Brieftheorie in Einklang bringen. Der Galaterbrief ist weder kurz noch kann man seinen Inhalt als einfach bezeichnen und auch der harte Ton, den Paulus gegenüber den Adressaten anschlägt, scheint nicht zu einem Freundschaftsbrief zu passen. Ist der Galaterbrief also hinsichtlich Umfang und Inhalt, aber auch in seiner Funktion letztlich als eine Entartung des antiken Briefes zu bewerten? Es steht außer Zweifel, dass der Galaterbrief nicht in jeder Hinsicht mit den Forderungen der antiken Brieftheorie bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας in Einklang steht. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass der Galaterbrief als eine Entartung des antiken Briefes qualifiziert werden muss. Denn die antike Brieftheorie ist eine idealisierende Reflexion über die Praxis brieflicher Kommunikation und nicht ihre einfache, dokumentarische Beschreibung; sie behandelt also mehr den idealen als den realen Brief, ohne dass man beide einfach voneinander trennen und gegeneinander ausspielen könnte. Dass sich die reale briefliche Kommunikation nicht auf den zweifelsohne auch in der Praxis zentralen Freundschaftsbrief reduzieren lässt, zeigt die Vielzahl unterschiedlicher Brieftypen in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios, die Kommunikationsmuster für verschiedene Briefsituationen bieten (vgl. S. 40f.). Deshalb wird man zurecht davon ausgehen, dass der Galaterbrief

5.2 Analyse und Kontextualisierung

249

zumindest insofern als echter Brief anzusehen ist, als er das Zeugnis und das Medium einer realen Kommunikation zwischen Paulus und den galatischen Christen ist, wenn auch jüngst François Vouga dies zu widerlegen versucht hat (vgl. S. 193f.). Obwohl der Galaterbrief in seinem Umfang nur auf etwa ein Drittel der Länge des Römerbriefes oder des 1. Korintherbriefes kommt, so ist er immer noch deutlich länger als die meisten anderen erhaltenen antiken Briefe, sei es auf Papyrus erhaltene Originalbriefe oder literarisch überlieferte Korrespondenzen. Doch haben sich aus der Antike auch einige lange Briefe erhalten, zumal unter den literarisch überlieferten; neben den drei großen Lehrbriefen des Epikur (vgl. S. 14) wäre aus der Korrespondenz Ciceros der Brief Att. 1,16 zu nennen.318 Überdurchschnittlich lange Briefe gibt es auch unter den Papyrusbriefen, z. B. die nicht vollständig erhaltene Petition einer gewissen Dionysia an den Präfekten von Ägypten Pomponius Faustinianus in Eheangelegenheiten (P.Oxy. II 237 [185 n. Chr.]: 9 Kolumnen mit je ca. 20 Zeilen).319 Seine Länge macht den Galaterbrief demnach zwar ungewöhnlich, rechtfertigt es für sich allein aber noch nicht, ihm den Briefcharakter abzusprechen oder ihn zumindest zu relativieren. Auch beim antiken Brief war die Länge wohl primär durch die konkrete Briefsituation bedingt. Wenn die Sachlage, wie im Fall des Galaterbriefes, komplex war und nicht mit wenigen Worten und Floskeln geklärt werden konnte, musste eben der Brief länger sein.320 Aus dem Briefcharakter folgt aber dennoch nicht zwangsläufig, dass es sich beim Galaterbrief um einen gewöhnlichen Privatbrief handelt. Dagegen spricht neben den be318 Roller, Formular 39f., betont, dass die Briefe des Paulus zu den längsten erhaltenen Briefen der Antike gehören. Den Umfang des Römer- und 1. Korintherbriefes (7101 bzw. 6820 Wörter) erreichen lediglich die pseudepigraphen Briefe des Platon und Thukydides; der längste Cicero-Brief (ad Q. fr. 1,1) dagegen sei mit 4530 Wörtern deutlich kürzer. Überdurchschnittlich lange Briefe, wenn auch deutlich kürzer als die genannten Paulusbriefe, finden sich auch in den Briefsammlungen Senecas und des jüngeren Plinius, wobei hier aber nicht abschließend geklärt ist, ob es sich um rein literarische Kunstprodukte oder um tatsächlich an die genannten Adressaten versandte Brief handelt. 319 Ein weiteres Beispiel für einen langen Privatbrief wäre der schon beim Philemonbrief genannte P.Congr. XV 22 (= P.Ammon I 3; 348 (?) n. Chr.), der ebenfalls nicht vollständig erhalten ist, ursprünglich aber in seiner Länge ungefähr dem Galaterbrief entsprochen haben dürfte; vgl. dazu Arzt-Grabner, 1. Korintherbrief (PKNT) 29f.; ders., Philemon (PKNT) 57f. Nennen lässt sich außerdem P.Paris 26 (= UPZ I 42; 162 v. Chr.), die Petition der Zwillinge aus dem Serapeum von Memphis an König Ptolemaios; Text, englische Übersetzung und kommentierende Einführung bei White, Light 68–70 [Nr. 37]. 320 Die überdurchschnittliche Länge ist z. B. auch bei Cic. ad Q. fr. 3,1 durch die »Sache« bzw. aktuelle Ereignisse veranlasst: Bei Cicero sind unerwartet mehrere Briefe seines Bruders gleichzeitig eingetroffen, die er nun in einem Brief der Reihe nach beantwortet, nachdem er eingangs einen ausführlichen Bericht über den Fortgang der Arbeiten am Landhaus des Bruders gegeben hat. Außerdem machen es weitere Vorkommnisse bei der Fertigstellung und beim Abschicken des Briefes nötig, dass Cicero zusätzlich am Ende zwei umfangreiche (eigenhändige) Nachträge anfügt. Ähnlich bei Cic. Att. 6,1.

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5. Der Brief an die Galater

reits besprochenen Formalia des Briefes auch der in weiten Teilen belehrende Inhalt des Briefes; dies muss später nochmals ausführlicher besprochen werden (dazu Abschnitt 5.2.5). Trotz der konkreten Briefsituation, die durch einen theologischen Konflikt und daraus resultierende persönliche Spannungen zwischen Absender und Adressaten bestimmt ist, bleibt letztlich aber auch der Galaterbrief in seiner Motivik in einem überraschenden Maße dem für die antike Brieftheorie maßgebenden Ideal und Modell des Freundschaftsbriefes verpflichtet, d. h. er will offenbar trotz der Härte seines Tonfalls und der Deutlichkeit seiner Worte als Kommunikation unter Freunden und damit als Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung zwischen Absender und Adressaten verstanden werden (vgl. S. 39). Denn die wiederholte Anrede der Adressaten als ἀδελφοί (Gal 1,11; 3,15; 4,12.28.31; 5,11.13) ruft einen – trotz des oft harten Tons des Briefes – philophronetischen Hintergrund der brieflichen Kommunikation auf.321 Denn die Anrede der Adressaten als ἀδελφοί ist nach dem allgemeinen Usus der Zeit des Paulus Ausdruck einer gleichsam familiären Beziehung zwischen Absender und Adressaten und im christlichen Kontext zugleich Ausdruck der Verbundenheit im Glauben.322 Gehäuft treten Motive des Freundschaftsbriefes bzw. philophronetisch gestimmte Aussagen in dem Passus Gal 4,12–20 auf, so die dankbare Erinnerung an die gute Behandlung, die Paulus früher bei den Galatern erfahren hat (Gal 4,12), an eine gemeinsame schwere Prüfung (Gal 4,13), an die Bewährung der Freundschaft in Zeiten der Versuchung (Gal 4,14) sowie an die Opferbereitschaft der Galater, in der sich ihre wahre und selbstlose Freundschaft zu Paulus zeigte (Gal 4,16).323 Hinter der klagend-anklagenden Frage ἐχϑρὸς ὑμῶν γέγονα ἀληϑεύων ὑμῖν in Gal 4,16 steht möglicherweise der Gedanke des offenen Wortes, das unter Freunden erlaubt und möglich sein sollte.324 Mit der Erinnerung an die Erstverkündigung und -mission in Galatien verweist Paulus seine Adressaten in Gal 4,12–20 nicht nur auf die Grundlage ihrer gemeinsa321

Vgl. Borse, Galater (RNT) 53. Arzt-Grabner, 1. Korintherbrief (PKNT) 39f., weist darauf hin, dass in den Papyrusbriefen die Anrede ἀδελφός Ausdruck einer quasi-familiären Freundschaft und Kollegialität ist. Dies dürfte neben der religiösen Dimension des Begriffs auch für die Galater mitschwingen, wenn sie von Paulus als ἀδελφοί angesprochen werden. Einschränkend und präzisierend muss man allerdings ergänzen, dass die ἀδελφοί-Anrede der Adressaten im Corpus der (echten) Paulusbriefe nicht dahingehend verstanden und ausgelegt werden darf, dass Paulus mit ihr die Gleichrangigkeit der Adressaten und damit das Ideal einer egalitären und quasi demokratischen Gemeindeordnung ausdrücken wolle. Die ἀδελφοί-Anrede im Briefcorpus steht bei Paulus vielmehr durchgehen im Kontext von Mahnung und Lehre und will den Adressaten die apostolische Würde des Paulus und seinen Vorrang und seine Autorität als Gemeindegründer in Erinnerung rufen. Dazu insgesamt Schmuttermayr, ΑΔΕΛΦΟΙ 14–32. 323 Solche Erinnerungen an früher erwiesene Wohltaten und an die Zuneigung des Adressaten zum Absender finden sich auch sonst in antiken Briefen; vgl. z. B. Cic. Att. 1,17,6. 324 Vgl. Becker, Galater (NTD) 10; Klauck, Ancient Letters 315. 322

5.2 Analyse und Kontextualisierung

251

men Beziehung, sondern auch auf deren überaus positive Anfänge.325 Wenn er die Galater daran erinnert, wie vorbildlich und selbstlos sie ihn einst aufgenommen haben, ist dies als Lob zu verstehen, in dem Paulus seine Dankbarkeit und sein Wohlwollen gegenüber den Adressaten artikuliert (zu Gal 4,14f. als captatio benevolentiae vgl. S. 236), und damit Ausdruck der φιλοφρόνησις im doppelten Sinn, d. h. zugleich freundschaftliches Kompliment und Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung.326 Zugleich gibt Paulus seinen Adressaten zu erkennen, dass diese Beziehung durch ihre Schuld in eine Krise geraten und gefährdet ist; sie haben nämlich offensichtlich ihre einstige freundschaftliche Zuneigung zu Paulus vergessen und haben es deshalb zugelassen, dass sich fremde, konkurrierende Missionare mit ihrer Lehre, die die Wahrheit des Evangeliums verfälschte, zwischen den Apostel und seine Gemeinden drängten. Hier zeigt sich, dass die philophronetisch motivierte Erinnerung an die Erstverkündigung des Paulus bei den Galatern eine appellierend-mahnende Funktion hat und die Adressaten des Briefes auffordern soll, zu ihrem früheren Wohlverhalten gegen Paulus zurückzukehren und das ehemals gute Einvernehmen wiederherzustellen; der Weg dorthin ist die Besinnung auf die von Paulus verteidigte Wahrheit des Evangeliums. Zum grundlegend philophronetischen Charakter des Abschnittes Gal 4,12– 20 passt seine Einleitung mit einer Bittformel, in der so etwas wie ein Autoritätsverzicht und eine emotional-persönliche Hinwendung des Paulus zu seinen Adressaten aufscheint, die durch ihre Anrede als ἀδελφοί zusätzlich verstärkt wird (Gal 4,13; dazu S. 234).327 Einen philophronetischen Hintergrund hat auch die Anrede der Adressaten als τέκνα μου328 in Gal 4,19, mit der Paulus am Ende dieses Passus nochmals an ihre Emotionen appelliert (zu »Kindschaft« als traditioneller Umschreibung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses vgl. S. 135).329 Diesen Appell intensiviert Paulus, indem er sich selbst den Galatern, 325

Zu Ort und Funktion der Erinnerung an die die Gemeinde gründende Erstgegenwart der Apostels in den Paulusbriefen vgl. auch Schnider/Stenger, Studien 56f. 326 Zur Realisierung der φιλοφρόνησις durch φιλικαὶ φιλοφρονήσεις im antiken Brief vgl. Koskenniemi, Studien 35. 327 Ähnlich auch Becker, Galater (NTD) 68, der jedoch den philophronetischen Appell des Paulus an die Gesinnungsgenossenschaft unter Freunden in Gal 4,12–20 eher als eine Art »Notlösung« sieht, weil er bei den Galatern seine apostolische Autorität aufgrund der Agitationen seiner Konkurrenten nicht ausspielen kann. 328 Borse, Galater (RNT) 158, votiert in Gal 4,19 für die Lesart τεκνία μου (ℵ2 A C D1 Ψ 0278. 33. 1881. 𝔐), die er weniger als liebevolle Anrede versteht denn als Hinweis darauf, dass Paulus in den Adressaten unmündige Kinder sieht. Unabhängig davon, ob sich die von Borse favorisierte Lesart gegen das besser bezeugte τέκνα μου in NTG27 verteidigen lässt und ob sie sich tatsächlich im Sinne einer leichten Kritik an den Adressaten verstehen lässt, widerspricht der von Borse nicht genügend beachtete philophronetische Kontext von Gal 4,12–20 einem solchen Verständnis von Gal 4,19. 329 Nach Schnider/Stenger, Studien 56f., ist die metaphorische Anrede der Adressaten als »Kinder« und die damit verbundene Selbststilisierung des Apostels als ihr »Vater« bzw. ihre

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5. Der Brief an die Galater

in Korrespondenz zu ihrer Anrede als seine »Kinder«, als ihre »Mutter« präsentiert, die aus Liebe zu ihren »missratenen« Kindern bereit ist, für sie noch einmal die Gefahren und die Schmerzen der Geburt auf sich zu nehmen (zur Mutter-Kind-Metapher für die Beziehung des Paulus zu seinen Gemeinden vgl. auch 1 Thess 2,7f.).330 Der Abschnitt schließt mit dem Wunsch des Paulus nach leiblicher Gegenwart bei seinen Adressaten (ἦϑελον δὲ παρεῖναι πρὸς ὑμᾶς ἄρτι), der das brieftypische philophronetische Sehnsuchtsmotiv aktualisiert (vgl. z. B. Cic. fam. 15,16,5; Plin. epist. 4,1,2; 6,7,1.2; auch 1 Thess 3,6.10; dazu bereits S. 236).331 Dahinter steht ein zentraler und wesentlicher Gedanke aus der antiken Brieftheorie, der sich ebenfalls aus dem Ideal der Freundschaft und des Freundschaftsbriefes herleitet; der Brief hebt die räumliche Trennung zwischen Freunden auf, indem er im Akt des Schreibens den Adressaten beim Absender und im Akt des Lesens den Absender beim Adressaten vor dem geistigen Auge leibhaftig gegenwärtig werden lässt (ἀπών/παρών-Motiv bzw. παρουσία im Brief; vgl. dazu S. 39). Philophronetische Motive finden sich im Galaterbrief auch außerhalb von Gal 4,12–20. So enthält der diesem philophronetischen Passus unmittelbar vorausgehende und ihn vorbereitende Abschnitt Gal 4,8–11 mit dem Rekurs auf die entscheidende Wende im Leben der Adressaten ebenfalls eine (zumindest implizite) Erinnerung an die Erstverkündigung des Paulus bei den Galatern, womit bereits hier das für die φιλοφρόνησις typische »Gedenken« aktualisiert wird.332 Gleichzeitig ist der Abschnitt Gal 4,8–11 gewissermaßen komplementär zum folgenden Passus Gal 4,12–20, insofern jener in Gal 4,11 das zurückliegende Bemühen des Paulus um die Galater und seine aktuelle Sorge um sie thematisiert, während dieser, wie bereits angemerkt, die vergangene Sorge des Galater um den kranken Paulus betont. Insofern realisieren beide Abschnitte das eindeutig philophronetische Motiv der Sorge um den Freund und sein Wohl.333 Diese freundschaftliche Sorge des Paulus um seine Adressaten erscheint in den Abschnitten Gal 4,8–11 und 4,12–20 als eine für den Augenblick der Abfassung des Galaterbriefes durchaus einseitige, da die Galater ihr nach Meinung des Paulus nicht mehr mit derselben Zuneigung antworten, die sie ihm einst entgegenbrachten. Auch hier zeigt sich also, dass der philo»Mutter« typisch für die briefliche Selbstempfehlung des Paulus in der Corpuseröffnung; mit ihr ziele der Apostel besonders auf seinen Vorbildcharakter und fordere die Adressaten auf, ihn nachzuahmen (wie der Vater bzw. die Mutter sollen auch die Kinder sein; vgl. 1 Kor 4,14 mit 4,15f.). 330 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 32. 331 Näheres zum Sehnsuchtsmotiv und seiner philophronetischen Relevanz bei Thraede, Brieftopik 42. 61–65. 96f.; Koskenniemi, Studien 169–172. 332 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 66. 333 Es greift deshalb zu kurz, wenn man Gal 4,11, wie z. B. Lührmann, Galater (ZBK) 73, allein als Ausdruck der Resignation des Paulus angesichts der Situation in Galatien liest; etwas vorsichtiger bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 304.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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phronetische Charakter des Galaterbriefes nicht in der einfachen Affirmation der freundschaftlichen Verbundenheit von Absender und Adressaten in der konventionellen Formelsprache des Freundschaftsbriefes besteht; vielmehr liegt er darin, dass Paulus an die Galater appelliert, alles zu tun, um die eingetretene Störung in der Beziehung zu ihm zu überwinden und zu ihrer alten freundschaftlichen Gesinnung zurückzukehren.334 Dies kommt bereits in der Corpuseröffnung Gal 1,6–9 zum Ausdruck, die ebenfalls unter dem Tadel für die Adressaten die (implizite) Erinnerung an die Erstverkündigung des Paulus in Galatien als Beginn der gemeinsamen Verbundenheit im Glauben an Christus sichtbar werden lässt.335 In diesem Sinne muss auch Gal 3,1–5 als philophronetische Erinnerung an den Gründungsaufenthalt des Paulus in Galatien und an frühere bessere Zeiten verstanden werden, in der sich im durchaus heftigen Tadel die Sorge des Paulus um das Wohl seiner Gemeinden artikuliert.336 Dies zeigt sich vor allem in der vorwurfsvollen rhetorischen Frage in Gal 3,1, die offensichtlich im Rückgriff auf die konventionelle formula valetudinis formuliert ist und damit eine brieftypische philophronetische Formel im Blick auf die konkrete Briefsituation modifiziert (vgl. S. 231).337 Die darin artikulierte Sorge des Paulus ist freilich nicht auf die körperliche Gesundheit bezogen, sondern auf das eschatologische Heil seiner Adressaten. Einen philophronetischen Hintergrund hat auch der Gebrauch der Vertrauensformel in Gal 5,10 (dazu bereits S. 239), mit der Paulus seinen Adressaten signalisiert, dass sein Wohlwollen ihnen gegenüber ungebrochen fortbesteht; als Grundlage für sein Vertrauen und seine Zuversicht verweist er wieder auf die gemeinsame Vergangenheit, d. h. die positive Aufnahme seiner Verkündigung durch die Galater (Gal 5,7). Die für den antiken Freundschaftsbrief typischen Motive der μνεῖα und φιλοφρόνησις stehen also durchaus auch im Hintergrund des Galaterbriefes, obwohl seine Aussagen an vielen Stellen auf den ersten Blick überraschend schroff und hart wirken: Paulus erinnert seine Adressaten an das ursprünglich gute Einvernehmen, das nun aber durch »Eindringlinge« getrübt worden ist, und mahnt sie eindringlich, durch eine Änderung ihres Verhaltens und ihrer Überzeugungen wieder zu dieser früheren »freundschaftlichen« Beziehung zurückzukehren.338 Darin zeigt sich, dass »Freundschaft« hier im Sinne der antiken philosophischen Freundschaftstheorie als Gesinnungsgenossenschaft, d. h. als die Verbundenheit durch gemeinsame Überzeugungen und Werte, verstan334

Vgl. auch Klauck, 1. Korintherbrief (NEB) 13. Dazu Dormeyer, Literaturgeschichte 192. 336 Vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 30. 337 Zum philophronetischen Charakter der formula valetudinis vgl. Koskenniemi, Studien 137–139. 338 So auch Schnelle, Einleitung 117, im Blick auf Gal 4,13–20; vgl. Jegher-Bucher, Galaterbrief 30, die zusätzlich auf den philophronetischen Charakter der »Erinnerungspartien« in Gal 4,3–7; 5,25ff.; 6,9f. verweist. 335

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5. Der Brief an die Galater

den wird (vgl. z. B. Platon, Aristoteles, Epikur, Cicero, Epiktet, Plutarch, Maximus von Tyros).339 Ein Gesinnungswandel, wie ihn in der Ansicht des Paulus die Galater bezüglich der Wahrheit des Evangeliums durch ihre Bereitschaft zu Beschneidung und Gesetzesobservanz vollzogen haben, kann deshalb auch als eine Gefährdung oder gar ein Aufkündigen der bisher bestehenden Freundschaft interpretiert werden. Zur Aufgabe des Freundes gehört es nach der antiken Theorie, den Freund bei ernsthaften Fehlern zurechtzuweisen, wie es Paulus in seinen Brief gegenüber den Galatern tut; denn Ziel und Inhalt der Freundschaft ist das an der moralischen Vollkommenheit orientierte Glück und Wohl des Freundes.340 Wenn auch das antike Ideal des philophronetischen Freundschaftsbriefes im Hintergrund des Galaterbriefes steht, so kann die Beziehung zwischen Paulus und seinen Adressaten letztlich doch nicht uneingeschränkt unter dem Begriff »Freundschaft« gefasst werden. Denn Freundschaft impliziert nach der antiken Theorie so etwas wie Gleichheit zwischen den in ihr verbundenen Personen. Dieser für die Freundschaft wesentliche Aspekt findet im Fall des Galaterbriefes (und letztlich auch der übrigen Briefe des Paulus) seine Grenzen im unmissverständlich artikulierten Autoritätsanspruch des Paulus als Lehrer, Gründer und Leiter seiner Gemeinden (dies signalisiert das im Präskript formulierte Selbstverständnis des Paulus; dazu S. 202). Das Verhältnis zwischen den Briefpartnern ist im Galaterbrief demnach im Vergleich mit dem paganen antiken Freundschaftsbrief modifiziert, und zwar im Hinblick auf die gemeinsame Zugehörigkeit zur Gemeinschaft derer, die an Christus glauben. Es geht also um die Verbundenheit im Glauben, die Paulus in der Anrede der Adressaten als ἀδελφοί realisiert (vgl. S. 131). Das Paradoxe dieser Anrede aber liegt darin, dass die darin ausgedrückte Gleichheit zwar der ›Inhalt der Kommunikation‹ zwischen Paulus und den Galatern ist, nicht aber das ›Kennzeichen der Beziehung, die ihre Kommunikation definiert‹.341 Insgesamt betrachtet kann und darf man die philophronetischen Elemente im Galaterbrief nicht lediglich als konventionelle Einsprengsel sehen, die den formal-inhaltlichen Anforderungen der antiken Brieftheorie geschuldet sind, 339

Exemplarisch ist die Definition der Freundschaft bei Cicero als omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio (Lael. 20); die Stelle zitiert bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/1, 555f. Instruktiv für dieses antike, philosophisch geprägte Verständnis von Freundschaft ist eine Lektüre von Seneca, epist. 35. Insgesamt zum Begriff und zum Konzept der »Freundschaft« (φιλία) in der Gesellschaft und Philosophie der Antike J. Brachtendorf, philia, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 337–339; A. Müller, Freundschaft I. HWP 2 (1972) Sp. 1105–1107; K. Treu, Freundschaft. RAC 8 (1972) Sp. 418–434; B. v. Reibnitz, Freundschaft. DNP 4 (1998) Sp. 669–674; A. Mitchell, Freundschaft, in: Erlemann, Neues Testament 2, 75–78; H.-H. Schrey, Freundschaft. TRE 11 (1983) 590–599, hier 591f. 340 Die correctio als Aufgabe des Freundes erörtert Seneca in epist. 25. 341 Dazu auch Schmuttermayr, ΑΔΕΛΦΟΙ 24–26 und 38–43 (die oben in einfache Anführungszeichen gesetzten Formulierungen ebd. 42).

5.2 Analyse und Kontextualisierung

255

letztlich aber in keinem integralen Zusammenhang mit dem mahnend-belehrenden Inhalt des Briefes stehen.342 Lehre und φιλοφρόνησις sind im Galaterbrief vielmehr aufeinander bezogen und untrennbar miteinander verwoben; in der Lehre und den daraus abgeleiteten Mahnungen und Warnungen realisiert und konkretisiert sich die φιλοφρόνησις, die nichts anderes ist als die wohlwollende Sorge des Paulus um das eschatologische Heil seiner Adressaten. Insofern ist der Galaterbrief hinsichtlich Inhalt und Funktion so etwas wie eine Mischung aus Lehrbrief und Freundschaftsbrief. Dass beides in der Praxis der antiken brieflichen Kommunikation zwar kein unproblematisches Paar bildete, sich deshalb aber nicht a priori ausschloss, zeigt der Brief des Isokrates an die Kinder von Jason, dem ermordeten Herrscher von Thessalien, denen er sich in Freundschaft verbunden wusste (epist. 6).343 Der Brief ist die freundlich gehaltene Ablehnung der Einladung, die zugleich den Nutzen des von Isokrates propagierten Bildungsideals für einen Herrscher entfaltet (und darüber hinaus im nicht erhaltenen Teil konkrete Ratschläge für die Ausübung der Herrschaft enthielt). Von besonderem Interesse ist, dass Isokrates sich in diesem Brief offenbar genötigt sieht, entschuldigend die grundsätzliche Spannung zwischen der Freundschaftsbekundung und den lehrhaften Inhalten des Briefes zu thematisieren; er verwehrt sich nämlich gegenüber seinen Adressaten explizit gegen eine Fehlinterpretation seines Briefes, die ihn nicht als Ausdruck seiner Freundschaft mit ihnen, sondern als rhetorisches Schaustück oder exemplarisches politisches Statement verstehen will (vgl. epist. 6,4f.). Ergänzend ist hier anzumerken, dass die philophronetischen Elemente des Galaterbriefes einer anderen Gewichtung und Interpretation bedürfen, wenn man diesen Brief mit François Vouga als Brieffiktion versteht (vgl. S. 193). Die philophronetischen Aussagen können dann selbstverständlich nicht als Ausdruck einer real gegebenen freundschaftlichen Beziehung zwischen den Briefpartnern verstanden werden; sie stünden dann vielmehr im Dienst der Konstruktion von authentischer Brieflichkeit und wären damit allein der Tatsache geschuldet, dass nach der antiken Brieftheorie ein »echter Brief« immer das Bestehen einer vertrauten und freundschaftlichen Beziehung zwischen Absender und Adressat(en) voraussetzt.344 B. Begrifflichkeit und Vorstellungswelt: Hinsichtlich Stil und Wortwahl des Galaterbriefes fällt – ähnlich wie im Philemonbrief – die Verwendung zahlreicher Fachtermini und damit verbundener Konzepte aus dem Bereich der Rechts342

Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei Thraede, Brieftopik 24f., zum Zusammenhang von φιλοφρόνησις und παροιμίαι (»populäre Weisheit«). 343 Näheres zum Brief und der konkreten Briefsituation bei Muir, Life 127–129; allerdings ist der Brief nur in Bruchstücken erhalten (und auch seine Authentizität wird teilweise angezweifelt); vgl. auch Lesky, Literatur 659; Hose, Literaturgeschichte 101. 344 Näheres dazu bereits oben S. 39, Anm. 155.

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5. Der Brief an die Galater

praxis und des Wirtschaftslebens auf. Ihr Hintergrund dürfte durchgängig oder zumindest mehrheitlich im hellenistischen, nicht im römischen oder gar einem spezifisch jüdischem Recht zu suchen sein.345 Die antike Sklaverei bzw. die Freilassung von Sklaven bilden den Kontext für die Verwendung von ἐλευϑερία und dem zugehörigen Verb ἐλευϑεροῦν sowie für das Verb ἐξαγοράζειν (Gal 3,13; 4,5)346. Paulus knüpft hier wahrscheinlich besonders an die antike Vorstellung bzw. Praxis des sakralen Sklavenloskaufs an (Gal 4,5.7[.8f.]; 5,1; vgl. 1 Kor 6,20; 7,22); dabei tritt eine Gottheit im Rechtsakt (Urkundenformular) als fiktiver Käufer des Sklaven auf, während tatsächlich der Sklave selbst die Summe für seine Freilassung aufgebracht und den Priestern des Tempels zu seinem Loskauf übergeben hatte.347 Mit den Formulierungen τῇ ἐλευϑερίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλευϑέρωσεν in Gal 5,1 und ὑμεῖς γὰρ ἐπ᾿ ἐλευϑερίᾳ ἐκλήϑητε in Gal 5,13 könnte sich Paulus am üblichen Formular solcher Freilassungsurkunden orientieren, wie sie sich aus der neutestamentlichen Zeit zahlreich im Heiligtum von Delphi erhalten haben (z. B. ἀπέδοτο τῷ Ἀπόλλωνι τῷ Πυϑίῳ ἐπ ἐλευϑερίᾳ σῶμα … τιμᾶς … in FdD III 1,293 [40 v. Chr.]; FdD III 1,233 [9/8 v. Chr.]; FdD III 1,138 [ca. 35 n. Chr.]).348 Die in Gal 5,1 mit der Zusage der Freilassung verbundene Warnung, nicht wieder in die Sklaverei zurückzufallen (Gal 2,4; 1 Kor 7,23), könnte sich ebenfalls dem Formular solcher Freilassungsurkunden verdanken, da diese gelegentlich das ausdrückliche Verbot enthalten, den Freigelassenen wieder zum Sklaven zu machen (vgl. SGDI II 1971 [150/140 v. Chr.]; SGDI II 2172 [140–100 v. Chr.]; IG IX,1 194 [frühes 2. Jh. n. Chr.]).349 345

So Eger, Rechtswörter 87; Deißmann, Licht 270f. Das Verb ἐξαγοράζειν ist in den dokumentarischen Papyri und in der LXX nicht belegt; Belege finden sich in der griechischen Literatur des 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr., z. B. Pol. 3,42,2; Diod. 15,7,1; Plut. Crassus 2,5. Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 548; Liddell/Scott, Lex. 580; F. Büchsel, ἀγοράζω, ἐξαγοράζω. ThWNT 1 (1933) 125–128; R. Dabelstein, ἐξαγοράζω. EWNT 2 (21992) Sp. 1f. 347 Dazu Deißmann, Licht 271–276 (hier als Belege entsprechende Urkunden, die als Inschriften, z. B. in Delphi, oder auf Papyrus, z. B. P.Oxy. I 48 [86 n. Chr.], I 49 [100 n. Chr.], IV 722 [91 n. Chr.], erhalten sind). Zu ἐλευϑεροῦν als Terminus zur Bezeichnung der Sklavenfreilassung vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 469. Zur Sklavenfreilassung insgesamt G. Schiemann, Freilassung. DNP 4 (1998) Sp. 653–656; E. Herrmann-Otto, Sklaven und Freigelassene, in: Erlemann, Neues Testament 2, 95–99. Anders als bei den Römern erfolgte die Freilassung von Sklaven im griechischen Bereich eher selten. Bei den Griechen hatte sie meist die oben beschriebene sakralisierte Form; bei den Römern war sie ein rein zivilrechtlicher Akt (oder bei Kriegsgefangenen auch ein staatsrechtlicher) und führte in der Regel zum latinischen oder römischen Bürgerrecht. P.Oxy. I 48 (86 n. Chr.), eine Freilassungsurkunde aus Ägypten, enthält eine Formel, die noch den (früher auch in Ägypten gegebenen) sakralen Hintergrund der Sklavenfreilassung erkennen lässt. Dazu Schubart, Jahrtausend 52f. [Nr. 43] 348 Dazu auch Deißmann, Licht 274f. Diese Sicht wird in den Kommentaren – abgesehen von Lietzmann – jedoch meist abgelehnt; vgl. Rohde, Galater (ThHK) 213f. 349 So jedenfalls nach Deißmann, Licht 276f. Anders Mußner, Galaterbrief (HThK) 345, der von einer ad-hoc-Bildung des Paulus ausgeht. 346

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Auf den Bereich des Erbrechts verweisen die zusammengehörigen Begriffe κληρονομία (Gal 3,18), κληρονόμος (Gal 3,29) und κληρονομεῖν (Gal 4,30), die allerdings bereits durch ihre traditionelle Verankerung in der alttestamentlich-jüdischen Tradition theologisch-soteriologisch aufgeladen waren als Metapher für das von Gott verheißene (eschatologische) Heil, namentlich durch ihren Bezug zur Abrahamserzählung (vgl. Gen 15 mit der Verheißung von Nachkommen und Besitz des Landes), an die auch Paulus im Galaterbrief explizit anknüpft.350 Mit dem hellenistischen Erbrecht in Zusammenhang steht auch die mit υἱοϑεσία (Gal 4,5) aufgerufene Metapher der Adoption für die Konstituierung der Christen als »Söhne Abrahams« bzw. »Söhne Gottes« (vgl. dazu die Adoptionsverträge P.Oxy. IX 1206 [= SP I 10; 335 n. Chr.]; P.Lips. I 28 [= MChr. 363; 381 n. Chr.]), da durch sie ein erbrechtlicher Anspruch begründet wird (wobei die Rechtswirkungen der Adoption nicht erst durch den Eintritt des Erbfalles begründet wurden).351 In den Zusammenhang des Erbschafts- und Vormundschaftsrechts gehört der Begriff ἐπίτροπος in Gal 4,2, womit neben einem gewöhnlichen Haus- und Vermögensverwalter auch eine oder mehrere Personen bezeichnet werden können, die testamentarisch für einen unmündigen und damit nicht (voll) geschäftsfähigen Erben als dessen Vormund und Vertreter eingesetzt sind.352 Der damit verbundene Begriff οἰκονόμος, den Paulus in Gal 4,2 verwendet, meint eigentlich eine im Bereich der öffentlichen Verwaltung tätige Person (also einen Verwaltungsbeamten oder auch den Aufseher über ein Heiligtum), nicht speziell einen zusammen mit einem Vormund testamentarisch eingesetzten und diesem verantwortlichen Vermögensverwalter.353 An sich nicht mit dem Erbrecht verbunden ist der Begriff προϑεσμία (Gal 4,2), womit Paulus die Frist bezeichnet, mit deren Ablauf, die Unmündigkeit eines Erben und damit die Tätigkeit des Vormundes endet (vgl. dazu das Testament P.Oxy. III 491,6–10 [= MChr. 304; 126 n. Chr.], hier jedoch nur die Sache, nicht der Begriff); der Begriff προϑεσμία bezeichnet vielmehr im allgemeinen Sinn jede rechtliche 350 Zu den genannten Begriffen vgl. J. Herrmann/W. Foerster, κλῆρος κτλ. ThWNT 3 (1938) 757–786, bes. 766–786; J.-H. Friedrich, κληρονομέω κτλ. EWNT 2 (21992) Sp. 736– 739; Eger, Rechtswörter 100–102; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 801f. 351 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 636; Eger, Rechtswörter 95f. und 101f.; auch F. Hahn, υἱοϑεσία. EWNT 3 (21992) Sp. 912; P. Wülfing von Martiz u. a., υἱοϑεσία. ThWNT 8 (1969) 400–402. Der Hintergrund der Adoptionsaussagen im Galaterbrief ist wohl nicht das rechtliche Konstrukt der Adoption durch eine testamentarische Verfügung, für die es aus der Zeit des Paulus keine Papyrusbelege gibt, sondern ein Vertrag unter Lebenden, der bestimmte, dass der Adoptierte zum Erben des Adoptierenden werden sollte, ihm dafür aber im Gegenzug für die Zeit, in der der/die Erblasser noch am Leben war/waren, bestimmte Fürsorgepflichten auferlegte. Dazu Eger, Rechtsgeschichtliches 36f. 352 Belege aus den dokumentarischen Papyri bei Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 584; vgl. auch Eger, Rechtswörter 105f. 353 Dazu Preisigke, Wb.Pap. 3, 137f. mit 216; vgl. auch Eger, Rechtswörter 106–108; P.-G. Müller, ἐπίτροπος. EWNT 2 (21992) Sp. 110.

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5. Der Brief an die Galater

Frist, mit deren Verstreichen Verfügungen und Ansprüche ihr definitives Ende finden (vgl. Demosth. or. 36,25; Aeschin. or. 1,39).354 Außerdem begegnen einige Vokabeln, hinter denen allgemeine rechtliche Bestimmungen und konventionelle Rechtsformeln aufscheinen, die das Inkraftsetzen, die Wirksamkeit und die Außerkraftsetzung von Verträgen und Urkunden, einschließlich Testamenten, betreffen und die hauptsächlich in den Rechtspapyri belegt sind: διαϑήκη (Gal 3,15.17; 4,24)355, κυροῦν (Gal 3,14), προκυροῦν/προκυροῦσϑαι (Gal 3,17; ntl. Hapaxleg.)356, ἀκυροῦν (Gal 3,17; ntl. Hapaxleg.)357, ἀϑετεῖν (Gal 2,21; 3,15)358 und wohl auch ἐπιδιατάσσεσϑαι (Gal 3,15; ntl. Hapaxleg.)359. Das in diesen Bereich gehörende, von Paulus in Gal 3,14 gebrauchte κεκυρωμένη διαϑήκη greift offenbar eine feste Formel auf, die man an das Ende von Testamenten setzte (ἡ διαϑήκη κυρία P.Oxy. III 494,30 [= M.Chr. 305/SP I 84; 156 n. Chr.]; P.Oxy. LXVI 4533,9 [1./2. Jh. n. Chr.]; CPR VI 72,17 [1. Jh. n. Chr.]); auch der korrespondierende Begriff ἀκυροῖ in Gal 3,17 entstammt der Formelsprache des antiken Testamentes (ἀκυροῦν τὴν διαϑήκην ταύτην BGU VII 1654,6f. [nach 133 n. Chr.]; vgl. P.Col. X 267,4 [180/192 n. Chr.]).360 Auch ἐμμένω (Gal 3,10) ist eine Terminus der Rechtssprache; er findet sich in Formeln, die die Verpflichtung auf den Inhalt eines Vertrags ausdrücken, oder auch in zugehörigen Strafklauseln (vgl. P.Cair.Zen. III 59520,4 [3. Jh. v. Chr.]; P.Tebt. II 382,22 [30–27 (?) v. Chr.]).361 In die alltägliche Rechts354 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 370f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1414; Liddell/Scott, Lex. 1481; dazu auch Eger, Rechtswörter 107f. 355 Dazu auch Eger, Rechtsgeschichtliches 31–33. 356 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1418; Liddell/Scott, Lex. 1487. Allerdings finden sich für προκυροῦν keine Belege in den Papyri. 357 Vgl. Eger, Rechtswörter 92; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 50f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 66; Liddell/Scott, Lex. 59. In der LXX ist der terminus siebenmal belegt, allerdings nur in deuterokanonischen Büchern; vgl. Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 24. 358 Vgl. Eger, Rechtswörter 93f. und 97f.; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 28f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 39; Liddell/Scott, Lex. 31. Das in der hellenistischen Literatur bei Polyb., Diod. und anderen belegte Wort findet sich mehrmals in der LXX; vgl. Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 12f. 359 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 591; Liddell/Scott, Lex. 630. In den Rechtspapyri findet sich kein Beleg für ἐπιδιατάσσεσϑαι; dafür steht gewöhnlich ἐπιδιατίϑεσϑαι; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 550; Eger, Rechtswörter 92f. 360 Näheres bei Eger, Rechtswörter 88–91; vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 935f.; Liddell/ Scott, Lex. 1014. Der terminus κυροῦν begegnet in der LXX nur viermal; vgl. Lust/Eynikel/ Hauspie, Lex. LXX 362. 361 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 474; F. Hauck, μένω κτλ. ThWNT 4 (1942) 578–593, bes. 581. Bei ἐμμένω handelt es sich nicht um einen klassischen terminus, sondern Paulus entnimmt den Begriff dem allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit. Vgl. dazu Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 567f.; Liddell/Scott, Lex. 602. Nach Deißmann, Bibelstudien 76f., handelt es sich in Gal 3,10 nicht einfach um ein freies Zitat von Dtn 27,26, sondern um eine gezielte Änderung des biblischen Textes in Anschluss an eine gängige Rechtsformel. in der LXX findet sich der Begriff nur einmal; Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 219.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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praxis des Vertrags- und Urkundenwesens gehört auch die Bestätigung und Absicherung einer Übereinkunft bzw. eines Sachverhalts durch Zeugen; dazu dient der von Paulus verwendete Terminus μαρτυρῶ (Gal 4,15; vgl. S. 235) bzw. μαρτύρομαι (Gal 5,3; vgl. S. 239). Hierher gehört auch die Verwendung von Eid- bzw. Schwurformeln zur Bekräftigung des Inhalts einer Aussage, an die Paulus in Gal 1,20 anknüpft (dazu bereits S. 228f.). Auch der in den dokumentarischen Papyri zahlreich belegte Terminus μεσίτης (Gal 3,19f.) entstammt an sich der hellenistischen Rechtssprache und bezeichnet beim Prozess einen unparteiischen Vermittler (MChr. 88,3 [nach 142 n. Chr.]; SB III 7264,4 [2. Jh. n. Chr.]); Paulus jedoch folgt hier der abweichenden hellenistisch-jüdischen Verwendung des Begriffs zur Bezeichnung eines »Unterhändlers« (vgl. z. B. Philon Mos. 2,166; somn. 1,142; Ios. ant. Iud. 4,133; vgl. Hebr 8,6; 9,15; einziger Beleg in der LXX Hiob 9,33).362 Der Geschäftssprache und dem Geschäftsleben der Antike entstammen κοινωνία (Gal 2,9) und das zugehörige Verb κοινωνεῖν (Gal 6,6); der Hintergrund beider Begriffe ist die Geschäftspartnerschaft, die nach antikem Rechtsverständnis an sich nur unter rechtlich Gleichgestellten möglich ist (dazu bereits S. 133f. und 159f. zu Phlm 17).363 Trotz dieser durchaus zahlreichen Anleihen des Paulus bei der Rechts- und auch Geschäftssprache seiner Welt und Zeit verstößt der Galaterbrief dennoch nicht gegen das bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας aufscheinende Ideal, dass ein Brief sich in Wortwahl und Stil an der einfachen Sprache des Alltags orientieren soll (vgl. S. 37). Denn bei den von Paulus verwendeten Begriffen handelt es sich nicht um schwer verständliche Fachtermini aus der gelehrten juristischen Diskussion und aus ökonomischen Schriften, sondern um Begriffe und damit verbundene Vorgänge aus dem alltäglichen Leben der Menschen der neutestamentlichen Welt und Zeit.364 Dies belegt ihr reiches Vorkommen in den dokumentarischen Papyri (bzw. teilweise auch in öffentlichen Inschriften), in denen das alltägliche Leben der Antike mit seien verschiedenen rechtlichen Vollzügen und Erfordernissen seinen Niederschlag gefunden hat: z. B. in Testamenten oder Urkunden über Adoptionen, Erbschaften, Sklavenfreilassungen, Geschäftsabschlüsse etc. 362 Dazu D. Sänger, μεσίτης, μεσιτεύω. EWNT 2 (21992) Sp. 1010–1012; vgl. auch Eger, Rechtswörter 104f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1026; Liddell/Scott, Lex. 1106; Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 77f.; Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 394. 363 Zu den beiden Begriffen Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 814f.; F. Hauck, κοινωνός κτλ. ThWNT 3 (1938) 798–810, bes. 799; der sakrale Aspekt der Gemeinschaft mit der Gottheit, z. B. im Opfermahl, spielt im Galaterbrief keine Rolle, anders als in 1 Kor 10,16ff. (vgl. ebd. 799f. und 805f.). Außerdem Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 891f.; Liddell/Scott, Lex. 969f. 364 Gegen Kremendahl, Botschaft 94f., der die juristische Begrifflichkeit des Galaterbriefes mit einer »hochspeziellen Kanzleisprache« verbindet und daraus den Schluss zieht, dass die juristische Sprache des Briefes eine »entsprechende enzyklopädische Kompetenz des Empfängers« voraussetze.

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5. Der Brief an die Galater

Ähnliches gilt auch für die politisch gefärbte Begrifflichkeit in Gal 1,6f., die zwar der wissenschaftlichen Fachsprache zugerechnet werden kann (neben der politischen auch der historiographischen), die zugleich aber dem Vokabular der (gehobenen) Alltagssprache angehört.365 Im Kontext der politischen Sprache bedeutet μετατίϑεσϑαι (Gal 1,6) »die Seiten wechseln«, d. h. den Abfall von einer Person oder Partei und das Überlaufen zu einer anderen; der Begriff wurde in die philosophische Sprache übernommen, um den Wechsel von einer Philosophenschule in eine andere zu bezeichnen und diesen durch die mit dem Begriff gegebene politische Analogie deutlich negativ zu konnotieren (vgl. Diog. Laert. 7,37.166).366 In derselben Absicht scheint auch Paulus den Begriff im Galaterbrief zu verwenden. Ergänzt und präzisiert wird die Aussage, dass die Galater von den fremden Missionaren zum Abfall von Paulus und der Wahrheit des Evangeliums verleitet werden, durch das ebenfalls deutlich politisch aufgeladene Verb ταράσσειν (Gal 1,7; 5,10), das nicht auf intellektuelle und emotionale Verwirrung, sondern auf die Anstiftung zu Unruhen in einem Gemeinwesen und zum Aufstand gegen seine Ordnung zielt.367 Damit stellt Paulus seine Konkurrenten auf eine Stufe mit Menschen, die um ihrer eigenen Ambitionen willen die innere Ruhe und damit das Wohlergehen eines Staates aufs Spiel setzen und deshalb als Staatsfeinde gelten müssen. Einige Begriffe und Gedanken im Galaterbrief lassen eine gewisse Nähe zur hellenistischen kynisch-stoischen Popularphilosophie der Zeit des Paulus erkennen; sie finden sich vor allem im dritten Hauptabschnitt der Corpusmitte, in der Paulus seinen Adressaten die Prinzipien und Anforderungen eines christlichen Lebenswandels entfaltet und eine libertinistische Interpretation des von ihm verkündeten gesetzes- und beschneidungsfreien Evangeliums zurückweist (Gal 5,13 – 6,6).368 Damit bewegt sich der Galaterbrief, zumindest inhaltlich, an den Grenzen dessen, was die antike Brieftheorie in einem echten Brief noch für statthaft hält (vgl. S. 39). Problematisch ist im Blick auf die antike Brieftheorie nicht schon das Vorhandensein solcher popularphilosophischer ethischer Unterweisung, sondern erst die lange Aneinanderreihung von Sentenzen und Mahnungen. Aus der Tatsache, dass sich Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας (§ 232) genötigt sieht, derartiges ausdrücklich als formale und in365

Dazu auch Radl, Galaterbrief (SKK) 21; Jegher-Bucher, Galaterbrief 105. Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1039f.; Liddell/Scott, Lex. 1117. 367 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1606; Liddell/Scott, Lex. 1757f. 368 Eine Liste möglicher Anspielungen auf pagane philosophische Schriften und Überlieferungen im Galaterbrief bei Evans, Paul 123; allgemein zum Einfluss hellensitisch-römischer Polpularphilosohie in den Paulusbriefen ebd. 129f. Insgesamt zur hellenistischen Philosophie bzw. Popularphilosophie und ihren Einfluss auf die Schriften des Neuen Testaments H. Rosenau, Hellenistisch-römische Philosophie, in: Erlemann, Neues Testament 3, 1–21. Die Nähe der Briefe des Paulus zu Gedanken der kynisch-stoischen Popularphilosophie der Zeit betont auch Malherbe, Popular Philosophers 67; für mögliche stoische Einflüsse vgl. ebenfalls Moulton/Turner, Grammatik 4, 81f. 366

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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haltliche Entartungen des Briefes zu brandmarken und zurückzuweisen, darf man jedoch wohl schließen, dass solche »Entartungen« in der alltäglichen Briefpraxis der Zeit durchaus keine Seltenheit und keine Ausnahmen waren. Unter den erhaltenen antiken Briefen lassen sich der im Galaterbrief und auch sonst in den Briefen des Paulus zu beobachtenden Praxis ausführlicher Mahnungen der Adressaten zumindest die erhaltenen Lehrbriefe des Epikur und die Briefe Senecas an Lucilius an die Seite stellen (Näheres dazu S. 296 und 307).369 Mit den Briefen des Epikur und Seneca lässt sich der Galaterbrief aber auch darin vergleichen, dass die popularphilosophischen ethischen Mahnungen und Unterweisungen als Ausdruck der Sorge um das Wohlergehen des/der Adressaten philophronetisch motiviert und eingeordnet sind. Der von Paulus in Gal 5,16f. angesprochene Umgang des Menschen mit der eigenen ἐπιϑυμία (bzw. den ἐπιϑυμίαι) gehört ebenfalls zu den traditionellen Themen der hellenistisch-römischen Popularphilosophie insgesamt, so der Stoa (vgl. Epikt. diatr. 2,16 u. ö.) und des Epikureismus (vgl. Diog. Laert. 10,127).370 In den moralphilosophischen Diskurs der hellenistisch-kaiserzeitlichen Philosophie gehören auch die in Gal 5,24 parallel zu den ἐπιϑυμίαι genannten παϑήματα (vgl. Plut. mor. 1128e; äquivalent zum deutlich häufiger gebrauchten πάϑος/πάϑη); damit werden die negativ bewerteten Affekte und Emotionen bezeichnet, die der Mensch zu überwinden hat.371 Bei Paulus jedoch ist die popularphilosophische Lehre vom rechten Umgang mit den Begierden mit dem (biblisch-jüdischen) Gegensatz σάρξ und πνεῦμα verbunden, so dass der Kampf gegen die Begierden neu interpretiert wird als Kampf gegen die durch die σάρξ symbolisierte Selbstbezogenheit und Weltverhaftetheit des Menschen und als Öffnung für die durch das πνεῦμα symbolisierte Wirklichkeit Gottes.372 Die von Paulus genannte ἐγκράτεια (Gal 5,23) als Kennzeichen des Menschen, der mit der Vernunft seinen Lüsten und Begierden zu gebieten vermag, ist ebenfalls eine zentrales Stichwort der hellenistischen Ethik (vgl. Aristot. eth. Nic. 4,15; 7,1–11; S. Emp. adv. Math. 9,153); von hier wurde der Begriff ins hellenistische Frühjudentum übernommen (vgl. bei Philon Abr. 24; spec. 1,173; Ios. bell. Iud. 2,120).373 369

Zur präskriptiven Sprache bzw. zu den Formen/Elementen paränetischen Argumentierens in Senecas Lucilius-Briefen vgl. Cancik, Untersuchungen 22–34. 370 Dazu Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 594f.; F. Büchsel, ϑυμός κτλ. ThWNT 3 (1938) 167– 173, zu ἐπιϑυμία, ἐπιϑυμέω 168–172; P. Schmidt-Wiborg, epithymia/epithymêtikon, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 150f. 371 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1219f.; Liddell/Scott, Lex. 1285; W. Michaelis, πάσχω κτλ. ThWNT 5 (1954) 903–939, hier 929f.; K. Vogt, pathos, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 332–334. 372 Insgesamt zu den dahinter stehenden Aspekten paulinischer Anthropologie Schnelle, Theologie 258–268. 373 Vgl. Borse, Galater (RNT) 204f.; Evans, Paul 129f. Näheres dazu bei W. Grundmann, ἐνκράτεια κτλ. ThWNT 2 (1935) 338–340; F. Buddensiek, enkratês, in: Horn/Rapp, Wörter-

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5. Der Brief an die Galater

Gehäuft treten Begriffe, wie sie für die moralischen Mahnung und Unterweisung der hellenistischen Popularphilosophie typisch sind, in den Auflistungen von Lastern und Tugenden in Gal 5,19–21 und 5,22 auf (z. B. ἔχϑρα, ἔρις, φϑόνος, μακροϑυμία; zum traditionellen Charakter derartiger Tugend- und Lasterkataloge bereits S. 185).374 In den Kontext popularphilosophischer Unterweisung gehört eventuell auch die drastische Aussage in Gal 5,15 (εἰ δὲ ἀλλήλους δάκνετε καὶ κατεσϑίετε, βλέπετε μὴ ὑπ’ ἀλλήλων ἀναλωϑῆτε), die sich als paradox überspitzte und provozierende Neufassung der »Goldenen Regel« verstehen lässt.375 An die für die populäre moralphilosophische Unterweisung typischen prägnanten und leicht memorierbaren Kurzformeln, zu denen die »Goldene Regel« gehört, erinnert auch die sentenzenhafte Aussage in Gal 5,14 (ὁ γὰρ πᾶς νόμος ἐν ἑνὶ λόγῳ πεπλήρωται, ἐν τῷ· ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν; vgl. Röm 13,8–10); ihr Hintergrund aber ist nicht die hellenistische Popularphilosophie, sondern die frühjüdische Religion mit ihrer spezifischen Gesetzesfrömmigkeit und die »Schrift« selbst, der diese Kurzformel entnommen ist (Lev 19,18).376 Ob die ebenfalls sentenzenhaften Aussagen in Gal 6,5 (ἕκαστος γὰρ τὸ ἴδιον φορτίον βαστάσει), Gal 6,7b (ὃ γὰρ ἐὰν σπείρῃ ἄνϑρωπος, τοῦτο καὶ ϑερίσει) und Gal 6,9 (τὸ δὲ καλὸν ποιοῦντες μὴ ἐγκακῶμεν, καιρῷ γὰρ ἰδίῳ ϑερίσομεν μὴ ἐκλυόμενοι) biblisch-jüdische oder popularphilosophische Wurzeln haben, muss offen bleiben; Paulus jedenfalls scheint sie auf die eschatologische Vergeltung zu beziehen.377 Einen popularphilosophischen Hintergrund hat aber wahrscheinlich Gal 3,28, wo Paulus die Aufhebung bestehender Unterschiede zwischen den Menschen und ihre Einheit in Christus postuliert; hier knüpft Paulus an die Vorstellung einer natürlichen Gleichheit aller Menschen an, wie er in der Antike vor allem in der Stoa formuliert und propagiert wurde (vgl. Sen. epist. 31,11; 47,1.10; Lukian. Aleth. dieg. 2,32–35).378 Eine ähnliche Rezeption des stoischen Gedankens der natürbuch 134. Im Neuen Testament und auch in der Septuaginta wird der Begriff samt dem zugehörigem Verb ἐγκρατεύω (bzw. ἐγκρατέω) und dem Adjektiv ἐγκράτης kaum verwendet; vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 436f.; Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 169f. 374 Vgl. auch die Paralleltexte bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/1, 575–577. 375 Beispiel für ähnlich drastische Formulierungen finden sich Plut. mor. 1124d–e; Epikt. diatr. 2, 22,27f.; Lukian. pisc. 36; in Übersetzung zitiert bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/1, 574–576. 376 Derartige paränetisch-didaktische Kurzfassungen, die den Kern des Gesetzes benennen, finden sich auch im Frühjudentum und wurden von hier wohl bereits von Jesus selbst und den frühchristlichen Gemeinden übernommen (vgl. Mk 12,28–34 parr.); diese Kurzformeln wollen als Richtschnur für das Handeln die Befolgung des Gesetzes im Alltag erleichtern. Vgl. Bill. 1, 900–908; Mußner, Galaterbrief (HThK) 371–373. 377 Zu den genannten Stellen Mußner, Galaterbrief (HThK) 401f., 405. und 406f. 378 Vgl. Dormeyer, Literaturgeschichte 131; Meeks, Moral World 60f.; dazu auch Theissen, Soziologie 270f. Nach Becker, Galater (NTD) 59f., steht hinter Gal 3,26–28 allerdings eine vorgeprägte Formel, die dem »gottesdienstlichen« Kontext entstammt und als Zuspruch an die Neugetauften diente; Näheres dazu auf S. 362.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

263

lichen Gleichheit aller Menschen ließ sich auch beim Philemonbrief beobachten (vgl. dazu S. 164f.).379 Zu den von Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας im Brief erlaubten popularphilosophischen Elementen gehört die Aufnahme von sprichwörtlichen Redensarten (vgl. S. 39); eine solche verwendet Paulus zumindest in Gal 5,9 (μικρὰ ζύμη ὅλον τὸ φύραμα ζυμοῖ; vgl. 1 Kor 5,6).380 Typisch für die popularphilosophische Darstellungsweise ist auch der dialogartige Gesprächsstil in Gal 3,2–9.19– 22 (Diatribe; dazu auch S. 311).381 Ein terminus technicus aus dem Bereich der antiken Grammatik, d. h. der antiken Literaturwissenschaft, ist ἀλληγορεῖν in Gal 4,24; es bezeichnet eine Methode der Auslegung literarischer Werke und mündlicher Überlieferung, die in den als moralisch anstößig empfundenen alten Mythen, insbesondere in den homerischen Epen, unter dem Wortsinn des Textes einen tieferen, verborgenen philosophischen Sinn zu entdecken versuchte (z. B. bei Krates von Mallos).382 Begriff und Sache wurden vom hellenistischen Judentum übernommen und für die Auslegung der eigenen heiligen Schriften (und religiösen Überlieferungen) adaptiert und fruchtbar gemacht; exemplarisch ist hier das literarische Werk und Schaffen des bedeutenden jüdischen Philosophen Philon von Alexandria zu nennen. Aufgrund der Herkunft des Begriffs aus der hellenistischen Geisteswelt kann Paulus davon ausgehen, auch von seinen nicht-jüdischen Adressaten in Galatien verstanden zu werden. Der Rekurs auf diese literaturwissenschaftliche Methode und Fragestellung lässt sich zwar noch mit dem Hinweis auf eine gewisse Geistigkeit rechtfertigen, die nach Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας für einen Brief durchaus angemessen ist (vgl. S. 39); mit der in Abbreviatur durchgeführten, komplexen allegorischen Deutung der HagarSara-Erzählung (Gen 16–17; 21,1–21) geht er aber letztlich wohl doch über das hinaus, was die antike Brieftheorie zu den briefgemäßen Inhalten zählte.383 Im Blick auf die von der antiken Brieftheorie geforderten Klarheit und Eindeutigkeit von Sprache und Inhalt (vgl. S. 37) verdient die Tatsache besondere Aufmerksamkeit, dass Paulus im Galaterbrief an etlichen Stellen so etwas wie eine spezifisch jüdische Begrifflichkeit bzw. spezifisch jüdische Vorstellungen verwendet. Dies ist insofern relevant, als die galatischen Adressaten des Briefes 379 Auf die Nähe des Paulus zur kynisch-stoischen Popularphilosophie und eine entsprechende Selbstdarstellung als kynisch-stoischer Wanderphilosoph in seinen Briefen weist auch Schnelle, Paulus 62–69, hin. 380 Zu Gal 5,9 Mußner, Galaterbrief (HThK) 356f.; Becker, Galater (NTD) 79; vgl. auch Jegher-Bucher, Galaterbrief 33. 381 Vgl. Aune, Environment 200–202. 382 Dazu F. Büchsel, ἀλληγορέω. ThWNT 1 (1933) 260–264; A. Kretzer, ἀλληγορέω. EWNT 1 (21992) Sp. 149f.; außerdem J. Werner, Allegorische Dichtererklärung. KP 1 (1979) Sp. 274. Zu Gal 4,24 auch Lührmann, Galater (ZBK) 75f. 383 Mußner, Galaterbrief (HThK) 319f., hebt zurecht hervor, dass Gal 4,21–31 ein allegorisches, kein typologisches Schriftverständnis zugrunde liegt.

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5. Der Brief an die Galater

ihrer Herkunft nach Heiden sind und jüdische Gemeinden in ihrem näheren Lebensumfeld offenbar nicht existierten (dazu S. 177); eine tiefer gehende Vertrautheit mit der jüdischen Religion, ihren Überlieferungen und sprachlichen Konventionen darf deshalb bei ihnen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Damit stellt sich die Frage, ob die Ausführungen des Paulus im Galaterbrief für die Adressaten wirklich in allen Punkten unmittelbar klar und verständlich waren bzw. sein konnten. Dies gilt es kurz an zentralen Ausdrücken zu überprüfen. Die im Präskript des Galaterbriefes verwendete christliche Gottestitulatur τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ νεκρῶν (Gal 1,1) setzt die jüdisch-pharisäische Erwartung der endzeitlichen Totenauferweckung voraus, die in der hellenistischrömischen Umwelt der Juden und frühen Christen zwar nicht geteilt, als Aussage aber zumindest in ihrer Wortbedeutung verstehbar war (vgl. Apg 17,32). Da die Auferweckung Jesu sowie die Erwartung einer allgemeinen Totenerweckung Kern der christlichen Missionspredigt und auch der Verkündigung des Paulus war (vgl. 1 Kor 15), gab es hier für die heidenchristlichen Galater mit Sicherheit keine Verständnisschwierigkeiten. Einen eindeutig jüdischen Hintergrund haben περιτέμνω (Gal 2,3; 5,2f.; 6,12f.) und περιτομή (Gal 2,7.8.9.12; 5,6.11; 6,15)384 und das damit verbundene ἀκροβυστία (Gal 2,7)385, das nur in der biblischen und kirchlichen Gräzität belegt ist (ansonsten steht ἀκροποσϑία oder ἀκροπόσϑιον). Wenn auch die Beschneidung selbst nicht exklusiv jüdisch war (z. B. auch bei Ägyptern praktiziert), so wurde sie doch bei Griechen und Römern als ein besonderes, unterscheidendes Kennzeichen mit der jüdischen Religion in Verbindung gebracht (vgl. Tac. hist. 5,1,5).386 Die beiden Begriffe und die damit verbundenen religiösen Vorstellungen waren den heidenchristlichen Adressaten des Galaterbriefes zumindest seit dem Auftreten der judenchristlichen Missionare vertraut (aus Gal 3,3 und 5,11 kann man möglicher384

Vgl. O. Betz, περιτομή, περιτέμνω. EWNT 3 (21992) Sp. 186–189; R. Meyer, περιτέμνω κτλ. ThWNT 6 (1959) 72–83. In der griechischen Literatur ist περιτέμνω seit Herodot, der über den Brauch der Beschneidung bei den Ägyptern und anderen Völkern schreibt, für das Beschneiden des männlichen Gliedes belegt; das zugehörige Substantiv περιτομή dagegen ist erst ab dem 2. Jh. v. Chr. literarisch bezeugt (bei dem Geographen Agatharchides). In den Papyri erscheint περιτέμνω im 2. Jh. v. Chr. in P.Lond. I 24,12f.16 [= UPZ I 2; 161 v. Chr.] für das Beschneiden der Genitalien (?) einer Frau; für die Beschneidung des männlichen Gliedes bei ägyptischen Priestern (Kultdienern) erscheint περιτέμνω ab dem 2. Jh. n. Chr. (vgl. SB I 16,18f. [165/166 n. Chr.]; WChr. 77,3,10f. [149 n. Chr.], P.Tebt. II 291,33 [161/162 n. Chr.]; P.Tebt. II 292,7.20 [= WChr. 74; 189/190 n. Chr.]); das Substantiv περιτομή dagegen ist, ebenfalls in Zusammenhang mit ägyptischen Priestern, erst ab dem 2. Jh. n. Chr. in den Papyri belegt (vgl. P.Tebt. ΙΙ 314,5; PSI 9 1039,39 [216/217 oder 267/268 n. Chr.]); vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 300 und 301; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1314f. 385 Vgl. K. L. Schmidt, ἀκροβυστία. ThWNT 1 (1933) 226f.; O. Betz, ἀκροβυστία. EWNT 1 (21992) Sp. 132f. 386 Dazu B. Ego, Circumcisio. DNP 2 (1997) Sp. 1209; O. Betz, Beschneidung II. AT, Frühjudentum und NT. TRE 5 (1980) 716–722.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

265

weise schließen, dass Beschneidung und Unbeschnittenheit kein Thema der Predigt des Paulus in Galatien waren; dazu auch S. 192). Daneben finden sich einige Begriffe, die zwar nicht spezifisch jüdisch sind, innerhalb der jüdischen Religion jedoch mit besonderen Vorstellungen verbunden waren. Dazu gehören die auf das Thema der Gesetzesobservanz bezogenen Begriffe ἁμαρτωλός (Gal 2,15.17), δικαιοσύνη (Gal 2,12; 3,6.21; 5,5), δικαιοῦν (Gal 2,16f.; 3,8.11.24; 5,4), δίκαιος (Gal 3,11), ἔργον/ἔργα (Gal 2,16; 3,2.5.10; 5,19; 6,4) und νόμος (Gal 2,16.19.21; 3,2.5.10 u. ö.).387 Bei all diesen Begriffen konnte Paulus voraussetzen, dass sie seinen Adressaten in Galatien spätestens seit der Gesetzespredigt seiner Konkurrenten in ihrer spezifischen Bedeutung vertraut waren. Auch ἡ γραφή (Gal 3,8.22; 4,30) und das darauf bezogene γέγραπται (Gal 3,10.13; 4,22.27) haben im jüdischen Kontext eine über den bloßen Wortsinn hinausgehende, spezifische Bedeutung, deren richtiges Verständnis zumindest eine rudimentäre Kenntnis der jüdischen Religion erforderte.388 Außerdem verwendet Paulus einige Begriffe, die in der frühjüdischen Literatur belegt sind und in der Vorstellungswelt des Frühjudentums eine zentrale Rolle spielten, in der profanen Literatur bzw. in den dokumentarischen Papyri jedoch kaum oder nur in stark abweichender Bedeutung belegt sind; dazu gehören ἀποκάλυψις und ἀποκαλύπτειν (Gal 1,12.16)389 sowie πειρασμός (Gal 4,14)390 und παραβάτης/παράβασις (Gal 2,18; 3,19)391. In der Verwendung von εὐλογέω/εὐλογία (Gal 3,9.14 u. ö.) folgt Paulus dem von der profanen Gräzität abweichenden biblischen Sprachgebrauch. Die Umschreibung von »Mensch« 387 Für die einzelnen Begriffe und ihre spezifisch jüdische Verwendung und Bedeutung sei hier lediglich allgemein auf die entsprechenden Einträge in den Fachwörterbüchern verwiesen (Bauer/Aland, Wb.NT; ThWNT; EWNT). Zu dieser Frage insgesamt auch Reiser, Sprache 37–48. 388 Ausführlich H. Hübner, γραφή, γράφω. EWNT 1 (21992), Sp. 627–638; G. Schrenk, γράφω κτλ. ThWNT 1 (1933) 743–773, bes. 747f. und 750–761. 389 Vgl. T. Holtz, ἀποκαλύπτω, ἀποκάλυψις. EWNT 1 (21992) Sp. 312–317; A. Oepke, ἀποκαλύπτω, ἀποκάλυψις. ThWNT 3 (1938) 565–597. Das Verb ἀποκαλύπτω ist auch in den ägyptischen Papyri belegt, ab dem 1. Jh. n. Chr. als Fachterminus in Verbindung mit γῆ zur Bezeichnung für das beim Zurückgehen der Nilschwelle freigelegte Ackerland, erst in byzantinischer Zeit auch im allgemeinen Sinn von »Tatsachen enthüllen«; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 180. 390 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1291f.; Liddell/Scott, Lex. 1355; Lust/Eynikel/ Hauspie, Lex. LXX 477. Ausführlich W. Popkes, πειράζω κτλ. EWNT 3 (21992) Sp. 151–158; H. Seesemann, πεῖρα κτλ. ThWNT 6 (1959) 23–37. 391 In der profanen Gräzität bezeichnet παραβάτης in der Regel den Kämpfer bzw. Krieger, der neben dem Wagenlenker steht, oder einen leichten Fußsoldaten, der neben der Reiterei herläuft. παράβασις begegnet bereits in der hellenistischen philosophischen Literatur für »Irrtum« oder »Täuschung«; in der LXX ist der Terminus allerdings nur dreimal belegt (Ps 100,3 [101,3 MT]; 2 Makk 15,10; Weish 14,31). Vgl. Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 460; Bauer/ Aland, Wb.NT Sp. 1237; Liddell/Scott, Lex. 1308. Näheres bei M. Wolter, παράβασις κτλ. EWNT 3 (21992) Sp. 32–35; J. Schneider, παραβαίνω κτλ. ThWNT 5 (1954) 733–741.

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5. Der Brief an die Galater

durch σάρξ καὶ αἷμα (Gal 1,16) findet sich bei den Rabbinen, nicht aber in der paganen griechischen Literatur.392 Die besondere Bedeutung dieser Begriffe dürfte sich daher einem Heiden, der keine vertieften Kenntnisse der jüdischen Religion und ihrer Literatur besaß, auf Anhieb teilweise kaum oder nur schwer erschlossen haben. Ähnliches mag für die Verwendung von περιπατεῖν und στοιχεῖν in Gal 5,16.25 zur Bezeichnung des ethischen Lebenswandel im Gehorsam gegen das mosaische Gesetz gelten.393 Ein nur in den neutestamentlichen und davon abhängigen christlichen Schriften belegter Terminus, der sich aber trotzdem aus dem Judentum herleiten dürfte, ist dagegen εἰδωλολατρία (Gal 5,20) als abqualifizierende Bezeichnung für den traditionellen Götterkult in der paganen Umwelt der Juden und Christen.394 Jüdische Wurzeln hat auch βασιλεία ϑεοῦ in Gal 5,21 als Ausdruck für das eschatologische Heil; da die Ansage des Kommens des Gottesreiches im Zentrum der Heilsbotschaft des Jesus von Nazareth stand, wurde sie als integraler Bestandteil in die christliche Verkündigung übernommen.395 Den Galatern war diese Heilshoffnung demnach zweifelsohne aus der mündlichen Predigt des Paulus nicht unbekannt (vgl. S. 240), obwohl das Gottesreich in den Briefen des Paulus nur relativ selten begegnet (nur noch 1 Kor 4,20; 6,9f.; 15,24.50; 1 Thess 2,12) und folglich in seiner Predigt eine nachgeordnete Rolle gespielt haben dürfte.396 Aus dem Frühjudentum übernommen, aber christlich neu konnotiert sind ἀπόστολος (Gal 1,1) und ἀποστολή (Gal 2,8); auch diese beiden Begriffe, die für einen Heiden nicht allein aus ihrer Wortbedeutung und Verwendung in der profanen Gräzität verständlich sind, waren den Galatern sicher aus der mündlichen Predigt des Paulus bekannt, nicht zuletzt deshalb, weil mit ihnen Paulus sein eigenes Selbstverständnis artikulierte (vgl. dazu auch S. 202).397 392 Dazu Bill. 1, 730f.; jüdische Belege außerhalb der rabbinischen Schriften sind Sir 17,31; Philon her. 57; TestAbr B 13,7; vgl. Reiser, Sprache 72 (mit Anm. 124). 393 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 38; dazu auch R. Bergmeier, περιπατέω. EWNT 3 (21992) Sp. 177–179; Schnelle, Theologie 296f. 394 Ausführlich F. Büchsel, εἴδωλον κτλ. ThWNT 2 (1935) 373–377, bes. 377; H. Hübner, εἴδωλον κτλ. EWNT 1 (21992) Sp. 936–941. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 255; 395 Dazu auch Longenecker, Galatians (WBC) 258. Ausführlich H. Kleinknecht u. a., βασιλεύς κτλ. ThWNT 1 (1933) 562–595, bes. 563–576 (AT, Frühjudentum) und 579–593 (βασιλεία im NT); U. Luz, βασιλεία. EWNT 1 (21992) Sp. 481–491; außerdem Berger, Theologiegeschichte 37–42; Dormeyer, Theologie 34f. 396 Vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 202; Mußner, Galaterbrief (HThK) 383f.; dieser Unterschied zur Predigt Jesu ist darin begründet, dass der Verkünder des Gottesreiches in der urchristlichen Verkündigung selbst zum Gegenstand und Kern des Bekenntnisses geworden ist; vgl. Bornkamm, Paulus 121–131. 397 Die besondere christliche Bedeutung war umso schwerer zu erschließen, als ἀπόστολος im profanen Griechisch meist nicht den »Boten« bezeichnete, sondern den Lieferschein, den Begleitbrief oder auch den Reisepass. Näheres zu Verwendung und Bedeutung von ἀπόστολος und ἀποστολή in den nichtchristlichen Papyrustexten bei Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 195.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Aus dem christlichen Gottesdienst kannten die Galater die Doxologie und die Amen-Akklamation (Gal 1,5; 6,18), die ebenfalls zum jüdischen Erbe im frühen Christentum gehörten. Spezifisch christlich dagegen sind die von Paulus aufgenommenen Bekenntnisformeln, mit denen er an seine frühere mündliche Verkündigung in den galatischen Gemeinden anknüpfte, so die Auferweckungsformel (Gal 1,1)398, die Dahingabeformel (Gal 1,5; 2,20)399 sowie weitere Wendungen, die an traditionelle Formeln der frühchristlichen Katechese anknüpfen (Gal 2,21; 3,13; 4,4f.).400 Der spezifisch christlichen Praxis von Gebet und Gottesdienst verdankt sich auch die vertrauliche Anrede Gottes als Abba »Vater« in Gal 4,6 (Röm 8,15); die Beibehaltung des aramäischen Wortes bei den griechisch-sprachigen Christen verweist nicht nur auf die Wurzeln dieser Gottesanrede in der Gebetspraxis der ältesten, aramäisch-sprachigen Christengemeinden Palästinas, sondern verdankt sich der Tatsache, dass sich diese Gottesanrede nach allgemeiner christlicher Überzeugung von Jesus von Nazareth selbst herleitete (vgl. Mk 14,36).401 Um ein christliche Neubildung, eventuell sogar des Paulus selbst, könnte es sich bei dem zuvor weder in der griechischen Literatur noch in den dokumentarischen Papyri belegten Terminus ψευδάδελφος (Gal 2,4) handeln.402 Für das Verständnis dieses Begriffes genügte den Galatern die Vertrautheit mit der in den Gemeinden üblichen ehrenden Anrede als ἀδελφοί, die die Christen von ihrer paganen Umwelt übernommen hatten (vgl. S. 250). Kein spezifisch christlicher Terminus ist an sich προευαγγελίζεσϑαι.403 Der Art und Weise jedoch, wie Paulus ihn in Gal 3,8 verwendet, liegt eine eigene christliche »Schrifttheorie« zugrunde, d. h. ein christliches Vorverständnis über das Wesen der heiligen »Schrift« der Juden, durch die ihre Rezeption und Auslegung bei den Christen bestimmt ist. Es geht um die aus dem Glauben an Jesus Christus gewonnene Überzeugung, dass die »Schrift« in all ihren Aussagen als Vorhersage auf das Evangelium hin gelesen werden kann und muss.404 398

Näheres zur Auferweckungsformel bereits auf S. 202, Anm. 124. Anmerkungen zur Dahingabeformel bereits auf S. 203, Anm. 126 Auf die Verbindung der Formel zu hellenistischen Vorstellungen vom gewaltsamen Tod der Philosophen (vgl. Plat. Phaid. 113d–118a), die auch in einem bei Diog. Laert. 10,121 überlieferten Ausspruch des Epikur, dass er bereit sei für einen Freund in den Tod zu gehen, dokumentiert ist, weist Dormeyer, Theologie 33f., hin. 400 Vgl. Aune, Environment 192–194. 401 Vgl. Dormeyer, Literaturgeschichte 84; Longenecker, Galatians (WBC) 174f. 402 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1777. Ähnliche Verbindungen mit ψευδ- in den dokumentarischen Papyri wären ψευδολογία und ψευδομαρτύριον; vgl. zu den beiden Begriffen Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 770. 403 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1413; Liddell/Scott, Lex. 1479. Der Terminus findet sich in der jüdischen Literatur Philon opif. 34; mut. 158; pagan ist er belegt in den Scholien zu Soph. Trach. 335 p. 299 Papag.; Philo Mechanicus 1,7,602. 404 In der Sache zwar richtig, aber ohne den Hinweis, dass die Aussage in Gal 3,8 die Existenz einer spezifisch christlichen Schrifttheorie oder Hermeneutik voraussetzt, urteilt Mate399

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5. Der Brief an die Galater

Der Begriff προευαγγελίζεσϑαι selbst mag für die Adressaten aus der Kenntnis des Terminus εὐαγγέλιον (vgl. Gal 1,6f.11; 2,2.5.7.14) in seiner von der allgemeinen griechischen Verwendung abweichenden Bedeutung in der biblischjüdischen und frühchristlichen Überlieferung erklärbar und verstehbar gewesen sein.405 Welche Kenntnisse aber die Galater als ehemalige Heiden über die »Schrift« selbst, d. h. über ihren Inhalt und ihre religiöse Bedeutung besaßen, lässt sich nur schwer abschätzen. Da es unter den galatischen Christen offensichtlich keine ehemaligen Juden gab, darf man wohl nicht davon ausgehen, dass den Gemeinden von Anfang an eigene Abschriften der heiligen Schriften zur Verfügung standen. Unklar ist zudem, ob es in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld jüdische Synagogen gab, wo sie anfängliche Kenntnisse darüber erhalten haben könnten (vgl. S. 177). Die Aussagen des Paulus über die Vergangenheit seiner Adressaten in Gal 4,8–11, sprechen jedenfalls nicht dafür, dass sich unter ihnen Gottesfürchtige oder gar ehemalige Juden befanden.406 Was die galatischen Christen über die »Schrift« wussten, mussten sie demnach von Paulus oder den nach ihm in den Gemeinden aufgetretenen judenchristlichen Missionaren gelernt haben. Damit stellt sich die Frage, was und wie viel die galatischen Christen von der »Schrift« durch eigene Lektüre und eigenes Studium kennen konnten und wie sie gegebenenfalls überhaupt an Abschriften der heiligen Texte gekommen sind. Da solche Abschriften teuer waren und mehrere Buchrollen umfassten, kann man kaum davon ausgehen, dass Paulus und andere Missionare Exemplare der heiligen Schriften mit sich führten, die sie, wo es nötig war, bei den neu gegründeten Gemeinden zurücklassen konnten; die Gemeinden mussten sich diese Texte sicher selbst organisieren. Deshalb muss man wohl annehmen, dass der Umgang des Paulus mit der »Schrift«, d. h. die oft gewagte Paraphrase, die freie Kombination von Zitaten und die spitzfindige Auslegung, für die von ihm bekehrten Galater wahrscheinlich nicht in allen Punkten nachvollziehbar und durchschaubar war (Näheres S. 379). C. Sprache und Stil: Abschließend ist die Frage nach dem sprachlichen Niveau und der stilistischen Qualität des Galaterbriefes zu stellen; es geht um die Frage, ob der Galaterbrief der Forderung der antiken Brieftheorie genügt, nach ra, Galatians (Sacra Pagina) 123; ähnlich auch Longenecker, Galatians (WBC) 115; Mußner, Galaterbrief (HThK) 219; Rohde, Galater (ThHK) 139. 405 Zum profanen Gebrauch von εὐαγγέλιον und den davon abgeleiteten bzw. damit zusammenhängenden Termini sowie ihrer Verwendung im Frühchristentum vgl. G. Strecker, εὐαγγελίζω. EWNT 2 (21992) Sp. 173–176; ders., εὐαγγέλιον. EWNT 2 (21992) Sp. 176–186; G. Friedrich, εὐαγγελίζομαι κτλ. ThWNT 2 (1935) 705–735. 406 Zur Frage, ob sich unter den Adressaten des Galaterbriefes auch Judenchristen befanden, vgl. bereits S. 178, Anm. 38. Zu Gal 4,8–11 als Hinweis auf die ausschließliche Herkunft der Adressaten aus dem Heidentum vgl. die Auslegung der Stelle bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 290–304; Becker, Galater (NTD) 65–67; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 156–158.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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der Sprache und Stil eines Briefes sich weder an der literarischen Kunstsprache noch an der vulgären Umgangssprache orientieren sollten (vgl. S. 38 und 96). Eigentlich kolloquiale Elemente finden sich im Galaterbrief nur sehr vereinzelt. Ein Element aus der gesprochenen Umgangssprache, könnte das Verb στήκω (als Ersatz für das klassische Perfekt ἕστηκα von ἵσταμαι) in Gal 5,1 sein, das vor den neutestamentlichen Schriften weder in der Literatur noch in den dokumentarischen Papyri sicher belegt ist, jedoch in der LXX in Ri 16,26 und 1 Kön 8,11 als Variante bezeugt ist.407 Ungebräuchlich und vulgär scheint dieses offenbar kolloquiale Verb dennoch nicht zu sein, da es außer bei Paulus (1 Thess 3,8; Phil 1,27; 4,1; 1 Kor 16,13; Röm 14,4) auch in anderen neutestamentlichen Schriften begegnet (Mk 3,31; 11,25; Joh 1,26; 8,44; 2 Thess 2,15 [vl Offb 12,4]); seine Verwendung gehört wohl in den Kontext zunehmenden Vermeidung der klassischen Verben auf -μι in der gesprochenen Sprache seit der hellenistischen Zeit.408 Aus der gesprochenen Alltagssprache dürfte auch εὐπροσωπέω in Gal 6,12 stammen, für das sich aber zumindest ein Papyrusbeleg anführen lässt (P.Tebt. I 19,12f. [114 v. Chr.]).409 Ein Wort der Alltagssprache ist auch ἀναστατοῦν in Gal 5,12 (vgl. Apg 17,6; 21,38), das zwar in Dan 7,23 (LXX), außerhalb des Neuen Testaments sonst aber nur in den dokumentarischen Papyri bezeugt ist.410 Der späten Gräzität gehört auch πεισμονή in Gal 5,8 an, das erst in nachneutestamentlicher Zeit in Papyrustexten sowie literarisch belegt ist.411 Nur christlich bezeugt ist φρεναπατάω in Gal 6,3 (in der hellenistischen Literatur und in den Papyri aber findet sich das zugehörige Substantiv φρεναπάτης).412 In Vokabular und Formbildung zeigt der Galaterbrief die in der (nicht attizistischen) Literatursprache der hellenistisch-römischen Zeit (literarische Koine) typischen Abweichungen von der griechischen bzw. attischen Sprache der klassischen Zeit. Dazu gehören unter anderem der Gebrauch des Kompositum συνηλικιώτης statt des einfachen ἡλικιώτης (Gal 1,14)413, das an die regelmäßige Bildung des Adverbs angelehnte εὐϑέως statt des klassischen εὐϑύς/εὐϑύ 407 Dazu BDR § 73, mit Anm. 4; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1532f.; Liddell/Scott, Lex. 1643; Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 569; Lampe, Lex.Patr. 1259. In den Papyri findet sich nur in P.Lips. I 40,2,4 (4./5. Jh. n. Chr.) das Partizip Präs. Akt. (allerdings geschrieben στήγων statt στήκων); vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 487 und 488. Sonstige Belege sind Hippiatrika 69 (5./6. Jh. n. Chr.); P.Mag.Par. 1,923 [PGM]; Possidipus (bei Athen. 10,412e; 3. Jh. v. Chr.). 408 Vgl. W. Grundmann, στήκω, ἵστημι. ThWNT 7 (1964) 635–652, hier 635. 409 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 656; auch Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 618, der für P.Tebt. I 19,12f. (114 v. Chr.) für das Verb die Bedeutung »frohen Mutes sein« angibt. 410 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 106; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 120; Lust/Eynikel/ Hauspie, Lex. LXX 43. 411 Vgl. Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 283 (als Beleg nur P.Lond. V 1674,36 [ca. 570 n. Chr.]); Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1292; Liddell/Scott, Lex. 1356. 412 Näheres H. Paulsen, φρεναπατάω. EWNT 3 (21992) Sp. 1048; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1726; Liddell/Scott, Lex. 1954. Für φρεναπάτης vgl. auch Preisigke, Wb.Pap. 2, Sp. 703. 413 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1574f.; Liddell/Scott, Lex. 1715.

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5. Der Brief an die Galater

(Gal 1,16 [schon LXX])414 oder der Ersatz des klassischen συνίστημι durch das der thematischen Konjugation nachgebildete συνιστάνω (Gal 2,18)415. Nachklassisch ist die Verwendung der uneigentlichen Präpositionen ἐνώπιον (Gal 1,20) und ἔμπροσϑεν (Gal 2,14) als Ersatz für das einfache πρό (so auch in der LXX; gelegentlich aber bereits klassisch).416 Der Ersatz von εἶναι durch ὑπάρχω (Gal 1.14; 2,14) ist ebenfalls seit hellenistischer Zeit üblich.417 Ein Kennzeichen der nachklassischen Sprache ist die Bildung eines passiven Aorist in aktiver Bedeutung bei den Deponentia media, so συνυπεκρίϑησαν zu συνυποκρίνομαι in Gal 2,13.418 Gehäuft treten in hellenistischer Zeit zudem bei Verben, die an sich einen schwachen Aorist Passiv bilden, Neubildungen starker Formen auf, so διαταγείς in Gal 3,19 statt des klassisch üblichen διαταχϑείς.419 Nachklassisch ist auch die Bildung der mediale Form ἤμεϑα im Imperfekt als Ersatz für die aktive Form ἦμεν.420 Zeichen einer späteren Sprachstufe ist außerdem die Verwendung des Plurals beim Prädikat, wenn das Subjekt ein Nomen im Neutrum Plural ist, wie ἐνευλογηϑήσονται zu τὰ ἔϑνη in 3,8 (hier allerdings in einem Zitat aus der LXX).421 Insgesamt sind die genannten Abweichungen von der klassischen Sprache nicht Zeichen für einen »schlechten« Stil und mangelnde literarische Ausbildung des Verfassers, sondern Ausdruck der gesuchten Nähe zur gesprochenen Sprache, wie sie von Briefstil gefordert wird, und folglich eine bewusste Absage an eine literarische Kunstsprache. Zugleich aber finden sich im Galaterbrief einige seltene und offensichtlich gesuchte Wörter, die dezidiert in den Bereich der literarischen Sprache, nicht der gesprochenen Alltagssprache gehören, z. B. ἀληϑεύω (Gal 4,16)422, μορφόω (Gal 4,19)423, ῥήγνυμι (Gal 4,27 [LXX-Zitat])424 und ἀπεκδέχομαι (Gal 5,5)425. 414 Neben des normalisierten Adverbs εὐϑέως blieben aber die klassischen Formen εὐϑύς/ εὐϑύ in nachklassischer Zeit sogar in der Alltagssprache in Verwendung, wie etliche Belege in den Papyrustexten zeigen; vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 613. 415 Vgl. auch BDR § 93. 416 Vgl. BDR § 214; Moulton/Turner, Grammar 3, 277 und 278f.; Mayser, Gramm.Pap. II/2, 539. 417 Dazu BDR § 414,1; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1670. 418 Vgl. BDR § 78,1. 419 Vgl. BDR § 76,1. 420 Im Neugriechischen gänzlich zu medialen Formen übergegangen; vgl. BDR § 98 mit Anm. 1; Schwyzer, Gr. 1, 678. 421 Dazu BDR § 133,1. 422 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 70; Liddell/Scott, Lex. 63f. In der LXX ist das Verb nur fünfmal belegt; vgl. Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 26. 423 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1069; Liddell/Scott, Lex. 1147. 424 Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1471; Liddell/Scott, Lex. 1508; Lust/Eynikel/Hauspie, Lex. LXX 542. 425 Das Verb findet sich auch sonst bei Paulus (Röm 8,19.23.25; 1 Kor 1,7; Phil 3,20) und in der ntl. Briefliteratur (Hebr 9,28; 1 Petr 3,20). Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 166; Liddell/ Scott, Lex. 184 mit Suppl. 41.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Ungewöhnlich ist auch ὀρϑοποδέω (Gal 2,14; ntl. Hapaxleg.).426 Die Nähe zur literarischen Sprache bzw. das Bemühen um einen gepflegten Stil zeigt sich auch in Gal 1,10, wo Paulus in der irrealen Periode ganz nach klassischem Usus im Nachsatz die Partikel ἄν setzt, obwohl dies in der zeitgenössischen Sprache nicht mehr obligatorisch und deshalb selten ist (so auch in Gal 3,21; anders jedoch in Gal 4,15).427 Literarischen Charakter hat auch der Gebrauch eines Imperfectum de conatu in Gal 1,23 (εὐαγγελίζεται τὴν πίστιν ἥν ποτε ἐπόρϑει).428 Von literarischer Sorgfalt und Überlegung zeugt auch die differenzierte Konstruktion in Gal 2,2 (vgl. auch Gal 4,11); Paulus unterscheidet hier in dem mit μή eingeleiteten Nebensatz, der eine Befürchtung oder Sorge ausdrückt, ganz nach klassischem Usus durch den Gebrauch der Modi zwischen dem, was in Zukunft eintreten könnte (im Konjunktiv Präsens), und dem, was bereits eingetreten ist (im Indikativ Aorist).429 Besonders auffällig ist die überlegte und sorgfältige stilistische Gestaltung der Bittformel (petition formula) in Gal 4,12; denn zum einen verwendet Paulus bei οὐδέν με ἠδικήσατε den im nachklassischen Griechisch seltenen Akkusativ des Inhalts (auch in Gal 4,1; 5,2)430 und zum anderen setzt er bei δέομαι ὑμῶν wie im klassischen Griechisch einen bloßen seperativen Genitiv statt der nachklassischen Umschreibung mit ἀπό oder ἐκ431. Klassisch ist auch der Gebrauch des in der gesprochenen und literarischen Koine gleichermaßen seltenen Optativs zum Ausdruck des erfüllbaren Wunsches bei ἐμοὶ δὲ μὴ γένοιτο καυχᾶσϑαι κτλ. in Gal 6,14 (nachklassisch dafür meist die Umschreibung mit ἐβουλόμην oder ἤϑελον mit Infinitiv).432 Auch bei τοῦ λοιποῦ in Gal 6,17 handelt es sich um eine klassische Formulierung.433 Zusammenfassend lässt sich über Sprache und Stil des Galaterbriefes sagen, dass zwar die Nähe zur gesprochenen Sprache des Alltags unverkennbar ist, zugleich aber auch ein gewisses Bemühen um einen gepflegten Stil. Insofern erfüllt Paulus in seinem Brief an die Galater durchaus die Forderung der antiken Brieftheorie, dass Sprache und Stil des Briefes sich am mündlichen Gespräch orientieren, gleichzeitig aber eine im Vergleich mit dem mündlichen Gespräch größere Sorgfalt an den Tag legen sollen. Trotz etlicher Fachtermini aus dem Bereich des Rechts, der Geschäftssprache, aber auch der Philosophie lässt sich die Sprache des Galaterbriefes – ähnlich wie beim Philemonbrief 426

Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1175; Liddell/Scott, Lex. 1249 mit Suppl. 230. Dazu BDR § 360,1. 428 Vgl. BDR § 326. 429 Näheres bei BDR § 370, mit Anm. 2 und 4; Schwyzer, Grammatik 2, 674ff.; Kühner/ Gerth, Grammatik 1, 224; 2, 390ff. 430 Vgl. BDR § 156; im Neuen Testament finden sich dafür nur wenige Belege. 431 Vgl. BDR § 180, bes. Nr. 4 zu δεῖσϑαι; bloßer seperativer Genitiv auch in 2 Kor 8,4; Mt 9,38; öfter im Lukasevangelium. 432 Dazu BDR § 384 mit § 359,2. 433 Vgl. BDR § 186,4. 427

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5. Der Brief an die Galater

(vgl. S. 136) – als eine gehobene bzw. gebildete Umgangssprache qualifizieren, die allerdings in nicht unerheblichem Maße mit Elementen einer jüdischchristlichen »Gruppensprache« (Soziolekt) durchsetzt ist. Ausgehend von dieser sprachlich-stilistischen Qualifizierung ist Vorsicht geboten, bei der Beurteilung der Anakoluthe in Gal 2,4f. und 2,6, die traditionell meist als Kennzeichen einer stilistischen Nachlässigkeit bzw. Ausdruck von unkontrollierter Spontanität und Emotionalität des Briefschreibers interpretiert werden.434 Sie sind wohl weniger die unbeabsichtigte Folge von Gefühlsausbrüchen des Paulus beim Diktat des Briefes als absichtsvolle Gestaltungselemente, die dem intendierten Gesprächsstil des Briefes geschuldet sind und zugleich die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers auf die mit ihnen verbundenen inhaltlichen Aussagen lenken sollen. 5.2.4 Brieftypen und Briefsituation A. Zuordnung zum τύπος ἀπολογητικός: Bereits Hans Dieter Betz (1974/75) hatte versucht den Galaterbrief in eine Tradition des antiken apologetischen Briefes einzuordnen, deren Existenz sich spätestens mit Platons 7. Brief literarisch fassen lasse (vgl. S. 195). Obwohl seiner Qualifizierung des Galaterbriefes als apologetischer Brief vereinzelt widersprochen und die Annahme einer Tradition des apologetischen Briefes in der Antike problematisiert wurde, dominierte beides doch – in Verbindung mit der Zuordnung des Galaterbriefes zur Gerichts- oder Verteidigungsrede – die weitere Forschung.435 Merkwürdigerweise jedoch zog erst Dieter Kremendahl (2000) die τύποι ἐπιστολικοί des Ps.Demetrios heran, um die von Hans Dieter Betz formulierten Thesen zur Gattung des Galaterbriefes zu untermauern und zu präzisieren (vgl. S. 198).436 Im hier genannten τύπος ἀπολογητικός (Nr. 18) sieht er die Rechtfertigung für die von Hans Dieter Betz postulierte Existenz einer Gattung des antiken apologetischen Briefes bzw. Verteidigungsbriefes. Für diesen Brieftyp bietet das 434 Zum Anakoluth BDR § 468,2 (mit Anm. 2 zu Gal 2,4f.); der Anakoluth hier allerdings primär als Zeichen der mangelnden Sorgfalt in der Stilisierung gesehen. Genau besehen ist der Anakoluth in literarischen Texten jedoch ein Element, das den Eindruck von Mündlichkeit erwecken soll. Vgl. Landfester, Stilistik 137f.; Schwyzer, Grammatik 2, 704f.; Kühner/Gerth, Grammatik 2, 588–591. Insofern passt der Anakoluth in den gepflegten Briefstil, der Einfachheit ausdrücken und der Mündlichkeit nahe kommen soll. 435 Kritisch äußerten sich vor allem Meeks und Aune in ihren Rezensionen zum Kommentar von Betz; dazu bereits S. 195, Anm. 94. Zu den Argumenten, die gegen die von Betz vorgeschlagenen Bestimmung des Galaterbriefes als apologetischen Brief vorgebrachten werden, vgl. auch Kremendahl, Botschaft 125f. 436 Vgl. Kremendahl, Botschaft 127f. Die Tatsache, dass Hans Dieter Betz den Galaterbrief nicht mit dem τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios in Verbindung bringt, überrascht umso mehr, als er bereits einige Jahre zuvor auf diesen Typos zurückgegriffen hat, um die Einordnung des sog. »Vierkapitelbriefes« 2 Kor 10–13 als briefliche Apologie zu rechtfertigen; vgl. Betz, Sokratische Tradition 40f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Handbuch des Ps.-Demetrios folgende Definition mit illustrierendem »Mustertext« (das jüngere Handbuch des Ps.-Proklos/Libanios περὶ ἐπιστολιμαίου χαρακτῆρος nennt diesen Brieftyp überraschenderweise nicht): [Definition] ἀπολογητικὸς δέ ἐστιν ὁ πρὸς τὰ κατηγορούμενα τοὺς ἐναντίους λόγους μετ’ ἀποδείξεως εἰσφέρων. οἷον· [Briefmuster] καλῶς ἐποίησεν ἡ τύχη μεγάλα μοι πρὸς τὴν ἀπόδειξιν περιποιήσασα. κατὰ γὰρ οὓς χρόνους φασὶ τοῦτο πεποιηκέναι με, καταπλεύσας ἤμην εἰς Ἀλεξάνδρειαν, ὥστε οὔτε συνέβη μοι ἰδεῖν οὔτε συντυχεῖν τὸν περὶ οὗ κατηγοροῦμαι. ἄλογον δὲ καὶ τὸ μηδεμιᾶς γενομένης μοι πρὸς σὲ διαφορᾶς κατηγορεῖν σου τοῦ μηδὲν ἀδικοῦντος. ἀλλὰ φαίνονται οἱ διαβαλόντες αὐτοὶ πεπραχότες τι ἄτοπον καὶ ὑποψίαν ἔχοντες μή τί σοι περὶ αὐτῶν γράψω, προδιαβεβλήκασιν ἐμέ. σὺ δὲ εἰ μὲν κεναῖς φάσεσι πεπίστευκας, εἰπέ· εἰ δὲ διαμένεις οἷον δεῖ πρὸς ἐμέ, παραγενηϑέντος μου μαϑήσῃ πάντα. καὶ γὰρ εἰ μὲν κατ᾽ ἄλλων πρὸς σὲ πώποτε εἴρηκα, πιστὸν ἦν ὅτι καὶ κατὰ σοῦ πρὸς ἑτέρους. προσδέχου με οὖν καὶ πάντα πρὸς ἔλεγχον ἐλεύσεται, ἵνα σὺ μὲν γνῷς ὡς καλῶς με κέκρικας φίλον, ἐγὼ δὲ σοῦ πεῖραν ἔργῳ λάβω. σχεδὸν γὰρ οἱ διαβαλόντες ἡμᾶς μᾶλλον ἀλλήλοις προσάξουσιν καὶ ἑαυτοὺς ἀποπνίξουσιν.437

Nach Dieter Kremendahl entspricht der Galaterbrief dem »Mustertext« des τύπος ἀπολογητικός in sieben Punkten:438 1. Die Briefsituation lässt sich als eine Dreierkonstellation beschreiben, d. h. der Absender wurde bei den Adressaten durch einen Dritten verleumdet bzw. angeklagt (Paulus bei den Galatern durch die konkurrierenden Missionare)439; deshalb schreibt er einen Brief, um sich zu rechtfertigen bzw. zu verteidigen. — 2. Der Absender referiert in seinem Brief die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe nur mit sehr vagen Formulierungen (Paulus verschweigt die Namen seiner »Gegner« und die konkreten Anklagepunkte). — 3. Um die Anschuldigungen zu entkräften, gibt der Absender eine alternative Schilderung und Deutung des fraglichen Sachverhalts (d. h. Gal 1,13 – 2,21). — 4. Die Sachargumentation wird durch den Aufweis der eigenen charakterlichen Integrität des Absenders ergänzt (ebenfalls vor allem in Gal 1–2). — 5. Der Brief bedient sich der Topik des Freundschaftsbriefes (besonders in Gal 4,8–20). — 6. Als ergänzende Verteidigungsstrategie integriert der Absender einen Gegenangriff auf seine Ankläger (vgl. Gal 1,7–9; 3,1; 4,17). — 7. Der Absender formuliert den Wunsch nach räumlicher Gegen437 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 40 [Ps.-Demetrios 18]; dazu auch Stowers, Letter Writing 167–170. Zur Problematik der Überlieferung und der Textkritik beim Mustertext dieses Brieftyps vgl. Kremendahl, Botschaft 127, Anm. 5. 438 Ausführlich Kremendahl, Botschaft 128–130. Kritische Anmerkungen dazu bei Classen, Rhetorische Theorie 163f. 439 Dass Paulus von den konkurrierenden Missionaren verleumdet wurde, lässt der Brief jedoch höchstens in Gal 5,11 erkennen; Gegenstand der »Verleumdung« wäre gewesen, dass er andernorts die Beschneidung predige. Gemeinhin versteht man die autobiographischen Aussagen in Gal 1–2 als Widerlegung anders lautender Darstellungen über das Leben und Wirken des Paulus, die möglicherweise von den Konkurrenten in Galatien verbreitet wurden. Näheres zur Problematik einer apologetischen Deutung der Autobiographie in Gal 1–2 auf S. 319f.

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wart beim Adressaten, um so von Angesicht zu Angesicht die Anklage leichter widerlegen zu können (vgl. Gal 4,20)440. Da Dieter Kremendahl diese sieben Übereinstimmungen als jene »strukturellen« Merkmale bestimmt, die für den Typos und damit auch für die Gattung des antiken apologetischen Briefes bzw. Verteidigungsbriefes konstitutiv oder doch zumindest charakteristisch sind, müssten sie sich so auch in anderen antiken Briefen nachweisen lassen, die man gemeinhin dieser Briefgattung zugehörig erachtet.441 Mit anderen Worten: Auch diese Briefe müssten »strukturell« in den genannten sieben Punkten mit dem Galaterbrief bzw. dem τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios vergleichbar sein.442 Als apologetischer Brief sowie als Anfang und Ideal der Gattung gilt gemeinhin Platons 7. Brief, dessen Echtheit und damit auch Alter jedoch nicht restlos gesichert ist (zur Frage der Authentizität des Briefes bereits S. 22).443 Der Brief ist an die Anhänger des Dion in Syrakus adressiert, der beim missglückten Versuch eines Staatsstreiches ermordet worden war (354 v. Chr.); sie hatten in dieser Situation von dem berühmten Philosophen Ratschläge erbeten, da dieser nicht nur selbst mit Dion befreundet, sondern durch seine frühere politische Tätigkeit auf Sizilien auch persönlich in die Geschehnisse involviert war.444 In dieser Situation ist oder gibt sich der Brief Platons auf weite Strecken als eine defensive Darstellung der Biographie seines Absenders und damit dessen eigener Rolle bei den Vorgängen in Syrakus. Unter die autobiographischen Aussagen des Briefes mischen sich aber immer wieder lehrhaftermahnende Passagen. Dennoch erweckt der Brief in seiner Gesamtheit beim Leser den Eindruck, in erster Linie eine apologia pro vita sua aus der Feder Platons zu sein, die über die aktuellen Ereignisse um Dion in Syrakus hinausgeht und sich nicht nur an die in der adscriptio genannten sizilischen Adressaten richtet, sondern auf ein breites Lesepublikum zielt (damit taucht im Falle der Authentizität des Briefes die Frage auf, ob bereits Platon selbst mit einer »Publikation« des Briefes rechnete).445 440 In Gal 4,20 wird jedoch nicht gesagt, dass Paulus bei den Adressaten anwesend sein will, um sich besser verteidigen oder seine Konkurrenten widerlegen zu können. 441 Aus Kremendahl, Botschaft 131, geht explizit hervor, dass er in den aus dem Musterbrief des Ps.-Demetrios erschlossenen sieben Charakteristika die Gattungskennzeichen und damit das Strukturmuster des antiken »apologetischer Brief« sieht. 442 Kremendahl lässt in seinen Ausführungen offen, welche der sieben Merkmale für die Gattung »apologetischer Brief« obligatorisch und welche fakultativ sind, oder ob eventuell alle sieben gegeben sein müssen. 443 Das Innovative in der Verwendung der Briefform in den Platonbriefen (unabhängig von der Frage nach ihrer Authentizität) betont auch Muir, Life 118. Text bei Hercher, Epistolographi 502–523 [Platon Nr. VII] und OCT. 444 Näheres zum Hintergrund von Platons 7. Brief bei Muir, Life 118–123; Lesky, Geschichte 570f.; Klauck, Ancient Letters 120f.; ders., Briefliteratur 103f. 445 Dazu Muir, Life 118: »… and, though a central feature of his philosophy is expanded in one section, the author is mainly concerned to show how his sincere efforts and those of Dion

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Der Brief – authentisch oder nicht – ist zweifelsohne als eine Art Rechenschaftsbericht zu lesen, der die durchaus problematische und angreifbare Rolle des Philosophen Platon in den politischen Vorgängen in Syrakus erklären und ihn vor möglichen Angriffen und Vorwürfen schützen sollte.446 Die von Dieter Kremendahl genannten sieben Charakteristika des apologetischen Brieftyps jedoch lassen sich in Platons siebtem Brief nicht aufweisen. Aus einer – allerdings nur sehr vagen – Formulierung des Briefes kann man möglicherweise herauslesen, dass der Brief gegen andersartige Darstellungen bzw. sogar Unterstellungen von Gegnern Platons gerichtet ist (vgl. 328c; evtl. auch 352a); dabei handelt es sich aber offenbar eher um die präventive Vorwegnahme möglicher Kritik, die im Brief inhaltlich allgemein und unbestimmt bleibt, als um die Reaktion auf tatsächlich vorgebrachte Angriffe. Damit erfüllt Platons siebter Brief immerhin das nach Dieter Kremendahl für den τύπος ἀπολογητικός wesentliche Kennzeichen, dass die tatsächlich bereits vorgebrachten oder in der Zukunft erwarteten Vorwürfe und Anklagen der Gegner nicht präzise formuliert werden. Die damit verbundene Dreierkonstellation (der Absender wurde bei den Adressaten durch einen Dritten angeklagt) aber liegt Platons siebtem Brief nicht zugrunde; denn das Forum, vor dem sich Platon mit dem Brief »rechtfertigen« will, sind offensichtlich nicht die in der adscriptio genannten Adressaten, sondern eine unbestimmte und allgemeine Öffentlichkeit.447 Ob man die breite autobiographische Erzählung des Briefes als alternative Schilderung des durch die Angriffe von Gegnern strittigen Sachverhalts verstehen muss, lässt sich mangels klarer Hinweise dazu im Text bestenfalls vermuten, auch wenn sie zweifelsohne Elemente enthält, die die moralische Integrität des Absenders betonen (ἦϑος-Konstruktion) und dadurch die Sachargumentation ergänzen sollen. Die (konventionelle) Topik des Freundschaftsbriefes mag vereinzelt in diesem Brief präsent sein, ist aber zumindest nicht dominant. Ein Wunsch des Absenders Platon nach räumlicher Gegenwart bei den Adressaten seines Briefes lässt sich jedenfalls nicht erkennen. Anders liegen die Dinge beim 2. Brief des Demosthenes, der möglicherweise ein authentisches Dokument aus der Hand des athenischen Rhetors ist (vgl. were thwarted by the capriciousness of a tyrant who had been canny enough to lead Plato and Dion to belive that he might be ‘converted’ to their way of thinking«. Vgl. auch Erler, Autobiographie 80f.; Lesky, Geschichte 570. 446 Dem autobiographischen Rechenschaftsbericht ist der eigentliche Briefanlass, die Bitte der Anhänger Dions um politische Ratschläge für ihre schwierige Situation, deutlich nachgeordnet. Die Antwort auf ihre Anfrage nimmt in dem überaus langen Brief einen verschwindend kleinen Abschnitt ein (334c–d), der die Anhänger Dions inhaltlich wohl kaum befriedigen konnte; vgl. Muir, Life 121. 447 Dass der Brief auf ein breiteres Lesepublikum zielt, zeigt sich nach Muir, Life 118, in der Formulierung mit der Platon die autobiographischen Ausführungen einleitet: οὐκ ἀπάξιον ἀκοῦσαι νέῳ καὶ μὴ νέῳ, πειράσομαι δὲ ἐξ ἀρχῆς αὐτὴν ἐγὼ πρὸς ὑμᾶς διεξελϑεῖν· ἔχει γὰρ καιρὸν τὰ νῦν (324a); vgl. auch ebd. 123.

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5. Der Brief an die Galater

auch S. 21). Dieser Brief ist für Dieter Kremendahl nicht nur ein Beweis dafür, dass der τύπος ἀπολογητικός aus der antiken Briefpraxis erwachsen ist, sondern zugleich in Form und Inhalt eine eindeutige Parallele zum Galaterbrief.448 Der Brief ist ein formelles Gesuch, das Demosthenes 323 v. Chr. aus der Verbannung an den Rat seiner Vaterstadt Athen schreibt, um bei ihm die Erlaubnis zur Heimkehr zu erwirken.449 Da Demosthenes mit seinem Brief versucht, vor dem Rat der Athener die Anklagen und Anschuldigungen Dritter zu entkräften (epist. 2,26: τοῖς ἐμοὶ προσκρούουσιν und ἐπηρεάζειν ἐγχειρῶσιν), ergibt sich jene Dreierkonstellation, die Dieter Kremendahl ausgehend vom »Mustertext« des τύπος ἀπολγητικός bei Ps.-Demetrios als charakteristisch für den apologetischen Brief erachtet. Der Inhalt der Anschuldigungen bleibt wohl auch deshalb weitgehend unpräzise, weil sie bei den Adressaten ohnehin als bekannt vorausgesetzt werden können.450 Die eigentliche Verteidigung erfolgt nicht durch Sachargumente, sondern durch autobiographische Aussagen, die das uneigennützige Leben des Demosthenes im Dienste des Wohlergehens seiner Vaterstadt Athen herausstellen (ἦϑος-Konstruktion).451 Da es sich um ein offizielles Schreiben handelt, scheint es an sich nicht verwunderlich, dass die Topik des Freundschaftsbriefes, wie sie sich im »Mustertext« des Typos findet, im Brief des Demosthenes fehlt. 448

Ausführlich dazu Kremendahl, Botschaft 136–140, der davon ausgeht, dass der 2. Brief zweifelsohne ein authentischer Brief des Demosthenes ist. »Freilich darf«, wie Kremendahl betont, »diese Parallelisierung nicht überzogen werden, da jeder apologetische Brief ja auf seine besondere Situation hin zugeschnitten ist und insofern nur eine mögliche Form der Verteidigung darstellt« (ebd. 136). Griechischer Text des Briefes ebd. 313–317; Hercher, Epistolographi 221–225 [Demosthenes Nr. II]. Kremendahl betont zudem, dass der 2. Brief des Demosthenes in drei Punkten eine gattungstypische Parallel zum Galaterbrief darstelle, nämlich »bei der Marginalisierung der konkreten causa zugunsten einer umfassenden Verteidigung des jeweiligen Lebenswerkes, bei der selektiven und argumentativen Ausrichtung der Autobiographie und bei dem ›Nachwort‹ an die Gegner« (a. a. O. 140). Dabei ist m. E. allerdings mit Recht zu fragen, ob man beim Galaterbrief tatsächlich davon sprechen kann, dass Paulus die »konkrete causa« zugunsten einer Verteidigung seines Lebenswerkes marginalisiert; beides ist für Paulus nicht zu trennen, weil beides in der »Wahrheit des Evangeliums« konvergiert, für die Paulus, wie er es im autobiographischen Passus illustriert, immer bedingungslos eingetreten ist und für die er auch jetzt bei den Galatern kämpfen will. Ziel des Paulus ist es, um der »Wahrheit des Evangeliums« willen mit seinem Brief die Galater von ihrer Absicht abzubringen, sich beschneiden zu lassen und damit die volle Gesetzesobservanz zu übernehmen. Insofern ist und bleibt der Galaterbrief auf die konkrete Situation im Leben der Briefpartner bezogen, aus der heraus und für die er geschrieben wurde. 449 Muir, Life 131, nennt den Brief »a speech in the guise of a letter«, da Demosthenes offensichtlich davon ausgehe, dass der Brief laut in der Versammlung verlesen wird und deshalb bewusst die formale Gestaltung des Textes nach den Prinzipien einer Rede wähle; vgl. auch ebd. 129. Hier auch Näheres zum historischen Hintergrund und zur Briefsituation; dazu auch Kremendahl, Botschaft 133f. 450 Dazu Kremendahl, Botschaft 136; vgl. auch Muir, Life 132. 451 Vgl. Kremendahl, Botschaft 137f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

277

Am 2. Brief des Demosthenes zeigt sich jedoch eine grundsätzliche Problematik derartiger apologetischer Briefe, wie sie sich in den überlieferten Briefsammlungen erhalten haben. Denn der Brief ist nur vor der Hand eine Apologie des Demosthenes. Tatsächlich handelt es sich um den überaus geschickten Versuch einer Manipulation der Leser durch eine gezielte adressaten-orientierte Selbstdarstellung, die in der Form apologetisch anmutender autobiographischer Aussagen wirkungsvoll das ἦϑος des Absenders und damit seine moralische Integrität konstruieren und präsentieren soll, um sie seinem Anliegen einer Rückrufung aus dem Exil gewogen zu machen (vgl. dazu auch S. 107).452 Dies gilt auch für die autobiographischen Aussage in den anderen Briefen des Demosthenes, die aus dem Exil an den Rat der Athener geschrieben sind (bzw. geschrieben sein wollen).453 Ähnliches lässt sich für die zumindest teilweise authentischen Briefe des Isokrates mit ihren defensiven autobiographischen Angaben sagen (vgl. auch S. 21); die Verteidigung zielt hier aber nicht auf Anschuldigungen wegen konkreter Taten, sondern sie dient der Darstellung und Rehabilitation der national-patriotischen Gesinnung des Isokrates, der Dionysios I. von Syrakus und Philipp von Makedonien für sein Projekt eines Krieges gegen die Perser gewinnen will.454 Insofern sind letztere keine Apologien im eigentlichen Sinn. Die Verwendung des Typos des apologetischen Briefes zur Zeit des Paulus könnte der pseudepigraphe 5. Brief des Euripides (vgl. S. 27) belegen, der vorgibt, nach der Ankunft des berühmten attischen Tragikers in Makedonien an seinen Vertrauten Kephisophon geschrieben zu sein (um 408 v. Chr.).455 Nach der vorausgesetzten Briefsituation wurde »Euripides« von ihm brieflich informiert, dass man in Athen wegen seiner Auswanderung an den Hof des Makedonenkönigs Archelaos heftige Vorwürfe gegen ihn erhob (Geldgier, Geltungssucht etc.).456 Angesichts dieser Vorwürfe bemüht sich »Euripides« in seinem 452

Vgl. Muir, Life 131. Muir, Life 129, zur Funktion der Briefe des Demosthenes: »The letters have two characteristics: first, they show a man who has enjoyed power and influence trying desparately to hang on to a part in the conduct of affairs from a considerable distance, and second, they show a resentful exile losing no opportunity for pressing the case of his return.« Ähnlich bei Probst, Paulus 77–83. 454 Zu den Briefen des Isokrates merkt Muir, Life 124, an: »… here the focus shifts markedly from defensive biography and philosophical exposition to the obsessive advocacy of a nationalist conviction allied to not a little personal vanity«. 455 Text mit englischer Übersetzung bei Costa, Fictional Letters 84–89; Kommentar ebd. 171–174; deutsche Übersetzung (von Gößwein) abgedruckt bei Kremendahl, Botschaft 311f.; griechischer Text auch bei Hercher, Epistolographi 277–279 [Euripides Nr. V]. 456 Dazu Kremendahl, Botschaft 130f. Da Kremendahl die nur vage Formulierung der Anklage als wesentliches Kennzeichen des apologetischen Briefes bestimmt (um so die Zuordnung des Galaterbriefes zu diesem Brieftyp zu rechtfertigen), muss er erklären, warum der fünfte Brief des Euripides (im Unterschied zum Mustertext des Ps.-Demetrios und zum Galaterbrief) eine auffallend detaillierte Schilderung der Anklage aufweist. Er erklärt dies mit dem 453

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5. Der Brief an die Galater

Brief um eine Rechtfertigung für seine Entscheidung; dabei verbindet der Absender »Euripides« die Sachargumentation mit dem Rekurs auf seinen eigenen untadeligen Charakter. Insgesamt jedoch unterscheidet sich der 5. Brief des Euripides signifikant vom Briefmuster des τύπος ἀπολογητικός im Handbuch des Ps.-Demetrios. Es fehlt vor allem die Dreierkonstellation, d. h. es geht nicht darum, dass die ehemals gute Relation zwischen den Briefpartnern durch Anschuldigungen eines Dritten gestört wurde. Deshalb ist der Brief – anders als der 2. Brief des Demosthenes – auch keine Verteidigung gegenüber seinem/ seinen Adressaten; im Kontext der fiktiven Briefsituation muss man den Brief vielmehr so verstehen, dass »Euripides« seinen Adressaten mit Argumenten versorgen will, mit denen dieser ihn gegen von den Athenern bereits erhobene oder in Zukunft mögliche Angriffe verteidigen kann (tatsächlich verdankt sich der Brief natürlich dem Interesse der Nachwelt an der Biographie des bedeutenden attischen Tragikers; zugleich soll er das auch für seine Verehrer anstößige Faktum seiner Auswanderung an den Hof der Makedonen erklären und rechtfertigen).457 B. Kritische Anmerkungen: Der Befund scheint merkwürdig. Bei den gemeinhin als apologetisch qualifizierten Briefen gibt es – vielleicht abgesehen vom 2. Brief des Demosthenes – kaum strukturelle Berührungen mit dem τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios und dem Galaterbrief, zumindest wenn man dem Vergleich jene sieben Merkmale zugrundelegt, die nach Dieter Kremendahl für die Struktur und den Inhalt des apologetischen Briefes oder Verteidigungsbriefes kennzeichnend sind. Dennoch erlaubt der Befund weder die Folgerung, dass es sich bei den untersuchten Briefen um keine apologetischen Hinweis auf den pseudepigraphen Charakter des Briefes; die genauen Angaben sollen beim Leser den Eindruck von Authentizität erwecken. Dieses Argument ist aber insofern nicht in sich stimmig, da – wenn die unbestimmten Angaben über die vorgebrachte Anklage gattungsspezifisch und typisch für einen echten Verteidigungsbrief sind – ein derartiges Abweichen von den Gattungskonstitutiva erst recht für Leser auffällig sein und Verdacht hinsichtlich der Authentizität wecken müsste. Gegen die Annahme, dass die Schilderung der vorgebrachten Anklage in einem echten Verteidigungsbrief immer vage sei, sei exemplarisch auf einen Brief aus dem Zenonarchiv verwiesen: Der Brief des Panakestor an Zenon enthält als Anhang zwei weitere Briefe, nämlich einen tadelnd-vorwurfsvollen Brief des Apollonios an Panakestor und den Antwortbrief, mit dem sich Panakestor verteidigt (PSI V 502 [257 v. Chr.]; Text mit englischer Übersetzung und Einführung bei White, Light 41–43 [Nr. 18]). Letzterer, der dem apologetischen Brieftyp zumindest nahe steht, bietet eine durchaus genaue Schilderung der erhobenen Vorwürfe, gegen die der Briefschreiber sich ebenso ausführlich verteidigt. Zur (nicht unproblematischen) Verbindung des genannten Briefes mit dem τύπος ἀπολογητικός vgl. auch White, Light 203; er sieht den τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios als zu speziell in der Funktion und zu rhetorisch im Ausdruck und in der Argumentation, als dass man ihn in »Reinform« unter den Papyrusbriefen erwarten dürfte. Vgl. dazu auch Trapp, Letters 277f. 457 Dazu Hose, Literaturgeschichte 193; zudem auch Klauck, Ancient Letters 116; ders., Briefliteratur 101.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Briefe handelt, noch dass der τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur alltäglichen Briefpraxis steht.458 Dieter Kremendahl beachtet nämlich nicht hinreichend den Charakter der »Mustertexte« im Handbuch des Ps.-Demetrios, die nicht als Formulare für das Abfassen von Briefen verstanden werden dürfen; vielmehr sollen die »Mustertexte« illustrieren, welcher Stil und welche Tonlage in einer konkreten Briefsituation im Blick auf die soziale Relation zwischen den Briefpartnern angemessen und zielführend sind (vgl. S. 41). Außerdem ist zu beachten, dass die τύποι ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios als Handreichung für den amtlichen Briefverkehr zwischen Verwaltungsbeamten und nicht als Hilfsmittel für die private Briefkorrespondenz, für ethopoietische Übungen im Rhetorikunterricht oder gar für den Literaturbetrieb geschrieben wurden (vgl. S. 40). Insofern muss man fragen, inwiefern man aus den bei Dieter Kremendahl aufgelisteten inhaltlichen Parallelen zwischen dem τύπος ἀπολογητικός des Ps.-Demetrios und dem Galaterbrief wirklich valide Kriterien für eine Gattungszuweisung gewinnen kann und darf. Auf jeden Fall sind zu den von ihm genannten Kennzeichen zwei grundsätzliche kritische Anmerkungen nötig: 1. Die Verwendung der Topik des Freundschaftsbriefes und die Formulierung des Wunsches nach räumlicher Gegenwart beim Adressaten (die ebenfalls ein Element aus der Topik des Freundschaftsbriefes ist) gehören nach der antiken Brieftheorie zu jedem Brief (vgl. S. 38f. und 42), sind also keine Spezifika, die sich zur Identifizierung und Charakterisierung des apologetischen Briefes eignen. — 2. Die alternative Schilderung und Deutung des Sachverhalts, die Ergänzung der Sachargumentation durch die Darstellung der eigenen charakterlichen Integrität (ἦϑος-Argument) und der Übergang zum Gegenangriff als ergänzende Verteidigungsstrategie gehören allgemein zur rhetorischen Kunst und eignen sich deshalb ebenfalls nicht als Gattungskonstitutiva des apologetischen Briefes. Ihr Vorkommen im Mustertext des τύπος ἀπολογητικός besagt letztlich nur, dass man sich bei der Abfassung eines formellen Verteidigungsbriefes der im Rhetorikunterricht erlernten und eingeübten Argumentationsformen und Techniken bedienen kann und soll.459 — Als eigentliches Charakteristikum des apologetischen Briefes bleibt folglich nur a. die Schilderung bereits erhobener (oder erst erwarteter) Vorwürfe gegen den Absender sowie b. ihre Widerlegung mit b1. Beweismitteln (πίστεις ἄτεχνοι; vgl. S. 152) und b2. rhetorischen Argumenten (πίστεις ἔντεχνοι; vgl. S. 152). Dies entspricht auch den Angaben in der Definition des Brieftyps bei Ps.-Demetrios und der 458

Nach Stowers, Letter Writing 166, haben die auf Papyrus erhaltenen Verteidigungsbriefe, bei denen es sich in der Regel um Eingaben an Behörden handelt, meist die Form von Petitionen; davon zu unterscheiden sind die literarisch überlieferten apologetischen Briefe, die sich mehr oder weniger ausgefeilter rhetorischen Argumentationsstrategien bedienen. 459 In diesem Sinne zum τύπος ἀπολογητικός im Handbuch des Ps.-Demetrios auch, wie bereits angedeutet, Stowers, Letter Writing 166.

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5. Der Brief an die Galater

Struktur des illustrierenden Briefmusters (Text auf S. 273). Der defensive Ton und die Elemente der Selbstrechtfertigung des Absenders allein genügen demnach noch nicht, um einen Brief dem Typos des apologetischen Briefes zuzuordnen.460 Nicht zwingend ist wohl, dass die Formulierung der Anklage allgemein und vage sein muss und dass eine Dreierkonstellation (der Absender wurde von einem Dritten beim Adressaten verklagt) vorliegen muss.461 Dies hieße, das Briefmuster des Ps.-Demetrios zu überinterpretieren.462 Demnach wäre zu prüfen, ob der Galaterbrief im Sinne der hier vorgeschlagenen und gegenüber der Gattungsbeschreibung bei Dieter Kremendahl modifizierten Definition als apologetischer Brief interpretiert werden kann. Die Qualifizierung des Galaterbriefes als apologetischer Brief wird gewöhnlich damit begründet, dass Paulus mit dem langen autobiographischen Passus in Gal 1,10 – 2,21 auf Anklagen bzw. Angriffe der konkurrierenden Missionare auf seine Person, seine Sendung und seine Evangeliumsverkündigung antwortet und diese widerlegen will.463 Diese autobiographischen Aussagen des Paulus könnten in der Tat den Eindruck erwecken, dass sie apologetisch zu verstehen sind. Sie müssten dann aber gegen anders geartete Behauptungen über das Leben und Werk des Paulus gerichtet sein. Im Text des Galaterbriefes aber fehlen eindeutige Hinweise, dass Paulus mit dem autobiographischen Passus in Gal 1,10 – 2,21 verfälschende oder diffamierende Aussagen über sein Leben und seine Sendung widerlegen oder zumindest korrigieren wollte (z. B. Formulierungen der Art »entgegen dem, was andere über mich behaupten …« oder

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Näheres bei Stowers, Letter Writing 167. Dass die Dreierkonstellation und die anderen bei Kremendahl genannten Elemente zwar eine Parallele zwischen dem Mustertext bei Ps.-Demetrios und dem Galaterbrief darstellen mögen, diese aber im Galaterbrief im Unterschied zum Mustertext keineswegs durchgängig zu finden und auch nicht strukturbestimmend sind, hebt m. E. zurecht Classen, Rhetorische Theorie 163f., hervor. Insgesamt hält Classen den Versuch, eine Zuordnung des Galaterbriefes zum τύπος ἀπολγητικός anhand eines Vergleichs mit dem Mustertext des Ps.-Demetrios zu erweisen, für gescheitert. 462 Die Betonung dieser Elemente und die damit verbundene Etablierung des 2. Briefes des Demosthenes als unmittelbaren Parallel- und Vergleichstextes, wie sie sich bei Kremendahl findet, ist natürlich insofern verführerisch, als sie zur Rechtfertigung und Absicherung der Thesen von Betz zum Galaterbrief beiträgt. Der 2. Brief des Demosthenes ist an den Rat der Stadt Athen gerichtet und dient als Ersatz für eine Rede, die dem Verbannten nicht möglich ist. Überträgt man dies auf den Galaterbrief, so scheint zum einen plausibel, dass die Briefsituation in Analogie zu einer Gerichtsverhandlung zu verstehen ist, bei der sich Paulus vor dem Forum der Galater verteidigt und bei diesen eine Entscheidung zu seinen Gunsten erwirken will; zum anderen erklärt die Parallele des Demosthenesbriefes, warum es berechtigt ist, den Galaterbrief als Rede zu verstehen und zu analysieren. 463 Bereits Schlier, Galaterbrief (KEK) 112, qualifizierte Gal 1–2 als ›aktuell apologetisch, nicht historisch biographisch‹. Ähnlich auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 13f. und 62. Ausdrücklich gegen ein apologetisches Verständnis der autobiographischen Aussagen in dem Passus Gal 1,13 – 2,14 jedoch Matera, Galatians (Sacra Pagina) 54f. 461

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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»gewisse Leuten sagen zwar …«).464 Auch lässt sich nicht klar erkennen, welcher Art die Vorwürfe oder Verleumdungen gewesen sein sollten, gegen die Paulus sich im Galaterbrief gegenüber seinen Adressaten verteidigen will.465 Meist nimmt man an, die Apologie des Paulus ziele auf die Betonung und den Nachweis der Eigenständigkeit seiner Sendung und seines Evangeliums; dies schließe die Betonung seiner Unabhängigkeit von den Jerusalemer Autoritäten ein.466 Was aber wären die Vorwürfe, gegen die Paulus sich mit dem Nachweis seiner Unabhängigkeit von Jerusalem verteidigen sollte? Man warf ihm wohl kaum ein zu großes Einvernehmen mit Jerusalem vor. Eher wäre zu erwarten, dass die konkurrierenden judenchristlichen Missionare ihm einen mangelnden Konsens mit der Gemeinde in Jerusalem und den dortigen Autoritäten vorhielten, um dadurch die Legitimität seiner Sendung und Autorität in Zweifel zu ziehen und seine Verkündigung zu desavouieren. Bei einem derartigen Vorwurf aber wäre für Paulus die Betonung von Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zur Verteidigung seiner Autorität und Sendung kaum zielführend.467 Insgesamt jedoch lässt sich aus dem Brief nicht erkennen, dass die konkurrierenden Missionare in Galatien wirklich gezielt gegen die Person und Autorität des Paulus opponierten, sondern wohl im Gegenteil bei den Galatern eher den Eindruck erwecken wollten, ihre Verkündigung stünde mit der des Paulus in vollem Einklang (vgl. S. 192 und 201). Deshalb ist gegenüber einer vorschnellen apologetischen Deutung der autobiographischen Aussagen des Galaterbriefes Vorsicht geboten. Es scheint Paulus nicht um die Zurückweisung von in Galatien gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen oder von falschen Behauptungen über sein bisheriges Leben und Wirken zu gehen; mit den Ausführungen in Gal 1,10 – 2,14(21) zielt Paulus wohl eher auf seine Selbstdarstellung.468 In einer antiken Rede und analog auch 464 Auch die Schwurformel in Gal 1,20 kann nicht in diesem Sinn ausgewertet werden; vgl. dazu bereits die Ausführungen oben auf S. 228f. 465 Allerdings könnte Gal 5,11 möglicherweise einen indirekten Hinweis darauf enthalten, was die konkurrierenden Missionare gegenüber den galatischen Gemeinden über Paulus behaupteten (ἐγὼ δέ, ἀδελφοί, εἰ περιτομὴν ἔτι κηρύσσω, τί ἔτι διώκομαι). Der autobiographische Passus mag also durchaus eine Korrektur der Behauptung sein, Paulus würde jüdisch leben und die Beschneidung predigen. Da sowohl die konkurrierenden Missionare als auch die Galater der Forderung nach Beschneidung und Gesetzesobservanz zustimmten, könnte man diese Richtigstellung des Paulus kaum als eine Verteidigung werten, zumindest nicht vor dem Forum der galatischen Adressaten des Briefes. 466 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 93–97; Kremendahl, Botschaft 116; so außerdem Betz, Galaterbrief 76f. Zur Problematik der Annahme, Paulus verteidige sich in Gal 1–2 gegen den Vorwurf der Abhängigkeit von Jerusalem, um so die Unabhängigkeit seines Evangeliums von Menschen zu beweisen, vgl. auch Lyons, Autobiography 83–91. 467 In diesem Sinne vor allem Lührmann, Galater (ZBK) 33f.; außerdem auch Suhl, Galaterbrief 3094f. 468 Dazu auch Lyons, Autobiography 105–112, der darauf hinweist, dass die antithetischen Aussagen in Gal 1–2 (ähnlich auch in 1 Thess 2,1–12) nicht als Antworten auf tatsächlich vor-

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5. Der Brief an die Galater

im Brief dienen nämlich autobiographische Aussage wie in Gal 1,10 – 2,14(21) zur Konstituierung der moralischen persona des Sprechers bzw. Schreibers (ἦϑος); denn die persönliche Integrität und ein vorbildlicher Charakter schufen für den Sprecher bzw. Schreiber persönliche Glaubwürdigkeit und förderten dadurch die Überzeugungskraft seines eigenen Anliegens bzw. seiner Argumentation (vgl. S. 107).469 Im Galaterbrief geben die Aussagen über sein eigenes Leben Paulus gleichzeitig die Gelegenheit, en passant auch darauf hinzuweisen, dass das, was in Galatien strittig ist, seit der Übereinkunft von Jerusalem und dem Verzicht auf die Beschneidung des Heidenchristen Titus längst autoritativ im Sinne des Paulus entschieden ist. Der autobiographische Passus des Galaterbriefes wird dadurch zum Angriff des Paulus auf seine Konkurrenten, zumal das Referat der Jerusalemer Kompetenzaufteilung in Gal 2,10 (ἡμεῖς εἰς τὰ ἔϑνη, αὐτοὶ δὲ εἰς τὴν περιτομήν) den Vorwurf impliziert, dass die konkurrierenden judenchristlichen Missionare mit ihrer Predigt der Beschneidung bei den heidenchristlichen Galatern die Abmachung gebrochen haben.470 Mit dem Verweis auf die Anerkennung seiner Sendung und seines Evangeliums seitens der Jerusalemer Autoritäten drängt Paulus seine Konkurrenten also gleichsam in die Ecke und stellt sie vor den Galatern bloß. Dies allein spricht noch nicht gegen die Zuordnung des Galaterbriefes zu den apologetischen Briefen; denn, wie auch Dieter Kremendahl betont, ist ein Gegenangriff mitunter die beste Verteidigung.471 Im Blick auf die Anrede der Adressaten mit ὦ ἀνόητοι Γαλάται in Gal 3,1 aber muss man fragen, ob es tatsächlich vorstellbar ist, dass jemand so zu denjenigen spricht, vor denen er sich verteidigen will und auf deren Zustimmung er angewiesen ist. Der unmissverständliche Tadel, der in dieser Anrede steckt, verbinden sich zudem mit einem deutlich spöttischen Ton, wenn Paulus die Galater als Opfer eines feindlichen Schadenzaubers stilisiert (zu τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν vgl. S. 231). Deshalb fällt es schwer, den Galaterbrief als Verteidigungsbrief zu verstehen, auch wenn er als Mischung aus defensiver autobiographischer Erzählung, argumentativer Belehrung und konkreter Handlungsanweisung an apologetisch stilisierte Briefe von gebrachte Angriffe oder Vorwürfe zu verstehen sind, sondern ein typisches Mittel der Selbstdarstellung sind, das sich insbesondere bei kynischen Philosophen findet. Darin folgt er den Ergebnissen bei A. J. Malherbe, “Gentle as a Nurse”. The Cynic Background to I Thess II, in: NT 12 (1970) 203–217. 469 Vgl. Aune, Environment 189f. und 207; Classen, Rhetorische Theorie 164. Auch Kremendahl, Botschaft 148, räumt für den Galaterbrief ein, dass es in den autobiographischen Aussagen der ersten beiden Kapitel um eine »Inszenierung des Ich« des Absenders geht; für ihn aber ist dies allein darin begründet, dass eine derartige Betonung der Person des »Redners« den Gepflogenheiten der Apologie entspricht. 470 Dies gilt umso mehr, falls es in der Landschaft Galatien tatsächlich keine jüdische Synagoge gegeben haben sollte; vgl. dazu S. 177. Entsprechend der Kompetenzaufteilung hätte es demnach keinen Grund für eine judenchristliche Mission in dem Gebiet gegeben. 471 Vgl. Kremendahl, Botschaft 129f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Philosophen erinnern mag.472 Eher dürfte das Urteil von Dieter Lührmann zutreffen, dass der Galaterbrief weniger apologetisch als vielmehr polemisch ist.473 Dies gilt es zu präzisieren und die Möglichkeit einer Zuordnung des Galaterbriefes zu einem der anderen Brieftypen zu prüfen. C. Tadelnd-anklagende Briefe: In Gal 1,6–10 lässt Paulus in wenigen Sätzen die Briefsituation deutlich werden. Die Galater wollen das ihnen von Paulus verkündete Evangelium verraten und sich der Predigt judenchristlicher Missionare anschließen, die von ihnen, anders als Paulus, Beschneidung und Gesetzesobservanz forderten.474 Entsprechend beginnt Paulus seinen Brief in Gal 1,6 mit einer traditionellen Formel, mit der ein Absender gewöhnlich Tadel und Unzufriedenheit mit dem Verhalten seines/seiner Adressaten zum Ausdruck bringt (vgl. S. 223).475 Eine solche Corpuseröffnung passt schwerlich zu einem 472 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 10; einschränkend deshalb auch Schnelle, Einleitung 117f.: Gal 1–2 zeige zwar zweifellos eine apologetische Tendenz, Gal 5,13 – 6,18 jedoch sei als deliberativ und Gal 3,1 – 5,12 als symbuleutisch oder epideiktisch zu werten. 473 Vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 22–24 und 104. 474 Vgl. Classen, Rhetorik 10. 475 So auch Kümmel, Einleitung 256; Radl, Galaterbrief (SKK) 21; Muir, Life 150. Auch Nanos, Irony 50ff., weist ausgehend von Gal 1,6 die Zuordnung des Galaterbriefes zum τύπος ἀπολογητικός zurück; doch sieht er ϑαυμάζω ὅτι nicht als traditionelle Formel, mit der der Absender des Briefes Kritik und Tadel an seinem/seinen Adressaten artikuliert. Er versteht ϑαυμάζω als Ausdruck des Erstaunens, aber dieses Erstaunen sei nicht im eigentlichen Sinn, sondern ironisch zu verstehen. Ausgehend von dieser Deutung von Gal 1,6 kommt er dann zu einer Zuordnung des Galaterbriefes zum τύπος εἰρωνικός (Ps.-Demetrios τύποι ἐπιστολικοί Nr. 20; Ps.-Proklos/Libanios ἐπιστολιμαῖοι χαρακτῆρες Nr. 9 mit 56). Nanos stützt sich für seine These vor allem auf den Anfang des bei Ps.-Proklos/Libanios gegebenen »Mustertextes« (Nr. 56), den er als beinahe schon synonym mit Gal 1,6f. versteht: λίαν ἄγαμαι τὴν σὴν ἐπιείκειαν, ὅτι οὕτω ταχέως μεταβάλλῃ ἀπ’ εὐνομίας εἰς τὸ ἐναντίον, ὀκνῶ γὰρ εἰπεῖν εἰς μοχϑηρίαν. Kritisch ist dazu anzumerken, dass Nanos sich zu sehr durch οὕτω(ς) ταχέως bei der Zuordnung leiten lässt. Aufgrund des konventionellen und formelhafte Gebrauches von ϑαυμάζω ὅτι/πῶς/εἰ in der Corpuseröffnung zur Einführung von Kritik und Tadel (vgl. die Ausführungen oben S. 223) ist sein Vorkommen in Gal 1,6f. allein kein hinreichender Grund, um den Galaterbrief in seiner Gesamtheit als »ironischen Brief« zu qualifizieren, zumal weder Gal 1,6f. noch andere Teile des Briefes die Annahme nahelegen, Paulus würde das Gegenteil von dem meinen, was er expressis verbis sagt. Insofern passt der Galaterbrief nicht zur Definition des τύπος εἰρωνικός, wie sie bei Ps.-Demetrios (ὅταν ἐναντίοις πράγμασιν ἐναντία λέγωμεν) und ähnlich bei Ps.-Proklos/Libanios formuliert und durch die »Mustertexte« illustriert ist. Berechtigt ist die Zuordnung des Galaterbriefes durch Nanos aber zumindest insofern, als der τύπος εἰρωνικός eine weitere »Spielart« des in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.Proklos/Libanios breit ausdifferenzierten tadelnd-beschuldigenden Briefes darstellt (auch wenn er sich nicht darin erschöpft), nämlich eine ironisch in die Form des Lobes gekleidete Zurechtweisung; vgl. dazu Stowers, Letter Writing 86. Entsprechendes aber lässt sich m. E. im Galaterbrief an keiner Stelle nachweisen. Wo Paulus lobt, ist dieses Lob zweifelsfrei echt gemeint (vgl. den philophronetischen Passus Gal 4,12–20). Ähnlich wie Nanos Dahl, Galatians 117–130; die Ironie besteht für ihn darin, dass Paulus Sätze seiner Gegner aufgreift und so ge-

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5. Der Brief an die Galater

apologetischen Brief; denn durch den Gebrauch dieser Formel inszeniert sich Paulus vielmehr als Ankläger seiner Adressaten (obwohl die Formel einen philophronetischen Hintergrund hat; vgl. S. 223). Dem Anliegen eines Verteidigungsbriefes, der die Zustimmung und Zuneigung der Adressaten gewinnen will, wäre auch der Verzicht auf die konventionellen Höflichkeitsfloskeln des kaiserzeitlichen Briefstils wenig dienlich, der sich im Galaterbrief in der altertümlichen, für die Adressaten zweifelsohne hart und unfreundlich klingenden Formulierung der Kundgabeformel im Imperativ zeigt (vgl. S. 248). Dies gilt überhaupt für den mitunter schroff kämpferischen Ton des Briefes (vgl. Gal 1,6–9), der vor scharfen Angriffen (vgl. Gal 3,1) und harter Polemik (vgl. Gal 5,12.15) nicht zurückschreckt.476 Der von Paulus seinen Adressaten gegenüber angeschlagene Ton ist letztlich mehr vorwurfsvoll, warnend und anklagend als verteidigend und passt folglich kaum zu einem apologetischen Brief.477 Wie sehr sich der Galaterbrief in dieser Hinsicht von apologetischen Briefen unterscheidet, zeigt besonders deutlich ein Vergleich mit dem bereits besprochenen 2. Brief des Demosthenes (vgl. S. 276). Der Tonfall des Briefes unterscheidet sich fundamental von dem des Galaterbriefes. Er zielt auf das Mitleid der Adressaten (vgl. bes. epist. 2,13–14 und 20–23) und der Brief endet schließlich im Ton einer Petition (epist. 2,26: ὑμᾶς ἀξιῶ μοι βοηϑεῖν ἅπαντας, καὶ μὴ κυριωτέραν τὴν τούτων ἔχϑραν τῆς παρ’ ὑμῶν χάριτός μοι γενέσϑαι). braucht, dass sie ihr Gegenteil aussagen, sowie im Kontrast von lobender Anrede der Adressaten bei gleichzeitigem explizitem Tadel. Vgl. außerdem Oepke, Galater (ThHK) 47. 476 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 12; ähnlich Pokorný/Heckel, Einleitung 207, die den in höchstem Maße polemischen Charakter des Galaterbriefes hervorheben; auch Vielhauer, Geschichte 112, nennt den Galaterbrief in Inhalt und Ton einen »Kampfbrief«. Muir, Life 152, bezeichnet Gal 3,1 als »attack in vigorous rhetorical stile«. 477 Der im Vergleich mit apologetischen Briefen andere Tonfall des Galaterbriefes lässt sich auch durch einen Blick auf BGU IV 1141 (13 v. Chr.) illustrieren; Text mit Übersetzung und Kommentar bei Olsson, Papyrusbriefe 44–53 [Nr. 9]. Dieser Brief, der nur als Briefentwurf erhalten ist, stammt von einem Freigelassenen, der bei seinem Patron wegen nicht mehr rekonstruierbarer Vorgänge in Misskredit geraten ist. Der Brief soll die Verdächtigungen und Anschuldigungen zerstreuen und dem Absender das Vertrauen seines Herren zurückgewinnen. Auch hier ist der Tonfall aufs Ganze gesehen sehr devot, wenn auch an einzelnen Stellen ein etwas schärferer, vorwurfsvoller Ton angeschlagen wird, der den Adressaten aber nicht zurechtweisen, sondern die empfundene Kränkung und Verletztheit des Absenders zum Ausdruck bringen und die Ernsthaftigkeit seiner Selbstrechtfertigung betonen soll (vgl. γελοῖος εἶ δὲ γράφων κτλ. in Z. 13). Die Zuordnung zum apologetischen Brief scheint insofern gerechtfertigt, als der Absender auf gegen ihn vorgebrachte Anschuldigungen rekurriert und diese durch Argumente und Beweismittel zu widerlegen versucht. Zugleich illustriert der Brief, wie sehr bei der Anwendung und Umsetzung der Brieftypen die Qualität des Ergebnisses von Ausbildung und Begabung des Briefschreibers abhängig ist. Die zahlreichen Korrekturen im Text, der Stil sowie die Mängel in der Anordnung und Darbietung des Stoffes zeigen, dass der Absender nicht über eine sehr weitgehende literarisch-rhetorische Ausbildung und Übung verfügte, obgleich man in Rechnung stellen muss, dass es sich bei dem Text um einen Entwurf und nicht um den fertigen Brief handelt.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Der geradezu unterwürfige Tonfall ist eindeutig der spezifischen Briefsituation geschuldet. Da es sich beim 2. Brief des Demosthenes um eine Apologie und ein Begnadigungsgesuch handelt (vgl. epist. 2,8 und 23), ist die Relation zwischen den Briefpartnern als eindeutig asymmetrisch zu bestimmen. Demosthenes muss anerkennen, dass er sich als Absender des Briefes seinen Adressaten, dem Rat der Athener, gegenüber in einer Position der Inferiorität befindet; der Brief richtet sich also von unten nach oben.478 Es ist zu bedenken, dass die Brieftypen als Kommunikationsmuster für bestimmte Briefsituationen den Stil und den Tonfall eines Briefes so regeln, dass er neben dem konkreten Anlass auch der soziale Relation, in der die Briefpartner zueinander stehen, angemessen ist (vgl. S. 41). Der τύπος ἀπολογητικός setzt voraus, dass der Absender sich dem Adressaten gegenüber in einer Position der Inferiorität befindet und deshalb einen höflichen oder sogar unterwürfigen Ton wählen muss, um seinem Anliegen zu dienen.479 Eine solche Anerkennung der eigenen Inferiorität gegenüber seinen Adressaten lässt Paulus im Galaterbrief nicht erkennen. Vielmehr betont er bereits im Präskript seine Autorität als Apostel und gibt folglich den Galatern unmissverständlich zu verstehen, dass er als Gemeindegründer und -leiter für sich das Recht in Anspruch nimmt, ihnen verbindliche Anweisungen zu geben (zu Gal 1,1 vgl. S. 202 und 214f.). Damit hebt er bereits mit den ersten Worten seines Briefes deutlich auf seinen im sozialen Bezugssystem der christlichen Gemeinschaft gegebenen Vorrang und seine Überlegenheit gegenüber den Galatern ab, die in seiner Berufung und Sendung als Apostel begründet ist. Wie schon das Präskript so bestimmt auch den Rest des Briefes an die Galater »durchweg das Gefälle von dem mit Autorität versehenen Lehrer hin zu den Adressaten des Briefes«480. 478

So auch Kremendahl, Botschaft 133f.; vgl. dazu ebenfalls Muir, Life 131. Die Verschiedenheit des Galaterbriefes von apologetischen Briefen zeigt auch der Vergleich mit dem pseudepigraphen Brief des Chion an den Tyrannen Klearchos (epist. 16), der zugleich mit dem Typos spielt (zu den Chionbriefen vgl. S. 26). Es handelt sich bei diesem Brief um eine Apologie, die den Adressaten bewusst täuschen soll. Chion will den misstrauische Tyrannen von seiner Harmlosigkeit überzeugen, während er gleichzeitig dessen Ermordung plant. Er versichert Klearchos, er brauche ihn nicht zu fürchten; denn sein bisheriges Leben kennzeichne die Abkehr von der Politik und die Hinwendung zur Philosophie. Auch hier ist der apologetische Brief auf eine soziale Relation zwischen den Briefpartnern bezogen, bei der der Absender unter dem Adressaten steht. Text des Briefes mit englischer Übersetzung bei Costa, Fictional Letters 118–123; kurzer Kommentar ebd. 183–186; griechischer Text auch bei Hercher, Epistolographi 202f. [Chion Nr. XVI]; eine englische Übersetzung auch bei Rosenmeyer, Literary Letters 92–95; ausführlich zur Sammlung insgesamt dies., Epistolary Fictions 234–252, zum 16. Brief ebd. 244. 480 Becker, Galater (NTD) 9; zurecht hebt er hervor, dass Paulus diese Autorität all seinen Gemeinden gegenüber in Anspruch nimmt (vgl. ebd. 9f.). Auch Kremendahl, Botschaft 116, räumt dieses Gefälle zwischen den Briefpartnern ein, versucht aber dennoch die Zuordnung des Galaterbriefes zum apologetischen Typ zu rechtfertigen: »Der Galaterbrief ist kein Freund479

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5. Der Brief an die Galater

Auch Gal 1,9, wo Paulus seinen Adressaten autoritativ und warnend Anweisungen in Erinnerung ruft, die er ihnen bereits früher gegeben hat (vgl. S. 224), setzt eine Situation voraus, in der sich ein Oberer mit einem Brief an seine Untergebenen wendet.481 Dazu passt das in Gal 1,6–9 den Adressaten gegenüber unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis des Paulus, nach dem das Evangelium in eben jener Form, in der er es ihnen verkündet hat, der unumstößliche Maßstab der Evangeliumsverkündigung und des christlichen Glaubens ist. Die absolute Normativität, die Paulus seiner Verkündigung beimisst, zeigt sich in der Fluchformel (ἀνάϑεμα) in Gal 1,8f. Damit nimmt Paulus für sich das Recht in Anspruch, im Namen Christ über all jene Strafsanktionen zu verhängen, die nicht mit seiner Predigt übereinstimmen. Diesen autoritativen Anspruch artikuliert er noch einmal in Gal 5,10, indem er mit einem Gerichtswort gegen seine Konkurrenten das göttliche Urteil über sie vorwegnimmt (ὁ δὲ ταράσσων ὑμᾶς βαστάσει τὸ κρίμα, ὅστις ἐὰν ᾖ). Der Autoritätsanspruch des Paulus über die von ihm gegründeten Gemeinden und die Ausübung von Autorität steht auch hinter der Anrede der Adressaten als ἀδελφοί. Sie darf nicht als bloß emotionale und freundschaftliche Anrede missverstanden werden, die auf die Emotionen der Adressaten zielt und so subtil um ihre Zustimmung werben will (dazu bereits S. 255).482 Aufgrund des Tonfalls und der Sprechhaltung des Paulus, der sich im sozialen Kontext der christlichen Gemeinde(n) seinen Adressaten als übergeordnet und überlegen versteht, ist der Galaterbrief mit dem apologetischen Brief bzw. Verteidigungsbrief (τύπος ἀπολογητικός) nicht vereinbar. Will man den Galaterbrief dennoch mit einem der Brieftypen der antiken Handbücher in Zusammenhang bringen, böte sich in verschiedener Hinsicht der anklagende Brief (τύπος κατηγορικός) an, der in Inhalt und Motiven dem apologetischen Brief an sich nicht unähnlich ist, funktional sowie im Tonfall und in der vorausgesetzten sozialen Relation der Briefpartner aber gleichsam das Gegenstück zum τύπος ἀπολογητικός bildet.483 Ps.-Demetrios bietet in seinem epistolographischaftsbrief zwischen gleichrangigen Korrespondenten, sondern ein Brief mit einem großen Hierarchiegefälle zwischen Absender und Empfänger. In ihm tadelt, belehrt und mahnt Paulus als Apostel die von ihm gegründete Gemeinde, wie eine Mutter ihre Kinder mahnt (vgl. 4,19). Doch gerade dieses Weisungs- und Erziehungsrecht des Apostels scheint in dem vordergründigen Konflikt um die Beschneidungsforderung selbst zur Streitfrage geworden zu sein, denn die Gegner hatten mit ihrer Beschneidungsforderung nicht nur das gesetzesfreie paulinische Evangelium in Frage gestellt, sondern auch den paulinischen Apostolat selbst.« Es kann aber keineswegs als sicher gelten, dass die judenchristlichen Missionare in Galatien sich als Gegner des Paulus gerierten und dessen Autorität bestritten (dazu bereits S. 192). 481 Dazu auch White, Introductory Formulae 96. 482 Näheres dazu bei Schmuttermayr, ΑΔΕΛΦΟΙ 41–43. 483 Stowers, Letter Writing 173, kommt allerdings zu dem apodiktischen Urteil, dass es im Neuen Testament weder den apologetischen Brieftyp noch den mit ihm verwandten anklagenden Brieftyp gebe.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

287

schen Handbuch für den τύπος κατηγορικός folgende Definition mit illustrierendem Mustertext: [Definition] κατηγορικὸς δέ ἐστιν ὁ ἐν καταιτιάσει τινῶν κείμενος παρὰ τὸ δέον ἐνηργημένων. οἷον· [Briefmuster] οὐχ ἡδέως μὲν ἔφερον ἀκούων τὰ κατ᾽ ἐμοῦ λεγόμενα, ἦν γὰρ οὐ τῆς ἀξίας ἀγωγῆς, κακῶς δὲ καὶ σὺ τῷ κατ᾽ ἐμοῦ λέγοντι σαυτὸν ἐνεχείρισας καίτοι εἰδὼς αὐτὸν καὶ διάβολον καὶ ψευδολόγον. τὸ καϑόλου δὲ λυπεῖς φίλον ἔχων, ὃν ᾔδεις ἁπάντων ἐχϑρόν, οὐδὲ τοῦτο δοκιμάσας, ὅτι τὸν ἄλλων κατηγοροῦντα πρὸς σὲ καὶ πρὸς ἄλλους εἰκὸς τοῦτο ποιεῖν κατὰ σοῦ. μέμφομαι οὖν ἐκείνῳ μὲν ὅτι ταῦτα πράττει, σοὶ δὲ ὅτι δοκῶν φρονεῖν οὐκ ἔχεις κρίσιν ὑπὲρ φίλων.484

Dieser Mustertext des anklagenden Briefes zeigt eine ähnliche Dreierkonstellation, wie sie sich auch im Briefmuster des apologetischen Briefes findet und die Dieter Kremendahl als eines der typischen Kennzeichen des apologetischen Brieftyps erachtet. Diese Dreierkonstellation passt überraschend gut auf den Galaterbrief:485 Der Brieftyp setzt offenbar voraus, dass zwischen Absender und Adressat ursprünglich ein gutes Einvernehmen bestand (vgl. Gal 4,12– 16.19). Der Absender beschuldigt den Adressaten nun aber, es zugelassen zu haben, dass ein Dritter durch Lügen und Verleumdungen diese Beziehung gestört hat (vgl. Gal 1,7; 3,1; 4,16f.; 5,7.10). Um den Adressaten zum Umdenken zu bewegen, zieht der Absender zum einen die moralische Integrität dieser dritten Person in Zweifel (vgl. Gal 4,17; 6,12f.), zum anderen appelliert er an die Vernunft des Adressaten, indem er ihm Leichtfertigkeit und Unüberlegtheit unterstellt (vgl. Gal 3,1.3). Ganz ähnlich lassen sich Struktur und Inhalt des Briefes 4,7 in der Sammlung der Typenbriefe des Alkiphron (2. Jh. n. Chr.; vgl. S. 13) beschreiben, obwohl es sich um einen fiktiven Kunstbrief handelt, dessen Anklage und Tadel zudem einen anderen Anlass haben.486 Die fiktive Absenderin ist eine Hetäre namens Thaïs, die mit dem Brief ihrem (ehemaligen) »Liebhaber« Euthydemos Vorhaltungen macht, weil er unter dem Einfluss eines Sophisten die Beziehung zu ihr vernachlässigt und lieber philosophische Vorträge besucht. Ihrem Adressaten wirft Thaïs deshalb Unvernunft vor. Zugleich zieht sie die moralische Integrität des Sophisten in Zweifel, indem sie zum einen erklärt, dieser habe ihr schon länger vergeblich Avancen gemacht, und ihm zum anderen unterstellt, er mache sich aus bloßer Profitgier 484 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 38 [Ps.-Demetrios 17]; vgl. auch Stowers, Letter Writing 167. 485 Zur Dreierkonstellation des Galaterbriefes merken Pokorný/Heckel, Einleitung 214, treffend an, dass Paulus mit seinem Brief aus der Ferne um die Galater ringt, die unter dem Einfluss konkurrierender Missionare stehen. 486 Der Text von Alki. epist. 4,7 mit englischer Übersetzung und kommentierenden Anmerkungen bei Costa, Fictional Letters 30–33 und 143–145 (auch in LCL). Der Brief und die vorausgesetzte Situation variieren Motive, die auch sonst in literarischen Bearbeitungen der Hetärenthematik belegt sind; vgl. Lukian. hetai. dial. 10 und Aristain. epist. 2,3.

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5. Der Brief an die Galater

als Lehrer an junge Männer heran. Mit diesen Anschuldigungen kontrastiert die Absenderin ihre eigene Aufrichtigkeit und ihre eigenen Qualitäten als ausgewiesene Erzieherin junger Männer. Wie zuvor zum apologetischen Brief angemerkt, wird man aber auch hier fragen müssen, ob die Dreierkonstellation im Mustertext des Ps.-Demetrios wirklich als konstitutiv für den Typos des anklagenden Briefes gewertet werden kann (vgl. S. 280). Dennoch ist eine Verbindung des Galaterbriefes mit dem τύπος κατηγορικός zumindest insofern gerechtfertigt, als es in diesem Brieftyp nach der Definition bei Ps.-Demetrios um den Vorwurf geht, der Adressat habe durch sein Handeln gegen das verstoßen, wozu er sittlich-moralisch verpflichtet ist (παρὰ τὸ δέον)487. Der Pflichtverstoß, für den Paulus in seinem Brief die Galater anklagt, ist ihr Abfall von der Wahrheit des Evangeliums (vgl. Gal 1,6–9; 2,5; 3,1; 4,9; 5,7f.; 6,17). Eine Parallele mag man auch darin sehen, dass dieser Brieftyp, soweit der Mustertext erkennen lässt, eine gewisse, wenn auch nicht übertriebene Härte im Tonfall erlaubt. Überlegenswert ist auch eine Nähe des Galaterbriefes zu anderen Typen des tadelnden und zurechtweisenden Briefes, die in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios aufgeführt werden, auch wenn für den neuzeitlichen Leser die Differenzierungen mit ihren Nuancen sowie ihr Unterschied zum Typ des anklagenden Briefes nur schwer nachvollziehbar ist.488 Beim τύπος μεμπτικός tadelt der Absender seinen Adressaten, weil er sich ihm gegenüber in seinem Verhalten für eine erwiesene Wohltat undankbar gezeigt hat (vgl. Gal 1,6; 3,1.4; 4,11.19f.; 5,1.8).489 Der Tadel soll den Adressaten zum Umdenken bewegen; zugleich aber betont Ps.-Demetrios in seiner Definition des Brieftyps, dass der Tadel maßvoll erscheinen soll, damit die bestehende Beziehung zwischen den Briefpartnern nicht ernsthaft gestört wird.490 Dies ist 487 Zu παρὰ τὸ δέον (»ordnungswidrig, pflichtwidrig, zu Unrecht«) als Rekurs auf Pflicht und Pflichtverletzung vgl. Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 333, der als Belege P.Stras. I 70,21 (138 n. Chr.); P.Tebt. I 27,2,41 (= WChr. 331; 113 v. Chr.), Syll.2 Suppl. 2,669,54 (1. Jh. n. Chr.) nennt. 488 So merkt auch Stowers, Letter Writing 167, zum τύπος κατηγορικός des Ps.-Demetrios an: »With letters like Demetrius’, however, it becomes difficult to distinguish accusing from blame and accusing would seem to be blame with a forensic style.« Auf die begrenzten Möglichkeit einer Unterscheidung der Typen des mahnend zurechtweisenden Briefes weist auch White, Light 203, hin. 489 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 32 [Ps.-Demetrios Nr. 3] und 68 mit 74 [Ps.-Proklos/Libanios Nr. 6 mit Nr. 53]. Nach Stowers, Letter Writing 86f., stimmen die Handbücher des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios in den Charakteristika des τύπος μεμπτικός im Wesentlichen überein. 490 Vgl. Stowers, Letter Writing 87. Zur Illustration sei auf einen Brief des L. Bellenus Gemellus an seinen Verwalter Epagathos verwiesen (P.Fay. 112 [99 n. Chr.]); Text mit englischer Übersetzung und kommentierender Einführung bei White, Light 150f. [Nr. 96]; außerdem Olsson, Papyrusbriefe 159–162 [Nr. 54]. Die Zuordnung des Briefes zum τύπος μεμπτικός legt die Formulierung διὼ μένφομαί σαι μεγάλως nahe [die von der üblichen Orthographie abweichende Schreibung beibehalten]. Im Ton ist der Brief deutlich, er enthält sich aber aller

5.2 Analyse und Kontextualisierung

289

wohl als Hinweis auf den zu wählenden Tonfall des Briefes zu verstehen. Der mitunter harsche Ton bringt den Galaterbrief deshalb näher an den τύπος ὀνειδιστικός (z. B. Gal 1,8f.; 3,1–5; 4,21; 5,2–4).491 Auch dieser Brieftyp soll nach den Definitionen in den Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios die Undankbarkeit des Adressaten für früher erwiesene Wohltaten anprangern. Er erlaubt dem Absender, wie der Mustertext erkennen lässt, einen eindeutig schärferen Ton, vor allem im Blick auf den Charakter des Adressaten.492 Ein ähnlich harter Ton gehört offenbar zum τύπος ἐπιτιμητικός.493 Wie die Definitionen und Mustertexte bei Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios zeigen, zielt dieser Brieftyp ebenfalls auf eine scharfe Kritik am Adressaten; zugleich aber soll er an das Schamgefühl des Adressaten appellieren und ihn ausdrücklich zu einer grundlegenden Verhaltensänderung auffordern (vgl. Gal 1,6–9; 3,1–5; 4,8–10).494 Die ausführlichen ethischen Mahnungen in Gal 5,13 – 6,6 erinnern an den mahnenden Brieftyp (παραινητική), den Ps.-Proklos/Libanios als ersten in seinem Handbuch aufführt.495 Dieser Brieftyp soll den Adressaten zu bestimmten Verhaltensweisen ermahnen und ihn vor anderen warnen. Da dieser Brieftyp aber eine intakte Beziehung zwischen den Briefpartnern als Grundlage der mahnenden Unterweisung annimmt, kann er nicht als bestimmend für den Galaterbrief als ganzem angesehen werden, wenn auch ein Einfluss dieses Brieftyps im paränetischen Schlussteil Gal 5,13 – 6,6 nicht auszuschließen ist. Ähnliches gilt für den τύπος συμβουλευτικός des Ps.-Demetrios, der ebenfalls dem Adressaten von bestimmten Handlungen abraten und zu anderen zuraten beleidigenden oder gar polemischen Formulierungen. Noch vorsichtiger ist der dem Adressaten gegenüber angeschlagene Ton in SB III 6263 (= SP I 121; 2. Jh. n. Chr.); Text mit englischer Übersetzung und Einführung ebenfalls bei White, Light 180f. [Nr. 113]; vgl. zum Brief und seinem Absender auch Winter, Life and Letters 48–50. In diesem Brief ermahnt bzw. tadelt der Absender Sempronius seinen Bruder Maximus, weil er die gemeinsame Mutter Saturnilia, die in seinem Haus wohnt, schlecht behandelt. Wenn er sich für diese Intervention bei seinem Adressaten mit den Worten μὴ βαρέως ἔχε μου τὰ γράμματα νουϑετοῦντά σε entschuldigt, erinnert dies an die Definition des τύπος μεμπτικός bei Ps.-Demetrios (ὁ μὴ νομίζεσϑαι βαρεῖν προσδεχόμενος), wenn auch νουϑετοῦντα und der Inhalt die Zuordnung zum τύπος νουϑετητικός möglich machen. In ihrer Wortwahl und im Tonfall gegenüber dem Adressaten sind beide Briefe deutlich zurückhaltender als der Galaterbrief. 491 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 34 [Ps.-Demetrios Nr. 4] und 68 mit 76 [Ps.-Proklos/Libanios Nr. 17 mit Nr. 64]. Stowers, Letter Writing 140., allerdings ist der Ansicht, der τύπος ὀνειδιστικός sei weder unter den neutestamentlichen noch unter den anderen frühchristlichen Briefen vertreten. 492 Vgl. Stowers, Letter Writing 139. 493 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 34 [Ps.-Demetrios Nr. 6] und 70 mit 80 [Ps.-Proklos/Libanios Nr. 34 mit Nr. 81]; vgl. Stowers, Letter Writing 133f. 494 Hinweise auf den Einfluss des τύπος ἐπιτιμητικός auf den Galaterbrief bei Stowers, Letter Writing 134. 495 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 68 mit 74 [Ps.-Proklos/Libanios Nr. 5 und 52]; vgl. auch Stowers, Letter Writing 94–97.

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5. Der Brief an die Galater

will.496 Beide Brieftypen, die sich wohl nicht grundsätzlich unterscheiden lassen, setzen eine Briefsituation voraus, in der sich der Absender dem Adressaten gegenüber in einer gewissen überlegenen Position befindet (älter, weiser etc.), die es ihm ermöglicht als sein Lehrer aufzutreten.497 Darin ist ihnen der Galaterbrief vergleichbar. Insofern sich im Galaterbrief Elemente unterschiedlicher Brieftypen identifizieren lassen, könnte man ihn eventuell dem gemischten Brieftyp zuweisen, den das Handbuch des Ps.-Proklos/Libanios als letzten anführt.498 Dominierend und prägend sind jedoch eindeutig die anklagenden und tadelnden Brieftypen. Interessante Einblicke für das Verständnis von Form, Tonfall und Funktion des Galaterbriefes gewinnt man unter Umständen aus den pseudepigraphen Themistoklesbriefen, die nur wenig jünger sind als die Briefe des Paulus (dazu auch S. 27). In dieser Sammlung literarischer Briefe (Briefroman) findet sich mit dem 6. Brief des Themistokles ein Beispiel für einen scharf anklagenden und tadelnden Brief.499 Der Brief gibt vor, von dem verbannten athenischen Staatsmann Themistokles aus Ephesus an seinen Bankier Philostephanos nach Korinth geschrieben zu sein. Er beschuldigt den Adressaten, dass er zu Unrecht das ihm anvertraute Vermögen des Themistokles nicht herausgeben wolle. Dabei rekurriert der Absender, ganz ähnlich wie Paulus im Galaterbrief, darauf, dass zwischen ihm und dem Adressaten einst eine gute, freundschaftliche Beziehung bestand, die durch die Schuld des Adressaten nun aber Schaden genommen hat, weil er sich durch sein Verhalten der Wohltaten unwürdig erwiesen hat, die ihm der Absender zuvor völlig uneigennützig zuteil werden ließ. Gleich zu Beginn des Briefes betont der Absender, er könne sich dieses undankbare Verhalten eigentlich nur dadurch erklären, dass es sich offenbar im Wesen des Adressaten getäuscht hat. Dennoch erwägt der Absender im letzten Drittel des Briefes, ob sich das für ihn ärgerliche Verhalten des Adressaten nicht auch einem Missverständnis verdanken könnte, und räumt so seinem Adressaten Philostephanos, wieder ganz ähnlich wie Paulus im Galaterbrief, die Chance ein, sein Verhalten zu korrigieren und das freundschaftliche Einvernehmen wiederherzustellen. Der pseudepigraphe Brief präsentiert den athenischen Staatsmann Themistokles als einen, der trotz seiner Position als Verbannter an seinen Adressaten nicht als unterwürfiger Bittsteller herantritt, sondern ihn mit unmissverständ496 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 36 [Ps.-Demetrios Nr. 11]; vgl. auch Stowers, Letter Writing 107–109. 497 Vgl. Stowers, Letter Writing 96 und 108. 498 Text mit englischer Übersetzung bei Malherbe, Theorists 72 mit 80 [Ps.-Proklos/Libanios Nr. 45 und 92]. 499 Text bei Hercher, Epistolographi 745 [Themistokles Nr. VI]; eine englische Übersetzung bei Rosenmeyer, Literary Letters 61f.; kurze Anmerkungen zum Inhalt des Briefes ebd. 51; zu den pseudepigraphen Briefen des Themistokles insgesamt ebd. 49–53; dies., Epistolary Fictions 231–233; Muir, Life 189.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

291

lichen Forderungen und Anweisungen konfrontiert. Entsprechend ist auch der Ton des Briefes hart und fordernd, stellenweise sogar geradezu beleidigend. Dadurch erscheint Themistokles als ein Mann, der sich selbst in seiner an sich wenig vorteilhaften Lage immer noch als eine Autoritätsperson versteht und deshalb seinem Adressaten sozial überlegen fühlt. In seinem scharfen Ton und im vorausgesetzten Autoritätsgefälle zwischen Absender und Adressat ist der 6. Brief des Themistokles durchaus dem Galaterbrief vergleichbar. Die Berührungen zwischen beiden Briefen – obwohl es sich bei dem einem um ein Produkt der literarischen Kunst und beim anderen um einen authentischen Brief handelt, der tatsächlich aus einer konkreten Situation in der Beziehung des Paulus zu seinen galatischen Gemeinden heraus und für diese Situation geschrieben und an die genannten Adressaten verschickt wurde – erklären sich aus den gemeinsamen Wurzeln beider Briefe im höheren Schulunterricht der Zeit. Hier lernte man mit Hilfe von Übungsbriefen zum einen die Kunst der Ethopoiie, d. h. die Kunst der »Selbstdarstellung« im Brief (vgl. S. 26f.), und zum anderen die situationsadäquate Anwendung der Brieftypen (vgl. S. 43f.). Mit anderen Worten: Beide Briefe sind vergleichbar, weil Paulus und der anonyme Verfasser der pseudepigraphen Themistoklesbriefe im Rahmen ihrer schulischen Ausbildung dieselben Prinzipien und Techniken der Epistolographie bzw. des Briefschreibens erlernt und eingeübt haben (wobei der Verfasser der Themistoklesbriefe im Vergleich mit Paulus sicher eine größere Perfektion erreicht hat).500 Dasselbe gilt für die Berührungen zwischen dem Galaterbrief und dem oben vorgestellten, nach dem Muster eines anklagenden Briefes gestalteten Hetärenbrief des Alkiphron (Alki. epist. 2,7; vgl. S. 287f.). Die pseudepigraphen Themistoklesbriefe lassen zudem erkennen, wie man sich in der Zeit des Paulus die idealtypische Wirkung eines solchen tadelnden Briefes vorstellte, d. h. mit welcher Intention ein tadelnd-anklagender Brief geschrieben wurde. Denn der 7. Brief des Themistokles, der ebenfalls an Philostephanos gerichtet ist, zeigt dass der vorausgehende Brief Wirkung gezeigt hat.501 Aus dem 7. Brief erfährt der Leser, dass Philostephanos sich in einem Verteidigungsbrief bemüht hatte, die im anklagenden Brief des Themistokles vorgebrachten Anschuldigungen als unberechtigt zurückzuweisen. Anklagende und tadelnde Briefe sind demnach als eindringlicher Appell des Absenders an den/ die Adressaten zu verstehen, den eigenen guten Charakter, der in Zweifel gezogen wurde, durch eine Änderung des Verhaltens und/oder der Gesinnung un500 Die Anwendung/Rezeption der Brieftypen durch Paulus (und bei anderen Briefschreibern) darf man sich freilich nicht so vorstellen, dass ein Brief mit dem »Musterbuch« in der Hand geschrieben wurde. Es geht eher darum, dass ein Briefschreiber das im Schulunterricht erworbene und eingeübte Wissen über die Brieftypen gleichsam »automatisch« beim Abfassen von Briefen aktualisierte. 501 Text bei Hercher, Epistolographi 746f. [Themistokles Nr. VII]; eine englische Übersetzung bei Rosenmeyer, Literary Letters 62f.; kurze Anmerkung zum Inhalt ebd. 51.

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5. Der Brief an die Galater

ter Beweis zu stellen. Zum Typos des tadelnden oder anklagenden Briefes gehört auch der 14. Brief des Themistokles, der an Pausanias gerichtet ist.502 Am Ende dieses Briefes findet sich eine Notiz, mit der der Absender den harschen Ton des Briefes erklärt, nicht aber um sich dafür zu entschuldigen, sondern, um seine Angemessenheit im Blick auf die Gesinnung und das Handeln des Adressaten zu unterstreichen. Bedenkt man den überaus harten Ton des Galaterbriefes, stellt sich die berechtigte Frage, ob Paulus überhaupt damit rechnen konnte, dass sein Brief in den Versammlungen der galatischen Gemeinden verlesen wurde. Mangels Quellen kommt man bei dieser Frage über Spekulationen nicht hinaus. Aus den Überlegungen zur Beziehung des Galaterbriefes zu den antiken Brieftypen lässt sich m. E. aber durchaus ein Argument dafür gewinnen, dass der Galaterbrief in den galatischen Gemeinden verlesen wurde und man anschließend seine Form und seinen Inhalt kritisch diskutierte. Ein gebildeter Zeitgenosse des Paulus war nämlich aus dem Schulunterricht und dem Literaturbetrieb mit den Brieftypen vertraut, d. h. er kannte ihre Funktionen und Intentionen sowie ihren Tonfall und ihre Wortwahl. Über eine entsprechende Schulbildung dürfte zumindest ein kleiner Teil der Mitglieder der galatischen Gemeinden verfügt haben. Ihnen ermöglichte ihr Vorwissen eine angemessene Rezeption des Briefes und seines Anliegens. Sie wussten deshalb um den Einfluss epistolographischer Konventionen auf Form und Inhalt des Galaterbriefes. Insofern konnte der Galaterbrief auch einen innergemeindlichen Diskurs darüber initiieren, ob Paulus den Brieftyp und den damit verbundenen Tonfall zurecht gewählt hatte oder nicht. 5.2.5 Vergleich mit antiken Lehrbriefen Bei den vorausgehenden Schritten der Analyse des Galaterbriefes wurde immer wieder sowohl das Corpus der Papyrusbriefe als auch das der literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefe herangezogen. So ließ sich z. B. am tadelnd vorwurfsvollen Brief des Apollonios an seinen Bruder Ptolemaios im Serapeum von Memphis ein ähnlich harter Tonfall wie im Galaterbrief und durch das Weglassen der konventionellen philophronetischen formula valetudinis initialis und finalis auch eine mit ihm vergleichbare situationsbezogene Modifikation des traditionellen Briefformulars belegen (P.Paris 47 = UPZ I 70/SP I 100 [152 v. Chr.]; vgl. S. 246). Diese Parallele verdient deshalb eine besondere Beachtung, da derartige Anpassungen des Briefformulars an die konkrete Briefsituation, wie zahlreiche Gegenbeispiele unter den Papyrusbriefen belegen, in der Welt und Zeit des Paulus keineswegs obligatorisch und selbstverständlich waren (vgl. S. 246). Trotz dieser formalen Analogie überwiegen bei einem Ver502 Text bei Hercher, Epistolographi 754 [Themistokles Nr. XIV]; englische Übersetzung bei Rosenmeyer, Literary Letters 71f.; kurze Anmerkung zum Inhalt ebd. 52.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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gleich des Galaterbriefes mit dem Brief des Apollonios dennoch hinsichtlich Umfang, Inhalt und Anspruch die Unterschiede. Verschiedene Berührungen mit literarischen Briefen ergaben sich bei der Frage nach der Zuordnung des Galaterbriefes zu einem oder mehreren der Brieftypen, die in den epistolographischen Handbüchern des Ps.-Demetrios und Ps.-Proklos/Libanios aufgelistet werden. Auch wenn sich der Galaterbrief nicht dem τύπος ἀπολογητικός zuordnen lässt, so zeigten sich dennoch Gemeinsamkeiten mit jenen Briefen, die gemeinhin diesem Brieftyp zugerechnet werden. Mit dem (pseudepigraphen) 7. Brief Platons verbinden den Galaterbrief die defensiv vorgetragenen autobiographischen Aussagen (vgl. S. 274f.). Ähnlich wie in den (teilweise authentischen) Briefen des Demosthenes und des Isokrates stehen die autobiographischen Aussagen des Galaterbriefes im Dienste einer adressaten-orientierten Selbstdarstellung des Paulus, die seine moralische Integrität betonen und damit die Grundlage für die folgende SachArgumentation schaffen soll (vgl. S. 277). Parallelen für den überaus scharfen Ton, den der Galaterbrief seinen Adressaten gegenüber anschlägt, sind der 6. und der 14. Brief aus der Sammlung der pseudepigraphen Themistoklesbriefe (vgl. S. 290 und 292), die beide wie der Galaterbrief den Typos des tadelnd-anklagenden Briefes repräsentieren. Für den Galaterbrief lassen sich demnach Berührungen sowohl mit Papyrusbriefen als auch mit literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefen ausmachen. Will man also den Galaterbrief im Kontext der kaiserzeitlichen Epistolographie verorten, wird das Urteil ähnlich lauten wie beim Philemonbrief. Die Wahl eines Wortschatzes, der weder vulgär noch artifiziell ist, sowie die erkennbare Sorgfalt in der sonstigen formalen Gestaltung (vgl. S. 259) belegen unzweifelhaft, dass der Galaterbrief nicht zu jener Gruppe von Papyrusbriefen gerechnet werden kann, die eindeutig von ungebildeten Verfassern stammen (vgl. S. 144; hier Verweis auf Textbeispiele). Der Galaterbrief gehört gewiss in die Gruppe jener Briefe, die einen gebildeten Briefstil (vgl. S. 100) und mitunter sogar literarischen Einfluss erkennen lassen und deren Verfasser deshalb sicher über eine entsprechende schulische Ausbildung verfügten. Insofern ist die von Adolf Deißmann vorgenommene scharfe Trennung des Galaterbriefes von den literarischen Briefen kaum gerechtfertigt.503 Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass der Galaterbrief die hohe literarisch-stilistische Qualität der Spitzenwerke der antiken Briefkunst erreichen würde. Der Hinweis auf die Orientierung an den Vorgaben des Briefstils und die darin begründete Nähe zu den Briefen gebildeter Absender sowie der Aufweis der Nähe zu den Typen der tadelnd-anklagenden Briefe aber lässt einige ande503 Zum unliterarischen Charakter der Paulusbriefe insgesamt Deißmann, Licht 198f.; zum Galaterbrief ebd. 201: »Ganz aus der Leidenschaft … ist der Galaterbrief geboren, ein flammendes Straf- und Verteidigungswort, wirklich keine Abhandlung ›De lege et evangelio‹, sondern Widerschein wetterleuchtender Genialität.«

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5. Der Brief an die Galater

re Aspekte außer acht, die die Kontextualisierung des Galaterbriefes innerhalb der kaiserzeitlichen Epistolographie betreffen. Denn trotz aller formalen, stilistischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten unterscheidet sich der Galaterbrief in wichtigen Punkten von den genannten Paralleltexten. Anders als bei den besprochenen Briefen des Demosthenes, Isokrates oder Themistokles verbinden sich Tadel und Anklage im Galaterbrief mit der argumentativen Darlegung einer Lehre, die auf das Glück und Wohlergehen der Adressaten zielt (vgl. Gal 3,1 – 5,12). Paulus entfaltet in seinem Brief den Galatern die »Wahrheit des Evangelium«, an der es festzuhalten gilt, damit sie durch den Glauben »gerechtfertigt werden«, d. h. das eschatologische Heil erlangen. Gleichzeitig formuliert Paulus eindringliche Ermahnungen zu einem sittlich verantworteten Handeln im Alltag der Welt (vgl. Gal 5,13 – 6,6). Es lässt sich deshalb kaum bestreiten, dass der Galaterbrief auch auf die Unterweisung der Adressaten in der christlichen Lehre und im christlichen Lebenswandel zielt. Dem widerspricht nicht der durchaus aggressive Ton dieser belehrenden Abschnitte wie des ganzen Briefes; darin drückt sich vielmehr die vehemente Leidenschaft des Paulus für die von ihm als wahr erkannte Lehre seines Evangeliums aus. Deshalb ist die Frage, wie sich der Galaterbrief formal und inhaltlich zu anderen antiken Lehrbriefen verhält, berechtigt und notwendig. Die Gattung des (philosophischen) Lehrbriefes nimmt ihren Anfang im 4. Jahrhundert v. Chr. mit den Briefen Epikurs (vgl. S. 22).504 Von ihm haben sich drei längere Lehrbriefe erhalten: Der Brief an Herodot (Diog. Laert. 10,35–83) ist eine Epitome (Kurzfassung) der Schrift Epikurs über die »Physik«, d. h. sei504 Stirewalt, Letter-Essay 176, plädiert anstelle der im deutschsprachigen Raum bevorzugten Bezeichnung »Lehrbrief« für den Terminus »Letter-Essay«, um auszuschließen, dass in dieser Gruppe alle Briefe mit lehrhaftem Inhalt zusammengefasst werden, egal, ob es sich bei ihnen um echte, d. h. tatsächlich für den genannten Adressaten intendierte und an ihn versandte Briefe handelt oder um fingierte, d. h. pseudepigraphe Briefe unter dem Namen von Philosophen oder anderen bedeutenden Personen der Vergangenheit. Die Briefe, die er als Letter-Essay bezeichnet, »were written out of a genuine letter-setting and they retain the formal and structural epistolary characteristics … On the other hand, they are losing some of the form, phraseology, and structure of the letter and are incorporating the more impersonal, objective style of the monograph« (ebd.). Jedoch lässt sich fragen, inwieweit es gerechtfertigt ist, den Letter-Essay so strikt gegen pseudepigraphe Philosophenbriefe mit lehrhaftem Inhalt abzugrenzen. Denn die pseudepigraphen Lehrbriefe setzen in ihrer Form und im Blick auf ihre Rezeption jene authentischen Lehrbriefe voraus, die wohl bei Epikur ihren Anfang nahmen (vgl. oben S. 14) und die Stirewalt in der Gruppe Letter-Essay zusammenfasst. Die gilt auch für andere unterweisende Texte in Briefform, bei denen sich der wahre Verfasser im Präskript zwar als Absender beim Namen nennt, die jedoch nie für die private Lektüre des genannten Adressaten, sondern für die moralisch-philosophische Unterweisung eines breiten Lesepublikums bestimmt waren. Dazu gehören die Lucilius-Briefe des Seneca. Pitts, Contexts 269f., wiederum plädiert für eine scharfe und klare Trennung zwischen den literarischen Briefen von Philosophen, die primär für die Publikation intendiert sind und deshalb kaum briefliche Merkmale aufweisen, und Lehrbriefen, die zu den »echten« Briefen gehören, wie sie in der antiken Brieftheorie beschrieben sind.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

295

ner Atomlehre, der Brief an Pythokles (Diog. Laert. 10,84–116) eine Epitome seiner Schrift über die Himmelserscheinungen und der Brief an Menoikeus (Diog. Laert. 10,122–135) eine Zusammenfassung seiner ethischen bzw. moralphilosophischen Unterweisungen.505 An diesen drei Briefen Epikurs lassen sich die zentralen Charakteristika und die grundlegenden Funktionen des antiken philosophischen Lehrbriefes erkennen. Obwohl die beiden ersten der drei Briefe Epikurs zunächst anderes vermuten lassen, wollen sie mit ihren theoretischen Unterweisungen nicht einfach das Wissen der Adressaten über Fragen der Physik und Metaphysik erweitern, sondern ihnen eine konkrete Hilfe und Anleitung für die tägliche Lebens- und Daseinsbewältigung bieten. Dies geschieht mit Hilfe der Physik und Metaphysik. Mit seiner materialistischen Atomlehre will Epikur die Angst der Menschen vor dem Tod, den Göttern und den »ewigen« Strafen in der Unterwelt zerstören.506 Der Mensch soll nach Epikur begreifen, dass er einschließlich seiner Seele wie die Welt um ihn herum nichts anderes ist als eine zufällige Zusammenballung von Atomen, die sich beim Tod wieder auflöst. Deshalb kann der Tod dem Menschen nichts anhaben, da sich mit dem Körper auch die Seele wieder in ihre Atome auflöst, so dass sie nichts mehr empfinden und folglich auch keine Qualen in der Unterwelt erleiden kann (Diog. Laert. 10,65–68).507 Mit Hilfe der Atomlehre und einer auf ihr beruhenden Erkenntnistheorie werden auch andere Dinge erklärt und ihrer Schrecken beraubt, die dem Menschen Angst zu machen pflegen, wie z. B. das Entstehen schlimmer Träume (Diog. Laert. 10,46–55). Die atomistische Welterklärung ergänzt Epikur durch seine Lustlehre, die er in seinem Brief an Menoikeus entfaltet und die die Grundlage seiner Ethik bildet (Diog. Laert. 10,128–132).508 Der schon in der Antike als reiner Hedonismus und Libertinismus missverstandenen und missdeuteten Lustlehre Epikurs geht es darum, den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie durch ein bescheidenes und genügsames Leben, Schmerz vermeiden und zufrieden sein können mit dem, was das irdische Dasein ihnen bietet. Als Kurzfassung der Philosophie Epikurs ist der Brief an Menoikeus mehr als seine beiden anderen Lehrbriefe zugleich eine für Anfänger gedachte leicht fassbare Einführung in die Grundlagen der epikureischen Lehre und eine protreptische Werbeschrift, die Interessenten und Sympathisanten für die Lehre 505

Die Briefe Epikurs sind trotz ihres immensen Einflusses auf die Briefe anderer Philosophen nur als Briefzitate in der Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios überliefert. Vgl. Klauck, Umwelt 2, 114; Lesky, Geschichte 768. 506 Zu Schule und Lehre Epikurs vgl. Dihle, Literaturgeschichte 269–272; Lesky, Geschichte 769–771; Hose, Literaturgeschichte 148f.; außerdem Hossenfelder, Philosophie 100–146; W. Schmid, Epikur. RAC (1962) Sp. 681–819; T. Dorandi, Epikureische Schule. DNP 3 (1997) 1126–1130; M. Erler, Epikuros. DNP 3 (1997) Sp. 1130–1140. 507 Vgl. auch Klauck, Umwelt 2, 119f. 508 Dazu Klauck, Umwelt 2, 120–122; zur Ethik Epikurs außerdem R. Müller, Die epikureische Ethik (SGKA[B] 32), Berlin 1991.

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5. Der Brief an die Galater

und Schule Epikurs gewinnen sollte.509 In dieser Doppelfunktion wurde der Brief an Menoikeus zum viel nachgeahmten Musterbeispiel und Archetyp des ermahnenden und unterweisenden philosophischen Lehrbriefes, der auf die Formung des Menschen zielt.510 Da Epikur seine Philosophie als eine »Heilslehre« verstand, die den Menschen aus der Unwissenheit und damit aus der Angst vor Schmerzen, dem Tod und der Strafe der Götter befreit und ihm dadurch eine glückendes und lustvolles Leben ermöglicht, wollen auch seine Briefe mehr, als nur in ein philosophisches Lehrsystem einführen und dessen Grundlagen verdeutlichen; sie haben einen geradezu missionarischen und katechetischen Charakter und wollen zu einer bestimmten Lebens- und Daseinsweise ermutigen und anhalten.511 Mit seiner Verbindung von Lehre und ethischer Unterweisung wird der Brief an Menoikeus zum Modell und Vorbild für die späteren philosophischen Lehrbriefe. Wie beim Brief an Menoikeus geht es in diesen Briefen nicht um bloße Wissensvermittlung, sondern sie zielen auf die Lebensgestaltung und Lebensführung im Alltag.512 Dies erklärt sich aus der Eigenart der hellenistischen und kaiserzeitlichen Philosophie, die sich in erster Linie als praktische Lebenshilfe verstand.513 Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik werden der Moralphilosophie und Fragen der Lebensgestaltung untergeordnet.514 Die Philosophie wollte den einzelnen Menschen durch theoretische Unterweisung und vor allem praktische Handlungsanweisungen zu einem geglückten und zufriedenen Leben führen (εὐδαιμονία, ἀταραξία).515 Diese seelsorgerische und psychotherapeutische Dimension der hellenistischen und kaiserzeitlichen Philosophie prägte bereits die kleineren Briefe Epikurs an seine Freunde, Verwandten und Schüler, die sich nur in Bruchstücken erhalten haben.516 Diese Briefe dienten der Kontaktpflege des Schulhauptes und Lehrers Epikur mit seinen verstreut lebenden Schülern und sind Ausdruck und Mittel seiner freundschaftlichen Zuwendung und Fürsorge für alle Mitglieder und Sympathisanten seiner Schule. Das Fragment eines Briefes, mit dem sich Epikur liebevoll mahnend an ein Kind wendet, lässt ahnen, dass die 509 Text mit Übersetzung bei Krautz, Epikur (Reclam UB) 40–51 [Nr. 1.2]; zu diesem Brief vgl. auch Stowers, Letter Writing 116–118; Eckstein, Gemeinde 131–136. 510 Dazu auch Stowers, Letter Writing 36–40, der allerdings diese Intention für die Briefe Epikurs an Pythokles und Herodot zu gering ansetzt; vgl. Eckstein, Gemeinde 74f. 511 Vgl. Muir, Life 143f.; Klauck, Ancient Letters 151; ders., Briefliteratur 122; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 203. 512 Vgl. die Definition des »Lehrbriefes« bei Schneider, Brief (RAC) Sp. 571. 513 Eine Definition des Wesens und Zweckes der Philosophie bietet Seneca epist. 89 und 90. 514 Vgl. Klauck, Umwelt 2, 75–77; F. Ricken, Philosophie, in: Nesselrath, Einleitung 507– 560, hier 541–555. 515 Vgl. Meeks, Moral World 40–64; Dihle, Literaturgeschichte 267–269; Eckstein, Gemeinde 60f. 516 Vgl. Eckstein, Gemeinde 73–75 und 148–161.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Fürsorge des Lehrers in gleicher Weise und je nach individueller Fassungskraft allen Mitgliedern seiner Schule galt.517 Der ebenfalls nur fragmentarisch überlieferte Brief an seine Mutter ist ein kurzer Protreptikos, mit dem er die eigene Mutter einlädt, sich seiner Philosophie und Schule anzuschließen.518 Hier zeigt sich, dass auch Frauen, was in dieser Zeit durchaus ungewöhnlich war, in der Gemeinschaft der Schüler und Freunde Epikurs willkommen waren. Die Briefe sind somit Zeugen eines philosophischen Freundschafsideals, das geradezu eine Kontrastgesellschaft konstituierte, in der Frauen, Kinder und selbst Sklaven gleichberechtigte Mitglieder sein konnten.519 Von den drei großen Lehrbriefen unterscheiden sich diese kleineren Briefe durch ihren unverkennbaren Gelegenheitscharakter und Situationsbezug. In ihnen mischen sich persönliche Mitteilungen mit lehrhaften Elementen.520 Insofern sind die kleinen Briefe bzw. Brieffragmente mit ihrer geradezu »pastoralen« Intention ein klarer Hinweis, dass man die Gattung des antiken Lehrbriefes nicht zu eng fassen kann und darf. Philosophische Lehrbriefe, und das gilt für die großen Lehrbriefe Epikurs nicht weniger als für seine kleinen Briefe, sind keine »dogmatischen« Handbücher, sondern Mittel der »Seelsorge« und »Seelenführung«.521 Die von Epikur begründete Idee der »Seelenführung« durch Briefe steht formal und konzeptionell im Hintergrund der in neutestamentlicher Zeit von dem Staatsmann und stoischen Philosophen Seneca publizierten Sammlung seiner Briefe an Lucilius.522 Die Lucilius-Briefe, die von Anfang an für die Veröffentlichung als Briefsammlung konzipiert und für ein breites Lesepublikum intendiert waren, wollen als Ausdruck gelebter Freundschaft gelesen werden. In ihnen präsentiert sich Seneca als der »ältere« Freund, der mit seinen Rat517 Text mit Übersetzung bei Krautz, Epikur (Reclam UB) 60f. [Nr. 1.3.10]; zu diesem Brief vgl. auch Stowers, Letter Writing 66f. (hier eine englische Übersetzung); Klauck, Ancient Letters 152–154; ders., Briefliteratur 124f.; außerdem Th. Gompers, Ein Brief Epikurs an ein Kind, in: Hermes 5 (1871) 386–395. 518 Text mit Übersetzung bei Krautz, Epikur (Reclam UB) 56–59 [Nr. 1.3.8]; zu diesem Brief vgl. auch Stowers, Letter Writing 114–116 (mit englischer Übersetzung); Eckstein, Gemeinde 97. Der Brief ist als Teil der monumentalen Inschrift des Epikureers Diogenes von Oinoanda (2. Jh. n. Chr.) überliefert, die er aus Verehrung für den »Lehrer und Meister« auf einer Mauer in seiner lykischen Heimatstadt hatte anbringen lassen. 519 Dazu Eckstein, Gemeinde 69–72; Klauck, Umwelt 2, 115f. 520 Vgl. Eckstein, Gemeinde 93. 521 Näheres bei Stowers, Letter Writing 38f.; zu Hintergrund und Kontext der philosophischen »Seelenführung« in der Antike vgl. außerdem P. Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954; P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Aus dem Französischen von I. Hadot und Chr. Marsch, Berlin 22005. 522 Vgl. Stowers, Letter Writing 99f.; zu den Hintergründen für die Idee der Seelenführung im Brief vgl. Peter, Brief 229; zu den Briefen Epikurs als Modell für Senecas Briefe an Lucilius vgl. auch Conte, Latin Literature 414; Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 204; Inwood, Importance 136f. und 141–148; außerdem I. Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1991.

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5. Der Brief an die Galater

schlägen dem »jüngeren« Adressaten als Ratgeber und Lehrer auf dem Weg zu Verständigkeit (sapientia) und moralischer Vollkommenheit mit seinen Briefen helfend zur Seite steht (wobei Seneca in Wahrheit kaum älter war als der als Adressat der Briefe genannte Gaius Lucilius).523 Der Inhalt der Briefe zielt daher nicht auf die lehrhafte Entfaltung eines abstrakten Systems philosophischer Lehrsätze und Theorien, sondern auf praktische Lebensweisheit, d. h. auf eine Philosophie, die helfen will, das alltägliche Leben mit all seinen Widerfahrnissen, positiven wie negativen, zu meistern und zu ertragen.524 Es geht in den Briefen also weniger um logische Spitzfindigkeiten und um den Beweis philosophischer Wahrheiten als vielmehr um die Ermahnung und Einladung zu einem sittlich guten Leben, die mit jedem Brief der Korrespondenz wiederholt und erneuert wird.525 Bei Senecas Briefen an Lucilius handelt es sich wahrscheinlich um rein literarische Kunstbriefe, die nie an den genannten Adressaten verschickt wurden, sondern von vornherein für die Publikation bestimmt waren.526 Dennoch aber belegen sie zum einen, dass der philosophische Lehrbrief in der Zeit des Paulus noch immer als Instrument der Seelenführung verstanden und gebraucht wurde; und zum anderen lässt sich aus ihnen eine Vorstellung darüber gewinnen, welche Themen und Fragen in solchen Lehrbriefen behandelt werden konnten und wie solche Lehrbriefe formal gestaltet waren.527 Die Lucilius-Briefe Senecas zeigen, dass solche Lehrbriefe eine deutliche paränetische Funktion hatten, d. h. sie wollen zu bestimmten Handlungen ermutigen und auffordern, vor anderen warnen.528 523 Dazu Klauck, Ancient Letters 167f.; ders., Briefliteratur 135; Conte, Latin Literature 413f. Der als Adressat aller Briefe genannte Gaius Lucilius war ein sozialer Aufsteiger, der sich den Rang eines Ritters erwerben konnte und 63/64 n. Chr. Statthalter in Kilikien wurde. 524 Vgl. dazu auch Hossenfelder, Philosophie 98; Klauck, Umwelt 2, 83f. Hinsichtlich Umfang und Inhalt sind einige der Briefe Senecas, zumal im letzten Drittel der Sammlung, gemessen an den Maßstäben der antiken Brieftheorie, wie sie bei Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας bezeugt ist, kaum mehr als »Briefe« anzusprechen, sondern nähern sich eindeutig dem Traktat in Briefform (vgl. dazu die Ausführungen auf S. 38f.); so z. B. epist. 94 und 95. Vgl. Inwood, Importance 138f. 525 Vgl. Conte, Latin Literature 414f.; Inwood, Importance 140f. 526 Auch wenn in dieser Frage bis heute kein Konsens erzielt ist, scheint es eher plausibel, dass Senecas Briefe an Lucilius reine Produkte der literarischen Kunst sind, die niemals an den genannten Adressaten Gaius Lucilius versandt wurden, sondern von Anfang an allein für die Publikation abgefasst worden waren. Die Adressaten-Angabe der Briefe ist folglich im Sinne einer Widmung dieses literarischen Werkes zu verstehen, das Seneca als sein moralphilosophisches Testament erachtete (vgl. epist. 8,1–3). Vgl. Klauck, Ancient Letters 170f.; Peter, Brief 228f. Conte, Latin Literature 413, sieht dagegen keine Gründe, warum man nicht annehmen sollte, dass die Briefe (abgesehen vielleicht von den ungewöhnlich langen) tatsächlich an den genannten Adressaten verschickt wurden. 527 Ähnlich Stowers, Letter Writing 40. 528 Dazu Stowers, Letter Writing 94–106, mit Beispielen aus dem Bereich der Papyrusbriefe und der literarisch überlieferten Briefe.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Die grundlegenden Funktionen solcher Lehrbriefe, die zu moralischer Vollkommenheit und zu einem glücklichen Leben führen wollen, finden sich in ähnlicher Weise auch in der alltäglichen brieflichen Korrespondenz, obwohl es hier meist um deutlich banalere und gewöhnlichere Fragen und Angelegenheiten geht als in den philosophischen Lehrbriefen Epikurs und Senecas oder in der Sammlung der pseudepigraphen Kynikerbriefe.529 Man ermahnt mit einem Brief seinen Adressaten wegen eines Fehlverhaltens zur Besserung (P.Tebt. I 23 [119/114 v. Chr.]530), oder man empfiehlt ihm die Lektüre nützlicher Bücher (P.Mil. Vogl. I 11 [2. Jh. n. Chr.]531), oder man ermuntert ihn zum Tugendwandel (P.Oxy. XLII 3069 [3./4. Jh. n. Chr.])532, oder man korrigiert ihn, weist ihn zurecht und warnt ihn (SB III 6263,18–31 [= SP I 121; 2. Jh. n. Chr.]533), oder man bietet ihm Hilfe an bei der Bewältigung von Lebensproblemen. Hier sind vor allem Trostschreiben bei Todesfällen zu nennen, die den Adressaten nicht nur trösten sollen, sondern ihn mahnen, nicht übermäßig zu trauern, sondern sich dem unabänderlichen Schicksal zu fügen (P.Wisc. II 84 [2. Jh. n. Chr.]534; P.Oxy. I 115 [= WChr. 479; 2. Jh. n. Chr.]535).536 Einige dieser Briefe scheinen 529

Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 202f.; Pitts, Contexts 283–286. Für den lateinischen Brief vgl. Peter, Brief 226. 530 Allerdings geht es in dem Brief nicht um allgemeines ethisch-moralisches Fehlverhalten, sondern der Absender Marres, ein höherer Verwaltungsbeamter im ägyptischen Fayum (Arsinoites), tadelt den Adressaten Menches, einen anderen, im Vergleich mit ihm niedrigeren Verwaltungsbeamten, wegen seines nicht genügend entgegenkommenden Verhaltens gegenüber einem gewissen Melas, einem Vertrauten (»Hausgenossen«) des Absenders. Dennoch hat die in diesem Schreiben vorgetragene Zurechtweisung einen gewissen grundsätzlichen Charakter, insofern sie den Tadel mit dem Hinweis auf (konventionelle) Verhaltensnormen innerhalb der hierarchischen Bürokratie verbindet. Zum Brief vgl. auch Winter, Life and Letters 100. 531 Mit dem Brief übersendet der Absender Theon aus Alexandria seinem Freund, dem Philosophen Herakleides, auch die empfohlenen philosophischen Bücher des Diogenes, Poseidonios u. a. Der Text des Briefes mit englischer Übersetzung bei Trapp, Letters 138f. [Nr. 56], Kommentar ebd. 288–290. 532 Der Brief eines Aquila an seinen Freund, den Philosophen Sarapion, ist Lob und Ermutigung für einen tugendhaften Lebenswandel, verbunden mit Fragen der Diät und Askese, wie sie zur antiken Philosophie gehörten; vgl. Stowers, Letter Writing 99. 533 Mit dem Brief ermahnt Sempronius seinen Bruder Maximus, die gemeinsame Mutter gut und ehrenvoll zu behandeln. Der Text des Briefes mit englischer Übersetzung und Kommentar bei White, Light 180 [Nr. 113]; vgl. auch Stowers, Letter Writing 128f. 534 P.Wisc. II 84 enthält zwei Briefe des Sempronius: der erste an seinen Bruder Satornilos bezüglich der schweren Erkrankung der Mutter; der zweite an die kranke Mutter Satornila. 535 Text und Übersetzung bei Trapp, Letters 118f. [Nr. 46]; Anmerkungen ebd. 271f.; zum Brief auch Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 172f. 536 Näheres zum Trostbrief bei Stowers, Letter Writing 142–151. Neben Beispielen unter den Papyrusbriefen, findet sich auch bei Seneca, epist. 99,1, ein Hinweis darauf, dass solche belehrenden Briefe (im Kreis der Gebildeten) zur alltäglichen Korrespondenz unter Freunden gehörten: Erwähnung eines Brief, mit dem er Marullus für das Übermaß in seiner Trauer tadelte. Allerdings muss offen bleiben, ob der anschließend ›wortwörtlich zitierte‹ Brief in dieser Form tatsächlich an Marullus verschickt wurde.

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5. Der Brief an die Galater

dabei durchaus den Anspruch zu erheben, zwar keine originelle, aber dennoch eine über ihren konkreten Anlass hinausgehende, allgemein gültige »Lehre« vorzutragen, ohne dass der Absender deshalb die Publikation des Briefes beabsichtigt hätte. Dass in der frühen Kaiserzeit Briefe in der alltäglichen Korrespondenz, der privaten wie der amtlichen, in diesem Sinne verwendet wurden, belegt die Behandlung entsprechender Brieftypen in den epistolographischen Handbüchern des Ps.-Demetrios (νουϑετητικός, συμβουλευτικός, παραμυϑητικός etc.) und des Ps.-Proklos/Libanios (z. B. παραινητική).537 Nach diesen grundlegenden Ausführungen zum antiken Lehrbrief gilt es zu der Frage zurückzukommen, ob und inwiefern das Vorhandensein lehrhafter und ermahnender Abschnitte eine Einordnung des Galaterbriefes in den Kontext philosophischer Lehrbriefe erlaubt. Eine Gemeinsamkeit ist sicher, dass auch der Galaterbrief auf das Verhalten seiner Adressaten im Alltag zielt.538 Dies zeigt sich am deutlichsten in den allgemeinen moralischen Paränesen des Schlussabschnittes Gal 5,13 – 6,10 (vgl. S. 289). Letztlich aber zielt der Brief als Ganzes auf das Verhalten bzw. eine Änderung der Gesinnung und Absichten der Galater, nämlich von der beabsichtigten Übernahme von Beschneidung und Gesetzesobservanz abzulassen und am gesetzes- und beschneidungsfreien Evangelium des Paulus festzuhalten (vgl. Gal 1,6–9; 3,1–5; 5,1–12; 6,11–17). Nicht anders als in den philosophischen Lehrbriefen erfolgt die Mahnung und Belehrung im Galaterbrief um des Glückes und Wohlergehens der Adressaten willen, das christlich gewendet aber nicht in moralischer Vollkommenheit und unerschütterlicher Seelenruhe, sondern in der Teilhabe am eschatologischen Heil besteht.539 Die aus den Lehrbriefen des Epikur und Seneca bekannte Verbindung von Unterweisung und Freundschaft ist auch im Galaterbrief präsent, obwohl sie hier vom Tadel überlagert wird, in dem sich aber letztlich die φιλοφρόνησις des Paulus gegenüber den Galatern artikuliert (vgl. S. 255). Denn da der ideale 537

Dazu Pitts, Contexts 281–283. Für den Galaterbrief gilt, was Meeks, Moral World 125, im Blick auf den 1. Thessalonicherbrief, den 1. Korintherbrief und andere frühchristliche Texte als Programm seiner Untersuchung formuliert hat: »Most studies of these texts concentrate on their theological ideas, but our present inquiry requires a different focus. In fact, we will see in each case that the writers of these texts were centrally concerned to affect the behavior, not just the thinking, of their audiences.« 539 Unterschiede sind hier zwischen hellenistischen Philosophenschulen und christlichem Glauben sicher gegeben, doch sollte man diese dennoch nicht überbetonen. Denn auch die hellenistische Philosophie bot Heil und Erlösung an. Bei den Epikureern war es die Befreiung von Angst, die ein glückliches Leben im Hier und Jetzt ermöglichte, wobei Epikur selbst der Status eines Erlösers (σωτήρ) zugeschrieben wurde (bezeichnend das hymnische Lob auf Epikur in Lucr. rer. nat. 3,1–30); vgl. Klauck, Umwelt 2, 119f. Die Stoa kannte zumindest teilweise Formen der Fortexistenz der Seele nach dem Tod, wobei die Seelen der »Weisen«, d. h. derer, die sich um einen Leben nach den Grundsätzen der stoischen Philosophie bemühten, mitunter sogar mit besonderen Vorzügen rechnen durften; vgl. Klauck, Umwelt 2, 93–95. 538

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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philosophische Lehrbrief als Freundschaftsbrief den Freund zum Glück führen soll, kann es, wenn die konkrete Situation dies erfordert, mitunter geboten sein, dass der »Lehrer« sich mit Tadel und Warnung an seinen Schüler wendet (vgl. z. B. Sen. epist. 93; 96; 99; dazu auch S. 253f.).540 Eine deutliche Analogie nicht nur des Galaterbriefes, sondern der Paulusbriefe insgesamt zu den Briefen Epikurs besteht in ihrer Funktion, d. h. der Verwendung der Briefe zur Kontaktpflege und Leitung innerhalb der »Schule« sowie zur Seelenführung und Seelsorge an den Mitgliedern der Gemeinschaft.541 Daran entzündet sich die bis heute strittige Frage, ob Paulus die Briefe Epikurs kannte und sich an ihnen orientiert haben könnte. Dabei ist zu bedenken, dass zur Zeit des Paulus noch wesentlich mehr Briefe Epikurs im Umlauf waren als die drei großen Lehrbriefe und die nur als Fragmente bekannten kleineren Briefe.542 Die Briefe Epikurs waren eine weit verbreitete Sammlung, die viel nachgeahmt wurde, unter anderem von Seneca. Kann man angesichts dieser Tatsache wirklich so absolut und dezidiert behaupten, Paulus habe die Briefe Epikurs keinesfalls gekannt?543 540

Vgl. Stowers, Letter Writing 135f., am Beispiel von Sen. epist. 99, der die traditionelle Gattung des Trostbriefes in einen tadelnd-vorwurfsvollen Brief transformiert, um den Adressaten über die Nutzlosigkeit übermäßiger Trauer zu belehren. Welch harten Ton die briefliche Unterweisung dabei annehmen kann, zeigt z. B. der 28. Brief in der Sammlung der Kynikerbriefe; vgl. dazu Stowers, Letter Writing 139–141. 541 Die Vertrautheit des Paulus mit den pastoralen Methoden der Moralphilosophie seiner Zeit betont Malherbe, Popular Philosophers 68. 542 Zu Umfang, Bezeugung und Überlieferung der Korrespondenz Epikurs vgl. Eckstein, Gemeinde 92–97. Die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Paulusbriefe mit den Briefen Epikurs betont auch P. Wendland, Literaturformen 346, dem man zumindest soweit zustimmen muss, dass die Epikurbriefe den Paulusbriefen formal und funktional deutlich näher stehen als die meisten der Papyrusbriefe. 543 Sicher wird man der weitreichenden These von DeWitt, Paul 167–184 (58–72 für den Galaterbrief und zur Frage epikureischer Einflüsse bei den Adressaten des Briefes), nicht zustimmen können, Paulus sei vor seiner Hinwendung zum Christentum ein Sympathisant der Epikureer gewesen und habe von hier die Anregungen für die Strukturen seiner Gemeinden und den Einsatz und die Form seiner Briefe erhalten. Dennoch rechtfertigt die Ablehnung dieser These allein noch nicht die gegenteilige Position, wie sie von Eckstein, Gemeinde 306– 334, vertreten wird, der tendenziell jede Kenntnis und jeden Einfluss der Briefe Epikurs bei Paulus bestreitet. Richtig an den Überlegungen von DeWitt dürfte zumindest sein, dass die Philosophie Epikurs neben der Stoa die beherrschende philosophische Schule in der Zeit des Paulus war und dass deshalb sowohl für die kleinasiatische Heimat als auch für das gesamte Missionsgebiet des Paulus im östlichen Mittelmeer bis hin nach Rom mit etlichen Anhängern der epikureischen Philosophie zu rechnen ist. Die Tatsache, dass Paulus nichts vom Epikureismus wusste und nie mit Epikureern zusammentraf, müsste deshalb weit mehr verwundern als deren Gegenteil. Die sicherlich nicht historische Erzählung der Apostelgeschichte von der Mission des Paulus in Athen, die Paulus im Diskurs mit Epikureern und Stoikern zeigt (Apg 17,18), gibt insofern ein in den Grundzügen zumindest plausibles und vielleicht sogar zutreffendes Bild paulinischer Mission. Eckstein sieht seine gegenteilige Ansicht dadurch belegt, dass Paulus nicht in der Diaspora des hellenistischen Kleinasien, sondern in Jerusalem bei Ga-

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5. Der Brief an die Galater

Zwischen den philosophischen Lehrbriefen und dem Galaterbrief lassen sich noch andere formale Übereinstimmungen benennen. Da der Absender in den philosophischen Lehrbriefen als Lehrer und Schulhaupt zu seinem bzw. seinen Adressaten spricht, ist für sie ein autoritärer und lehrmeisterlicher Ton typisch.544 Dem entspricht auch die Sprechhaltung des Paulus im Galaterbrief (vgl. S. 285; dies gilt ebenso für die anderen Briefe des Paulus, abgesehen vielleicht vom Philemonbrief). Die Briefe Epikurs kennzeichnet zudem ein unprätentiöser Stil, der bereits den antiken Kritikern als individuell und unkonventionell, gelegentlich aber auch als dunkel und unklar galt.545 Ähnlich lässt sich vielleicht über den Stil der Paulusbriefe urteilen. Seneca bemüht sich ebenfalls um einen einfachen Stil, der einen künstlichen Klassizismus vermeidet, umgangssprachliche Elemente integriert, sich gelegentlich aber doch um Erhabenheit in Stil und Ausdruck bemüht.546 Sofern man die Beobachtungen an den Briefen Epikurs und Senecas verallgemeinern kann, bemüht sich also der antike philosophische Lehrbrief um einen briefgemäßen, einfachen Stil, der sich an der mündlichen Sprache orientiert (vgl. S. 38).547 Der unliterarische Stil des Galaterbriefes wäre demnach kein Argument gegen seine Klassifizierung als Lehrbrief. Gemeinsam ist dem Galaterbrief und den Briefen Senecas und Epikurs sowie anderen philosophischen Lehrbriefen desweiteren, dass sie in ihrem Umfang eindeutig gegen die Vorschriften der antiken Brieftheorie verstoßen und auch hinsichtlich ihres Inhalts an die Grenzen dessen gelangen, was als briefgemäß gelten kann (vgl. S. 38f.).548 Wenn man den Galaterbrief aufgrund der genannten Gemeinsamkeiten im Kontext philosophischer Lehrbriefe verortet, müsste sich auch die spezifische Briefsituation des Galaterbriefes, d. h. sein Anlass und seine Intention, als Lehrsituation begreifen lassen. Der konkrete Anlass des Briefes aber ist der Glaubensabfall der Galater und seine Intention, sie durch eine scharfe Anklage zum Umdenken zu bewegen. Gewiss lässt sich diese Briefsituation nicht in einer Lehrsituation auflösen; dennoch spielen Unterweisung und Lehre in ihr maliël heranwuchs und erzogen wurde. Diese Angaben der Apostelgeschichte werden aber nicht durch Aussagen der Briefe erhärtet und sind deshalb eher unwahrscheinlich. Außerdem wäre eine Erziehung in Jerusalem keine Absicherung gegen die Berührung mit hellenistischer Geistigkeit und Philosophie, da, wie Pitts, Schools 33–50, ausführt, hier mit dem Vorhandensein hellenistischer Bildungseinrichtungen (evtl. bis hin zu Rhetorenschulen) zu rechnen ist, die auch von Juden frequentiert wurden. 544 Vgl. Muir, Life 117 und 140; Stowers, Letter Writing 96 und 108. 545 Vgl. Eckstein, Gemeinde 113–116. 546 So das Urteil bei Albrecht, Geschichte 2, 938f. 547 Näheres zum Stilniveau antiker Lehrbriefe bei Stirewalt, Letter Essay 199–204. 548 Bei Epikur überschreiten die drei großen Lehrbriefe zweifelsohne die Vorgaben der antiken Brieftheorie für Umfang und Inhalt eines Briefes. Bei Senecas Lucilius-Briefen nimmt – wie schon früher angemerkt – vor allem gegen Ende der Sammlung die Länge der Briefe immer mehr zu. Gleichzeitig nähern sich die Briefe auch inhaltlich immer mehr einem philosophischen Traktat an; vgl. z. B. epist. 117.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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eine größere Rolle, als es zu nächst den Anschein haben mag. Denn was im Konflikt zwischen Paulus, seinen Adressaten und den konkurrierenden Missionaren zur Disposition steht, ist die wahre Lehre und die Frage, wer sie vertritt (Gal 1,6–9). Weil er sich und seine Lehre in Frage gestellt sieht, trägt Paulus sie im Galaterbrief nicht nur in sachlich argumentativer Entfaltung vor, sondern greift zu Polemik (Gal 3,1) und beißenden Invektiven gegen seine Konkurrenten (Gal 5,12). Der Paulus des Galaterbriefes ist demnach ein »Lehrer«, der seine Lehre bei seinen »Schülern« in Galatien gegen konkurrierende Meinungen verteidigen bzw. Fehlinterpretation und Verfälschung seiner Lehre durch Konkurrenten mit allen Mitteln entkräften muss (vgl. Gal 1,8f.; 3,3; 5,7f.11).549 Bereits Epikur sah seine Briefe offenbar als geeignetes Instrument, um absichtliche Falschdarstellungen und Verzeichnungen seiner Lehre zu korrigieren und zurückzuweisen (Diog. Laert. 10,131–132).550 Außerdem sollten die Briefe Schulangehörige bestärken und gegen die Lehren konkurrierender Schulen immunisieren, um ihren Wechsel zu anderen philosophischen Schule zu verhindern.551 Analogien dazu lassen sich ebenfalls bei Paulus im Galaterbrief finden (vgl. S. 260 zu Gal 1,6). Wenn der Galaterbrief, wie die vorausgehenden Überlegungen zu zeigen versucht haben, tatsächlich dem antiken philosophischen Lehrbrief zumindest nahe steht, so müssten sich an ihm auch die formalen Charakteristika identifizieren lassen, wie sie Martin Luther Stirewalt (1977) als typisch für den (griechischen) Lehrbrief bzw. Letter Essay erarbeitet hat und wie sie unter anderem in den Briefen Epikurs und den von ihnen formal beeinflussten Lucilius-Briefen Senecas präsent sind.552 A. Das Präskript des philosophischen Lehrbriefs weist keine signifikanten Besonderheiten auf, sondern folgt in der Regel dem üblichen Schema ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν (lat. aliquis alicui salutem), während das Präskript des Galaterbriefes zahlreiche Modifikationen und Erweiterungen aufweist, mit denen Paulus seine Adressaten auf das Anliegen und die Hauptinhalte des 549

Vgl. auch Vielhauer, Geschichte 112f. Dazu Klauck, Ancient Letters 152; ders., Briefliteratur 123; Eckstein, Gemeinde 93. 551 Eckstein, Gemeinde 128–130, hebt diesen Aspekt für den Brief an Pythokles hervor. Der Brief soll den in Lampsakos ansässigen Kreis der Schüler Epikurs in ihren Überzeugungen stärken und sie gegen den Einfluss einer im benachbarten Kyzikos ansässigen Gruppe von Anhängern der Lehren des Eudoxos von Knidos immunisieren. Zwischen beiden Gruppen bestand offenbar ein heftiger Konkurrenzkampf, der auch Versuche der wechselseitigen Abwerbung von Anhängern sowie mitunter eine scharfe Polemik (vgl. Diog. Laert. 10,8) einschloss. 552 Seinen Aussagen zur typischen Form dieser »Briefgattung« legt er ein Corpus von fünfzehn griechischen »Briefen« zugrunde, die er als echte Lehrbriefe bzw. Letter-Essays erachtet, darunter die Briefe Epikurs, die Briefessays des Dionysios von Halikarnass und Plutarch, das Polykarpmartyrium und das 2. Makkabäerbuch. Vgl. Stirewalt, Letter-Essay 185. Zu den formalen Kennzeichen des Letter-Essays bei Stirewalt vgl. auch Pitts, Contexts 275f. Die Briefe Epikurs gehören, wie bereits angemerkt zur Gruppe jener Texte, anhand derer Stirewalt die formalen Kennzeichen des Letter-Essay entwickelt. Nach Pitts, Contexts 277f., folgen auch die Lucilius-Briefe Senecas in ihrer Form dem Letter-Essay. 550

304

5. Der Brief an die Galater

Briefes vorbereiten.553 Da dies allgemeine Spezifika frühchristlicher Briefe sind, ist dieser Unterschied für die Frage der Zuordnung des Galaterbriefes zum Lehrbrief nicht signifikant. B. In der Corpuseröffnung findet sich bei Lehrbriefen neben der Themenangabe meist auch ein Hinweis auf Anlass und Zielsetzung des Briefes.554 Der Anlass besteht meist in der Bitte des Adressaten um eine Belehrung, kann aber auch, wie z. B. in den Briefen Epikurs an Herodot und Menoikeus, in einer Art Eigeninitiative des Absenders bestehen, der es aus Sorge um das Wohlergehen seines Adressaten für nötig hält, ihn zu belehren (Diog. Laert. 10,35–37 und 122). Ähnlich liegen die Dinge beim Galaterbrief, der in der Corpuseröffnung (Gal 1,6–9) die durch die Vorgänge in den galatischen Gemeinden genährte Sorge des Paulus um die Wahrheit des Evangeliums und damit verbunden auch um das Heil der Adressaten als Anlass des Briefes zu erkennen gibt. Als Ziel des Briefes lässt sich der Corpuseröffnung die Absicht des Paulus entnehmen, diejenige abzuwehren und zu widerlegen, die bei den Galatern die Wahrheit und Reinheit seiner Lehre verfälschen, und die Adressaten ihrem verderblichen Einfluss zu entziehen. Aussagen über die Art und Weise der Darstellung des Lehrgegenstandes, wie sie die meisten Lehrbriefe explizit oder zumindest implizit in der Corpuseröffnung formulieren, lassen sich im Galaterbrief nicht erkennen, es sei denn man möchte die Aussagen μετατίϑεσϑε ἀπὸ τοῦ καλέσαντος ὑμᾶς ἐν χάριτι [Χριστοῦ] εἰς ἕτερον εὐαγγέλιον in Gal 1,6 und εἴ τις ὑμᾶς εὐαγγελίζεται παρ᾿ ὃ παρελάβετε in Gal 1,9 dahingehend deuten, dass der Galaterbrief von seinen Adressaten als eine situationsbezogene Rekapitulation und Aktualisierung der Erstverkündigung des Paulus gelesen werden soll.555 Ein weiteres typisches Merkmal für die Corpuseröffnung des Lehrbriefes ist die direkte Hinwendung zum Adressaten durch die Setzung des Personalpronomens der 2. Person und/oder ein finites Verb in der 2. Person sowie seine direkte Anrede im Vokativ.556 Auch diese Elemente lassen sich in Gal 1,6–9 identifizieren (vgl. ὑμᾶς und ὑμῖν sowie μετατίϑεσϑε und παρελάβετε); lediglich die direkte Anrede der Adressaten im Vokativ ist in die Eröffnung des ersten Hauptabschnittes der dreiteiligen Corpusmitte verschoben (ἀδελφοί in Gal 1,11). C. Die Überleitung von der Eröffnung zum Hauptteil des Corpus erfolgt in der Regel mit der charakteristischen Formel πρῶτον μὲν οὖν oder vergleichbaren Formulierungen.557 Eine solche Überleitung fehlt im Galaterbrief, falls nicht ἄρτι γάρ in Gal 1,10 im Sinne von »nun denn« dafür eintritt.558 D. Der umfangreiche Hauptteil des Briefes, die Corpusmitte, ist in Lehrbriefen in der Art eines Traktates vorwiegend in der dritten Person geschrieben; die sachliche Darstellung der Lehre 553 Eine entsprechende christliche Modifikation zeigt auch das Präskript des in Briefform verfassten Polykarpmartyriums, das Stirewalt ebenfalls dem Lehrbrief bzw. Letter-Essay zurechnet; vgl. Stirewalt, Letter-Essay 186. Das Präskript wurde bereits im Zusammenhang mit dem frühchristlichen Briefformular besprochen; vgl. dazu oben S. 88f. 554 Vgl. Stirewalt, Letter-Essay 186–189, mit Belegstellen und Textbeispielen. 555 Belege und Textbeispiele bei Stirewalt, Letter-Essay 189f. 556 Vgl. Stirewalt, Letter-Essay 190f. 557 Varianten und Belege bei Stirewalt, Letter-Essay 191. 558 Zu ἄρτι vgl. Liddell/Scott, Lex. 248f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 221; Preisigke, Wb.Pap. 1, Sp. 217. Dafür müsste man allerdings annehmen, dass die temporale Bedeutung von ἄρτι in den Hintergrund tritt und es im Sinne von νυνί gebraucht wird. Zudem müsste γάρ als Bekräftigungspartikel verwendet sein, was nicht unmöglich ist; vgl. Liddell/Scott, Lex. 338f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 304f. Zur Problematik eines temporalen und kausalen Neueinsatzes in Gal 1,10 vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 18; Mußner, Galaterbrief (HThK) 63; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 47.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

305

wird nur gelegentlich durch persönliche Statements in der ersten Person und Anreden der Adressaten in der zweiten Person unterbrochen, so dass der Briefcharakter stark in den Hintergrund tritt.559 Im Galaterbrief dagegen bleibt der briefliche Charakter, d. h. der Eindruck einer realen Kommunikation zwischen Absender und Adressaten auch in der Corpusmitte mit ihren argumentativ belehrenden Passagen durch den reichlichen Gebrauch der ersten und der zweiten Person erhalten (vgl. Gal 3,1–5; 4,8–11.12–20; 5,2–6.7–12.13–15).560 Dennoch lässt sich allein deshalb eine Nähe des Galaterbriefes zum philosophischen Lehrbrief nicht bestreiten, da die Corpusmitte von Epikurs Brief an Menoikeus denselben eindeutig brieflichen Charakter mit Elementen einer unmittelbaren Kommunikation zwischen Absender und Adressat aufweist (dasselbe gilt durchgängig für die Briefe Senecas an Lucilius).561 E. Der Corpusabschluss der Lehrbriefe scheint keine feste Gestalt zu besitzen.562 Immerhin lassen sich am Ende des Galaterbriefes Elemente identifizieren, die auch in typischen Lehrbriefen im Corpusabschluss verwendet wurden.563 Aufgrund der spezifischen Gestaltung des Briefschlusses im Galaterbrief, d. h. durch den Einschub des langen eigenhändigen Subskripts (vgl. S. 241) zwischen Corpusabschluss und Postskript, sind sie jedoch teilweise etwas anders eingeordnet. Wie in den Briefen Epikurs an Herodot und Pythokles markiert die Anrede der Adressaten im Vokativ den Beginn bzw. die Überleitung zum Schlussabschnitt (Gal 6,11; Diog. Laert. 10,82). Die zusammenfassende Schlussmahnung und der direkte Appell an die Adressaten im Imperativ findet sich ebenfalls in den Briefen Epikurs (Gal 6,6–10.11–17; Diog. Laert. 10,82f. und 10,135).

Der Galaterbrief bleibt also durchaus im Rahmen der formalen Kriterien, die Martin L. Stirewalt als typische Merkmale des griechischen Lehrbriefes bzw. Letter Essay erarbeitet hat.564 Unabhängig von der Frage, wie signifikant die einzelnen Elemente wirklich für die Identifikation eines Lehrbriefes sein mögen, lässt sich dem Vergleich immerhin soviel entnehmen, dass es ausgehend von der formalen Gestaltung keine zwingenden Gründe gibt, die von vornherein eine Verbindung des Galaterbriefes mit der Briefgattung »Lehrbrief« ausschließen würden. Außerdem erfüllt der Galaterbrief ein weiteres formales 559

Dazu Stirewalt, Letter Essay 191–193. Der Gebrauch der 1. Person im ersten Hauptteil der Corpusmitte Gal 1,10 – 2,21 ist hier jedoch differenziert zu betrachten, da er hier in den meisten Fällen der autobiographischen Thematik geschuldet und insofern argumentativ belehrend und nicht Ausdruck einer unmittelbaren Kommunikation mit den Adressaten ist. 561 Vgl. Stirewalt, Letter Essay 193. 562 Vgl. Stirewalt, Letter Essay 196. 563 Die einzelnen Elemente mit Belegen bei Stirewalt, Letter Essay 194f. 564 Jegher-Bucher, Galaterbrief 39–42, kommt zu dem Ergebnis, der Galaterbrief stimme zwar in einigen Punkten mit dem von Stirewalt angenommenen Ideal-Schema des Letter-Essay überein, besitze aber nicht den für den Letter-Essay typischen lockeren Aufbau. Zudem sei der Galaterbrief im Unterschied zum Letter-Essay aus einem konkreten Anlass geschrieben, sei also ein echter Brief, nicht ein Traktat in Briefform. Dieses Urteil von Jegher-Bucher steht in der Nachfolge von Deißmanns problematischer scharfer Dichotomie von »Brief« und »Epistel«. Im einzelnen bedürfte es aber einer genaueren Überprüfung, ob alle genannten formalen Kennzeichen wirklich spezifische Charakteristika des Lehrbriefes oder Letter-Essay sind oder ob sie nicht zu den allgemeinen Formalia antiker Briefe gehören (z. B. die Anrede der Adressaten mit Personalpronomen und/oder Vokativ in der Corpuseröffnung). 560

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5. Der Brief an die Galater

und funktionales Kriterium, das Martin L. Stirewalt als kennzeichnend für den Lehrbrief oder Letter Essay erachtet. Solche Briefe bieten nämlich, wie sie gewöhnlich in der Corpuseröffnung hervorheben, eine Unterstützung bzw. Ergänzung sonstiger Unterweisungen, die der Absender (dem Adressaten) bereits früher mündlich und/oder schriftlich gegeben hat.565 Dies ist auch beim Galaterbrief der Fall, wie man den Rekurs-Formeln in Gal 1,9 und 5,21 entnehmen kann, die den Adressaten die mündliche Predigt des Paulus ins Gedächtnis rufen sollen (vgl. dazu S. 224 und 240). Bei den Überlegungen von Martin L. Stirewalt zur Form des Lehrbriefes treten funktionale Aspekte, vor allem die bereits angesprochene Ausrichtung auf praktische Lebensgestaltung und die Hilfestellung auf dem Weg zu moralischer Vollkommenheit, aber auch die freundschaftliche Beziehung zwischen Absender und Adressat in den Hintergrund. Dies hat seinen Grund sicher darin, dass die von ihm herangezogenen Briefe trotz der formalen Gemeinsamkeit in diesen Punkten sehr heterogen sind. Lebenshilfe und Tugendlehre sind in den stilkritischen Brief-Essays des Dionysios von Halikarnass weit weniger ein vordringliches Anliegen als in dem an Menoikeus adressierten philosophischen Lehrbrief, den Epikur als Kompendium seiner Ethik konzipiert hat. Es bedarf wohl keiner Begründung, dass der Galaterbrief, sofern man ihn im Zusammenhang mit antiken Lehrbriefen sehen will, eindeutig näher an den Briefen des Epikur steht. Als Gemeinsamkeiten wurden bereits genannt die ethische Unterweisung und die Ausrichtung auf das Wohlergehen der Adressaten sowie die Funktion der Briefe als Mittel der Kontaktpflege und Seelenführung. Da die Briefe Epikurs nicht einfach nur Wissen vermitteln und eine Lehre darlegen wollen, sondern zu konkreten Haltungen und Verhaltensweisen aufrufen wollen, eignet ihnen ein stark appellativer Ton.566 Der damit verbundene didaktisch-pädagogische Stil findet sich auch in anderen antiken Lehrbriefen, die in der Tradition der Briefe Epikurs stehen, so z. B. in den schon genannten Briefen Senecas an Lucilius.567 Die Sprache philosophischer Lehrbriefe, wie sie von Epikur und Seneca verfasst wurden, ist demnach nicht einfach nur deskriptiv, sondern in hohem Maße präskriptiv, d. h. die Briefe bieten ihre moralische Paränese in Form klarer und expliziter Handlungsanweisungen und Vorschriften. Mehr noch als Epikur setzt Seneca in seinen Briefen immer wieder Imperative, die – teilweise 565 Dazu Stirewalt, Letter-Essay 180 und 197–199; diese Funktion bzw. dieses Charakteristikum des Lehrbriefes (Letter-Essay) belegt er mit entsprechenden Aussagen in den Briefen Epikurs (Diog. Laert. 10,37.84) und in den Traktaten in Briefform des Dionysios von Halikarnass (Amm. 2,131; Pomp. 97. 105ff.) sowie bei Plutarch (mor. 86c; 1012b). 566 Vgl. Eckstein, Gemeinde 126 (für Pyth.). 567 Instruktiv dafür die exemplarische Untersuchung A. D. Morrison, Didacticism and Epistolarity in Horace’s Epistles 1, in: Morello/Morrison, Ancient Letters 107–131; auch hier wird der große Einfluss der Briefe Epikurs auf die Form und Gattung des antiken Lehrbriefes herausgestellt.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

307

auch in Reihen – Gebote, Verbote, Mahnungen und Warnungen an den Adressaten formulieren (z. B. epist. 5,2f.; 16,2; 28,10). Um seine Adressaten bzw. Leser von der Sinnhaftigkeit und dem Nutzen der gegebenen Anweisungen zu überzeugen und um ihn zu ihrer Umsetzung zu bewegen, setzt Seneca anerkannte historische Exempla, Beispiele aus dem täglichen Leben und illustrierende Vergleiche ein.568 Die dabei verwendete »argumentative« Struktur hat meist folgende Gestalt: Zunächst wird mehr oder weniger detailliert und elaboriert der Vergleich oder auch das Exemplum oder Beispiel geschildert. Damit verbindet Seneca eine allgemeine Deutung, die die Funktion und Intention der Erzählung offen legen soll.569 Dann folgt ihre Anwendung (Applikation) auf die konkrete Situation, in die hinein der Brief spricht (bzw. vorgibt gesprochen zu sein), und davon unterschieden eine abschließende Aufforderung (Adhortation) im Imperativ, die in der Regel mit einer folgernden Partikel eingeleitet wird (»deshalb«, »also« o. ä.).570 In einem Brief ermahnt Seneca beispielsweise Lucilius mit Hilfe eines Exemplums zu der einem Weisen angemessenen Haltung angesichts des unausweichlichen Todes (epist. 77,14f.): (14) Exempla nunc magnorum virorum me tibi iudicas relaturum? puerorum referam. [Exemplum] Lacon ille memoriae traditur, inpubis adhuc, qui captus clamabat »non serviam« sua illa Dorica lingua, et verbis fidem inposuit: ut primum iussus est fungi servili et contumelioso ministerio (adferre enim vas obscenum iubebatur), inlisum parieti caput rupit. [Deutung] (15) Tam prope libertas est: et servit aliquis? [Anwendung] Ita non sic perire filium tuum malles quam per inertiam senem fieri? Quid ergo est cur perturberis, si mori fortiter etiam puerile est? [Aufforderung] Puta nolle te sequi: duceris. Fac tui iuris quod alieni est. Non sumes pueri spiritum, ut dicas »non servio«? Infelix, servis hominibus, servis rebus, servis vitae; nam vita, si moriendi virtus abest, servitus est.

568 Dazu ausführlich Cancik, Untersuchungen 22–35. Beispiele und Exempla sind insbesondere für die lateinische Literatur zu unterscheiden. Das Exemplum meint den argumentativen Verweis auf eine historische Persönlichkeit bzw. auf ihr Verhalten in einer bestimmten historischen Situation (vgl. Cic. inv. 1,49); als Beispiel werden dagegen erfundene Gestalten und Situationen sowie typische Situationen bezeichnet. Der Vergleich schließlich bezieht sich auf Vorgänge und Dinge aus dem nicht-menschliche Bereich. Zu diesen Unterscheidungen Cancik, Untersuchungen 24. Zu den argumentativen Strukturen in den Lucilius-Briefen vgl. auch Probst, Paulus 92–96. 569 Cancik, Untersuchungen 24, nennt dies »Exegese«; dieser Begriff wird hier allerdings vermieden, weil er im theologischen Kontext falsche Vorstellungen und Erwartungen, evozieren könnte. 570 Treffend bemerkt dazu Cancik, Untersuchungen 25: »Der Imperativ, der sich an das Individuum richtet und auf sein Handeln Einfluss nehmen soll, folgt also nicht nur auf solche Erzählungen, sondern auch aus ihnen.«

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5. Der Brief an die Galater

In einem anderen Brief warnt er Lucilius mit Hilfe eines Vergleiches davor, auf solche Zeitgenossen zu hören, die mehr dem Luxus als der Philosophie zugetan sind (epist. 123,9): [Vergleich] Quemadmodum qui audierunt synphoniam ferunt secum in auribus modulationem illam ac dulcedinem cantuum, quae cogitationes inpedit nec ad seria patitur intendi, [Deutung] sic adulatorum et prava laudantium sermo diutius haeret quam auditur. [Anwendung] Necfacile est animo dulcem sonum excutere: prosequitur et durat et ex interuallo recurrit. [Aufforderung] Ideo cludendae sunt aures malis vocibus et quidem primis; namcum initium fecerunt admissaeque sunt, plus audent.

Diese Art der »Argumentation« zielt mehr auf den Affekt als auf den Verstand der Leser.571 Ähnliche Techniken und Argumentationsformen benutzt auch Paulus im Galaterbrief. An die Stelle der historischen Exempla, die für Seneca und seine Leser den Stellenwert eines unhinterfragbaren Autoritätsbeweises haben, treten bei Paulus jedoch biblische Erzählungen und Gestalten und damit die Autorität der »Schrift« (Gal 3,8.10; 4,22.27; vgl. dazu S. 265 und 267).572 Die Erzählungen von Abraham (Gal 3,6–9 mit 3,14.16.18) sowie Sara und Hagar (Gal 4,21–31) werden dabei nicht einfach mehr oder weniger wörtlich zitiert, sondern von Paulus in einer Paraphrase so modifiziert, dass für die Adressaten ihr Skopos leicht fassbar wird.573 Ähnlich wie in den Lucilius-Briefen Senecas verbindet auch Paulus seine Schriftverweise mit einer Deutung bzw. Auslegung, die dann auf die Situation der Adressaten angewandt wird und sie implizit oder explizit zu einem bestimmten Verhalten bzw. einer bestimmten Haltung auffordert. Eine mit den Vergleichen der Lucilius-Briefe 571 Als weitere Belege für diese Argumentations- und Darstellungsmuster in den LuciliusBriefen lassen sich nennen: für Exempla z. B. epist. 28,2; 33,10f.; 82,12–14; 91,17f.; für Beispiele z. B. epist. 14,8f.; 23,5f.; 78,16f.; für Vergleiche z. B. epist. 50,6f.; 52,5f.; 60,2f.; 70,3f.; 114,24f. Ergänzend ist anzumerken, dass die Reihenfolge der Elemente variieren kann und dass das letzte und gelegentlich auch das vorletzte Elemente fehlen kann, vor allem wenn mehrere Exempla etc. in Reihe auftreten oder Anwendung und Aufforderung sich ohnehin zwingend aus dem Kontext ergeben oder schon in der Art der Einführung des Exemplums etc. impliziert sind. 572 Die autoritative Verwendung eines Textes, nämlich eines Dichterzitates, dem freilich nicht derselbe Status zukommt wie der »Schrift« bei Juden und Christen, findet sich an einigen Stellen auch in den Lucilius-Briefen (z. B. epist. 95,11; 107,11f.). 573 Dazu vor allem Lührmann, Galater (ZBK) 74–79, bes. 78f. in Verbindung mit ebd. 59 und 64; außerdem Matera, Galatians (Sacra Pagina) 175, sowie Longenecker, Galatians (WBC) 199–206, der den Umgang des Paulus mit der Erzählung von Sarah und Hagar in den Kontext ihrer jüdischen Rezeption und Auslegung einordnet. Insgesamt lässt sich der argumentative Umgang des Paulus mit der »Schrift« im Galaterbrief so zusammenfassen: Nicht die »Schrift« erklärt und erschließt das Evangelium, sondern das Evangelium (so wie es in den Pistis-Formeln des Präskripts zusammengefasst ist) erschließt den Sinn der »Schrift«. Vgl. auch Becker, Galater (NTD) 55–57.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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verwandte argumentative Struktur, die an die Einsicht der Adressaten appelliert, ihnen primär aber ein klare Handlungsanweisung geben will, lässt sich am Galaterbrief (mit gewissen Einschränkungen) an den Ausführungen des Paulus zur Hagar-Sara-Erzählung in Gal 4,21–31 (mit 5,1) erkennen.574 4,21

λέγετέ μοι, οἱ ὑπὸ νόμον ϑέλοντες εἶναι, τὸν νόμον οὐκ ἀκούετε;

[Schrift] 22 γέγραπται γὰρ ὅτι Ἀβραὰμ δύο υἱοὺς ἔσχεν, ἕνα ἐκ τῆς παιδίσκης καὶ ἕνα ἐκ τῆς ἐλευϑέρας. 23 ἀλλ’ ὁ μὲν ἐκ τῆς παιδίσκης κατὰ σάρκα γεγέννηται, ὁ δὲ ἐκ τῆς ἐλευϑέρας δι’ ἐπαγγελίας (Gen 16,15; 21,2.9). [Deutung] 24 ἅτινά ἐστιν ἀλληγορούμενα· αὗται γάρ εἰσιν δύο διαϑῆκαι, μία μὲν ἀπὸ ὄρους Σινᾶ εἰς δουλείαν γεννῶσα, ἥτις ἐστὶν Ἁγάρ. 25 τὸ δὲ Ἁγὰρ Σινᾶ ὄρος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀραβίᾳ· συστοιχεῖ δὲ τῇ νῦν Ἰερουσαλήμ, δουλεύει γὰρ μετὰ τῶν τέκνων αὐτῆς. 26 ἡ δὲ ἄνω Ἰερουσαλὴμ ἐλευϑέρα ἐστίν, ἥτις ἐστὶν μήτηρ ἡμῶν· [ergänzendes Schriftwort] 27 γέγραπται γάρ· εὐφράνϑητι, στεῖρα ἡ οὐ τίκτουσα, ῥῆξον καὶ βόησον, ἡ οὐκ ὠδίνουσα· ὅτι πολλὰ τὰ τέκνα τῆς ἐρήμου μᾶλλον ἢ τῆς ἐχούσης τὸν ἄνδρα (Jes 54,1 LXX). [Anwendung] 28 ὑμεῖς δέ, ἀδελφοί, κατὰ Ἰσαὰκ ἐπαγγελίας τέκνα ἐστέ. 29 ἀλλ’ ὥσπερ τότε ὁ κατὰ σάρκα γεννηϑεὶς ἐδίωκεν τὸν κατὰ πνεῦμα, οὕτως καὶ νῦν. [Aufforderung mit ergänzendem Schriftwort] 30 ἀλλὰ τί λέγει ἡ γραφή; ἔκβαλε τὴν παιδίσκην καὶ τὸν υἱὸν αὐτῆς· οὐ γὰρ μὴ κληρονομήσει ὁ υἱὸς τῆς παιδίσκης μετὰ τοῦ υἱοῦ τῆς ἐλευϑέρας (Gen 21,10 LXX). 31 διό, ἀδελφοί, οὐκ ἐσμὲν παιδίσκης τέκνα ἀλλὰ τῆς ἐλευϑέρας. 5,1 τῇ ἐλευϑερίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλευϑέρωσεν· στήκετε οὖν καὶ μὴ πάλιν ζυγῷ δουλείας ἐνέχεσϑε.

Neben autoritativen Argumenten aus der »Schrift« verwendet Paulus Vergleiche, die vor allem aus dem Rechtsleben stammen und gezielt das Vorwissen und die praktische Lebenserfahrung der Adressaten als Mittel der Überzeugung integrieren (Gal 3,15–18.23–29; 4,1–7). Eine Struktur, die an die Vergleiche bei Seneca erinnert, lässt sich hier jedoch nur sehr bedingt erkennen. Am ehesten zeigt sie sich bei dem Vergleich in Gal 4,1–7, der den Adressaten die Behauptung des Paulus, dass mit dem Kommen Christi die Zeit der Gesetzesverpflichtung definitiv ihr Ende gefunden hat, illustrieren und dadurch plausibel machen soll:575 [Vergleich mit integrierter Deutung] 4,1 λέγω δέ, ἐφ’ ὅσον χρόνον ὁ κληρονόμος νήπιός ἐστιν, οὐδὲν διαφέρει δούλου κύριος πάντων ὤν, 2 ἀλλὰ ὑπὸ ἐπιτρόπους ἐστὶν καὶ οἰκονόμους ἄχρι τῆς προϑεσμίας τοῦ πατρός. [Anwendung] 3 οὕτως καὶ ἡμεῖς, ὅτε ἦμεν νήπιοι, ὑπὸ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου ἤμεϑα δεδουλωμένοι· 4 ὅτε δὲ ἦλϑεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου, ἐξαπέστειλεν ὁ ϑεὸς τὸν υἱὸν 574 Eine ähnliche Strukturierung dieser Stelle bei Becker, Galater (NTD) 71, der sie als »relativ fest formulierte Schulexegese« deutet. Vgl. außerdem die Gliederung und Auslegung bei Vouga, Galater (HNT) 113–120. 575 Dies ermöglicht eine genauere Beschreibung des Gedankengangs als die übliche Untergliederung in Beispiel (vv. 1–2) und Anwendung (vv. 3–7), wie sie sich z. B. bei Matera, Galatians (Sacra Pagina) 154, findet; differenzierter dagegen bereits Mußner, Galaterbrief (HThK) 266–277; Vouga, Galater (HNT) 97–103.

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5. Der Brief an die Galater

αὐτοῦ, γενόμενον ἐκ γυναικός, γενόμενον ὑπὸ νόμον, 5 ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ, ἵνα τὴν υἱοϑεσίαν ἀπολάβωμεν. 6 ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ ϑεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ. [Aufforderung] 7 ὥστε οὐκέτι εἶ δοῦλος ἀλλὰ υἱός· εἰ δὲ υἱός, καὶ κληρονόμος διὰ ϑεοῦ.

Die Aufforderung in Gal 4,7 ist zwar nicht im Imperativ formuliert, dennoch bleibt an ihrem appellativen und präskriptiven Charakter für den Leser kein Zweifel. Da nämlich »erben« den Empfang und Besitz des eschatologischen Heiles bedeutet, besagt Gal 4,7 nichts anderes, als dass der Christ durch Taufe und Glaube bereits den Status des Heiles erlangt hat.576 Es ist für die Adressaten also unnötig, dass sie sich um ihres Heiles willen beschneiden lassen und die Gesetzesverpflichtung übernehmen (im Gegenteil, nach Gal 3,10–14 birgt dieser Weg sogar die Gefahr, das schon erlangte Heil wieder zu verlieren). Die implizite Aufforderung in Gal 4,7 lautet demnach: Lasst euch nicht beschneiden, denn ihr seid ja schon »vollständig« im Heil. Diese argumentativen Strukturen, d. h. die Verwendung von Exempla und Vergleichen, ist jedoch genau besehen keine Eigenart und kein exklusives Charakteristikum des pädagogisch-didaktischen Stils. Als Mittel der Überzeugung werden sie in den antiken Handbüchern der Rhetorik unter dem Stichwort exemplum (bzw. παράδειγμα) und similitudo (bzw. παραβολή) behandelt und für die Rede empfohlen (vgl. S. 354). Das zugehörige rhetorische Argumentationsverfahren, das hier mit den Begriffen Deutung, Anwendung und Aufforderung beschrieben wurde, ist die inductio (bzw. ἐπαγωγή; vgl. S. 355). Die Nähe des Galaterbriefes zu den Lucilius-Briefen des Seneca in diesem Darstellungsmuster kann deshalb nicht von Vornherein als Indiz für ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Gattung »Lehrbrief« gewertet werden, sondern verdanken sich einem gemeinsamen Hintergrund in der antiken Rhetorik. Insofern können die Lucilius-Briefe Senecas als Hinweis dafür gesehen werden, dass die Rezeption von rhetorischen Darstellungs- und Argumentationsformen im Lehrbrief üblich und möglich war. Damit zeigen die Lucilius-Briefe außerdem, dass die Briefe gebildeter Verfasser, die wie Seneca den Rhetorikunterricht durchlaufen hatten, durchaus Elemente der Rhetorik integrieren und für ihre Darstellung und Argumentation nutzen konnten.577 Typisch für den pädagogisch-didaktischen Stil, der die Briefe Senecas und den Galaterbrief verbindet, ist jedoch eine Art der Erörterung und Behand576

Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 276f.; Radl, Galaterbrief (SKK) 64f.; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 156; Longenecker, Galatians (WBC) 175. 577 Seneca war der Sohn eines Rhetors und Rhetoriklehrers (Seneca d. Ä.) aus der römischen Kolonie Corduba (Cordoba) auf der iberischen Halbinsel. Als Abkömmling einer wohlhabenden Familie des Ritterstandes hatte er in Rom die für Mitglieder der römischen Oberschicht obligatorische rhetorische Ausbildung erhalten. Vgl. Albrecht, Geschichte 2, 918– 921; Fuhrmann, Geschichte 274–276; Conte, Latin Literature 408f.; Dihle, Literatur 101f.; Reitz, Literatur 26f.; außerdem Bauer, Who is who 236–240.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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lung des Stoffes, die man in der neutestamentlichen Forschung gewöhnlich als »Diatribe« bezeichnet.578 Über die Problematik und Angemessenheit des Begriffs διατριβή bzw. διατριβαί, der in der Antike keine literarische Gattung, sondern eher eine Tätigkeit bezeichnet, ist hier nicht zu verhandeln.579 »Diatribe« soll hier lediglich als Hilfsbegriff für eine bestimmte Art der Darstellung und Argumentation verwendet werden, d. h. für einen Stil, der sich am Lehrvortrag bzw. Lehrgespräch des Schulunterrichts orientiert.580 Dazu gehört neben der einfachen Sprache vor allem der Gesprächscharakter, d. h. die Integration eines fiktiven Gesprächspartners, der mit seinen Fragen, Einwürfen und Einwänden den Gedankengang strukturiert und für den Leser durchschaubar und leicht nachvollziehbar macht.581 Dieser dialogische Charakter findet sich sowohl bei Seneca als auch bei Paulus.582 Der Gesprächspartner ist jedoch zumindest im Galaterbrief kein bloß imaginierter, sondern der in der adscriptio genannte Adressat des Briefes; modifiziert gilt dies auch für die Lucilius-Briefe, obwohl diese vermutlich nicht an den Adressaten verschickt wurden, sondern als publizierte Briefsammlung letztlich eine fingierte briefliche Kommunikation darstellen.583 578 Zur Diatribe im Galaterbrief Aune, Environment 207f.; für die Briefe Senecas Conte, Latin Literature 414f. Nach Moulton/Turner, Grammar 4, 81f., sind die Berührungen mit dem Stil der Diatribe, wie er sich bei Seneca und Epiktet/Arrian zeigt, bei Paulus nur oberflächlich; er habe sie von der hellenistischen Synagoge übernommen. Zur Problematik des Begriffs »Diatribe«, zur damit bezeichneten »Sache« und zur forschungsgeschichtlichen Einordnung vgl. insbesondere Schmeller, Paulus 1–21; Näheres zu Elementen der Diatribe in den Briefen des Paulus und zur Frage ihrer »Herkunft« ebd. 55–97 und 389–437. 579 Näheres dazu bei Stowers, Diatribe 71–73. 580 Vgl. Stowers, Diatribe 74f.; G. Schrot, Diatribai. KP 2 (1979) Sp. 1577f.; K.-H. Uthemann, Diatribe. DNP 3 (1997) Sp. 530–534; außerdem Schmeller, Paulus 21–54. 581 Zu Merkmalen und typischen Darstellungsweisen der »Diatribe« Stowers, Diatribe 75f. 582 Der Gesprächscharakter der »Diatribe« zeigt sich im Galaterbrief in Fragen, die mögliche Einwände der Adressaten vorwegnehmen sollen, um sie dann argumentativ zu entkräften (Gal 2,17; 3,19.21). Außerdem lassen sich vorwurfsvolle und provozierende (rhetorische) Fragen nennen, die sich an die Adressaten richten und sie zu bestimmten Stellungnahmen und Schlussfolgerungen zwingen sollen (Gal 3,1–5; 4,9.15f.21; 5,7). Zur »Diatribe« gehören aber auch Statements, die eine didaktische Hinwendung zu den Adressaten benennen, z. B. das Bemühen um eine Erläuterung schwieriger Zusammenhänge (vgl. Gal 3,15.17; 4,1; 5,16), oder auch ihre direkte Anrede, die motivieren und involvieren soll (vgl. Gal 3,15; 4,12.19.31; 5,11; 6,1). Für die Lucilius-Briefe des Seneca sei exemplarisch lediglich auf zwei Passagen verwiesen, in denen sich dieser dialogisch-didaktische Stil deutlich zeigt: vgl. epist. 16,5; 23,6. 583 Dieser dialogische Charakter darf nicht mit dem von der antiken Brieftheorie geforderten Gesprächsstil des Briefes verwechselt werden. Denn die Brieftheorie weiß um die zeitliche und räumliche Distanz sowie um die Schriftlichkeit der brieflichen Kommunikation. Der dialogische Stil der »Diatribe« dagegen hebt diese Distanz auf, indem sie den realen oder fiktiven Gesprächspartner im Text bereits vorwegnehmend zu Wort kommen lässt. Da der Brief aber eine Nähe zum Gesprächston und damit ähnliche Darstellungsprinzipien fordert, ist die Integration von Elementen der »Diatribe« in den Brief besonders leicht und naheliegend. Vgl. Stowers, Diatribe 76.

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5. Der Brief an die Galater

Ein weiterer charakteristischer Zug in den Lucilius-Briefen, für den sich möglicherweise ebenfalls eine Entsprechung bei Paulus findet, ist die bewusste Selbstdarstellung Senecas in der Form des Redens über sich und die eigene sittliche Persönlichkeit. Seneca spricht im Unterschied zu Epikur auffallend oft über sein eigenes Ringen um Fortschritte auf dem Weg zur Tugend und Vollkommenheit und bringt zugleich das stolze Bewusstsein über seine Leistungen auf diesem Gebiet zum Ausdruck.584 Dadurch signalisiert er seinem Adressaten bzw. Leser, dass die Anweisungen, die er gibt, durch eigene Erfahrung erprobt und bewährt sind und dass er selbst in Übereinstimmung mit seiner Lehre lebt. So präsentiert er sich als Lehrer, der mit seinem Leben und seiner Persönlichkeit ein nachahmenswertes Vorbild ist.585 Ansätze zu einer solchen Selbstdarstellung finden sich auch im Galaterbrief des Paulus (vgl. Gal 1,10; 2,18–20; 6,14), verbunden mit der ausdrücklichen Aufforderung, ihn nachzuahmen (Gal 4,12; vgl. Phil 3,17).586 Hinter diesem Reden über sich selbst und die eigenen moralischen Fortschritte sowie der Präsentation des eigenen Lebens als Beispiel und Maßstab steht die Überzeugung, dass der Philosoph und Lehrer mehr durch seinen Charakter und seine Person gewinnt und belehrt als durch seine Worte. Abschließend ist auf zwei Punkte hinzuweisen, in denen der Galaterbrief sich zumindest auf den ersten Blick von philosophischen Lehrbriefen unterscheidet. Anders als die Lucilius-Briefe Senecas oder auch die Briefe Epikurs ist der Galaterbrief nicht an eine Einzelperson, sondern als Zirkularschreiben an einen Kreis von mehreren benachbarten Gemeinden gerichtet. Genau besehen ist dieser Unterschied jedoch nur ein formaler, da sowohl die Briefe des Seneca als auch die Briefe des Epikur von vornherein für einen größeren Leserkreis als die im Präskript als Adressat genannte Einzelperson bestimmt waren. Denn die Lucilius-Briefe waren – wie bereits angemerkt – von Anfang an für die Publikation als Buch und damit für einen breiten Leserkreis bestimmt und ähnlich waren auch die drei großen Lehrbriefe Epikurs bereits von ihrem Verfasser für einen über den eigentlichen Adressaten hinausgehenden größeren Kreis aus Sympathisanten und Anhängern geschrieben worden.587 Auch bei anderen Lehrbriefen geht der intendierte Leserkreis oft über den im Präskript genannten primären Adressaten hinaus.588 Dies wirft die Frage auf, ob man nicht auch beim Galaterbrief angesichts einer gewissen formalen Nähe 584 Ausführlich zur Selbstdarstellung Senecas in den Lucilius-Briefen und ihrer argumentativ-pädagogischen Funktion Cancik, Untersuchungen 68–113. 585 Vgl. Sykutris, Epistolographie (PRE) Sp. 204. 586 Vgl. Eckstein, Gemeinde 203f.; Pitts, Contexts 293–296; dazu auch Malherbe, Popular Philosophers 70. 587 Vgl. Muir, Life 137; Klauck, Ancient Letters 150; ders., Briefliteratur 124. Näheres zur missionarischen Dimension und zur Offenheit der Schule Epikurs für Interessenten und Sympathisanten bei Eckstein, Gemeinde 89–91. 588 Vgl. Muir, Life 117; Stirewalt, Letter Essay 169–171; Pitts, Contexts 276.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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zum Lehrbrief mit ähnlichem rechnen sollte. Vielleicht sollte man annehmen, dass auch Paulus davon ausging, dass der Galaterbrief wie andere seiner Briefe unter den Gemeinden ausgetauscht wurden, und er deshalb die Aussagen seines Briefes so formuliert hat, dass sie über die aktuelle Krise in Galatien hinaus Allgemeingültigkeit für alle von ihm gegründeten Gemeinden und möglicherweise darüber hinaus für alle Christen beanspruchen konnten. Dafür könnte sprechen, dass vieles, was Paulus im Galaterbrief niedergeschrieben hat, von ihm ganz ähnlich erneut im Römerbrief aufgegriffen wurde. Sollte dem tatsächlich so sein, wäre die These von Adolf Deißmann, dass Paulus seine Briefe nicht als zeitlose und allgemein gültige Lehrschreiben verfasst habe, für den Galaterbrief und für den von ihm beeinflussten Römerbrief zumindest zu modifizieren (vgl. S. 6). Dennoch ist der Galaterbrief allerdings kein Lehrbrief in dem Sinn, dass Paulus mit seinem Brief dem ausdrücklichen Wunsch oder dem unausgesprochenen Bedürfnis der Galater nach einer genaueren Unterweisung oder einer systematischen Einführung in seine Lehre nachgekommen wäre. Der Galaterbrief verdankt sich offenbar auch nicht dem unbestimmten und spontanen Bedürfnis des Paulus, ein Kompendium seiner Missionspredigt für noch Unentschlossene und Anfänger zu schreiben, sondern er ist zuerst die Antwort und Reaktion auf eine konkrete Krisensituation in der Beziehung zwischen Paulus und seinen galatischen Gemeinden, die nach einer spezifischen Intervention verlangte. Deshalb ist der Galaterbrief in wesentlich höherem Maße als andere antike Lehrbriefe durch epistolare Formeln geprägt, die ihm einen unzweifelhaften Briefcharakter und den Eindruck einer tatsächlichen Kommunikation zwischen den Briefpartnern verleihen.589 Unter den erhaltenen antiken Lehrbriefen kommt ihm darin wohl der Brief des Epikur an Menoikeus am nächsten, wie bereits angedeutet wurde (vgl. S. 305f.). Trotzdem kann man zusammenfassend vielleicht sagen, dass beim Galaterbrief zumindest eine gewisse Nähe zum philosophischen Lehrbrief nicht bestritten werden kann und dass er irgendwo zwischen konkreter situationsbezogener Zuwendung zu den im Präskript genannten Adressaten (»Seelsorge«) und situationsunabhängiger, allgemein gültiger Lehre zu verorten ist.

589 Stirewalt, Letter-Essay 176, konstatiert, dass sich die griechischen Lehrbriefe (LetterEssays) einer konkreten brieflichen Kommunikation verdanken und deshalb die formalen und strukturellen Eigenheiten eines Briefes einschließlich der epistolaren Formeln bewahren, wenn sich ihre Sprache und ihr Stil bisweilen auch dem unpersönlichen Stil wissenschaftlicher Traktate nähert. Ähnlich Pitts, Contexts 270 und 278. Pitts will die Paulusbriefe deshalb strikt von den philosophischen Lehrbriefen trennen, wie sie unter anderem durch Epikur und Seneca bezeugt sind; die Briefe des Paulus, und damit auch der Galaterbrief und der Römerbrief, stehen seiner Meinung nach den ermahnend-belehrenden Papyrusbriefen näher. Vgl. ebd. 286–291.

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5. Der Brief an die Galater

5.2.6 Elemente der Rhetorik Vorbemerkung: Trotz zahlreicher rhetorischer Analysen, die durch die Untersuchungen von Hans Dieter Betz in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts angestoßen wurden, und einer begleitenden intensiven Methodendiskussion ist in der Forschung bis heute nicht einmal ein Konsens darüber erzielt, ob der Galaterbrief überhaupt einer der drei Redegattungen zugeordnet werden kann. Selbst diejenigen, die diese Frage bejahen, sind uneins, ob der Galaterbrief als Verteidigungsrede dem genus iudiciale, als ermahnende Rede dem genus deliberativum oder als tadelnde Rede dem genus demonstrativum angehört (vgl. dazu bei Abschnitt 5.1.5). Außerdem stimmen in der Gliederung des Galaterbriefes nach dem Idealschema einer Rede nicht einmal diejenigen überein, die den Brief derselben rhetorischen Gattung zuweisen.590 All das macht an sich die Annahme wenig wahrscheinlich, Paulus habe seinen Brief bewusst nach dem Modell einer Rede gestaltet (»Rede im Briefumschlag«). Folglich scheinen diejenigen recht zu behalten, die mit Nachdruck betonen, dass der Galaterbrief ein Brief und keine Rede ist, und darauf verweisen, dass bereits die antiken Theoretiker im Blick auf Form und Funktion beide klar voneinander unterschieden hätten.591 Ein Grund für den mangelnden Konsens der Forschung bezüglich der Zuordnung des Galaterbriefes zu einer der drei rhetorischen Gattungen und seiner Gliederung nach dem Schema einer Rede ist aber auch eine teilweise zu starre und schematische Anwendung der rhetorischen Theorie, wie sie in den antiken Lehrbüchern überliefert und auf ihrer Grundlage in modernen Handbüchern zum Teil vereinfachend beschrieben wird.592 Darin erscheinen die drei Redegattungen in Form und Inhalt in einer Weise scharf gegeneinander abgrenzbar, wie sie in der Praxis meist nicht gegeben war.593 Denn, wie bereits 590

Die von Kern, Rhetoric 90–92, exemplarisch aufgelisteten Gliederungsvorschläge zeigen, wie weit selbst jene Forscher voneinander abweichen, die mit Betz in der Grundannahmen übereinstimmen, dass der Galaterbrief als Apologie bzw. Verteidigungsrede zum genus iudiciale gehöre und sich nach dem Idealschema einer Gerichtsrede gliedern lasse. Dazu auch Anderson, Rhetorical Theory 111–123. Für die zur Strukturierung des Galaterbriefes herangezogenen idealen Gliederungsschemata der Rhetorikhandbücher, die sich im Wesentlichen auf die Gerichtsrede (genus iudiciale) konzentrierten und für die beiden anderen Gattungen meist nur die Unterschiede benannten, vgl. die Ausführungen bei Fuhrmann, Rhetorik 83– 98; Ueding/Steinbrink, Grundriß 259–277. Ein Überblick zu den Gliederungsvorschlägen für den Galaterbrief bei Pitta, Disposizione 14–41 (neben solchen, die von rhetorischen Gliederungsschemata ausgehen, auch solche, die thematisch orientiert sind). 591 Vgl. auch Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 386. 592 Ähnlich betont Berchman, Galatians 61f., dass man nicht von einer bloß mechanischen Anwendung der Theorie ausgehen darf und dass die Praxis und die Handbücher nicht einfach deckungsgleich sind. 593 Dazu Andersen, Rhetorik 35; vgl. auch Porter, Paul of Tarsus 568f.; Hall, Rhetorical Outline 30–33.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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die antiken Rhetoriker betonten (Quint. inst. 3,4,14f.), liegen die drei rhetorischen Gattungen nicht rein vor, sondern durchmischen sich, weil es auch bei Anklage und Verteidigung vor Gericht (genus iudiciale/γένος δικανικόν) nötig und zweckdienlich sein konnte, sich des Zuratens und Abratens (genus deliberativum/γένος δημηγορικόν/συμβουλευτικόν) sowie des Lobens und Tadelns (genus demonstrativum/γένος ἐπιδεικτικόν) zu bedienen.594 Dies stärkt die Position derjenigen, die im Galaterbrief Elemente von mindestes zwei der drei Redegattungen zu erkennen meinen. Ähnliches gilt für die Frage der Gliederung des Galaterbriefes nach dem Idealschema der einfachen Abfolge der in den antiken Lehrbüchern genannten Redeteile, die als natürliche Abfolge (ordo naturalis) bezeichnet wird.595 So versuchen beispielsweise Hans Dieter Betz und andere, die den Galaterbrief als Gerichtsrede verstehen, im Brief Abschnitte auszugrenzen, die der Reihe nach mit diesen Redeteilen identifiziert werden können (vgl. die Gliederung des Briefes durch Betz auf S. 196).596 Wenn es die Sache erforderte, war es in der Praxis durchaus üblich, von dieser Reihenfolge abzuweichen oder einzelne Redeteile auszulassen und eine sogenannte künstliche Anordnung des Stoffes zu wählen (ordo artificialis).597 Deshalb kann man keineswegs selbstverständlich 594 Die antike rhetorische Theorie kannte die genannten sechs paarweise aufeinander bezogenen Grundfunktionen oder Schwerpunkte einer Rede, die in der oben dargestellten Weise mit der auf Aristoteles zurückgehenden Einteilung in drei Gattungen der Rede verbunden wurden. Diese Dreiteilung war und ist sicher zu simpel, um der Wirklichkeit in jedem Punkt gerecht zu werden, war aber ein für die schulische Unterweisung brauchbares System. Deshalb merkt Ueding, Rhetorik 54f., zurecht an, dass jede Rede zunächst einmal »entscheidungsund handlungsbezogen« ist. Die Differenzierung erfolgt erst auf einer zweiten Stufe, im Blick auf die Situation und den Kontext, die eine Entscheidung und/oder Handlung erfordern. Ähnlich Fuhrmann, Rhetorik 81–83; Andersen, Rhetorik 34–39. 595 Exemplarisch formuliert ist der Gedanke des ordo naturalis bei Cic. de orat. 2,307–309; dazu Ueding/Steinbrink, Grundriß 216f. Anzumerken wäre hinsichtlich der (vermeintlichen) Idealgliederung einer (Gerichts-)Rede außerdem, dass bereits die antiken Theoretiker zumindest in der Anzahl der Redeteile nicht übereinstimmten; vgl. Lausberg, Handbuch § 262, mit einer Synopse der Einteilung in den wichtigsten antiken Handbüchern. 596 Das Idealschema der antiken Gerichtsrede hat in den Lehrbüchern folgende Grundgestalt: I. Eröffnung (expositio bzw. προοίμιον) – II. Darlegung des Sachverhalts (narratio (διήγησις) – III. Beweisführung (argumentatio bzw. πίστις/εἰκός) mit 1. Angabe des Beweiszieles (divisio/propositio bzw. πρόϑησις), 2. positiver Beweisführung (probatio bzw. ἀπόδειξις) und 3. Widerlegung von Gegenargumenten (refutatio bzw. ἔλεγχος) – IV. Abschluss (peroratio bzw. ἐπίλογος). 597 Ausführlich zu den Ausführungen der antiken Handbücher über die Möglichkeiten der Gliederung einer Rede Martin, Rhetorik 213–243; vgl. auch Ueding/Steinbrink, Grundriß 217f. Insofern ist die mangelnde Übereinstimmung des Galaterbriefes mit dem Idealschema der Handbücher, anders als Classen, Criticism 23, angibt, nicht zwingend in der Gattungsdifferenz von Brief und Rede begründet. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass das Ziel der rhetorischen Vorschriften zum Aufbau der Rede zunächst auf eine größtmögliche Wirkung durch überzeugende Präsentation des Stoffes zielen. Diese Regeln werden – mutatis mutandis – in

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5. Der Brief an die Galater

davon ausgehen, dass die Redeteile der Handbücher im Galaterbrief vollständig und in der »natürlichen« Reihenfolge vorliegen, selbst wenn er in Analogie zu einer Gerichtsrede gestaltet sein sollte. Das Problem der Gliederung des Galaterbriefes nach dem Modell einer Gerichtsrede oder gegebenenfalls auch einer Beratungs- oder Gelegenheitsrede soll und kann hier nicht abschließend erörtert werden.598 Dennoch ist eine kritische Anmerkung zu der von Hans Dieter Betz vorgenommene Identifizierung von Gal 1,12 – 2,14 als narratio (διήγησις) und der darauf beruhenden Gliederung des Galaterbriefes nach dem (vermeintlichen) Idealschema einer Gerichtsrede nötig.599 Von der Wortbedeutung her und auch in der antiken rhetorischen Theorie meint narratio bzw. διήγησις zunächst nichts anderes, als dass etwas erzählt wird. Eine solche »Erzählung« kann in jeder Art von Rede vorkommen und hat keinen festen Platz im Aufriss einer Rede. Inhaltlich hat sie bald mehr, bald weniger mit dem eigentlichen Anliegen der Rede zu tun.600 Die Tatsache, dass in Gal 1,12 – 2,14 eine (autobiographische) Erzählung vorliegt, besagt für sich allein also weder, dass der Galaterbrief sich der Gerichtsrede zuordnen lässt, noch dass hier der strittige Sachverhalt geschildert wird, noch dass sich von hier aus die Intention und Funktion des Galaterbriefes bestimmen lassen.601 In der Gerichtsrede steht eine narratio oft nach der Eröffnung und dient der parteilichen Darstellung des strittigen Sachverhalts; sie wird weggelassen oder auf ein Minimum reduziert, wenn der Sachverhalt ohnehin bekannt und uneinem Brief nicht weniger nützlich sein als in der Rede selbst. Deshalb kann man nicht wie Classen sagen »they were not made nor meant to fit such kinds of composition« (ebd.). So bereits Classen, Paul’s Epistles 286. 598 Die Möglichkeit und der Sinn einer Zuordnung zu den drei rhetorischen Genera bzw. einer Analyse des Galaterbriefes und anderer antiker Briefe unter diesem Vorzeichen soll damit keineswegs bestritten werden. Denn die in der Rhetorik mit den drei Gattungen verbundenen Funktionen anklagen/verteidigen (genus iudiciale), zuraten/abraten (genus deliberativum) und loben/tadeln (genus demonstrativum) kann auch ein Brief haben. Vgl. Stowers, Letter Writing 51; Reed, Rhetorical Categories 293. Reed betont jedoch, dass die Tatsache, dass ein Brief eine oder mehrere der genannten Funktionen beinhaltet, nicht zwangsläufig bedeutet, dass der Verfasser sich an den entsprechenden Schemata und Empfehlungen der Rhetorikhandbücher orientiert. Für Paulus lehnt er dies explizit ab. Vgl. ebd. 297–301. 599 Eine grundsätzliche Anfrage in diese Richtung formuliert auch Classen, Rhetorik 28; vgl. auch ebd. 30f.; Kennedy, Interpretation 144f.; Becker, Paulus 290. 600 Außer der narratio/διήγησις, in der der Sachverhalt oder Streitfall geschildert wird, gibt es solche, die scheinbar vom eigentlichen Gegenstand abschweifen und nur der Unterhaltung dienen oder einen vergleichbaren Vorgang schildern. Es kann jedoch auch um fiktive oder historische Geschehnisse oder Personen gehen, die sich argumentativ verwerten lassen. Vgl. Cic. inv. 1,27; Rhet. Her. 1,13. Näheres zu Eigenart und Funktion(en) der narratio sowie zu den Vorschriften und Empfehlungen der antiken Handbücher für ihre Gestaltung bei Martin, Rhetorik 75–89; Lausberg, Handbuch §§ 289–347; Fuhrmann, Rhetorik 86–89; de Brauw, Parts 193–195; Ueding/Steinbrink, Grundriß 262–264. 601 Eine analoge Kritik bei Kern, Rhetoric 104f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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strittig ist (vgl. Cic. de orat. 2,330; Quint. inst. 3,8,10). In der Gerichtsrede bildet die narratio die Grundlage und Voraussetzung der probatio; beide sind also funktional und thematisch unmittelbar aufeinander bezogen.602 Im Galaterbrief dagegen ist ein solcher unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem als narratio identifizierten Abschnitt Gal 1,12 – 2,14 und dem als probatio charakterisierten Abschnitt Gal 3–4 nicht erkennbar.603 Denn selbst Hans Dieter Betz bezeichnet als Gegenstand der narratio die Betonung der Unabhängigkeit des Paulus von Jerusalem und des göttlichen Ursprungs seines Evangeliums, während er als Ziel der probatio den Nachweis der Rechtfertigung aus Glauben ohne Beschneidung und Werke des Gesetzes bestimmt.604 Tatsächlich ist es spätestens ab Gal 3,1 das Ziel der Argumentation des Briefes, die gegenwärtige Einstellung der Adressaten zu ändern, also zu- und abzuraten, so dass eine Nähe zur deliberativen Rede nicht zu bestreiten ist.605 Obgleich sich derartige kritische Anfragen vermehren ließen, sollte die prinzipielle Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer Analyse des Galaterbriefes 602 Zur narratio bzw. διήγησις in der (griechischen) Gerichtsrede bes. C. Cooper, Forensic Oratory, in: Worthington, Greek Rhetoric 203–219, hier 205–210. 603 Zurecht betont Kern, Rhetoric 103f., dieses Problem: »But 1.12–2.14 does not introduce what is proven in the probatio. Even if the chief point of Galatians 3–4 is open to debate, to my knowledge nobody has suggested that it argues that Paul’s gospel is not from men. Chapter 1 to 2 clearly comprise a self-contained argumentative section dealing with concerns distinct from, though definitely preliminary to, those of the probatio.« Dies für sich allein müsste noch nicht zwingend gegen eine Verbindung des Galaterbriefes mit der Gattung der Gerichtsrede sprechen. Denn neben »Erzählungen«, die unmittelbar den fraglichen Sachverhalt betreffen, können sich auch solche finden die irgendwie damit in Zusammenhang stehen und der Argumentation dienlich sind (Quint. inst. 4,2,11). Vgl. Martin, Rhetorik 76; Lausberg, Handbuch §§ 290–292. 604 Vgl. Betz, Galaterbrief 213–215; ders., Composition 369f. Diese kritische Anfrage an Betz ist m. E. durchaus berechtigt, trotz der von ihm selbst im Anschluss an Quint. inst. 4,2,11 formulierten Einschränkung: »Die narratio braucht noch nicht einmal ausdrücklich den Vorwurf zu nennen. Ihr Zweck ist es, sich mit den für den Fall relevanten Tatsachen auseinanderzusetzen, um die Zurückweisung verständlich zu machen« (Betz, Galaterbrief 123). Fasst man die narratio so allgemein und sieht den autobiographischen Bericht nicht als parteiische Darstellung des strittigen Sachverhalts, die in der argumentatio bewiesen werden soll, sondern nur als zweckdienliche Hintergrundinformation, dann stellt sich die Frage, was denn dann die konkrete Anklage ist, gegen die Paulus sich mit dem Galaterbrief in Form einer Apologie verteidigt. Da nach Betz, Galaterbrief 128, die zentrale These, die Paulus mit dem Galaterbrief verteidigen will, die in Gal 1,12 formulierte Behauptung ist, dass sein Evangelium nicht von Menschen stammt, müsste der Vorwurf das genaue Gegenteil sein, also, dass die Verkündigung des Paulus nur menschlich und deshalb nicht legitimiert ist. Mit dieser Frage hat aber, wie bereits angemerkt, der mit Gal 3,1 beginnende argumentativ-dogmatische Teil des Briefe ganz offensichtlich nichts zu tun. Was aber sollte dann die Anklage sein, gegen die Pauls sich verteidigen muss? Geht es vielleicht um das, was er selbst seinen Gegnern vorwirft, dass er das Evangelium verfälscht? Was aber nutzt gegen diese Anklage die Betonung der eigenen Unabhängigkeit von Jerusalem? Würde das nicht die Sache der Gegner stärken? 605 Vgl. Hall, Rhetorical Outline 30f.

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5. Der Brief an die Galater

auf der Grundlage der antiken rhetorischen Theorie nicht bestritten werden (zur Begründung vgl. Abschnitt 3.4). In ihrem Zentrum sollte aber nicht die Frage nach seiner rhetorischen Gattung und seiner idealtypischen Gliederung gemäß den Angaben der rhetorischen Handbücher stehen. Auch darf eine rhetorische Analyse die Tatsache nicht aus dem Auge verlieren und verdecken, dass der Galaterbrief seiner Form und Funktion nach in erster Linie als Brief zu gelten hat.606 Deshalb soll sich im Folgenden – wie schon beim Philemonbrief – die Frage nach dem Einfluss der antiken Rhetorik im Galaterbrief auf die Technik der Ethopoiie und auf Argumentationsschemata konzentrieren, da beide Punkte Grundfähigkeiten bezeichnen, die im Rhetorikunterricht gelehrt und durch praktische Übungen so verinnerlicht wurden, dass ihre bewusste und unbewusste Anwendung bei einem gebildeten Verfasser auch in anderen literarischen Kontexten zu erwarten ist (dazu auch S. 151). Dabei wird sich zeigen, dass die Funktion des von Hans Dieter Betz als narratio einer Gerichtsrede charakterisierten Abschnittes Gal 1,12 – 2,14 nicht in der Darlegung des Streitfalls, sondern in der Konstruktion der moralischen persona (ἦϑος) des »Sprechers« bzw. Briefschreibers Paulus besteht. Die rhetorische Absicht von Gal 1,12 – 2,14 besteht folglich darin, bei den Adressaten die nötigen emotionalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie geneigt sind, dem Anliegen des Paulus Gehör und Vertrauen zu schenken.607 A. Ethopoiie: Die zentrale Stellung der Ethopoiie in der Analyse und Interpretation des Galaterbriefes ergibt sich aus der spezifischen Briefsituation, bei der die Sachfrage auf das Engste mit Personen verbunden ist. Denn in der Darstellung des Galaterbriefes ist die Entscheidung der Adressaten für oder gegen Beschneidung und Gesetz untrennbar mit der Entscheidung zwischen Paulus 606 Auf eine Identifizierung und möglichst vollständige Auflistung von »Stilmitteln« im Sinn der rhetorischen Figurenlehre (ornatus) soll ebenfalls verzichtet werden. Für den Galaterbrief bietet Jegher-Bucher, Galaterbrief 83–90, eine detaillierte Auflistung solcher Mittel des sprachlichen Ausdrucks, die im System der antiken Rhetorik unter dem Stichwort der elocutio behandelt wurden; wenn man ihren »Identifizierungen« auch nicht in jedem Fall zustimmen wird, belegt sie mit ihrer Liste dennoch glaubwürdig den grundsätzlichen Einfluss der rhetorischen Figurenlehre auf die sprachlich-stilistische Gestaltung des Galaterbriefes. 607 Dazu auch Classen, Paul’s Epistles 282–284; Aune, Environment 189f.; Hall, Rhetorical Outline 35; Smit, Letter 40f. Mit Lyons, Autobiography 27–29, sei auf die Bedeutung autobiographischer Aussagen für die Konstruktion des ἦϑος des Redners als Mittel der Überzeugung verwiesen. Eine ausgedehnte autobiographisch gefärbte narratio bzw. διήγησις oder κατάστασις war deshalb in der kaiserzeitlichen Rhetorik ein beliebtes Mittel, um den eigenen Charakter möglichst vorteilhaft zu präsentieren und die Hörer gewogen zu stimmen. Vgl. Russell, Declamation 88–105, mit Beispielen aus den Prunkdeklamationen der Sophisten. Als κατάστασις bezeichneten die späteren Rhetoren eine Darstellung des Sachverhalts, die die Hörer/Adressaten in eine dem Redner gewogene Stimmung versetzen und eventuell gegnerische Meinungen bei ihnen beseitigen sollte, während die διήγησις (oder auch ἀφήγησις) nur die Tatsachen benannte. Dazu Martin, Rhetorik 78f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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und den fremden Missionaren verbunden. Deshalb war es für Paulus unabdingbar, sich selbst als möglichst integer und vertrauenswürdig, seine Konkurrenten dagegen als unlauter und unehrenhaft zu präsentieren.608 Besondere Sorgfalt und Vorsicht verlangten von ihm die Aussagen über den Charakter seiner Adressaten, die zwischen ihm und den fremden Missionaren wählen sollten. Sie musste er einerseits für ihr Verhalten und ihre Absichten unmissverständlich tadeln, andererseits aber musste er versuchen, sie mit Lob zu umwerben und für sich zu gewinnen. (1) Paulus: Ein zentraler Aspekt der Selbstdarstellung des Paulus im Galaterbrief ist die bereits besprochene Betonung seiner Autorität als Apostel, die er mit dem Verweis auf seine unmittelbare Berufung und Sendung durch Gott legitimiert (Gal 1,1; vgl. S. 214). Mit seiner Berufung und Sendung durch die Offenbarung des »Sohnes«, die ihn als Osterzeugen qualifiziert und mit den Jerusalemer Ur-Aposteln auf eine Stufe stellt, hat er nach seiner eigenen Darstellung auch den Inhalt seiner Verkündigung empfangen, für die er damit eine unhinterfragbare Normativität beansprucht (Gal 1,11f. mit 1,16f.). Das Insistieren auf die eigene Autorität, die er demonstrativ bereits mit den ersten Worten des Briefes artikuliert, ist grundlegend für die Argumentation des Paulus und dominiert seine briefliche Kommunikation mit den Galatern. Zusätzlich versah er seine briefliche Selbstdarstellung mit Akzenten, die vor allem die Integrität und Lauterkeit seines Charakters sowie die Selbstlosigkeit und Aufrichtigkeit seines Bemühens um die Adressaten herausstellen sollten. Dies zeigt sich bereits in Gal 1,10, wo er durch ein eröffnendes Statement den langen autobiographischen Passus unter das Vorzeichen stellt, er suche nicht den Applaus und die Bestätigung bei Menschen, sondern wisse sich allein Gott verpflichtet (vgl. dazu auch S. 202).609 Obwohl die antiken Rhetorikhandbücher dem Redner für die Eröffnung einer Rede unter anderem auch Aussagen über sich und seinen Charakter empfahlen, um bei den Zuhörern mögliche Bedenken gegen seine Person auszuräumen (vgl. Aristot. rhet. 3,14f. [1414b–1416b]; Rhet. Her. 1,8)610, war die Entscheidung des Paulus, in seinem Brief an die Galater für die Konstruktion und Präsentation seines eigenen ἦϑος nach der Corpuseröffnung einen zusam608

Die dafür nötigen Techniken und Fähigkeiten waren allgemein Gegenstand des Rhetorikunterrichts; dazu Russell, Declamation 87f. 609 So auch Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 51. Longenecker, Galatians (WBC) 18f., sieht Gal 1,10 als Antwort des Paulus auf die in Galatien von seinen Konkurrenten vorgetragene Behauptung, er würde sonst durchaus die Notwendigkeit der Beschneidung predigen, habe bei den Galatern aber darauf verzichtet, weil er meinte, andernfalls bei ihnen mit seiner Verkündigung keinen Beifall zu finden. 610 Vgl. Andersen, Rhetorik 53f. Die antiken Handbücher nannten in der Regel vier Möglichkeiten der Eröffnung einer Rede: 1. die Person des Redners, 2. die Gegner, 3. die Zuhörer (bes. die Richter) und 4. die Sache. Dazu auch Martin, Rhetorik 63–70.

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5. Der Brief an die Galater

menhängenden, umfangreichen autobiographisch gefärbten Abschnitt einzufügen, durchaus riskant. Denn autobiographische Aussagen standen in der Antike generell unter dem Verdacht und Vorurteil des Selbstlobs, der Ruhmsucht und der Arroganz.611 Deshalb mahnten die rhetorischen Handbücher für eine solche Eröffnung zu besonderer Vorsicht und Sorgfalt. Wie im Folgenden zu zeigen ist, versucht Paulus solchen Vorwürfen zu entgehen, indem er einerseits, ganz nach den Anweisungen der Handbücher, nur solche Dinge aus seinem Leben berichtet, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem konkreten Sachverhalt stehen und/oder den Adressaten zugute kamen612, andererseits den autobiographischen Bericht gleich zu Beginn mit einem deutlichen Moment der Selbstkritik verbindet. Die eigentliche autobiographische Selbstdarstellung eröffnet Paulus mit Aussagen über seinen vorchristlichen Lebenswandel (Gal 1,13f.). 13

ἠκούσατε γὰρ τὴν ἐμὴν ἀναστροφήν ποτε ἐν τῷ Ἰουδαϊσμῷ, ὅτι καϑ’ ὑπερβολὴν ἐδίωκον τὴν ἐκκλησίαν τοῦ ϑεοῦ καὶ ἐπόρϑουν αὐτήν, 14 καὶ προέκοπτον ἐν τῷ Ἰουδαϊσμῷ ὑπὲρ πολλοὺς συνηλικιώτας ἐν τῷ γένει μου, περισσοτέρως ζηλωτὴς ὑπάρχων τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων.

Die Aspekte, die Paulus dabei besonders herausstellt, sind neben seiner Herkunft aus dem Judentum der besondere Eifer und der Erfolg, mit dem er sich um ein Leben nach den überkommenen Vorschriften seines Volkes bemüh611

Um die Anstößigkeit autobiographischer Aussagen abzumildern, wählte man oft die Form einer Apologie und die Selbstdarstellung als Leidender (vgl. 2 Kor 11,16 – 12,13), da sie es dem Redner ermöglichte, über sich selbst und die eigenen Verdienste zu sprechen, ohne Anstoß zu erregen. Die Relevanz dieser Problematik in der Zeit des Paulus zeigt sich darin, dass Plutarch eine Abhandlung über dieses Thema verfasst hat (De se ipsum citra invidiam laudando). Zugleich konnte man damit an die literarisch-philosophische Tradition der Apologie des Sokrates (Plat. u. Xen.) anknüpfen und sich selbst als Philosoph in der Nachfolge jenes Sokrates präsentieren. Da »Apologie« folglich auch ein Mittel der literarisch-rhetorischen Selbststilisierung ist, kann man aus dem apologetischen Ton eines Textes (auch eines Briefes) nicht vorbehaltlos auf eine tatsächliche apologetische Situation (Angriff und Verteidigung) als Hintergrund des Textes schließen. Ein Beispiel dafür ist auch der bereits genannte 7. Brief Platons (sofern er authentisch ist). Insgesamt dazu auch Whitmarsh, Second Sophistic 79–85; Bauer, Auftritt 100f. (bes. Anm. 96). Dagegen meint Anderson, Rhetorical Theory 128f., dass der autobiographisch gefärbte Abschnitt in Gal 1–2 deshalb einen apologetischen Ton annehme, weil Paulus bei einem ihm feindlich gesonnenen »Publikum« Vorbehalte ausräumen müsse. Insgesamt müsste man jedoch prüfen, wie apologetisch der autobiographische Passus des Galaterbriefes wirklich ist. 612 Exemplarisch dafür die Vorschriften bei Rhet. Her. 1,8: Ab nostra persona benivolentiam contrahemus, si nostrum officium sine adrogantia laudabimus, atque in rem publicam quales fuerimus aut in parentes aut in amicos aut in eos, qui audiunt, aliquid referemus, dum haec omnia ad eam ipsam rem, qua de agitur, sint adcommodata. Item si nostra incommoda proferemus, inopiam, solitudinem, calamitatem; et si orabimus, ut nobis sint auxilio et simul ostendemus nos in aliis noluisse spem habere.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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te.613 Damit beugt er einem Missverständnis oder einer absichtlichen Fehldeutung seiner Praxis der Evangeliumsverkündigung unter den Heiden vor. Sein Verzicht, die Heiden vor ihrer Taufe zu beschneiden, entspringt nicht einem lange gehegten gesetzeskritischen Affekt, der bis in die Zeit vor seiner Hinwendung zum Christentum zurückreicht und sich der Erfahrung des eigenen Scheiterns an den Forderungen des Gesetzes verdankt. Vielmehr betont Paulus, dass er in der Frage der Beschneidung und Gesetzesobservanz einst nicht anders dachte als seine Konkurrenten und dass er sich mit ihnen im Eifer für das Gesetz und in den Werken des Gesetzes bestimmt messen konnte.614 Er war ein gesetzeseifriger Jude, keiner der es mit Gesetz leicht genommen hätte. Deshalb muss etwas Entscheidendes geschehen sein, damit sich das Verhalten und die Gesinnung des Paulus so radikal verändern konnten.615 Denn was er jetzt über Gesetz und Beschneidung lehrt, war für ihn einst ἐν Ἰουδαϊσμῷ undenkbar. Mit den Aussagen über seine Vergangenheit ἐν Ἰουδαϊσμῷ schafft Paulus folglich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass seine Predigt bei den Galatern an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnt. Denn als Jude, der mit geradezu grenzenlosem Eifer das Gesetz befolgt hatte, weiß er aus eigener Erfahrung, wovon er spricht, wenn er sie davor warnt, für ihr Heil auf Beschneidung und Werke des Gesetz zu setzen.616 Damit trägt Paulus in den Rückblick auf seine Vergangenheit als gesetzeseifriger Jude ein deutliches Moment der Selbstkritik ein.617 Gegenstand der 613 Auffällig ist, dass Paulus hier die für die weitere Diskussion des Galaterbriefes zentralen Begriffe »Gesetz« oder auch »Werke des Gesetzes« vermeidet und stattdessen allgemein von »väterlicher Überlieferung« spricht. Dies erklärt man gewöhnlich damit, dass Paulus sich dadurch als Anhänger der Pharisäer darstellen wolle, die neben dem »Gesetz« auch die mündliche Auslegungstradition als verbindlich ansahen. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 29f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 79f.; Lührmann, Galater (ZBK) 31. Vielleicht will Paulus durch diese Umschreibung seines Gesetzeseifers aber auch vermeiden, dass der Eindruck entsteht, das Gesetz wäre unmittelbar die Quelle seines Übereifers, der zur Verfolgung der Christen führte. Zur Stelle und ihrer Bedeutung für die Einordnung des Paulus in das pharisäische Judentum vgl. auch Wolter, Paulus 14–18. 614 Die Leistung im Bereich der Gesetzesobservanz, in der sich Paulus mit den konkurrierenden judenchristlichen Missionaren messen kann, drückt er in der Formulierung προέκοπτον ἐν τῷ Ἰουδαϊσμῷ ὑπὲρ πολλοὺς συνηλικιώτας ἐν τῷ γένει μου in Gal 1,14 aus. Ähnlich auch Becker, Galater (NTD) 28. 615 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 26; Mussner, Galaterbrief (HThK) 80, mit Oepke, Galater (ThHK) 59. 616 Zur Auslegung von Gal 1,13f. vgl. Lührmann, Galater (ZBK) 32; Radl, Galaterbrief (SKK) 26; Mußner, Galaterbrief (HThK) 78–80. 617 Da Gal 1,13f. unter dem Vorbehalt einer gezielten Selbstdarstellung durch Selbstkritik steht, ist Vorsicht geboten gegenüber einer biographischen Auswertung der Stelle, wie bei Gnilka, Paulus 30: Ein solcher Gesetzeseifer sei im 1. Jh. n. Chr. nur für Palästina, nicht für die Diaspora bezeugt; deshalb müsse Paulus gemäß dem Zeugnis der Apostelgeschichte in Jerusalem ausgebildet sein, wo er sich vor allen seinen Studienkollegen ausgezeichnet hatte. Vgl. zu dieser Frage auch S. 415, Anm. 81.

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5. Der Brief an die Galater

Selbstkritik ist, dass er bei seinem Verhalten ἐν Ἰουδαϊσμῷ das rechte Maß aus dem Auge verloren hat. Denn sowohl sein Gesetzeseifer als auch seine Tätigkeit als Verfolger der Kirche Gottes waren – wie er hervorhebt – in gleicher Weise durch Übermaß bestimmt.618 Da die Kenntnis und das Wahren des rechten Maßes bzw. das Vermeiden von Extremen im Zentrum der antiken Tugendethik und Moralphilosophie steht, qualifiziert Paulus durch die Zusätze καϑ’ ὑπερβολήν in Gal 1,13 und περισσοτέρως in Gal 1,14 seine vorchristliche Existenz eindeutig negativ.619 Der Gesetzeseifer wird dadurch zur dunklen Folie für die entscheidende und radikale Wende seines Lebens, die allein durch göttliche Initiative möglich war (Gal 1,15f.); vor dem Hintergrund der antiken Maßethik bringt das göttliche Eingreifen im Leben des Paulus demnach eine Wende zum Besseren.620 Mit dieser Selbstkritik geht Paulus spürbar auf Dis618 Dieser Aspekt der Selbstdarstellung des Paulus in den Aussagen über sein eigenes Leben und Wirken vor seiner Hinwendung zum Christentum, den er selbst sprachlich eindeutig markiert, wird in der Auslegung von Gal 1,13f. meist zu wenig beachtet. So z. B. bei Lührmann, Galaterbrief (ZBK) 26 und 31; Egger, Galaterbrief (NEB) 15f.; Longenecker, Galatians (WBC) 29f.; Vouga, Galater (HNT) 33f. Es geht hier nicht nur darum, dass Paulus die Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit seines Lebens gemäß den Vorschriften des Judentums betonen will. Dies zeigt ein Vergleich mit den bei Betz, Galaterbrief 139, Anm. 110, als Beleg für eine derartige Deutung von Gal 1,13f. genannten jüdischen Grabinschriften CIJ 1, Nr. 509 und 537. Denn hier heißt es nur καλῶς βιώσασα/βιώσας [ἐν Ἰουδαϊσμῷ]; es fehlt sowohl ein Begriff aus der Wortfamilie ζῆλος κτλ. als auch ein Hinweis auf das über andere hinausgehende Maß im Leben nach den jüdischen Traditionen. Die Begriffe ζηλωτής und ζῆλος an sich können zwar mehr oder weniger neutral gebraucht sein und dann sogar den Eiferer/Eifer für das Gute bezeichnen; sie können aber auch ohne jeden präzisierenden Zusatz den Eiferer im schlechten Sinn bezeichnen. Besonders in philosophischen Kontexten aber ist ζῆλος als menschlicher Affekt ambivalent und als Leidenschaft, die die Gemeinschaft und das Zusammenleben der Menschen vergiftet, eindeutig negativ konnotiert. Vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 684; W. Popkes, ζῆλος κτλ. EWNT 2 (21992) Sp. 247–250; H. Merkel, ζηλωτής. EWNT 2 (21992) Sp. 250–252; A. Stumpff, ζῆλος κτλ. ThWNT 2 (1935) 879–890. Durch den Zusatz περισσοτέρως gewinnt der Begriff in Gal 1,14 aber eine durchaus negative Qualität und meint wohl soviel wie »Fanatiker«; vgl. Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 58f. Zu καϑ’ ὑπερβολήν und περισσοτέρως vgl. Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1313 und 1674f. Nach Schnelle, Paulus 52 und 55f., will Paulus durch die Verbindung von ζηλωτής und τὰ πατρικά μου παραδόσεα seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Pharisäer ausdrücken, mit dem Zusatz von περισσοτέρως möglicherweise zu einem besonders radikalen Flügel. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Dunn, Galatians (BNTC) 59–62. Zum Zusammenhang von »Eifer« und »Verfolgung« im Leben des Paulus vgl. auch Wolter, Paulus 18–22. 619 Zur Bedeutung des rechten Maßes und zur Aufforderung zum Meiden von Extremen in der antiken Moralphilosophie vgl. F. Egli, metron, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 280; F. Buddensiek, mesotês, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 274f. Der von Paulus zur Bezeichnung des Übermaßes verwendete Terminus ὑπερβολή findet sich zur Bezeichnung des Übermaßes, das das rechte Maß und damit die Tugend zerstört, auch bei Platon (polit. 283c–284e) und Aristoteles (eth. Nic. 2,5 [1106b11f.]). Vgl. Ch. Rapp, hyperbolê, in: Horn/Rapp, Wörterbuch 209. 620 Nach Rohde, Galater (ThHK) 58, dienen die Aussagen des Paulus über seine vorchristliche pharisäische Vergangenheit dazu zu betonen, dass er damals nicht dazu disponiert war, die

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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tanz zu seiner eigenen Vergangenheit und stellt sich seinen Adressaten als warnendes Beispiel dafür vor Augen, wozu ein Übermaß im Eifer für das Gesetz führen kann. Damit fällt von der autobiographischen Selbstdarstellung des Paulus in Gal 1,13f. ein Schatten auf den Ἰουδαϊσμός und seine traditionelle Wertschätzung des Gesetzeseifers. Bei dieser Selbstdarstellung in Gal 1,13f. orientiert sich Paulus möglicherweise an der rhetorischen Topos-Lehre. Denn unter den personenbezogenen Topoi finden sich unter anderem Abstammung und Volkszugehörigkeit (genus und natio; Quint. inst. 5,10,24f.)621 sowie die Erziehung (educatio et disciplina; Quint. inst. 5,10,25)622. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Verhalten einerseits durch die Erziehung bestimmt ist, Charakter und Handeln andererseits aber für Völker spezifisch und von den Vorfahren ererbt sind. Aufgrund der Herkunft aus dem Judentum (ἐν τῷ γένει μου) und der Ausbildung in seinen Traditionen (τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων) wäre Paulus an sich zur vorbildlichen Gesetzestreue prädestiniert, wie er sie in früheren Jahren gezeigt hat. Vor dem Hintergrund der traditionellen Topoi genus und natio, verbunden mit educatio et disciplina, musste es für die Adressaten demnach umso auffälliger und gewichtiger sein, wenn Paulus in seiner Selbstdarstellung betont, dass er anders, als es seine Herkunft und Erziehung erwarten lassen, nicht mehr für Beschneidung und Gesetzesobservanz eintritt. Damit provoziert er umso mehr die Frage, wie es zu diesem grundlegenden Wandel kommen konnte. Als Erklärung bietet Paulus seinen Adressaten die Beauftragung zur Verkündigung bei den Heiden, die er mit seiner Berufung unmittelbar von Gott empfangen hat: ἵνα εὐαγγελίζωμαι αὐτὸν ἐν τοῖς ἔϑνεσιν (Gal 1,16). Mit dem ausdrücklichen Zusatz ἐν τοῖς ἔϑνεσιν, der das besondere und exklusive Objekt seines Missionsauftrags benennt, artikuliert Paulus seinen Adressaten in Galatien gegenüber den Anspruch, dass sie als Teil dieser Heidenvölker von Gott seiner Kompetenz unterstellt wurden und nicht der der konkurrierenden judenchristlichen Missionaren.623 Indem er diese Beauftragung mit dem Hinchristliche Lehre zu übernehmen. Dies solle garantieren, dass seine Verkündigung wirklich von Menschen unabhängig ist und sich allein der göttlichen Offenbarung verdankt. Diese Bedeutung beruht m. E. aber allein auf dem Vorurteil, dass jede Aussage des autobiographischen Passus apologetischen Zwecken dienen müsse. 621 Vgl. Ueding, Rhetorik 57; Ueding/Steinbrink, Grundriß 243; Lausberg, Handbuch § 376,1f. 6; Martin, Rhetorik 111. Cic. inv. 1,34–37 fasst Abstammung und Volkszugehörigkeit mit Alter, Geschlecht u. a. unter natura zusammen. 622 Vgl. Ueding, Rhetorik 58f.; Ueding/Steinbrink, Grundriß 244f.; Lausberg, Handbuch § 376,6; Martin, Rhetorik 111. Bei Cic. inv. 1,35 stehen diese unter dem Oberpunkt victus, der außerdem Freunde, Lebensgemeinschaft, Beruf etc. umfasst. 623 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 32; Egger, Galaterbrief (NEB) 16. Die argumentative Funktion und die Pointe des ausdrücklichen Zusatzes ἐν τοῖς ἔϑνεσιν in Gal 1,16 wird dagegen bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 87f., zu gering angesetzt.

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5. Der Brief an die Galater

weis versieht, dass sie nur das aktualisiert und in Kraft setzt, wozu Gott ihn bereits vor seiner Geburt vorgesehen hat, und dazu auf alttestamentliche Phrasen zurückgreift, in denen sich das prophetische Selbstverständnis ausdrückt (Gal 1,15; vgl. Jer 1,5; Jes 49,1 [mit Jes 52,7]), stilisiert Paulus sich zudem als Prophet, d. h. als authentischen Künder des göttlichen Willens.624 Auch hier zeigt sich also die Dominanz des paulinischen Anspruchs auf Autorität und Legitimität, dem sich seine Adressaten, aber auch die konkurrierenden Missionaren in Galatien beugen und unterordnen müssen. Teil dieser prophetischen Selbstinszenierung des Paulus ist auch der Anspruch, dass er gleich den alttestamentlichen Propheten mit einer konkreten Botschaft betraut wurde, also mit der Beauftragung zum Heidenmissionar auch den Inhalt seiner Verkündigung von Gott empfangen hat. Deshalb kann er in Gal 1,12f. sagen, dass sein Evangelium nicht »von menschlicher Art« sei und dass er es nicht durch Unterweisung von Menschen empfangen habe. Der Beweis dafür ist der Hinweis, dass er sofort mit der Mission unter den Heiden (in der Arabia, d. h. im Gebiet der Nabatäer)625 beginnen konnte, ohne sich zuvor in Jerusalem oder sonstwo bei jenen über das Evangelium zu informieren, die vor ihm die Sendung als Apostel erhalten hatten (Gal 1,17).626 Implizit beansprucht er damit auch, dass die spezifische Form seiner Verkündigung, die bestreitet, dass für die Heiden die Beschneidung und die Übernahme der Gesetzesobservanz heilsnotwendig ist, auf Gott selbst zurückgeht (es sei denn, Paulus hätte seine Verkündigung später verändert).627 Damit postuliert Paulus, dass jeder, der sich gegen ihn und sein Evangelium stellt, sich zugleich gegen Gott und seinen Willen stellt. Sein Anspruch, dass er von Gott mit der Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden beauftragt ist und dass nach Gottes Willen die Heiden sich um ihres Heiles willen nicht beschneiden lassen und die Gesetzesobservanz übernehmen müssen, wurde, wie Paulus im weiteren Verlauf des autobiographischen Passus ausführt, von Anfang an auch von den Jerusalemer Autoritäten und den Gemeinden Judäas anerkannt (Gal 1,18–24 und 2,1–10). Dieser Aspekt gehört zwar zur brieflichen Selbstdarstellung des Paulus, soll aber erst 624

Dazu Becker, Galater (NTD) 29, mit Lührmann, Galater (ZBK) 32; vgl. auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 81–83; Bruce, Galatians (NIGTC) 92; Borse, Galater (RNT) 63. 625 Vgl. Vouga, Galater (HNT) 35. 626 In dieselbe Richtung auch Becker, Galater (NTD) 29f.; Radl, Galaterbrief (SKK) 26f. Meist jedoch sieht man Gal 1,17 als einen »autobiographischen Beweis«, der sich gegen die Behauptung wendet, Paulus wäre von den Jerusalemer Ur-Aposteln abhängig und ihnen damit untergeordnet. Nach Mußner, Galaterbrief (HThK) 88–91, weise Paulus mit dieser Aussage demnach entsprechende Gerüchte, die über sein Leben und seine Sendung im Umlauf waren, zurück. Ähnlich Longenecker, Galatians (WBC) 33f.; Dunn, Galatians (BNTC) 68f. Mit Gal 1,16f. »beweise« Paulus solchen Behauptungen gegenüber, dass er unabhängig und damit den Jerusalemern nicht rechenschaftspflichtig ist. Vgl. Borse, Galater (RNT) 63f. 627 So auch Matera, Galatians (Sacra Pagina) 63.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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im Zusammenhang mit den argumentativen Strategien des Galaterbriefes ausführlich diskutiert werden, da er die Grundlage für einen Argumentationsgang bildet, mit dem Paulus seinen judenchristlichen Konkurrenten das Recht auf eine Mission bei den Galatern absprechen will (dazu ab S. 337). Stattdessen sollen hier anderen Aussagen des autobiographischen Passus diskutiert werden, die dem ἦϑος des Paulus über Autorität und Legitimität hinausgehende Akzente hinzufügen. Wesentlich für das ἦϑος des Paulus ist, dass er die göttliche Beauftragung nicht nur als Quelle seiner Autorität, sondern auch als Verpflichtung begreift, unerschrocken und standhaft für die ihm geoffenbarte Wahrheit des Evangeliums einzutreten. Dies demonstriert Paulus durch sein Auftreten bei seinem zweiten Besuch in Jerusalem (Gal 2,1–10: sogenanntes »Apostelkonzil«). Da offenbar von judenchristlicher Seite schwere Vorwürfe gegen die Verkündigung und Missionspraxis des Paulus und Barnabas erhoben wurden (vgl. Gal 2,4), scheute er sich nicht die Angelegenheit in Jerusalem offiziell klären zu lassen (Gal 2,2):628 ἀνεϑέμην αὐτοῖς τὸ εὐαγγέλιον ὃ κηρύσσω ἐν τοῖς ἔϑνεσιν, κατ’ ἰδίαν δὲ τοῖς δοκοῦσιν, μή πως εἰς κενὸν τρέχω ἢ ἔδραμον

Die Bereitschaft, das von ihm verkündete beschneidungs- und gesetzesfreie Evangelium überprüfen zu lassen, bedeutete aber nicht, dass er darauf verzich628

Ähnlich Schlier, Galater (KEK) 67–69; Egger, Galaterbrief (NEB) 18; in diese Richtung letztlich auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 102–104; Vouga, Galater (HNT) 43f. Da man jedoch in der Auslegung die Funktion der autobiographischen Aussagen des Galaterbriefes gemeinhin als Betonung der Unabhängigkeit des Paulus und seines Evangeliums von Jerusalem und den dortigen Autoritäten und als Zurückweisung gegenteiliger Behauptungen versteht, wird meist betont, man dürfe die Aussagen ἀνεϑέμην αὐτοῖς τὸ εὐαγγέλιον ὃ κηρύσσω ἐν τοῖς ἔϑνεσιν und μή πως εἰς κενὸν τρέχω ἢ ἔδραμον in Gal 2,2 nicht so verstehen, dass Paulus sich mit seinem Evangelium freiwillig oder gezwungen einer offiziellen Überprüfung durch die Jerusalemer Autoritäten stellte. So Longenecker, Galatians (WBC) 48f.; Borse, Galater (RNT) 77–79; Betz, Galaterbrief 169–171; Bruce, Galatians (NIGTC) 109; Fung, Galatians (NICNT) 87–90. Diese Deutung von Gal 2,2 ist m. E. keineswegs zwingend, zumal der Wortlaut doch eine solche Überprüfung nahelegt. Zudem ist fraglich, ob es bei der Krise in Galatien für Paulus tatsächlich zielführend gewesen wäre, seine Unabhängigkeit von Jerusalem zu betonen, wie auch Lührmann, Galater (ZBK) 22f., betont. In der konkreten Situation, in der sich die Konkurrenten des Paulus möglicherweise auf Jerusalem beriefen, kann dagegen die mehrheitlich zurückgewiesene Annahme, Paulus wolle bei den Galatern den Eindruck einer offiziellen Überprüfung seiner Sendung und Verkündigung erwecken, durchaus sinnvoll sein. Denn damit signalisiert Paulus seinen Adressaten, dass das, was er ihnen verkündet hat, nicht nur offiziell überprüft, sondern auch für gut befunden wurde. Eine »vermittelnde« Deutung bei Dunn, Galatians (BNTC) 91–94; er betont, dass Paulus in Gal 2,2 gezielt Formulierungen wähle, die weder dahingehend verstanden werden könne, dass er sich und sein Evangelium den Jerusalemern untergeordnet und von ihrer Entscheidung abhängig gemacht habe, noch dass er die anerkannte Autorität der Jerusalemer verachtet habe und noch missachten würde.

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5. Der Brief an die Galater

tete, für die Wahrheit des Evangeliums zu kämpfen. Denn, wie er ausdrücklich betont, trat er den »Falschbrüdern« entschieden und kampfbereit entgegen. Dies geschah nicht aus bloßer Rechthaberei und aus Eigensinn, sondern es geschah um derentwillen, für die Gott ihn beauftragt hatte. Exemplarisch dafür stehen die Galater, denen Paulus mahnend ins Gedächtnis ruft, dass er für sie und ihr Heil gekämpft hat: ἵνα ἡ ἀλήϑεια τοῦ εὐαγγελίου διαμείνῃ πρὸς ὑμᾶς (Gal 2,5).629 Damit betont er seine Selbstlosigkeit, die die Glaubwürdigkeit seiner Worte unterstreichen soll.630 Noch eindringlicher präsentiert sich Paulus in seinem Bericht über den Zwischenfall in Antiochia, den er als erste Bewährungsprobe für das Jerusalemer Abkommen über die gesetzes- und beschneidungsfreie Heidenmission stilisiert, als kompromisslosen und unnachgiebigen Kämpfer für die Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,11–14).631 Um sein ἦϑος zu profilieren, setzt er dabei auf die in der antiken Rhetorik übliche Technik des direkten Vergleichs mit einer Persönlichkeit, die bei den Zuhörern/Adressaten bekannt und anerkannt ist (σύγκρισις oder comparatio), nämlich mit Petrus, der den Galatern aus der Verkündigung des Paulus wohl nicht nur als eine der maßgebenden Autoritäten der Jerusalemer Urgemeinde, sondern vor allem auch als erster Zeuge des Auferstandenen bekannt war (vgl. 1 Kor 15,5).632 12

πρὸ τοῦ γὰρ ἐλϑεῖν τινας ἀπὸ Ἰακώβου μετὰ τῶν ἐϑνῶν συνήσϑιεν· ὅτε δὲ ἦλϑον, ὑπέστελλεν καὶ ἀφώριζεν ἑαυτὸν φοβούμενος τοὺς ἐκ περιτομῆς. 13

καὶ συνυπεκρίϑησαν αὐτῷ [καὶ] οἱ λοιποὶ Ἰουδαῖοι, ὥστε καὶ Βαρναβᾶς συναπήχϑη αὐτῶν τῇ ὑποκρίσει

Das Verhalten des Petrus ist in der Darstellung des Paulus in doppelter Hinsicht als negativ zu werten: 1. Negativ ist das Motiv, das das Handeln des Petrus bestimmt. Aus Furcht vor den Anhängern des Jakobus gibt er die bisher auch von ihm gepflegte volle Tischgemeinschaft mit den (unbeschnittenen) 629 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 33; Longenecker, Galatians (WBC) 52f.; Koptak, Identification 164; Bruce, Galatians (NIGTC) 115. 630 Ähnlich Dunn, Galatians (BNTC) 101f. 631 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 20. 632 Zur comparatio bzw. σύγκρισις vgl. Lausberg, Handbuch § 1130, zu den dabei üblichen modi des Lobes oder Tadels für einen Menschen vgl. ebd. § 1129 mit § 245; vgl. auch Martin, Rhetorik 189 mit 198–204; Andersen, Rhetorik 245–247. Die ausgefaltete comparatio bzw. σύγκρισις mit dem Ziel des Lobes oder Tadels gehört insbesondere in die epideiktische Rede. Die Personendarstellung und der Vergleich in Form eines Enkomions gehörte zu den Übungsstücken des Rhetorikunterrichts, die auf die Übungsreden (declamationes: suasoriae und controversiae) vorbereiteten. Für die in Gal 2,11–14 vorliegende σύγκρισις zwischen Paulus und Petrus und ihrem Hintergrund als Topos der antiken Autobiographie vgl. besonders Lyons, Autobiography 134f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Heidenchristen auf, wodurch er sich in der Praxis ebenso wie Paulus über die die Reinheitsvorschriften des Gesetzes hinweggesetzt hatte, zu deren Beachtung er als beschnittener und gläubiger Jude eigentlich noch immer verpflichtet gewesen wäre.633 Durch das Motiv der Furcht, die sein Handeln bestimmt, erscheint Petrus nicht nur als schwach und ängstlich, sondern als Heuchler, der lieber seine eigene Überzeugung verleugnet, als um der Wahrheit willen einen nötigen Konflikt auszutragen (vgl. die analoge Unterstellung, die Paulus in Gal 6,12f. gegenüber seinen judenchristlichen Konkurrenten formuliert). — 2. Negativ qualifiziert wird das Verhalten des Petrus auch durch die konkreten Folgen. Das schlechte Beispiel des Petrus verleitete die anderen Judenchristen in Antiochia bis hinauf zu Barnabas, dem Freund und alten »Kampfgenossen« des Paulus, es seiner Heuchelei gleich zu tun und aus Scheu vor den Jakobusleuten die Wahrheit zu verfälschen. Der Furcht und Heuchelei des Petrus (und Barnabas) stellt Paulus seine eigene Standhaftigkeit im Kampf für die Wahrheit des Evangeliums gegenüber.634 Er selbst ließ sich weder durch die Leute des Jakobus einschüchtern, noch war er aus Respekt vor dem Ansehen des Petrus bereit, über dessen Fehlverhalten hinwegzusehen (Gal 2,11.14).635 Bei seiner Selbstdarstellung in Gal 2,1–10 und 2,11–14 könnte Paulus auf die rhetorische Topos-Lehre zurückgreifen. Als Grundlage eines rhetorischen Schlusses nennen nämlich die rhetorischen Handbücher auch die Vorgeschichte, d. h. das, was ein Mensch früher gesagt und getan hat (ante acta dicta; Quint. inst. 5,10,28).636 In der Form eines Enthymems, d. h. eines unvollständigen Syllogismus, wie er für die rhetorische Argumentation typisch ist (vgl. S. 157), können die Aussagen des Paulus über sein Verhalten beim Apostelkonzil und beim antiochenischen Zwischenfall auf die Situation in Galatien bezogen und dadurch aktualisiert werden: Wenn sich der Charakter und die Überzeugungen des Paulus nicht geändert haben, so wird er jetzt nicht anders handeln als damals. Auch jetzt wird er einem Konflikt nicht aus dem Weg gehen und um der Wahrheit des Evangeliums willen nicht nachgeben. Dadurch wird die Selbstdarstellung des Paulus zu einer Kampfansage, weniger an die Galater als an seine judenchristlichen Konkurrenten. (2) Galatische Christen: Das Lob als einfachstes Mittel, die Adressaten für sich und seine Sache zu gewinnen, war Paulus im Galaterbrief aufgrund der spezifischen Brief- und Kommunikationssituation verwehrt. Im Gegenteil, die Situation in Galatien erforderte nach Ansicht und Überzeugung des Paulus, dass 633

Die damit verbundene »grundsätzliche Relativierung« der Tora auch für Judenchristen bei Paulus betont auch Bergmeier, Gerechtigkeit 16. 634 Näheres dazu bei Longenecker, Galatians (WBC) 75–78. 635 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 140. 636 Vgl. dazu Ueding, Rhetorik 61; Ueding/Steinbrink, Grundriß 248; Lausberg, Handbuch § 376,13.

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5. Der Brief an die Galater

er sich mit unmissverständlich tadelnden Worten an seine Adressaten wandte. Zugleich aber durften diese Worte trotz ihrer Deutlichkeit ein eventuell noch bestehendes positives Verhältnis der Galater zu ihm nicht beschädigen oder einer Wiederherstellung des früheren guten Einvernehmens im Wege stehen. Paulus musste die Aussagen über den Charakter und das Verhalten seiner Adressaten also so formulieren, dass er bei ihnen einerseits die Überzeugung weckte, dass sie durch eigenes Verschulden einen schwerwiegenden Fehler begehen oder bereits begangen haben, und dadurch in ihnen den Wunsch hervorrief, umzukehren und ihr Verhalten zu korrigieren, ohne sie aber andererseits derart zu brüskieren und zu verstimmen, dass sie endgültig zu Paulus und seinem Evangelium der Gesetzesfreiheit auf Distanz gingen. Dies versucht er dadurch zu erreichen, dass er in seinen Aussagen bei den Galatern eine Diskrepanz zwischen ihrem ἦϑος und ihrem aktuellen Verhalten diagnostiziert. Grundlegend für die Darstellung des ἦϑος der Adressaten ist, dass Paulus sie im Präskript als ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας (Gal 1,2) anspricht und ihnen damit ungeachtet der aktuellen Situation den Ehrentitel ἐκκλησία belässt, der ihren Status als endzeitliche Heilsgemeinde bezeichnet (vgl. S. 80).637 Mit der tadelnden Anrede am Beginn der Corpuseröffnung, wo Paulus die Galater des Glaubensabfalls beschuldigt (Gal 1,6f.), wird die ehrende Anrede in der adscriptio zum impliziten Appell, der die Adressaten auffordert, sich so zu verhalten, wie es ihrem Status und ihrer Würde entspricht (vgl. dazu auch S. 224). Ähnliches gilt für die mehrmalige ausdrückliche Anrede der Adressaten im Briefcorpus und am Ende des Präskripts als ἀδελφοί, die die Galater ebenfalls auf ihre Zugehörigkeit zur Heilsgemeinde Christi anspricht (Gal 1,11; 3,15; 4,28; 5,12; 6,1.18; vgl. S. 227). Damit verbunden ist die Erinnerung, dass er es war, der ihnen das Evangelium verkündet und ihnen dadurch die Zugehörigkeit zur Heilsgemeinde eröffnet hat (Gal 1,11; 3,1). Es mag sein, dass Paulus damit auf eine bleibende moralische Verpflichtung der Galater gegenüber ihm und seinem Evangelium abzielt. Wichtiger ist die inhaltliche Füllung, die Paulus seiner Erstverkündigung bei den Galatern in Gal 3,1 gibt: οἷς κατ’ ὀφϑαλμοὺς Ἰησοῦς Χριστὸς προεγράφη ἐσταυρωμένος. Sie haben von Paulus das Evangelium vom gekreuzigten Christus Jesus empfangen, der sich für sie hingegeben und sie ohne Werke des Gesetzes allein durch Glauben gerecht gemacht hat (vgl. Gal 2,15– 21).638 Dass diese Verkündigung des Paulus und sein Evangelium keine leeren 637 Dies gilt, selbst wenn die im Vergleich mit anderen Paulusbriefen knappe adscriptio als Ausdruck der Verstimmung und des Tadels intendiert sein sollte. Auf die Problematik dieser mehrheitlich vertretenen Sicht wurde bereits hingewiesen (vgl. S. 220f.). Zu diesem Aspekt sowie insgesamt zu Formen der Anrede, die eine Wertschätzung der Adressaten durch den Absender ausdrücken, vgl. für den Galaterbrief auch Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 390–394. 638 Zur Deutung von οἷς κατ’ ὀφϑαλμοὺς Ἰησοῦς Χριστὸς προεγράφη ἐσταυρωμένος in Gal 3,1 vgl. Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 112 und 115; Borse, Galater (RNT) 123.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Worte waren, durften die Galater bei ihrer Taufe durch das Wirken des Geistes am eigenen Leib erfahren, wie er ihnen ins Gedächtnis ruft (Gal 3,2–5; 4,6). Deshalb sollten und müssten sie wissen, dass sie durch Glaube und Taufe bereits Söhne Gottes (Gal 3,26; 4,6f.) und Söhne Abrahams (Gal 3,29) geworden sind und damit gemäß der Verheißung als Erben den Anspruch auf das eschatologische Heil erlangt haben. Beschneidung und Werke des Gesetzes können dem nichts hinzufügen. Weil die Galater sich durch eigene pneumatische Erfahrungen von der Zuverlässigkeit der Verkündigung des Paulus überzeugen konnten und können (Gal 3,2.4; 4,6), und weil das Evangelium des Paulus göttlichen Ursprungs ist und deshalb zu absoluter Treue verpflichtet (Gal 1,11 mit 1,8f.), wiegt ihre Hinwendung zu Beschneidung und Gesetz umso schwerer.639 Paulus bringt dies zum Ausdruck, indem er für das Verhalten der Galater in Gal 1,6 das Verb μετατίϑεσϑαι verwendet, das im politischen Zusammenhang den gesinnungslosen Wechsel von Überläufern bezeichnet (vgl. S. 260).640 Um ihnen zu signalisieren, dass sie im Begriff sind, entgegen der von ihnen gemachten Erfahrung und damit wider besseren Wissens zu handeln, nennt er sie ὦ ἀνόητοι Γαλάται (Gal 3,1; vgl. 3,3) und stellt sie damit unmündigen Kindern oder Schwachsinnigen gleich, die nicht in der Lage sind, ihren Intellekt (νοῦς) zu gebrauchen (vgl. Aristoph. Lys. 572; Vesp. 252).641 Ihr Unverstand besteht darin, dass sie den Unsinn und die Absurdität ihrer Absicht nicht erkennen, durch Beschneidung und Werke des Gesetzes nach dem Status zu streben, den sie durch Glaube und Taufe längst erreicht haben (Gal 3,3). Dieses Bestreben ist nicht nur unsinnig und nutzlos, sondern gefährlich, weil sie damit hinter die entscheidende Wende ihres Lebens zurück wollen und Gott, der sich ihnen heilvoll zugewandt hat, eine Absage erteilen (Gal 4,8f. mit 5,2–6).642 Was Paulus für die Galater getan und wofür er seine Mühe aufgewandt hat, scheint deshalb umsonst gewesen zu sein, weil es von ihnen aus Unüberlegtheit und Unverstand wieder zunichte gemacht wird (Gal 3,4; 4,11).643 Darin klingt der Vorwurf der 639 Letztlich artikuliert Paulus im Galaterbrief für die von ihm gegründeten Gemeinden denselben Anspruch auf absolute Normativität seiner Verkündigung wie in 1 Kor 3,10–15, die nicht nur die Mitglieder dieser Gemeinden, sondern alle anderen christlichen Missionare, die nach ihm hier wirken, verpflichtet und bindet. Für 1 Kor 3,10–15 vgl. die Auslegung bei Klauck, 1. Korintherbrief (NEB) 33f. 640 Dazu auch Radl, Galaterbrief (SKK) 21; Longenecker, Galatians (WBC) 14. 641 Die Deutung bei Radl, Galaterbrief (SKK) 45, verharmlost die Anrede der Galater als νήπιοι zu sehr. Seiner Meinung nach wirft Paulus ihnen mit dieser Anrede nicht einen Mangel an Intelligenz vor, sondern lediglich das Versagen ihrer Urteilsfähigkeit in einer konkreten Situation; dies sei als indirekter Appell an die Adressaten zu verstehen, ihre Urteilsfähigkeit zu gebrauchen. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 99f.; Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 111. Zu ἀνόητος vgl. auch Liddell/Scott, Lex. 145; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 139f. 642 Vgl. dazu Longenecker, Galatians (WBC) 179–181; Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 156f. 643 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 183.

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5. Der Brief an die Galater

Undankbarkeit gegen Paulus an, aber auch gegen Gott bzw. Christus Jesus, der es letztlich war, der die Galater allein aus Gnade zum Heil gerufen hat (Gal 1,6; vgl. 5,8). All dies ist jedoch nicht nur Anklage, sondern vor allem Appell zum Umdenken (Gal 5,1 mit 6,17). Um seine Adressaten dazu zu motivieren, greift Paulus Elemente einer captatio benevolentiae auf, die den Tadel und die Anklage relativieren und mildern sollen, ohne sie zu neutralisieren. Am auffälligsten ist dieses Bemühen in dem eindeutig philophronetisch gestimmten Passus Gal 4,13–20 (dazu bereits S. 250f.). Hier erinnert Paulus nicht nur an die einst gute Beziehung zu den Adressaten, sondern er appelliert damit auch an die positiven Qualitäten ihres ἦϑος, die sich in ihrer selbstlosen Fürsorge für Paulus zeigte, als sie ihn als ihnen noch unbekannten und kranken Reisenden bei sich aufnahmen und pflegten (Gal 4,13–15). Dieser Hinweis auf frühere Verdienste der Galater, in denen sich ihr guter Charakter zeigte, entspricht den Ratschlägen der rhetorischen Handbücher, die für das Lob einer Person empfehlen, auf seinen Charakter und seine Tugenden zu verweisen, indem man von ihm vor allem solche Taten berichtet oder aufzählt, die uneigennützig vollbracht wurden und über das hinausgehen, was gewöhnlich von einem Menschen an Gutem zu erwarten und zu erhoffen ist (Quint. inst. 3,7,16; vgl. Aristot. rhet. 1,9 [1366a–1368a]).644 So bestätigt auch Paulus den Galatern, dass ihre Tat über das übliche Maß hinausging, weil sie an seiner Krankheit nicht nur keinen Anstoß nahmen, sondern ihn trotz seines Zustandes wie ein himmlisches Wesen aufnahmen. Ebenso bescheinigt er ihnen durch das (sprichwörtliche) Adynaton, dass sie ihre eigenen Augen für ihn hergegeben hätten, die Selbstlosigkeit ihrer Hilfsbereitschaft.645 Nach der rhetorischen Toposlehre ist die Wesensart eines Menschen (animi natura) für den Redner einer der Fundorte für seine Argumente und Beweise (Quint. inst. 5,10,27).646 Deshalb ist der Rekurs auf den an sich guten Charakter der Galater, den sie mit ihren früheren Taten unter Beweis gestellt haben, mehr als nur eine captatio benevolentiae. Der gute Charakter der Galater ist zugleich die Grundlage für die provozierende Frage, wie es dazu gekommen sein kann, dass sie von dem richtigen Weg abgekommen sind, den sie schon eingeschlagen hatten (Gal 5,7).647 Wenn sich der Charakter der Galater nicht geändert hat, dann müssen andere für den Gesinnungswechsel der Galater verantwortlich sein (Gal 5,7). Eine mögliche Erklärung, die Paulus gleich zu Beginn des zweiten Hauptabschnittes der Corpusmitte in den Blick nimmt, wäre, dass die Galater unter dem Einfluss eines Schadenszaubers stehen (Gal 644

Vgl. Lausberg, Handbuch § 245 (II.A.b.β–γ); außerdem Martin, Rhetorik 200. Vgl. Rhode, Galater (ThHK) 187. 646 Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß 246f.; Lausberg, Handbuch § 376,10. 647 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 79; Mußner, Galaterbrief (HThK) 354f.; Longenecker, Galatians (WBC) 230. 645

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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3,1; dazu S. 231).648 Damit relativiert Paulus die Schuld und Verantwortung seiner Adressaten und belastet allein die fremden Missionare. Dadurch eröffnet Paulus die Möglichkeit einer Wiederaufnahme und Fortführung der freundschaftlichen Beziehung und Kommunikation, die durch das Verhalten der Galater empfindlich gestört worden ist. Seine Bereitschaft dazu signalisiert Paulus, indem er sein Vertrauen bekundet, dass sich die Wesensart der Galater nicht verändert hat und dass sie deshalb ihm und der Wahrheit des Evangeliums treu bleiben werden (Gal 5,10).649 Damit attestiert er seinen Adressaten einen Charakter, der ungeachtet der aktuellen Vorgänge eine freundschaftliche Beziehung auf der Basis einer gemeinsamen Überzeugungen von der Wahrheit des Evangeliums möglich macht. (3) Konkurrierende Missionare: Der Grunddissens zwischen Paulus und seinen judenchristlichen Konkurrenten in Galatien ist die Frage nach der soteriologischen Relevanz von Gesetzesobservanz und Beschneidung. Dass die Konkurrenten des Paulus beidem auch für Christen eine bleibende Bedeutung beimaßen und die Galater entsprechend belehrten, ist im Grunde alles, was sich dem Brief mit einiger Gewissheit über ihre Verkündigung entnehmen lässt, und möglicherweise war dies auch alles, was Paulus über seine Konkurrenten und ihre Lehre wusste (vgl. S. 182f.). An einer differenzierteren Wahrnehmung und Darstellung ihrer Anliegen und Motive war er jedenfalls nicht interessiert. Das Bild, das er in wenigen Anmerkungen fast beiläufig von seinen Konkurrenten entwirft, ist primär ein Konstrukt, das sie bei den Galatern diskreditieren soll. Dazu stilisiert Paulus sie als böswillige Verführer, die die Galater aus unlauteren und eigensüchtigen Motiven von der Wahrheit des Evangeliums abbringen wollen.650 Scheinbar nur sehr verhalten und unspezifisch nimmt Paulus in der Corpuseröffnung auf mögliche Konkurrenten Bezug, die dafür verantwortlich sein müssen, dass die von ihm bekehrten (und getauften) Galater so rasch ein »anderes Evangelium« angenommen haben (Gal 1,6f.: … εἰ μή τινές εἰσιν οἱ ταράσσοντες ὑμᾶς). Worin die Andersartigkeit dieses Evangeliums besteht, bleibt zwar offen, doch lässt Paulus keinen Zweifel, dass dieses Evangelium so grundlegend anders ist, dass es kein Evangelium mehr ist.651 Damit bestreitet Paulus ganz nebenbei seinen Konkurrenten von vornherein den Anspruch, Künder des Evangeliums und damit christliche Missionare zu sein. Er unterstellt ihnen sogar, dass es überhaupt nicht ihre Absicht ist, das Evangelium zu verkünden, sondern dass sie gezielt die Botschaft vom Heil in Christus Jesus pervertieren und zerstören wollen (Gal 1,7: … ϑέλοντες μεταστρέψαι τὸ εὐ648

Dazu auch Radl, Galaterbrief (SKK) 45; Borse, Galater (RNT) 122f. Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 357f. 650 Ähnlich Borse, Galater (RNT) 47; Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 394f. 651 Dazu auch Longenecker, Galatians (WBC) 15. 649

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5. Der Brief an die Galater

αγγέλιον τοῦ Χριστοῦ).652 Indem er sie als οἱ ταράσσοντες ὑμᾶς bezeichnet (Gal 1,7), setzt er sie mit politischen Aufrührern gleich, die mit ihrem Verhalten nicht nur die innere Ordnung einer Gemeinschaft, sondern ihr Wohl und Gedeihen gefährden.653 Diese negative Qualifizierung seiner Gegner greift er nochmals in Gal 5,10 auf (ὁ δὲ ταράσσων)654 und stellt sie unter die Androhung des göttlichen Strafgerichts. Auch das synonyme οἱ ἀναστατοῦντες ὑμᾶς in Gal 5,12 greift nochmals auf diese einleitende und für Paulus offensichtlich grundlegende Charakterisierung des Tuns und der Absichten seiner Konkurrenten zurück. Paulus begnügt sich jedoch nicht damit, seine Konkurrenten als Unruhestifter und Verführer abzuqualifizieren. In Gal 3,1 weckt er die Assoziation mit Magiern, die sich dunkler Mächte bedienen und die Galater behext und mit einem Schadenszauber belegt haben (vgl. S. 231).655 Darin steckt auch eine Polemik gegen die Predigt seiner Konkurrenten, deren Erfolg demnach nicht auf der Wahrheit und Überzeugungskraft von Argumenten, sondern auf Manipulation mit magischen Künsten beruht. Damit charakterisiert Paulus seine Konkurrenten als eine negative und schädliche Kraft, die die Galater zwingt gegen ihre eigene Überzeugung der Verkündigung des Paulus den Rücken zu kehren. Denselben Gedanken, wenn auch ohne Hinweis auf magische Praktiken, formuliert Paulus nochmals in Gal 5,7, wo er sie als Macht qualifiziert, die die Galater hindert, der Wahrheit des Evangeliums weiter zu folgen.656 Dadurch bestreitet er der Verkündigung seiner Konkurrenten nicht nur den Anspruch 652

Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 58. Das von Paulus gewählte Verb μεταστρέφειν findet sich auch im Kontext politischer Agitation. Möglicherweise schwebt auch Paulus in Gal 1,7 diese Konnotation des Begriffs vor, da das im selben Satz verwendete Verb ταράσσειν ebenfalls in diesen Kontext gehört. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 16. Dabei ist es nicht nötig, für μεταστρέφειν eine übertrage Bedeutung anzunehmen, sondern mit dem Verb will Paulus wohl betonen, dass das Tun seiner judenchristlichen Konkurrenten insofern mit dem politischer Revolutionäre vergleichbar ist, als es ebenfalls gegen die Ruhe und Ordnung einer Gemeinschaft gerichtet ist. 653 Für ταράσσειν zur Bezeichnung politischer Agitation vgl. Liddell/Scott, Lex. 1758; Longenecker, Galatians (WBC) 16. Dadurch nimmt Paulus möglicherweise eine gezielte Parallelisierung seiner Konkurrenten in Galatien mit seinen Gegnern im Umfeld der Jerusalemer Übereinkunft vor. Denn mit Betz, Galaterbrief 174f., weist Jegher-Bucher, Galaterbrief 149, darauf hin, dass Paulus auch das Agieren der ψευδάδελφοι in Gal 2,1–10 in der Sprache »politischer Demagogie« beschreibt. 654 Zur Erklärung des Singulars, der hier nicht auf eine Einzelperson (etwa einen Anführer oder Auftraggeber der konkurrierenden Missionare) zielt, sondern generisch im Sinne von »wer auch immer …« zu verstehen ist, vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 132; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 184. 655 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 206; gegen Betz, Galaterbrief 240f., der Gal 3,1 auf die rhetorische »Bezauberung« durch sophistische Künste deutet; vorsichtiger Dunn, Galatians (BNTC) 151f. Dazu bereits S. 231, Anm. 247. 656 Dazu Borse, Galater (RNT) 185; Longenecker, Galatians (WBC) 230; Mußner, Galaterbrief (HThK) 354f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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auf Wahrheit, sondern er charakterisiert sie, ähnlich wie schon in Gal 1,7, als gefährlich, weil sie die Galater zum Glaubensabfall verleitet haben und damit um das Heil bringen (vgl. Gal 5,8). Explizit macht er dieses theologische Urteil über die Verkündigung seiner judenchristlichen Konkurrenten, indem er sie wegen ihrer Mission autoritativ der Verdammnis im eschatologischen Strafgericht Gottes überantwortet (Gal 1,8f.; 5,10).657 Vor allem aber wertet Pauls die konkurrierenden judenchristlichen Missionare und ihre Botschaft dadurch ab, dass er ihnen unlautere Motive ihrer Beschneidungs- und Gesetzespredigt unterstellt. Geschickt platzierte Paulus diesen Vorwurf am Ende des Briefes in das eigenhändige Subskript, damit er den Adressaten besonders nachhaltig in Erinnerung blieb (Gal 6,12f.).658 a b c c b a

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ὅσοι ϑέλουσιν εὐπροσωπῆσαι ἐν σαρκί, οὗτοι ἀναγκάζουσιν ὑμᾶς περιτέμνεσϑαι, μόνον ἵνα τῷ σταυρῷ τοῦ Χριστοῦ μὴ διώκωνται. 13 οὐδὲ γὰρ οἱ περιτεμνόμενοι αὐτοὶ νόμον φυλάσσουσιν ἀλλὰ ϑέλουσιν ὑμᾶς περιτέμνεσϑαι, ἵνα ἐν τῇ ὑμετέρᾳ σαρκὶ καυχήσωνται.

Die auffällige konzentrische Struktur sollte wohl zusätzlich die Aufmerksamkeit der Adressaten auf die Aussage über die Motive der judenchristlichen Missionare lenken.659 Den äußeren Rahmen bildet der Vorwurf, dass sie die Beschneidung der Heidenchristen nur deshalb verkünden und fordern, weil sie bei den Menschen Beifall und Ansehen suchen. Als innerer Rahmen steht der Hinweis auf die Absicht, die Galater zu beschneiden. Dabei fällt in Gal 6,12 die Wahl des Verbs ἀναγκάζουσιν auf, womit Paulus möglicherweise an seinen Bericht über die Übereinkunft in Jerusalem erinnern will; denn hier hatte er mit demselben Verb ausdrücklich festgehalten, dass der unbeschnittene Heidenchrist Titus, der ihn und Barnabas von Antiochia nach Jerusalem begleitet hatte, von den maßgebenden Autoritäten der Jerusalemer Urgemeinde nicht zur Beschneidung gezwungen worden war (Gal 2,3: οὐδὲ Τίτος … ἠναγκάσϑη περιτμηϑῆναι).660 Dieser Rückverweis würde die Pläne seiner Konkurrenten als Bruch der Jerusalemer Übereinkunft brandmarken. Im Zentrum der Anklage stehen Behauptungen, mit denen Paulus gezielt den Eindruck erwecken will, dass seine Konkurrenten offenbar selbst von der von ihnen verkündeten Heilsnotwendigkeit von Beschneidung und Gesetzes657 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 60f. und 358; Longenecker, Galatians (WBC) 17f. und 232. 658 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 90f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 412–414; Longenecker, Galatians (WBC) 290–293; Matera, Galatians (Sacra Scriptura) 230f.; Borse, Galater (RNT) 219f.; außerdem Schewe, Galater 196–198. 659 Matera, Galatians (Sacra Pagina) 230, spricht von einer chiastischen Struktur von Gal 6,12f. (was wohl auch auf die konzentrische Anordnung der sechs Teilverse zielt), ohne die Struktur der Verse aber genauer zu beschreiben. 660 Ähnlich Becker, Galater (NTD) 98; Schlier, Galaterbrief (KEK) 280.

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5. Der Brief an die Galater

observanz nicht überzeugt sein können.661 Zum einen nämlich suggeriert Paulus, dass seine Konkurrenten sein Evangelium von der Erlösung und Rechtfertigung des Menschen allein durch den Tod Christi am Kreuz nicht wegen inhaltlicher Differenzen ablehnen.662 Vielmehr verfälschen sie die Wahrheit des Evangeliums allein deshalb, weil sie anders als er unangenehmen Konflikten mit Judenchristen oder auch mit Juden aus dem Weg gehen wollen.663 Zum anderen unterstellt ihnen Paulus, sie würden das Gesetz, auf dessen Befolgung sie die Galater verpflichten wollen, selbst nicht halten.664 Eine Begründung oder zumindest Erklärung für diese Behauptung gibt Paulus seinen Adressaten nicht. Damit sagt Paulus über seine Konkurrenten, dass es ihnen weder um die Wahrheit noch um das Heil der Heiden geht; in Gegenteil, sie instrumentalisieren die Galater aus reiner Selbstsucht, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen bzw. persönliche Nachteile zu vermeiden.665 Bei dieser Charakterisierung und Qualifizierung seiner Gegner dürfte Paulus sich ebenfalls an der rhetorischen Toposlehre orientiert haben. Denn sie empfiehlt zu prüfen, ob sich (echte oder vermeintliche) Neigungen, die im Charakter eines Menschen begründet sind (quid affectet quisque), als Überzeugungsmittel für oder gegen 661

Vgl. Borse, Galater (RNT) 219. Zur Deutung von τῷ σταυρῷ τοῦ Χριστοῦ in Gal 6,12 als stark verkürzende Umschreibung des paulinischen Evangeliums, wie es in Gal 2,15–21 in seinen Grundzügen entfaltet ist, vgl. Matera, Galatians (Sacra Pagina) 225; auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 412; Becker, Galater (NTD) 98f.; Longenecker, Galatians (WBC) 291f.; Vouga, Galater (HNT) 155f. 663 Ausführlich Becker, Galater (NTD) 97–100; vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 411f.; Vouga, Galater (HNT) 156. 664 Matera, Galatians (Sacra Pagina) 230f., betont zurecht, dass es bei dem Vorwurf des Paulus nicht darum geht, ob die Konkurrenten des Paulus das Gesetz nicht halten, weil es niemand halten kann, und auch nicht um die Frage, ob die konkurrierenden Missionare eine Form des Synkretismus vertraten, der nur die Befolgung bestimmter äußerer Elemente des Gesetzes vorsah. Es geht primär darum, dass Paulus sie seinen Adressaten als Heuchler präsentieren will. Ähnlich Borse, Galater (RNT) 220; Egger, Galaterbrief (NEB) 41f.; Lührmann, Galater (ZBK) 101. Schneider, Galater (GSL) 9 und 153, dagegen geht davon aus, dass Paulus mit dem Vorwurf in Gal 6,13 das Verhalten seiner Konkurrenten korrekt wiedergibt, dass sie also die Gesetzesobservanz predigen, ohne selbst das Gesetz zu befolgen. Daraus ergibt sich aber das bereits mehrfach angedeutete Problem, dass aus dem Galaterbrief nicht ersichtlich wird, wie Paulus überhaupt so genau über die Vorgänge in Galatien informiert sein kann und ob er wirklich weiß, was dort geschieht oder nur Vermutungen anstellt. Insgesamt ist man bei der Auslegung von Gal 6,12f. offenbar mehrheitlich zu skrupulös, um einzuräumen, dass auch Paulus ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zum Mittel einer gezielten Diffamierung seiner Konkurrenten gegriffen haben könnte. Das Unbehagen gegenüber dieser Möglichkeit zeigt sich z. B. bei Longenecker, Galatians (WBC) 292f.; Martyn, Galatians (AB) 563; Dunn, Galatians (BNTC) 338f.; ebenso bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 413f., der diese Möglichkeit zwar einräumt, das Vorgehen des Paulus aber sofort relativierend entschuldigt; ähnlich Becker, Galater (NTD) 99f. 665 Dazu auch Martyn, Galatians (AB) 562. 662

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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eine Sache einsetzen lassen (Quint. inst. 5,10,28).666 Im Falle der Konkurrenten des Paulus wäre das ihr Streben nach Ruhm und Ansehen. Bei dem Hinweis, dass seine Konkurrenten durch die Predigt von Gesetz und Beschneidung die Verfolgung vermeiden wollen, greift Paulus möglicherweise auf einen weiteren rhetorischen Topos zurück, nämlich auf die Frage nach den Gründen einer Tat (loci a causa), d. h. welche Güter man gewinnen oder welche Übel man vermeiden wollte (Quint. inst. 5,10,33f.).667 Beide Topoi setzen voraus, dass die Qualität einer Tat durch die Qualität der Motive und Neigungen des Täters bestimmt wird. Darauf aufbauend ergäbe sich folgendes als Enthymem gestaltetes Argumentationsschema (vgl. S. 157): Gute Motive und Neigungen bringen gute Taten hervor, schlechte schlechte; wenn die Motive und Neigungen der judenchristlichen Missionare schlecht sind, dann auch ihr Tun, d. h. das, was sie bei den Galatern verkünden und fordern. Dieses Bild, das Paulus von den judenchristlichen Missionaren entwirft, soll sie in scharfem Kontrast als das exakte Gegenteil seiner selbst erscheinen lassen: Sie suchen den Beifall der Menschen, er will allein Gott gefallen (Gal 1,10). Er verkündet das Evangelium Christi, sie wollen es durch ein falsches zerstören (Gal 1,7).668 Er will den Galatern die »Freiheit« erhalten, ihretwegen werden die Galater wieder zu Sklaven (Gal 5,1). Er leidet gleichsam wie eine Mutter der Galater wegen Geburtswehen (Gal 4,19), sie dagegen handeln aus eigensüchtiger Missgunst und missbrauchen die Galater (Gal 4,17).669 Zur abwertenden Darstellung seiner Konkurrenten bedient Paulus sich außerdem des Spottes. Ein Ansatz dazu zeigt sich in der bereits genannten Gleichsetzung mit Magiern in Gal 3,1. Vor allem aber in Gal 5,12 sollen die judenchristlichen Missionare durch gezielten Spott der Lächerlichkeit preisgeben werden.670 Dazu legt er ihnen in einer absurden Übersteigerung ihrer Forderungen nahe, sie sollten alles abschneiden und sich nicht nur beschneiden, sondern gleich kastrieren. Der Spott besteht nicht darin, dass die Entmannung schon als solche entehrend und entwürdigend ist. Das Spöttische und Provozierende dieser von Paulus in der Form eines erfüllbaren Wunsches671 geäußerten Empfehlung ergibt sich aus der Verbindung mit der von ihnen geforderten Gesetzesobservanz. Denn nach den Bestimmungen des mosaischen 666

Vgl. Ueding, Rhetorik 60f.; Ueding/Steinbrink, Grundriß 248. Vgl. Ueding, Rhetorik 62; Ueding/Steinbrink, Grundriß 249f. 668 Ausführlicher dazu Lyons, Autobiography 125–130. 669 Vgl. Becker, Galater (NTD) 69; Vouga, Galater (HNT) 110f. Anders Mußner, Galaterbrief (HThK) 310f.; er deutet Gal 4,17 auf das Bemühen der konkurrierenden Missionare einen Keil zwischen Paulus und die Galater zu treiben, d. h. sie von der Gemeinschaft mit ihrem Apostel auszuschließen, um sie ganz an sich zu binden. 670 Ähnlich Longenecker, Galatians (WBC) 233f.; Vouga, Galater (HNT) 126; Borse, Galater (RNT) 188. 671 Zur Formulierung des erfüllbaren Wunsches mit ὄφελον und Indikativ Futur in Gal 5,12 vgl. BDR § 559, Anm. 2. 667

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5. Der Brief an die Galater

Gesetzes in Dtn 23,1 darf kein Kastrat in das Gottesvolk aufgenommen werden.672 Die Pointe dieses spöttischen Wunsches liegt deshalb darin, dass ihnen als Kastraten kein anderer Weg zum Heil mehr bleiben würde als das gesetzesund beschneidungsfreie Evangelium des Paulus.673 Im Kontext der Landschaft Galatien, wo die Adressaten des Briefes lebten, gewann der Wunsch eine zusätzliche Pointe. Denn hier lagen die Hauptorte des Kultes der Kybele, die von ihren Priestern (Galloi) die Kastration verlangte.674 Auch dieser Einsatz von Spott in Gal 5,12 lässt sich möglicherweise als Einfluss der antiken Rhetorik identifizieren, die Witz und Spott zur Auflockerung der Rede, aber auch zur Diskreditierung von Gegnern und ihren Anliegen empfahl (τὸ γελοῖον, vgl. Aristot. rhet. 3,18,7 [1419b]).675 B. Argumentation: Hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss von spezifisch rhetorischen Formen und Techniken auf die Argumentation des Galaterbriefes kann aufgrund seiner Länge und inhaltlichen Komplexität nicht der gesamte Brief in allen Details untersucht werden. Stattdessen muss eine exemplarische Analyse von zwei zentralen Gedankengängen des Briefes genügen. Der eine zielt auf die Berechtigung der konkurrierenden judenchristlichen Missionare, von den Galatern die Beschneidung (und Gesetzesobservanz) zu fordern. Hier stehen eher disziplinäre und geradezu formal-rechtliche Aspekte im Vordergrund. Der andere Gedankengang betrifft die Frage der Heilsnotwendigkeit von Beschneidung und Gesetzesobservanz. Dabei geht es um die grundlegenden theologischen Aspekte. (1) Berechtigung zur Heidenmission: Der autobiographische Passus in Gal 1,12 – 2,14 dient nicht allein der ἦϑος-Beschaffung des Paulus. Nebenbei will er bei seinen Adressaten auch Zweifel wecken, ob die nach seinem Weggang in ihren Gemeinden aufgetretenen Judenchristen überhaupt berechtigt sind, bei ihnen zu missionieren und zu predigen und von ihnen die Beschneidung und die Übernahme der Gesetzesobservanz zu fordern. Ansatzpunkt dafür ist die bereits erwähnte Betonung, dass er von Gott für die Mission unter den Heiden berufen und beauftragt wurde (vgl. S. 323f.). Sein Ziel ist es, die Galater zu überzeugen, dass dies als seine spezifische, von Gott gegebene Sendung von 672

Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 363f. In der Erzählung Apg 8,26–40 von der Taufe des Kämmerers der äthiopischen Königin, der als Eunuchen (Kastrat) ebenfalls von der Aufnahme in das Gottesvolk ausgeschlossen wäre, dient dasselbe Problem zur Illustration der neuen Universalität des durch Jesus Christus und die Taufe eröffneten Heils. 674 So auch Nanos, Irony 204; vgl. außerdem Borse, Galater (RNT) 188; Becker, Galater (NTD) 80. Zum Kult der Kybele (und des Attis) und der damit verbundenen (Selbst-)Entmannung vgl. auch Klauck, Umwelt 1, 106–111; M. Giebel, Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, Düsseldorf/Zürich 2003, 115–147. 675 Näheres zum γελοῖον bei Martin, Rhetorik 138–147. 673

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Anfang an auch von der judenchristlichen Gemeinde Jerusalems und ihren Autoritäten so anerkannt und darüber hinaus nach Angriffen von Gegnern sogar als seine ausschließliche Kompetenz bestätigt worden ist.676 Die Galater sollen erkennen und anerkennen, dass sie als Heidenchristen in den Zuständigkeitsbereich des Paulus gehören. Gott hat sie ihm anvertraut, nicht diesen judenchristlichen Missionaren, wer immer sie sind und von woher sie auch kommen mögen. Dem Nachweis, dass seine Sendung von Anfang an die Anerkennung der maßgebenden Autoritäten der Urgemeinde von Jerusalem fand, dienen die Angaben über seinen ersten Besuch in Jerusalem.677 Paulus selbst sagt nur, dass er aus eigener Initiative nach Jerusalem ging und dass er dort mit Petrus und Jakobus zusammentraf (Gal 1,18–20). Besonders wichtig ist ihm dabei offensichtlich die Tatsache, dass er damals auch Jakobus, dem herausragenden Repräsentanten des gesetzestreuen Judenchristentums, begegnete; denn darauf lenkt er durch die auffällig umständliche Konstruktion in Gal 1,19 (ἕτερον δὲ τῶν ἀποστόλων οὐκ εἶδον εἰ μὴ …) und die anschließende Setzung einer Schwurformel in Gal 1,20 nachdrücklich die Aufmerksamkeit seiner Adressaten (selbst wenn sich die Schwurformel auf den gesamten Bericht über den ersten Besuch in Jerusalem beziehen sollte).678 Der Grund dafür ist, dass die in Gal 2,12 genannten Kritiker der paulinisch-antiochenischen Praxis wohl vor allem mit seiner Autorität argumentierten.679 Nach dem Aufenthalt in Jerusalem habe er seine bisherige Mission fortgesetzt und diese habe, wie er den Galatern berichten kann, in Form eines Dankgebetes den Beifall und damit die ausdrückliche Anerkennung und Zustimmung der (judenchristlichen) Gemeinden Judäas gefunden (Gal 1,21–24).680 676

Dahinter steht sicher, wie Lührmann, Galaterbrief (ZBK) 35, und andere betonten, die Tatsache, dass im Denken der konkurrierenden judenchristlichen Missionare in theologischen und disziplinären Fragen Jerusalem und der Jerusalemer Gemeinde eine besondere Relevanz zukam. 677 Nach Lüdemann, Paulus 2, 70–73, sind die Angaben des Paulus in dem Sinn durchaus zutreffend, als er zu diesem Zeitpunkt mit seiner Sendung auf keine Ressentiments der Jerusalemer Gemeinde stieß. 678 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 28. Ob die Schwurformel in Gal 1,20 es für sich allein rechtfertigt, gleichsam im Umkehrschluss zu folgern, es wären gegenteilige Gerüchte über den ersten Besuch des Paulus in Jerusalem im Umlauf, denen sich unter Umständen auch die abweichende Darstellung in Apg 9,26–30 verdankt, scheint m. E. fraglich. Da zusätzliche Indizien im Galaterbrief fehlen, ist diese Annahme nicht mehr als eine Spekulation. Ähnlich bei Vouga, Galater (HNT) 36f.; anders Lührmann, Galater (ZBK) 35. 679 Näheres zu Jakobus als Identifikationsfigur eines nomistischen Judenchristentums bei Lüdemann, Paulus 2, 73–102; außerdem Bauer, Who is who 201–204. 680 In diesem Sinn auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 99; ähnlich Longenecker, Galatians (WBC) 42; Betz, Galaterbrief 158f.; Dunn, Galatians (BNTC) 85; außerdem Koptak, Identification 162f.; Suhl, Galaterbrief 3096; vgl. auch Burton, Galatians (ICC) 65f. Dagegen meint Rohde, Galater (ThHK) 72, Paulus würde das anerkennende Lob der Gemeinden Judä-

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5. Der Brief an die Galater

Die Art der Darstellung, vor allem das Schweigen darüber, was er mit Petrus und Jakobus gesprochen hat, trägt durchaus einen offensiven Charakter.681 Denn die Aussagen des Paulus über seinen ersten Besuch bei der Jerusalemer Gemeinde provozierten unweigerlich die Frage, warum Petrus und Jakobus nicht spätestens bei dieser Gelegenheit gegen Paulus einschritten und ihn zurechtwiesen, wenn er damals bereits dasselbe Evangelium verkündete und auf die Beschneidung der Heidenchristen verzichtete und wenn sie diese Praxis verurteilten. Dies gilt umso mehr, als Paulus ausdrücklich betont, dass er 15 Tage bei Petrus blieb; für eine Zurechtweisung und Korrektur wäre also reichlich Zeit gewesen. Paulus, und auch das soll sicher die Schwurformel in Gal 1,20 absichern, weiß nichts darüber zu berichten, dass Petrus und Jakobus damals etwas an ihm, seiner Sendung zu den Heiden und dem Inhalt seiner Verkündigung beanstandet oder irgendwie versucht hätten, darauf Einfluss zu nehmen.682 Nach der antiken Rhetorik, die eine als Schwur oder Eid geleisteten Aussage zu den πίστεις ἄτεχνοι rechnet (vgl. Quint. inst. 5,1,2; 5,6,1–6), räumt Paulus damit zwar ein, dass er seine Darstellung nicht beweisen kann, verleiht ihr aber dennoch die Qualität einer absolut zutreffenden Aussage, indem er an das Vorurteil des antiken Menschen appelliert, dass aus Angst vor göttlicher Strafe niemand einen Meineid leistet (vgl. Anaximen. rhet. [Aristot. rhet. Alex.] 17,1 [1432a]).683 Dadurch untergräbt Paulus jeden Versuch, die Autorität des Petrus und wohl noch mehr die des Jakobus als zentrale Identifikationsfigur eines streng gesetzestreuen Judenchristentums gegen seine Praxis der gesetzesund beschneidungsfreien Heidenmission ins Feld zu führen. Expliziter und eindeutiger formuliert Paulus den Gedanken der offiziellen Anerkennung seines Evangeliums und seiner Zuständigkeit für die Heidenas deshalb so explizit hervorheben, weil seine Konkurrenten und Gegner in Galatien aus diesen Gemeinden kämen. Dem mag so gewesen sein; da sich dafür aber keine Belege im Text finden, bleibt diese Annahme letztlich eine Hypothese. 681 Meist geht man davon aus, Paulus wolle mit den Aussagen in Gal 1,18–20 lediglich seine Unabhängigkeit von Jerusalem und den dortigen Autoritäten betonen. Deshalb hebe er hervor, dass er Petrus in Jerusalem nur besucht habe, um ihn kennenzulernen, und auch Jakobus bloß gesehen habe. Zusammen mit dem Hinweis, dass der Besuch erst drei Jahre nach der Berufung erfolge, seien die Ausführungen über den Besuch in Gal 1,18–20 der Beweis für die in Gal 1,12 formulierte Behauptung οὐδὲ γὰρ ἐγὼ παρὰ ἀνϑρώπου παρέλαβον αὐτὸ οὔτε ἐδιδάχϑην. Damit wehre sich Paulus gegen die Behauptung, er sei von den Jerusalemer Autoritäten im Evangelium unterwiesen worden und ihnen deshalb auch inhaltlich verantwortlich. So bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 93–97; Longenecker, Galatians (WBC) 36–39; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 68f.; Betz, Galaterbrief 151f. Nach Bruce, Galatians (NIGTC) 98, dagegen soll Paulus damals zumindest die Information erhalten haben, dass Jesus am dritten Tag auferstanden, dann dem Kephas/Petrus und danach weiteren Jüngern erschienen ist (also das, was er 1 Kor 15,3ff. referiert). Mangels verlässlicher Belege bleibt dies Spekulation. 682 Ähnlich Suhl, Galaterbrief 3095f. 683 Zum Eid als πίστις ἄτεχνος/probatio inartificialis vgl. Martin, Rhetorik 100; Lausberg, Handbuch § 551.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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christen – εἰς τὰ ἔϑνη (Gal 1,16) – im Bericht über seinen zweiten Aufenthalt bei der Jerusalemer Gemeinde (Gal 2,1–10). Damals hatte es sich freiwillig einer Überprüfung seiner Verkündigung durch die Autoritäten in Jerusalem gestellt (vgl. S. 325). Als Ergebnis kann er seinen Adressaten vermelden, dass seine Lehre und Praxis damals von den maßgebenden Leuten in Jerusalem, von denen er drei mit ihrem Namen nennt, ohne Einschränkungen und Auflagen für gut befunden wurde.684 Wohl nicht zufällig stellt er bei der namentlichen Auflistung der drei »Säulen« der Jerusalemer Gemeinde in Gal 2,9 Jakobus [den Herrenbruder] betont an die erste Stelle, vor Kephas [Petrus] und Johannes [den Zebedaiden].685 Das Referat des Ergebnisses der Jerusalemer Beratungen und des Inhaltes der Übereinkunft in Gal 2,7–9 soll mit seiner prägnanten Formulierung wohl bei den Adressaten gezielt den Eindruck erwecken, Paulus zitiere im Wortlaut eine damals fixierte Formel, mit der klar die Kompetenzen der beiden Parteien definiert und gegeneinander abgegrenzt wurden.686 684 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 115; Longenecker, Galatians (WBC) 54. Bei der historischen Wertung und Einordnung der Vorgänge beim Jerusalemer »Apostelkonzil« mag Radl, Galaterbrief (SKK) 33, durchaus recht haben, dass die von Paulus zitierte Abmachung in Wirklichkeit nicht bedeutete, dass Petrus, Jakobus und die anderen Autoritäten in Jerusalem sich bezüglicher der Eingliederung der Heiden und der Heilsrelevanz von Beschneidung und Gesetzesobservanz die paulinische bzw. genauer gesagt die antiochenische Theologie zu Eigen machten; es ging eher um eine Art Kompromiss, der eine wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Praxis bedeutete. 685 Dazu auch Rohde, Galater (ThHK) 90. Nach Cullmann, Petrus 46f., steht Jakobus in Gal 2,9 vor Petrus, weil er zur Zeit des »Apostelkonzils« bereits an Stelle von Petrus die Leitung in der Jerusalemer Gemeinde übernommen habe. Mußner, Galaterbrief (HThK) 118– 120, sieht den Grund für das Voranstellen des Jakobus darin, dass seine Autorität beim Antiochenischen Zwischenfall eine entscheidende Rolle spielte. Dies ist in der Sache richtig, bedarf aber der Präzisierung, dass Paulus in Gal 2,9 Jakobus ebenso wie in 1,19 deshalb in besonderer Weise herausstellen will, um zu betonen, dass er nicht als Autorität und Argument gegen das paulinische Evangelium angeführt werden kann. 686 Dies würde umso mehr gelten, wenn die Behauptung bei Cullmann, Petrus 12, zuträfe, dass die Jerusalemer Übereinkunft zwischen Paulus und den Jerusalemer Autoritäten (im Sinne einer Urkunde) tatsächlich schriftlich fixiert wurde und Paulus nun wörtlich aus diesem Dokument zitiert; zustimmend dazu Betz, Galaterbrief 185f.; Jegher-Bucher, Galaterbrief 150. Dies bleibt jedoch eine Spekulation, die plausibel sein mag, sich aber nicht beweisen lässt. Dafür, dass Gal 2,7f. nicht erst ad hoc von Paulus im Blick auf die Situation in Galatien formuliert wurde, spricht zumindest der Gebrauch von Petrus anstatt des bei Paulus sonst üblichen Kephas. Insofern dürfte bzw. könnte hier ein mehr oder weniger wörtliches Zitat einer Formel vorliegen, mit der die Ergebnisse der Jerusalemer Verhandlungen festgehalten wurden. Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 38; Longenecker, Galatians (WBC) 55f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 122f.; Rohde, Galater (ThHK) 88. Ein Versuch der Scheidung von Grundbestand und Erweiterungen in Gal 2,7–9 bei Borse, Galater (RNT) 88. Nicht überzeugend ist die Erklärung bei Becker, Galater (NTD) 35, Paulus wähle hier mit Rücksicht auf seine griechischen Leser Πέτρος statt des aramäischen Kephas, da er sich in Gal 1,18 zu einer entsprechenden Rücksichtnahme offensichtlich nicht genötigt sah.

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5. Der Brief an die Galater

… ἰδόντες

(a) ὅτι πεπίστευμαι τὸ εὐαγγέλιον τῆς ἀκροβυστίας (b) καϑὼς Πέτρος τῆς περιτομῆς, (b) 8 ὁ γὰρ ἐνεργήσας Πέτρῳ εἰς ἀποστολὴν τῆς περιτομῆς (a) ἐνήργησεν καὶ ἐμοὶ εἰς τὰ ἔϑνη 9

καὶ γνόντες τὴν χάριν τὴν δοϑεῖσάν μοι

… δεξιὰς ἔδωκαν ἐμοὶ καὶ Βαρναβᾷ κοινωνίας, (a) ἵνα ἡμεῖς εἰς τὰ ἔϑνη, (b) αὐτοὶ δὲ εἰς τὴν περιτομήν

Als Rekurs auf eine bereits ergangenen Entscheidung zu dem aktuell strittigen Sachverhalt, die auf die unumstrittene Autorität derer gestützt ist, die sie getroffen haben, kann Gal 2,7–9 aus rhetorischer Sicht als praeiudicium oder iudicatum gewertet werden (vgl. Rhet. Her. 2,13.19; Cic. inv. 2,68; Quint. inst. 5,2,1f.); als πίστις ἄτεχνος kommt dem praeiudicium bzw. iudicatum bereits aufgrund seiner faktischen Gegebenheit eine absolut zwingende Beweiskraft zu.687 Den rechtlichen Charakter der Vereinbarung und ihre Verbindlichkeit unterstreicht Paulus durch den Hinweis auf den Handschlag, der zwischen ihm und Barnabas auf der einen und den drei Jerusalemer Säulen auf der anderen Seite gewechselt wurde (Gal 2,9); denn der Handschlag ist nach antiker Rechtspraxis ein juristischer Akt, durch den der Vertragsabschluss besiegelt bzw. der Vertrag in Kraft gesetzt wird.688 Da folglich die Frage der Zuständigkeit für die Mission unter den Heiden und der Notwendigkeit ihrer Beschneidung seit der Jerusalemer Einigung eindeutig und rechtlich bindend im Sinne des Paulus entschieden ist, ist es Rechtsbruch und Kompetenzüberschreitung, wenn judenchristliche Missionare in Umgehung der Autorität des Paulus bei den einst heidnischen689 Galatern missionieren und sie überdies zur Beschneidung auffordern. Eine zusätzliche Raffinesse der Darstellung und Argumentation des Paulus besteht darin, dass er das in Gal 2,7f. referierte Ergebnis der Beratungen, das der Übereinkunft zugrunde liegt, mit ἴδοντες einleitet. Dadurch suggeriert er seinen Adressaten, dass es sich bei der in Gal 2,9 angeführten Kompetenzaufteilung nicht um einen nur menschlichen Kompromiss handelt, der jeder687

Zum praeiudicium oder iudicatum Martin, Rhetorik 98; Lausberg, Handbuch § 353. In den Papyri finden sich Wendungen, die diese Praxis des Vertragsabschlusses durch Handschlag bezeugen, so z. B. ἵνα τηρήσωσι αὐτῶν τὴν δεξίαν in P.Oxy. III 533,18 (2./3. Jh. n. Chr.), ähnlich P.Fay. 124,13f. (2. Jh. n. Chr.). Dazu Eger, Rechtsgeschichtliches 40f. 689 Dafür, dass es sich bei den Adressaten des Galaterbriefes ausschließlich um ehemalige Heiden handelt, spricht Gal 4,8–11, was sich so kaum von ehemaligen Juden sagen lässt. Außerdem ist in der Landschaft Galatien, wo nach der in der vorliegenden Studie favorisierten Sicht die Adressaten zu suchen sind, für die fragliche Zeit weder literarisch noch archäologisch die Existenz einer jüdischen Gemeinde nachgewiesen. Dazu bereits vgl. S. 177. 688

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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zeit revidiert werden könnte, sondern dass sich die vereinbarte Kompetenzaufteilung der Einsicht der Jerusalemer Autoritäten verdankt, dass Gott Paulus mit dem Evangelium εἰς τὰ ἔϑνη betraut hat.690 Diese Anerkenntnis einer göttlichen Setzung durch die Jerusalemer Autoritäten als Grundlage der Übereinkunft betont Paulus noch einmal, indem er den Bericht über den rechtskräftigen Abschluss der Vereinbarung durch Handschlag in Gal 2,9 mit καὶ γνόντες τὴν χάριν τὴν δοϑεῖσάν μοι einleitet.691 Indem er mit dem Stichwort χάρις und der Phrase εἰς τὰ ἔϑνη zentrale Aussagen aus der Berufungserzählung am Anfang des autobiographischen Passus wieder aufgreift, bringt er zum Ausdruck, dass das, was in Jerusalem anerkannt wurde, nichts anderes ist als das, was er selbst bei der ›Offenbarung des Sohnes in ihm‹ als seinen Auftrag und seine Sendung begriffen hat (vgl. καλέσας διὰ τῆς χάριτος αὐτοῦ in Gal 1,15 und ἵνα εὐαγγελίζωμαι αὐτὸν ἐν τοῖς ἔϑνεσιν in Gal 1,16). Aus Gal 2,7–9 geht demnach klar hervor: Wer Paulus seine (exklusive) Zuständigkeit für die Heiden streitig machen und die Jerusalemer Übereinkunft in Frage stellen will, der bricht nicht einfach nur eine rechtsgültige Vereinbarung unter Menschen, sondern der verstößt gegen eine göttliche Setzung. Eine zentrale argumentative Funktion hat auch die Erwähnung des Titus, eines griechisch stämmigen Heidenchristen692, der als Unbeschnittener mit Paulus und Barnabas nach Jerusalem reiste, dort unbeschnitten blieb und so auch wieder nach Antiochia zurückkehrte (Gal 2,1.3).693 Auf den ersten Blick scheint es so, als solle er als Zeuge (testis) oder auch als eine Art Beweismittel (testimonium) fungieren, da er bei Bedarf die Aussagen des Paulus bestätigen könnte bzw. notfalls die Galater selbst an ihm die Wahrheit der Worte des Paulus in Augenschein nehmen und überprüfen könnten (als vorzeigbares Faktum wäre dies eine πίστις ἄτεχνος).694 Die argumentative Funktion des Titus aber erschöpft sich nicht darin, dass man an ihm zeigen und nachprüfen kann, wie man damals in Jerusalem zu ehemaligen Heiden stand, die ohne vorherige Beschneidung Christen geworden waren.695 Wichtiger ist, dass Titus noch unbeschnitten war, als er nach Jerusalem kam, jedoch nicht, weil er damit zum Testfall werden konnte, sondern 690

Zur Bedeutung und argumentativen Funktion von ἴδοντες in Gal 2,7 vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) 55; Betz, Galaterbrief 184. Ähnlich Egger, Galaterbrief (NEB) 18f.; Wolter, Paulus 40; zu schwach dagegen die Auslegung bei Becker, Galater (NTD) 35f.; Borse, Galater (RNT) 89f. 691 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 56; Betz, Galaterbrief 189. 692 Dass Titus seiner Abstammung nach ein Heide ist, belegt eindeutig seine Bezeichnung als Ἕλλην; wäre er das unbeschnittene Mitglied einer jüdisch stämmigen Familie aus der griechischsprachigen Diaspora in Kleinasien oder Griechenland müsste stattdessen Ἑλληνιστής stehen; vgl. Rohde, Galater (ThHK) 111. 693 Vgl. auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 106f.; Longenecker, Galatians (WBC) 49f. 694 Zu testes und testimonia vgl. Martin, Rhetorik 99f. 695 Vgl. Becker, Galater (NTD) 34.

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5. Der Brief an die Galater

weil er dadurch der Beweis ist, dass bereits damals das Evangelium des Paulus den Verzicht auf die Beschneidung der Heiden einschloss und dass folglich das Evangelium in der Form, wie er es den Galatern verkündet hat, in Jerusalem geprüft und für gut befunden wurde. Denn gegen die bisher vorgebrachten Argumente des Paulus ließe sich einwenden, er habe seine Verkündigung nachträglich geändert und, was er jetzt predige, sei nicht Gegenstand der damaligen Übereinkunft gewesen. Hinzukommt, dass die Jerusalemer Übereinkunft offenbar keine Formulierung enthielt, die besagte, dass Heiden generell nicht beschnitten werden müssen oder gar dürfen; wäre dies expressis verbis vereinbart worden, hätte Paulus dies sicher in Gal 2,7–9 auch so wiedergegeben. Aus Sicht der Rhetorik ist die Erwähnung des unbeschnittenen Titus deshalb als Indiz (σημεῖον, τεκμήριον oder signum) zu bewerten (vgl. Quint. inst. 5,9,1–9).696 Auch wenn es sich bei den Indizien um Sachverhalte handelt, die bereits gegeben sind und nicht erst mit rhetorischen Mitteln vom Redner selbst hervorgebracht werden müssen, rechnet die antike Rhetorik sie dennoch zu den πίστεις ἔντεχνοι, weil ihr Zusammenhang mit dem strittigen Sachverhalt und damit auch ihre Beweiskraft nicht unmittelbar und zwingend ist. Es ist deshalb die Aufgabe des Redners, ein Indiz so zu präsentieren, dass es einen seiner Sache dienenden Erkenntnisprozess auslöst und dadurch Überzeugungskraft gewinnt. Paulus erreicht dies, indem er Titus ohne jede Erklärung gleich zu Beginn des Berichts über seinen zweiten Besuch bei der Jerusalemer Gemeinde erwähnt (Gal 2,1) und dadurch bei den Adressaten die Frage auslöst, wozu er ihnen dieses Detail mitteilen will. Indem er Titus erneut unmittelbar nach der Mitteilung, dass er sich und seine Missionspraxis einer Überprüfung durch die Jerusalemer Autoritäten stellte (Gal 2,2), erwähnt und – angeschlossen mit einem adversativen ἀλλά – erklärt, dass Titus, der – wie die Adressaten erst jetzt erfahren – ein (noch unbeschnittener) Heide war, nicht zur Beschneidung gezwungen wurde (Gal 2,3), erweckt er den Eindruck, dass im Zentrum der Überprüfung die Frage der Heilsnotwendigkeit der Beschneidung für Heiden stand. Dadurch stellt er auch die in Gal 2,7–9 folgenden Angaben über das Ergebnis der Beratungen und den Inhalt der Übereinkunft unter das Vorzeichen der Beschneidungsfrage. Eine solche Lesart von Gal 2,7–9 motiviert Paulus zusätzlich, indem er im Rückgriff auf das »Stilmittel« der Metonymie697 die jeweiligen Kompetenzbereiche durch die Begriffe περιτομή und ἀκροβυστία umschreibt. Aus der Tatsache, dass Titus nicht zur Beschneidung gezwungen wurde, sollen die Galater also die Folgerung ziehen, dass Paulus bei seiner Mission unter den Heiden von Anfang an den Verzicht auf die Beschneidung praktizierte und dass dies in Jerusalem als seine Sendung 696 Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß 267; Fuhrmann, Rhetorik 96f.; Lausberg, Handbuch §§ 358–365; Martin, Rhetorik 106f. 697 Näheres zur Metonymie (μετωνυμία, ὑπαλλαγή oder denominatio) bei Landfester, Stilistik 91–94; Martin, Rhetorik 268f.; Lausberg, Handbuch §§ 565–571.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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und als göttliche Fügung anerkannt wurde. Dadurch wird Titus zum Appell an die Adressaten, nicht freiwillig zu tun, wozu auch Titus, der wie sie als Heide bekehrt und getauft wurde, ohne beschnitten zu werden, nicht gezwungen wurde, weil dies Gottes Wille ist.698 Folgt man der Argumentation des Paulus, haben die Galater keine Wahl zwischen dem Evangelium des Paulus und der Verkündigung der konkurrierenden judenchristlichen Missionare; als Heidenchristen gehören sie in den Kompetenzbereich des Paulus.699 Damit ist durch die Jerusalemer Übereinkunft zwar für die Galater die Frage der Beschneidung (und Gesetzesobservanz) entschieden, offen aber bleibt die Frage, wozu Paulus selbst verpflichtet ist. Denn auch in der Darstellung des Paulus ließ das Jerusalemer Abkommen die Deutung zu, dass die Gesetzesfreiheit nur für ehemalige Heiden, nicht aber für ehemalige Juden gilt.700 Dann würde auch für Paulus als geborenen Juden weiterhin gelten, dass er um seines Heiles willen zur Erfüllung des Gesetzes verpflichtet ist. Um nicht selbst als Gesetzesbrecher zu erscheinen, musste er deshalb seine Adressaten überzeugen, dass gemäß der Jerusalemer Übereinkunft ehemalige Juden um des Zusammenlebens mit Heidenchristen willen die Gesetzesobservanz aufgeben und heidnisch leben konnten.701 Dies sollte der Bericht über den Zwischenfall in Antiochia, genauer der Hinweis auf die uneingeschränkte Mahlgemeinschaft des Petrus mit den Heidenchristen in Antiochia, leisten (Gal 2,11–14).702 Weil der Inhalt oder Wortlaut des Abkommens dafür offensichtlich keine hinreichende Argumentationsbasis bot, operierte Paulus stattdessen wieder 698 Auch Vouga, Galater (HNT) 44f., betont, dass Titus in der Darstellung der Jerusalemer Übereinkunft von Paulus den Adressaten in Galatien als Identifikationsfigur angeboten wird. Ähnlich Borse, Galater (RNT) 79f.; Koptak, Identification 165. 699 Ähnlich Jegher-Bucher, Galaterbrief 75f. Die von Paulus in Gal 2,9 zitierte Jerusalemer Kompetenzaufteilung ist wohl nicht geographisch, sondern ethnisch-religiös gemeint; dazu Longenecker, Galatians (WBC) 58f. 700 Dazu auch Wolter, Paulus 49. 701 Mit Recht betont Becker, Galater (NTD) 36, im Blick auf den historischen Sachverhalt, dass in Jerusalem bereits zum Zeitpunkt der Übereinkunft (Gal 2,1–10) klar gewesen sein musste, wie Paulus, Barnabas und die anderen Judenchristen in Antiochia lebten und dass sie ihre bisherige Praxis nach der Übereinkunft nicht ändern würden. Insofern dürfte das Jerusalemer Übereinkommen die Anerkennung der bestehenden antiochenischen Praxis, dass die dortigen Judenchristen im Zusammenleben mit unbeschnittenen Heidenchristen die Forderung der Gesetzesobservanz außer Acht lassen konnten, zumindest stillschweigend und implizit eingeschlossen haben. Jakobus und seine Anhänger mussten also nachträglich wieder davon abgerückt sein bzw. mussten nachträglich ihre Position wieder explizit formuliert und forciert haben, damit es zum Zwischenfall in Antiochia kommen konnte. Nach Becker, Galater (NTD) 40, liegen die Gründe für die Rücknahme dieser Zustimmung in den zunehmenden national-zelotischen Aktivitäten, durch die auch die Jerusalemer Christengemeinde wegen der Praxis der Antiochener und ihrer Absage an die Verpflichtung auf das Gesetz unter Rechtfertigungsdruck gerieten. 702 Dazu Becker, Galater (NTD) 39–41.

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5. Der Brief an die Galater

mit einem Indiz (σημεῖον, τεκμήριον oder signum; vgl. S. 342). Das Indiz besteht im Verhalten des Petrus/Kephas, der einige Zeit nach dem Jerusalemer Abkommen in die Gemeinde von Antiochia kam und dort ganz selbstverständlich wie Paulus, Barnabas und die anderen Judenchristen ohne Rücksicht auf die jüdischen Reinheitsvorschriften mit den Heidenchristen aß (Gal 2,12). Damit legt Paulus seinen Adressaten den Schluss nahe, dass Petrus nicht die radikale Position der Jakobusleute vertrat, sondern die Jerusalemer Übereinkunft zur Missionspraxis und Evangeliumsverkündigung des Paulus von Anfang an so verstanden haben muss, dass auch die Juden nicht mehr zur (absoluten) Gesetzesobservanz verpflichtet waren (vgl. Gal 2,14 εἰ σὺ Ἰουδαῖος ὑπάρχων ἐϑνικῶς καὶ οὐχὶ Ἰουδαϊκῶς ζῇς).703 Deshalb achtet Paulus sorgfältig darauf, dass bei der Darstellung des Verhaltens des Petrus nach dem Eintreffen der Jakobusleute deutlich bleibt, dass sein Rückzug von den Heiden wider besseren Wissens erfolgte und somit als heuchlerischer Bruch mit den eigenen Überzeugung gewertet werden muss (vgl. S. 326f.). (2) Heilsnotwendigkeit des Gesetzes: Obwohl Paulus nach den argumentativen Ausführungen im autobiographisch gefärbten ersten Hauptabschnitt der Corpusmitte die Frage, ob die Galater beschnitten und auf das Gesetz verpflichtet werden dürfen, als in seinem Sinn entschieden betrachten könnte, setzt er im zweiten eher dogmatisch lehrhaften Hauptteil zu einer erneuten Erörterung dieser Frage auf der Grundlage der »Schrift« an. Hier will Paulus nachweisen, dass es nach dem Zeugnis der »Schrift« nicht nötig ist, sich beschneiden zu lassen, um als »Söhne Abrahams« Anteil an dem ihm von Gott verheißenen Heil zu erlangen.704 Damit antwortet er auf die jüdische Überzeugung, die er als Kern der Gesetzes- und Beschneidungspredigt seiner judenchristlichen Konkurrenten in Galatien vermutet, dass das eschatologische Heil exklusiv den Nachkommen Abrahams vorbehalten ist, d. h. denjenigen, die dem Fleische nach von ihm abstammen und das Bundeszeichen der Beschneidung tragen.705 Die Heiden können an diesem Heil Anteil erhalten, wenn sie sich zum Gott Abrahams bekehren, sich auf das Gesetz verpflichten und sich als Zeichen dafür ebenfalls beschneiden lassen. Demgegenüber versucht Paulus auf der Grundlage der »Schrift« den Nachweis, dass man nicht durch Abstammung und Beschneidung als Nachkomme und Erbe Abrahams das Heil erlangt, sondern nur, wenn man durch Glauben und Taufe Christus Jesus, dem einen Nachkommen Abrahams, eingegliedert worden ist. 703

Vgl. Becker, Galater (NTD) 39; Bruce, Galatians (NIGTC) 132f.; Borse, Galater (RNT) 102–104. Fraglich ist, ob es genügt, wie Rohde, Galater (ThHK) 109, ὑπάρχων ἐϑνικῶς im Sinne von »mit den Heiden Tischgemeinschaft pflegen« zu verstehen. 704 Die Frage nach den wahren »Söhnen Abrahams« bestimmt auch Mack, Rhetoric 66–73, als zentralen »Streitpunkt« bzw. Gegenstand des Galaterbriefes. 705 Vgl. Becker, Paulus 307f.; Martyn, Galatians (AB) 392.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Die dogmatisch lehrhaften Ausführungen eröffnet Paulus in Gal 3,1–5 mit einem Passus, der sein Anliegen als erwiesen und damit definitiv entschieden präsentieren und so den Eindruck erwecken soll, jede weitere Erörterung wäre damit unnötig.706 In Form von Fragen erinnert er die Galater an seine Kreuzespredigt, auf die hin sie den Glauben angenommen haben und sich taufen ließen (Gal 3,1), sowie an den damit verbundenen Empfang des »Geistes«, der sich ihnen durch außerordentliche Wundertaten bezeugt hat (Gal 3,2–5; vgl. 1 Thess 1,5–7; Röm 15,18f.; Apg 11,14f.).707 Paulus setzt mit seiner Argumentation also bei den persönlichen Erfahrungen der Galater an.708 Ziel dieser Reihe von Fragen, die er in Gal 3,1–5 an die Adressaten richtet, ist die Erkenntnis und ihr daraus resultierendes Eingeständnis, dass sie bei der Taufe erfahrbar den »Geist« empfangen haben, ohne beschnitten zu sein und ohne die Gesetzesobservanz übernommen zu haben.709 Das argumentative Ziel des Paulus in Gal 3,1–5 ist nicht primär, durch eine Reihe von Fragen an die Emotionen der Adressaten zu appellieren und damit einen besonders persönlichen und eindringlichen Einstieg in die anschließende Sachargumentation zu formulieren. Er knüpft vielmehr an das in der antiken Rhetorik unter den πίστεις ἄτεχνοι empfohlene Verfahren der interrogatio an, d. h. des Einvernehmens von Zeugen, die mit ihren Aussagen die Position des Redners stützen oder die Position des Gegners erschüttern sollten (vgl. Quint. inst. 5,1,2; 5,7,1–25; Aristot. rhet. 1,15,13–19 [1375b–1376a]).710 Da die Situation der räumlichen Trennung und die daraus resultierende zeitlich versetzte Kommunikation im Fall des Galaterbriefes einen realen, unmittelbaren Wechsel von Frage und Antwort nicht erlaubt, nähert sich Gal 3,1–5 der Form 706

Ähnlich Matera, Galatians (Sacra Pagina) 114. Ausführlich Longenecker, Galatians (WBC) 100–106; außerdem Mußner, Galaterbrief (HThK) 207f.; Becker, Galater (NTD) 46f.; Dunn, Galatians (BNTC) 158. Mit Egger, Galaterbrief (NEB) 23, kann man Gal 3,2–5 als eine »aktualisierende Erzählung« bezeichnen (ähnlich auch Gal 4,12–19). Worin genau die sichtbaren bzw. erfahrbaren Begleitumstände bestanden, in denen sich für die Galater der Empfang des »Geistes« deutlich wahrnehmbar manifestierte, ist dem Brief nicht zu entnehmen. Es geht wohl um ekstatisch-enthusiastische Phänomene, wie sie sich auch in den oben genannten Paralleltexten finden. Demgegenüber votiert Scherer, Argumente 148f., die die angegebenen neutestamentlichen Parallelen zur Verbindung von Taufe und Geist-Manifestationen für die Interpretation von Gal 3,2–5 außer Acht lässt, mit Rekurs auf 1 Kor 12 dafür, dass Paulus mit dem Begriff δυνάμεις auf »Tugendkräfte« ziele, »die … die Einhaltung der gemeinsamen Gruppenregeln bewirken« (ebd. 149). Vgl. dagegen die Deutung der »Manifestationen des Geistes« in 1 Kor 12,8–10 bei Wolter, Paulus 158f., dass es durchwegs die gottesdienstlichen Versammlung war, bei der solche »Erfahrungen der Präsenz von Gottes Geist« gemacht wurden; in diesem Kontext seien auch Gal 3,5; 4,6 und Röm 8,15 zu verstehen. 708 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 22f. 709 Vgl. Borse, Galater (RNT) 123; Dunn, Galatians (BNTC) 158; außerdem Wischmeyer, Abraham 132f. 710 Zur interrogatio vgl. Martin, Rhetorik 100; Lausberg, Handbuch § 354. 707

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5. Der Brief an die Galater

eines fingierten Dialogs, den man in der Rhetorik als subiectio bezeichnet (vgl. Rhet. Her. 4,23,33; Quint. inst. 9,2,6–14).711 Dennoch bleibt in Gal 3,1–5 klar erkennbar, dass es um ein Befragen der Adressaten geht, das die Erfahrungen der Adressaten als Mittel der Überzeugung nutzbar machen soll und dadurch die Galater als Zeugen (testes) für das Anliegen des Paulus in Dienst nehmen will (vgl. S. 341).712 Bei seiner Befragung orientiert sich Paulus am Rat der rhetorischen Handbücher und beginnt zunächst mit Dingen, die nach dem Empfinden der Befragten extra causam zu liegen scheinen, deshalb unverfänglich wirken, aber trotzdem entscheidend für die Argumentation sein können (vgl. Quint. inst. 5,7,15f.; 5,7,26–32). Νach der aggressiven Anrede ὦ ἀνόητοι Γαλάται beginnt Paulus mit einer Frage, die durch das Stichwort Zauberei bei den Galatern Misstrauen gegen ihre eigenen Absichten wecken soll, aber auch gegen die, die sie dazu motivieren und bestärken (Gal 3,1a). Die zweite Frage soll den Galatern die paulinische Predigt vom Gekreuzigten als die Botschaft in Erinnerung rufen, auf die hin sie sich bekehrt haben (Gal 3,1b; vgl. 1,5; 2,20f.).713 Dann erst folgt die entscheidende Frage, die den Kern der Kontroverse betrifft und mit der er die Galater gleichsam in die Enge treibt (Gal 3,2): Denn da sie bei der Taufe offensichtlich Dinge erlebt hatten, die sie für sich als Manifestationen des »Geistes« interpretierten, blieb ihnen nichts anderes, als auf die Frage des Paulus hin zuzugestehen, dass dies ohne Werke des Gesetzes, allein durch die gläubige Annahme seiner Botschaft vom Gekreuzigten (vgl. Gal 3,1) geschah.714 Mit zwei bzw. drei weiteren Fragen setzt Paulus die Galater unter Rechtfertigungsdruck (Gal 3,3f.): Wenn sie bereits im Besitz des »Geistes« sind, aber sich dennoch beschneiden715 und auf das Gesetz verpflichten lassen wollen, müssen sie sich dann nicht von Paulus zurecht als dumm (ἀνόητοι) bezeichnen lassen? Sind sie nicht dabei, durch ihre Bereitschaft zu Beschneidung und Gesetzesobservanz den Geistempfang und die damit verbundenen Erfahrungen göttlicher Kraft für belanglos zu erklären?716 So vorbereitet wie711 Dazu Lausberg, Handbuch §§ 771–775; vgl. auch Martin, Rhetorik 284–287; Landfester, Stilistik 117f.; Ueding/Steinbrink, Grundriß 311–313. 712 Dazu auch Betz, Galaterbrief 238f. Anders Smit, Letter 41, der eine solche Sicht von Gal 3,1–5 ablehnt; seiner Meinung nach sollen die Fragen bei den Galatern Scham wecken, die zur Verhaltensänderung führt (dies sei typisch für das genus deliberativum). 713 Vgl. Rohde, Galater (ThHK) 130. 714 In diesem Sinne auch Lührmann, Galater (ZBK) 48; Borse, Galater (RNT) 123. Zur Verbindung von Taufe und Geistempfang bei Paulus und den religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergründen vgl. Schnelle, Gerechtigkeit 123–135. 715 Die Absicht der Galater, sich beschneiden zu lassen, um das Heil zu erlangen, dürfte in Gal 3,3 in der Formulierung νῦν σαρκὶ ἐπιτελεῖσϑε anklingen. So auch Matera, Galatians (Sacra Pagina) 115; Martyn, Galatians (AB) 285; Vouga, Galater (HNT) 68. 716 Dies ist wohl der Sinn des in der Auslegung heftig diskutierten Verses Gal 3,4: τοσαῦτα ἐπάϑετε εἰκῇ; εἴ γε καὶ εἰκῇ. Die Frage bezieht sich m. E. darauf, ob die Galater die Erfahrungen des Geistes bei ihrer Bekehrung als für ihr Heil belanglos ansehen wollen. Das folgende εἴ

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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derholt er die zentrale Frage, ob für den Empfang des »Geistes« Gesetzeswerke nötig waren, und zwingt die Galater noch einmal als Zeugen zugunsten seines Anliegens einzugestehen, dass die gläubige Annahme der Predigt des Paulus genügte (Gal 3,5). Damit die »Zeugenaussage« (testimonium) der Galater die Position des Paulus, dass es um des Heiles willen weder der Beschneidung noch der Werke des Gesetzes bedarf, zwingend beweisen kann, ist jedoch als zusätzliche Voraussetzung nötig, dass der Mensch mit dem Empfang des »Geistes« auch die Rechtfertigung, d. h. das eschatologische Heil, erlangt.717 Denn durch die »Vernehmung« der Galater als Zeugen hat Paulus in Gal 3,1–5 lediglich »bewiesen«, dass der Empfang des »Geistes« nicht an die Bescheidung und die Werke des Gesetzes gebunden ist; damit bleibt immer noch die Ausflucht, der Geistempfang wäre nur ein Anfang, der zur Beschneidung führt und zur Übernahme der Gesetzesverpflichtung befähigt, um aufgrund von Werken des Gesetzes von Gott im Endgericht als gerecht befunden zu werden.718 Eine solche Sicht hat Paulus zwar durch die Frage in Gal 3,3 als Dummheit zurückgewiesen, nicht aber widerlegt. Was Paulus in Gal 3,1–5 durch den Rekurs auf die persönlichen Erfahrungen der Adressaten mit dem Wirken des »Geistes« beweisen wollte, war diesen wohl durchaus klar. Denn unmittelbar davor hat er in Gal 2,16 seine Grundthese von der »Rechtfertigung« des Menschen mit demselben Gegensatz von Glauben und Werken des Gesetzes formuliert und so zumindest auf sprachlicher Ebene eine enge Verbindung zwischen Geistempfang und Rechtfertigung hergestellt.719 Damit die Geisterfahrung der Galater bei ihrer Bekehrung die Rechtfertigung allein durch Glauben ohne Werke des Gesetzes beweisen kann, muss Paulus einen Zusammenhang zwischen beidem durch ein unbestreitbares Faktum belegen (πίστις ἄτεχνος) oder mit Mitteln der rhetorischen Kunst plausibel machen (πίστις ἔντεχνος). Den Versuch dazu unternimmt er überraschenderweise erst in Gal 4,6f. γε καὶ εἰκῇ ist eine stark verkürzte konditionale Periode, die aufgelöst soviel heißen muss wie: »Wenn (ihr das) wirklich (meint), dann (habt ihr das) auch vergeblich (erlitten).« Damit nimmt Paulus vorweg, was es bedeuten würde, wenn die Galater die Heilsbedeutung des Geistempfangs leugnen würden. Vgl. auch Schlier, Galaterbrief (KEK) 124f. Zur Diskussion über die Übersetzung und Auslegung des Verses vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 104f.; Betz, Galaterbrief 246f. 717 Dies übersieht Betz, Galaterbrief 239, der konstatiert, Paulus habe mit der interrogatio in Gal 3,1–5 durch eine Erfahrungstatsache seine Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben bewiesen. 718 Ähnlich Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 396, der mit Becker, Galater (NTD) 43, darauf verweist, dass zwischen Paulus und den Galatern Einigkeit darüber bestand, was unter dem »Geist« zu verstehen ist und dass sie bei der Taufe außerordentliche Erfahrungen gemacht haben, die dem Wirken dieses »Geistes« zuzuschreiben sind. 719 Vgl. dazu auch Sänger, ›Vergeblich bemüht‹ 297.

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5. Der Brief an die Galater

6

ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ ϑεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ.

7

ὥστε οὐκέτι εἶ δοῦλος ἀλλὰ υἱός· εἰ δὲ υἱός, καὶ κληρονόμος διὰ ϑεοῦ.

Auch hier macht sich Paulus die persönlichen Erfahrungen der Galater als Argument dienstbar.720 Den Ansatzpunkt liefert ihm die (alltägliche) Gebetspraxis, in der sie Gott nach dem Beispiel Jesu als »Abba, Vater« anreden (vgl. S. 267).721 Aus rhetorischer Sicht handelt es sich bei diesem Gebetsruf um ein Indiz (σημεῖον, τεκμήριον bzw. signum), d. h. einen unbestreitbaren Sachverhalt, der erst durch seine geschickte Präsentation argumentativen Wert und Überzeugungskraft gewinnt (deshalb eine πίστις ἔντεχνος; vgl. S. 342).722 Da der Gebetsruf »Abba, Vater« zwar den Schluss zulässt, dass der Sprecher dem Angeredeten gegenüber durch Abstammung oder Adoption den (rechtlichen) Status des Sohnes besitzt, diesen Schluss aber nicht zwingend fordert – eine solche Anrede Gottes im Gebet kann nämlich auch eine Metapher, eine leere Floskel oder sogar Anmaßung sein –, beginnt Paulus nicht mit der Abba-Anrede und deduziert dann aus ihr den Status der Galater als »Söhne Gottes«, sondern er geht umgekehrt vor: Er belehrt die Galater zuerst darüber, dass sie durch die Erlösungstat Christi Gott gegenüber den Status von »Söhnen« erlangt haben (Gal 4,4f.) und fügt dann als eine Art bestätigende Erfahrung, die diese Behauptung plausibel machen soll, die Abba-Anrede Gottes im Gebet an, in der sich der bei der Bekehrung und Taufe empfangene »Geist seines Sohnes« artikuliert.723 720 Die viel diskutierte Frage, was von beiden zuerst ist, die Annahme an Sohnesstatt oder die Gabe des Geistes, ist eine, die dem Text nicht angemessen ist, da beides für Paulus wohl nicht zu trennen ist, wie die Formulierung πνεῦμα υἱοϑεσίας in Röm 8,15 vermuten lässt. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 173f.; Betz, Galaterbrief 365f.; zurückhaltender Mußner, Galaterbrief (HThK) 274f. Zur Diskussion vgl. auch Vouga, Galater (HNT) 102. 721 Näheres dazu bei Vouga, Galater (HNT) 102f.; Lührmann, Galater (ZBK) 69f. Die von Mußner, Galaterbrief (HThK) 275f., aufgeworfene Frage, woran Paulus beim »Rufen des Geistes« denke, und die von ihm vorgeschlagenen Lösungen, wie z. B. Glossolalie, sind unnötig, da der Text selbst unmissverständlich benennt, was der Geist ruft, nämlich: αββα ὁ πατήρ. Möglicherweise erscheint Mußner dies als pneumatisch-enthusiastisches Phänomen ungenügend. Damit aber verkennt er die argumentative Funktion der Geisterfahrung, die sich in der Abba-Anrede Gottes durch die Galater äußert: Sie belegt, dass die Galater »Söhne« sind und damit als »Erben« das verheißene Heil erlangen. 722 Gegen Betz, Galaterbrief 369, der den Rekurs auf den Gebetsruf »Abba, Vater« zu nahe an eine πίστις ἄτεχνοι heranrückt (auch wenn er die Kategorie hier nicht verwendet). 723 Diese Aussage über das Wirken des Geistes in Gal 4,6f. darf nicht losgelöst von ihrem Kontext und ihrer argumentativen Funktion als Teil einer paulinischen Lehre von der pneumatischen Existenz des Getaufte und über das vom Geist gewirkte Gebet verstanden und ausgelegt werden. Es geht Paulus hier zuerst um ein Indiz dafür, dass die Getauften Gott gegenüber den Status des »Sohnes« besitzen, da darin die Zugehörigkeit der Christen zu einer

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Insgesamt setzt Paulus in Gal 4,6f. wohl vor allem auf die suggestive Kraft der Gebetserfahrung und vielleicht auch des Selbstverständnisses der Adressaten, das dieser Gebetsruf bestärken kann.724 Denn letztlich ist nicht einmal der Schluss zwingend, dass hinter dem Gebetsruf »Abba, Vater« tatsächlich und immer das Wirken des »Geistes« steht bzw. dass es der Ermächtigung und Befähigung durch den beständigen Besitz der Gabe des »Geistes« bedarf, um Gott in dieser Weise als Vater anreden zu können.725 Außerdem ist es nicht mehr als ein Postulat, dass der bei Bekehrung und Taufe offensichtlich spektakulär erfahrene »Geist« (Gal 3,2.5) auf Dauer verliehen wird, dass damit die Einsetzung in den Status des »Sohnes« verbunden ist und dass derselbe »Geist« in den Gläubigen kontinuierlich den Gebetsruf »Abba, Vater« hervorbringt. Die Tatsache, dass Paulus die Aussagen über die Geisterfahrung in Gal 3,1–5 und 4,6f. nicht als zusammenhängendes Argument verbindet, ist deshalb wohl weniger eine Ungeschicklichkeit als eine bewusste Entscheidung, die sich dem Wissen verdankt, dass er angesichts der genannten Probleme im aktuellen Streitfall so nicht überzeugend argumentieren kann. Paulus entscheidet sich stattdessen für eine andere Strategie, die offenbar der Problematik Rechnung trägt, dass sich ein zwingender Beweis für seine strikte Ablehnung der Verpflichtung der Heiden zu Beschneidung und Gesetzesobservanz, vor allem auf der Grundlage der »Schrift«, nicht führen lässt. Was an Begründung möglich ist, hat er bereits in Gal 2,20f. eingebracht. Hier folgert Paulus in der Art eines Enthymems (vgl. S. 157) aus der zwischen den Parteien unstrittigen Bekenntnisformel von der liebenden Selbsthingabe des »Sohnes«, dass es durch das Gesetz keine Rechtfertigung geben kann, denn sonst wäre der Erlösertod Christi am Kreuz umsonst gewesen.726 Denn wenn Heilsordnung begründet ist, die gegenüber dem Gesetz den Vorrang besitzt. Gegen Longenecker, Galatians (WBC) 174. 724 Dies darf nicht als Schwäche oder gar Unfähigkeit des Paulus interpretiert werden; denn das Schaffen von Wahrscheinlichkeit oder Glaubhaftigkeit (εἰκός), vor allem dort, wo ein Sachverhalt verschiedene Deutungen zulässt und ein zwingender Beweis nicht möglich ist (wie im Fall von Gal 4,6f.), ist das zentrale Anliegen und die Aufgabe der rhetorischen Kunst. Vgl. Andersen, Rhetorik 140–143. 725 Mit der in Gal 4,6f. anklingenden Vorstellung von der »Inspiration« des Menschen durch ein göttliches πνεῦμα kann Paulus allerdings an parallele Vorstellungen auch in der griechisch-hellenistischen Welt anknüpfen, wie sie von Platon im Ion im Blick auf Dichter und Rhapsoden entfaltet wurden. Insofern konnte Paulus hoffen, dass die Behauptung, in den Glaubenden bringe das πνεῦμα die Anrede Gottes mit »Abba, Vater« hervor, für die Galater auch unabhängig von einer bestimmten christlichen Vorstellung über die Geistmitteilung und das Wirken des Geistes Plausibilität besaß und dadurch seine Argumentation stützte. Ähnliches gilt für die in Gal 3,2.5 vorausgesetzten ekstatischen (?) Phänomene. Näheres dazu bei H. Kleinknecht, πνεῦμα im Griechentum. ThWNT 6 (1959) 333–357. 726 Zu den möglichen Grundlagen eines Enthymems (ratiocinatio) in Anschluss an Quint. inst. 5,10,11f. und zu den Argumentationsverfahren vgl. Lausberg, Handbuch §§ 367–372; Martin, Rhetorik 102–107; Ueding/Steinbrink, Grundriß 267f.

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5. Der Brief an die Galater

das Gesetz zum Heil führen würde, wäre der Tod Christi in seiner Heilsbedeutung relativiert.727 20

ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός·

ὃ δὲ νῦν ζῶ ἐν σαρκί, ἐν πίστει ζῶ τῇ τοῦ υἱοῦ τοῦ ϑεοῦ τοῦ ἀγαπήσαντός με καὶ παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ. 21

οὐκ ἀϑετῶ τὴν χάριν τοῦ ϑεοῦ·

εἰ γὰρ διὰ νόμου δικαιοσύνη, ἄρα Χριστὸς δωρεὰν ἀπέϑανεν.

Beachtenswert ist, dass Paulus die Bekenntnisformel und das Argument personalisiert und damit direkt auf sich selbst bezieht, wohl um der Aussage zusätzliche Überzeugungskraft zu verleihen:728 Denn wenn er, der sich einst vor anderen durch Gesetzeseifer ausgezeichnet hatte (vgl. Gal 1,14), jetzt für seine Rechtfertigung nicht auf das Gesetz, sondern auf den Erlösungstod Christi und den Glauben setzt, dann können und dürfen das auch die Galater. Auffällig ist, dass Paulus in Gal 2,20f. seine These von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben nicht aus dem Zeugnis der »Schrift« ableitet und mit Schriftzitaten begründet, sondern sie als zwingende Konsequenz aus der in der salutatio des Präskripts referierten Pistis-Formel (sogenannte Dahingabeformel in Gal 1,4) präsentiert, auf die er mit einem paraphrasierenden Zitat Bezug nimmt.729 Die Rechtfertigung kann für Paulus deshalb nicht an Werke des Gesetzes gebunden sein, weil sie dem Bekenntnis zur Erlösung in Christus Jesus widerspricht. Einen anderen »Beweis« für die Richtigkeit seiner These ist in seinen Augen offenbar nicht nötig, und vielleicht auch nicht möglich. Denn die Ausführungen ab Gal 3,1 sind kein »nachgereichter« Schriftbeweis für die in Gal 2,15–21 kurz zusammengefasste Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben.730 Das grundsätzliche Problem des Paulus in der Auseinandersetzung mit den judenchristlichen Missionaren in Galatien um die Heilsrelevanz von Beschnei727 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 45. Näheres zur argumentativen Struktur der Aussage in Gal 2,20f. auch bei Martyn, Galatians (AB) 259f. 728 Das »Ich« in Gal 2,18–21 im exklusiven Sinn als »gnomisch« oder »exemplarisch« zu verstehen, ist m. E. nicht nötig. Gegen Lührmann, Galaterbrief (ZBK) 45. 729 In diesem Sinne auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 185f.; Lührmann, Galaterbrief (ZBK) 46. 730 Nimmt man die Ausführungen des Paulus in Gal 3,1–29 (bzw. 3,1 – 4,7[11]) als Schriftbeweis, steht man vor dem Problem, dass die Argumentation und der Umgang des Paulus mit der »Schrift« einem heutigen Leser höchst willkürlich erscheinen müssen. Betz, Galaterbrief 250f., und andere wollen dieses Problem mit dem Hinweis lösen, dass man die Argumentationsweise und Schriftbenutzung des Paulus im Kontext ihrer Zeit sehen müsse und dass sie sich dann als »logisch« erweisen würden. Kritische Anmerkungen zu einer solchen »Lösung« bei Heitsch, Glossen 183f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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dung und Gesetzesobservanz ist, dass er das Zeugnis der »Schrift« und die damit verbundene, durch eine lange Tradition etablierte jüdische Praxis gegen sich hat, während sich umgekehrt seine Konkurrenten für ihre Forderungen auf die Autorität der »Schrift« als Kundgabe des göttlichen Willens und eine durch ihr Alter ausgezeichnete Praxis berufen konnten.731 Ein Beweis der gesetzes- und beschneidungsfreien Heidenmission auf der Basis der »Schrift« kann und wird nicht gelingen, weil selbst für den Fall, dass einzelne Aussagen der »Schrift« durch eine gekonnte Auslegungstechnik die Unnötigkeit der Beschneidung und Gesetzesobservanz »beweisen« könnten, ein solcher Schriftbeweis einerseits durch die Infragestellung der Auslegungstechnik und andererseits durch unzählige eindeutige Schriftzitate zugunsten von Beschneidung und Gesetzesobservanz entkräftet werden könnte. Wohl aus Einsicht in die Aussichtslosigkeit verzichtet Paulus auf einen ausführlichen positiven Beweis seiner Position (confirmatio/probatio bzw. ἀπόδειξις/κατασκευή/πίστωσις) und beschränkt sich auf einen negativen Beweis (confutatio/refutatio bzw. ἔλεγχος/ἀνασκευή/λύσις), d. h. auf die Widerlegung bzw. Zurückweisung der zentralen Behauptung seiner »Gegner«, dass die Heiden durch die Beschneidung, die sie auf das Gesetz verpflichtet, zu Kindern Abrahams werden (vgl. S. 344) und (erst) dadurch das ihm verheißene Heil erlangen.732 Diese Widerlegung erfolgt durchaus geschickt. Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, dass Paulus mit der »Schrift« ein Beweismittel entkräften muss, das aus rhetorischer Sicht zu den πίστεις ἄτεχνοι gerechnet werden kann, und dem deshalb höchste Beweiskraft zukommt. Denn insofern die »Schrift« als inspiriert anerkannt wird,733 sind die in ihr enthaltenen Aufforderungen zur Beschneidung und Gesetzesobservanz testimonia, mit denen Gott mit höchster Autorität als testis die Position der »Gegner« des Paulus bestätigt (zur Relevanz von Zeugenaussagen S. 341). Deshalb verzichtet Paulus auf eine langwierige und letztlich nur bedingt zielführende Diskussion und Zurückweisung einzelner Schriftstellen, die seine »Gegner« bei den Galatern zugunsten 731

Ähnlich Heitsch, Glossen 184. Auch Kremendahl, Botschaft 213f. und 215, bestimmt Gal 3,6 – 4,7 als refutatio, teilt sie jedoch in zwei Abschnitte, wobei sich Gal 3,6–14 gegen die Inanspruchnahme der Abrahams-Gestalt als Beweis für die Beschneidung und Gal 3,15 – 4,7 gegen die Notwendigkeit von Beschneidung und Gesetzesobservanz wende. Ausführlich zur confutatio/refutatio in der antiken Rhetorik Martin, Rhetorik 124–133. Auch Betz, Galaterbrief 253, spricht zumindest für Gal 3,10–12 von »negativen Beweisen«, die »die entgegengesetzten Alternativen, insbesondere die Tora, als Heilswege ausschließen« sollen. 733 Anmerkungen zum (früh-)jüdischen und (früh-)christlichen Verständnis der »Schrift« bereits auf S. 265. Zur frühjüdischen Auffassung von der Inspiriertheit der »Schrift« (zunächst der Tora, dann der Propheten und sukzessive auch der Gruppe der »Schriften«) und zu ihrem darin begründeten autoritativen und normativen Charakter G. Schrenk, γράφω κτλ. ThWNT 1 (1933) 742–773, hier 755; zur Schriftbenutzung und zu den rabbinisch schriftgelehrten Auslegungsregeln vgl. auch G. Stemberger, Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, vollstdg. neu bearb. und aktual. Aufl., München 2009, 125–170. 732

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5. Der Brief an die Galater

von Beschneidung und Gesetzesobservanz angeführt haben (oder haben könnten). Die Strategie, die Paulus stattdessen wählt, um die Beweiskraft solcher aus der »Schrift« gewonnener testimonia zu erschüttern, besteht darin, dass Paulus durch Spitzfindigkeiten in der »Auslegung« bei seinen Adressaten den begründeten Verdacht zu erzeugen versucht, dass man die »Schrift« auch anders lesen könne. Dazu »überschreibt« er gleichsam die biblisch-jüdische Tradition mit dem Bekenntnis zu Christus Jesus bzw. zum Erlösungshandeln Gottes in Christus Jesus.734 Die eigentliche Widerlegung beginnt Paulus in Gal 3,6 in einer Art und Weise, die an den Versuch eines Schriftbeweises denken lässt; denn losgelöst von seinem Kontext kann das – allerdings nicht ausdrücklich als solches markierte – Zitat von Gen 15,6 LXX durchaus wie ein Beweis für die These des Paulus klingen: καϑὼς Ἀβραὰμ ἐπίστευσεν τῷ ϑεῷ, καὶ ἐλογίσϑη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην. Das einleitende καϑώς, das die Verbindung zur vorausgehenden interrogatio in Gal 3,1–5 herstellt, legt eine Analogie zwischen Abraham und den Galatern nahe: Beide haben geglaubt, und wenn Abraham dies als Gerechtigkeit angerechnet wurde, warum dann nicht auch den Galatern? Damit hat Paulus die Galater darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Glaube und Rechtfertigung der »Schrift« (bzw. der biblisch-jüdischen Überlieferung) nicht fremd ist.735 Der Rekurs auf die Gestalt Abrahams und seinen Glauben kann als Exemplum (παράδειγμα) gelten, d. h. als Anführung einer bekannten Gestalt oder eines Vorgangs aus der Geschichte oder aus anerkannten, normativen literarischen Werken, der nach den Regeln der antiken Rhetorik hohe Beweiskraft zukam (zumindest Nähe zur πίστις ἄτεχνος).736 Als Beweis für das beschneidungs- und gesetzesfreie Evangelium des Paulus taugt der Hinweis auf den Glauben Abrahams dennoch nicht.737 Denn es lässt sich einwenden, dass Abraham nicht nur geglaubt hat, sondern auch beschnitten war (Gen 17,11–14.23–27), und dass die Gesetzesverpflichtung für ihn nur deshalb nicht gegeben war, weil das Gesetz Gottes erst auf dem Sinai durch Mose den Israeliten übermittelt wurde.738 734

Hilfreiche und bedenkenswerte Überlegungen dazu bei Heitsch, Glossen 183–185. Der Glaube Abrahams wurde auch im Frühjudentum nachdrücklich hervorgehoben (vgl. 1 Makk 2,52; Sir 44,19–21; Philon Abr. 268–276; her. 90–95). Vgl. O. Betz, Ἀβραάμ. EWNT 1 (21992) Sp. 3–7; Betz, Galaterbrief 253–255. 736 Vgl. Lausberg, Handbuch §§ 410–418. 737 Gegen Anderson, Rhetorical Theory 138, der den Rekurs auf Abraham als einen absolut zwingenden Beweis versteht. Ähnlich Betz, Galaterbrief 253 und 256f., der allerdings einräumt, dass Gen 15,6 als Beweis nur die überzeugt, die »seine [i. e. Paulus] theologischen und methodologischen Voraussetzungen akzeptieren« (ebd. 257). Auch aus diesem Grund können die Schriftzitate in Gal 3,6–14 nicht als πίστεις ἄτεχνοι gelten; denn Beweiskraft haben sie nicht aus sich selbst, sondern erst mit Hilfe von Techniken der rhetorischen Kunst werden sie zu Argumenten, die eine gewisse Plausibilität (!) für die These des Paulus schaffen können. 738 Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei Becker, Paulus 315. 735

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Aufbauend auf die Aussagen in Gal 3,6 setzt Paulus in Gal 3,7 zu seiner umdeutenden Neuinterpretation der »Schrift« an, indem er die Galater als erstes mittels einer Kundgabeformel darauf hinweist, dass allein der Glaube die Abstammung von Abraham begründet.739 Anschließend erklärt er in Gal 3,8 mit einer Paraphrase von Gen 12,3 und 18,18 die an Abraham ergangene Verheißung, dass in ihm πάντα τὰ ἔϑνη Segen erlangen, zur prophetischen Vorwegnahme des Evangeliums von der Rechtfertigung der Völker aufgrund des Glaubens (προϊδοῦσα … ἡ γραφὴ … προευηγγελίσατο …)740. Dem Segen für die Glaubenden stellt er in Gal 3,10 mit ausdrücklichem Hinweis auf die »Schrift« (γέγραπται) den Fluch gegenüber, unter dem die stehen, die sich dem Gesetz verpflichtet haben (Dtn 27,26 mit 28,58 [30,10]). Zugleich insinuiert er den Adressaten in Gal 3,11f., dass diesem Fluch kaum jemand entkommen kann und verweist in Gal 3,13 mit einem erneuten ausdrücklichen Bezug auf die »Schrift« (γέγραπται) auf Christus als den vom Gesetz selbst vorgesehenen Ausweg aus dieser misslichen Lage (Dtn 21,23).741 Daran schließt Paulus in Gal 3,14 zwei Finalsätze, mit denen er weitere Folgen der Erlösungstat Christi benennet. ἵνα εἰς τὰ ἔϑνη ἡ εὐλογία τοῦ Ἀβραὰμ γένηται ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, ἵνα τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πνεύματος λάβωμεν διὰ τῆς πίστεως.

Der Sinn dieser Aussagen bleibt zunächst kryptisch; erkennen lässt sich nur, dass die beiden Finalsätze mittels εἰς τὰ ἔϑνη ἡ εὐλογία τοῦ Ἀβραάμ und διὰ τῆς πίστεως in irgendeiner Form an Gal 3,6–9 anschließen. Außerdem soll mit den beiden Stichworten πίστις und πνεῦμα wohl nochmals die interrogatio in Gal 3,1–5 aufgegriffen werden, um den Galatern dadurch eine Verbindung der Geisterfahrung bei ihrer Bekehrung und Taufe mit der an Abraham ergangenen Verheißung des Segens für die Völker nahezulegen.742 Dass diese Segensverheißung die Gabe des »Geistes« beinhaltet, ist jedoch eine für den Leser überraschende Behauptung, deren Zweck darin besteht, die Aussage in Gal 4,6f. vorzubereiten. 739 Zurecht weist Schlier, Galater (KEK) 128f., darauf hin, dass οὗτοι in Gal 3,7 den Status als »Söhne Abrahams« dezidiert auf die Glaubenden beschränkt und damit die ἐξ ἔργων νόμου aus dieser Nachkommenschaft ausschließt. 740 Zu einer in diesen Formulierungen implizierten (christlichen) »Schrifttheorie« vgl. die Ausführungen auf S. 267f.; zur Stelle auch Dunn, Galatians (BNTC) 166. 741 Paulus begnügt sich in Gal 3,11f. mit dem (nicht explizit ausgewiesenen) Schriftzitat von Hab 2,4, erklärt aber nicht, warum niemand durch das Gesetz »zum Leben gelangen« kann. Meist deutet man die Aussage im Licht der Gesetzestheologie des Römerbriefes: Niemand kann das Gesetz ganz erfüllen und niemand kann deshalb durch das Gesetz zum Heil gelangen, weil man bereits durch eine einzige Übertretung der Todesdrohung des Gesetzes verfallen ist. So z. B. Rohde, Galater (ThHK) 141; vgl. außerdem Schlier, Galater (KEK) 132f. Zur Problematik einer Interpretation der Aussagen des Galaterbriefes im Licht des Römerbriefes bereits S. 206f., Anm. 137. 742 Vgl. Betz, Galaterbrief 253; Mußner, Galaterbrief (HThK) 235.

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5. Der Brief an die Galater

Bis zu diesem Punkt hat Paulus im Grunde nichts getan, als drei mehr oder weniger wörtliche Zitate aus der »Schrift« mit drei Kernpunkten seines Evangeliums zu verbinden:743 die Rechtfertigung der Völker aus Glauben (Gal 3,8; Gen 12,3; 18,18), der Gegensatz von Gesetz und Glaube (Gal 3,10; Dtn 27,26) und der »Loskauf« durch den Kreuzestod Christi (Gal 3,13; Dtn 21,23). Da diese Verbindungen nur sehr vage sind und nur für den eine gewisse Überzeugungskraft besitzen, der schon mit der Evangeliumsverkündigung des Paulus übereinstimmt, kann man hier kaum von einem Schriftbeweis sprechen. Aus rhetorischer Sicht liegt also in Gal 3,6–14 keine πίστις ἄτεχνος vor, da die drei Schriftzitate nicht als testimonia gelten können, die als unzweifelhafte Fakten die These des Paulus zwingend beweisen (vgl. S. 341).744 Was Paulus in Gal 3,6–14 eingebracht hat, dient lediglich dazu, die Voraussetzungen für die eigentliche Argumentation zu schaffen, die erst mit Gal 3,15 einsetzt. Diese Argumentation beruht nicht auf zwingenden Beweisen, sondern auf πίστεις ἔντεχνοι, d. h. auf mit rhetorischer Kunst geschaffenen Überzeugungsmitteln. Paulus beginnt in Gal 3,15–18 mit der an Abraham gebundenen Segensverheißung, die er in radikale Opposition zu dem erst 430 Jahre745 später ergangenem Gesetz vom Sinai bringt. Sein Ziel ist es, den Galatern plausibel zu machen, dass das Gesetz mit seinen Forderungen der Verheißung des Heils (d. h. des Segens) für die Völker widerspricht, diese aber nicht modifizieren oder gar aufheben kann. Die von Paulus dazu verwendete πίστις ἔντεχνος ist das »Beispiel« (παραβολή oder similitudo; vgl. Aristot. rhet. 1,2,8–19 [1356b–1358a]; 743

Es ist hier für den Abschnitt Gal 3,6–14 nur von drei Schriftzitaten die Rede, auch wenn der Abschnitt noch andere Zitate und Paraphrasen aus der »Schrift« enthält; aber nur die drei oben genannten sind ausdrücklich als solche markiert und damit von den Adressaten auch sicher identifizierbar und wahrnehmbar. Anders Betz, Galaterbrief 256, 265 und 368, der auch für die nicht explizit als solche ausgewiesenen Schriftzitaten in Gal 3,6 (Gen 15,6), Gal 3,11 (Hab 2,4) und Gal 3,12 (Lev 18,5) annimmt, dass sie von den Lesern als solche wahrgenommen werden können und dadurch als Schriftbeweise argumentativ wirksam werden. Hier stellt sich die Frage, ob die Galater, wenn sie wirklich ehemalige Heiden waren, in deren Umfeld es möglicherweise nicht einmal eine jüdische Gemeinde gab, überhaupt eine so intensive Schriftkenntnis besitzen konnten, dass sie zu einer solchen differenzierten Wahrnehmung fähig waren. Dazu bereits S. 268. 744 Gegen Betz, Galaterbrief 250–253. Der von ihm, ebd. 275–277, behauptete »logische« Beweis auf Grundlage der in der »Schrift« gemachten Aussagen über den Segen für die Völker, den Fluch des Gesetzes und die Erlösung in Christus ist auf den ersten Blick zwar bezwingend, lässt sich m. E. am Text aber nicht verifizieren, zumal – entgegen der ausdrücklichen Behauptung von Betz – die beiden Sätze in Gal 3,14 nicht das Ergebnis der vorausgehenden Argumentation in Gal 3,6–13 zusammenfassen, sondern durch das zweimal gesetzte einleitende ἵνα syntaktisch eindeutig an den Satz in Gal 3,13 angeschlossen sind und damit eindeutig als causa finalis der Erlösungstat Christi ausgewiesen sind. So zu Gal 3,14 auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 234f. 745 Die Zahl leitet sich wahrscheinlich aus Ex 12,40 ab (ἡ δὲ κατοίκησις τῶν υἱῶν Ισραηλ ἣν κατῴκησαν ἐν γῇ Αἰγύπτῳ καὶ ἐν γῇ Χανααν ἔτη τετρακόσια τριάκοντα). Vgl. Betz, Galaterbrief 285; Mußner, Galaterbrief (HThK) 241f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Quint. inst. 5,11,6–8).746 Ein Beispiel soll eine Behauptung über einen wenig überzeugenden Sachverhalt für die Zuhörer wahrscheinlich und damit glaubwürdig machen, indem sie bei ihnen den Eindruck erweckt, er ließe sich mit einem anderen, für sie leicht durchschaubaren und deshalb einleuchtenden Vorgang aus dem allgemeinen Menschenleben oder auch aus der Tier- und Pflanzenwelt vergleichen (vgl. Apsinos, techne 8; Cic. inv. 1,49).747 Das für das Beispiel typische Argumentationsverfahren, das nicht auf der logischen Deduktion aus tatsächlichen oder nach allgemeinen Menschenverstand wahrscheinlichen Prämissen beruht (ratiocinatio bzw. συλλογισμός oder ἐνϑύμημα; vgl. S. 157), sondern auf »Ähnlichkeit«, nennt die antike Rhetorik inductio bzw. ἐπαγωγή (vgl. Quint. inst. 5,10,73).748 Paulus zeigt seinen Adressaten den Einsatz eines solchen Beispiels im Text durch die Einleitung κατὰ ἄνϑρωπον λέγω an.749 Das von Paulus zur Veranschaulichung und Plausibilisierung gewählte Beispiel stammt aus dem Bereich des alltäglichen Rechtslebens: Ein rechtsgültiges Testament, griech. διαϑήκη, kann, sobald es in Kraft getreten ist, nicht widerrufen oder mit Zusätzen versehen werden (vgl. S. 258).750 Der Anknüpfungspunkt, der sicher zur Akzeptanz 746 Vgl. Betz, Galaterbrief 278f. Zum Beispiel (παραβολή/similitudo) als πίστις ἄτεχνος vgl. Martin, Rhetorik 119–122; Ueding/Steinbrink, Grundriß 268f.; Lausberg, Handbuch §§ 410–426, bes. 422–425. 747 Insofern beruht das Beispiel auf dem locus a simili; vgl. Lausberg, Handbuch § 394. 748 Ausführlich Lausberg, Handbuch §§ 419–421; Andersen, Rhetorik 153–155. 749 Die Phrase κατὰ ἄνϑρωπον λέγω meint »ich spreche nach Menschenart«, im Sinne von »etwas, was der menschlichen Vorstellung angemessen ist«. Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 127; so letztlich auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 236. Außer den Belegen bei Paulus (Röm 3,5; 6,19; 1 Kor 9,8; Gal 3,15) finden sich in der griechischen Literatur Parallelen, die eindeutig einen derartigen Sinn der Phrase nahelegen, z. B. Plat. rep. 2,359d (ὡς φαίνεσϑαι μείζω ἢ κατ’ ἄνϑρωπον); Apol. 20e (μείζω τινὰ ἢ κατ’ ἄνϑρωπον σοφίαν σοφοὶ εἶεν), Phil. 12c (τὸ δ’ ἐμὸν δέος, ὦ Πρώταρχε, ἀεὶ πρὸς τὰ τῶν ϑεῶν ὀνόματα οὐκ ἔστι κατ’ ἄνϑρωπον); Xen. Kyr. 8,7,2 (κρείττων τις ἢ κατὰ ἄνϑρωπον); Isokr. or. 9,21 (ἐξ ὧν μειζόνως ἂν φανείη γεγονὼς ἢ κατ’ ἄνϑρωπον); Soph. Oid. K. 598 (τί γὰρ τὸ μεῖζον ἢ κατ’ ἄνϑρωπον νοσεῖς). Zur Verwendung von κατά mit Akk. in adverbialen Ausdrücken der Art und Weise vgl. auch Schwyzer, Grammatik 2, 477f. 750 Am Vergleich der Verheißung an Abraham mit einem Testament in Gal 3,15–18 wird bei den Kommentatoren des Briefes immer wieder problematisiert, dass nach griechischem und römischem Recht ein Erblasser zu Lebzeiten jederzeit selbst sein Testament ändern konnte und Gott als »Erblasser« ja noch am Leben sei. Deshalb könne auch Paulus mit dem Beispiel des menschlichen Testamentes nichts beweisen, da auch Gott sein »Testament« selbst jederzeit ändern kann. Um dieses Problem zu umgehen und den argumentativen Wert des Beispiels abzusichern, spekuliert man deshalb, ob es möglicherweise ein spezifisch Form des »Testamentes« gab, die auch dem »Erblasser« zu Lebzeiten eine Änderung untersagte. Ein entsprechendes jüdisches Rechtsinstitut (‫ )מתנת בריא‬als Hintergrund von Gal 3,15–18 vermutet z. B. E. Bammel, Gottes ΔΙΑΘΗΚΗ (Gal III 15–17) und das jüdische Rechtsdenken, in: NTS 6 (1959/60) 313–319. Zustimmend Mußner, Galaterbrief (HThK) 236f.; Bachmann, Sünder 145; ablehnend Rohde, Galater (ThHK) 147. Daneben verweist man auf das griechisch-römische Rechtsinstitut der donatio mortis causa, einer Übertragung der Eigentumsrechte noch zu

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und zur Überzeugungskraft des Beispiels beigetragen hat, war das Stichwort διαϑήκη, das die LXX durchgängig und stereotyp zur Wiedergabe des hebr. ‫ בּ ְִרית‬verwendet und das deshalb auch im Kontext der Abrahamserzählung zur Bezeichnung des (ewigen) Bundes begegnet, den Gott mit ihm und seinem »Samen« geschlossen hat (vgl. Gen 15,18; 17,7.19).751 Das Wissen über eine διαϑήκη Gottes an Abraham setzt Paulus bei seinen Adressaten offenbar als bekannt voraus (Gal 3,17) und vertraut deshalb darauf, dass sich ihnen der Schluss nahelegt: Wenn die eine διαϑήκη, die aus dem Bereich der Menschen stammt, einmal in Kraft gesetzt, nicht aufgehoben oder verändert werden kann, dann gilt dies auch für die andere, die Gott Abraham und seinem Samen gewährt hat.752 Ein Problem in der Argumentation des Paulus bleibt, dass jeder Mensch, der ein Testament gemacht hat, dieses, solange er lebt, widerrufen und ändern kann.753 So könnte auch Gott mit dem Lebzeiten, die dem »Erblasser« die weitere Nutzung des Besitzes vorbehielt, eine Widerrufung aber nicht vorgesehen habe (außer dies wird ausdrücklich in der Urkunde vermerkt). Zur Diskussion um das »Testament« in Gal 3,15–18 auch Betz, Galaterbrief 279–281; Longenecker, Galatians (WBC) 128–130. Da die Geltung und Verbreitung der zur Lösung vorgeschlagenen Rechtsinstitute keineswegs gesichert ist, können sie als Erklärung für Gal 3,15–18 letztlich nicht überzeugen. Außerdem lässt sich fragen, ob es wirklich eine befriedigende Lösung ist, wenn man die Beweiskraft des Textes an einem Analogon festmacht, das besagen würde, Gott habe sich Abraham in einer Weise rechtlich verpflichtet, dass diese Willenskundgabe seiner eigenen Verfügungsgewalt für alle Zeiten entzogen ist. Die Spekulation über mögliche Formen des Testaments, die den Besitz zu Lebzeiten des Erblassers übertragen und nicht mehr oder nur bedingt revidierbar sind, löst auch ein anderes, in der Auslegung von Gal 3,15–18 heftig diskutiertes Problem nur scheinbar, dass nämlich Gott als Erblasser nicht sterben und damit der Erbfall gar nicht eintreten kann. Denn auch bei den genannten Sonderformen des Testamentes, kommt der Erbe erst mit dem Tod des Erblassers in den tatsächlichen Besitz des Erbes, da der Erblasser bis zu seinem Tod das Nutzungsrecht behält. Dagegen sollte m. E. wesentlich stärker beachtet werden, dass Paulus ohne jede weitere Präzisierung und Erklärung lediglich von διαϑήκη spricht und damit zunächst die Assoziation mit dem allgemeinen Fall des »gewöhnlichen« Testaments aufruft, das revidiert werden kann, aber nur von dem dazu berechtigten Erblasser (dies ist wahrscheinlich, da Paulus in Gal 3,14 die dort übliche Rechtsformel κεκυρωμένη διαϑήκη benutzt; dazu S. 258). 751 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 128; Mußner, Galaterbrief (HThK) 237f.; Lust/ Eynikel/Hauspie, Lex.LXX 137f. 752 Das als Argument genutzte Beispiel beinhaltet insofern einen Schluss a minore ad maius; vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 128. Die argumentative Funktion eines solchen Schlusses wird in der antiken Rhetorik im Rahmen der Topos-Lehre besprochen. Zu beachten ist aber, dass Paulus in Gal 3,15–18 einen Schluss a minore ad maius nicht explizit macht, indem er expressis verbis sagt oder mit anderen Mitteln bei seinen Adressaten die Schlussfolgerung erzwingt: Wenn dies schon für eine διαϑήκη bei Menschen gilt, dann doch wohl erst recht für eine, die von Gott stammt. Anders Radl, Galaterbrief (SKK) 54. Deshalb ist ein solcher Schluss m. E. in Gal 3,15–18 höchstens implizit gegeben, ohne dass Paulus ihn für seine Argumentation dienstbar gemacht hätte. 753 Der Erblasser konnte nach griechischem Recht, sofern es sich nicht um ein gemeinschaftliches Testament handelte, eine bereits in Form einer Urkunde in Kraft gesetzte διαϑήκη

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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νόμος seine Abraham gewährte διαϑήκη modifiziert oder ersetzt haben. Doch bereits die Art und Weise, wie Paulus in Gal 3,15–18 argumentiert, musste seinen Adressaten signalisieren, dass er eine solche Erklärung des νόμος ablehnt. Dadurch weckte er in ihnen einen ersten Verdacht gegen das Gesetz. Denn das gewählte Beispiel der menschlichen διαϑήκη ließ nur den Schluss zu: Damit der νόμος die διαϑήκη an Abraham nicht aufheben und ergänzen kann, dürfen beide nicht denselben Urheber haben.754 Diesen Verdacht sollen die Ausführungen in Gal 3,19–22 erhärten. Zusätzlich schafft Paulus in Gal 3,16.18 die argumentative Grundlage für die in Gal 3,26–29 formulierte Behauptung, dass exklusiv die Getauften in Christus Jesus das Heil erlangen, das Abraham und seinem »Samen« durch die διαϑήκη Gottes verheißen wurde. Indem er zunächst nicht von der διαϑήκη, sondern von nicht näher bestimmten ἐπαγγελίαι Gottes an Abraham spricht, betont er, dass sich die διαϑήκη als Verheißung auf die Zukunft bezieht.755 Zusätzlich hebt er durch eine spitzfindige, den Textsinn manipulierende Bemerkung hervor, dass diese Verheißung nach dem Wortlaut des biblischen Textes – καὶ τῷ σπέρματί σου (Gen 13,15; 17,8) – nicht einer Vielzahl, sondern nur einen Nachkommen gelten kann, den er ohne jede Erklärung und Begründung mit Christus Jesus identifiziert.756 Wozu es der Betonung des einen Nachkommen und seiner Gleichsetzung mit Christus Jesus bedarf, wird erst in Gal 3,26–29 einsichtig. Wichtig ist zunächst, dass Paulus durch diese »Interpretation« die Bindung der ἐπαγγελίαι an Israel bzw. die Juden als leibliche Nachkommen Abrahams in Frage stellt und die Gabe des Landes als κληρονομία, d. h. als Inhalt der Abraham gegebenen διαϑήκη, in den Hintergrund treten lässt.757 Dadurch kann κληρονομία zur Metapher für das eschatologische Heil bis zu seinem Tod jederzeit ändern und widerrufen, ohne dass dies in der Urkunde durch eine besondere Klausel vorgesehen und ermöglicht sein musste (analog im römischen Recht). Vgl. G. Thür, Diatheke. DNP 3 (1997) Sp. 527–530. 754 Ähnlich Lührmann, Galaterbrief (ZBK) 62. Dass der νόμος vom Sinai und die διαϑήκη für Abraham (und seinen Nachkommen) nicht denselben Urheber haben, legt Paulus seinen Adressaten m. E. auch durch die Formulierung in Gal 3,17 nahe. Denn hier fügt er an die διαϑήκη προκεκυρωμένη mit ὑπὸ τοῦ ϑεοῦ ausdrücklich den Urheber an, während er bei ὁ μετὰ τετρακόσια καὶ τριάκοντα ἔτη γεγονὼς νόμος auf jeden Hinweis auf den Urheber verzichtet. 755 Vgl. A. Sand, ἐπαγγελία κτλ. EWNT 2 (21992) Sp. 34–40. 756 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 54. Tatsächlich ist σπέρμα im Singular auch sonst eine geläufige Bezeichnung für die Gesamtheit der leiblichen Nachkommen eines Mannes, kann aber auch einen einzelnen Nachkommen bezeichnen. Vgl. dazu S. Schulz, σπέρμα κτλ. A. Die Wortgruppe im Griechentum, in: ThWNT 7 (1964) 537f.; Bauer/Aland, Wb.NT Sp. 1521f.; Liddell/Scott, Lex. 1626. Mit Bill. 3,553 vermutet man in Gal 3,16 den Einfluss einer (rabbinisch) jüdischen Auslegungspraxis, die dem Unterschied von Singular und Plural eine besondere Bedeutung beimaß; vgl. dazu Longenecker, Galatians (WBC) 131f.; Bruce, Galatians (NIGTC) 173. Insgesamt zu Gal 3,16 auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 237–240. 757 Vgl. Vouga, Galater (HNT) 81.

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5. Der Brief an die Galater

(vgl. Gal 3,18) und damit – wie εὐλογία in Gal 3,14 (mit 3,8f.) – zum Synonym für δικαιοσύνη werden.758 Anhand des Beispiels des Testaments, das einmal in Kraft gesetzt nicht mehr revidiert und verändert werden kann, hat Paulus – wie bereits angemerkt – das mosaische Gesetz dem Verdacht ausgesetzt, dass seine Forderungen die Verheißungen Gottes an Abraham revidieren würden und dass das Gesetz deshalb nicht von Gott verfügt worden sein kann. Um dem Beispiel in Gal 3,15–18 Überzeugungskraft zu verleihen, muss Paulus versuchen, seinen Adressaten, die unter dem Einfluss der konkurrierenden Missionare dem Gesetz einen hohen Wert beimessen, diese Abwertung des Gesetzes, wenn sie nicht beweisbar ist, doch wenigstens als möglich erscheinen zu lassen.759 Dazu gibt Paulus ihnen in Gal 3,19 eine Zusammenfassung seiner Sicht des Gesetzes, die (1) seinen Zweck, (2) die Dauer seiner Gültigkeit und (3) seine Herkunft benennt: (1) τῶν παραβάσεων χάριν προσετέϑη, (2) ἄχρις οὗ ἔλϑῃ τὸ σπέρμα ᾧ ἐπήγγελται, (3) διαταγεὶς δι’ ἀγγέλων ἐν χειρὶ μεσίτου

Nahezu alles an dieser Aussage in Gal 3,19 bleibt rätselhaft, außer dass das Gesetz mit dem Kommen Christi Jesu sein definitives Ende gefunden hat. Klar ist auch noch, dass der Erlass des Gesetzes (am Sinai) irgendwie mit Engeln und einem Vermittler oder Unterhändler zusammenhängt. Ob die Engel die Urheber des Gesetzes sind oder, wie die Formulierung δι’ ἀγγέλων nahelegen mag, es ihrerseits von jemand anderen haben, lässt sich ebenso nur erraten wie die Frage, inwiefern das Gesetz der Übertretungen wegen »hinzugefügt« wurde. Der Hinweis auf die Engel knüpft wohl an zeitgenössische jüdische Spekulationen an, die – ohne das Gesetz abwerten zu wollen – aus der Formulierung ἐκ δεξιῶν αὐτοῦ ἄγγελοι μετ’ αὐτοῦ in Dtn 33,2 LXX folgerten, dass nicht Gott selbst, sondern in seinem Auftrag Engel auf dem Sinai Mose das Gesetz übergeben haben (vgl. Ios. ant. Iud. 15,136; Hebr 2,2; Apg 7,38).760 Außerdem setzt Paulus die biblisch-jüdische Sicht voraus, die Mose als Gesetzgeber vom Sinai 758 Dazu auch J. H. Friedrich, κληρονομέω κτλ. EWNT 2 (21992) Sp. 736–739; Mußner, Galaterbrief (HThK) 242f.; Longenecker, Galatians (WBC) 134; Kremendahl, Botschaft 223; Rohde, Galater (ThHK) 139. 759 Betz, Galaterbrief 291f., dagegen bestimmt in rhetorischer Sicht die Ausführungen über das Gesetz in Gal 3,19–25 als digressio, d. h. als eine Abschweifung vom eigentlichen Sachverhalt. 760 Vgl. Radl, Galaterbrief (SKK) 57; Longenecker, Galatians (WBC) 139–141; Borse, Galater (RNT) 134; Schlier, Galater (KEK) 156f.; Bruce, Galatians (NIGTC) 176f.; Dunn, Galatians (BNTC) 190f. Bei Bachmann, Sünder 146, findet sich der Hinweis, dass die Aussage δι’ ἀγγέλων in Gal 3,19 »nicht im Sinne eines minderwertigen oder dämonischen Ursprungs begriffen werden darf«; dagegen spreche eine in Gal 1,8 und 4,4 erkennbare Wertschätzung der Engel. So richtig diese Beobachtung ist, so lässt sich dennoch nicht leugnen, dass die Aussage in Gal 3,19 letztlich doch darauf zielt, das Gesetz zu relativieren und damit abzuwerten.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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die ehrenvolle Funktion und Stellung des »Mittlers« zwischen Gott und Menschen zuschreibt (vgl. Philon Mos. 2,166; AssMos 1,14).761 Um das Gesetz vom Sinai abzuwerten, gibt Paulus diesen Überlieferungen nun bewusst eine böswillige Deutung, indem er in Gal 3,20 hinzufügt: ὁ δὲ μεσίτης ἑνὸς οὐκ ἔστιν, ὁ δὲ ϑεὸς εἷς ἐστιν. Damit präsentiert Paulus die überkommene Bezeichnung des Mose als »Mittler« als Indiz (σημεῖον/τεκμήριον bzw. signum; vgl. S. 342) dafür, dass die biblisch-jüdische Tradition sich so verstehen lässt, dass am Zustandekommen und am Erlass des mosaischen Gesetzes viele beteiligt waren – nicht aber Gott.762 An sich wäre nun der Schluss zu erwarten, dass Gesetz stamme nicht von Gott – und war eventuell nicht mehr als ein Irrweg –, deshalb könne es die Verheißung nicht aufheben und habe für die Christen keinen Belang. Diesen radikalen Schritt, der die völlige Verwerfung des Gesetzes und der jüdischen Tradition bedeuten würde, macht Paulus am Ende nicht. Wie er sich bereits in Gal 3,19 durch die Formulierung δι’ ἀγγέλων die Option offen gehalten hat, dass Gott, der zwar nicht der unmittelbare Urheber des Gesetzes ist, doch an seiner Entstehung vielleicht nicht ganz unbeteiligt ist, so betont er nun plötzlich in Gal 3,21, dass es zwischen dem νόμος und den ἐπαγγελίαι τοῦ ϑεοῦ keinen Gegensatz oder Widerspruch gebe.763 Einen solchen gäbe es nämlich 761

Der Begriff findet sich in der LXX lediglich in Hi 9,33, hier allerdings im profanen und alltäglichem Sinn; die Sache jedoch in Ex 19,3.7; 20,19; Dtn 5,5.27 u. ö. Daran schließt die frühjüdische und rabbinische Bezeichnung von Mose als »Mittler« an. Näheres dazu bei A. Oepke, μεσίτης, μεσιτεύω. ThWNT 4 (1942) 602–629, hier 615f. und 619–623; D. Sänger, μεσίτης, μεσιτεύω. EWNT 2 (21992) Sp. 1010–1012; J. Jeremias, Μωυσῆς. ThWNT 4 (1942) 852–878, bes. 868f. und 873f.; G. Fitzer, Μωϋσῆς. EWNT 2 (21992) Sp. 1109–1114. Vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) 140–143; Schlier, Galater (KEK) 159–161; Bruce, Galatians (NIGTC) 178. 762 Mit Mußner, Galaterbrief (HThK) 248–250: Gott als einzelner hätte auch direkt mit den Israeliten sprechen können, die Engel als viele brauchen dazu jedoch einen Sprecher. Deshalb ist das Vorhandensein einer solchen Mittlergestalt bei der Gesetzgebung am Sinai ein Hinweis darauf, dass nicht der eine Gott, sondern die vielen Engel hinter dem Gesetz stehen. Eine andere Interpretation bei A. Vanhoye, Un mediateur des anges en Gal 3,19–20, in: Bibl. 59 (1978) 403–411. Er meint, der μεσίτης sei nicht Mose, sondern ein Engel, der als Unterhändler der Engel mit Mose als Unterhändler der Israeliten spricht. Diese Sicht stützt er auf Apg 7,38 (οὗτός ἐστιν ὁ γενόμενος ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ ἐν τῇ ἐρήμῳ μετὰ τοῦ ἀγγέλου τοῦ λαλοῦντος αὐτῷ ἐν τῷ ὄρει Σινᾶ καὶ τῶν πατέρων ἡμῶν, ὃς ἐδέξατο λόγια ζῶντα δοῦναι ἡμῖν). Der Skopos in Gal 3,19f. läge demnach auf der Vielzahl der Mittlerinstanzen im Unterschied zu der direkten Kommunikation zwischen Gott und Abraham. Zustimmend Matera, Galatians (Sacra Pagina) 133f. Auch für Borse, Galater (RNT) 135, trägt der Begriff des »Mittlers« die Vorstellung von zwei Parteien ein, die nicht direkt miteinander verkehren. Dies deckt sich jedoch nicht mit der Argumentation des Paulus, die auf das Gegenüber von Mittler und Einzigkeit Gottes abhebt. Insofern ist der Deutung durch Mußner der Vorzug zu geben. Vgl. auch Lührmann, Galater (ZBK) 63; Egger, Galaterbrief (NEB) 27. 763 Nach Matera, Galatians (Sacra Pagina) 135, zielt der abgewiesene potentielle Einwand in Gal 3,21 (ὁ οὖν νόμος κατὰ τῶν ἐπαγγελιῶν [τοῦ ϑεοῦ]; μὴ γένοιτο) darauf, ob das Gesetz

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nur dann, wenn man meint, das Gesetz solle und könne den Menschen zum Heil führen.764 Damit unterstellt Paulus seinen Konkurrenten, dass sie das Gesetz und die mit ihm verbundene Intention falsch verstanden haben. Das Gesetz ist vielmehr, wie Paulus in Gal 3,19 angegeben hat, »um der Übertretungen willen« da. Das bedeutet wohl, dass der Mensch an den Vorschriften und an der Fluchbestimmung des Gesetzes die Gefahr seines Scheiterns und damit seine Verfallenheit an die Macht der Sünde sowie seine Erlösungsbedürftigkeit erfährt (vgl. Gal 2,17; 3,10).765 Deshalb kann Paulus in Gal 3,22 sagen, dass die »Schrift« (γραφή) – die ja gleichermaßen den νόμος und die ἐπαγγελία enthält – das universale Ausgeliefertsein an die Sündenmacht bezeugt, damit der Mensch die Chance ergreift, durch den Glauben in Christus Jesus das Heil zu erlangen (vgl. Gal 2,15f.; 3,11).766 Nachdem Paulus Wesen und Funktion des Gesetzes geklärt hat, geht er dazu über, seinen Adressaten plausibel zu machen, dass es für sie, die bereits durch den Glauben am Heil in Christus Jesus Anteil haben, unsinnig ist, sich nachträglich und zusätzlich dem Gesetz zu unterstellen. Dazu knüpft er an den in Gal 3,19 ausgesprochenen Gedanken an, dass mit dem Kommen Christi die Zeit des Gesetzes ihr Ende findet, und verbindet ihn mit dem Gedanken, dass die Zeit des Gesetzes nur eine Zeit des Wartens auf die kommende Erlösung war (Gal 3,23f.; vgl. 3,8).767 Statt jedoch dieses rationale Argument weiter auszuführen, setzt Paulus in Gal 3,23–29 und 4,1–7 auf Mittel der emotionalen Überzeugung, indem er sich bemüht, negative Gefühle gegenüber dem Leben unter dem Gesetz zu wecken. Dazu bedient er sich in Gal 3,23 und 3,24f. erneut zweier Beispiele (παραβολή oder similitudo; vgl. S. 354f.) aus dem allgemeinen Menschenleben, die den Zustand unter dem Gesetz als ein Leben in Unfreiheit, Zwang und Angst sowie in Unmündigkeit qualifizieren sollen.768 in dem Sinne »gegen die Verheißung« ist, dass es diese zwar nicht außer Kraft setzen kann, aber zumindest einen alternativen Heilsweg anbietet. Ähnlich Radl, Galaterbrief (SKK) 57. Dagegen meint Longenecker, Galatians (WBC) 143, der Einwand und seine Zurückweisung diene dazu, die Adressaten vor »any Marcionite type of thinking« zu bewahren. 764 Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 251. 765 Rohde, Galater (ThHK) 154f., interpretiert Gal 3,19 im Licht von Röm 4,15b und 5,13 folgendermaßen: Erst durch das Vorhandensein des Gesetzes wurde die Sünde zur Übertretung, die den Menschen in den bewussten Gegensatz zu Gott brachte. Ähnlich Wolter, Paulus 357f. Auch hier stellt sich das letztlich unlösbare Problem, in welchem Maße man in den Galaterbrief Gedanken des jüngeren Römerbriefes eintragen darf (vgl. S. 206f., Anm. 137). 766 Diese von Vouga, Galater (HNT) 85, vorgeschlagene Deutung von Gal 3,22 dürfte dem Wortlaut und Kontext der schwierigen Aussage am ehesten gerecht werden. Vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) 145. 767 Betz, Galaterbrief 299f., betont stärker eine quasi »heilsgeschichtliche« Perspektive des Textes, nach dem mit dem Kommen Christi die Zeit des Gesetzes abgelaufen ist und die Zeit des Glaubens bzw. der Verheißung begonnen hat. 768 Vgl. Egger, Galaterbrief (NEB) 28; Vouga, Galater (HNT) 87; ähnlich Becker, Galater (NTD) 58f. Dagegen sieht Radl, Galaterbrief (SKK) 58, die Bilder in Gal 3,23f. als positive

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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Mit ὑπὸ νόμον ἐφρουρούμεϑα in Gal 3,23 setzt er das Leben unter dem Gesetz mit der Haft in einem Gefängnis gleich und charakterisiert das Gesetz dadurch als Kerkermeister.769 In Gal 3,24 bezeichnet er das Gesetz als παιδαγωγός, d. h. als einen meist niederen Sklaven, der mit der Aufsicht über die Kinder, aber auch mit ihrer Züchtigung betraut war.770 Implizit schreibt er damit dem Gesetz einen niederen und vorläufigen Dienst zu, der mit dem Glauben an Christus sein Ende gefunden hat. Ein Glaubender, der sich auf das Gesetz verpflichtet, wäre demnach wie ein Mensch, der freiwillig ins Gefängnis geht, oder wie ein Erwachsener, der sich freiwillig der Züchtigung durch einen Sklaven unterwirft. Insofern verdeutlichen die beiden von Paulus gewählten Beispiele auch, wie paradox die Absicht der Galater ist, sich nach ihrer Taufe dem Gesetz zu unterwerfen. Denn die Verfügungsgewalt des Gesetzes über den Menschen ist zeitlich begrenzt und findet mit der gläubigen Annahme der Erlösung in Christus Jesus ihr Ende.771 Diese entscheidende Wende aber haben die Galater bereits hinter sich. Die mit der Annahme des Glaubens und der Taufe eingetretene Wende im Leben der Galater verbindet Paulus nun mit der Verheißung an Abraham und Aussagen über die Funktion des Gesetzes. Die in den beiden Bildern ausgedrückte Funktion des Gesetzes besteht aber nicht darin, als Begleiter auf Christus hinzuführen, sondern sie beschreiben einen Zustand, auf dessen Ende man hofft und dem man entkommen will. Damit ist das Gesetz eindeutig negativ qualifiziert. 769 Dazu R. Kratz, φρουρέω. EWNT 3 (21992) Sp. 1053f.; Vouga, Galater (HNT) 87f.; vgl. auch Burton, Galatians (ICC) 198f. Möglicherweise knüpft Paulus hier an eine jüdische Vorstellung an, nach der das Gesetz eine Schutzfunktion für Israel haben sollte, indem es sie vor dem schädlichen Kontakt mit den Heiden bewahrte; vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 255f.; Schlier, Galater (KEK) 166f. Diese positiv konnotierte Funktion wird von Paulus allerdings in ein negatives Licht gerückt. Auch Borse, Galater (RNT) 137, sieht einen möglichen positiven Sinn des Bildes darin, dass es den Zustand unter dem Gesetz als einer Art Schutzhaft oder Sicherungsverwahrung deuten sollte; ähnlich Dunn, Galatians (BNTC) 198. 770 Der παιδαγωγός darf nicht mit dem διδάσκαλος gleichgesetzt werden; nur letzterer ist mit Lehr- und Erziehungsaufgaben betraut. Dennoch darf man den παιδαγωγός nicht nur als eine negative Gestalt sehen, da Schutz und Aufsicht über die Kinder aus Sicht der Eltern notwendig und sinnvoll waren, wie Dunn, Galatians (BNTC) 198f., zurecht betont. Dies galt vor allem, wenn die Kinder – wie in den Papyrustexten aus Ägypten immer wieder belegt – den höheren Schulunterricht fern des Elternhauses in einer größerer Stadt erhielten. Paulus jedoch zielt, wie es scheint, in Gal 3,24 primär auf die negativen Gefühle, die im Rückblick mit einem solchen Zuchtmeister verbunden sind. Näheres zur Funktion und Wertung des παιδαγωγός in der Antike bei G. Schneider, παιδαγωγός. EWNT 3 (21992) Sp. 4f.; W. H. Groß, Paidagogos. KP 4 (1979) Sp. 408; Marrou, Erziehung 211f.; Longenecker, Galatians (WBC) 146–148; vgl. auch Mußner, Galaterbrief (HThK) 256f.; Schlier, Galater (KEK) 170–172; differenzierte Angaben und Wertungen anhand von Papyruszeugnissen aus Ägypten finden sich bei Cribiore, Gymnastics 47–50. 771 Vouga, Galater (HNT) 86, spricht von einer »durch die Verkündigung des Evangeliums überholten Vergangenheit«. Vgl. auch Dunn, Galatians (BNTC) 200. Die im Bild des Pädagogen ausgedrückte zeitlich begrenzte Funktion und Zuständigkeit des Gesetzes betont besonders Bachmann, Sünder 149f.

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5. Der Brief an die Galater

schließt damit den in Gal 3,6 eröffneten Gedankengang ab. Dazu verbindet er in Gal 3,26 zunächst den durch Glauben und Taufe erlangten neuen Status der Adressaten mit der Anrede als »Söhne Gottes«. Diese offensichtlich ungewohnte und provozierende Anrede begründet er in Gal 3,27f. mit einer – den Galatern wahrscheinlich aus der paulinischen Taufparänese vertrauten772 – Deutung der Taufe als ein »Anziehen Christi« und einer darin grundgelegten Gleichheit der Getauften (vgl. 1 Kor 12,13; außerdem 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15).773 Die Beseitigung aller Unterschiede zwischen den Getauften wiederum erklärt Paulus damit, dass sie in Christus »einer« sind. Worauf es Paulus hier ankommt, ist nicht die Aufhebung aller sozialen, ethnischen, sexuellen und religiösen Unterschiede in Christus, um die Egalität in der christlichen Gemeinde zu propagieren.774 Wichtiger ist, dass sich aus der traditionellen Überzeugung von der Gleichheit und Einheit der Getauften eine Interpretation der bei der Taufe erfolgten Eingliederung in Christus als tatsächliches Eins-Werden mit ihm ableiten lässt. Das in der Taufe grundgelegte christliche Selbstverständnis, das er bei den Galatern als bekannt und akzeptiert voraussetzt, wird somit zum Indiz (σημεῖον/τεκμήριον bzw. signum; vgl. S. 342), aus dem Paulus in Gal 3,29 den Schluss ziehen kann: Wenn die Galater durch die Taufe Teil Christi geworden sind, dann sind sie Teil des einen Nachkommen Abrahams, 772

Die Parallele in 1 Kor 12,3 (vgl. Röm 10,12) belegt, dass entsprechende Aussagen auch sonst Teil der Verkündigung des Paulus waren und deshalb auch als Teil der Missionspredigt bei den Galatern angenommen werden dürfen. Ob man aus dieser Parallele bereits auf eine traditionelle Formel schließen kann, die Paulus aus den hellenistischen Christengemeinden übernommen hat, ist fraglich, zumal weitere Parallelen sich erst in jüngeren Schriften finden. Näheres bei Vouga, Galater (HNT) 91f.; Longenecker, Galatians (WBC) 154f.; außerdem Schnelle, Gerechtigkeit 109–122 (zu ἐν Χριστῷ) und 135–145 (Einheit der Getauften); Wolter, Paulus 136–138. 773 Vgl. E. Schweizer, υἱός κλτ. IV. Die Menschen als Gottessöhne. ThWNT 8 (1969) 392– 395, der für urchristlichen Schriften neben Paulus konstatiert: »So sehr Gott als Vater aller erscheint, so wenig schließt das ein, daß alle Menschen seine Söhne sind. Einzig Lk 3,38; Ag 17,28 ist dies angedeutet; doch ist an beiden Stellen auf die Schöpfung zurückverwiesen, nicht auf eine mythisch oder mystisch zu verstehende Zeugung oder auf die Gegenwart eines göttlichen Funkens im Menschen« (392). Da sich die ausdrückliche Bezeichnung der Glaubenden und Getauften als »Söhne Gottes« bei Paulus außer im Galaterbrief nur noch im jüngeren Römerbrief findet, ist auch nicht wahrscheinlich, dass Paulus in Gal 3,26 an seine mündliche Verkündigung bei den Galatern anknüpft. 2 Kor 6,18, wo sich zumindest dieselbe Vorstellung findet, ist jedoch zum einen biblisches Zitat, zum anderen Teil der nachpaulinische Interpolation 2 Kor 6,14–7,1; dazu Klauck, 2. Korintherbrief (NEB) 60f. Dennoch nimmt Becker, Galaterbrief (NTD) 59f., an, dass Paulus in Gal 3,26–28 eine fest formulierte Tauftradition aufgreift, die bereits die Getauften als »Söhne Gottes« ansprach und ihre Einheit in Christus betonte. So auch Schnelle, Gerechtigkeit 58f. Ähnlich vermutet Martyn, Galatians (AB) 375, dass Paulus das Motiv von den Getauften/Christen als »Söhne Gottes« der »Taufliturgie« entnimmt. Skeptisch dagegen Dunn, Galatians (BNTC) 201. 774 Anders z. B. Wischmeyer, Abraham 143, die in Gal 3,28 den Entwurf einer »neuen christusgegründeten Fundamentalanthropologie« sieht.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

363

dem nach Gal 3,16 die διαϑήκη und die ἐπαγγελία gelten.775 Da die ἐπαγγελία gemäß Gal 3,18 auf die κληρονομία zielt, sind sie κατ’ ἐπαγγελίαν κληρονόμοι und als solche Empfänger des eschatologischen Heils. Damit begründet dieser mehr suggestive776 als logisch argumentative Gedankengang das, was Paulus mit der Kundgabeformel in Gal 3,7 als These postuliert hat: γινώσκετε ἄρα ὅτι οἱ ἐκ πίστεως, οὗτοι υἱοί εἰσιν Ἀβραάμ. Wichtiger als dieser Schluss ist Paulus offensichtlich die am Anfang der suggestiv-assoziativen Beweiskette in Gal 3,26–29 stehende Bezeichnung der Glaubenden und Getauften als »Söhne Gottes«, für die er in Gal 4,1–7 einen rhetorischen »Beweis« anfügt, der wiederum durch die suggestive Kraft von Assoziationen Plausibilität erzeugen soll. Um die argumentative Strategie des Paulus in Gal 4,1–7 zu durchschauen, darf man die einzelnen Aussagen nicht als Teile eines – mehr oder weniger vollständigen – Syllogismus verstehen; dies endet in der ausweglosen Suche nach formal-logischen Zusammenhängen, die im Text nicht gegeben und nicht intendiert sind. Zunächst ist zu beachten, dass es sich in Gal 4,1f. um ein Beispiel (παραβολή oder similitudo) handelt. Dabei geht es nicht um eine didaktisch-pädagogische Illustration, sondern – wie bereits zu Gal 3,15 angemerkt – um ein Beweismittel: Aufgrund des Aufweises von Ähnlichkeit soll ein unzweifelhafter und durchschaubarer Vorgang einem zweifelhaften Sachverhalt Glaubwürdigkeit verleihen (vgl. S. 354f.). Dabei müssen Bild und Sache zunächst je für sich betrachtet werden und erst dann kann man fragen, wie Paulus sie zueinander in Verbindung gesetzt wissen will und worin die Ähnlichkeit besteht, die für die Sache Plausibilität und Überzeugung schaffen soll.777 775 So Lietzmann, Galater (HNT) 24; Schlier, Galaterbrief (KEK) 174–176; Burton, Galatians (ICC) 207–210; Fung, Galatians (NICNT) 177f.; Martyn, Galatians (AB) 377; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 146f.; Rohde, Galater (ThHK) 166; Wolter, Paulus 138; ähnlich Schneider, Galater (GSL) 91; Dunn, Galatians (BNTC) 208; vorsichtiger Vouga, Galater (HNT) 92; Lührmann, Galater (ZBK) 68. Ablehnend dagegen Mußner, Galaterbrief (HThK) 265f. Sein Argument, das Syntagma εἷς ἐστε ἐν Χτιστῷ Ἰησοῦ lasse eine solche Deutung nicht zu, greift m. E. jedoch nicht. Denn das ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ist das Ergebnis des εἰς Χριστόν der Taufe, das Paulus in Gal 3,27 durchaus konkret und realistisch versteht. Außerdem bleibt bei Mußner die Frage offen, wozu Paulus in Gal 3,16 den Singular von σπέρμα so nachdrücklich betont, zumal mit dem ausdrücklichen Zusatz ἀλλ’ ὡς ἐφ’ ἑνός. Genau darauf scheint Gal 3,28f. zu antworten und zu erklären, wie die vielen Galater der eine »Same Abrahams« sein können, der der Erbe (und damit Empfänger der Verheißung) ist. 776 Vouga, Galater (HNT) 89, spricht im Blick auf Gal 3,26–29 von einem »System von Implikationen«. Vgl. auch Longenecker, Galatians (WBC) 150f. 777 Dazu auch Lausberg, Handbuch § 421. Insofern ist Skepsis angebracht gegen alle Versuche einer Auslegung von Gal 4,1–7, die beinahe allegorisierend das »Bild« Zug für Zug auf die »Sache« übertragen wollen und schließlich doch einschränkend feststellen, dass »Bild- und Sachhälfte« einander nicht völlige entsprechen. So z. B. bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 268; Matera, Galatians (Sacra Pagina) 154–156. Dagegen betont zumindest Lührmann, Galater (ZBK) 68f.: »Paulus wertet diesen Vergleich nicht in den Einzelzügen aus, sondern nur in

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5. Der Brief an die Galater

Durch die Einleitung λέγω δέ kennzeichnet Paulus das Beispiel ausdrücklich als eine Erläuterung der vorausgehenden Ausführungen. Durch das Stichwort κληρονόμος ist das Beispiel mit Gal 3,29 verbunden und erscheint so als weiterführende Erklärung zu dem Heilsstatus, den die Getauften durch den Glauben in Christus erlangt haben. Das von Paulus gebrauchte Beispiel ist der seinen Adressaten aus dem Alltag vertraute und deshalb einsichtige Fall eines beim Tod des Erblassers noch unmündigen Erben, der nicht frei über sein Erbe verfügen kann, sondern bis zu seiner Volljährigkeit einem testamentarisch eingesetzten Vormund anvertraut ist (vgl. die Regelungen des Testamentes P.Oxy. III 491,6–10 [= MChr. 304; 126 n. Chr.]).778 In dieses verständliche und nachvollziehbare Beispiel aus dem Bereich des Erbrechts greift Paulus modifizierend ein. Indem er zum einen ausdrücklich betont, dass sich die Stellung eines unmündigen Erben unter Vormundschaft im Haus nicht von der eines Sklaven unterscheidet, und zum anderen statt von dem in solchen Fällen üblichen einen Vormund von einer Mehrzahl von Aufsehern und Vermögensverwaltern spricht (zur rechtsgeschichtlichen Problematik S. 257), verschiebt er den Akzent von der fehlenden Verfügungsgewalt über das ererbte Vermögen in Richtung Unfreiheit und Fremdbestimmung.779 Außerdem löst er durch den Zusatz ἄχρι τῆς προϑεσμίας τοῦ πατρός das Ende der Unmündigkeit vom Automatismus des Eintritts der gesetzlich geregelten Volljährigkeit.780 Diese beiden wegen ihrer Ungewöhnlichkeit auch für die ursprünglichen Adressaten auffälligen Punkte sind für die Übertragung des Beispiels auf den Sachverhalt entscheidend: 1. Der unmündige Erbe steht unter fremder Gewalt, nicht der mündige, und 2. der Erblasser verfügt das Ende der Unmündigkeit. Bei der Übertragung ist zudem zu beachten, dass sich von den Glaubenden und Getauften wohl kaum behaupten lässt, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt zugleich Unmündige und Erben waren.781 Mit der Taufe sind sie – wie Paulus der Pointe, daß der, der (wie ein) Sklave war, nun bei Antritt seiner Erbschaft die Rechte eines Sohnes erhält.« 778 Zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Vouga, Galater (HNT) 99; Oepke, Galater (ThHK) 127f. 779 Darauf, dass es nach hellenistischem Recht unüblich war, mehrere Vormünder einzusetzen, weist Becker, Galaterbrief (NTD) 61, hin. Zur Problematik der Vielzahl von Aufsehern für einen unmündigen Erben und zur Diskussion über einen möglichen rechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Longenecker, Galatians (WBC) 162–164. 780 Rohde, Galater (ThHK) 167, erklärt ohne Angaben von Quellen/Belegen, dass im hellenistischen Recht anders als im römischen der Zeitpunkt der Volljährigkeit nicht genau festgelegt gewesen sei, so dass für den Vater die Möglichkeit bestand, im Testament den Zeitpunkt dafür selbst festzulegen. Ähnlich Bruce, Galatians (NIGTC) 192f., mit Hinweis auf eine Bestimmung bei Justinian (inst. 1,14,3), die einer deutlich späteren Zeit angehört (außerdem wäre zu fragen, ob certum tempus hier wirklich mit ἡ προϑεσμία τοῦ πατρός identisch ist, oder nicht allgemein nur »festgesetzte Zeit« im Sinne von »gesetzlich festgelegter Zeitpunkt der Volljährigkeit« meint). 781 Gegen Vouga, Galater (HNT) 97f.

5.2 Analyse und Kontextualisierung

365

in Gal 3,29 festgestellt hat – Erben geworden und mit dem Glauben sind sie mündig geworden, weil – wie Gal 3,24f. zu entnehmen ist – das Gesetz, das als παιδαγωγός für die unmündigen Kinder zuständig ist, keine Macht mehr über sie hat. Deshalb darf οὕτως καὶ ἡμεῖς in Gal 4,3 auch nicht so verstanden werden, als würde es eine vollständige Entsprechung von »Bild« und »Sache« behaupten. Das οὕτως καὶ ἡμεῖς bezieht sich nämlich zunächst auf den von Paulus hervorgehobenen Sachverhalt der Unfreiheit: Als Unmündige waren die Christen – Juden wie Heiden gleichermaßen (vgl. Gal 4,3.8) – versklavt, und zwar unter τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου (was polemisch abwertend gleichermaßen das jüdische Gesetz als auch das heidnische Pantheon bezeichnen soll)782. Mit dem Eintreffen des vom »Vater« festgesetzten Zeitpunktes, den die Bezeichnung »Fülle der Zeit« als apokalyptische Zeitenwende qualifiziert (vgl. Gal 1,4),783 wurden die Christen durch die Sendung des »Sohnes« von der Macht des Gesetzes »freigekauft« und durch Adoption von Gott als seine Söhne angenommen (Gal 4,4f.). Auf der Grundlage des Beispiels des unmündigen Erben in Gal 4,1f. evoziert Paulus – wohl ebenfalls in der Funktion eines Beispiels (παραβολή oder similitudo; vgl. S. 354f.) – in Gal 4,4f. das Bild des Sklaven, der von seinem Herrn testamentarisch adoptiert wird und damit den Status des Freien und Erben erhält.784 Durch diesen zwar nicht alltäglichen, aber dennoch lebensweltlich vertrauten Vorgang schafft Paulus auf dem Weg der Assoziation und Suggestion eine gewisse, wenn auch rational nicht völlig einholbare, Plausibilität für den Zusammenhang der soteriologisch gefüllten Begriffe διαϑήκη, κληρονόμος und υἱός, die die vorausgehende Argumentation bestimmten. Der Kontrast der beiden parallelen temporalen Nebensätze ὅτε ἦμεν νήπιοι und ὅτε δὲ ἦλϑεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου in Gal 4,3.4 verdeutlicht, dass Loskauf und Adoption auch das Ende der Unmündigkeit bedeuten. Als Indiz dafür, dass die Galater mit der Taufe »Söhne Gottes« geworden sind, führt Paulus in Gal 4,6 den Gebetsruf »Abba, Vater« an (dazu bereits S. 348). Der Status des »Sohnes« aber bedeutet, wie Paulus zusammenfassend in Gal 4,7 hervorhebt, 782 Vgl. Schlier, Galater (KEK) 193f.; Rohde, Galater (ThHK) 168f.; Schneider, Galater (GSL) 103. Anders Vouga, Galater (HNT) 99f., der τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου auf die vier Elemente und damit auf die materielle und geschaffene Welt deutet. Davon ausgehend interpretiert er Gal 4,3 im Licht von Röm 1,18–23 dahingehend, dass die Galater in ihrer vorchristlichen Zeit als Heiden unter der materiellen Welt versklavt waren, weil sie als Diener der Götter die Schöpfung mit dem Schöpfer verwechselten (vgl. Gal 4,8f.). Longenecker, Galatians (WBC) 165f., bezieht τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου allein auf das jüdische Gesetz als unvollkommene und weltliche Anfangsgründe der wahren geistlichen Lehre. 783 Vgl. Vouga, Galater (HNT) 101; Radl, Galaterbrief (SKK) 63. 784 Näheres zum rechtlichen Hintergrund bei M.-L. Deißmann–Merten, Adoption. DNP 1 (1996) Sp. 122–124; G. Schiemann, Freilassung. DNP 4 (1998) Sp. 653–656. Vgl. auch Vouga, Galater (HNT) 102. Entgegen der Ausführungen bei Mußner, Galaterbrief (HThK) 268, kann ein Sklave sehr wohl Erbe seines Herrn werden, mit oder ohne testamentarischer Adoption. Mit dem Eintritt des Erbfalls wird er frei, wenn er auch, wie alle anderen Freigelassenen, nur über eingeschränkte Bürgerrechte verfügt.

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5. Der Brief an die Galater

dass der Christ nicht mehr Sklave ist, und dass er Erbe ist – und zwar διὰ ϑεοῦ, d. h. durch Gottes Handeln in der Hingabe des »Sohnes«, nicht durch leibliche Abstammung von Abraham, nicht durch Beschneidung und nicht durch Werke des Gesetzes.785 Das »Argument« in Gal 4,1–7 lautet also: Unmündige Erben stehen unter fremder Gewalt, nicht aber mündige. Durch Gottes Fügung sind die Christen durch den Kreuzestod Christi Jesu, der den Fluch des Gesetzes gebrochen hat, von der Knechtschaft unter allen fremden Mächte, einschließlich dem Gesetz, befreit und dadurch mündig geworden. Aufgrund des Glaubens an Christus Jesus haben sie bei der Taufe die Gabe des Geistes empfangen und kraft der Verheißung an Abraham haben sie, die einst »Sklaven« waren, in Christus durch Gott den Status von »Söhnen« und »Erben« erlangt. Deshalb ist es paradox, wenn die Galater, auf die Predigt der judenchristlichen Missionare hin, sich durch die Beschneidung auf das Gesetz verpflichten wollen, aus dem Christus Jesu durch seinen Tod diejenigen losgekauft hat, die unter dem Gesetz waren. Denn dadurch unterwerfen sie sich erneut fremder Verfügungsgewalt und werden erneut unmündig und wie Sklaven, wenn sie vielleicht auch Erben bleiben. Darauf zielen auch die anklagenden Fragen des Paulus an seine Adressaten in Gal 4,8–10.786 Das Ergebnis der refutatio ist: Was die Galater mit Beschneidung und Gesetzesobservanz erreichen wollen, besitzen sie schon, und das, was ihnen die »Gegner« versprechen, führt nicht ans Ziel. Es gab nämlich keine Privilegien und Vorrechte der Juden. Unter dem Gesetz war ihre Situation wie die der Heiden; auch sie waren Sklave und Unmündige und bedurften der Erlösung durch Christus, in der sich die Abraham gegebene Verheißung des Heils erfüllt hat, die durch das Gesetz nie aufgehoben und modifiziert wurde. Um als »Söhne Abrahams« Anteil am von Gott verheißenen eschatologischen Heil zu erlangen, ist es folglich, entgegen der Behauptungen der konkurrierenden judenchristlichen Missionare, nicht nötig, zuvor durch die Beschneidung dem Volk »Israel« (vgl. Gal 6,16) eingegliedert und dem Gesetz unterstellt zu werden – es genügt die Aneignung der Heilstat Gottes in Christus Jesus durch Glaube und Taufe. Auswertung: Die Analyse hat gezeigt, dass sich im Galaterbrief durchaus Techniken des Überzeugens und Argumentierens finden lassen, wie sie auch in den antiken Rhetorikhandbücher beschrieben und empfohlen werden. Spezifisch rhetorisch ist vor allem die Art der Argumentation, die zum einen auf verkürzten Syllogismen, sog. Enthymemen (dazu S. 157)787, zum anderen auf 785

Vgl. Mußner, Galaterbrief (HThK) 277. Gegen Betz, Galaterbrief 371, der die Fragen als eine weitere interrogatio versteht. 787 Auch Longenecker, Galatians (WBC) cxvf., verweist auf die Bedeutung von Enthymemen für die Argumentation im Galaterbrief. 786

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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der mit der Verwendung von Beispielen verbundenen Induktion (dazu S. 355) beruht. Neben den genannten Techniken ließe sich zusätzlich auf die sentenzenartigen Formulierungen im dritten Hauptabschnitt der Corpusmitte verweisen (Gal 5,14[.15]; 6,5.7.9; vgl. S. 262), mit denen Paulus an den Rand dessen gelangt, was nach der antiken Brieftheorie in einem Brief zulässig ist, die sich nichts desto trotz wegen ihrer besonderen Überzeugungskraft auch in (philosophischen) Lehrbriefen reichlich finden. Die Sentenz (γνώμη oder sententia) ist eine knapp und prägnant formulierte Lebensweisheit, die (tatsächlich oder vorgeblich) eine allgemeine Erfahrungstatsache wiedergibt; da sie deshalb für sich in Anspruch nehmen kann, mit der gewöhnlichen Ansicht übereinzustimmen, bedarf sie keiner Begründung und kann als unhinterfragbare Prämisse weiterer Schlussfolgerungen dienen oder auch eine Argumentation ersetzen (vgl. Aristot. rhet. 2,21,2–8 [1394a–b]; Quint. inst. 8,5,1–6.25–34).788 Als Ausdruck einer allgemeinen Tatsache rücken die rhetorischen Handbücher die Sentenz in die Nähe der πίστεις ἄτεχνοι. Als Ausdruck von Lebensweisheit appellieren Sentenzen an die Emotionen der Hörer/Leser und geben der Rede einen ethischen Charakter (vgl. Aristot. rhet. 2,21,15f. [1395a–b]) – Wirkungen, die sich auch Paulus im Galaterbrief zu Nutzen macht. Insgesamt besteht die Nähe des Galaterbriefes zur Rhetorik, nicht anders als beim Philemonbrief, darin, dass er sich nicht einer streng rationalen und rein sachlichen Argumentation bedient, sondern seiner Position, ganz in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der antiken Rhetorikhandbücher, mit Hilfe von Ethos, Pathos und Logos Überzeugungskraft bzw. Plausibilität verleihen will (vgl. S. 160). Um zu verstehen, warum, wozu und wie Paulus diese drei Komponenten als Überzeugungsmittel einsetzt, ist zuerst ein Blick auf die spezifische, durchaus problematische Ausgangslage des Paulus in der brieflichen Kommunikation mit den Galatern nötig. Das Problem des Paulus besteht nicht allein in der räumlichen Trennung, die seine Intervention erschwert (vgl. Gal 4,20). Das Problem ist vielmehr, dass in Galatien Konkurrenten aufgetreten sind, die ganz offensichtlich überzeugend waren, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie gute Argumente hatten. Denn, da die Forderung der Beschneidung und Gesetzesobservanz unbestreitbar ein Teil der »Schrift« ist, hat Paulus als zwingendes Argument die Autorität der »Schrift« selbst gegen sich. In dieser Situation muss Paulus einen Beweis oder zumindest Überzeugungsgründe dafür schaffen, dass entgegen der in der »Schrift« begründeten Lehre seiner Konkurrenten von den Galatern um des Heiles willen weder Beschneidung noch Gesetzesobservanz gefordert sind – im Gegenteil, dass sie dadurch sogar den mit Glaube und Taufe erlangten Status infrage stellen. 788 Näheres zur Verwendung und Funktion von Sentenzen in der Rhetorik bei Martin, Rhetorik 122–124; Ueding/Steinbrink, Grundriß 269–272; Lausberg, Handbuch §§ 872– 879; zur Verwendung von Sentenzen im Brief und ihren Grundlagen in der antiken Brieftheorie vgl. auch Klauck, Ancient Letters 188; ders., Briefliteratur 152.

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5. Der Brief an die Galater

Dazu verweist er sie auf das christliche Bekenntnis, dass das Heil in der Hingabe des Sohnes, d. h. im Tod Christi Jesu am Kreuz, begründet ist. Wenn die Galater, die dieses Bekenntnis bereits im Glauben angenommen haben, sich nun um ihres Heiles willen zusätzlich beschneiden lassen und auf das Gesetz verpflichten, relativieren und entwerten sie diese Heilstat Gottes in Christus Jesus. Außerdem muss er versuchen, das in der »Schrift« begründete Autoritätsargument der Gegner zu entkräften, indem er die »Schrift« gegen sie und ihre Forderung von Beschneidung und Gesetzesobservanz zum Sprechen bringt. All dies bewegt sich im Bereich des λόγος.789 Dies ergänzt Paulus durch Ausführungen, die seine moralische Integrität und Lauterkeit, seine Autorität als Lehrer und Apostel, aber auch seine besondere von Gott verliehene Kompetenz für die Mission unter den Heiden herausstellen. Diese Aussagen, die bei den Adressaten ein andauerndes Gefühl des Wohlwollens, des Respekts und der Anerkennung für den Absender hervorrufen und sie für seine Ausführungen empfänglich machen sollen, gehören in den Bereich des ἦϑος.790 Hinzukommen direkte Anreden an die Galater, die einerseits als Komplimente an ihr »gutes Herz« appellieren, andererseits durch einen harten und mitunter sogar verletzenden Ton aufrütteln wollen. Diese Passagen, die kurze heftige Affekte, in Form der Zuneigung zu Paulus, aber auch der Scham über das eigene Verhalten auslösen sollen, gehören zum Bereich des πάϑος.791 Insoweit scheinen sich die Strategie und Taktik des Galaterbriefes nicht grundlegend von der des Philemonbriefes zu unterscheiden. Beim Galaterbrief aber stand Paulus vor der besonderen Schwierigkeit, dass sein eigener Standpunkt, das gesetzes- und beschneidungsfreie Evangelium, in der Auseinandersetzung mit den judaisierenden Konkurrenten in Galatien kaum oder nur schwer zu begründen war.792 Die »Gegner« hatten die Autorität der »Schrift« 789 Vgl. Martin, Rhetorik 96f. Den Sachargumenten (auch πρᾶγμα oder πίστεις λογικαί) ist die Funktion bzw. Wirkabsicht des docere und probare zugeordnet; dazu Ueding/Steinbrink, Rhetorik 280. 790 Vgl. Martin, Rhetorik 96f. und 159f. Den auf dem Charakter des Redners beruhenden Überzeugungsgründen (πίστεις ἠϑικαί) ist die Funktion bzw. Wirkabsicht des delectare und conciliare zugeordnet; vgl. Ueding/Steinbrink, Rhetorik 281. 791 Ausführlich zur rhetorischen Lehre von den πάϑη Martin, Rhetorik 96f. und 160–166. Den auf heftigen Gefühlsregungen beruhenden Überzeugungsgründen (πίστεις παϑητικαί) ist die Funktion bzw. die Wirkabsicht des movere und concitare zugeordnet; vgl. Ueding/Steinbrink, Rhetorik 281f. 792 Vgl. auch Mack, Rhetoric 72f. Aus der Sicht der antiken Rhetorik gehörte die Fragestellung des Galaterbriefes sicher zum genus obscurum, d. h. zu jenen Gegenständen, die für die Zuhörer nur schwer verständlich und zu durchschauen sind. Wegen der Infragestellung von Gesetz und Beschneidung und damit der zentralen Einrichtungen, auf die das Judentum und auch noch Teile des Judenchristentums ihr besonderes und exklusives Gottesverhältnis gründeten (Erwählungsgedanke), musste die von Paulus im Galaterbrief vertretene Position für einen Teil seiner Zuhörer auch als ein Gegenstand erscheinen, der dem genus turpe zugeordnet werden konnte, also zu jenen Fragestellungen und Gegenständen, die bei den Hörern/Le-

5.2 Analyse und Kontextualisierung

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auf ihrer Seite. Denn die »Schrift«, deren Autorität sich auch Paulus verpflichtet wusste, verband den Bundesschluss mit Abraham und den Bundesschluss am Sinai mit der Forderung nach Beschneidung und schärfte in all ihren Teilen die Treue zum Gesetz als Weg zum Heil ein. Im Wissen darum folgt Paulus dem Rat der antiken Rhetorik, die empfiehlt, dann, wenn die eigene Sache mit Argumenten nur schwer als die überlegene und zutreffende zu erweisen ist, solle man auf die Gegner/Konkurrenten, d.h. ihren Charakter ausweichen (vgl. Quint. inst. 4,1,44).793 Um ihre Position zu schwächen und ihre Sache in Misskredit zu bringen, solle man sich bemühen, sie zu diffamieren, indem man ihren Charakter in Zweifel zieht und ihnen unlautere Motive und Absichten unterstellt. Die antiken Rhetorikhandbücher empfehlen dem Redner vor allem im Schluss (peroratio) noch einmal die Zuhörer emotional gegen seine Konkurrenten aufzubringen, indem man ihre negativen Eigenschaften und Motivationen herausstellt (indignatio/δείνωσις; vgl. Cic. inv. 1,98.100f.; Rhet. Her. 2,48f.), ein Rat den auch Paulus offensichtlich in Gal 6,11–13 befolgt (dazu auch S. 333).794 Damit kontrastiert er in Gal 6,14f., ebenfalls entsprechend den Empfehlungen der Rhetorikhandbücher, Aussagen, die bei den Adressaten positive Affekte für ihn wecken sollen (conquestio; vgl. Cic. inv. 1,98.106–109; auch Rhet. Her. 2,47.50).795 Zur Stärkung der eigenen Position bemüht Paulus sich deshalb, dass seine Konkurrenten in den Augen der Galater als nichts anderes erscheinen denn als Nachfolger jener eingeschlichenen Falschbrüder im Umfeld der Jerusalemer Übereinkunft und jener Jakobusleute in Antiochia, gegen deren Sache längst entschieden ist, die aber als uneinsichtige Querulanten immer noch absichtlich und eigensüchtig den Frieden, die Ordnung und das Zusammenleben in den christlichen Gemeinden stören. Dabei muss Paulus jedoch vermeiden, dass seine Angriffe zu übermäßig und dominant werden, damit sein Brief bei den Adressaten nicht den Eindruck einer bloßen und vielleicht sogar bösartisern Anstoß erregen konnten. Weil die Frage, wie der behandelte Sachverhalt und die eigene Position von den Zuhörern wahrgenommen werden, darüber entschied, welche argumentativen Strategien die Rede wählen musste und welche besonderen Widerstände ihrer Akzeptanz entgegenstanden, war die Klärung der Fragestellung unter diesem Aspekt bei der Vorbereitung des Redners von besonderer Relevanz. Vgl. Martin, Rhetorik 24–26. 793 Vgl. Fuhrmann, Rhetorik 86. Die Faustregel bei Quint. inst. 4,1,44 für alle schwierigen Fälle lautet: … Illud in universum praeceperim, ut ab iis quae laedunt ad ea quae prosunt refugiamus: si causa laborabimus, persona subueniat, si persona, causa; si nihil quod nos adiuvet erit, quaeramus quid adversarium laedat; nam ut optabile est plus favoris mereri, sic proximum odii minus. Diese Faustregel, die von Quintilian eigentlich im Kontext der Gerichtsrede formuliert worden ist, darf sicher – mutatis mutandis – auch auf die beiden anderen Redegattungen übertragen werden. 794 Dazu Lausberg, Handbuch § 438. Smit, Letter 54f., spricht auch bei Gal 5,7–12 von einer indignatio. 795 Vgl. Lausberg, Handbuch § 439. Zu dieser Funktion von Gal 6,14f. (ohne Verweis auf die antike rhetorische Theorie) auch Schewe, Galater 198f.

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5. Der Brief an die Galater

gen Invektive erweckt. Das Ziel des Paulus musste deshalb sein: nicht mehr an Angriff als nötig, soviel an sachlicher Argumentation wie möglich.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation Als Ergebnis der Analyse des Galaterbriefes kann festgehalten werden, dass dieser Brief des Paulus unter verschiedenen Aspekten nicht nur als überaus überlegt konzipiert gelten kann, sondern dass er sich zudem – trotz seines spezifisch christlichen Inhalts – ohne Schwierigkeiten formal und funktional in den Kontext der zeitgleichen griechisch-römischen »Briefkultur« einordnen und vor diesem Hintergrund erklären und verstehen lässt. Denn trotz der signifikanten und dominierenden paulinischen Modifikationen im Präskript und Postskript steht der Galaterbrief – wie die Briefe des Paulus insgesamt – hinsichtlich des Briefformulars und vor allem im Gebrauch der epistolaren Formeln in unleugbarem Zusammenhang mit den Konventionen des griechischrömischen Briefes, die in gleichem Maße die Form und Gestalt der literarischen wie der nichtliterarischen Briefe prägen. Diese Vorgaben hat Paulus im Galaterbrief nicht nur mechanisch umgesetzt, sondern in einer nach dem Usus der Zeit keineswegs üblichen und geforderten Weise bedacht den kommunikativen Anforderungen der konkreten Briefsituation angepasst, um den Adressaten unmissverständlich die von ihnen verschuldete Störung in der Beziehung zueinander vor Augen zu führen.796 Mögen seine ungewöhnliche Länge und sein komplexer Inhalt sowie der an einigen Stellen unfreundliche und harte Ton zunächst zwar anderes vermuten lassen, so zeigt sich der Galaterbrief des Paulus bei einer genaueren Prüfung doch in einem überraschend hohen Maße den Prinzipien der kaiserzeitlichen Brieftheorie verpflichtet. Denn trotz der scharf tadelnden Anrede der Adressaten kann dem Galaterbrief die in der Brieftheorie grundgelegte Orientierung am Freundschaftsbrief nicht abgesprochen werden. Dies zeigt der philophronetische Passus Gal 4,12–20, in dessen Licht Tadel und Mahnung als Ausdruck der verletzten Zuneigung und als Mittel der aufrichtigen und andauernden freundschaftlichen Sorge des Paulus um seine Adressaten erscheinen. Außerdem sind Sprache und Stil des Galaterbriefes zu nennen, die im Einklang mit den Forderungen der antiken Brieftheorie einfach, aber dennoch gepflegt und 796 Paulus geht dabei nicht im eigentlichen Sinn kreativ vor, indem er etwas Neues schafft, aber er schöpft das von der Tradition zur Verfügung gestellte Repertoire aus, indem er z. B. auf eine ältere Form der Kundgabeformel zurückgreift, die wegen des Verzichts auf die mittlerweile übliche höfliche Umschreibung auffällt und fordernd und unfreundlich klingt (vgl. Gal 3,7). Ähnliches gilt für den zwar möglichen, aber in der Zeit des Paulus eher seltenen Verzicht auf die formula valetudinis am Anfang und/oder Ende des Corpus, zumal in Gal 3,1 in invertierter Form darauf angespielt wird.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

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sorgfältig sind, so dass die Extreme einer vulgären Alltagssprache und einer rein literarischen Kunstsprache gleichermaßen vermieden sind. Ausgehend von den Überlegungen zum Einfluss der Rhetorik im Galaterbrief kann man zudem sagen, dass sich Paulus in diesem Brief seinen Lesern als ein Verfasser präsentiert, der vor der Abfassung des Briefes nicht nur eine klare Vorstellung von dem hat, was er schreiben will, sondern auch davon, wie er es schreiben will. Dies gilt nicht deshalb, weil der Galaterbrief – wie Hans Dieter Betz nachzuweisen versucht hat – nach dem Idealschema einer antiken Gerichtsrede aufgebaut wäre.797 Das planmäßige Vorgehen des Paulus bei der Konzeption und Abfassung des Galaterbriefes besteht auch nicht einfach darin, dass er für seine Argumentation rhetorische Beweisverfahren heranzieht. Der vorliegende Brief legt vielmehr deshalb einen planenden und überlegenden Verfasser nahe, weil er eine klare Strategie erkennen lässt, die mehr ist als nur die Konstruktion einer Reihe von Einzelargumenten und ihre Anordnung nach einem bewährten Musterschema. Paulus hat sich offenbar vor Abfassung des Briefes nicht nur die Frage gestellt, was er erreichen will, sondern auch – wie es die antike Rhetorik einem Redner empfiehlt – genau bedacht, wie seine Sache bei den Adressaten ankommen wird, auf welche Widerstände und Vorbehalte sie bei ihnen treffen kann oder muss, und wie er sie am besten überwinden kann, um sein Ziel zu erreichen.798 Das Ergebnis dieses Abwägens und Planens ist ein Brief, der im Wissen um die Schwierigkeiten bei der Begründung der eigenen Position gezielt auch auf die Diskreditierung seiner Konkurrenten und ihrer Absichten setzt. Das bedeutet freilich nicht, dass sich die Konzeption des Galaterbriefes darin erschöpft. Denn ein überlegtes Vorgehen des Paulus bei der Abfassung des Galaterbriefes lässt bereits das Präskript erahnen. Mit der auffälligen Erweiterung der superscriptio und salutatio um zentrale Aussagen des christlichen Bekenntnisses (Gal 1,1.4), die im weiteren Verlauf des Briefes an entscheidenden Stellen variiert und modifiziert wieder aufgegriffen werden (Gal 797 Hierin bestand für Betz ein wesentlicher Ertrag, aber auch die Motivation seiner rhetorischen Analyse des Galaterbriefes; vgl. dazu die Ausführungen auf S. 102. Die von Betz vertretene Gliederung des Galaterbriefes nach dem Idealschema einer Rede setzt nämlich nicht nur voraus, dass Paulus über Kenntnisse und eine Ausbildung in der Rhetorik verfügte, sondern dass er bei der Abfassung des Galaterbriefes auch nach dem für einen Redner üblichen Verfahren vorging, d. h. zunächst den Stoff sammelte (εὕρεσις/inventio), ihn ordnete (τάξις/dispositio) und dann erst den Brief ausformulierte (λέξις/elocutio). Zu den Aufgaben des Redners bzw. Produktionsstadien einer Rede und ihrem möglichen Einfluss bei der Abfassung eines Briefes vgl. auch die Anmerkungen auf S. 103–105. Anmerkungen zur rhetorischen Gliederung als Ausdruck einer bewussten Gestaltung, die bei der Interpretation des Galaterbriefes zu beachten ist, auch bei Lüdemann, Paulus 1, 63–65. 798 Insofern ist im Rückblick auf die Ausführungen in Abschnitt 5.2.6 dieser Studie zu fragen, ob und inwiefern man im Blick auf den Galaterbrief tatsächlich mit Schnelle, Einleitung 118, formulieren kann: »Als Element seiner kulturellen Umwelt nahm Paulus die Rhetorik auf, zum bestimmenden Faktor seiner Argumentation wurde sie nicht.«

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5. Der Brief an die Galater

2,20; 3,[1.]13; 4,4f.; 6,14), legt er die Grundlage für das zentrale Anliegen des Briefes: das Einschärfen der Rechtfertigung allein aus Glauben als konsequente und allein adäquate Interpretation des Bekenntnisses zur Erlösungstat Gottes in Christus Jesus. Treffen die Ergebnisse der vorgelegten Analyse des Galaterbriefes zu, so muss man annehmen, dass der Niederschrift dieses Briefes zumindest ein längerer Prozess des Überlegens vorausging, wenn man nicht sogar damit rechnen muss, dass Paulus zuerst einen Entwurf erarbeitete, den er anschließend nochmals korrigierte und eventuell mehrmals überarbeitete, bevor die endgültige Fassung des Briefes in einer oder mehreren Ausfertigungen an die Gemeinden in Galatien verschickt wurde (vgl. S. 218).799 Dass es in der Zeit des Paulus nicht ungewöhnlich war, für längere Briefe einen Entwurf anzufertigen, ist durch BGU IV 1141 (13 v. Chr.) belegt.800 Dabei handelt es sich um den Entwurf für einen Brief, mit dem sich offensichtlich ein Freigelassener, der sich von seinen Patron zu unrecht verdächtigt fühlte, bei diesem rechtfertigen will. Es ist demnach nicht unwahrscheinlich, dass auch Paulus bei der schwierigen Situation in Galatien, die von ihm eine differenzierte briefliche Intervention verlangte, nicht auf die schlechten Nachrichten hin spontan einen Brief diktierte und diesen ohne jede weitere Durchsicht an die Galater übermitteln ließ, nachdem er sein eigenhändiges Subskript angefügt hatte.801 Dass Paulus sich bei der Abfassung des Galaterbriefes eines Sekretärs (amanuensis) bediente, steht außer Zweifel. Denn der ausdrückliche Eigenhändigkeitsvermerk in Gal 6,11, der den Schlussabschnitt eröffnet, gibt zu erkennen, dass Paulus die vorausgehenden Teile des Briefes, wie in seiner Zeit üblich, nicht selbst geschrieben, sondern diktiert hat (vgl. S. 241).802 Damit stellt sich beim Galaterbrief, wie bei den anderen Paulusbriefen, die Frage nach einem 799 Vgl. Betz, Galatians (Hermeneia) 1 und 312 (in der deutschen Ausgabe fehlen diese Hinweise). Entsprechende Überlegungen für die Abfassung der Paulusbriefe insgesamt auch bei Richards, Paul 19–31. 800 Text mit Übersetzung und Kommentar bei Olsson, Papyrusbriefe 44–53 [Nr. 9]; ausführlich zu diesem Brief bereits S. 284, Anm. 477. Ein Beispiel dafür, dass man auch für kürzere Briefe Entwürfe angefertigte, ist der in den Kontext des amtlichen Briefverkehrs gehörende P.Tebt. I 26 (114 v. Chr.), der im Anschluss an die Kopie eines eingegangenen Briefes eines Vorgesetzten (Zeilen 1–10), den Entwurf für ein Schreiben an diesen enthält (Zeilen 11–24 = WChr. 330). Die Reinschrift dieses Briefes, die vom Entwurf leicht abweicht, hat sich ebenfalls erhalten: T.Tebt. IV 1099 (= P.Tebt. I 142 descr.; 114 v. Chr.). Text, englische Übersetzung und Einführung zu den beiden Papyri bei White, Light 82f. [Nr. 46 und 47]. Nach Olsson, Papyrusbriefe 17, ist die Anfertigung eines Entwurfes bei griechischen Privatbriefen zwar eher die Ausnahme als die Regel, erfolgte aber dann, wenn Sorgfalt gewünscht war. Zu Hinweisen in den Papyri auf die Praxis, für Briefe Entwürfe anzufertigen, vgl. auch White, Light 217. Bei den Römern scheint ein Entwurf oder Konzept dagegen auch bei Privatbriefen eher die Regel gewesen zu sein; vgl. Peter, Brief 29–35 (ausgehend von Aussagen in den Briefen Ciceros). 801 Gegen Rohde, Galater (ThHK) 11. 802 Vgl. Longenecker, Galatians (WBC) lix–lxi.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

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möglichen Anteil des Sekretärs an der Konzeption und Form des Briefes, zumal wenn es sich bei ihm nicht um einen angemieteten Berufsschreiber (ἐπιστολόγραφος), sondern wie bei Tertius in Röm 16,22 um ein Mitglied der Gemeinde oder vielleicht sogar um einen seiner engen Mitarbeiter gehandelt haben sollte (dazu bereits S. 98).803 Ähnliches wäre für die nicht namentlich genannten Mitabsender in der superscriptio des Galaterbriefes zu bedenken (vgl. S. 123).804 Damit besteht auch beim Galaterbrief – wie schon zum Philemonbrief angemerkt – die Möglichkeit, dass das, was die Analyse als Zeichen epistolographischer und rhetorischer Kompetenz herausgearbeitet hat, nicht oder zumindest nicht allein Paulus zugeschrieben werden kann, wenn man auch bei diesen Fragen über Spekulationen nicht hinauskommen wird.805 Jedenfalls sollte man bei der Analyse und Interpretation des Galaterbriefes nicht vorschnell und unkritisch von einem zu simplen Modell seiner Entstehung und Abfassung ausgehen.806 Gegen ein spontanes Diktat ohne vorausge803

Für Tertius bestreitet Lohse, Römer (KEK) 415f., ohne jede nähere Begründung einen Anteil am Inhalt des Briefes. Differenzierter Theobald, Römerbrief (EdF) 112f. Reine Spekulation ist die Annahme bei Richards, Secretary 169–172, Tertius sei ein dem Paulus bekannter Christ gewesen, der zwar nicht zu seinem festen Mitarbeitstab gehörte, sich aber wegen seiner Fähigkeiten als Schnellschreiber für das Diktat des langen Römerbriefes empfahl. 804 Stirewalt, Paul 94–101 und 105f., diskutiert und interpretiert die Angabe der Mitabsender im Präskript des Galaterbriefes in einer Weise, die erhebliche Relevanz für die Frage der Umstände der Abfassung und damit auch der Auslegung des Briefes hat. In Analogie zur Gesandtschaft der Chloë in 1 Kor 1,11 (7,1) nimmt er an, dass auch aus den galatischen Gemeinden Gesandte zu ihm geschickt wurden, um die Frage der Beschneidung und Gesetzesobservanz zu erörtern und zu klären. Mit ihnen habe Paulus die Frage in mehreren langen und kontroversen Gesprächen erörtert. Während und nach dem Ende der einzelnen Zusammenkünfte habe er in Abschnitten den Brief diktiert; dabei seien seine eigenen, teils heftigen Erwiderungen auf die Aussagen der galatischen Unterhändler in den Brief eingeflossen. Am Ende habe er dann ohne eine weitere Revision den eigenhändigen Schluss angefügt und den Brief den galatischen Abgesandten anvertraut, damit sie ihre Gemeinden in Galatien über die Position des Paulus informierten. Eine solche hoch spekulative Hypothese ist zwar nicht per se unmöglich, aber ebenso wenig zu beweisen wie zu widerlegen. Die Frage der Mitabsender und ihres Einflusses auf Form und Inhalt des Galaterbriefes wurde bereits auf S. 215–217 besprochen (dabei auch eine Anmerkung zu Stirewalt). 805 Dazu auch Betz, Galaterbrief 530, der sich wegen der von einer bloßen Konventionalität abweichenden Originalität des Briefes für eine alleinige paulinische Verfasserschaft ausspricht. Ähnlich Oepke, Galater (ThHK) 198, der aus demselben Grund für den Galaterbrief und alle paulinischen Hauptbriefe betont, dass ihre Abfassung als »eigentliches Diktat« zu verstehen ist (d. h. Paulus hat sie syllabatim diktiert). Kritisch lässt sich jedoch fragen, ob ein Sekretär nicht kreativ und originell gewesen sein kann. 806 Vgl. auch Betz, Galaterbrief 33f.; Botha, Letter Writing 22f. Das »Modell«, nach dem man sich gewöhnlich die Entstehung des Galaterbriefes und der anderen Paulusbriefe vorstellt, dürfte dem entsprechen, was Cicero für ad Q. fr. 2,6 über die Abfassung dieses Briefes an seinen Bruder sagt: Er habe das Diktat des Briefes vor Tagesanbruch begonnen und untertags bei der Reise zum Landgut des T. Titius fortgesetzt (2,6,4). Im Unterschied zum Galaterbrief handelt es sich bei diesem Brief, was Inhalt und Aufbau betrifft um ein relativ »einfaches« und an-

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5. Der Brief an die Galater

hende Planung, Notizen und Entwürfe spricht vor allem die durchdachte, an rhetorischen Techniken orientierte Argumentation im lehrhaften zweiten Hauptteil der Corpusmitte, aber auch im autobiographischen Passus.807 Zweifelhaft ist, ob sich dies durch den Hinweis relativieren lässt, für das Diktat habe Paulus wahrscheinlich kein Schnellschreiber (ταχυγράφος) zur Verfügung gestanden, so dass er gezwungen war, den Brief einem eher ungeübten Schreiber langsam Silbe für Silbe zu diktieren.808 Denn dies bedeutete nicht, dass dem Verfasser so mehr Zeit zum Nachdenken und Konzipieren seines Gedankengangs bliebe, da ein langsamer Schreiber beim Diktat die beständige Aufmerksamkeit des Diktierenden erfordert und ihn immer wieder zum Innehalten zwingt, so dass ein bereits gefasster Gedanke leicht verloren gehen und der innere Zusammenhang aus dem Blick geraten kann (vgl. dazu Quint. inst. 10,3,19–21). Es steht demnach zu erwarten, dass Paulus sich vor dem Diktat des Galaterbriefes, gleichgültig wie geübt sein Schreiber war, zumindest ein Konzept erarbeitet und Stichpunkte notiert (oder, wie damals üblich, diktiert) hatte, an denen er sich beim Diktat des Briefes orientieren konnte.809 Diese Überlegungen sind vor allem deshalb von Relevanz, weil man in der Forschung immer wieder den gereizten und polemischen Ton des Briefes betont hat und daraus gefolgert hat, der Galaterbrief sei das im Affekt geschriebene Zeugnis der emotionalen Erregtheit seines Verfassers, in dem sich der impulsive und leidenschaftliche Charakter des Paulus ebenso unmittelbar und unverfälscht spiegle wie sein Zorn und Ärger, aber auch seine Verletztheit und Resignation angesichts der Vorgänge in den galatischen Gemeinden.810 Mit anspruchsloses Schreiben, das in einer simplen Aneinanderreihung von Fakten dem Adressaten in chronologischer Abfolge Tag für Tag berichtet, was zwischen dem 5. und 9. April 56 v. Chr. geschehen ist. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass Cicero zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes als überaus versierter Briefschreiber gelten muss, dem nicht nur aufgrund seiner Ausbildung, sondern mehr noch durch überaus reichliche Übung – anders wohl als Paulus – das Abfassen selbst komplexer Briefe aus dem Stegreif kaum große Mühe bereitete. 807 Anders Bruce, Galatians (NIGTC) 59, der zu Betzs Versuch einer rhetorischen Gliederung anmerkt: »Betz’s analysis corresponds well enough to the development of Paul’s argument; one may wonder, however, if in the excitement and urgency of the crisis with which he was suddenly confronted Paul would have been consciously careful to construct his letter according to the canons of the rhetorical schools.« 808 Zum Briefdiktat und seinen Vor- und Nachteilen vgl. Bahr, Paul 469–476; Richards, Secretary 25–43; Roller, Formular 16–20; Klauck, Ancient Letters 58f.; ders., Briefliteratur 64. Zu Schnellschreibern vgl. auch W. H. Gross, Tachygraphoi. KP 5 (1979) Sp. 486. 809 Fraglich ist, ob Gal 4,21 als unvermittelter Neueinsatz zu werten ist, der auf eine Diktierpause verweist, wie Radl, Galaterbrief (SKK) 72, angibt. Vorsichtiger Stirewalt, Paul 22. Denn selbst im Falle einer Diktierpause, derer es bei einem so langen Brief wie dem Galaterbrief sicher mehrere gab, ist wohl zu erwarten, dass Paulus sich den unmittelbar vorhergehenden Passus zuerst noch einmal vorlesen ließ, um bei der Fortsetzung des Diktats inhaltlich den Anschluss zu finden. 810 Vgl. unter anderem Marxsen, Einleitung 46; Theobald, Galaterbrief 356; Vielhauer, Geschichte 112.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

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deren Worten: Der Galaterbrief gilt als »durchpulst von der Erregung des Apostels« und als ein in weiten Teilen »im Zorn geschriebener, lodernder Brief«.811 Ein längerer Entwurfs- und Ausarbeitungsprozess wird damit für den Galaterbrief ebenso ausgeschlossen wie eine nachträgliche Überarbeitung. Im Hintergrund solcher Urteile steht bis heute Adolf Deißmanns radikale Abgrenzung des Briefes von der Epistel (vgl. S. 4). Als »echter Brief« konnte und durfte der Galaterbrief für ihn nichts anderes sein als der unmittelbare, ungekünstelte und authentische Ausdruck des Empfindens des Paulus. Deshalb lautete sein Urteil über den Galaterbrief, er sei »ganz aus der Leidenschaft geboren« und ein »Widerschein wetterleuchtender Genialität«.812 Als Beleg dafür, dass der Galaterbrief in seiner vorliegenden Gestalt von Paulus quasi aus dem Stegreif im Zustand höchster emotionaler Erregung diktiert und anschließend nicht noch einmal durchgesehen und redigiert wurde, gelten vor allem die Anakoluthe in Gal 2,4f. und 2,6.813 Anakoluthe weisen aber keineswegs zwangsläufig darauf hin, dass der Verfasser von seinen Gefühlen mitgerissen und überwältigt nicht (mehr) in der Lage ist, eine begonnene Satzkonstruktion zu Ende zu führen. Anakoluthe können bewusst als Mittel der sprachlichen Gestaltung eingesetzt sein, um gezielt die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Satzglied zu lenken oder den Eindruck von Emotionalität zu erwecken (vgl. S. 272). Außerdem muss man bei der Bewertung der Anakoluthe in Gal 2,4f. und 2,6 den Umstand des Briefdiktats bedenken. Bei der Indienstnahme eines Schnellschreibers wäre nach dem Diktat eine Reinschrift des Briefes erforderlich gewesen.814 Dabei hätte man einen Bruch in der Kon811 So Radl, Galaterbrief (SKK) 10; vgl. auch ebd. 12; ähnlich Oepke, Galater (ThHK) 29f., der jedoch betont, dass dies eine (gewisse) Planung nicht ausschließe, was sich in einer klaren Gliederung des Briefes zeige. 812 So Deißmann, Licht 201. Genau betrachtet beinhaltet diese Wertung zwei gegensätzliche Aussagen, nämlich die Behauptung der impulsiven Spontanität der Abfassung und die Anerkennung einer inhaltlichen und wohl auch formalen Qualität des Briefes. Der Widerspruch zwischen beiden Aussagen wird durch den Begriff der »Genialität« aufgelöst: Was gewöhnlich das Ergebnis der Anwendung erlernter und eingeübter Techniken ist, das ist nach der Überzeugung von Adolf Deißmann bei Paulus das Produkt einer natürlichen Begabung, die als eine religiöse über rein literarische Fertigkeiten hinausgeht. Damit schließt Adolf Deißmann aus, dass der Galaterbrief trotz gewisser formaler Fertigkeiten als Produkt literarischer Kunst als »Epistel« qualifiziert werden kann. Denn wäre er eine Epistel, wäre er nicht mehr unmittelbarer und ungekünstelter Ausdruck des religiösen Empfindens des Paulus und folglich für die Theologie wertlos (da nicht inspiriert, sondern konstruiert). 813 Vgl. Vielhauer, Geschichte 112; Anderson, Rhetorical Theory 131f. Insgesamt auch Stirewalt, Paul 20f., der die Anakoluthe in den Briefen des Paulus als Selbstkorrekturen sieht, aus denen sich erkennen lasse, dass Paulus seine Briefe aus dem Stegreif diktiert und anschließend nicht mehr überarbeitet habe. 814 Das Diktat an einem Schnellschreiber erfolgte meist auf Wachstafeln oder ähnlichem, da Papyrus kein schnelles Schreiben erlaubte. Anschließend erfolgte die Übertragung auf das Papyrusblatt bzw. die Papyrusrolle. Vgl. Roller, Formular 8f. Bereits für die Zeit des Paulus muss man zudem wohl ein System der Kurz- oder Schnellschrift annehmen, auch wenn die

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5. Der Brief an die Galater

struktion sicher getilgt, wenn er nur als Ungeschicklichkeit ohne stilistischen und inhaltlichen Wert erschienen wäre. Bei einem ungeübten Schreiber wäre das langsame und mühevolle Diktat Silbe für Silbe derartigen spontanen Gemütsaufwallungen des Absenders bzw. ihrer wortgetreuen Verschriftlichung nicht unbedingt entgegengekommen.815 Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man aus den Stimmungen und Empfindungen, die in den Worten bzw. im Stil und im Tonfall eines Briefes aufscheinen, überhaupt unbesehen und selbstverständlich auf die Emotionen, die Gesinnung und die Absichten des Verfassers bzw. Absenders schließen kann und darf. Solche Rückschlüsse setzen, ganz in der von Adolf Deißmann propagierten Sicht, voraus, dass der »echte Brief« grundsätzlich ein ungekünstelter und deshalb auch unmittelbarer Ausdruck der Person und des Empfindens seines Verfassers ist, weil er spontan und ohne literarische Überlegungen und Ambitionen geschrieben ist.816 Philologische Untersuchungen haben in den letzten Jahrzehnten jedoch verstärkt darauf aufmerksam gemacht, dass eine solche Sicht des antiken Briefes zu simpel ist. Auch das »briefliche Ich« im Privatbrief wurde und wird im Dienste der Selbstdarstellung des Absenders/Verfassers und im Blick auf die bei den/dem Adressaten intendierte Wirkung und die Funktion des Briefes bewusst (und teilweise wohl auch unbewusst) gestaltet (dazu S. 107). Dass man ein gezieltes Bemühen um eine adäquate und zweckdienliche Selbstdarstellung im Brief in der Antike zumindest bei gebildeten Absendern/Verfassern voraussetzen kann und muss und dass Briefe unter diesem Vorzeichen rezipiert wurden, liegt nicht allein aufgrund allgemeiner Erkenntnisse der modernen Psychologie, Soziologie und Kommunikationstheorie nahe, sondern folgt auch aus der gelehrten antiken Brieftheorie, die unter dem Stichwort εἰκὼν τῆς ψυχῆς die Aufmerksamkeit des Briefschreibers und -lesers auf diesen Punkt lenkt (vgl. S. 37). Für die Auswertung des Galaterbriefes als Zeugnis für das Innenleben des Paulus bedeutet das: Der Rückschluss aus dem leidenschaftlichen und teilweise zornigen Ton des Galaterbriefes auf die psychisch-emotionale Verfassung des Paulus beim Diktat des Briefes ist problematisch.817 Insofern ist gegenüber der Zeugnisse dafür nicht eindeutig sind. Im einzelnen dazu bei Richards, Secretary 26–43; ders., Paul 70–73. Weil diese Kurz- oder Schnellschriftsysteme sehr individuell und damit nicht allgemein lesbar waren, war die Reinschrift nach dem Diktat unerlässlich. 815 Vgl. Roller, Formular 16f. Obwohl Berechnungen der Zeit, die ein einzelner Brief des Paulus bei der Abfassung in Anspruch nahm, durchaus nicht unproblematisch sind, sind sie als eine gewisse Orientierung immerhin bedenkenswert. So gibt man für den Galaterbrief als Zeit allein für die Abschrift (Reinschrift) wenigstens einen Tag an; für das Diktat ist mindestens dieselbe Zeit zu erwarten, wenn Paulus nicht einen Schnellschreiber zu Hand hatte; vgl. Richards, Paul 165; Murphy O’Connor, Paul 121. 816 Diese traditionelle Sicht bildet unverkennbar den Hintergrund für die Wertung von Sprache und Stil des Paulus bei Reiser, Sprache 69f. 817 Gegen Reiser, Sprache 73f. (mit Verweis auf Ps.-Longin sublim. 22,1).

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

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Annahme, dass der Galaterbrief im Affekt geschrieben wurde und als unkontrollierter Ausdruck der Emotionen und Affekte des Paulus gelten kann, Skepsis und Vorsicht geboten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die vermeintlichen Textsignale im Brief zum Ausgangspunkt genommen werden für eine so weitgehende und detailreiche Rekonstruktion der Abfassungsumstände, einschließlich eines Psychogramms der Apostels Paulus, wie sie Udo Borse (1984) in seinem Kommentar zum Galaterbrief vorgelegt hat. Udo Borse nimmt an, dass der Galaterbrief in einer Situation der Überarbeitung und emotionalen Überbelastung des Paulus entstanden ist.818 Kurz vor der Abfassung des Galaterbriefes sei Paulus auf der Reise von Ephesus nach Korinth in Makedonien angekommen. Hier habe er gleichzeitig von Mitarbeitern, die er zur Durchführung der ihm anvertrauten Kollekte für Jerusalem in die von ihm gegründeten Gemeinden entsandt hatte, von den Problemen und Missständen sowohl in Korinth als auch in Galatien erfahren. Durch die Anstrengungen der letzten Jahre sei er überdies auch gesundheitlich geschwächt und angeschlagen gewesen. Außerdem seien täglich Gläubige aus allen Gemeinden mit ihren Sorgen und Anliegen bei ihm eingetroffen (2 Kor 11,28). Diese Überbeanspruchung, verbunden mit der Situation, in Makedonien nicht sesshaft, sondern nur auf der Durchreise zu sein, habe zu einer psychischen Überlastung und Gereiztheit geführt, in der Paulus sich überall von Gefahren und von Ängsten bedroht sah (2 Kor 7,5). Durch die geplante Überbringung der Kollekte nach Jerusalem habe er zudem erneut die äußerst unerfreuliche Erinnerung an seine früheren Auseinandersetzung mit den dortigen streng judenchristlichen Gruppen bedrohlich vor Augen gehabt. All dies habe ihn auf die unbestimmten Nachrichten über Pläne der Galater zur Beschneidung und Übernahme des Gesetzes besonders heftig und gereizt reagieren oder sogar überreagieren lassen; verstärkt wurde dies durch die Kritik an seiner Person und seinem Werk, die gleichzeitig in Korinth laut geworden war (vgl. 2 Kor 10,1f.7; 11,5f.21–23; 12,11f.16.19; 13,3).819 Die Ausführungen bei Udo Borse lassen deutlich erkennen, dass es ihm nicht nur darum geht, den harten und 818 Dazu Borse, Galater (RNT) 16f. Ähnlich, obwohl etwas vorsichtiger in den Details, Rohde, Galater (ThHK) 11: In Makedonien trifft bei Paulus, der überarbeitet und durch die Krise in Korinth überbeansprucht ist, eine galatische Gesandtschaft ein, die die Kollekte der Gemeinden für Jerusalem überbringt. Nebenbei erwähnen sie die Situation in Galatien. Erbost diktiert Paulus daraufhin einen Brief ohne Dank für die Kollekte; dabei lässt er sich keine Zeit für ruhige Überlegungen und ausgewogene Formulierungen, damit die Abordnung der Galater den Brief gleich wieder mit nach Galatien nehmen kann. Emotionale Gereiztheit, Affekte und Hast erklären für ihn die Schärfe von Stil und Diktion des Briefes. Dass ein im Affekt geschriebener Brief schärfer ausfallen konnte, als es gewünscht war, belegt eine Anmerkung in Cic. ad Q. fr. 1,2,12, die aber durch Verweis auf die Reue den gewählten Ton entschuldigt und zurücknimmt: litteras ad te parum fraterne scripseram, quas oratione Diodoti, Luculli liberti, commotus, de pactione statim quod audieram, iracundius scripseram et revocare cupiebam. 819 Vgl. Borse, Galater (RNT) 19.

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5. Der Brief an die Galater

feindseligen Ton des Galaterbriefes zu erklären, sondern zugleich seine als befremdlich und anstößig empfundene Wortwahl zu entschuldigen.820 Bei einer realistischen Einschätzung des Vorgangs des Diktats eines Briefes und bei der Berücksichtigung einer absichtsvollen Selbstdarstellung im Brief, spricht insgesamt wenig dafür, den Galaterbrief als einen Brief zu verstehen, den Paulus im Zustand höchster emotionaler Erregung spontan und ohne jede Vorplanung ganz aus der Stimmung des Augenblicks heraus zu Papier gebracht hat. Die Emotionalität des Galaterbriefes ist wohl eher eine geplante, die – wie die rhetorische Analyse gezeigt hat – als Mittel der Überzeugung auf das πάϑος der Adressaten zielt (movere). Dasselbe gilt für die im Galaterbrief besonders zahlreichen und ausführlichen autobiographischen Aussagen, bei denen ebenfalls mit einer gezielten Selbststilisierung des Paulus im Dienste der Überzeugung der Adressaten zu rechnen ist. Dies bedeutet nicht, dass Paulus die genannten Fakten erfindet oder manipuliert. Es ist aber damit zu rechnen, dass er die Ereignisse so darstellt, dass sie ihn in ein möglichst vorteilhaftes Licht rücken und dem Ziel des Briefes förderlich sind (vgl. dazu Abschnitt 5.2.6, bes. Punkt B.1).821 Das Ziel, das Paulus mit dem Galaterbrief verfolgt, ist, den Einfluss der judenchristlichen Missionare auf die Galater zurückzudrängen und sie wieder für sich und das von ihm verkündete Evangelium zurückzugewinnen. Da sich die Konkurrenten des Paulus mit ihren Forderungen und Lehren auf das Zeugnis der »Schrift« stützten, scheint es selbstverständlich, dass auch Paulus in Gal 3–4 in reichem Maße die »Schrift« benutzt. Die Art und Weise, wie Paulus im Galaterbrief nicht nur auf die »Schrift«, sondern auch auf die jüdische Auslegungstradition zurückgreift, überrascht aber doch, wenn man auf die Adressaten des Briefes blickt, bei denen es sich offenbar ausschließlich um ehemalige Heiden handelt.822 Als solche dürften sie wohl nur sehr begrenzte Kenntnisse der »Schrift« und erst recht der jüdischen Auslegungstraditionen besessen haben.823 Dies gilt umso mehr, wenn die in dieser Studie vertretene 820 Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn Borse, Galater (RNT) 18f., ausdrücklich betont, dass die Kritik des Paulus nicht als Feindseligkeit, sondern als Verantwortung für die Wahrheit des Evangeliums verstanden werden müsse. 821 Methodisch soll damit für die Rekonstruktion der Biographie des historischen Paulus nicht der grundsätzliche Vorrang des Selbstzeugnisses in den echten Briefen gegenüber den Fremdberichten der Apostelgeschichte relativiert werden. Dennoch ist bei der Auswertung des Selbstzeugnisses der Briefe zu beachten, dass Paulus selbstverständlich in seiner Darstellung keine neutrale und objektive Außenposition einnimmt, sondern Anwalt in eigener Sache ist. Ansätze in diese Richtung auch bei Becker, Paulus 15f. 822 Dazu auch Pokorný/Heckel, Einleitung 220f. 823 Bei Jegher-Bucher, Galaterbrief 98–115, finden sich Überlegungen, die in diesem Zusammenhang zu beachten wären. In einem Durchgang durch den Text überlegt sie sowohl im Blick auf den Inhalt als auch die Darstellungsweise, was am Galaterbrief für welchen intendierten Leser verständlich ist. Dabei unterscheidet sie bei den Adressaten des Galaterbriefes Christen, die ehemals Heiden, Gottesfürchtige und Juden waren.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

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Annahme zutrifft und die Adressaten des Briefes tatsächlich in der Landschaft Galatien zu suchen sind, wo es zur Zeit des Paulus möglicherweise nicht einmal eine jüdische Synagogengemeinde gab (vgl. S. 177). Was die Galater über die »Schrift« und ihre Auslegung wussten, müssten sie demnach – abgesehen von dem, was man in dieser Zeit allgemein über Juden und Judentum wusste (oder zu wissen meinte) – ausschließlich von Paulus und den judenchristlichen Missionare erfahren haben (vgl. S. 268). Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund, dass Paulus an keiner einzigen Stelle des Galaterbriefes, an der er die »Schrift« zitiert, biblische Erzählungen paraphrasiert oder ihre Auslegung diskutiert, zu erkennen gibt, dass er die Galater bereits früher in dieser oder ähnlicher Form unter Bezug auf die »Schrift« und über die »Schrift« belehrt habe, indem er seine Auslegungen mit der Formulierung »wie ich euch schon früher gesagt habe« oder ähnlich eröffnen würde. Derartige Rekurse auf seine frühere Predigt bei den Galatern finden sich nur an zwei Stellen des Galaterbriefes. In Gal 1,9 erinnert er sie an seine Warnungen vor einer Evangeliumsverkündigung, die der seinen widerspricht, und in Gal 5,21 an seine Lehre über moralisch-religiöses Fehlverhalten, das vom Gottesreich ausschließt. Darf man also annehmen, dass Paulus die Galater bei seinem Gründungsaufenthalt und bei seinem zweiten Besuch in den Gemeinden so intensiv über die »Schrift« belehrt und zum Studium der »Schrift« angehalten hatte, dass sie sogar die zahlreichen nicht explizit ausgewiesenen Schriftzitate und -paraphrasen in Gal 3, die für kaum in den biblischen Schriften bewanderte Hörer/Leser sicher nicht als solche erkennbar waren, selbständig wahrnehmen und einordnen konnten?824 Waren auch Gestalten wie Abraham, Sarah, Hagar, Ismaël und Isaak, die ohne jede Erklärung eingeführt und damit offenbar einschließlich der zugehörigen biblischen Erzählungen bei den Adressaten des Briefes als bekannt vorausgesetzt werden, Teil seiner früheren Verkündigung? Oder ging er davon aus, dass seine Adressaten nun aufgrund der mit der »Schrift« argumentierenden Predigt seiner Gegner all das wissen konnten? Man kann aber auch fragen, ob man die so extensiv mit Zitaten und Anspielungen auf die »Schrift« operierenden Passagen des Galaterbriefes nicht doch anders lesen und interpretieren muss. Vielleicht sind an diesen Stellen die Galater als Adressaten des Briefes nur vorderhand die Gesprächspartner des Paulus, während er tatsächlich über sie mit seinen Konkurrenten in einen Diskurs über die richtige Schriftauslegung und die Wahrheit des Evangeliums eintreten will.825 Man müsste dann eine Art »doppelter Kommunikation« annehmen: eine, die durch die adscriptio explizit gemacht ist, und eine zweite, die in der Annahme des Paulus begründet sein könnte, dass seine Konkurren824 Vgl. auch Nanos, Irony 76–78, der ebenfalls auf das hohe Maß an Vorauswissen im Bereich der »Schrift« und der jüdischen Tradition als Voraussetzung für das Verständnis der Argumentation des Galaterbriefes hinweist. 825 Vgl. dazu auch Suhl, Galaterbrief 3082.

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5. Der Brief an die Galater

ten noch immer in den Gemeinden präsent und bei der Verlesung des Briefes anwesend sein werden.826 Möglicherweise verband er damit die Hoffnung, dass der Brief, wenn er in der Gemeindeversammlung verlesen wird, die von seiner »Schrift«-Argumentation überforderten Galater zu Nachfragen bei den anwesenden judenchristlichen Missionaren veranlasste, die einen Disput über die Schriftauslegung und vielleicht sogar Verstimmungen zwischen den Galatern und seinen Konkurrenten provozierten. Derartige Annahmen bleiben hypothetisch und spekulativ. Unbestreitbar aber ist, dass unterschiedliche Voraussetzungen der Leser/Hörer auch im Fall des Galaterbriefes zu abweichenden Wahrnehmungen der Briefinhalte führen mussten. Dies betrifft vor allem das Vorwissen im Bereich der »Schrift« und der jüdischen Überlieferung. Die lässt sich an Gal 4,21–31 zeigen. Dieser Abschnitt ist auf den ersten Blick eine stark zusammenfassende Auslegung der biblischen Erzählung von Sarah und Hagar (Gen 16; 21,9–21), die sich – wie Paulus explizit kenntlich macht (Gal 4,24) – der Methode der Allegorese bedient, die in der hellenistischen Literaturwissenschaft beheimatet war und von hier in die jüdische Schriftauslegung übernommen worden war (vgl. S. 263).827 Einem versierten Kenner der »Schrift« musste auffallen, dass Paulus in Gal 4,29 ein Element in die Erzählung einfügt, das so nicht im biblischen Text enthalten ist, nämlich die Verfolgung von Sarahs Sohn Isaaks durch Hagars Sohn Ismaël. Die Frage, wie und warum es zu dieser Änderung des biblischen Textes kommt, ist keineswegs nebensächlich, da Paulus an dieses Detail die Übertragung der Erzählung auf die aktuelle Situation in Galatien und die Aufforderung an die Adressaten zur Trennung von den judenchristlichen Missionaren bindet (Gal 4,30).828 Will man nicht annehmen, dass der Wunsch nach einem griffigen Schriftbeweis sich bei Paulus, als er die Erzählung aus dem Gedächtnis reproduzierte, versehentlich und unabsichtlich in den Text drängte, liegt zumindest der Verdacht nahe, Paulus könnte den Text absichtlich manipuliert 826 Dass die Galater und die konkurrierenden Missionare bei der Verlesung des Briefes in der Gemeindeversammlung beisammen saßen, nimmt Vouga, Galater (HNT) 9, an. Dafür, dass Paulus davon ausgeht, dass seine Konkurrenten noch immer in den galatischen Gemeinden anwesend und tätig sind, könnte man u. U. mit Burton, Galatians (ICC) 24f., auf die präsentische Formulierung in Gal 1,7 verweisen: τινές εἰσιν οἱ ταράσσοντες ὑμᾶς καὶ ϑέλοντες μεταστρέψαι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ; doch lässt sich das Präsens hier auch im Sinne einer zeitlosen, generellen Aussage verstehen. 827 Da diese Methode der Schriftauslegung im zeitgleichen Judentum praktiziert wurde und als legitim anerkannt war (Philon von Alexandria), war die gewählte Methode allein kein hinreichendes Argument, mit dem die Gegner des Paulus seine Auslegung zurückweisen konnten, wie Lührmann, Galater (ZBK) 75, nachdrücklich betont. 828 Zu Gal 4,30 als Aufforderung zur Trennung von den judenchristlichen Missionaren vgl. Becker, Galater (NTD) 74; Schlier, Galaterbrief (KEK) 227; Betz, Galaterbrief 429–431. Dagegen lehnt Borse, Galater (RNT) 176f., eine solche Auslegung von Gal 4,30 als Appell an die Galater als Fehldeutung ab; es gehe nur um den Schriftbeweis, dass die »unter dem Gesetz« vom »Erbe« ausgeschlossen sind.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

381

haben, um die seiner Meinung nach als ehemalige Heiden in der »Schrift« nicht hinreichend bewanderten Galater zu täuschen. Das würde aber voraussetzen, dass Paulus die Hoffnung hegte, dass bei Eintreffen seines Briefes in Galatien die konkurrierenden judenchristlichen Missionare bereits wieder abgezogen waren, da sie eine solche Täuschung schnell durchschaut und entlarvt hätten; dies wäre der brieflichen Intervention des Paulus letztlich wohl kaum dienlich gewesen. Bezieht man jedoch die jüdische Auslegungstradition der Sarah-Hagar-Erzählung mit ein, scheint eine andere Erklärung der Funktion dieser Einfügung möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich. Denn die rabbinische Literatur liest in Gen 21,9 in Übereinstimmung mit der LXX, dass ›Ismael mit Isaak spielte‹, während es im MT nur heißt, dass ›Ismael spielte‹.829 Dieses »Spielen« oder »Scherzen« (‫ צחק‬pi.)830 wurde senso malo verstanden und Gen 21,9 auf dieser Grundlage so interpretiert, dass Ismael mit Isaak um das Erbteil zankte oder ihn sogar beim Spielen töten wollte.831 Paulus präsentiert hier demnach »exegetisches« Fachwissen und damit eine Kompetenz in der schriftgelehrten Diskussion um die Auslegung des biblischen Textes, die nur von Fachleuten wahrgenommen werden kann, als die sich seine judenchristlichen Konkurrenten in Galatien möglicherweise verstanden haben. Für die Galater war wohl von alldem nichts erkennbar. Entweder nahmen sie gutgläubig an, dass es so in der »Schrift« stünde, wie es die Ausführungen des Paulus nahelegten, oder sie hatten den Text eventuell sogar schriftlich vor Augen und mussten feststellen, dass Paulus vom Wortlaut der »Schrift« abweicht. Deshalb ist es der Überlegung wert, ob Paulus mit seinem Brief indirekt nicht auch eine Kommunikation mit seinen »Gegnern« beabsichtigte. Sie und nicht die Galater wären dann z. B. diejenigen, die Paulus in Gal 4,21–31 als Gesprächspartner vor Augen hätte. Dafür, dass Paulus sich im Geiste von den Adressaten zur Gruppe der bei ihnen aufgetretenen Gesetzesprediger wendet, 829 Im Unterschied zu Gen 21,9 MT (‫וַתֵּרֶ א שָׂרָ ה ֶא ֽת־בֶּן־הָג ָר הַמִּצ ְִרית אֲשֶׁר־יָלְדָ ה לְאַבְרָ הָם‬ ‫ )מְצַחֵק‬hat die LXX die Aussage, dass Ismaël mit Isaak spielte (ἰδοῦσα δὲ Σαρρα τὸν υἱὸν Αγαρ

τῆς Αἰγυπτίας ὃς ἐγένετο τῷ Αβρααμ παίζοντα μετὰ Ισαακ τοῦ υἱοῦ αὐτῆς). Es ist nicht auszuschließen, dass die LXX damit gegenüber dem MT einer ältere Lesart des hebräischen Textes von Gen 21,9 bezeugt, die Grundlage der rabbinischen Interpretation der Stelle war. 830 Das hebr. Verb bedeutet im Qal »scherzen, heiter sein«, im Piël »scherzen, sich lustig machen, sich belustigen«, aber auch »Kurzweil treiben« oder »liebkosen«; vgl. Köhler/Baumgartner, Wb. 2, 955. 831 Die Deutung, Ismaël habe versucht, Isaak beim Spielen zu töten, z. B. in tSota 6,6 [304]; BerR 53 [34a]; die Deutung als Streit um das Erbe z. B. in TPsJ Gen 22,1. Ein Indiz, dass derartige Deutungen tatsächlich bereits in der Zeit des Paulus üblich waren, kann Ios. ant. Iud. 1,215–219 sein. Hier heißt es zwar nicht, dass Ismaël tatsächlich versuchte, Isaak zu schaden; aber dieser Gedanke wird von Sarah Abraham gegenüber als Befürchtung geäußert. Näheres zu Gal 4,29 und einem möglichen jüdischen Hintergrund sowie weitere Parallelen in der rabbinischen Literatur bei Longenecker, Galatians (WBC) 200–206 und 216f.; Mußner, Galaterbrief (HThK) 329–331; Becker, Galater (NTD) 74; Radl, Galaterbrief (SKK) 75.

382

5. Der Brief an die Galater

könnte die Art sprechen, in der Paulus sich nach dem philophronetischen Passus in Gal 4,12–20 abrupt mit einer provozierenden und direkten Anrede an die wendet, »die unter dem Gesetz sein wollen«, und ihnen Unkenntnis dieses Gesetzes unterstellt.832 Mit οἱ ὑπὸ νόμον ϑέλοντες εἶναι sollten sich demnach auch die bei den Galatern missionierenden Verfechter der Gesetzesobservanz angesprochen fühlen, die er zu einem Disput über die richtige Schriftauslegung herausfordert und denen er zugleich praktisch demonstriert, dass er als Kenner der »väterlichen Überlieferung« (Gal 1,13) kein leichter Gegner sein wird.833 Ähnliche Überlegungen ließen sich auch für andere Stellen in Gal 3 anstellen (z. B. für die spitzfindige Auslegung von καὶ τῷ σπέρματί σου in Gal 3,16 oder des μεσίτης in Gal 3,19f.). Unabhängig davon, ob die konkurrierenden judenchristlichen Missionare beim Eintreffen des Briefes noch in den Gemeinden anwesend waren und ob Paulus mit bestimmten Teilen und Aussagen des Briefes in besonderer Weise auch sie ansprechen wollte, ist die Kommunikationssituation, in deren Kontext der Galaterbrief sowie seine Form und Funktion zu verstehen sind, durch eine Dreierkonstellation zwischen Paulus, den Galatern und den judenchristlichen Missionaren bestimmt. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein subtiles Beziehungsgeflecht aus drei Personen bzw. Gruppen, das Verpflichtungen, Loyalitäten, Zuneigungen und Animositäten einschließt. Diese Beziehungen sollten und mussten von Paulus durch den Galaterbrief neu definiert und konstituiert werden, um die Galater zurückzugewinnen und seine normative Stellung in den Gemeinden wiederherzustellen. Die Tatsache, dass die Galater, trotz früherer Warnungen des Paulus (vgl. Gal 1,9), bereit sind, plötzlich der Verkündigung fremder Missionare zu folgen, lässt vermuten, dass diese über großes Prestige verfügten (z. B. aufgrund von sozialer Herkunft und Verbindung mit anerkannten Autoritäten) und/ oder mit ihrem persönlichen Auftreten und ihrer Argumentation zu überzeugen verstanden.834 Die Galater brachten diesen Missionare folglich wohl Respekt und Anerkennung, möglicherweise auch persönliche Zuneigung entgegen. Unter Umständen war den Galatern auch gar nicht bewusst, dass die 832

Gegen die Annahme, dass in Gal 4,21 zumindest auch die judenchristlichen Konkurrenten des Paulus angesprochen sind, lässt sich nicht auf die gebrauchte Formulierung οἱ ὑπὸ νόμον ϑέλοντες εἶναι verweisen, da das Verb ϑέλω an dieser Stelle nicht zwingend besagt, dass die Angesprochenen noch nicht beschnitten sind, sondern dies erst wollen, im Sinn von »planen«, »beabsichtigen«. Das Verb besagt zunächst nur, dass etwas freiwillig und/oder mit Absicht geschieht. Die Formulierung kann also auch besagen, dass die Angesprochenen freiwillig und absichtlich unter dem Gesetz sind. Gegen Longenecker, Galatians (WBC) 206f. 833 Dies dürfte umso mehr zutreffen, wenn Gal 4,21–31, wie Becker, Galater (NTD) 71, angibt ein vorgeformtes Stück schriftgelehrter Schulexegese zugrunde liegen sollte. 834 Vgl. Botha, Letter Writing 28f.; Broer, Einleitung 441. Warum, weshalb und wie die judenchristlichen Missionare bei den Galatern auf eine so große Zustimmung stießen, ist nach Becker, Galater (NTD) 13, letztlich eine im Detail nicht mehr beantwortbare Frage.

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

383

Verkündigung dieser Missionare und damit ihre eigenen Absichten nicht mit dem Evangelium vereinbar waren, wie Paulus es ihnen verkündet hatte; zumal auch die judenchristlichen Missionare unter Umständen wohl nicht dezidiert als Gegner des Paulus aufgetreten waren (vgl. S. 192). Deshalb ist nicht auszuschließen, dass die Galater sich bis zum Eintreffen des Briefes noch immer in gutem Einvernehmen mit Paulus wähnten. Aus der Sicht des Paulus jedenfalls war der wachsende Einfluss konkurrierender Missionare eine Bedrohung seines Anspruchs auf die alleinige Zuständigkeit für die Galater und damit eine Bedrohung seines Status in den Gemeinden, ohne dass seine Konkurrenten seine Legitimität und Autorität ausdrücklich infrage stellen und ihn diffamieren mussten. Aus dieser Konstellation ergeben sich die Aufgaben und Ziele des Galaterbriefes. Diese lassen sich mit der rhetorischen Forderung verbinden, dass sich das Überzeugen auf Logos, Ethos und Pathos gründen soll bzw. dass ein Redner, um zu überzeugen, bei seinen Zuhörern Einsicht in die Sache vermitteln (docere), Wohlwollen gewinnen (delectare) und Leidenschaft erregen (movere) muss: 1. λόγος/docere: Paulus muss die Unvereinbarkeit zwischen seiner Verkündigung und der der judenchristlichen Missionare herausstellen, damit sie in den Augen der Galater als seine Konkurrenten und Gegner erscheinen (Gal 1,6f.; vgl. 2,4.14). Dabei dürfen die entgegengesetzten Positionen nicht als gleichwertige Alternativen und Optionen erscheinen, sondern nur eine Entscheidung darf als vernünftig erscheinen: für Paulus gegen die judenchristlichen Missionare, für Christus gegen das Gesetz (Gal 1,8f.; 2,15–21; 5,1). — 2. πάϑος/movere: Da Entscheidungen auch durch emotionale Bindungen und Loyalitäten bestimmt werden, die durch reine Sachinformationen nur bedingt gefestigt oder gelöst werden können, muss Paulus zugleich versuchen, einen Keil in die Beziehung zwischen den Galatern und den konkurrierenden Missionaren zu treiben, um deren Prestige und Einfluss bei den Galatern zu schwächen.835 Dazu werden ihre Motive und damit sie selbst ins Zwielicht gerückt, um bei den Galatern Misstrauen und Argwohn gegen sie zu säen (Gal 1,7; 5,7– 12; 6,12f.; vgl. 4,29). — 3. ἦϑος/delectare: Dadurch sollen die Galater sich als Verführte und Missbrauchte erkennen (Gal 1,7; 3,1; 5,7; 6,12), um bei ihnen die Bereitschaft zur Wiederannäherung an Paulus zu wecken, der sich ihnen als der präsentiert, der im Gegensatz zu seinen Konkurrenten gleichermaßen für die Wahrheit des Evangeliums und das Heil der Galater kämpft (Gal 1,10; 2,5.11.14; 4,16.18; 6,14f.). Die darauf basierende Strategie, die einerseits aus Tadel und Vorwurf gegen die Adressaten mit mahnenden Erinnerungen an die ehemals freundschaftliche Beziehung zueinander, andererseits in Angriffen auf die Konkurrenten besteht, entspricht den Empfehlungen für den Typ des anklagenden Briefes im Handbuch des Ps.-Demetrios (vgl. S. 287f.).

835

Ähnlich auch Becker, Galater (NTD) 79; Vouga, Galater (HNT) 8f.

384

5. Der Brief an die Galater

Beziehung ng eru äh n An

Galater

Paulus fremde Missionare

⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭

Ziele

Strategie

zurückgewinnen

tadeln, erinnern

Paulus muss die Beziehung zwischen den Galatern und seinen Konkurrenten lösen/schwächen.

widerlegen

spotten, diskreditieren

zu ng

gre n

Ab

⎫ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎬ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎭ Gal –

ein Lehrbrief auf der Grundlage des philophronetischen Freundschaftsbriefes und des Typos des anklagenden Briefes

Insofern ist der Galaterbrief als leidenschaftliche Werbung des Paulus um seine galatischen Gemeinden zwar zweifelsohne auch als eine argumentative Auseinandersetzung mit den Lehren und den Forderungen konkurrierender judenchristlicher Missionare zu verstehen.836 Das eigentliche Gewicht aber legt Paulus auf das Erregen von πάϑος (movere), so dass die Kommunikation nicht durch Nüchternheit und Sachlichkeit, sondern durch Leidenschaft bestimmt erscheint. Deshalb geht es auch dort, wo Paulus die eigentlichen Sachfragen diskutiert, nicht um ein differenziertes Abwägen von Positionen, Argumenten und Anliegen. Vielmehr stellt Paulus durch pointierte und provozierende, oft überspitzte und polarisierende, mitunter sogar beleidigende Aussagen seine Adressaten vor ein radikales Entweder-Oder, das ihre Entscheidung für oder gegen ihn und »sein« Evangelium erzwingen soll (vgl. Gal 1,6–9; 2,16f.; 3,21f.; 4,4f.8f.21–31; 5,1–6; 6,16).837 Dabei übt Paulus gezielt emotionalen Druck auf die Adressaten aus, zum einen indem er das einst wechselseitige Wohlwollen, vor allem aber die Mühen betont, die er für sie aufgewendet hat und noch immer für sie aufzuwenden bereit ist (Gal 2,4f.; 3,1.4; 4,11.12.16.19f.), zum anderen indem er ihnen – gleichsam in Vollmacht – den Verlust des Heils androht (Gal 1,8f.; 5,2–4; 6,8f.16).838 In der leidenschaftlichen Sprache und Argumentation des Briefes drückt sich gewiss auch das hohe Maß aus, in dem Paulus mit seiner ganzen Person in die Angelegenheit involviert und engagiert ist. Es geht in Galatien nicht nur um die Wahrheit des Evangeliums; es geht auch um ihn 836

Vgl. Becker, Galater (NTD) 10. Insofern trifft das Urteil über den Galaterbrief bei Nanos, Irony 27: »This is no exercise in systematic theology or generalized information to attach to his other more contingent letters. The Galatian discourse is hot: it is written to confront the development of a specific exigence that is entirely unacceptable to Paul and to remove forever the obstacles in the adressees’ way.« 838 Auch Botha, Letter Writing 30, weist darauf hin, dass der Galaterbrief ein großes Maß an Überlegungen zum gezielten Einsatz von Emotionen erkennen lasse. 837

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

385

selbst, um sein Werk und um seine Beziehung zu den Galatern. Diese Leidenschaftlichkeit darf aber – wie dargelegt – nicht als spontane und unkontrollierte Gefühlsausbrüche eines vielleicht sogar cholerischen Charakters gedeutet werden, sondern muss als ein bewusst auf der Grundlage rhetorischer Techniken und Überlegungen gestaltetes Mittel affektiv-emotionaler Überzeugung begriffen werden. Zusammenfassend lassen sich die Funktionen und Intentionen des Galaterbriefes folgendermaßen skizzieren (zur Übersicht vgl. auch das Organon-Modell auf S. 106f.): Ausdruck

Integrität und Zuneigung Legitimität und Autorität



Unnachgiebigkeit Anspruch und Zuständigkeit

144444444444444424444444444444443

Gewinnen von Glaubwürdigkeit und Akzeptanz Darstellung

Erlösung durch die liebende Hingabe des Sohnes Gottes



Widersinnigkeit von Beschneidung und Gesetzesobservanz

144444444444444424444444444444443

Belehren und Überzeugen mit Tadel und Zurechtweisung der Galater Appell

Umkehr zu Paulus und zur »Wahrheit des Evangeliums«



Trennung von judenchristlichen Missionaren

144444444444444424444444444444443

Ermahnung und Warnung der Galater

1. Durch eine gezielte Selbstdarstellung will Paulus bei seinen Adressaten die Grundlage schaffen, auf der er für sich und damit für sein Anliegen Glaubwürdigkeit und Akzeptanz gewinnen kann. — 2. Der Inhalt des Briefes besteht einerseits in der Darlegung der »Wahrheit« des Evangeliums durch die Widerlegung der konkurrierenden Predigt von der Heilsnotwendigkeit von Gesetz und Beschneidung, andererseits in der tadelnden Zurechtweisung der Adressaten, die von dieser Wahrheit abgewichen sind und Paulus als ihrem Boten und Verteidiger den Rücken gekehrt haben. — 3. Das Ziel des Briefes ist es, die Adressaten zur Trennung vom »falschen Evangelium« und seinen Boten und zur Rückkehr zu Paulus und zur Wahrheit des Evangeliums zu bewegen. Eine primär apologetische Funktion, die eine Einordnung des Briefes in die Gattung des apologetischen Briefes und der Gerichtsrede rechtfertigen würde, lässt sich nicht erkennen. Die Aussagen des Briefes, mit denen man gewöhnlich diese Einordnung begründet und rechtfertigt, gehören nicht zur Darstellung, sondern dienen dem Ausdruck. Der vorrangige Gegenstand der Darstellung ist das gesetzes- und beschneidungsfreie Evangelium des Paulus, das sich als konsequente Auslegung des urchristlichen Christus-Kerygmas versteht – in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu allen judenchristlichen Forderungen,

386

5. Der Brief an die Galater

die eine bleibende soteriologische Relevanz von Gesetz und Beschneidung und damit der Trennung von Juden und Heiden behaupten. Dabei bedient sich Paulus des autoritativen Tons eines Lehrers, der sich mit Tadel und Zurechtweisung an Schüler wendet, die unüberlegt den falschen Lehren anderer Lehrer nachlaufen. Deshalb ist der Galaterbrief letztlich als ein Brief zu bewerten, in dem sowohl Funktionen und Darstellungsweisen des tadelnd-zurechtweisenden Briefes als auch des Lehrbriefes – teils getrennt nebeneinander, teils untrennbar miteinander verbunden – vorliegen. Durch den Appell, der auf die Entscheidung und Verhaltensänderung seitens der Adressaten zielt, enthält er auch Elemente und Züge eines beratenden Briefes. Tadel und Zurechtweisung sind ebenso wie das Mahnen und Erteilen von Ratschlägen Funktionen des Lehrbriefes. Deshalb muss der antike Lehrbrief wohl letztlich als der Kontext gesehen werden, in den der Galaterbrief, trotz seiner Situationsgebundenheit, am ehesten eingeordnet werden kann. Lehre und Lehrbrief dürfen dabei nicht als nüchterne Darlegung eines abstrakten Systems ontologischer, erkenntnistheoretischer und/oder ethischer Lehrsätze missverstanden werden. Im Sinne der hellenistischen Philosophie sind sie vor allem engagierte und praktische Lebensanweisung auf dem Weg zu sittlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit. Trotz aller echten »Brieflichkeit« teilt der Galaterbrief letztlich auch die für Lehrbriefe typische Form einer »einseitigen« Kommunikation: Es geht nicht um ein wirkliches Gespräch, d. h. um wechselseitigen Austausch zwischen den Briefpartnern, sondern um Unterweisung, die keine Antwort mehr voraussetzt und erwartet, es sei den das dem Lehrer zustimmende »wir gehorchen/folgen«.839 Fragt man abschließend danach, ob sich aus der Analyse des Galaterbriefes Indizien gewinnen lassen, die Rückschlüsse auf den Bildungsstand und damit auch auf die soziale Herkunft seines Verfassers erlauben, so lassen sich zwei Ergebnisse festhalten: 1. Sprache und Stil stehen gemäß den Forderungen der Brieftheorie einer kultivierten Alltagssprache nahe, ohne deshalb auf Elemente einer literarische Stilisierung völlig zu verzichten. — 2. In der argumentativen Gestaltung des Galaterbriefes lässt sich ein deutlicher Einfluss der antiken Rhetorik nicht leugnen.840 Insofern muss man wohl davon ausgehen, dass der Verfasser des Briefes über grundlegende Kenntnisse in der antiken Rhetorik 839

Vgl. dazu auch Muir, Life 10. Fraglich ist, ob die von Longenecker, Galatiens (WBC) cxix, und anderen vertretene Sicht tatsächlich zur Erklärung des Befundes am Galaterbrief genügen kann: »The persuasive modes of the classical rhetorical handbooks had become the common coinage of the realm in Paul’s day. One did not have to be formally trained in rhetoric to use them. Nor did rhetoricians have proprietory rights on them. In his Galatian letter (as elsewhere in his writings), Paul seems to have availed himself almost unconsciously of the rhetorical forms at hand, fitting them into his inherited epistolary structures and filling them out with such Jewish theological motifs and exegetical methods as would be particularly significant in countering what the Judaizers were telling his converts.« 840

5.3 Zusammenfassung und Interpretation

387

und Epistolographie verfügte, die er durch eine höhere Schulbildung erworben hat. Wie beim Philemonbrief muss jedoch – wie bereits angemerkt – auch beim Galaterbrief damit gerechnet werden, dass der Sekretär und eventuell auch andere Mitarbeiter des Paulus, die an der Abfassung des Galaterbriefes beteiligt gewesen sein könnten, auf Form und Inhalt des Briefes Einfluss genommen haben könnten.

Kapitel 6

Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie 6.1 Der Brief an Philemon Der Philemonbriefes steht hinsichtlich Sprache und Stil deutlich näher an den literarischen Briefen als an den Papyrusbriefen. Sofern man ihn überhaupt mit den Papyrusbriefen vergleichen kann, kommen höchstens jene Briefe in Frage, die sich eindeutig Mitgliedern der Oberschicht und damit gebildeten Verfassern zuweisen lassen. Damit stellt sich die Frage, worin überhaupt der Ertrag und Sinn eines extensiven Vergleichs neutestamentlicher Briefe mit Papyrusbriefen bestehen kann, wie er seit Adolf Deißmann gefordert und praktiziert wird. Damit soll nicht die Sinnhaftigkeit eines solchen Verfahrens an sich bestritten werden, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, dass eine theoretische Reflexion und methodische Grundlegung für die Heranziehung von Papyrustexten bei der Auslegung der neutestamentlichen und auch frühchristlichen Schriften bis heute weitgehend fehlt. Hier ist man letztlich nicht über Adolf Deißmann hinausgekommen, der den Ertrag einer Beschäftigung mit den Papyrustexten für die neutestamentliche Exegese in drei Bereichen gegeben sah: 1. die Erklärung auffälliger Formen in der Wortbildung und Syntax, die man zuvor vorschnell als Semitismen ausgewiesen hatte, 2. Parallelen für den nichtliterarischen Stil der neutestamentlichen Schriften und 3. Einblicke in die Lebenswelt und den Alltag des neutestamentlichen Zeitalters. Die alltäglichen Briefe von Mitgliedern der gebildeten Oberschicht aus neutestamentlicher und frühchristlicher Zeit, von denen sich einige Beispiele auf Papyrus erhalten haben, stehen dem Philemonbrief einerseits zwar in Sprache und Stil nahe, doch unterscheiden sie sich andererseits vom Philemonbrief durch ihre meist stereotype Formelhaftigkeit. Im freien und kreativen Umgang mit dem konventionellen Modell des Empfehlungsbriefes lässt sich der Philemonbrief allerdings mit Texten aus dem Bereich der literarisch überlieferten Briefe vergleichen. Insofern ist die Forderung durchaus berechtigt, für die Analyse und Interpretation der neutestamentlichen Briefe auch vermehrt wieder die literarischen und literarisch überlieferten Briefe zu berücksichtigen, die infolge der Thesen Adolf Deißmanns in der neutestamentlichen Exegese in den Hintergrund getreten sind.1 1 So Klauck, Briefliteratur 95; ders., Ancient Letters 103f.; vgl. auch Hose, Literaturgeschichte 213.

6.1 Der Brief an Philemon

389

Die formalen Unterschiede des Philemonbriefes zu den Papyrusbriefen gebildeter Verfasser sind sicher aus dem bereits im Präskript artikulierten Anspruch des Philemonbriefes zu erklären, nicht nur Teil einer privaten Korrespondenz zwischen Paulus und Philemon zu sein, sondern zugleich als eine Art »amtliches« Schreiben in der Gemeindeversammlung öffentlich verlesen zu werden. Diese »Quasi-Publikation« macht den Philemonbrief in gewisser Hinsicht mit den literarischen Briefen vergleichbar, wenn er auch in Sprache und Stil weit weniger von den Grundsätzen der zeitgleichen Kunstprosa bestimmt ist als die teilweise hoch artifiziellen publizierten Privatbriefe oder die literarischen Kunstbriefe (Typenbriefe und Pseudepigraphen). Mit seiner Stellung zwischen den Alltagsbriefen gebildeter Verfasser und den literarischen Briefen wirft der Philemonbrief die Frage nach der kultivierten griechischen Umgangssprache der Gebildeten im neutestamentlichen Zeitalter und nach dem von ihnen gepflegten Briefstil auf.2 Möglicherweise wird, was Sprache, Stil und Komposition angeht, mit dem Philemonbrief doch so etwas wie der antike kultivierte Privatbrief in gebildeter Sprache greifbar, der sonst bis auf vereinzelte Zeugnisse unter den Papyrusbriefen verloren ist, d. h. vielleicht repräsentiert der Philemonbrief jene Gruppe von Briefen, die von gebildeten, literarisch teils mehr, teils weniger begabten Verfassern durchaus mit einem gewissen stilistischen Anspruch geschrieben wurden, ohne aber für eine eigentliche Publikation intendiert zu sein, da ihre Verfasser aufgrund ihrer gesellschaftlichen und politischen Stellung auch nicht mit einem weiterreichenden Interesse an ihrer Person und damit an ihren Briefen rechnen konnten und auch ihr Inhalt keinen Anspruch auf eine über den konkreten Anlass hinausgehende, allgemeine Relevanz erheben konnte (dazu auch S. 100). Beim Philemonbrief und den anderen Paulusbriefen liegt die Sache allerdings insofern anders, als Paulus durchaus davon ausgehen konnte, dass in den von ihm gegründeten Gemeinden ein Interesse an seiner Person bestand und eine Verbreitung seiner Briefe deshalb nicht auszuschließen war (vgl. S. 77f.). Vergleicht man den in sich geschlossenen und sorgfältig komponierten Philemonbrief jedoch mit den anderen Paulusbriefen, so irritieren an einigen von ihnen die – zumindest auf den ersten Blick – mangelnde Ordnung der Gedanken sowie häufige kompositorische Unebenheiten und Nachlässigkeiten. Dies gilt vor allem für den 2. Korintherbrief, aber auch für den Philipperbrief und den 1. Thessalonicherbrief. Es entsteht der Eindruck, dass diese von Paulus ohne ein vorhergehendes inhaltliches Konzept und ohne jeden Entwurf geschrieben wurden.3 Wie lässt sich dieser auffällige Befund erklären? Wie verhält sich dann der Philemonbrief zu den anderen Paulusbriefen? Lässt sich als 2 Zur literarischen Koine und dem Problem der Volkssprache vgl. Rydbeck, Fachprosa 13–18; Reiser, Syntax 32–35; zum neutestamentlichen Griechisch innerhalb der zeitgleichen Gräzität vgl. Voelz, Language 931–937. 3 Dazu Roller, Formular 42.

390

6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Lösung für diese auffälligen kompositorischen Unterschiede vielleicht auf das Phänomen der paulinischen Pseudepigraphie verweisen (Deutero- und Tritopaulinen)? Wurde der Philemonbrief vielleicht doch nicht von Paulus selbst, sondern erst von einem späteren Verfasser aus der »Paulus-Schule« – eventuell als ein Lösungsangebot für das in den nachpaulinischen Christengemeinden immer drängender werdende Sklavenproblem – unter dem Namen des Paulus komponiert? Oder hat sich Paulus bei der Abfassung des Briefes möglicherweise in weit größerem Maße eines Sekretärs bedient, als dies in seinen anderen Briefen der Fall war? Oder ist die in sich geschlossene und überlegte Komposition des Philemonbriefes allein seiner Kürze und einheitlichen Thematik geschuldet? Entsprechende Überlegungen werden in der Regel mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass der Philemonbrief in Sprache, Stil und Argumentationsmuster unverkennbar paulinisch sei.4 Als weitere Lösung für das Problem böte sich die Annahme von Briefkompilationen an, d. h. in den größeren Paulusbriefen wurden von einem oder mehreren Redaktoren – teilweise ohne großes literarisches Geschick – ursprünglich kürzere Briefe zusammengefasst, um so längere Lehrschreiben des Apostels zu erhalten.5 Grundsätzlich denkbar ist außerdem, dass andere ähnlich kurze Briefe des Paulus wie der Philemonbrief im Laufe der Überlieferung eben wegen ihrer Kürze verloren gingen. Sollten solche Annahme zutreffend sein, so könnte es ursprünglich mehr Briefe des Paulus gegeben habe, die in Form, Inhalt und Funktion dem Philemonbrief vergleichbar waren.

6.2 Der Brief an die Galater Die exegetische Arbeit am Galaterbrief ist ein schwieriges und mühsames Unterfangen. Die Ursachen dafür liegen jedoch nicht im Text des Galaterbriefes selbst. Mag auch sein Inhalt komplex und seine Gedankenführung mitunter schwierig sein, gänzlich unverständlich und undurchsichtig sind sie nicht. Die Schwierigkeiten liegen eher außerhalb des Textes. An erster Stelle sind dabei die zahlreichen Hypothesen zu nennen, die in der Forschung hinsichtlich der 4

Vgl. Schenk, Philemon 3443ff.; Broer, Einleitung 396. Im Blick auf die inhaltlichen und kompositorischen Auffälligkeiten und Widersprüche im 1. Thessalonicherbrief merkt Thraede, Brieftopik 97, an: »Zwischen 2,17 und 3,13 liegt ein Bruch mit Sicherheit nicht (hingegen stößt sich 2,13 mit 1,2, wie 2,14 mit 1,16). Ein Briefbeginn in 2,13 würde zum gattungsspezifischen Ort von 2,17 durchaus noch passen. Umgekehrt dürfen wir uns nicht von vornherein auf eine Dreigliederung in Briefanfang-Corpus-Briefschluss festlegen, denn es ist ja nicht auszuschließen, daß es Briefe des Paulus gegeben hat, die im wesentlichen überhaupt nur φιλοφρόνησις enthielten, also bei Gelegenheit mitgegebene Billetts ohne besonderen Lehrgehalt. Daß gerade solche kurzen Schreiben später mit anderen kurzen oder mit einem längeren vereinigt wurden (vgl. Röm. 16), ist leicht einzusehen.« 5

6.2 Der Brief an die Galater

391

Umstände seiner Entstehung und seiner Adressaten sowie der von Paulus bekämpften »Gegner« formuliert wurden.6 Mehrheitlich stellen sie den Versuch dar, durch spitzfindige und komplizierte Gedankengänge die offensichtlichen Widersprüche zwischen den autobiographischen Einlassungen des Galaterbriefes und den Angaben zur paulinischen Mission in der Apostelgeschichte harmonisierend aufzulösen. Diese Hypothesen übersäen jede kritische Analyse und Auslegung des Briefes mit einer Vielzahl von »wenn« und »aber«. Erschwerend kommt beim Galaterbriefes seine außergewöhnliche und nur mit dem Römerbrief vergleichbare theologiegeschichtliche Bedeutung hinzu.7 Jede Auslegung wird deshalb zwangsläufig immer auch zu einer Auseinandersetzung mit der überaus konfliktreichen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Briefes, die seit Marcion mit der Frage nach der heilsgeschichtlichen Kontinuität, seit Augustinus mit dem Stichwort »Gnade« und seit der Reformation mit dem Stichwort »Rechtfertigung« verbunden ist.8 Die Schwierigkeiten bei der Auslegung des Galaterbriefes liegen vielleicht aber auch in den von Paulus gewählten argumentativen Strategien. Muss es doch einen christlichen Theologen irritieren, wenn eine der normativen Gestalten der frühen Kirche moralisch durchaus zweifelhafte Mittel wählt und unliebsame Konkurrenten diffamiert und verspottet, um seine eigene Autorität in den galatischen Gemeinden zu festigen bzw. wiederherzustellen – auch wenn dies um der »Wahrheit des Evangeliums« willen geschah.9 Die inhaltlich-theologischen Fragen und die Probleme der Entstehungssituation sollen in der folgenden Zusammenfassung nicht noch einmal thematisiert werden. Das Hauptaugenmerk soll vielmehr auf der Einordnung des Galaterbriefes in den Kontext der kaiserzeitlichen Epistolographie und auf dem Aspekt seiner formalen Gestaltung liegen. Dabei soll auch bedacht werden, ob und inwiefern der Galaterbrief das am Philemonbrief gewonnene Bild von Paulus als Verfasser kultivierter Privatbriefe bestätigen kann, oder ob ausgehend vom Galaterbrief Ergänzungen, Modifikationen oder gar Korrekturen nötig sind. 6

Vgl. dazu den forschungsgeschichtlichen Überblick in Abschnitt 5.1. Näheres zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Galaterbriefes und seiner theologiegeschichtlichen Bedeutung bei Longenecker, Galatians (WBC) xlii–lcii; Mußner, Galaterbrief (HThK) 30–32; Martyn, Galatians (AB) 27–41; Rohde, Galater (ThHK) 24–29; Oepke, Galater (ThHK) 38–40; außerdem Matera, Galatians (Sacra Pagina) 26f.; Borse, Galater (RNT) 24–28; Becker, Galater (NTD) 16; Sänger, Adresse 1–3. 8 Dies hat sich auch mit der am Reformationstag 1999 in Augsburg von Vertretern der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-lutherischen Kirchen unterzeichneten Einigung über die Rechtfertigungslehre nicht geändert. Da diese Einigung auf beiden Seiten nicht nur Befürworter gefunden hat und findet, muss der Galaterbrief (mit dem Römerbrief) nun neben den beiden kontroverstheologischen Extrempositionen, die sich weiterhin auf ihn berufen, auch die Beweislast für die neue »Mittelposition« tragen. 9 In der Sache ähnlich, wenn auch »milder« Oberlinner, Evangelium 462f. 7

392

6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Dabei darf selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden, dass beide Briefe aufgrund ihrer unterschiedlichen Kommunikationssituation und ihrer unterschiedlichen Funktion nur bedingt miteinander zu vergleichen sind. Während der Philemonbrief aus einer Situation des freundschaftlichen Wohlwollens zwischen Absender und Adressat(en) geschrieben und von einem freundlich höflichen Ton bestimmt ist, steht der Galaterbrief unter dem Vorzeichen von Kampf und Auseinandersetzung sowohl auf der Ebene der Sache als auch auf der Ebene der persönlichen Beziehung. Dennoch darf man nicht übersehen, dass auch der Galaterbrief trotz seines kämpferisch harten Tones nicht weniger als der Philemonbrief ganz von der Motivik des für die kaiserzeitliche Epistolographie und die gelehrte Brieftheorie normativen philophronetischen Freundschaftsbriefes bestimmt ist, wenn diese auch im Blick auf die konkrete Briefsituation modifiziert und variiert wird, um den Galaterbrief zum Dokument gefährdeter Freundschaft und des leidenschaftlichen Kampfes um ihren Erhalt zu machen. Auch die unterschiedliche Länge beider Briefe muss berücksichtigt werden. Der deutlich größere Umfang des Galaterbriefes bedingt eine größere inhaltliche Vielfalt und macht andere Formen der Stoffanordnung und Gliederung nötig, so dass man für den Galaterbrief nicht dieselbe inhaltliche und formale Geschlossenheit erwarten kann wie beim Philemonbrief, der nur ein einziges »Thema« auf relativ knappen Raum behandelt. Immerhin muss man aber auch dem Galaterbrief so etwas wie »thematische Geschlossenheit« zugestehen, da seine Ausführungen um einige wenige Stichworte und Fragen kreisen, die inhaltlich aufeinander bezogen sind und sich auf den Grundgegensatz »Glaube« und »Werke des Gesetzes« bzw. »Christus« und »Gesetz« zurückführen lassen.10 Die Abschnitte wirken zwar in der brieftypischen Weise trotz längerer inhaltlich zusammenhängender Blöcke (besonders Gal 1,11–2,14/21; 3,1–4,11) nach Art eines mündlichen Gesprächs locker aneinandergereiht, sind aber inhaltlich doch relativ eng miteinander verbunden. So durchzieht die Bekenntnisformel von der Hingabe des »Sohnes« den ganzen Brief wie ein roter Faden (Gal 1,4; 2,20f.; 3,13f.; 4,4f.; 5,1.11.25; 6,12.14); damit verbunden ist der Gedanke des Sklavenfreikaufs (Gal 4,4f.), der zur Grundlage wird für die Mahnung, den neuen sozial-rechtlichen Status als Freier zu bewahren und nicht durch die Beschneidung freiwillig in die Sklaverei zurückzukehren (Gal 4,9; 5,1), aber auch für die Aufforderung, diese Freiheit nicht zu missbrauchen (Gal 5,13). Gleichzeitig ist der Brief bemüht durch den Wechsel von lehrhaftdarstellenden und emotional-affektiven Abschnitten Monotonie in der Darstellung und damit eine Überforderung der Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit des Lesers/Zuhörers zu vermeiden (Pathos in Gal 1,6–9; 3,1–5; 4,8–11.12–20; 5,7–12; 6,11–17). Insofern kann man für den Galaterbrief nicht von einer planlosen und unstrukturierten Gedankenführung sprechen. Dazu 10

Vgl. Klauck, Ancient Letters 314; ders., Briefliteratur 237.

6.2 Der Brief an die Galater

393

bedarf es nicht des Nachweises einer an der Rhetorik orientierten Gliederung, womit Hans Dieter Betz das Vorurteil einer chaotischen und unstrukturierten Gedankenführung im Galaterbrief widerlegen wollte.11 Gleichwohl besitzt der Galaterbrief zweifelsohne nicht dieselbe beinahe literarische Eleganz und Kunstfertigkeit wie der Philemonbrief, selbst wenn auch er meist durchaus sorgfältig und überlegt formuliert. Trotzdem ist der Galaterbrief in seiner Darstellung nicht ohne Raffinesse. Diese zeigt sich, wenn Paulus en passent mit der Schilderung seiner beiden Besuche in Jerusalem seinen Konkurrenten die autoritativen Gestalten des Petrus und Jakobus als Autoritäten entwindet, auf die sie ihre Beschneidungs- und Gesetzespredigt gründen können (Gal 1,18f.; 2,9), und sie für sich und sein gesetzes- und beschneidungsfreies Evangelium in Anspruch nimmt. Geschickt formuliert er die Einigung in Jerusalem so, dass sie nicht als menschliche Übereinkunft, sondern seinen Adressaten als Anerkenntnis einer göttlichen Ordnung erscheinen muss (ἴδοντες und γνόντες in Gal 2,7.9). Raffiniert ist auch die Schilderung des antiochenischen Zwischenfalls, der an Petrus die »offizielle« Anerkennung des Endes der Gesetzesverpflichtung auch für ehemalige Juden demonstriert. Gleichzeitig wird im Scheitern einer autoritativen und normativen Gestalt wie Petrus und in seiner Zurechtweisung durch Paulus der Konflikt mit den Galatern aufgehoben und relativiert. Wie Petrus sind auch die Galater auf dem Weg der »Wahrheit des Evangeliums« gescheitert, wie Petrus müssen auch die Galater sich die Zurechtweisung durch Paulus gefallen lassen – aber wie gegen Petrus so dienen auch ihnen gegenüber die harten und deutlichen Worte des Paulus nicht dazu, sie zu verletzen, sondern sie wollen sie auf den rechten Weg zurückführen. In der geschickten Präsentation von Fakten und Personen, die nur weniger Worte bedarf, um komplexe Sachverhalte auszudrücken, lässt sich der autobiographische Passus des Galaterbriefes mit den Ausführungen in der Corpusmitte des Philemonbriefes vergleichen. Vielleicht lag hier die besondere Stärke des Briefschreibers Paulus, denn auch in Gal 3–6 überzeugen vor allem die emotional-affektiven Abschnitte, die ebenfalls auf die Deutung von Fakten und die Charakterisierung von Personen zielen. So gelingt es Paulus, einen Brief zu schreiben, der überzeugend ist, nicht weil er auf der rationalen Ebene der formalen Logik die zwingende Stringenz von Gedanken und Argumenten präsentiert, sondern weil er auf emotionaler Ebene in der Darstellung der eigenen Betroffenheit und Engagiertheit glaubwürdig ist. Insofern zeigt sich am Galaterbrief trotz aller formalen und inhaltlichen Unterschiede eine gewisse Kompetenz und Versiertheit seines Verfassers im Schreiben von Briefen und in der Technik der wirkungsvollen Darstellung nicht weniger als am Philemonbrief. Stärker als beim Philemonbrief stellt sich bei der Analyse des Galaterbriefes die Frage nach dem Anspruch und nach den Absichten, die Paulus mit diesem 11

Vgl. Betz, Galaterbrief 54–57.

394

6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Brief verbindet. Denn der Inhalt, aber auch der Umfang und der argumentative Aufwand des Galaterbriefes lassen es zumindest als überlegenswert erscheinen, dass Paulus diesem Brief eine über den aktuellen Anlass hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung beimaß.12 Es wäre denkbar, dass der Galaterbrief nicht nur der Bewältigung der aktuellen Krise in Galatien dienen sollte, sondern zugleich auch für alle anderen paulinischen Kirchen intendiert war, um dort als eine Art präventive Intervention ähnlichen Entwicklungen wie in den Gemeinden Galatiens vorzubeugen.13 Zugleich könnte Paulus den Brief auch als exemplarisches Statement nicht nur an seine Konkurrenten in Galatien, sondern an alle judenchristlichen Missionare verstanden haben, mit dem er ihnen unmissverständlich seine Position in der Frage der Heidenmission darlegen und zugleich signalisieren wollte, dass er hier weder zum Kompromiss bereit sei noch ein Eindringen judenchristlicher Missionare in seine Domäne dulden werde. Aus epistolographischer Perspektive geht es um die Frage, ob der Galaterbrief als »echter Brief«, der er durch seinen Situationsbezug zweifelsohne ist, primär eine Gelegenheitsschrift und ein Gebrauchstext ist, dessen Inhalt und Absicht nur für die in der adscriptio genannten Adressaten von Bedeutung war und der deshalb auch nur für sie verständlich sein musste, oder ob er zusätzlich auch als ein Lehrbrief zu verstehen ist, der den Anspruch erhebt, eine allgemein relevante, universal Heilsbotschaft zu vertreten, und der sich deshalb zusätzlich an einen breiteren Adressatenkreis wendet, als die in der adscriptio genannten galatischen Christen, unter Umständen sogar an solche Leser, die weder durch eine vorausgehende mündliche Predigt des Paulus noch durch die persönliche Bekanntschaft mit ihm auf den Brief und seine Ausführungen über die »Wahrheit des Evangeliums« vorbereitet waren.14 Sollte Kol 4,16 die authentische Erinnerung an eine bis in die Zeit des Lebens und Wirkens des Apostels zurückreichende Praxis des Austausches seiner Briefe zwischen den paulinischen Gemeinden bezeugen, wäre es letztlich mehr 12 Dass der Galaterbrief grundsätzliche Aussagen beinhalte, die über die konkrete Briefsituation hinausgehen, betont Lührmann, Galater (ZBK) 12. Bei dieser Frage ist jedoch sorgfältig zu unterscheiden, ob Aussagen aus der Perspektive des späteren christlichen Lesers so bewertet werden, oder ob bereits Paulus selbst sie so verstanden wissen wollte. 13 So z. B. Oberlinner, Evangelium 469f., der von einer Entstehung des Galaterbriefes in Ephesus ausgeht; der Brief wolle mit seinen grundsätzlichen Ausführungen zum Evangelium auch Fragen und Probleme der paulinischen Gemeinden an diesem Ort lösen und vergleichbaren Gefahren hier entgegenwirken. 14 Vgl. dazu auch Muir, Life 10, der darin eine Gemeinsamkeit zwischen den philosophischen Lehrbriefen Epikurs und vielen der neutestamentlichen Briefe sieht. Einschränkend merkt er, ebd. 117, an, dass manchen dieser neutestamentlichen Briefe eine solche über den Adressatenkreis hinausgehende Funktion allerdings erst nachträglich durch die »kirchliche« Rezeption (Kanon) und Verbreitung zugewachsen ist. Eine ähnliche Betonung der literaturgeschichtlichen Relevanz der Kanonbildung (letztlich im Anschluss an Franz Overbeck) auch bei Theißen, Entstehung 277f. und 294–297.

6.2 Der Brief an die Galater

395

als nur wahrscheinlich, dass Paulus mit einer Lektüre seines Schreibens an die Galater auch in anderen seiner Gemeinden nicht nur rechnete, sondern eine solche vielleicht sogar selbst intendierte. Da die Praxis eines Austausches von Briefen jedoch nicht sicher bezeugt ist und deshalb nur vermutet werden kann, wäre zu fragen, ob der Galaterbrief selbst erkennen lässt, dass er sich an einen größeren Leserkreis wenden will als nur die in der adscriptio genannten Adressaten. Ein Hinweis darauf könnte sein, wenn der Galaterbrief insgesamt so formuliert wäre, dass man für sein Verständnis nur ein Minimum an Vorwissen benötigt. Typisch für Briefe, die man als Gelegenheitsschreiben oder Gebrauchstexte qualifizieren muss, ist dagegen, dass ihre Aussagen meist für alle außer dem Absender und den ersten Adressaten, mangels genauer Kenntnis über die Entstehungssituation und die Hintergründe des Briefes und seines Inhaltes, unverständlich oder zumindest nur begrenzt verstehbar sind.15 Blickt man unter diesem Gesichtspunkt auf den Galaterbrief, muss man gewiss eingestehen, dass für einen Leser, der nicht zu den Adressaten in Galatien gehört und dem die Briefsituation deshalb nicht vertraut ist, der konkrete Anlass des Briefes erst relativ spät fassbar wird (in Gal 5,2; eindeutig sogar erst in 6,11; trotz 2,3–5 und 2,7–9).16 Der Brief wird dadurch letztlich aber nicht unverständlich, wenn man auch einräumen muss, dass ein unbeteiligter Leser ihn vielleicht zunächst anders verstehen wird, als die Galater, denen bei der Lektüre von Anfang an klar gewesen sein dürfte, worin das Problem des Paulus und das Anliegen des Briefes besteht. Dennoch ermöglicht der Galaterbrief kein voraussetzungsloses Verständnis, nicht nur weil er Grundkenntnisse in der biblisch-jüdischen Überlieferung und über das christliche Bekenntnis bei seinen Lesern als gegeben annimmt. Eine genauere Kenntnis der paulinischen Evangeliumsverkündigung scheint zumindest die sehr geraffte Zusammenfassung seiner Lehre über die Rechtfertigung aus Glauben und die Verfallenheit an die Sünde in Gal 2,15–21 zu erfordern, die auch für den heutigen Leser erst mit Hilfe des Römerbriefes einigermaßen durchschaubar wird. Allerdings ist hier nicht auszuschließen, dass Paulus diese Gedanken eventuell erstmals als Reaktion auf die Ereignisse in Galatien so formuliert und dann im Römerbrief genauer durchdacht und weiter entfaltet hat. Als bei den Adressaten bekannt vorausgesetzt werden außerdem die im autobiographischen Passus nur mit ihrem Namen eingeführten Personen Barnabas und Titus. Dasselbe gilt für die ebenfalls im diesem Abschnitt genannten Kephas/Petrus, Jakobus und Johannes.17 Dies alles spricht nicht gegen die Annahme, dass der Galaterbrief bereits 15

Vgl. Thraede, Gebrauchstext 180–183, zu den Charakteristika des Gebrauchs- oder Gelegenheitsbriefes. 16 Dazu Kremendahl, Botschaft 136. 17 Dies gilt, obwohl Kephas/Petrus, Jakobus und Johannes als οἱ δοκοῦντες (Gal 2,2.6.9) und στῦλοι (Gal 2,9) der Gemeinde von Jerusalem und Jakobus zusätzlich als ὁ ἀδελφὸς τοῦ κυρίου (Gal 1,19) näher gekennzeichnet werden. Denn auch diese Bezeichnungen bleiben

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

von Anfang an für einen größeren Leserkreis bestimmt gewesen sein könnte, sondern kennzeichnet lediglich das Milieu, in dem die intendierten Leser zu suchen sind.18 Dass Paulus dem Inhalt des Galaterbriefes und den in diesem Brief formulierten Gedanken eine Bedeutung beimaß, die über den konkreten Anlass und über den Kreis der eigentlichen Adressaten hinausging, belegt der jüngere Römerbrief, in dem Paulus die Kernaussagen des Galaterbriefes noch einmal aufgriff und weiter entfaltete.19 Bedingt durch die aktuelle und konkrete Briefsituation zeigt dieser Brief, mit dem Paulus bei den Christen in Rom für sich und sein Evangelium werben will, in beinahe paradoxen Weise insgesamt deutlicher den Charakter eines Lehrbriefes bzw. eines didaktischen Briefes in der Art des Epikur oder Seneca als der Galaterbrief.20 Trotzdem wird man auch dem Galaterbrief aufgrund seines Inhaltes und der Art der Darstellung Züge eines Lehrbriefes nicht absprechen können (vgl. Abschnitt 5.2.5), wenn die Lehre hier auch im Dienst der konkreten Briefsituation dem Tadel und der Invektive untergeordnet ist.21

6.3 Der Charakter der Paulusbriefe Am Anfang der vorliegenden Studie stand das Urteil von Adolf Deißmann (1908, 41923), dass es sich bei den Briefen des Paulus um kunstlose Gelegenheitsschreiben eines unliterarischen Menschen der kaum gebildeten städtischen Unterschicht des griechisch-sprachigen östlichen Mittelmeerraumes handelt. Damit hatte er die Paulusbriefe und mit ihnen die meisten anderen der neutestamentlichen und frühchristlichen Briefe entschieden von der antiken Literatur, einschließlich der zahlreichen literarischen und literarisch überlieferten Briefe, getrennt und in den Kontext der Papyrusbriefe, insbesondere jener, deren Verfasser und Adressaten der Unterschicht angehörten, eingeordnet. Diese Einschätzung des Paulus und seiner Briefe blieb prägend für die weitere Forschung, obwohl gleichzeitig Adolf Deißmanns scharfer Trennung von Brief und Epistel, die diesem Urteil zugrunde lag, bald heftig widersprochen wurde. Demgegenüber hat die vorliegende Analyse der Briefe des Paulus ohne Kenntnisse über die christliche Gemeinde von Jerusalem und ihre Bedeutung und Rolle am Anfang der Kirche zu unbestimmt. 18 Schnelle, Einleitung 116, verweist zusätzlich darauf, dass die Rezeption des Galaterbriefes bei seinen Lesern ein gewisses Maß an Bildung voraussetzt. 19 Zu den inhaltlich theologischen Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten beider Briefe vgl. auch Dormeyer, Theologie 49–59. 20 So Klauck, Ancient Letters 303f.; ähnlich zuvor bereits P. Wendland, Literaturformen 350–352. 21 Auch Schenke/Fischer, Einleitung 1, 32f., qualifizieren die Briefe des Paulus zumindest als Privatbriefe mit bestimmten Charakteristika des Lehrbriefes.

6.3 Der Charakter der Paulusbriefe

397

an Philemon und an die Galater gezeigt, dass weder die radikale Abgrenzung dieser beiden Paulusbriefe gegen die literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefe sinnvoll und möglich ist, noch dass sie sich problemlos in das Corpus der Papyrusbriefe einfügen. Hinsichtlich der Papyrusbriefe und ihrer Eignung als Vergleichstexte für die neutestamentlichen und frühchristlichen Briefe hat Adolf Deißmann sicher nicht hinreichend bedacht, dass diese nicht als homogenes Corpus betrachtet und ausgewertet werden können. Die auf Papyrus erhaltenen Originalbriefe differieren unter einander sowohl hinsichtlich der sozialen Herkunft ihrer Verfasser und Adressaten als auch in ihren Funktionen sowie ihren Kommunikationskontexten. In der formalen Gestaltung unterscheiden sich Privatbriefe und amtliche Schreiben der staatlichen Bürokratie wie auch Geschäftsbriefe. Dasselbe gilt für Briefe von Mitgliedern der gebildeten Oberschicht auf der einen und solchen aus dem Milieu der sozialen Unterschicht auf der anderen Seite. Deshalb ist zu fragen, mit welchen dieser Briefe sich die Briefe des Paulus vergleichen lassen und worin die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede bestehen. Am Beispiel des Philemonbriefes wurde deutlich, dass in formaler und stilistischer Hinsicht von den Papyrusbriefen nur solche gebildeter und sozial höher stehender Verfasser als Vergleichstexte infrage kommen, wobei auch hier in Form und Stil erhebliche Unterschiede bleiben, während sich gleichzeitig überraschende Gemeinsamkeiten mit literarischen Briefen ergaben. Schwieriger ist ein Vergleich des Galaterbriefes mit Papyrusbriefen; dies ist sowohl in seiner Länge als auch in seinem Inhalt und seiner Funktion, aber auch in seiner formalen und stilistischen Gestaltung begründet. Immerhin finden sich vereinzelt Papyrusbriefe, die formal mit dem Galaterbrief in der situationsbedingten Reduktion philophronetischer epistolarer Elemente übereinstimmen, und Ermahnen, Tadeln und Zurechtweisen begegnet als Funktion auch bei Papyrusbriefen. Insgesamt jedoch scheint der Galaterbrief philosophischen Lehrbriefen trotz aller Unterschiede näher zu stehen als der überwiegenden Mehrzahl der Papyrusbriefe.22 Dennoch bleiben grundsätzliche Gemeinsamkeiten des Philemon- und Galaterbriefes mit den Papyrusbriefen. Diese betreffen vor allem die konventionelle epistolare Formelsprache und das Briefformular. Mit den auf Papyrus erhaltenen amtlichen Briefen lassen sich die beiden Paulusbriefe in gewisser Hinsicht in der Gestaltung der superscriptio und adscriptio mit ihren ausufernden Intitulationen vergleichen. Anders als die Hauptmasse der Papyrusbriefe erschöpfen sich die Briefe des Paulus aber nicht in einer konventionellen und stereotypen Formelhaftigkeit, sondern stehen in ihrer inhaltlichen Vielfalt und Differenziertheit wieder literarischen Briefen bzw. den Briefen einer (posthum) publizierten Korrespondenz eines Briefschreibers wie Cicero näher. Dies gilt auch für die sorgfältige sprachliche und stilistische Gestaltung, bei der 22

Ähnlich für die Paulusbriefe insgesamt auch Broer, Einleitung 303.

398

6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Paulus sich bemüht, entsprechend den Anforderungen der antiken Brieftheorie, die Mitte zwischen der gesprochenen Alltagssprache und einer artifiziellen Literatursprache zu wahren. Insofern muss man wohl – in Anlehnung an das Urteil von Paul Wendland (1912)23 – festhalten, dass die Briefe des Paulus, soweit der Philemon- und Galaterbrief erkennen lassen, in gewisser Hinsicht zumindest eine Mittelstellung zwischen den Papyrusbriefen und den literarischen bzw. literarisch überlieferten Briefen einnehmen. Zumindest über die Briefe an Philemon und an die Galater lässt sich nur bedingt mit Franz Overbeck (1882) und Eduard Norden (1915) sagen, sie seien das ›zufällige und kunstlose Surrogat des gesprochenen Wortes‹.24 In ihnen artikuliert sich zwar nicht der Stil der literarischen Kunstprosa, möglicherweise aber doch so etwas wie der gepflegte und gebildete Briefstil der frühen Kaiserzeit. Sein Hintergrund ist der höhere Schulunterricht, in dem genaue Vorstellungen davon vermittelt wurden, was ein Brief ist und wie ein (schöner) Brief auszusehen hat. Ein Teil des Urteils von Adolf Deißmann über die Paulusbriefe war auch, dass es sich bei ihnen um Gelegenheitsschreiben handelt, aus denen man kein theologisches System (Paulinismus) rekonstruieren kann und darf. Funktional und inhaltlich seien sie ganz vom konkreten Anlass bestimmt und allein für die jeweils spezifische Briefsituation intendiert.25 Ob Paulus einem Brief eine über den jeweiligen Anlass hinausgehende Funktion und Bedeutung beimaß und möglicherweise eine Verbreitung im Kreis seiner Gemeinden beabsichtigte, wird sich mangels eindeutiger Zeugnisse nicht endgültig und zweifelsfrei erweisen lassen.26 Immerhin aber legt der Galaterbrief mit seiner überlegten Konzeption und seinen grundsätzlichen Aussagen über das Evangelium des Paulus die Vermutung oder den Verdacht nahe, dass dieser Brief nicht allein aus der konkreten Situation der galatischen Krise geboren und möglicherweise auch nicht allein dazu geschrieben ist, die Galater für das paulinische Evangelium zurückzugewinnen. Was Paulus in diesem Brief schreibt, dürfte er sicher über die galatische Krise hinaus für relevant und nützlich erachtet haben, weil Auseinandersetzungen mit judenchristlichen Missionaren um die »Wahrheit 23

Vgl. P. Wendland, Literaturformen 344 (dazu bereits in Abschnitt 1.2). So Overbeck, Anfänge 19; Norden, Kunstprosa 2, 492 (vgl. dazu Abschnitt 1.1). 25 Vielhauer, Geschichte 62f., versuchte dieses Urteil Deißmanns abzumildern und dem Befund anzupassen, dass sich in den Paulusbriefen Aussagen finden, die über die jeweilige konkrete Briefsituation hinausgehen; damit kommt er zu dem paradox anmutenden Urteil, dass die Briefe des Paulus keine Lehrbriefe sind, aber einen Lehrgehalt besitzen, der über die Fragen der aktuellen Briefsituation hinausgeht. Insofern markiert Vielhauer mit seinem Urteil eine Einordnung zwischen Lehrbrief und Gelegenheitsschreiben. 26 Ein möglicher Hinweis könnte höchstens die adscriptio in 2 Kor 1,1f. sein, die nicht nur »die Kirche in Korinth«, sondern »alle Heiligen in ganz Achaia« als Adressaten des Briefes nennt. Allerdings könnte – falls der 2. Korintherbrief wirklich eine Briefkompilation ist – diese adscriptio nicht auf Paulus, sondern auf den Kompilator zurückgehen, d. h. er, nicht Paulus hätten dem Inhalt des Briefes eine weitergehende Bedeutung beigemessen. 24

6.3 Der Charakter der Paulusbriefe

399

des Evangeliums« auch an anderen Orten zu erwarten waren. Auch die theologischen Aussagen des Briefes über die Heilsbedeutung des Kreuzes, die Bedeutung von Gesetz und Glauben etc. dürften wohl kaum erst in dieser Situation erstmals formuliert worden sein. Insofern scheint auch hier das differenziertere Urteil von Paul Wendland bedenkenswert, dass Paulus in seinen Briefen bereits Vorformuliertes und zuvor schon Durchdachtes aufgenommen hat (aus seiner mündlichen Predigt und aus anderen Briefen).27 Deshalb ist es wohl nur bedingt zutreffend, dass hinter den Briefen des Paulus kein »theologische System« steht. Abzulehnen ist sicher das Postulat einer elaborierten paulinischen Dogmatik mit einem bis in die letzten Konsequenzen durchdachten und ausformulierten Konzept der Rechtfertigung allein durch Glauben; abzulehnen ist aber ebenso die Annahme, das theologische Denken des Paulus, wie es sich in seinen Briefen präsentiert, hätte aus unzusammenhängenden und unreflektierten Einzelsätzen bestanden, die nur situativ bedingt miteinander verbunden wurden und die je nach Anlass und Notwendigkeit immer neue theologische Konzepte formen konnten.28 Ausgehend vom Galaterbrief stellt sich folglich die Frage, ob und inwiefern man die Paulusbriefe tatsächlich als reine »Gebrauchstexte« bezeichnen darf, die nur für ihre Adressaten und die konkrete Briefsituation Relevanz und Interesse besaßen.29 In anderer Weise als für den Galaterbrief (und die übrigen Paulusbriefe) stellt sich die Frage nach der Situationsbezogenheit und dem Gelegenheitscharakters jedoch für den Philemonbrief. Denn Anlass und Funktion dieses kurzen Briefes scheinen eher ein konkreter Einzelfall zu sein. Auch 27 So für den Galater- und den Römerbrief P. Wendland, Literaturformen 349 und 351f. Ähnliche Überlegungen bei Richards, Paul 55–58, 91, 109, mit Verweis auf 2 Tim 4,13. Derartige Erwägungen sind grundsätzlich durchaus bedenkenswert, wenn sie auch bei Richards darin begründet sind, bei unbestreitbarer formaler und inhaltlicher Differenz, dennoch den paulinischen Ursprung der Deutero- und Tritopaulinen zu »retten« (im Sinne der Konzeption auf bloße Anweisung auf der Grundlage grober inhaltlichen Vorgaben oder sogar mit Skizzen des Paulus durch einen Mitarbeiter/Sekretär); so ebd. 141–156. 28 Vgl. auch hierzu das im Vergleich mit Deißmann differenziertere Urteil bei P. Wendland, Literaturformen 352. Relevant ist in dieser Frage auch die zutreffende Beobachtung bei Sänger, Adresse 55f., der für den Galaterbrief auf die mehrmaligen Bezüge des Paulus auf seine Erstverkündigung bei den Adressaten verweist (Gal 1,6–9; 3,1; 5,3; vgl. 2,16; 4,13–15.18f.), aus denen sich durchaus die Grundzüge seiner mündlichen Predigt rekonstruieren lassen. Daraus lasse sich erkennen, dass das, was Paulus den Galatern schreibt, nicht erst aus dem aktuellen Anlass und der Stimmung des Augenblicks heraus formuliert wurde, sondern »eine auf die konkrete Situation bezogene anamnetische Vergegenwärtigung seines Evangeliums, das er anfänglich unter ihnen verkündigt hat«, darstellt (ebd. 55). 29 Legt man die Kriterien der Scheidung von Gebrauchsbriefen und Literarischen Briefen bei Ludolph, Epistolographie 27, zugrunde, wären die Paulusbriefe in diesem Fall keine »Gebrauchsbriefe« mehr, denn: Gebrauchsbriefe sind solche Briefe, »die nur für den oder die Adressaten bestimmt sind und ihre Funktion allein in der aktuellen Kommunikation haben«. Auch unter diesem Gesichtspunkt würden die Briefe des Paulus in eine Kategorie »dazwischen« gehören. Ähnlich auch Broer, Einleitung 304; Schreiber, Briefliteratur 252.

400

6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

eine theologische Relevanz scheint bei diesem Brief nur bedingt gegeben, da offensichtlich von Paulus grundsätzliche theologische Reflexionen über die Rolle und Stellung von Sklaven in der christlichen Gemeinde nicht angestellt und allgemein gültige Regelungen und Handlungsanweisungen nicht getroffen werden. Muss man bei diesem Brief folglich damit rechnen, dass er tatsächlich ein reiner Gebrauchstext bzw. ein Gelegenheitsschreiben war, dessen Überlieferung und Aufnahme in die Sammlung der Paulusbriefe sich (allein) dem Interesse der Nachwelt an der Gestalt des Paulus verdankte?30 Allgemein jedoch kann man festhalten: Wie immer man hinsichtlich des Gelegenheitscharakters der Paulusbriefe urteilen mag, gewiss sind sie keine reinen Kunstprodukte, d. h. sie sind sicher als Brief an die in der adscriptio genannten Adressaten verschickt worden und sie hatten ihren Hintergrund in einer realen Beziehung zwischen Absender und Adressaten und waren primär auf eine konkrete Situation im Leben der Briefpartner bezogen. Dennoch wird man weder den Philemon- noch den Galaterbrief als Privatbrief qualifizieren können.31 Dagegen spricht bei beiden Briefen die adscriptio, die als Adressat nicht eine Einzelperson, sondern eine Gruppe nennt. Auch die spezifische Kommunikationssituation, in der Paulus als Absender des Briefes für sich gegenüber den Adressaten Autorität und Leitungskompetenz in Anspruch nimmt, passt beim Galaterbrief und letztlich auch beim Philemonbrief nicht zu einem Privatbrief. Mag in einem Privatbrief mitunter auch praktische Lebensanweisung angebracht sein, Gemeindeleitung und die autoritative Entscheidung in strittigen Lehrfragen ist keine seiner Funktionen. Daher verwundert es nicht, dass die Briefe des Paulus hinsichtlich ihrer Funktion mit erhaltenen antiken Privatbriefen, wie z. B. denen Ciceros nur bedingt vergleichbar sind. Funktional dürften deshalb in der Tat die Briefe Epikurs mit ihrer Verbindung von Seelenführung, Daseinsdeutung, Lehre, Kontaktpflege und Leitung unter den antiken Briefen die nächste Parallele zu den Briefen des Paulus sein. Mit den Briefen Epikurs teilen die Paulusbriefe außerdem das paradoxe Neben- und Ineinander von Gleichheit und Asymmetrie in der Beziehung zwischen Absender und Adressat(en). Im Blick auf das am Anfang der Studie genannte Urteil von Eduard Norden sei hier nochmals die Frage gestellt, wie »unhellenisch« die Briefe des Paulus wirklich sind, und, wenn ja, worin und wodurch sie »unhellenisch« sind. Ausgehend von der formalen Analyse des Galater- und Philemonbriefes darf man wohl sagen, dass es weder der Stil und die Form noch die konstitutiven Elemente des Briefformulars sein können, die die paulinischen Briefe »unhellenisch« machen, sieht man von der spezifisch christlichen Formulierung des Anfangs- und Schlussgrußes ab. Auch die in der Argumentation aufscheinende Logik ist, wie die rhetorische Analyse gezeigt hat, nicht spezifisch »jüdisch« 30 31

Vgl. Archer, Epistolary Form 297. Dazu auch Pokorný/Heckel, Einleitung 117.

6.3 Der Charakter der Paulusbriefe

401

oder »christlich«. Was jedoch an den paulinischen Briefen im Vergleich mit paganen antiken Briefen – den Papyrusbriefen wie den literarischen Briefen gleichermaßen – unzweifelhaft anders und spezifisch christlich ist, und darauf weisen die eigenständige Formulierung von Anfangs- und Schlussgruß, ist ihr Inhalt, der einerseits durch die biblisch-jüdische Überlieferung, andererseits durch das christliche Bekenntnis bestimmt ist.32 Durch die biblisch-jüdische Tradition und durch das christliche Bekenntnis ändert sich die Welt der Motive, so dass nicht nur der Anfangs- und Schlussgruß des konventionellen griechischen Briefformulars, sondern auch die philophronetische Gedankenwelt und die davon abhängige Formelsprache des Briefes eine neue inhaltliche Füllung bekommen und »christianisiert« werden.33 Form und Inhalt des Briefes waren in der griechisch-römischen Tradition geprägt durch den Gedanken der freundschaftlichen Verbundenheit zwischen Absender und Adressat. Der Freundschaftsbrief galt deshalb als Ideal und Norm des Briefes überhaupt und das Motiv des freundschaftlichen Gedenkens und der Fürsorge (φιλοφρόνησις) prägte die konventionelle Formelsprache des Briefes. Dies gilt nicht nur für den privaten, sondern auch für den geschäftlichen und amtlichen Briefverkehr, unabhängig von einer realen Beziehung und Bekanntschaft zwischen den Briefpartnern. An die Stelle der traditionellen popularphilosophischen Freundschaftslehre, die den antiken Brief formal und inhaltlich bestimmte, tritt in den Briefen des Paulus der Gedanke der Verbundenheit im christlichen Glauben und Bekenntnis. Die aus der paganen Umwelt übernommene ἀδελφός-Anrede meint deshalb bei Paulus – anders als im antiken Brief – nicht einfach nur die quasi-familiäre Beziehung zwischen Freunden, sondern drückt die gemeinsame Zugehörigkeit zur »Bruderschaft« derer aus, die im gemeinsamen Glauben und Bekenntnis verbunden sind, und folglich erhält die für die antike Freundschaftstheorie typische Gesinnungsgenossenschaft (ὁμόνοια) durch die Bindung an das gemeinsame Bekenntnis zu Christus Jesus eine spezifische, neue Füllung. Die Wurzel und der Ursprung der christlichen Gemeinschaft liegen, anders als bei der Freundschaft, nicht in einer Verbundenheit durch soziale Herkunft und Bildung, und auch nicht in gemeinsamen Wertvorstellungen und Überzeugungen, sondern im Handeln Gottes, der in Christus Jesus die Menschen erlöst hat und sie durch die Verkündigung des Evangeliums zum Heil beruft. Diese Grundlage der Gemeinschaft der Glaubenden, die den Hintergrund der 32

Nach Theißen, Entstehung 115f., will Paulus mit der Formulierung des Anfangs- und Schlussgrußes das Verlesen seiner Briefe zu einem »gottesdienstlichen Akt« machen. In Anschluss an E. Lohmeyer, Probleme paulinischer Theologie, in: ZNW 26 (1927) 158–173, der darin eine direkte Übernahme der feierlichen Eröffnungs- und Abschlussformeln des christlichen Gottesdienstes sah (eine These, die freilich so nicht haltbar ist). 33 Dieses Urteil und die folgenden Präzisierungen fußen auf den Ergebnissen der Untersuchungen zum Einfluss der antiken Brieftheorie im Philemon- und Galaterbrief; im einzelnen vgl. dazu die Abschnitte 4.2.3 und 5.2.3 dieser Studie.

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

brieflichen Kommunikation bildet, aktualisiert und thematisiert der paulinische Brief durch die Anrede der Adressaten in der adscriptio als ἐκκλησία, d. h. als »herausgerufene Versammlung« (1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Gal 1,2; 1 Thess 1,1; Phlm 1f.), und/oder als κλητοί, d. h. als von Gott »Berufene« (Röm 1,7; 1 Kor 1,2), aber auch durch die Erinnerung an die Erstverkündigung und Gemeindegründung als Anfang und Basis der in Gottes Handeln und Heilswillen begründeten Beziehung zwischen Absender und Adressat der Briefe. Die auffälligste Modifikation des Briefformulars ist im Vergleich mit den paganen Briefen zweifelsohne, dass Paulus den konventionellen Anfangs- und Schlussgruß durch einen Segenswunsch ersetzt, der auf das eschatologische Heil der Adressaten zielt. Ähnlich signifikant ist die von Paulus vorgenommene Modifikation des in der Corpuseröffnung des antiken Briefes üblichen Gesundheitswunsches bzw. seiner spezifischen Ausformulierung mit einleitender Proskynema-Formel. Hier wird nicht einfach nur der Name der heidnischen Gottheit durch einen Verweis auf den Gott der Christen ersetzt, sondern als Gegenstand des Gebetsgedenkens des Absenders erscheinen nicht mehr das leibliche Wohlergehen und die körperliche Gesundheit der Adressaten, sondern der Dank für ihren Heilsstand. Wie die Analyse des Philemon- und Galaterbriefes gezeigt hat, bleibt der paulinische Brief trotz dieser auffälligen Veränderungen an prominenten Stellen des antiken Briefformulars aufs ganze gesehen der konventionelle Formelsprache des griechischen Briefes verpflichtet, wie sie in den Papyrusbriefen und in den literarisch überlieferten Briefen dokumentiert ist (z. B. Verwendung der Kundgabeformel, Bittformel, Vertrauensformel etc.).34 Insofern kann man den paulinischen Brief als eine an die kommunikativen Praktiken des christlichen Gemeindelebens und an die religiösen Überzeugungen der frühen Christen angepasste Modifikation der griechisch-römischen Briefkonvention(en) bezeichnen.35 Der Eindruck der »Andersartigkeit« des paulinischen Briefes im Vergleich mit den erhaltenen paganen Briefen der griechisch-römischen Antike ist wohl auch in ihren Inhalten und teilweise in ihren Intentionen begründet. Anders als die paganen philosophischen Lehrbriefe wollen die Briefe des Paulus ihre Adressaten nicht einfach zu moralischer Vollkommenheit, unerschütterlicher Seelenruhe und Glückseligkeit führen, sondern ihr Ziel ist das eschatologische Heil der Adressaten. Obwohl eine solche soteriologische Dimension zumindest den Lehrbriefen des Epikur nicht abgesprochen werden kann, so sind bei 34 Vgl. dazu die Ergebnisse der Analyse des Philemon- und Galaterbriefes unter dem Aspekt »Briefformular und epistolare Formeln« in den Abschnitten 4.2.2 und 5.2.2. 35 Diese Wertung und Einordnung der paulinischen Briefe orientiert sich an einer prägnanten Formulierung von Prof. Dr. Helmut Krasser (Gießen) im Gutachten zur Magisterarbeit des Vf. »Der Philemonbrief und die kaiserzeitliche Epistolographie. Überlegungen zur Kontextualisierung und Analyse frühchristlicher Briefe« im Fach Gräzistik am Institut für Klassische Altertumswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (WS 2008/9).

6.3 Der Charakter der Paulusbriefe

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ihnen das Heilsgut und die Heilshoffnung doch fundamental andere als in den Briefen des Paulus. Während sich solche inhaltlichen Unterschiede zu paganen griechischen Briefen bei dem in Inhalt und Tonfall lehrhaften Galaterbrief leicht benennen lassen, tritt die Differenz zu vergleichbaren paganen Briefen beim Philemonbrief, in dem weder die Entfaltung einer spezifisch christlichen Lehre noch die Wegweisung zum eschatologischen Heil im Zentrum steht, merklich in den Hintergrund. Dieser Brief kann zwar an keiner Stelle seine Einordnung in den Kontext einer binnenchristlichen Kommunikation verleugnen, zeigt sich als Empfehlungsbrief zugleich aber formal eindeutig in der traditionellen paganen Briefkultur seiner Zeit verwurzelt.36 Das Verhältnis der paulinischen und frühchristlichen Briefe zur Tradition und Konvention des griechisch-römischen Briefes sollte man demnach statt unter dem Vorzeichen des Bruches und der Diskontinuität besser im Licht von Kontinuität und Modifikation sehen. Das »Unhellenische« am und im paulinischen und frühchristlichen Brief sind nicht Form und Stil, sondern der Inhalt. Dazu gehört – mit gewissen Vorbehalten – auch eine Art jüdisch-christlicher »Sondersprache«, d. h. eine Begrifflichkeit und damit verbundene Vorstellungswelt, die sich vollständig nur dem erschließt, der in der christlichen Gemeinde sozialisiert ist.37 Durch Bedeutungsverschiebungen erhalten bestimmte Termini eine neue, von ihrer traditionellen Bedeutung im Kontext der paganen Literatur- und Alltagssprache abweichende christliche Sonderbedeutung. Andere Begriffe verweisen auf Lebensvollzüge, die exklusiv christlich und/oder jüdisch sind, und bleiben deshalb ebenfalls für Außenstehende fremd und unverständlich. Die Bedeutungsverschiebung und Sondersprachlichkeit zeigt sich in den Briefen des Paulus beispielsweise an dem Gegensatzpaar σάρξ und πνεῦμα, das im jüdisch-christlichen Kontext ein ungefähres Äquivalent für den Gegensatz ἐπιϑυμία und ἀρετή der hellenistischen Moralphilosophie bildet, ohne aber mit diesem identisch oder in dieses übersetzbar zu sein. Pointiert lässt sich im Blick auf das Paar σάρξ und πνεῦμα sagen: So redet nur ein Christ und/oder Jude, wie Paulus, nicht aber ein Grieche. Beim Galaterbrief ist der Eindruck des »Unhellenischen« sicher auch das Ergebnis seiner spezifischer Thematik: Gesetz und Beschneidung, Kreuzestod Christi und seine soteriologische Relevanz, Auferstehung und Offenbarung, Glaube und Taufe etc. sind keine Themen der hellenistisch-römischen Lebenswelt, sondern nur einer kleinen spezifischen Gruppen in dieser Welt, nämlich der Christen. Wegen solcher Themen und Fragestellungen mussten christliche Briefe in der frühen Kaiserzeit Außenstehenden, gebildeten wie ungebildeten, absurd erscheinen, nicht aber wegen ihrer Sprache, ihres Stils und ihrer Form. 36

Dazu in den Abschnitten 4.2.4 und 4.2.5. Hierzu im einzelnen die Untersuchungen zu Wortwahl und Begrifflichkeit in Philemonund vor allem im Galaterbrief in den Abschnitten 4.2.3 und 5.2.3. 37

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Gebildete Christen bemühten sich deshalb im 2. Jahrhundert – im Anschluss an jüdische Vorgänger und Vorbilder wie Philon von Alexandria – diese inhaltlichen Anstößigkeiten zu mildern, indem sie die spezifisch christlichen Inhalte mit der hellenistisch-römischen Kultur- und Bildungstradition zu vermitteln und die biblisch-jüdische Begrifflichkeit der ersten frühchristlichen Schriften in die Sprache der hellenistischen Philosophie zu übertragen und den christlichen Glauben in ihrer Begrifflichkeit neu zu formulieren versuchten. Allgemein gesprochen: Die paulinischen und frühchristlichen Briefe müssen damals wie heute als »unhellenisch« erscheinen, weil bei ihnen der Leser dort, wo sich die paganen Briefe der historischen Erinnerung und der literarischen Überlieferung der paganen griechischen und römischen Kultur bedienen, auf die »Schrift« und andere Elemente der biblisch-jüdischen Tradition und des christlichen Bekenntnisses verwiesen wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die paulinischen und ähnlich auch die übrigen frühchristlichen Briefe wirken anders wegen des Austausches bzw. der Transformation der traditionellen Motive und wegen neuer Inhalte, die nicht mehr der griechischen Kultur und Bildungstradition entstammen, und nicht deshalb, weil die Form und die Funktionen christlicher Briefe im Vergleich mit den paganen antiken Briefen eine grundsätzlich andere wären.38 Die christliche Gemeinde als »Raum« der brieflichen Kommunikation und das christliche Bekenntnis als ihr Gegenstand und Hintergrund verändern also den antiken Brief; es kommt zu einer formalen und inhaltlichen Anpassung des konventionellen antiken Freundschafts- und Lehrbriefes an eine neue Kommunikationssituation mit ihren spezifischen Werten und Vorstellungen, die sich nur partiell mit den Traditionen und Konventionen der hellenistisch-römischen Kultur und Bildung in Einklang bringen lassen, ohne dass dies zu einem radikalen Bruch und unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem frühchristlichen und dem griechisch-römischen Brief geführt hat.

6.4 Paulus, der »Briefschreiber« Als Ergebnis der Analyse des Philemonbriefes und des Galaterbriefes kann festgehalten werden, dass diese einerseits an der allgemeinen epistolaren Formelsprache partizipieren, wie sie in den Papyrusbriefen gebildeter wie ungebildeter Verfasser präsent ist, sich andererseits von den Briefen Ungebildeter in ihrer kultivierten Alltagssprache deutlich unterscheiden und durch eine sorg38 Exemplarisch sei hierfür auf die Anmerkungen zum Philemonbrief bei Muir, Life 60f., verwiesen: »It is a letter of recommendation on behalf of the slave Onesimos (‘Useful’), and, although its formulars are adapted and extended to include Christian message and although its expression is somewhat fulsome, there is plainly behind the standard patter for the Greek letter of recommendation (or perhaps rehabilitation).«

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

405

fältige formale Gestaltung und Rückgriffe auf rhetorische Techniken sogar literarischen Briefen annähern können. Wie soll man sich diesen Paulus vorstellen, den diese Briefe als Absender nennen, und wo soll man ihn einordnen? Aus den Eigenhändigkeitsvermerken in Phlm 19 und Gal 6,11 ergibt sich, dass Paulus schreiben und damit auch lesen konnte (eine Annahme, die angesichts des Diktats von Briefen nicht zwingend gefordert wäre).39 Damit muss Paulus wenigstens eine elementare Schulbildung erhalten haben.40 Was sich daraus für seine soziale Herkunft folgern lässt, hängt davon ab, wie hoch man den Alphabetisierungsgrad in der Zeit und Welt des Paulus einschätzt.41 Ist die Zahl derer, die lesen und schreiben können gering, weil sich nur wenige für ihre Kinder eine elementare Schulausbildung leisten können, wäre dies bereits ein Hinweis auf die Herkunft des Paulus aus der Schicht der relativ Begüterten.42 Kann dagegen ein großer Prozentsatz der Bevölkerung lesen und schreiben, besagen diese Fähigkeiten wenig für die soziale Einordnung des Paulus. Kein eindeutiger Hinweis auf die Herkunft des Paulus sind diese Fähigkeiten, falls die Annahme zutrifft, dass die Zahl derer, die schreiben und vor allem lesen konnten, unter den (männlich) Juden aufgrund der Verpflichtung zum Studium der Tora signifikant höher ist als in ihrer hellenistischen Umwelt.43 39 Botha, Letter Writing 22f., hält es dagegen für durchaus überlegenswert und möglich, dass Paulus nicht (griechisch) schreiben konnte. Die eigenhändige subscriptio spreche nicht dagegen, da Gal 6,11 formal mit der Illiteraritätsformel verwandt sei. Eine solche Ähnlichkeit, die – wie er angibt – bei Kommentatoren »well known« sei, aber wegen ihrer Implikationen als nicht akzeptabel gelte, ist m. E. in keiner Weise erkennbar, wie ein Blick auf die bei Exler, Form 124–127, aufgelisteten Beispiele für die Formel aus den Papyrusbriefen mit erdrückender Evidenz belegt. Zu Funktion und Wortlaut der Formel vgl. die Ausführungen auf S. 49. Den Eigenhändigkeitsvermerk in Phlm 19 diskutiert er nicht. Phlm 19 kommt in dieser Frage m. E. ein besonderes Gewicht zu, da es sich hier um eine rechtliche Formel handelt, die Eigenhändigkeit verlangt (andernfalls wäre ergänzend eine Illiteraritätsformel nötig). 40 Es sei denn, man sieht das »Kultivierte« in den Briefen des Paulus als Anteil des Sekretärs, der ihm half, die richtigen Worte auszuwählen, und zu ausgefallene und ungriechische Konstruktionen verbesserte; eine solche Erklärung bei Moulton/Turner, Grammar 4, 99f. 41 Trotz gegenteiliger Meinungen darf der Grad der Alphabetisierung, also die Zahl derer, die über die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens und Schreibens verfügten, wohl als relativ hoch eingeschätzt werden (mehr als die Hälfte der Bevölkerung, zumindest im griechischsprachigen Osten); Belege dazu bereits S. 25, Anm. 80. 42 Anmerkungen dazu bei Botha, Letter Writing 19–21. Ergänzend ließe sich für die Annahme, dass eine elementare Schulausbildung teuer und deshalb nur für wenige finanzierbar war, darauf verweisen, dass Sklaven, die eine Ausbildung im Lesen und Schreiben erhalten hatten, teuer waren, weil die Kosten der Ausbildung hoch waren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass solche Sklaven nicht nur elementaren Schreib- und Rechenunterricht, sondern eine höhere literarische Ausbildung erhalten hatten, damit sie ihre Herren als Sekretäre und »Assistenten« einsetzen konnten. Eine solche Ausbildung war in der Tat mit hohen Kosten verbunden und deshalb nur für wenige finanzierbar. 43 Dazu Broer, Einleitung 309–311; mit Hinweis auf 4 Makk 18,10–19, wo es heißt, dass der Vater den Sohn im Schreiben und Lesen unterweist (unklar ist, ob es sich hierbei um den

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Die Schulbildung und die darin begründeten (literarischen und rhetorischen) Fähigkeiten des Paulus sind nicht nur für die Frage seiner sozialen Herkunft von Belang, sondern haben und hatten auch Relevanz für die Analyse und Interpretation seiner Briefe.44 Solange man mit Adolf Deißmann in Paulus ein Mitglied der sozialen Unterschicht sah, das bestenfalls über eine rudimentäre Schulbildung verfügte, schenkte man der Form seiner Briefe, abgesehen vom Formular, kaum Beachtung. Seit man spätestens mit Hans Dieter Betz sogar eine rhetorische Ausbildung des Paulus nicht mehr ausschließen will, sind die Handbücher der antiken Rhetorik zum grundlegenden Hilfsmittel der Analyse seiner Briefe geworden, um mit ihnen die Gattung, die Gliederung und die argumentativen Techniken, derer Paulus sich bediente, zu beschreiben und zu erklären. Mag hier mancher Versuch deutlich über das Ziel hinausschießen, der Galaterbrief und vielleicht noch mehr der Philemonbrief begünstigen dennoch nicht die alternative Annahme, dass sie ohne jede erlernte Kunst geschrieben wurden und dass ihr Verfasser eine ungebildete und deshalb auch »unverbildete« Persönlichkeit ist, die ungekünstelte Briefe schreibt, die ein unverstellter Spiegel ihres Seelenlebens und damit ein unmittelbarer Ausdruck ihrer religiösen Empfindungen sind. Wie wenig der Galaterbrief und der Philemonbrief in das soziale Milieu der ungebildeten Unterschicht der griechischen Städte des östlichen Mittelmeerraumes passen, in dem Adolf Deißmann Paulus und seine Adressaten verortet hat (vgl. S. 2f.), kann ein Vergleich mit P.Mich. III 201 (99 n. Chr.) illustrieren; dabei handelt es sich um den Brief eines beinahe Illiteraten, der nur etwas jünger ist als die Briefe des Paulus (zu dem Brief bereits S. 144). Ἀντώνις Ἀποληείῳ καὶ Οὐαλεριᾶτι ἀμφοταίροις χαίριν καὶ διὰ παντὸς οἱγένιν. πρὸ μὲν πάντων σαι ἀσπάσαιϑε διὰ ἐπιστωλῆς. καλῶς ο\ν ποιήσαται μελήσαιτε ἡμῖν περὶ τῶν ἁλουρῶν τῶν δούω, ἵνα μὴ νὰ ἄλλος ἐκξενίκῃ αὐτὰ καὶ τὰ εἱμάτια τὰ σουβρίκια καὶ τὼ παλλιώλιν αὐτῶν. καὶ ἐρωτήσαται Ἀπίνα περὶ τῶν φαινωλῶν, καὶ ἐρωτήσαται αὐτὼν ὅτι πόσον δαπανήσουσιν ὕφανδρα. καὶ καταβάτω Ἀτωλησσία ἡ Ἰσωτᾶ. γράψω ἐπιστολήν. καταβάτω εἷς ἐκξ ὑμῶν. ἀσπάζεται ἡμᾶς Θερμουϑᾶς πολλὰ πολλὰ καὶ μέμφαιταί σε πολλὰ ὥτι οὐ πείμπις αὐτῇ ἐπιστωλὴν καὶ τὴν ἀντιφώνησιν. ἔτους β Αὐτοκράτορος Νέρουης Τραειανοῦ Σαιβαστοῦ Γερμανικοῦ, Μεχὲρ ιζ καὶ τὼ πάλλι Δάφνης πέμψαται αὐτῇ.45

»Normalfall« handelt). Flavius Josephus spricht in c. Ap. 2,204 von dem Auftrag jüdischer Eltern, ihren Söhne das Lesen und Schreiben beizubringen; dazu Haaker, Werdegang 859f. 44 Dazu Botha, Letter Writing 18: »But once the picture of Paul as a more sophisticated apologist took hold, the conviction grew that Paul composed his letters with self-conscious and subconscious concern with the conventions of Greco-Roman rhetoric and epistolography. Formal, structural and stylistic questions no longer seem inappropriate, and definitely not unimportant …« 45 Text mit englischer Übersetzung und kommentierender Einführung bei White, Light 156 [Nr. 100]; der Brief ist in der bei White reproduzierten »fehlerhaften« Orthographie belas-

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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Neben zahlreichen Auffälligkeiten in der Orthographie und Syntax zeigt der Brief auch etliche »Verstöße« gegen die Konventionen des Briefformulars: Ein πρὸ μὲν πάντων am Anfang des Briefcorpus leitet gewöhnlich die formula valetudinis initialis ein.46 Auch der Schluss des Briefes ist ungewöhnlich. Obwohl es sich um einen Privatbrief handelt, endet er mit voller Datumsangabe wie ein amtlicher Brief und wie in einem amtlichen Brief fehlt auch der für Privatbriefe obligatorische Schlussgruß. Dies alles spricht für einen Verfasser, der nur wenig gebildet war und über keine genauen Kenntnisse über die grundlegenden Konventionen des Briefformulars verfügte, wie sie im Schulunterricht vermittelt wurden (vgl. S. 16).47 Ähnliche Auffälligkeiten lassen sich an SB V 7572 (104 n.Chr.), dem Brief der Thermouthas an ihre Mutter Valerias, beobachten; die ungeübte Handschrift des von der Absenderin wohl eigenhändig geschriebenen Briefes, die zahlreichen Fehler in Grammatik und Syntax sowie andere stilistische Eigentümlichkeiten zeigen auch hier die Herkunft des Briefes aus dem Milieu der ungebildeten Unterschicht.48 Die Andersartigkeit der Briefe des Paulus, die über das Briefformular und die korrekte Verwendung epistolarer Formeln hinausgehende Kenntnisse und Fähigkeiten dokumentieren, sprechen dafür, dass Paulus irgendeine Form der vertieften und weiterführenden schulischen Ausbildung erhalten hat.49 Denn irgendwo musste er gelernt haben, wie man einen Brief schreibt, und irgendwie musste er diese Fähigkeiten durch Übung verinnerlicht haben.50 Für die sen (eine leichter verständliche, orthographisch »bereinigte« Fassung kann über die DDbDP abgerufen werden). 46 Für diese Verbindung finden sich in den Papyrusbriefen nur wenige Beispiele: BGU III 811,3–5 (98/103 n. Chr.); P.Giss. 77,2f. (116–120 n. Chr.; Brief einer Sklavin an ihren Herrn); vgl. auch P.Giss. 17,3 (= WChr. 481/SP I 115; 113–120 n. Chr.); weitere Beispiele für die Verbindung des ἀσπάσασϑαι-Wunsches mit πρὸ μὲν πάντων insgesamt erst ab dem 2. Jh. n. Chr. Beispiele für die übliche Formulierung der formula valetudinis initialis bei Exler, Form 107– 110; zum ἀσπάσασϑαι-Wunsch in der Corpus-Eröffnung vgl. ebd. 111f. 47 Vergleicht man Sprache und Stil von P.Mich. III 201 verwundert es nicht, dass Adolf Deißmann zwei Jahre nach Erscheinen der vierten Auflage seiner Studie »Licht vom Osten« in der zweiten Auflage seines Paulus-Buches (21925) die Briefe des Paulus klarer von den Papyrusbriefen abhebt, indem er betont, dass ihre Sprache nicht literarisch, sondern volkstümlich ist, dennoch aber nicht auf dieselbe Art vulgär sei wie in vielen der gleichzeitigen Papyrusbriefe; dazu Deißmann, Paulus 42f. Auf die von ihm daraus abgeleitete Einordnung des Paulus in die »gehobene Schicht« wurde bereits hingewiesen; vgl. S. 3, Anm. 10. 48 Vgl. Winter, Life and Letters 90f.; er nennt den Brief »perhaps the most illiterate letter in the Michigan Collection« (90); zum Brief auch Bagnall/Cribiore, Women’s Letters 283. 49 Dagegen Moulton/Turner, Grammar 4, 81: »Paul’s art is usually unstudied. The eloquence is spontaneous, barely touched by an ammanuensis.« Gleichzeitig wird in demselben Werk Paulus jedoch eine »Rhetorik des Herzens« (mit Norden) zugeschrieben, »embellished at times perhaps by an amanuensis« (ebd. 82). In der Tendenz wird bei Moulton/Turner alles, was an den Briefen des Paulus »griechisch« ist, einem Sekretär/Mitarbeiter zugeschrieben und dann für Paulus selbst ein ungriechischer und unliterarischer Stil behauptet. 50 Vgl. Becker, Paulus 55f.

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Annahme, dass die Briefe des Paulus formal und inhaltlich gehobenen Ansprüchen genügen konnten, spricht auch das von ihm in 2 Kor 10,10f. offenbar nicht ohne Stolz und Selbstbewusstsein zitierte Urteil seiner bildungsbegeisterten Kritiker in Korinth, die zwar seinen mündlichen Auftritt als misslungen erachteten, die Qualität seiner Briefe aber durchaus loben konnten (vgl. auch 2 Kor 10,1f.).51 Dass die Qualität der paulinischen Briefe nicht einfach nur in seiner besonderen natürlichen Begabung und in seiner religiösen Begeisterung begründet sein kann, zeigen einige Stellen der Briefe, in denen Paulus ganz offensichtlich die gelehrte Brieftheorie seiner Zeit aufgreift.52 Hinter 1 Kor 5,3 steht der aus der Brieftheorie stammende Gedanke, dass im Brief der leiblich abwesende Absender beim Adressaten geistig gegenwärtig wird (παρουσία; vgl. S. 39). Dieses Paradox von ἀπών/παρών greift Paulus auf und modifiziert es unter dem Einfluss der biblisch-jüdischen Anthropologie zu der Formulierung ἀπὼν τῷ σώματι – παρὼν τῷ πνεύματι.53 Derselbe Gedanken der Quasi-Gegenwart im Brief steht hinter 2 Kor 10,11, obwohl Paulus das Paradox der Brieftopik hier aufzulösen scheint, indem er ἀπόντες mit den Briefen und παρόντες mit einer möglichen erneuten παρουσία τοῦ σώματος verbindet.54 Dennoch zielt auch 2 Kor 10,11 darauf, dass Paulus trotz körperlicher Abwesenheit im Brief τῷ λόγῳ bei seinen Adressaten so präsent ist, wie er es bei körperlicher Anwesenheit τῷ ἔργῳ ist bzw. sein wird.55 Dabei klingt in τῷ λόγῳ δι’ ἐπιστολῶν deutlich das δι’ ἐπιστολῆς λαλεῖν aus der antiken Brieftheorie an, das die allgemeine Überzeugung ausdrückt, im Brief werde die 51

Dazu auch Harnack, Briefsammlung 7f.; Dormeyer, Literaturgeschichte 63f. Zur sozialen Zusammensetzung und der damit verbundenen Frage nach dem Stand der Bildung in der korinthischen Gemeinde vgl. Theißen, Soziale Schichtung 232–234 und 257–260; Klauck, 1. Korintherbrief (NEB) 6–9; außerdem Schnelle, Paulus 202f.; Broer, Einleitung 358–360. 52 Auch hier ließe sich natürlich – wie bei der Frage seiner rhetorischen Ausbildung – argumentieren, Paulus habe sich diese Elemente, falls es nicht nur eine zufällige Übereinstimmung ist, »abgelauscht« und sie unbewusst aufgegriffen, falls sie nicht zur »Koine« des Briefschreibens seiner Welt und Zeit gehören, der man sich nicht entziehen konnte. Dem lässt sich jedoch mit Klaus Thraede entgegenhalten, dass alle Belege für die fragliche Topik in den Papyrusbriefen jünger sind als die Paulusbriefe, d.h. diese Elemente der gelehrten Brieftheorie waren zur Zeit des Paulus noch nicht aus der Welt der Gebildeten in die »Koine« des Briefschreibens »abgesunken«. 53 Näheres bei Thraede, Brieftopik 97–102; ders., Ursprung 141–145. Dafür, dass Paulus in 1 Kor 5,3 eine traditionelle »Formel« der gelehrten Brieftheorie aufgreift, in der sich eine theoretische Reflexion über das Wesen und die Funktion des Briefes ausdrückt, spricht nach Thraede, dass »sich die Stelle nur schwer aus paulinischem Sprachgebrauch herleiten läßt« (ebd. 143). Vgl. auch Klauck, 1. Korintherbrief (NEB) 13 und 42. 54 Dazu Bauer, Auftritt 99f.; Thraede, Ursprung 143. 55 Mit λόγῳ μέν … ἔργῳ δέ … findet sich in der griechischen Literatur öfter der Gegensatz von Reden und Tun ausgedrückt, häufig mit der Konnotation angeblich vs. tatsächlich (z. B. Isokr. or. 8,134; 12,80; 17,17; Lys. 2,5; Plut. Per. 9,1; Ios. bell. Iud. 1,288). Vgl. dazu A. Debrunner, λέγω κτλ. A. Die Vokabeln λέγω, λόγος, ῥῆμα, λαλέω im Griechentum. ThWNT 4 (1942) 71–76, hier 74.

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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Stimme des Absenders nicht anders als im Gespräch von Angesicht zu Angesicht vernehmbar (Ps.-Demtr. περὶ ἑρμενείας 232; Cic. Att. 8,14,1; Sen. epist. 75,1).56 Ohne das Gegensatzpaar ἀπών/παρών formuliert bereits der erste der erhaltenen Briefe des Paulus die Vorstellung von Trennung und Gegenwart mit den Worten ἀπορφανισϑέντες ἀφ’ ὑμῶν πρὸς καιρὸν ὥρας, προσώπῳ οὐ καρδίᾳ (1 Thess 2,17).57 Insofern scheint es durchaus plausibel, dass Paulus eine Ausbildung erhalten hat, die neben einer Unterweisung über die Form des Briefes auch eine theoretische Auseinandersetzung mit dem »Wesen« des Briefes einschloss, wie sie durch Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας dokumentiert ist. Die Tatsache, dass sich die Argumentationsformen sowohl im Philemonbrief als auch im Galaterbrief mithilfe der antiken rhetorischen Theorie beschreiben lassen, legt die Vermutung nahe, dass ihr Verfasser auch in diesem Gebiet eine theoretische und praktische Ausbildung erhalten hat. Zusammen mit den Belegen für Kenntnisse in der Brieftheorie wäre das an sich ein Indiz dafür, dass Paulus den Unterricht eines Grammatikers oder sogar eines Rhetors besucht hat, da der Brief zu den »Vorübungen« des Rhetorikunterrichts gehörte (vgl. S. 26). Damit stellt sich die entscheidende Frage, ob man Paulus, wie mehrheitlich in der Forschung, wirklich begründet eine rhetorische Ausbildung absprechen kann.58 Wenn sich in den Briefen des Paulus – wie hier für den Galater- und Philemonbrief behauptet – tatsächlich eindeutig der Rhetorik entstammende Techniken nachweisen lassen, müsste es zumindest andere vernünftige Erklärungen für diesen Befund geben, um begründet eine formale Ausbildung des Paulus in der Rhetorik bestreiten zu können. Gegenwärtig lassen sich in der Forschung vier Ansätze unterscheiden, mit denen man – sofern man ihr Vorhandensein nicht grundsätzlich bestreitet oder zumindest für irrelevant erachtet – zu erklären versucht, wie es zu so auffälligen Übereinstimmungen zwischen der Argumentation in den paulinischen Briefen und den Vorschriften der antiken Rhetorik kommen kann:59 1. Absichtliche Anwendung der rhetorischen Theorie, wie sie in den Handbüchern dargelegt und beim Rhetor vermittelt wird (was eine Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie und damit eine formale Ausbildung des Paulus in der Rhetorik einschließt). 2. Absichtliches und erfolgreiches Nachahmen von Rednern, die Paulus auf dem Marktplatz (oder in einem Odeion) einer der hellenistischen Städte 56

Vgl. Thraede, Brieftopik 22f.; Koskenniemi, Studien 42–47 und 177–179; Malherbe, Theorists 12. 57 Vgl. Thraede, Brieftopik 95–97; ders., Ursprung 143. 58 So z. B. bei Eckstein, Gemeinde 17, der eine rhetorische Analyse der Paulusbriefe mit der Begründung ablehnt, dass »solche Analysen auf der unbewiesenen Grundvoraussetzung auf[bauen], der Apostel habe zu den wenigen Hochgebildeten seiner Zeit gehört, die die Gelegenheit hatten, Rhetorik zu studieren«. 59 Im Anschluss an Classen, Criticism 5.

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

des Ostens hörte oder deren Werke er las, ohne eine zusätzliche theoretische Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie. 3. Unbewusstes und unabsichtliches Nachahmen von Reden anderer, die er zufällig gehört oder gelesen hatte. 4. Natürliche Begabung des Paulus für erfolgreiches Sprechen und Schreiben, die auch ohne eine formale Ausbildung in der Rhetorik und ohne die bewusste oder unbewusste Orientierung an Vorbildern zu überzeugenden Ergebnissen führt. Ein Konsens ist in dieser Frage und damit hinsichtlich der Bildung des Paulus bisher nicht in Sicht. Statt die Argumente für die einzelnen Positionen aufzulisten und gegeneinander abzuwägen, soll eine kritische Anfrage genügen.60 Dieter Kremendahl (2000), der sich um den Nachweis einer rhetorischen Disposition des Galaterbriefes bemüht hat, hält am Beginn seiner Studie fest, dass die von Hans Dieter Betz aufgezeigte Gliederung des Briefes nach dem Muster einer Gerichtsrede nicht notwendig das Ergebnis einer systematischen Ausbildung des Paulus und einer bewussten Orientierung an der Schul-Rhetorik sein muss. Der Befund lasse sich auch als das Ergebnis eigener Erfahrung und eines durch Übung gewonnenen Wissens des Paulus verstehen.61 Der Eindruck einer bewussten Orientierung des Paulus an traditionellen rhetorischen Strukturen entstehe vor allem dadurch, dass diese Strukturen mit dem konvergieren, was für einen erfolgreichen »Prediger« notwendig ist. Demnach wären rhetorische Disposition und Argumentation in den Briefen des Paulus wohl als Folge einer Mischung aus Versuch und Irrtum, natürlicher Begabung sowie bewusster und unbewusster Nachahmung anderer erfolgreicher Prediger, respektive Redner, zu erklären. Eine solche Erklärung provoziert die Frage, ob dann nicht irgendwann jeder einigermaßen begabte Prediger von selbst zu einem guten Prediger werden müsste, der seine Predigten über kurz oder lang unbewusst und ungelernt nach den Schemata der Schul-Rhetorik organisiert. Insgesamt ist mit Blick auf den Befund am Galater- und am Philemonbrief, verbunden mit den Indizien für eine Vertrautheit des Paulus mit der gelehrten Brieftheorie, die Erklärung rhetorischer Elemente in den Briefen des Paulus allein durch die Annahme einer natürlichen Begabung sowie durch den ergänzenden Hinweis auf »Ablauschen« und (unbewusste) Nachahmung m. E. wenig befriedigend.62 Plausibler scheint es im Vergleich mit solchen Erklärungen, 60

Eine Auflistung und Diskussion der für die einzelnen Positionen vorgebrachten Argumente mit Angabe der wichtigsten Vertreter sowie Hinweise auf weiterführende Literatur finden sich in den im Literaturverzeichnis genannten Studien von Classen. 61 So Kremendahl, Botschaft 26f. 62 Exemplarisch sei zur Illustration der Problematik einer solchen Erklärung auf die Aussagen bei Theißen, Entstehung 116–118, verwiesen. Er betont im Blick auf einen in seinen Augen klar erkennbaren rhetorischen Einfluss in den Briefen des Paulus, dass Paulus zwar gewiss keine rhetorische Ausbildung erhalten habe, sich als ›sprach- und formbegabter Mensch‹

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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Paulus als einen Briefschreiber zu sehen, der eine mehr oder weniger umfangreiche rhetorische Ausbildung erhalten hat und der beim Abfassen seiner Briefe seine Bildung nicht einfach ablegt, sondern sich an dem orientiert, was er gelernt hat. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass er Briefe schrieb, die sich mustergültig nach dem Lehrbuchschema einer Rede gliedern lassen; es geht vielmehr allgemein um den Rückgriff auf im Rhetorikunterricht erlernte und eingeübte Techniken der Stofffindung, der Argumentation und der Darstellung, wie sie sich problemlos im Galater- und Philemonbrief nachweisen lassen (dazu auch S. 104f.).63 Der Annahme, Paulus habe eine höhere Schulbildung besessen, scheint das Selbstzeugnis des Apostels in 2 Kor 11,6 entgegenzustehen, wo er über sich sagt εἰ δὲ καὶ ἰδιώτης τῷ λόγῳ, ἀλλ’ οὐ τῇ γνώσει. Dies darf jedoch nicht vorschnell als Eingeständnis mangelnder rhetorischer Qualifikation und damit als Beweis für das Fehlen einer rhetorischen Ausbildung des Paulus gewertet werden.64 Die Aussage ist vielmehr im Kontext der Ereignisse in der Gemeinde von Korinth zu sehen, auf die Paulus mit seinem Brief reagiert. Paulus war gezwungen, sich gegenüber fremden Missionaren zu positionieren und zu profilieren, die bei den Korinthern durch ihre rhetorischen Fähigkeiten Eindruck gemacht hatten (vgl. 2 Kor 10,1–2.10–11 mit 11,5; 12,11). Vor diesem Hintergrund greift er mit der Kontrastierung von λόγος und γνῶσις in 2 Kor 11,6 die antike rhetorisch-philosophische Diskussion über Sinn und Zweck der Rhetorik sowie ihren richtigen und falschen Gebrauch auf (vgl. auch die der philosophischen Polemik gegen Sophisten entlehnte Kritik in 2 Kor 4,2).65 Denn Rhetorik sei die Kunst, durch Überredung und Manipulation ohne Rücksicht auf die Wahrheit der schwächeren und eventuell sogar moralisch schlechteren Sache zum Sieg zu verhelfen (so das von den antiken Philosophen in ihrer Kritik an der Rhetorik vielzitierte Diktum des Sophisten Protagoras τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν; vgl. Plat. Prot. 317b).66 Paulus nimmt damit für sich in 2 Kor die nötigen Fertigkeiten aber durch ›Zuhören‹ erworben habe. Diese Fähigkeiten bezeichnet er als »elementare rhetorische Laienbildung«. Beachtlich ist nun, was er als Inhalt einer solchen »elementaren rhetorischen Laienbildung« und damit als rhetorische Kenntnisse und Fähigkeiten des Paulus angibt; denn in einer äußerst gerafften Darstellung skizziert er im Prinzip das gesamte System der antiken Rhetorik, einschließlich der officia oratoris, wie es in den (antiken und neuzeitlichen) Handbüchern vorgeführt wird. Kann man wirklich davon ausgehen, dass jemand, selbst wenn er überdurchschnittlich begabt ist, all das ohne systematische Ausbildung, nur durch »Zuhören« bei öffentlich vorgetragenen Reden erwerben kann? 63 Überlegungen in diese Richtung auch bei Reed, Rhetorical Categories 322–324. 64 Anders Marxsen, Einleitung 80: »… und wenn man daraus auch sicher nicht schließen kann, daß das Ganze wörtlich zutrifft, so dürfte Paulus doch in der Tat kein gewandter Redner gewesen sein, und eine imponierende Erscheinung war er auch kaum.« 65 Dazu Betz, Problem 40; zustimmend auch Becker, Paulus 56f. 66 Der Diskurs über den rechten Gebrauch der Rhetorik bzw. wahre und falsche Rhetorik, der mit dem Stichwort »Sophisten« bzw. »Sophistik« verbunden ist, wird unter anderem bei Platon (Gorg.), Demosthenes (or. 19,246. 250; 29,32 u. ö.) und Aristophanes (Nub.) fassbar;

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

11,6 in Anspruch, dass er im Unterschied zu seinen Konkurrenten die Menschen nicht durch Wortprunk und raffinierte Argumentation gewinnen wolle, sondern in schlichten Worten und Sätzen allein durch die einfache Wahrheit (vgl. 1 Kor 1,26–29).67 Derselben Strategie der Selbstdarstellung bediente sich Paulus bereits im 1. Thessalonicherbrief und vor allem im 1. Korintherbrief, indem er zwischen einer Rhetorik, die die bloße Kunst der Überredung ist, und einer Rhetorik, in der sich Geist und Macht zeigen, differenzierte: ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου οὐκ ἐν πειϑοῖ[ς] σοφίας [λόγοις] ἀλλ’ ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως (1 Kor 2,4; vgl. 1 Thess 1,5).68 Da die Aussage in 2 Kor 11,6 als Selbstdarstellung und Selbstpositionierung des Paulus als Verkünder der reinen Wahrheit in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten zu werten ist und sich der traditionellen philosophischen Rhetorikkritik verdankt, ist sie kein verlässlicher Beweis für das Fehlen einer höheren Schulbildung des Paulus. Dasselbe gilt für die übrigen Aussagen der beiden Korintherbriefe, in denen Paulus die Schlichtheit seiner Predigt und das Fehlen rhetorischer Kunstmittel betont (besonders 1 Kor 2,1–5), zumal Paulus in diesen Briefen neben solchen Statements an anderen Stellen Demonstrationen seiner Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet der Rhetorik bietet. Genannt sei hier nur der lange Abschnitt 2 Kor 11,16 – 12,13. Hier präsentiert sich Paulus durchgängig in einer Art und Weise, wie sie für einen Rhetor typisch ist und von ihm erwartet wird.69 Dazu gehört vor allem das als Apologie stilisierte Selbstlob verbunden mit der Selbstdarstellung als Leidender in Form der »Narrenrede«.70 Solche Formen rhetorischer Selbstdarstellung verbunden dazu Whitmarsh, Second Sophistic 15–19; Andersen, Rhetorik 184–194 und 201–208; Ueding/Steinbrink, Grundriß 15–23. Solche Vorurteile beeinflussten die Bewertung der Rhetorik bis in die Neuzeit, wie die von Andersen, Rhetorik 25f., aufgelisteten modernen Definitionen der Rhetorik zeigen. Auch davon ist die Antwort auf die Frage bestimmt, ob Paulus und andere neutestamentlichen Autoren sich rhetorischer Techniken bedienten und ob eine rhetorische Analyse der neutestamentlichen Texte überhaupt sinnvoll und statthaft sei. 67 Ausführlich Betz, Problem 42–44. Anders Klauck, 2. Korintherbrief (NEB) 83, der die Aussage in 2 Kor 11,6 dahingehend versteht, dass Paulus im Blick auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zwar seine Unterlegenheit auf dem Gebiet der Rhetorik konzediert, aber auf seiner pneumatisch-charismatischen Begabung und der damit verbundenen Überlegenheit insistiert. Angesichts der Tatsache, dass Paulus, wie Betz hervorhebt, im engeren und weiteren Kontext der Aussage rhetorische Fähigkeiten demonstriert, sollte man das Eingeständnis rhetorischer Schwäche eher als gezieltes Understatement werten, das die Korinther zur lobenden Anerkennung seiner Kunstfertigkeit motivieren soll. 68 Dazu Betz, Problem 36f.; ders., Apostel Paulus 59–67. In diesem Passus scheint Paulus zudem technische Begriffe aus der antiken rhetorischen Theorie aufzugreifen (vgl. Aristot. rhet. 1,2,1 [1355b]). 69 Deshalb notiert Klauck, 2. Korintherbrief 77, im Blick auf diesen Brief zu Recht, dass Paulus immer wieder den Verzicht auf rhetorische Mittel erkläre, nur damit diese »durch die Hintertür« doch wieder in den Brief kommen. 70 Vgl. Bauer, Auftritt 100f. Zur Bedeutung dieser Elemente in der Rhetorik der Zweiten Sophistik vgl. besonders Whitmarsh, Second Sophistic 79–85. Da die Thematisierung der

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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mit der Anknüpfung an den philosophischen Rhetorikdiskurs sprechen eher nicht dafür, dass sich die Elemente der antiken Schulrhetorik in den Briefen des Paulus allein der Begabung und der unbewussten Nachahmung verdanken. Trotz seiner jüdischen Herkunft und Sozialisation muss man demnach für Paulus annehmen, dass er mit der paganen hellenistischen Bildungstradition ebenso vertraut war wie mit der biblisch-jüdischen Überlieferung.71 Deshalb sollte man die Annahme, Paulus habe den Unterricht eines Grammatikers und womöglich sogar eines Rhetors besucht, nicht vorschnell zurückweisen.72 Muss man folglich annehmen, dass Paulus nicht nur den öffentlichen, den meisten freien Bürgern unentgeltlich zugänglichen schulischen Elementarunterricht im Gymnasium seiner Heimatstadt durchlaufen hat (ab ca. 7. Lebensjahr), sondern dass seine Ausbildung auch den privaten Grammatikunterricht (ab 11./12. Lebensjahr), in dem bereits erste Grundlagen der Rhetorik vermittelt wurden, und eventuell sogar den anschließenden Rhetorikunterricht (nach 16./17. Lebensjahr) umfasste?73 Ist eine solche hellenistische Schulausbildung für einen frommen Diasporajude, der wahrscheinlich aus Tarsus in Kilikien stammte (vgl. Apg 9,11; 21,39; 22,3), überhaupt denkbar?74 Für eine literarieigenen Leiden in diesen Kontext der Selbstinszenierung durch den indirekten Verweis auf die eigenen Leistungen gehört und damit der Konstruktion und Inszenierung der eigenen moralischen persona (ἦϑος) dient, sollte man aus dem oberflächlichen Charakter von 2 Kor 10–13 als Apologie nicht zu schnell eine tatsächlich apologetische Absicht des Paulus ableiten, wie dies auch bei Betz, Paulus 19, der Fall ist. Zur »Narrenrede« und ihren Wurzeln in der paganen Bildungstradition vgl. auch Becker, Paulus 245–254; Betz, Paulus 73–100 (hier auch Angabe von Parallelen in der antiken Literatur). 71 Im einzelnen Schnelle, Paulus 56–71. Vgl. außerdem Muir, Life 148, der dafür etwas pathetisch auf die Aussage in Röm 1,14 verweist: Ἕλλησίν τε καὶ βαρβάροις, σοφοῖς τε καὶ ἀνοήτοις ὀφειλέτης εἰμί (eine Aussage, die mit dem Gegensatz Griechen und Barbaren selbst von griechischem Bildungsbewusstsein geprägt ist). Broer, Einleitung 320, merkt allerdings an, dass Einflüsse der griechischen Literatur und Philosophie – abgesehen von der stoischen (Popular-)Philosophie – in den Briefen des Paulus kaum nachweisbar sind. 72 Vgl. Hock, Problem 15f. 73 Zum hellenistischen Schulsystem Hose, Literaturgeschichte 162–167; anhand von Papyrustexten aus Ägypten Pitts, Hellenistic Schools 20–27, und vor allem Cribiore, Gymnastics 15–44; ausführlich zu den einzelnen Stufen und den Unterrichtsgegenständen auch Marrou, Erziehung 209–319; außerdem Cribiore, a. a. O. 160–244. Der schulische Elementarunterricht wurde in den Poleis des östlichen Mittelmeerraumes seit dem Hellenismus gewöhnlich durch private Schulstiftungen finanziert; Organisation und Aufsicht darüber lagen in den Händen der städtischen Institutionen. Der höhere Schulunterricht beim Grammatiker und Rhetor war dagegen privat organisiert und finanziert. Dazu außerdem H. H. Schmitt, Schule. Lexikon des Hellenismus Sp. 952–954; P. Müller, Lesen, Schreiben, Schulwesen, in: Erlemann, Neues Testament 2, 234–237; R. Baumgarten, Schule: Elementar- und Grammatikunterricht. Griechenland, in: Christes, Handbuch der Erziehung 89–100. 74 Die Annahme, dass Paulus aus dem kleinasiatischen Tarsus stammt, stützt sich allein auf die Apostelgeschichte; die Paulusbriefe selbst enthalten keine entsprechenden Angaben; vgl. zur Problematik Wolter, Paulus 10f. Dennoch gilt die Herkunft des Paulus aus der hellenistisch geprägten jüdischen Diaspora Kleinasiens und damit auch die Tradition seiner Abstam-

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

sche Ausbildung des Paulus in griechisch-hellenistischer Form, die auch die Progymnasmata bei einem Rhetoriklehrer einschloss, plädierte zuletzt Tor Vegge (2006).75 Tarsus, die Stadt, die nach den Angaben der Apostelgeschichte die Heimat des Paulus war, bot jedenfalls die nötigen Voraussetzungen und institutionelle Möglichkeit für eine derartige Ausbildung.76 Günter Bornkamm (1979; 71993) lässt die Frage, wo und wie Paulus seine schulische Ausbildung erhalten hat, weitgehend offen, betont aber, dass sich bei ihm nicht geringe Elemente der griechischen Bildung erkennen lassen, jedoch keine annähernd gleiche Schulung in griechischer Philosophie wie bei Philon von Alexandria.77 Bedenkt man, dass Philon ungeachtet seiner jüdischen Herkunft in herausragender Weise die hellenistisch-römische Bildungselite repräsentiert, bleibt ein weiter Raum für das, was man sich als Bildung des Paulus vorstellen kann. Präziser ist Jürgen Becker (1989; 21992), der auf schulische Einrichtungen des jüdischen Bildungswesens in der Diaspora verweist, wo auch Grundkenntnisse in der Rhetorik vermittelt wurden.78 Hier habe Paulus neben einer religiös jüdischen Ausbildung auch eine hellenistische Allgemeinbildung auf dem Niveau der zweiten Stufe des damaligen Bildungssystems (γραμματίστης) erhalten.79 Allerdings fehlen für solche höhere Bildungseinrichtungen der Juden in der Diaspora eindeutige Zeugnisse.80 Deshalb ist auch nicht auszuschließen, mung aus Tarsus in Kilikien mehrheitlich als unzweifelhaft, da – soweit die Briefe erkennen lassen – Griechisch die Muttersprache des Paulus war und seine Sprache keine Kennzeichen von Übersetzungsgriechisch oder für einen Bilingualen typische Interferenzphänomene zeigt. Dazu Broer, Einleitung 320. Anders Haaker, Werdegang 854f., der solchen Annahmen mit einer gewissen Berechtigung entgegenhält, dass Palästina zur Zeit des Paulus hellenisiert war und dass Paulus in Jerusalem in einem hellenistisch geprägten Haushalt aufgewachsen sein könne. Zur Hellenisierung Palästinas vgl. M. Hengel, Zum Problem der »Hellenisierung« Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT I/90), Tübingen 1996, 1–90. Auf weitere Thesen zu einer Herkunft des Paulus aus dem palästinischen Judentum, die sich auf eine Angabe bei Hieronymus (vir. ill. 5) stützen, wonach Paulus in Gischala in Galiläa geboren wurde und erst später mit seinen Eltern von dort nach Tarsus übersiedelte, kann hier nur hingewiesen werden. 75 Dazu ausführlich Vegge, Paulus 425–486; ähnlich Dormeyer, Literaturgeschichte 62f.; skeptisch dagegen Classen, Rhetorische Theorie 155f.; ablehnend Theißen, Entstehung 117. 76 Zu Tarsus in Kilikien als Bildungszentrum in der Zeit des Paulus vgl. Porter, Paul 534; Gnilka, Paulus 21f.; außerdem Wolter, Paulus 10–12. Zur Situation in den kleinasiatischen Städten während der Kaiserzeit allgemein A. D. Macro, The Cities of Asia Minor under the Roman Imperium, in: ANRW II. 7.2 (1980) 658–697. 77 Vgl. Bornkamm, Paulus 32f.; ähnlich Lona, Paulus 10–12. 78 Dazu Becker, Paulus 54f. 79 Vgl. Becker, Paulus 55; ähnlich Lohse, Paulus 109f. Kritisch zur Annahme, dass alles Hellenistische bei Paulus und im (frühen) Christentum sich der Vermittlung des hellenistischen Judentums verdanke, Schnelle, Paulus 69–71. 80 Näheres bei Vegge, Paulus 279–296. Aufgrund archäologischer Zeugnisse ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die Synagogen der Diaspora (in Kleinasien und den östlich angrenzenden Regionen) mit Räumen für den Schulunterricht für die Kinder der Gemeinden

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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dass Paulus das hellenistische Bildungssystem absolviert und parallel in der Synagoge eine ergänzende Einführung in die jüdische Überlieferung erhalten hat. Außerdem wird in den letzten Jahren aufgrund der Angaben der Apostelgeschichte über die Erziehung des Paulus in Jerusalem wieder verstärkt die Möglichkeit diskutiert, Paulus habe hier, nicht in Tarsus eine literarische und rhetorische Ausbildung nach hellenistischem Modell erhalten (vgl. Apg 22,3f.; 26,4f.); dafür plädieren unter anderem Joachim Gnilka (1996), Martin Hengel und Anna Maria Schwemer (1998) sowie Jörg Frey (2006).81 Wenn Paulus eine über den Elementarunterricht hinausgehende Schulausbildung erhalten hat, dann muss seine Familie über ein gewisses Vermögen verfügt und zumindest zur »gehobenen Mittelschicht« gehört haben.82 Dies gilt auch, wenn Paulus in versehen waren. Dies lassen unter anderem die ausgegraben, umfangreichen Synagogenkomplexe von Sardis (2. Jh. n. Chr.) und Ostia (ab 1. Jh. n. Chr.) vermuten. Zu den ausgegrabenen Diaspora-Synagogen vgl. A. F. Kraabel, The Diaspora Synagogue. Archeological and Epigraphic Evidence since Sukenik, in: ANRW II. 19.1 (1979) 477–510. 81 Nach Hengel/Schwemer, Paulus 264–266, hat Paulus seine hellenistische Ausbildung in der griechisch-sprachigen Synagoge Jerusalems erhalten. Die Übersiedlung von Tarsus nach Jerusalem könne nicht zu früh erfolgt sein, da Paulus Griechisch als seine Muttersprache beherrschte; so Hengel, Der vorchristliche Paulus 233–235. Nach Frey, Judentum 7f., hat Paulus seine schulische »Grundausbildung« in Tarsus und erst seine weiterführende Ausbildung in Jerusalem erhalten. Ähnlich auch Gnilka, Paulus 29f.; Wolter, Paulus 13. Nach Haaker, Werdegang 850, ist Paulus gemäß dem Wortlaut von Apg 22,3f. bereits als Kleinkind nach Jerusalem gekommen und hier aufgewachsen; im Anschluss an W. C. van Unnik, Tarsus of Jerusalem, de stad van Paul’s jeugd, Amsterdam 1962. Die Vertrautheit des Paulus mit der hellenistischen Welt und Kultur ist jedenfalls kein zwingendes Argument dagegen, dass Paulus in Jerusalem aufgewachsen ist und erzogen wurde, da Palästina und das palästinische Judentum in neutestamentlicher Zeit in hohem Maße hellenisiert waren; vgl. Hengel/Schwemer, Paulus 66f. Jerusalem scheint zudem die nötigen Voraussetzungen für eine Ausbildung nach hellenistischen Maßstäben besessen zu haben. Näheres zu einem formal und inhaltlich an der griechischen Bildungstradition orientierten »Schulwesen« in Jerusalem bei Pitts, Hellenistic Schools 27–50 (mit allerdings nur vorsichtiger Zustimmung). Eine schulische Ausbildung in Jerusalem ist jedoch eher unwahrscheinlich, da Paulus sie sonst wohl in Phil 3,5 erwähnt hätte, wo er über seine Herkunft und Abstammung spricht. Vgl. Bornkamm, Paulus 27. 82 So Gnilka, Paulus 25. Zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der sozialen Einordnung kommen E. W. Stegemann/W. Stegemann, Sozialgeschichte 256–261; ihrer Meinung nach stehen in dieser Frage die Angaben der Apostelgeschichte und das Selbstzeugnis der Briefe gegeneinander. Die Apostelgeschichte entwerfe ein Bild des Paulus, der zur lokalen Elite seiner Heimatstadt gehöre, während sich Paulus in den Briefen als Mitglied der Unterschicht präsentiere. Dieser Gegensatz dürfe auch nicht über die Behauptung eines freiwilligen Statusverzichtes des Paulus um des Evangeliums willen gelöst werden. Für diese Einordnung werden weder Sprache und Stil noch Indizien rhetorischer Kenntnisse in den Briefen berücksichtigt, sondern vor allem die Aussagen des Paulus, dass er sich auch als Missionar seinen Lebensunterhalt durch schwere Handarbeit verdiente (1 Kor 4,12; 2 Kor 6,5; 11,23; 1 2,9; den nicht eindeutig bestimmbaren Beruf des σκηνοποιός nennt jedoch nur Apg 18,3). Dabei berücksichtigen sie jedoch nicht, dass sich in diesen Aussagen zumindest auch Elemente der traditionellen philosophisch-rhetorischen Selbststilisierung erkennen lassen (z. B. Peristasen-Katalog). Hinzuweisen wäre zudem darauf, dass die soziale Einordnung des Paulus auch davon abhängt, welches Mo-

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

Jerusalem erzogen und ausgebildet wurde, zumal wenn die Familie selbst nicht nach Jerusalem übersiedelt war, sondern nur den Sohn Paulus dorthin zur religiösen Ausbildung geschickt hatte.83 Ob man mit Eduard Norden (1915) sagen kann, bei Paulus hätten in Ausbildung und Erziehung die jüdische Elemente überwogen, sei dahingestellt.84 Der Galaterbrief belegt, dass Paulus neben seinen Fähigkeiten im Bereich der hellenistischen Bildungstradition zumindest über Grundkenntnisse in der jüdischen schriftgelehrten Diskussion und eventuell auch über jüdische Auslegungsmethoden verfügte.85 Dies lässt sich sowohl dem Selbstzeugnis in Gal 1,13f. als auch der praktischen Demonstration solcher Kenntnisse in Gal 4,21– 31 entnehmen. Die Angabe der Apostelgeschichte, Paulus habe seine jüdische Ausbildung bei dem berühmten Rabbi Gamaliël I. (um 25/50 n. Chr.) in Jerusalem erhalten, ist jedoch höchst unwahrscheinlich, da Paulus selbst kein Studium in Jerusalem, geschweige denn Gamaliël I. als seinen Lehrer erwähnt.86 dell man zur Analyse und Beschreibung der sozialen Strukturen und Schichtung der antiken Gesellschaft wählt. Zu wenig beachtet wird meist, dass den traditionellen, durch Abstammung und Bildung konstituierten Eliten (Senatoren und Ritter bzw. Dekurionen) in der Kaiserzeit durch neue Gruppen, die ebenfalls über Einfluss und Geld verfügten und nach sozialem Prestige strebten, zunehmend Konkurrenz erwuchs; dazu gehören vor allem reiche Handwerker und Freigelassene. Die Herkunft aus der Schicht der Handwerker und die Herkunft aus einer vermögenden Familie, die ihren Kindern eine höhere Schulausbildung finanzieren konnte und wollte, stellen demnach nicht per se einen Widerspruch dar; dies gilt auch für die soziale Einordnung des Paulus. Den Aufstieg der Freigelassen in der Gesellschaft der Kaiserzeit spiegelt z. B. das Satyrikon des Petronius Arbiter (Cena Trimalchionis). Selbstbewusstsein und Streben nach Sozialprestige bei Handwerkern illustriert z. B. das monumentale Grabmal des Bäckers Eurysaces an der Porta Maggiore in Rom (1. Jh. n. Chr.). Beispiele für monumentale Grabanlagen sozialer Aufsteiger finden sich auch andernorts, so z. B. das Grab des Freigelassenen und Augustalen Publius Vesonius Phileros in Pompeji. Ein reicher Freigelassener der Stadt, dem als solcher eine politische Karriere versagt war, ließ bereits seinen sechsjährigen Sohn Numerius Popidius Celsinus als Euergeten bei der Renovierung des Isis-Tempels auftreten (was eine Inschrift am Heiligtum publik machte), um ihm die ehrenvolle Ämterlaufbahn in der Stadt zu ermöglichen. Vgl. L. H. Petersen, The Freedman in Roman Art and Art History, Cambridge 2006; H. Mouritsen, The Freedman in the Roman World, Cambridge 2011. 83 E.-M. Becker, Herkunft 91, weist zurecht darauf hin, dass die Ausbildung eines Diasporajuden in Jerusalem einen erheblichen finanziellen Aufwand bedeutete. 84 Vgl. Norden, Kunstprosa 2, 495–498. 85 Dazu Lohse, Paulus 23–25; Gnilka, Paulus 30f. Was die Auslegungsmethoden – z. B. die Allegorese in Gal 4,21–31 – angeht, ist jedoch hinsichtlich einer exklusiv jüdischen Herleitung Vorsicht geboten, da die Methoden der jüdischen Schriftgelehrten in erheblichem Maße aus der hellenistischen Literaturwissenschaft übernommen sind. Die Allegorese – vor allem die Homer-Allegores (Odysseus als Sinnbild für Tugenden) – ist zudem ein Bestandteil der Popularphilosophie stoischer Provenienz. 86 Bornkamm, Paulus 34f., geht davon aus, dass die Angabe der Apg 22,3 zumindest soweit zutrifft, dass er als Pharisäer seine Ausbildung in der Schriftauslegung dort erhalten hat, wenn er wohl auch – anders als Apg 22,3 behauptet – kein Schüler des berühmten Rabbi Gamaliël I. gewesen sein dürfte. Ähnlich Broer, Einleitung 322; Dunn, Galatians (BNTC) 60 (er

6.4 Paulus, der »Briefschreiber«

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Die Erwähnung eines so prestigeträchtigen Faktums wäre jedoch in Phil 3,5f. und wohl auch in Gal 1,13f. zu erwarten, wo Paulus durchaus selbstbewusst und voll Stolz über seine jüdischen Wurzeln spricht. Am wahrscheinlichsten ist, dass Paulus seine religiöse jüdische Formung und Ausbildung im Umfeld der Synagoge87 seiner (vermutlichen) Heimatstadt Tarsus erhalten hat; alles weitere bleibt angesichts des mangelnden Wissens über die jüdischen Bildungseinrichtungen der Diaspora Spekulation.88 Abgesehen von den vorausgehenden Überlegungen zur Bildung ist als Ergebnis der Analyse des Galater- und Philemonbriefes festzuhalten, dass für den Briefschreiber Paulus mit einer bewussten Selbstdarstellung sowohl im Blick auf das Anliegen als auch im Blick auf die Adressaten seiner Briefe zu rechnen ist. Eine solche gezielte Selbstdarstellung lässt sich auch in den anderen Briefen des Paulus beobachten. Dazu gehört unter anderem die bereits genannte Selbststilisierung und Positionierung in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten mithilfe von Narrenrede und Peristasenkatalog in 2 Kor 11,16 – 12,13. Ein Mittel gelehrter Selbstdarstellung ist die ebenfalls bereits genannte Rhetorikkritik, mit der Paulus sich gezielt gegen andere christliche Missionare abgrenzt, sich aber zugleich seinen Adressaten als kompetent im Bereich der hellenistischen Bildung präsentiert. Eine ähnliche Funktion haben Demonstrationen seiner Kenntnisse in der gelehrten Brieftheorie.89 Außerdem hat Gerhard Dautzenberg (1986) auf eine gezielte Selbstdarstellung des Paulus in 2 Kor sieht Gal 1,14 als starken Hinweis auf eine pharisäische Ausbildung in Jerusalem); vorsichtiger bezüglich einer Schulung als Pharisäer in Jerusalem Becker, Paulus 8–41; Gnilka, Paulus 28. Für eine Ausbildung des Paulus bei Gamaliël votiert Haaker, Werdegang 859f.; auch Frey, Judentum 7. Wolter, Paulus 13, hält eine Ausbildung bei Gamaliël zumindest für »nicht ausgeschlossen«. Hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Information in Apg 22,3 ist auch zu bedenken, dass Gamaliël nur vom Verfasser der Apostelgeschichte als Pharisäer identifiziert wird (Apg 5,34); vgl. Goodman, Roman World 308f. 87 Allerdings sind die Zeugnisse über jüdisches Leben im antiken Tarsus gering, wie Wolter, Paulus 12, betont. 88 Für eine zumindest religiöse Ausbildung des Paulus in Jerusalem führt man gewöhnlich seine Selbstbezeichnung als »Pharisäer« an (Phil 3,5; vgl. Apg 22,6); denn außerhalb Palästinas habe es zu dieser Zeit keine pharisäischen Schulen und Lehrer gegeben und es gebe zudem keine Zeugnisse über Diasporapharisäer. Vgl. Frey, Judentum 34; Haaker, Werdegang 850– 852; Gnilka, Paulus 29f.; Hengel, Der vorchristliche Paulus 222–237. Skeptisch dazu Becker, Paulus 8–41, der betont, dass »Pharisäer« in Phil 3,5 nicht als Berufsbezeichnung im Sinne von Schriftgelehrter, sondern nur als Angabe der religiösen Ausrichtung zu verstehen ist. Schnelle, Paulus 54f., merkt an, dass man angesichts der Quellenlage zur pharisäischen Bewegung das Schweigen der Quellen über Diasporapharisäer nicht überbewerten darf; es kann sie also durchaus gegeben haben. In diesem Sinne auch Wolter, Paulus 13f. Beide berufen sich dabei auf G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991, hier 112; vgl. dazu auch J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Berlin/New York 1972, hier 76f. und 81f. 89 Vgl. Bauer, Auftritt 99f.; ein die formale Gestaltung von 2 Kor 10,10f. veranschaulichende Strukturierung des Textes ebd. 90.

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6. Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie

1–9 (ohne 6,14–7,1) aufmerksam gemacht, mit der Paulus unter bewusster Vermeidung des Apostel-Titels der korinthischen Gemeinde gegenüber seine Autorität durch die Inszenierung als »Diener« zu begründen und legitimieren versucht.90 In den Bereich der Selbstdarstellung gehören auch autobiographische Selbstkonstruktionen wie Phil 3,2–6. Dies ist bei der biographischen Auswertung dieser (und anderer) Aussagen in den Briefen des Paulus in Rechnung zu stellen, so z. B. beim Selbstzeugnis in den beiden Korintherbriefen: Paulus präsentiert sich hier seinen Adressaten als einer, der im Vergleich mit anderen Aposteln keine beeindruckende Gestalt war, da er kein großartiger Rhetor (2 Kor 10,10f.), kein bewundernswerter Enthusiastiker (2 Kor 12,1ff.) und auch kein mächtiger Wundertäter (2 Kor 12,11f.) war; vielmehr war er ein kranker Mensch, den Gott nicht geheilt hatte (1 Kor 12,7ff.). Da ein Brief, nicht anders als eine Rede, auf Mittel der gezielten Selbstdarstellung vor den Adressaten setzt, gewährt er keine unmittelbaren und »ungekünstelten« Einblicke in die physische und psychische Konstitution seines Verfassers. Dies gilt auch für die Briefe des Paulus. Deshalb ist Vorsicht geboten gegen alle Versuche, die aus den Briefen eine hoch emotionale Persönlichkeit herauslesen oder sie als Quellen für Erkundungen des paulinischen Innenlebens sehen wollen.91

90 91

Näheres dazu aus S. 122, Anm. 58. Gegen Eckstein, Gemeinde 238.

Anhang 1. Leben und Wirken des Paulus Versuch einer absoluten Chronologie Gal 1–2: Das autobiographische Selbstzeugnis des Paulus umfasst die Zeit von der Hinwendung des Christentums bis zum »Apostelkonzil« bzw. dem Zwischenfall in Antiochia. Ein absoluter chronologischer Ansatz der Ereignisse ist aufgrund dieses Selbstzeugnisses nicht möglich.

■ zwischen 30 und 33: Hinwendung zum Christentum anschließend Mission in der Arabia Rückkehr nach Damaskus ■ 3 Jahre später (ca. 33/34): Besuch bei Petrus in Jerusalem Paulus bleibt 15 Tage bei ihm; Zusammentreffen auch mit dem Herrenbruder Jakobus ■ Mission in Syrien und Kilikien ■ Anschluss an die christliche Gemeinde von Antiochia ■ 14 Jahre nach dem ersten Besuch in Jerusalem (47/48): »Apostelkonvent« ■ Zwischenfall in Antiochia und Beginn der selbständigen Missionstätigkeit Ab diesem Zeitpunkt im Leben und Wirken des Paulus bieten die Briefe keine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse mehr; die Angaben der Apostelgeschichte lassen sich deshalb nur mehr vereinzelt am Selbstzeugnis der Briefe überprüfen. Allerdings bietet die Apostelgeschichte für diesen Zeitraum Angaben, die – sofern sie historisch zuverlässig sind – als Ansätze für eine absolute Chronologie dienen könnten.

■ 48/49: Krankheit und Mission in Galatien (1. Aufenthalt) ■ 50: Gemeindegründungen in Philippi und Thessalonich Aufenthalt in Athen (1 Thess 2,1; 3,1) Apg 18,2: Paulus trifft in Korinth das judenchristliche Ehepaar Priska und Aquila, die infolge einer Judenausweisung durch Kaiser Claudius von Rom nach Korinth gekommen sind. Die erst im 5. Jh. durch den Historiker Orosius bezeugte Datierung dieser Judenausweisung in das 5. Jahr der Regierung des Claudius (49 n. Chr.) ist umstritten.

■ 50 (51): Ankunft in Korinth Dauer des Gründungsaufenthalts: eineinhalb Jahre Apg 18,12–16: Paulus in Korinth vor dem Richterstuhl des Prokonsuls Gallio.

420

Anhang

Gallio-Inschrift aus Delphi (52 n. Chr.) – unklar, ob Jahr des Antritts der einjährigen Amtszeit oder Jahr der Amtsübergabe an Nachfolger → Gallio 51/52 oder 52/53 Statthalter in Achaia

– 1. Thessalonicherbrief ■ 52 (53): Ankunft in Ephesus (drei Jahre) Haft in Ephesus (1 Kor 15,32?) – 1. Teil der Korintherkorrespondenz: Vorbrief (Trennungsbrief) – Fragenbrief der Korinther und Ankunft der Leute der Chloe – Antwortbrief (1. Korintherbrief) – Philipperbrief – Philemonbrief (53 oder 55) ■ Zwischenbesuch in Korinth (2 Kor 2,1f.) ■ Überstürzte Rückkehr nach Ephesus – 2. Teil der Korintherkorrespondenz: Tränenbrief (2 Kor 10–13) ■ erneuter Besuch in Galatien (2. Aufenthalt) ■ 55/56 (57/58): letzter Aufenthalt in Makedonien und Korinth – 3. Teil der Korintherkorrespondenz: Versöhnungsbrief (2 Kor 1–9) – Galaterbrief (55 oder 58) – Römerbrief ■ 56/57 (59): Reise nach Jerusalem Überbringen der Kollekte der Christen in Makedonien und Achaia Verhaftung in Jerusalem ■ (zweijährige) Haft in Caesarea am Meer Apg 24: Paulus vor dem Statthalter Felix Apg 25f.: Nach zweijähriger Haft des Paulus in Caesarea trifft der neue Statthalter Festus ein. Paulus appelliert an das Kaisergericht und wird nach Rom übersandt. Das Jahr der Ablösung des Felix durch Festus als Statthalter von Judäa ist in der Forschung allerdings umstritten; sie erfolgte möglicherweise erst im Jahr 59 oder 60. Dies spräche für die Spätdatierung.

■ 58/59 (60/61): Gefangenentransport nach Rom ■ Ankunft in Rom: hier Paulus in leichter Haft (libera custodia) ■ nach 60: Hinrichtung in Rom

Der geographische Raum der paulinischen Mission

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2. Der geographische Raum der paulinischen Mission Die Missionstätigkeit des Paulus nach dem Selbstzeugnis seiner Briefe:

(auf der Grundlage einer Karte von Prof. em. Dr. Georg Schmuttermayr, Regensburg, zur Vorlesung »Paulus – Apostel der Völker« im Wintersemester 1995/96)

Anhang

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3. Übersicht zu den antiken Briefcorpora

-400

-300 -200

"Hippokrates" (M) Briefsammlung

"Anacharsis" (PH) Briefsammlung

Epikur (PH) Lehrbriefe

Platon (PH) "Platon" (PH) → Briefroman (?) echt? Aristoteles (PH) verloren Theophrast (PH) Brief bei Diog.Laert. Lysias (R) Frg.s; echt? Isokrates (R) echt/unecht? Demosthenes (R) echt/unecht?

Cato (P) Lehrbriefe

"Alexander" (H) Briefroman Philochoros von Athen echt/unecht?

B – Bischof L – Literat H – Herrscher M – Mediziner/Arzt P – Politiker PH – Philosoph R – Redner/Rhetor TH – Theologe "Name" – pseudepigraph

-100 0

+100

+200

"Sokrates"/Sokratikerbriefe (PH) Briefroman "Xenophon"(PH); zu Sokratikerbriefen

+300

+400

Gregor von Nazianz (B/TH) Briefsammlung

Gregor von Nyssa (B/TH) Briefsammlung

Briefroman Porphyrios (PH) "Krates"/"Diogenes"/Kynikerbriefe (PH) Frg. eines Briefes Briefsammlung Musonios (PH) Julian (H/PH) Lukian (L) "Brutus"?(P) Frg. eines Briefes Briefform Briefsammlung Sammlung "Pythagoras"/Pythagoreer/"Theano" (PH) "Heraklit" (PH) Briefsammlung Libanios (R) Briefsammlung "Aischines" (R) Briefsammlung Appolonios (PH) Briefroman Synesios (B/PH) Briefsamm. (echt?) "Themistokles" (P) Briefsammlung "Chion von Herakleia" (PH/H) Briefroman Philostrat [2] (L) Symmachus (P) Briefroman Dion von Prusa (PH/R) Kunstbriefe Briefsammlung Briefe; evtl. echt Philostrat [3] (L) Ausonius (L) Dionysios v. Hal. (L) Plutarch (L) Sendschreiben Briefform; Briefe in Bioi Briefsammlung Briefessays Aelianus (L) Paulinus von Nola (B) Typenbriefe "Euripides" (L) Briefsammlung Briefroman Alkiphron (L) Hieronymus (B/TH) Typenbriefe Cicero (P/R) Briefsammlung Seneca (P/PH) Plinius d.J. (P/L) Briefsammlung Briefsammlung Briefsammlung Cyprian (B/TH) Augustinus (B/TH) Horaz (L) 1-3 Joh Briefsammlung Briefsammlung Briefgedichte Paulus (dtr. u. trit.) Ovid (L) Basilius (B/TH) Gemeindebriefe Briefgedichte Briefsammlung Hebr Barn Jak

"Ignatius v.A." Briefsammlung

Polyk MartPol

Jud 2 Petr

1 Clem

1 Petr

423

Synopse zu den Bar Kochba-Briefen

4. Synopse zu den Bar Kochba-Briefen Da die Literatur zum frühjüdischen Brief unterschiedliche Editionen der Bar Kochba-Briefe aus Naḥal Ḥever mit abweichenden Nummerierungen und Kürzeln benutzt, soll folgende Synopse zur leichteren Orientierung und zur Überprüfung der Ausführungen in Abschnitt 2.2 beitragen. Die vorliegenden Studie benutzt Kürzel und Nummerierung wie in der Auflistung in DJD XXIX (S. 106f.), die – unter Beibehaltung des Kürzels 5/6 Ḥev – die Zählung der Briefe in den JDS III (2002) übernimmt (hier mit dem Kürzel P.Yadin). Die älteren Studien folgen der Zählung der Briefe in IEJ 11 (1961); so auch Alexander, Epistolary Literature (CRI). Neben 5/6 Ḥev und P.Yadin findet sich für die Texte aus Naḥal Ḥever auch das Kürzel NḤ. Für die Briefe aus Naḥal Ḥever wurde die aktuelle Textausgabe von Yadin in den JDS III zugrunde gelegt; die ältere Textrekonstruktion der hebräischen und aramäischen Briefe von Yadin in IEJ 11 und der aramäischen Briefe bei Fitzmyer/Harrington, Manual (OrBib 34), weicht stellenweise erheblich davon ab. Die Briefe aus Murabba‘at werden in der Literatur mit gleicher Nummerierung einheitlich mit dem Kürzel Mur (oder gelegentlich P.Mur.) angegeben (vgl. dazu die Liste in DJD XXIX, S. 99); ihr Text ist in den DJD II (1961) ediert. DJD XXIX

JDS III

IEJ 11

BibOr 34

Alexander 5/6 Ḥev 12

hebr.

Nr. 56

5/6 Ḥev 8

aram.

5/6 Ḥev 5

hebr.

5/6 Ḥev 49 BK bdl. 11 P.Yadin 49

Nr. 12

5/6 Ḥev 50 BK bdl. 7

P.Yadin 50

Nr. 8

5/6 Ḥev 51 BK bdl. 4

P.Yadin 51

Nr. 5

5/6 Ḥev 52 BK bdl. 2

P.Yadin 52

Nr. 3

5/6 Ḥev 3

griech.

5/6 Ḥev 53 BK bdl. 3

P.Yadin 53

Nr. 4

Nr. 55

5/6ḤevEp 4

5/6 Ḥev 4

aram.

5/6 Ḥev 54

P.Yadin 54

Nr. 1

Nr. 53

5/6ḤevEp 1

5/6 Ḥev 1

aram.

5/6 Ḥev 55 BK bdl. 13 P.Yadin 55

Nr. 14

Nr. 59

5/6ḤevEp 14 5/6 Ḥev 14

aram.

5/6 Ḥev 56 BK bdl. 10 P.Yadin 56

Nr. 11

Nr. 58

5/6ḤevEp 11 5/6 Ḥev 11

aram.

5/6 Ḥev 57 BK bdl. 14 P.Yadin 57

Nr. 15

Nr. 60

5/6ḤevEp 15 5/6 Ḥev 15

aram.

5/6 Ḥev 58 BK bdl. 9

P.Yadin 58

Nr. 10

Nr. 57

5/6ḤevEp 10 5/6 Ḥev 10

aram.

5/6 Ḥev 59 BK bdl. 5

P.Yadin 59

Nr. 6

5/6 Ḥev 6

griech.

5/6 Ḥev 60 BK bdl. 8

P.Yadin 60

Nr. 9

5/6 Ḥev 9

aram.

5/6 Ḥev 61 BK bdl. 6

P.Yadin 61

Nr. 7

5/6 Ḥev 7

hebr. ?

5/6 Ḥev 13

aram. ?

5/6 Ḥev 2

aram.

5/6 Ḥev 62 BK bdl. 12 P.Yadin 62

Nr. 13

5/6 Ḥev 63

Nr. 2

P.Yadin 63

Nr. 54

5/6ḤevEp 8

5/6ḤevEp 2

Literatur 1. Quellen a. Biblische Schriften Biblia Hebraica Stuttgartensia. Editio quarta emendata opera H. P. Rüger, Stuttgart 1990. Biblia Hebraica Stuttgartensia. Editio funditus renovata, editio quinta emendata opera Adrian Schenker, Stuttgart 1997– [noch nicht abgeschlossen]. Novum Testamentum graece post Eberhard et Erwin Nestle editione vicesima septima revisa communiter ediderunt Barbara et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce Metzger. Apparatum criticum novis curis elaboraverunt Barbara et Kurt Aland una cum Instituto Studiorum Textus Novi Testamenti Monasterii Westphaliae, Stuttgart 1993. Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred Rahlfs. Duo volumina in uno, Stuttgart 1935, 1979. Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum. Auct. Academia Scientiarum Gottingensis ed., Göttingen 1926– [noch nicht abgeschlossen]. b. Antike jüdische Literatur und Quelleneditionen Apokryphen, Pseudepigraphen etc. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit [JSHRZ]. Herausgegeben von Hermann Lichtenberger in Zusammenarbeit mit Christian Habicht, Otto Kaiser, Werner Georg Kümmel, Otto Plöger und Josef Schreiner, Gütersloh 1,1973– [noch nicht abgeschlossen]. Flavius Josephus Flavii Iosephi opera, ed. et apparatu critico instruxit Benedictus Niese, 7 Bde., Berlin 1887– 1895 [Nachdr. 1955]. Bar Kochba-Briefe etc. Beyer, Klaus, Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Festrolle und den talmudischen Zitaten, Göttingen 1984. Fitzmyer, Joseph A./Harrington, Daniel J., A Manual of Palestinian Aramaic Texts (Second Century B. C. – Second Century A. D.) (BibOr 34), Rom 1978. The Finds from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Ed by Yigael Yadin (The Israel Exploration Society – Judean desert studies [JDS], Bd. 1), Jerusalem 1963. The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Greek Papyri ed. by Naphtali Lewis. Aramaic and Nabatean signatures and subscriptions ed. by Yigael Yadin (The Israel Exploration Society – Judean desert studies [JDS], Bd. 2), Jerusalem 1989. The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters, 2 Bde. (The Israel Exploration Society – Judean desert studies [JDS], Bd. 3,1–2), Jerusalem 2002. Corpus Papyrorum Judaicarum. With an Epigraphical Contribution by David M. Lewis. Ed. Victor A. Tcherikover, Alexander Fuks, Menahem Stern, 3 Bde., Cambridge 1957–1964

426

Literatur

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Quellen

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428

Literatur

Dionysios of Halicarnassus, Critical Essays (griech./engl.), Vol. 2: On Literary Composition. Dinarchus. Letters to Ammaeus and Pompeius, translated by Stephen Usher (LCL 466), Cambridge MA/London 1985. Epikur Epistulae tres et ratae sententiae a Laertio Diogene servatae. Gnomologium Epicureum Vaticanum. Hrsg. von Peter Von der Mühll (BSGRT), Ed. stereotypa ed. 1 (1922), Stuttgart/Leipzig 1996. Epicurus. The extant Remains. Ed. by Cyril Bailey, Hildesheim 1989 [Nachdr. der Ausg. Oxford 1926]. Epikur. Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch/Deutsch (Reclam UB 9984), bibliogr. erneuerte Ausg., Stuttgart 2000. Euripides Gösswein, Hanns-Ulrich, Die Briefe des Euripides (Beiträge zur klassischen Philologie 55), Meisenheim am Glan 1975. Horaz Horatius. Opera. Ed. David R. Shackleton Bailey (BSGRT), Berlin/New York 2008 [Nachdr. der Ausg. 42001]. Isokrates Isocrates. Opera omnia. Ed. Basilius G. Mandilaras, Vol. 3 (BSGRT), München/Leipzig 2003. Isocrates. Vol. III: Evagoras. Helen. Busiris. Plataicus. Concerning the Team of Horses. Trapeziticus. Against Callimachus. Aegineticus. Against Lochites. Against Euthynus. Letters, with an English Translation by La Rue Van Hook (LCL 373), Cambridge MA/London 2006 [Nachdr. der Ausg. von 1945]. Kynikerbriefe Müseler, Eike (ed.), Die Kynikerbriefe. Bd. 1: Die Überlieferung. Bd. 2: Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung (SGKA.NF 1/6–7), Paderborn 1994. Ps.-Longin Longinus, Del sublime. Introduzione, testo critico, traduzione e commentario. A cura di Carlo Maria Mazzucchi (Biblioteca di Aevum antiquum 4), Milano 1992. Platon Platonis Opera, Vol. 5: Tetralogiam IX definitiones et spuria continens. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet (OCT), Oxford 1907. Plinius d. J. C. Plini Caecili Secundi Epistularum Libri Decem. Recognovit Brevique Adnotatione Critica Instruxit R. A. B. Mynors (OCT), Oxford 1963. Quintilian M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri duodecim. Recogn. brevique adnotatione critica instruxit Michael Winterbottom (OCT), 2 Bde., Oxford 2002/2005. Rhetorica ad Herennium Incerti avctoris De ratione dicendi ad C. Herennivm lib. IV, itervm rec. Fridericvs Marx. Ed. stereotypam corr. cvm add. cvr. Winfried Trillitzsch (Cicero, Marcus Tullius: Scripta quae manserunt omnia 1) (BSGRT), Leipzig 1964. Cornifici Rhetorica ad C. Herennium. Introduzione, testo critico, commento a cura di Gualtiero Calboli (Edizioni e saggi universitari di filologia classica 11), Bologna 21993.

Hilfsmittel

429

Seneca L. Annaei Senecae Ad Lucilivm epistulae morales. Recognovit et adnotatione critica instruxit Leighton D. Reynolds (OCT), 2 Bde., Oxford 1965. Themistoklesbriefe Hercher, Epistolographi 741–762.

2. Hilfsmittel a. Wörterbücher und Grammatiken Balz, Horst R. u. a. (Hg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament [EWNT], 3 Bde., Stuttgart 21992. Bauer, Walter, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage im Institut für neutestamentliche Textforschung/Münster unter besonderer Mitwirkung von Viktor Reichmann herausgegeben von Kurt Aland und Barbara Aland [Bauer/Aland], Berlin/New York 1988. Blass, Friedrich/Debrunner, Albert, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearbeitet von Friedrich Rehkopf [BDR], Göttingen 171990. Bornemann, Eduard/Risch, Ernst, Griechische Grammatik, Frankfurt a.M. 21978. Botterweck, Gerhard Johannes/Ringgren, Helmer (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament [ThWAT], Stuttgart 1973ff. Georges, Karl Ernst, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, 2 Bde., Basel 10 1959 [Nachdr. der 8., verbesserten und vermehrten Aufl. von Heinrich Georges]. Kühner, Raphael/Blass, Friedrich/Gerth, Bernhard, Ausführliche Grammatik der Griechischen Sprache. Bd. I: Elementar- und Formenlehre; Bde. II/1–2: Satzlehre, Hannover/ Leipzig 31890–1904 [Nachdr. Darmstadt 1963–1966]. Lampe, Geoffrey W. H. (Hg.), A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961–1996. Liddell, Henry George/Scott, Robert, A Greek-Englisch Lexicon. A New Edition Revised and Augmented throughout by Sir Henry Stuart Jones, Oxford 91953. With a New Supplement 1996. Lust, Johan/Eynikel, Erik/Hauspie, Katrin, Greek-English Lexicon of the Septuagint, Revised Edition, Stuttgart 2003. Kittel, Gerhard/Friedrich, Gerhard (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament [ThWNT], 10 Bde., Stuttgart 1933–79. Mayser, Edwin M., Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit mit Einschluß der gleichzeitigen Ostraka und der in Ägypten verfaßten Inschriften, Bd. 1/1 2. Aufl. bearb. von H. Schmoll, Berlin u. a. 1970; Bd. 1/2 2. Aufl. Berlin u. a. 1938 (1970); Bd. 1/3 2. Aufl. Berlin u. a. 1935 (1970); Bd. 2/1 Berlin u. a. 1926 (1970); Bd. 2/2 ; Bd. 2/2 Berlin u. a. 1934 (1970); Bd. 2/3 Berlin u. a. 1934 (1970). Moulton James H., Einleitung in die Sprache des Neuen Testaments (Indogermanische Bibliothek 1/1, 9), Heidelberg 1911 [auf Grund der vom Vf. neu bearb. 3. engl. Aufl.]. —, A Grammar of New Testament Greek. Bd. 1: Prolegomena, 3. ed. with Corrections and Additions, Edinburgh 1985 [Nachdr. der Ausg. von 1908]. —/Howard, Wilbert F., A Grammar of New Testament Greek. Bd. 2: Accidence and WordFormation. With an Appendix on Semitisms in the New Testament, Edinburgh 1979 [Nachdr. der Ausg. von 1928]. —/Turner, Nigel, A Grammar of New Testament Greek. Bd. 3: Syntax, Edinburgh 1980 [Nachdr. der Ausg. von 1962].

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Literatur

—/Turner, Nigel, A Grammar of New Testament Greek. Bd. 4: Style, Edinburgh 1980 [Nachdr. der Ausg. von 1976]. —/Milligan, George, The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and other Non-Literary Sources, London 1911–29. Pape, Wilhelm, Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Nachdruck der dritten Auflage bearbeitet von M. Sengenbusch. 2 Bde., Graz 1954. Preisigke, Friedrich, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden mit Einschluß der griechischen Inschriften, Aufschriften, Ostraka, Mumienschilder usw. aus Ägypten, 4 Bde., hg. v. Emil Kießliner, Berlin 1925. Radermacher, Ludwig, Neutestamentliche Grammatik (HNT 1), Tübingen 21925. Robertson, Archibald Thomas, A Grammar of the Greek New Testament in the Light of Historical Research, Nashville TN 1980 (ca.) [Nachdr. der 4. Aufl. von 1923]. Schwyzer, Eduard, Griechische Grammatik (HAW 2,1,1–4), 4 Bde., 1950–71. Thackeray, Henry St.J., A Grammar of the Old Testament in Greek According to the Septuagint, Hildesheim 1978 [Nachdr. der Ausg. Cambridge 1909]. b. Konkordanzen etc. Aland, Kurt (Hg.), Vollständige Konkordanz zum griechischen Neuen Testament unter Zugrundelegung aller modernen kritischen Textausgaben und des Textus Receptus, 2 Bde., Berlin/New York 1978–1983. Computer-Konkordanz zum Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland, 26. Auflage, und zum Greek New Testament, 3rd Edition, hg. vom Institut für neutestamentliche Textforschung und vom Rechenzentrum der Universität Münster, Berlin/New York 1986. Hatch, Edwin/Redpath, Henry A., A Concordance to the Septuagint and the Other Greek Versions of the Old Testament (including the Apocryphal Books), 3 Bde., Grand Rapids MI 1987. Morgenthaler, Robert, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich/Stuttgart 2 1973. Moulton, William F./Geden, Alfred S./Moulton, Harold K., Concordance to the Greek Testament, Edinburgh 51993. Schmoller, Alfred, Handkonkordanz zum Neuen Testament. Stuttgart 81989. c. Lexika Biblisch-historisches Handwörterbuch [BHH], hrsg. von Bo Reicke und Leonhard Rost, 4 Bde., Göttingen 1962–1979. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike [KP], hrsg. von Konrat Ziegler u. a., 5 Bde., Stuttgart 1962–1975 [Taschenbuchausgabe 1979]. Lexikon der alten Welt [LAW], hrsg. von Carl Andresen, Zürich u. a. 1965. Lexikon der antiken christlichen Literatur [LACL3], hrsg. von Siegmar Döpp und Wilhelm Geerlings unter Mitarbeit von Peter Bruns, Georg Röwekamp, Matthias Skeb OSB und Bettina Windau, Freiburg u. a. 32002. Lexikon des Hellenismus, hrsg. von Hatto H. Schmitt und Ernst Vogt, Wiesbaden 2005. Lexikon für Theologie und Kirche [LThK2], 2. Aufl., hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner, 10 Bde. (mit Reg.Bd.), Freiburg i. Br. 1957–1967. Lexikon für Theologie und Kirche [LThK3], 3. Aufl., hrsg. von Walter Kasper u. a., 11 Bde. (mit Reg.Bd.), Freiburg i. Br. 1993–2001. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike [DNP], hrsg. von Hubert Cancik, Helmut Schneider und Manfred Landfester, 15 Bde. (mit Reg.Bd.), Stuttgart/Weimar 1996–2003.

Sekundärliteratur

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Neues Bibel-Lexikon [NBL], hrsg. von Manfred Görg und Bernhard Lang, 3 Bde., Zürich 1991–2001. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft [PRE], Neue Auflage begonnen von Georg Wissowa, Stuttgart, 1. Reihe 1, 1894 – 24, 1963, 2. Reihe 1, 1914 – 10, 1972, Supplement 1, 1903 – 16, 1980. Reallexikon für Antike und Christentum [RAC], begründet von Franz Joseph Dölger, Stuttgart 1, 1950ff. Die Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG3]. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 3. Aufl., hrsg. von Kurt Galling in Gemeinschaft mit Hans von Camphausen, 6 Bde. (mit Reg.Bd.), Tübingen 1956–1965. Die Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG4], 4. Aufl., hrsg. von Hans Dieter Betz, 8 Bde., Tübingen 1998–2005. Theologische Realenzyklopädie [TRE], hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin 1, 1976ff. d. Elektronische Ressourcen und Datenbanken Advanced Papyrological Information System (APIS): http://www.columbia.edu/cu/lweb/projects/digital/apis/ http://papyri.info/browse/apis/ Checklist of Greek, Latin, Demotic and Coptic Papyri, Ostraca and Tablets: http://scriptorium.lib.duke.edu/papyrus/texts/clist.html Duke Databank of Documentary Papyri (DDbDP): http://papyri.info/ddbdp/ Giessener Papyri- und Ostrakadatenbank: http://digibib.ub.uni-giessen.de/cgi-bin/populo/pap.pl?db=pap Heidelberger Gesamtverzeichnis der griechischen Papyrusurkunden Ägyptens (HGV) einschließlich der Ostraka usw., der lateinischen Texte, sowie der entsprechenden Urkunden aus benachbarten Regionen: http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/%7egv0/ http://papyri.info/browse/hgv/ The Packard Humanities Institute (PHI). Searchable Greek Inscriptions: http://epigraphy.packhum.org/inscriptions/ Prosopographia Ptolemaica (University of Leuven): http://ldab.arts.kuleuven.be/prosptol/index.html Thesaurus Linguae Graecae (TLG): http://www.tlg.uci.edu Trismegistos (TM). An Interdisciplinary Portal of Papyrological and Epigraphical Resources Dealing with Egypt and the Nile Valley Between Roughly 800 BC and AD 800: http://www.trismegistos.org

3. Sekundärliteratur a. Kommentare zum Philemonbrief Arzt-Grabner, Peter, Philemon (PKNT 1), Göttingen 2003. Binder, Hermann/Rohde, Joachim, Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK.NT 11/2), Berlin 1990.

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Register 1. Stellenregister a. Biblische Schriften Altes Testament Genesis 12,3 13,15 15 15,6 15,18 16–17 16 17,7.19 17,8 17,11–14.23–27 18,18 21,1–21 21,9–21 21,9 Exodus 12,40 19,3.7 20,19

209, 353f. 357 257 209, 352, 354 356 263 380 356 357 352 209, 353f. 263 380 381

354 359 359

Leviticus 18,5 19,18

210, 354 262

Deuteronomium 5,5.27 21,23 23,1 23,2–8 27,26 28,58 29,20–21 30,10 33,2

359 353f. 336 80 207, 210, 258, 353f. 210, 353 210 210, 353 358

Richter 16,26

269

2. Samuel 11,15

59

1. Könige 8,11 21,8–10

269 59

2. Könige 5,5–7 10,1–8 19,10–13 20,12

59 59 59 59

2. Chronik 2,10–15 21,12–15

59f. 59

Esra 4,6 4,6–24 4,11–16.17–22 5,6–17 5,7b–17 5,7 7,12–26

59 61 59 59, 62 s. 5,6–17 68, 70 59

Nehemia 2,7–10 6,6–7 13,1–3

59 59 80

Tobit 7,11

71

456

Register

Ester 3,12–15 (MT) 3,13 a–g LXX 8,7–12 (MT) 9,20–32 (MT) 8,12 a–x LXX 10,3 l LXX

59 60 59 60 60 60

1. Makkabäer 2,52 10,3.8 10,18–19 10,25–45 11,30–37 12,1–4 12,6–18 12,19–23 11,57 13,36–40 15,2–9 15,10–13 15,16–21 16,18–19

352 61 61 61 61 61 61 61 61 61 61 61 61 61

Jeremia 1,5

2. Makkabäer 1,1–9 1,1 1,10 – 2,18 1,10 2,23f. 4,11 9,19–27 11,17–38 15,10

61, 63, 74, 87 70f. 61, 63, 87 70, 216 61 60 61 61 265

Habakuk 2,4

Hiob 9,33

259, 359

Psalmen 100,3 LXX

265

Weisheit 3,9 4,15 14,31

71 71 265

Sirach 17,31

266

44,19–21

352

Jesaja 37,10–13 39,1 44,9–20 49,1 52,7

59 59 60 324 324

10,1–16 29,4–23[.26–28] 29,4

324 60 59 71

Daniel 3,31 – 4,34 MT 60 = 4,1–37 Theod. [3,98 – 4,34 EÜ] 3,31 68 4,37 b.c LXX 60 6,26–28 (MT) 60 6,26 68 7,23 (LXX) 269

353f.

Neues Testament Matthäus 9,38

271

Markus 3,1 6,3 10,45 11,25 12,28–34 14,36

269 73 203 269 262 267

Johannes 1,26 8,44

269 269

Apostelgeschichte 5,34 7,38

417 358f.

457

Stellenregister 8,26–40 9,1–2 9,11 9,26–30 10,44–48 11,14–15 11,27–30 13–14 13,14 13,44–48 14,1 14,8 14,20 14,21 15,1–35 15,1 15,23b–29 16,1–6 16,1–5 16,1 16,6 17,6 17,18 17,32 18,1–2 18,2.12 18,3 18,23 19,9–10 20–21 21,38 21,39 22,3–4 22,3 22,6 23,26–30 23,33–35 24,27 26,4–5 28,2f. 28,16 28,30

336 64 413 337 208 345 173f., 181 174–176, 179–181 176, 178 178 176 176 176 177 169, 172f., 179 183 75f., 88 175f. 177 174 175, 179f. 269 301 264 169 173 415 174f., 180 76 187 269 413 415 413, 416f. 417 75f., 88 110 110 415 64 110 111

1,13 1,14 1,18–23 2,17–29 3,5 3,8–10 3,20.28 4,15 4,24 5,13 6,6 6,14 6,19 7,4 8,3 8,11 8,15 8,19.23.25 8,32 9,1 10,9 10,12 14,4 15,14–33 15,14–15 15,18–19 15,19 15,24 15,26 15,30–32 15,30 15,31 15,33 16 16,1–2 16,3–16 16,15 16,20 16,21–23 16,22 16,23 16,24.28 16,25–27

226f., 233 413 365 187 355 262 207 360 202 360 207f. 208 355 208 207 202 267, 345, 348 270 203 229 202 362 269 236 128 345 177 177 177 129 85 177 85 390 85, 148 86 177 83, 85, 246 86 98, 165, 373 246 85 246

Römerbrief 1,1–7 1,1 1,7 1,9 1,13–15

81 81 80, 221, 402 133 85

1. Korintherbrief 1,1–3 1,1 1,2 1,7

81 81, 214f. 220, 402 270

458 1,10 1,11 1,26–29 1,30 2,1–5 2,4 3,10–15 4,12 4,14–21 4,14.15–16 4,15 4,20 5,3–4 5,3 5,6 5,9 6,9–10 6,11 6,20 7,1 7,19 7,21 7,22 7,23 9,1–2 9,8 10,16 ff. 11,3 12,3 12,8–20 12,13 15 15,2–8 15,3–11 15,5 15,24.50 15,56 16,1 16,5–7 16,5 16,6 16,10–12 16,13f. 16,13 16,15–16 16,15 16,16–17 16,19–20 16,19 16,20

Register 227 182, 373 412 170 412 412 329 415 236 252 136 266 92 408 263 72 266 170 256 373 362 112 256 256 81 355 259 233 227, 362 345 112, 362 264 203 81 326 266 170 168, 170 85 177 85 85 129 269 148 177 148 86 169, 177 217

16,21–24 16,21 16,23–24 2. Korintherbrief 1–9 1,1–2 1,1 1,3–7 1,6 1,8–9 1,8 1,16 2–8 2,3 2,4 2,7 2,12 2,13 3,6 4,1 4,2 4,14 5,2 5,16 5,18 5,20 6,3–10 6,3 6,5 6,11 6,14 – 7,1 6,18 7,4 7,5 7,12 7,16 8,1 8,4 9,1–2 10–13 10,1–2 10,1 10,7 10,10–11 10,10 10,11 11,5–6

244 86 83

172, 418 77, 398 80f., 177, 214f., 217, 220, 402 85 177 110 177, 226f. 177 122 128 171 171 142 177 122 122 411 202 122 122 122 153, 234 122 122 415 230 122, 362 362 142 177, 377 171 128 177 271 128 171, 272, 413 377, 408, 411 239 377 408, 411, 417f. 161 408 377

Stellenregister 11,5 11,6 11,9 11,10 11,16 – 12,13 11,21–23 11,23 11,28 11,31 12,1–12 12,9 12,11–12 12,11 12,14 – 13,13 12,16 12,19 13,3 13,11 13,12 13,13 Galaterbrief 1–2 1,1–5 1,1–3 1,1

1,2 1,3–5 1,4–5 1,4 1,5 1,6–9

1,6–7

1,6

1,7–9 1,7 1,8–9

411 411f. 177 177 320, 412, 417 377 415 377 229 418 415 377 411 236 377 377 377 85, 129 86 83

1,8 1,9

191, 196, 198, 273, 280f. 201, 214 81 81f., 192, 196, 201, 205, 211, 264, 266f., 285, 319, 371 80, 167, 175, 192, 215–221 83 201, 211, 221 167, 202f., 207, 350, 365, 371, 392, 417 267, 346 222, 222, 253, 284, 286, 288f., 300, 303, 305, 384, 392, 399 168, 189, 223f., 260, 268, 283, 328, 331f., 383 168, 170, 192, 197, 283, 288, 303, 305, 329f. 273 177, 182, 260, 287, 332f., 335, 380, 383 167f., 196, 286, 289, 303, 329, 333, 383f.

1,17 1,18–24 1,18–20 1,18–19 1,18 1,19 1,20 1,21–24 1,21 1,22–24 1,22 1,23 1,24 2,1–10

1,10 – 2,21 1,10–24 1,10 1,11–12 1,11 1,12–2,14 1,12 1,13 – 2,14(21) 1,13–14 1,13 1,14 1,15–17 1,15–16 1,15 1,16–17 1,16

2,1 2,2–3 2,2 2,3–5 2,3 2,4–5 2,4 2,5 2,6 2,7–9

459 358 224f., 286, 305f., 379, 382 280–282, 305 81 202, 227, 271, 304, 312, 319, 335, 383 192, 226f., 319 227, 250, 268, 305, 328f. 316f., 336f. 265, 317, 338 169, 273, 280 228, 320–323, 416f. 227f., 382 269f., 321f., 350 230 205, 322 324, 341 319, 324 205, 265f., 269f., 323f., 339, 341 201, 205, 324 324 205, 335f. 393 173, 179, 339 337, 339, 395 228f., 259, 270, 337f. 337 177, 179, 205, 281 205 177 271 229 173, 179, 205f., 324– 327, 332, 339, 343 173, 179, 341f. 167 230, 268, 271, 325, 342, 395 395 264, 333, 341f. 182, 272, 375f., 384 184, 256, 267, 325, 383 206, 268, 288, 326, 383 272, 375f., 395 339–342, 395

460 2,7–8 2,7 2,8 2,9

205, 339 264, 268, 341, 393 192, 264, 266 167, 181, 259, 264, 339, 343, 393, 395 2,10 168, 205, 282 2,11–14(21) 206, 326f., 343f. 2,11 327, 383 2,12 182, 184, 191, 264f., 337, 344 2,13 270 2,14–21 206f. 2,14 206, 268, 270f., 327, 344, 383 2,15–21 226, 328, 334, 350, 383, 395 2,15–16 360 2,15 206f., 265 2,16–17 210, 265, 384 2,16 167, 185, 207, 233, 265, 347, 399 2,17 207, 265, 311, 360 2,18–21 350 2,18–20 312 2,18 265, 270 2,19–20 208 2,19 206–208, 265 2,20–21 346, 349f., 392 2,20 167, 207, 267, 372 2,21 208, 258, 265, 267 3–4 317, 378 3,1 – 5,12 196, 294, 317 3,1–29 [3,1 – 4,7/11] 350f. 3,1–5 167, 208f., 212f., 226, 232, 253, 289, 301, 305, 311, 330f., 345– 347, 349, 352f., 392 3,1 167f., 180, 192, 230– 232, 253, 273, 282, 284, 287f., 303, 317, 328f., 332, 335, 346, 370, 372, 383f., 399 3,2–9.19–22 263 3,2–5 329, 345 3,2 168, 183, 185, 208, 232f., 238, 265, 329, 346, 349 3,3–4 346 3,3 192, 209, 264f., 303, 329, 346f.

Register 3,4 3,5 3,6–4,31 3,6–4,7 3,6–14 3,6–13 3,6–9 3,6 3,7 3,8–9 3,8 3,9–25 3,9 3,10–14 3,1–12 3,10 3,11–12 3,11 3,12 3,13–14 3,13 3,14 3,15–18 3,15 3,16 3,17 3,18 3,19–25 3,19–22 3,19–20 3,19 3,20 3,21–22 3,21 3,22 3,23–29 3,23–25

288, 329, 346, 384 167f., 183, 265, 345, 347, 349 233 189 352, 354f. 354 209, 308, 353 209, 265, 352, 354, 362 209, 232f., 353, 357, 363, 370 358 209f., 265, 267, 270, 308, 353f., 360 187 209, 265 209f., 310 351 207, 210, 258, 265, 308, 353f., 360 353 167, 207, 233, 265, 353f., 360 210, 354 210, 392 256, 265, 267, 287, 354, 372 258, 265, 308, 353f., 358 210, 309, 354–358 169, 250, 258, 311, 328 209, 210, 212, 308, 357, 363, 382 210, 234, 258, 311, 356 257, 308, 357f., 363 358 210f., 357–360 210, 259, 359, 382 209f., 234, 265, 270, 311, 358–360 359 210, 384 185, 234, 265, 271, 311, 359f. 167, 265, 360 309, 360–363 211, 360

Stellenregister 3,23–24 3,24–25 3,24 3,26–29 3,26–28 3,26–27 3,26 3,27–28 3,27 3,28–29 3,28 3,29 4,1–7 4,1–2 4,1 4,2 4,3–7 4,3 4,4–5 4,4 4,5 4,6–7 4,6 4,7 4,8–20 4,8–11 4,8–10 4,8–9 4,8 4,9 4,10 4,11 4,12–20

4,12–16.19 4,12 4,13–20 4,13–15 4,13–14 4,13 4,14–15

360 365 361 211, 357, 3631 262, 362 207 329, 362 362 363 363 112, 165, 262, 362 209, 212, 257, 329, 362, 364f. 211, 309f., 360, 363– 366, 363 211, 365 234, 240, 271, 311 257 211, 253 211, 367 267, 348, 365, 372, 384, 392 204, 358, 365 207, 256f. 329, 347–349, 353 267, 329, 345, 365 256, 310, 365f. 10f., 190f., 273 183, 211, 252f., 268, 305, 340, 392 289, 366 168f., 186, 211, 256, 329, 384 365 288, 311, 392 183, 190 211, 252, 271, 288, 329, 384 169, 193, 211f., 250– 252, 283, 305, 370, 382, 392 287, 345 234f., 250, 271, 301f., 384 85, 222, 235, 253, 330 399 167, 175, 194 168, 175, 177f., 182, 235, 250f. 251

4,14 4,15–16 4,15 4,16–17 4,16 4,17 4,18–19 4,18 4,19–20 4,19 4,20 4,21–31 4,21 4,22 4,24 4,27 4,28 4,29 4,30 4,31 5,1–12 5,1–6 5,1

5,2–6 5,2–4 5,2–3 5,2 5,3 5,4–5 5,4 5,5 5,6 5,7–12 5,7–8 5,7 5,8 5,9 5,10

461 250, 265 311 235f., 245, 259, 271 287 212, 250, 270, 383f. 168, 182, 190, 273, 287, 335 399 383 236–238, 288, 384 167, 237, 251f., 270, 286, 311, 335 168, 172, 235–237, 273f., 367 212, 263, 308f., 380– 382, 384, 416 185, 238, 289, 311, 374, 382 265, 308 258, 263, 380 265, 270, 308 169, 250, 328 380f., 383 257, 265, 380 250, 311 300 212f., 246, 384 169, 212, 253, 269, 288, 330, 335, 383, 392 244, 305, 329 289, 384 167f., 178, 264 168f., 183, 198, 238f., 242, 244, 270, 395 186f., 239, 259, 399 167 168, 183, 185, 265 265, 270 168, 183, 198, 264, 362 213, 226, 305, 369, 383, 392 288, 303 253, 287, 311, 330, 332f., 383 269, 288, 330, 333 263 128, 168f., 239f., 253, 260, 286f., 331–333

462 5,11–12 5,11 5,12 5,13–6,10 5,13–6,6 5,13–26 5,13 ff. 5,13–15 5,13–14 5,13 5,14 5,15 5,16–17 5,16 5,18 5,19–21.22 5,19 5,20–21 5,20 5,21 5,23 5,24 5,25 6,1–10 6,1 6,3 6,4 6,5 6,6–10 6,6 6,7–10 6,7 6,8–9 6,8 6,9–10 6,9 6,11–18 6,11–17 6,11–15 6,11 6,12–13

6,12

Register 168, 183 192, 250, 264f., 273, 281, 303, 392 168, 269, 284, 303, 328, 332, 335f. 300 289, 294 213, 241 196 305 240 185, 250, 256, 392 213, 262, 367 240, 262, 284, 367 261 185, 234, 240, 266, 311 213 262 265 240 266 225, 240f., 266, 306, 379 261 261 266, 392 283 185, 311, 328 269 265 262, 367 305 259 213f. 262, 367 384 185 241 262, 367 189, 241 194, 213f., 243–245, 300, 305, 392 242 86, 241–245, 305, 372, 395, 405 167f., 178, 182f., 264, 287, 327, 333f., 369, 383 269, 334, 383, 392

6,13 6,14–15 6,14 6,15 6,16 6,17 6,18

169, 184–186, 334 369, 383 271, 312, 372, 392 264, 362 85, 169, 196, 366, 384 192, 271, 288, 330 69, 83, 213f., 245f., 267, 328

Epheserbrief 1,16 1,19–20 3,1 4,1 5,2 5,25

131 202 121 121 203 203

Philipperbrief 1,1 1,12–18 1,12 1,20 1,27 2,19–24 2,24 2,25–30 2,25 3,2–6 3,5–6 3,5 3,17 3,20 4,1 4,2–3 4,9 4,15 4,16 4,21 4,22 4,23

80f., 215, 221 110 226f., 233 142 269 236 239 148 124 418 417 415, 417 312 270 85, 269 148 85 177, 230 169 86, 217 86 83

Kolosserbrief 2,1 2,5 2,8.20 2,12 2,16–17 4,7–9 4,9

233 94 186 202 186 151 111

463

Stellenregister 4,10–14 4,16 4,17 4,18

111 77, 394 111 86, 244

1. Thessalonicherbrief 1,1 1,2 ff. 1,2

79–81, 203, 220, 402 83f. 131, 390

1,7–8 1,10 2,1–12 1,16 2,2 2,7f. 2,12 2,13 2,14 2,17 – 3,13 2,17 3,8 3,17 4,3–6 4,10 5,12–22 5,12–13 5,25 5,26 5,27 5,28 5,33

2. Timotheusbrief 1,3 1,8 4,13 4,22

131 121 399 89

Titusbrief 2,14

203

Philemonbrief 1–3 1–2 1

412 177 202 85, 283 390

2 4–24 4–7

142, 169 252 266 390 177, 390 236 92, 409 269 244 240f. 177 129 148 85 86 77, 88 83 85

2. Thessalonicherbrief 2,15 269 3,4 239 3,16 85 3,17 86 1. Timotheusbrief 2,6

229

227 345

1,4 1,5–7 1,5

2,7

203

4 5 6 7 8–20 8–14 8–9 8 9 10–14 10b–13 10–12 10–11 10 11 12 13–14 13 14 15–20 15–17 15–16 15 16 17

80, 121, 112–125 118, 402 80, 82, 110, 123, 131, 158, 215 111 125–130 121, 125–127, 131, 154 119, 133, 135, 154 126, 135 125f., 131, 134, 154 119, 125f., 131, 133, 154, 158 121, 127, 144 157 127, 141, 153 119, 125, 131, 134, 141 123, 127, 133, 153 110 137 113, 137, 156 155f. 115, 127, 133, 138f., 142, 158 113f., 138–140 119, 132f., 138f., 154 116, 133, 135, 140 122, 127, 135, 153, 158 131f., 134f. 158 138 116, 135 114, 116, 133 112, 116f., 158 131, 134, 137, 139, 154, 156, 159, 259

464 18–19 18 19–20 19 20 21–22 21 22 23–24 23 24 25 Hebräerbrief 2,2 8,6 9,15 9,28

Register 114f., 134, 153 113, 128, 134 153 110, 127f., 133, 142, 158, 405 119, 129, 131, 135, 137, 155f., 158 236 119, 121, 128f., 131– 133, 140–142, 239 85, 110, 119, 121, 129, 132f. 121 86, 124, 130 111 83, 121, 130

358 259 259 270

13,22 13,23

73 233

1. Petrusbrief 1,1 1,3 1,21 3,20 5,13

76 85 202 270 73

2. Petrusbrief 1,1

76

Judasbrief 1

76

Johannesoffenbarung 2–3 74 12,4 269 22,21 74

b. Frühjüdische und rabbinische Schriften Außerkanonische Schriften Assumptio Mosis 1,14

359

2 Baruch (syrischer Baruch) 77,17 – 88,1 62, 87 78,2 71, 80 1 Esra LXX (3. Esra Vulg.) 2,15–25 [Esra 4,6–24] 61 4,47–63 61 6,8–21 [Esra 5,6–17] 62 1. Henoch 5,7 72,1 75,3–4 79,2 82,4 82,7–10

81 183 183 183 183 183

Jubiläen 6,32

183

3. Makkabäer 3,11–30 7,1–9

61 61

4. Makkabäer 18,10–19

405

Paralipomena Jeremiae 6,17–23 62 6,19 71 7,23[24]–29[34] 62 Testament Abrahams B 13,7 265 Testament Salomos 22,1–5 C 13,11–12 E 7,1–2

62 62 62

465

Stellenregister Antike jüdische Autoren/Schriften Aristeasbrief 29–32 35–40 41–46

60 61 61

Eupolemos Fragm. 2

59f.

Flavius Josephus Antiquitates Iudaicae 1,215–219 381 4,133 259 8,50–57 59, 60 11,3 218 12,35–39 60 12,40–51 61 12,51–57 61 12,134–145 62 12,257–264 62 13,44–46 61 13,47–57 61 13,64–71 62 13,125–128 61 13,165–170 61 14,131 62 14,211–216 62 14,224–227 62 14,241–243 62 14,244–246 62 14,252 62 14,254 62 15,136 358 16,166–173 62, 189 17,134–141 62 18,161–164 62 18,234f. 62 18,308f. 62 20,11–14 62 20,113.118 184 Bellum Iudaicum 1,288 1,602–661 2,203 2,120 2,254–257.264f. 4,335–344

contra Apionem 2,204

406

de sua vita 48–51 216–236 245 364–366

62 62, 215f. 218 62

Philon von Alexandria de Abrahamo 24 261 268–276 352 de mutatione nominum 158 267 de opificio mundi 34 105

267 153

de somniis 1,142

259

de specialibus legibus 1,52 136 1,173 261 de vita Mosis 2,166

259, 359

legatio ad Gaium 199–203 207 254 259–260 276–329 330–334

62 62 62 62 62 62

quis rerum divinarum heres sit 57 265 90–95 352 Texte aus Qumran

408 62 62 261 184 184

Damaskusschrift (CD) 3,12–16 183 16,2–4 183 Gemeinschaftsregel (1QS) 1,13–15 183 9,22 – 10,8 183

466 Kriegsrolle (1QM) 2,4 10,15

Register

183 183

Talmud, Mischna, Tosefta bBQ 99a bBekh 47a bJeb 22a, 62a, 97b bSan 107b bSota 47a BerR 53 BerR 75,5 ExR 43(99c) jChag 76c

63 136 136 63 63 381 63 155 64

jChag 77d jMSh 56c jNed 40a jNed 42b jQM 81a jQM 81c jSan 11a jSan 18d jSan 19a jSan 23c MTann 26,23 TPsJ Gen 22,1 tSan 2,6 tShab 13,13 tSota 6,6 (304)

63, 66 63, 68 63 64 64 64 63, 66 63, 68 63 6 63, 68 381 63, 68 63 381

c. Frühchristliche und patristische Schriften Barnabasbrief 16,3f.

75

Epiphanius panarion / adversus LXXX haereses 28,1ff. 186 42 10 Euseb von Caesarea historia ecclesiastica 3,36,2–11 74 Gregor von Nazianz epistulae 51 34, 161

Hieronymus Comm. in epist. ad Galatas 2 praef. 176 de viris illustribus 5

414

Polykarpbrief 3,1 13

75 75

Tertullian apologeticum 1,21

189

orationes 1,39

258

Aischylos Prometheus 487

227

Alkiphron epistulae 1,11 2,7

227 291

d. Antike Autoren und Werke Achilleos Tatios intr. Arat. § 7 Aelian epistulae 5 13 Aischines epistulae 6

12

229 230

147

467

Stellenregister 2,15 4,7 4,18

231 287f. 229

Anaximenes rhetorica 17,1

338

Apollonios von Tyana epistulae 107 147 Apsinos techne 8

355

Aristainetos epistulae 2,3

287

Aristides 23,2

54

Aristophanes Lysistrate 572

329

Vespae 252

329

Aristoteles ethica Eudemia 1241b

160

ethica Nicomachea 2,5 3,1–3.7f. 4,15 7,1–11 8,11

322 134 261 261 131

rhetorica 1,2,1 1,2,2–4 1,2,3–7 1,2,3–4 1,2,8–19 1,3,1 1,9

412 108 160 152 354 106 330

1,15,13–19 2,21,2–8 2,21,15–16 2,22–24 3,2 3,14–15 3,18,7

345 367 367 157 38 319 336

Chion epistulae 3 8 16

233 147 285

Cicero de oratore 2,38 2,307–309 3,121–125 3,211 3,330

97 315 99 106 317

epistulae ad Atticum 1,16 1,17 1,19 6,1 8,8 8,14 11,24 12,1 12,34 13,4 14,13A 14,13B 15,11

249 236, 250 236 249 26 410 26 243 26 26 236 236 230

epistulae ad familiares 2,4 35, 52 2,13 26 4,13 35 12,30 35 13,2 147 13,49 147 15,16 35 epistulae ad Quintum fratrem 1,1 116, 249 1,2 113, 377 2,2 26

468

Register

2,6 3,1

373 243, 249

de inventione 1,27 1,34–37 1,35 1,49 1,98 1,100f. 1,106–109 2,68

316 323 323 307, 355 369 369 369 340

Laelius de amicitia 17 (16) 20

131 254

orator 21,70f. 23,76 – 26,90

106 38

Corpus Iuris Civilis Digesta 21, 1,17,3 21, 1,17,4 21, 1,17,5 21, 1,17,12 21, 1,17,14 21, 1,43,1

114 114 114 114 114 114

Institutiones 1,14,3

364

Demosthenes epistulae 2 4

103, 1968, 275–278, 280, 284f. 220

orationes 28,20 36,25 49,14 50,62

156 258 20 20

Diodorus Siculus 15,7,1

256

Diogenes Laertios 1,112 5,37

12 22

6,80 6,89 6,101 7,37.166 7,107ff. 10,8 10,35–37 10,35 10,37 10,46–55 10,65–68 10,82–83 10,82 10,84 10,121 10,122 10,127 10,128–132 10,131–132 10,135

12 115 54 260 134 303 304 230 306 295 295 305 305 306 267 304 261 295 303 305

Diogenes von Sinope epistulae 18 147 Dion von Prusa epistulae 2

147f.

Dionysios v. Halikarnass epistulae ad Ammaeum 2,131 306 epistula ad Cn. Pompeium Geminum 97. 105ff. 306 Epiktet dissertationes (διατριβαί) 1,13,3–4.9 165 1,19,19–22 155 2,1,23 238 2,16 261 2,22,27f. 262 Epikur epistulae – s. Diog. Laert. 10

469

Stellenregister Eunapios vitae sophistarum 7,1,13

135

Euripides Alcestis 332–335

156

epistulae 5

198, 230, 277f.

Hippolytus 856–880

20

Iphigenia Aulidensis 98–123 13, 20 117–123 20 322ff. 20 Iphigenia Taurica 725–797 727–787 Hellanikos FGrHist 4 F 178 Herodot 1,123–125 3,40–43 3,128 4,46.76 5,14 8,128 Hippokrates epistulae 10 11 14 18 20 Homer Ilias 6,168–190 Horaz epistulae 1

13, 20 20

21

20 20 20 27 20 20

230 220 228 230 229f.

19

306

Isokrates epistulae 1 4 6

236 148f. 255

orationes 8,134 9,21 12,80 15,187–191. 292

408 355 408 99

Krates epistulae 28

301

Lukian von Samosata Wahre Geschichten 2,29,35f. 13 2,32–35 262 Hetärengespräche 10

287

Tod des Peregrinos 41

218

Der Fischer (Piscator) 36 262 Toxaris 5

131

Lukrez de rerum natura 3,1–30

300

Lysias 2,5 19,23 20,27

408 20 20

Ovid ars amatoria 3,345

32

epistulae ex Ponto 1,2,2–8 2,10,17–20

35 35

470

Register

tristia 3,8,1–10 4,4,23–26

35 35

Plautus Bacchides 1035

51

Pausanias 10,38,13

54

Persa 527

51

Pseudolus 72

51

Plinius d. J. epistulae 1,4 1,11 2,3 2,5 5,1 7,9 9,21 9,24 10,96

164 35, 104 236 35 35 31 115, 141, 150f. 115 188

Plutarch vitae parallelae Crassus 2,5 Perikles 9,1

256 408

moralia 86c 1012b 1124d–e 1128e 447d

306 306 262 261 139

Polybios 3,42,2 16,20,8

256 115

Philostrat von Lemnos vitae sophistarum 2,33,3 34 epistulae II (de epistulis/dialexis I) 257,29 – 258,28 57, 161 Pindar P. 9,83

138f.

Platon apologia 20e

355

de re publica (πολιτεία) 2,359d 355 epistulae 6 7 8

122 195, 198, 219, 229, 272, 274f., 293, 320 219

Gorgias 507de

131

leges (νόμοι) 756e–757a

160

Phaidon 113d–118a

267

Phaidros 269d

99

Philebos 12c

355

politicus 283c–284e

320

Protagoras 317b

100, 411

Proklos – s. Ps.-Proklos/Libanios Ps.-Demetrios περὶ ἑρμηνείας (de elocutione) 223–277 33f. 223 33, 36 224–225 36 224 149 225 38, 103 226 38

471

Stellenregister 227 228 229 231 232 234–235 234

37 38 38, 103 36, 39 39, 103, 260f., 409 38 39

τύποι ἐπιστολικοί Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 6 Nr. 11 Nr. 17 Nr. 18 Nr. 20

134, 136 288f. 289 289 289f. 286f. 198, 272–278 283

Ps.-Longin de sublimitate 22,1

376

Ps.-Proklos/Libanios περὶ ἐπιστολιμαίου χαρακτῆρος Nr. 5 mit 52 289f. Nr. 6 mit 53 288 Nr. 9 mit 56 283 Nr. 17 mit 64 289 Nr. 34 mit 81 289f. Nr. 45 mit 92 290 Nr. 55 136 Quintilian institutio oratoria 2,19,2 3,4,14–15 3,7,16 3,8,1–6 3,8,6–7 3,8,10 3,8,12f–13 4,1,6–15 4,1,12f. 4,1,16–17 4,1,44 4,2,11 5,1,2 5,2,1f. 5,6,1–6

99 315 330 197 154 317 152 152 108 154 369 317 338, 345 340 338

5,7,1–25 5,7,15–16 5,7,26–32 5,9,1–9 5,10,11–12 5,10,24–25 5,10,27 5,10,28 5,10,30 5,10,33f. 5,10,73 5,11,6–8 5,14,1–4.24–26 6,2,1–11 6,2,18–19 8,2,22–23 8,3,1.3 8,5,1–6.25–34 9,2,6–14 9,4,19–21 9,4,75 10,3,19–21 11,1,43–45 12,10,59

345 346 346 342 349 323 330 327, 335 156 335 355 355 157 160 152 37 37 367 346 31 31 374 106 37

Rhetorica ad Herrenium 1,8 319f. 1,13 316 2,13.19 340 2,47.50 369 2,48f. 369 Seneca epistulae morales ad Lucilium 5,2f. 307 8,1–3 298 14,8f. 308 16,2 307 16,5 311 17,11f. 243 23,5f. 308 23,6 311 25 254 28,2 308 28,10 307 31,11 165, 262 33,10 308 35 254 44,1–3 165

472 47 47,1 47,10 50,6–7 52,5–6 60,2–3 70,3–4 75,1–2 77,14–15 78,16–17 82,12–14 89 90 91,17–18 93 94 95,11 96 99 99,1 107,11–12 114,24–25 117 118,1–3 123,9

Register 160 262 165, 262 308 308 308 308 35, 161, 409 307 308 308 296 296 308 301 298 308 301 301 299 308 308 302 35 308

Sextus Empiricus adversus mathematicos 9,153 261 Sophokles Oidipus Coloneus 598

355

Sueton divus Augustus

2,17 86–87

141 31

divus Iulius 56

31

Tacitus annales 15,6

180

historiae 5,1,5

264

Themistokles epistulae 6 7 14

290f., 293 229, 291 230, 291–293

Thukydides 1,128f. 4,50 8,50f.

20 20 20

Xenophon anabasis 1,1,5 4,5,26–34 7,2,8

20 20 20

hellenica 1,1,23 1,4,3

20 218

Kyropaideia 8,2,16–17 8,7,2

218 355

e. Papyri, Ostraca, Inschriften Papyrustexte BGU I 332 218 BGU II 423 84, 230 = WChr. 480; SP I 112 BGU II 531 115 BGU II 625 234 = WChr. 21 BGU III 811 407 BGU III 816 84

BGU III 821 89 BGU III 846 227 BGU IV 1078 233 BGU IV 1079 217 = CPJ II 152; WChr. 60; SP I 107 BGU IV 1080 135 = WChr. 478 BGU IV 1141 165, 284, 372 BGU IV 1203–1209 25 BGU IV 1206 124

Stellenregister BGU IV 1207 243 BGU VII 1654 158 CPJ I 4 65 = P.Cair. Zen. I 59076; SB III 6790 CPJ I 5 65 = P.Cair. Zen. I 59075; SB III 6719 CPJ I 12 65 = P.Cair. Zen. III 59509 CPJ I 13 65 CPJ I 37 65 CPJ I 43 65 = P.Ryl. IV 578 CPJ I 128 65 = P.Ent. 23 CPJ I 141 CPJ II 424 65 = P.Bad. II 35 CPJ III 469 65 = P.Princ. II 73 CPJ III 479 65 = P.Got. 114 CPR V 4 234 CPR VI 72 258 MChr. 88 138, 259 P.Alex.Giss. 48 238 = SB X 10651 F P.Amh. II 40 220 P.Amh. II 56 215, 221 P.Amh. II 131 25, 246 P.Amh. II 132 25 P.Amh. II 141 239 = MChr. 126 P.Bad. II 35 223f. = CPJ 424 P.Bad. IV 51 46 P.Berl.Frisk 1 226 P.Bon 5 44, 97 P.Bour. 12 219 = WChr. 12; SP II 418 P.Cair. Goodsp. 4 130 P.Cair.Zen. I 59048 224 = SB III 6722 P.Cair.Zen. II 59140 226 P.Cair.Zen. II 59192 146 = SB III 6817; SP I 92 P.Cair.Zen. II 59254 129 = SB III 6992 P.Cair.Zen. II 59284 138 = PSI VI 575 P.Cair.Zen. III 59342 138

P.Cair.Zen. III 59520 258 P.Cair.Zen. IV 59643 226 = PSI IV 445 P.Col. II 1 226 P.Col. III 11 126 P.Col. X 267 258 P.Col. X 272 228 = SB XX 14312 P.Congr. XV 22 117, 249 = P.Ammon I 3 P.Ent. 30 135 = P.Lille II 35; WChr. 56; CPJ I 129 P.Fay. 18 123 P.Fay. 27 226 P.Fay. 99 81 P.Fay. 111 247 P.Fay. 112 288 P.Fay. 117 233, 238 P.Fay. 124 340 P.Fay. 137 54 P.Fouad. 80 46 P.Freib. II 10 226 = SB III 6293 P.Giss. 17 126, 237, 407 = WChr. 481; SP I 155 P.Giss. 20 124 = WChr. 94 P.Giss. 22 237 P.Giss. 27 83 = WChr. 17; CPJ II 439 P.Giss. 54 123 = WChr. 420 P.Giss. 77 407 P.Grenf. II 36 124 = SP I 103 P.Grenf. II 73 83 = WChr. 127 P.Hamb. II 177 226 P.Harr. I 105 246 P.Herm. 2 235 P.Herm. 8 239 P.Herm. 11 223 P.Iand. II 9 138 P.Köln IV 186 128 P.Lips. I 28 257 = MChr. 363 P.Lips. I 40 269 P.Lips. I 107 237 P.Lond. I 24 264 = UPZ I 2

473

474 P.Lond. I 42 131, 247 = UPZ I 59; SP I 97; WChr. 97 P.Lond. II 417 146f. = WChr. 129; SP I 161 P.Lond. III 897 128, 217 P.Lond. III 981 135 = WChr. 130 P.Lond. V 1674 269 P.Lond. VI 1912 82, 219, 236 = CPJ II 153; SP II 212 P.Lond. VI 1914 228 P.Lond. VI 1916 232 P.Lond. VII 2007 233 P.Lond. VII 2026 146 P.Lond. VII 2027 146 P.Mert. II 62 42, 144f. P.Mert. II 63 124 P.Mert. II 80 224, 238 P.Mert. II 85 235 P.Meyer 3 138 P.Meyer 6 124, 214 P.Mich. I 6 138 P.Mich. I 87 239 P.Mich. III 183 122, 243 P.Mich. III 201 144, 217, 406f. P.Mich. VIII 466 124 P.Mich. VIII 479 223 P.Mich. VIII 490 25, 230 = SB IV 7352 P.Mich. VIII 491 25, 230 = SB IV 7353; SP I 111 P.Mich. VIII 498 246 P.Mich. VIII 512 238 P.Mil. Vogl. I 11 46, 299 P.Mil. Vogl. IV 210 138 = SB XVI 1345 P.Oslo II 55 139 P.Oslo II 60 128, 239 P.Oxy. I 32 51 = SP I 122; CEL I 169 P.Oxy. I 48 256 P.Oxy. I 49 256 P.Oxy. I 75 228 P.Oxy. I 88 124 P.Oxy. I 105 235 = MChr. 303 P.Oxy. I 113 224 P.Oxy. I 115 43, 46, 299 = WChr. 479 P.Oxy. I 116 47

Register P.Oxy. I 119 148 P.Oxy. I 174 238 P.Oxy. II 237 234, 249 P.Oxy. II 246 243, 245 P.Oxy. II 267 81 = MChr. 281 P.Oxy. II 269 81 = SP I 69 P.Oxy. II 292 145f., 231 = SP I 106 P.Oxy. II 295 233 P.Oxy. II 300 130, 217, 231 P.Oxy. III 483 228 P.Oxy. III 486 138 = MChr. 59 P.Oxy. III 487 234 P.Oxy. III 489 235 P.Oxy. III 491 235, 257, 364 = MChr. 304 P.Oxy. III 494 258 = MChr. 305; SP I 84 P.Oxy. III 495 128 P.Oxy. III 531 246 P.Oxy. III 533 340 P.Oxy. IV 718 234 P.Oxy. IV 722 256 P.Oxy. IV 743 241 P.Oxy. IV 744 124 = SP I 105 P.Oxy. IV 745 128 P.Oxy. IV 746 43, 130, 145f. P.Oxy. IV 787 130, 146 P.Oxy. VI 899 234 P.Oxy. VI 929 128, 239 P.Oxy. VII 1028 228 P.Oxy. VII 1064 239 P.Oxy. VII 1070 155, 224 P.Oxy. VIII 1100 242 P.Oxy. VIII 1148 54 = SP I 193 P.Oxy. VIII 1149 54 = SP I 194 P.Oxy. IX 1189 124 = CPJ II 445 P.Oxy. IX 1209 257 = SP I 10 P.Oxy. IX 1217 238 P.Oxy. XII 1422 83 P.Oxy. XII 1482 238 P.Oxy. XII 1593 228

Stellenregister P.Oxy. XIV 1664 46, 144 = SP I 148 P.Oxy. XIV 1669 224 P.Oxy. XIV 1672 123 P.Oxy. XIV 1758 231 P.Oxy. XIV 1761 81 P.Oxy. XVI 1901 243 P.Oxy. XVIII 2182 238 P.Oxy. XVIII 2190 105, 135, = SB XXII 15708 P.Oxy. XVIII 2191 245 P.Oxy. XX 2275 239 P.Oxy. XXXIV 2712 138 P.Oxy. XL 2926 235 P.Oxy. XLII 3057 148 P.Oxy. XLII 3069 299 P.Oxy. XLVII 3357 155 P.Oxy. XLIX 3503 238 P.Oxy. L 3600 244 P.Oxy. LIV 3759 239 P.Oxy. LV 3813 234 P.Oxy. LIX 3992 239 P.Oxy. LXVI 4533 258 P.Paris 26 249 = UPZ I 42 P.Paris 32 124 = UPZ I 61 P.Paris 43 243, 247 = UPZ I 66; SP I 99 P.Paris 44 238 = UPZ I 68 P.Paris 47 246f., 292f. = UPZ I 70; SP I 100 P.Paris 51 230 = UPZ I 78 P.Paris 63 Kol. 1–7 43f. = UPZ I 110 P.Paris 63 Kol. 8f. 44, 97 = UPZ I 144 P.Paris 63 Kol. 11f. 44, 97 = UPZ I 145 P.Paris 63 Kol. 13 43f. = UPZ I 111 P.Paris 943 228 = UPZ I 70 P.Phil. 35 223, 231 P.Petr. II 2 (3) 130 P.Petr. III 53 (n) 138, 155 P.Prag. I 109 224 P.Princ. II 28 228

P.Rein. I 48 89 P.Ross. Georg. III 2 46 P.Ryl. II 116 105 = SP II 287 P.Ryl. II 183 124 P.Ryl. II 243 134 P.Sarap. 95 127 = SP III 6297 P.Sel.Warga. 12 231 = SB XVIII 13973 P.Stras. I 32 134 = P.Flor. II 134 P.Stras. I 70 288 P.Stras. III 130 219 = SB V 8012 P.Tebt. I 13 221 P.Tebt. I 19 269 P.Tebt. I 23 299 P.Tebt. I 26 219, 372 =WChr. 330 P.Tebt. I 27 288 = WChr. 331 P.Tebt. I 48 124, 216 = WChr. 409 P.Tebt. I 56 124 = SP I 102 P.Tebt. II 291 264 P.Tebt. II 292 264 = WChr. 74 P.Tebt. II 314 264 P.Tebt. II 382 258 P.Tebt. II 385 25 = MChr. 357 P.Tebt. II 396 123 P.Tebt. II 409 227 P.Tebt. III,1 760 235 P.Tebt. III,1 821 134 P.Tebt. IV 1099 212, 372 = P.Tebt. I 142 descr. P.Warr. 14 224 P.Wisc. I 16 228 P.Wisc. I 131 233 P.Wisc. II 84 299 P.Würzb. 21 231 PGM 4,475 135 PSI III 208 83 PSI IV 317 238 PSI V 502 278 PSI V 520 130 PSI VIII 943 228

475

476 PSI IX 1039 PSI XII 1248 PSI XIII 1331 SB I 16 SB I 4500 SB I 5216 = SP I 104 SB III 6263 = SP I 121 SB III 7264 SB V 7572 SB V 8005 SB VI 9464 SB VI 9558 SB VIII 9905 SB XIV 12138 SB XIV 12172 SB XVI 12245 SB XVIII 13590 SB XX 15180 WChr. 77

Register 264 47 232 264 241 124 227, 231, 246, 288f., 299 259 407 138 241 239 138 128, 241 128 224 128 47 264

Ostraca O.Claud. I 129 O.Claud. II 228 O.Claud. II 379 O.Florida 15

155 232 233 231

Bar Kochba-Briefe 5/6 Ḥev 49 5/6 Ḥev 50 5/6 Ḥev 51 5/6 Ḥev 52 5/6 Ḥev 53 5/6 Ḥev 54 5/6 Ḥev 55 5/6 Ḥev 56

64 64, 68f. 64 64, 69 64, 68 64, 67, 69 64, 68 64, 67f.

5/6 Ḥev 57 5/6 Ḥev 58 5/6 Ḥev 59 5/6 Ḥev 60 5/6 Ḥev 61 5/6 Ḥev 62 5/6 Ḥev 63 Mur 42 Mur 43 Mur 44 Mur 45 Mur 46 Mur 47 Mur 48 Mur 49 Mur 50 Mur 51 Mur 52 XḤev/Se 30

64, 68 64, 67, 68 64, 69 64 64, 68 64 64, 68 64, 66f. 64, 66f. 64, 66 64 64, 67 64, 66 64, 66f. 64 64 64 64 65, 66, 67

Inschriften Athen. Mitt. XII, 182 177 CIJ I 509 322 CIJ I 537 322 CIL IV 10676 218 CIL Suppl. 6818 177 FdD III 1,138 256 FdD III 1,233 256 FdD III 1,293 256 IG IX,1 194 256 IK Prusias ad H. 56 177 ILS I 263 177 ILS I 1071 177 SGDI II 1971 256 SGDI II 2172 256 Syll.2 Suppl. II 669 288 219 Syll.2 Suppl. I 231 219 Syll.3 I 344 219 Syll.3 II 601

2. Personen a. Neuzeitliche Autoren Becker, J. 194, 414 Bentley, R. 12 Berger, K. 87f.

Betz, H. D. 102, 118, 194–200, 272, 314– 318, 371, 392, 406, 410 Bornkamm, G. 414

Personen Borse, U. 377f. Callahan, D. A. 116 Classen, C. J. 199 Cugusi, P. 19, 197 Dautzenberg, G. 417 Deißmann, A. 1–8, 55, 91–93, 95, 99, 161, 192, 313, 375f., 388, 396–398, 406 Döllstädt, W. 100 Dormeyer, D. 8, 118, 148 Eckert, J. 191 Elliott, S.S. 116 Exler, F. X. J. 6f., 16 Frey, J. 415 Gnilka, J. 118, 415 Hengel, M. 415 Hercher, R. 12 Hirsch, E. 184 Jegher-Bucher, V. 197f., 200 Kennedy, G. A. 102, 196–198 Kern, Ph. 199 Klauck, H.-J. 8 Koskenniemi, H. 6, 16f. Kremendahl, D. 198, 272–283, 287, 410 Lampe, P. 114, 117 Lietzmann, H. 185 Longenecker, R. N. 172, 174, 176, 179, 192, 198f. Lührmann, D. 283 Lütgert, W. 185 Ludolph, M. 105

477

Michaelis, W. 183 Mynster, J. P. 176 Nanos, M. D. 188f. Norden, E. 1–4, 93, 102, 398, 400, 416 Overbeck, F. 1–5, 102, 398 Peter, H. 17 Pitta, A. 198f. Radicke, J. 105 Ramsey, W. M. 176 Roller, O. 98, 193 Schmidt, J. J. 176 Schmithals, W. 186 Schoon-Janssen, J. 198 Schwemer, A. M. 415 Stirewalt, M. L. 303–306 Thraede, K. 6, 16 Tolmie, D. F. 199 Vegge, T. 414 Vielhauer, Ph. 6 Vouga, F. 193f., 249, 255 Walter, N. 187, 189 Wendland, P. 8, 102, 398f. Wilson, A. 118f. Winter, B.W. 189 Winter, S. C. 115 Witulski, Th. 189–191 Wolter, M. 118 Zahn, Th. 172, 176

b. Antike Epistolographen und Briefsteller Pagane Autoren und Werke Aelian 13, 29 Aeneas von Gaza 14 Aischines 27, 147 Alexander der Große, Alexanderroman 33, 28f., 58 Alikiphron 13, 29, 287, 291 Anacharsis 27 Apollonios Dyskolos 45, 69 Apollonios von Tyana 13, 147 Aristainetos 13, 29 Aristokles von Pergamon 30 Aristoteles 12, 22, 29, 36, 199, 254 Artemon 36 Ausonius 18f. Brutus 12, 17, 31

Caesar 17, 31 Cato d.Ä. 30f. Chariton von Aphrodisias 13 Chion 27, 147, 233 Cicero 4, 17, 31, 35, 99, 199, 230, 249, 254, 397, 400 Cornelia (Mutter der Gracchen) 30 Demosthenes 12, 21, 275–278, 284f., 293f. Diogenes (Kyniker) 22, 27, 147 Dion von Prusa 147f. Dionysios (Kyniker) 46 Dionysios von Gaza 14 Dionysios v. Halikarnass 4, 14, 22, 32, 52, 135, 306 Epikur 4, 14, 22f., 32, 46, 77, 249, 254, 261, 294–297, 299–306, 312f., 396, 400, 402f.

478 Euripides 12f., 20, 27, 277f. Fronto 18, 31 Heraklit 27 Herodes Atticus 30 Herodot (Briefeinlagen) 20, 53 Hippokrates 27 Horaz 18, 32, 52 Homer (Briefeinlage) 19 Isokrates 4, 21, 148f., 255, 277, 293f., 304 Iulius Victor 34 Julian (Kaiser) 14 Krates (Kyniker) 22, 27 Kynikerbriefe 46, 299 Lesbonax 29 Libanios 14, 30 Lukian von Samosata 13, 54 Lysias 21 Markus Antonius 31 Martial 19 Menippos 54 Musonius Rufus 14, 22 Ovid 18, 32, 52, 55 Paulinus von Nola 18 Phalaris 12 Philostrat [2] von Lemnos 13, 29, 34 Phlegon von Tralles 13 Platon 4, 12, 22, 27, 46, 51, 147, 195, 229, 254, 272, 274f., 293 Plinius d.Ä. 19 Plinius d. J. 4, 18, 30f., 35, 106, 115, 146, 149–151, 163f. Plutarch 4, 53 Pompeius 17 Porphyrios 14 Properz 32 Ps.-Demetrios 33–44, 52–55, 57, 96, 103, 118f., 132, 136–138, 145, 147f., 198, 248, 259f., 263, 272–274, 276, 278–280, 286, 288f., 293, 300, 383, 409 Ps.-Proklos/Libanios 34f., 40, 44, 57, 79, 96, 136, 248, 273, 288–290, 293, 300 Pythagoras 28 Quintilian 32, 199 Sallust (Ps.-Sallust) 31 Seneca 4, 17, 31, 35, 105, 132, 164, 261, 297–322, 406 Sokrates, Sokratiker 22, 27 Symmachus 18, 32

Register Theano (Pythagoreer) 28 Themistokles 12, 27, 230, 290–294 Theon 26 Theophrast 22 Theophylaktos Simokates 13, 29 Thukydides (Briefeinlagen) 20, 53 Timagenes von Milet 30 Frühjudentum Aristeasbrief 60 Bar Kochba 64–69 Baruchapokalypse 62, 71 Brief des Jeremia 60 Esra 59 Ester (griechische Zusätze) 60, 63f. Flavius Josephus 62, 64 Gamaliël I/II 63, 68, 88 Halachischer Brief (4Q) 60 Johanan ben Zakkai 63, 66 Juda ha-Nasi 63 Makkabäerbücher 61, 63, 70f. Nehemia 59 Paralipomena Jeremiou 62f., 71 Philon von Alexandria 62 Rabbinische Briefe 63f. Salomo 60, 62f. Simon ben Gamaliël 63, 66 Frühchristentum und Patristik Ambrosius 18 Aposteldekret 75f. Augustinus 18, 391 Barnabasbrief 75, 89 Basilius von Kaisareia 14 1. Clemensbrief 73f., 77, 88f. Ignatius von Antiochien 74–76, 79, 88, 222 Gregor von Nazianz 14, 34 Gregor von Nyssa 14 Hieronymus 18 Paulinus von Nola 18 Polykarpbrief(e) 74f., 77, 89 Polykarpmartyrium 75, 88f., 304 Synesios von Kyrene 14

479

Sachen

3. Sachen Absender (superscriptio) 41, 44, 66–70, 78f., 97, 105 Adressat (adscriptio) 4, 6, 14, 41, 44, 66– 70, 79, 97, 104 Alltagssprache 2, 259f., 269–271, 371,386, 398, 403, 405 Amtliche Korrespondenz (amtl. Brief) 15, 18, 20, 32, 40, 42, 44f., 50, 52–53, 56, 58f., 61f., 64, 82, 117, 124, 215f., 218f., 234, 279, 300, 389, 401, 407 Anfragen an Orakelgottheiten 54 Apologie, apologetischer Brief 181, 191f., 195–200, 272, 278–288, 293, 385, 412 Außenadresse (Brief) 217f. s. auch Briefzustellung Autobiographie 18, 32, 169, 173, 205, 229f., 274–277, 280–282, 293, 316, 319– 327, 336, 378, 391, 418 ἀφορμή-Formel 49 Bekenntnisformel 202–204, 206, 221, 267, 349f., 371, 392 Bekenntnis, christlich 167, 190, 202, 204, 350, 352, 368, 371f., 395, 401, 404 Besuchsankündigung 85, 110, 121, 129, 132, 236, 345 Beweise, rhetorische (πίστεις) – ἄτεχνος 152, 279, 338, 340f., 347, 351f., 354, 367 – ἔντεχνος 152, 157, 279, 342, 347f., 354 Beweisführung – allgemein 104, 108, 152, 318 – Enthymem 157f., 327, 335, 349, 366 – Induktion 310, 355, 367 Beweismittel – ἦϑος 25, 108, 127, 152–154, 160, 199, 275–277, 279,282, 318f., 325f., 328, 330, 336, 367, 383 – λόγος 160, 200, 367f., 378, 383f., 392 – πάϑος 160, 199, 367f., 383 Bitte um Information 232, 238 Bildung, Bildungskultur 5, 17, 21, 28, 30, 99f., 103f., 144, 162, 401, 404 Brief (antiker) – Definition 36, 38, 52, 54f. – Formelhaftigkeit 16, 24, 40, 4, 47, 49, 95, 146, 388, 397

– Frauen (Verfasserinnen) 15, 23 – Funktionen 4, 17, 33, 37, 40f., 45, 53, 55– 57, 76f., 91, 97, 106f., 163, 292 – Rhetorik 38, 101–105, 195–199, 272, 371 – Progymnasmata 31, 92, 101, 152 – Schulunterricht 7, 16, 26, 29, 33, 40, 43, 95, 98f., 292f., 387, 398, 407, 409 Brief und Epistel 4–7, 91f., 95f., 117, 161, 192, 375, 396 Briefarchiv 15 Briefbote 54, 68, 217f. Briefeinlage/-zitat 12f., 19, 53, 56, 57f., 62– 65, 69, 75, 88 Briefentwurf 15, 98, 165, 372, 375, 389 Brieferwähnung 20, 58–64 Briefformular 16, 40, 52, 65, 69, 78f., 81, 86, 88, 94, 144, 169, 193, 198, 200, 214, 246, 292, 370, 397, 400–403 Briefgedicht 18, 32, 35, 52, 55 Briefkonvention 4f., 24, 44, 49f., 70, 78, 80f., 86, 92–96, 98, 119, 130, 216, 221f., 242, 246, 248, 370, 402f. Briefliche Klischees (Höflichkeit) 50, 248 Briefroman 27f., 229, 290 Briefsammlung 13f., 17f., 21f., 27–30, 32f., 35f., 56, 74f., 163f.,193 243, 277, 287, 290, 297, 301, 311, 400 Briefsituation 41f., 82f., 96f., 114, 128, 132, 138f., 142, 146, 149, 163, 221f., 232, 241, 246–250, 252, 273, 277–279, 283, 285, 290, 292, 302, 318, 370, 392, 395f., 398f. Briefstil, gebildeter 17, 19, 29f., 33–35, 37f., 40, 93, 95f., 98–100, 105, 130, 133, 198, 270, 284, 293, 389, 398, 406 Brieftheorie/-topik – allgemein 16f., 19, 33–36, 39, 42, 47, 49, 55, 57, 94–96, 107f., 165, 198, 248, 408– 410, 417 – Anwesenheit (παρουσία, ἀπών/παρών) 37, 39f., 42, 85, 129, 132f., 236, 252, 273–275, 279, 408f. – Freundschaft (φιλοφρόνησις) 39f., 42, 47, 49, 83–85, 94f., 119, 131–133, 137, 162, 221f., 224, 250–253, 255f., 290, 300, 370, 392, 401f. – Gedenken (μνεία) 42, 48, 83–85, 94, 125, 131, 221f., 253

480

Register

– Gesprächscharakter (ὁμιλία) 3, 36–38, 40, 49, 52f., 56, 96, 121, 131f., 248, 271, 311, 386, 409 – Inhalt 38f., 95, 248, 263, 302 – Schriftlichkeit 36f., 52f., 96, 103, 121, 128, 236 – Sehnsucht 132, 236f., 252 – Spiegel der Seele 37, 95, 108, 130, 376 – Sprache, Stil 48, 93, 96, 161, 268f., 271, 370f., 386f., 398f. – Umfang 38f., 248f., 302 Brieftypen – allgemein 34, 40–43, 96 – Anklage 284, 286–288, 290–294, 383 – Bitte 57, 137f., 284 – Dank 41, 57 – Empfehlung 34, 41, 57, 63f., 118, 127, 136–140, 144–151, 155, 162–164, 388, 403 – Ermahnung 289f. – Freundschaft 34, 42, 57, 119, 132f., 163, 193 – Glückwunsch 44 – Rat 44, 289f., 299 –Tadel 41, 57, 288f., 293, 299–301, 386 – Trost 41, 44, 298f. – Verteidigung 195, 198, 200, 272–287, 385 Briefwunsch/-empfang 49 Briefzustellung 23, 54f., 217f. Corpus des Briefes 44, 47–51, 83–86 Danksagung (Paulusbriefe) 83–85, 119, 121, 125–127, 131, 154, 168, 214, 221f., 247, 402 Datumsangabe (Brief) 51, 130, 144, 407 Diatribe 234, 238, 263, 310f. Diktat 24, 98, 111, 213, 241–243, 272, 373– 376 Diplomatische Korrespondenz 19–21, 56, 59, 61f., 65, 216 Edikt, Erlass, Herrscherbrief 24, 56, 219f. Eigenhändigkeit (Brief) 16, 24–26, 98, 242–244, 407 Eigenhändigkeitsvermerk 86, 127f., 241f., 245, 373, 404 Eingangsgruß (salutatio) – antiker Brief 44, 46f., 50, 124, 203, 231 – frühchristlicher Brief 88–91

– frühjüdischer Brief 66–71 – Paulusbriefe 79–83, 88, 94, 119, 201–204, 214, 221f., 371, 400–402 Empfehlungsbrief s. unter Brieftypen Enkomion 163f. Erotische Briefe 29 Ersuchensformel 127, 137, 234, 251, 271 Ethopoiie 27–30, 33, 35, 53, 76, 108, 151, 229, 279, 290, 318 Festbrief, jüdisch 61, 63, 70f., 73 Fluchformel, Fluch 196, 204, 225, 286 Fluchtäfelchen 54 Freundschaftsbrief (kultivierter) 7, 39, 57, 87, 94f., 118, 125, 131–133, 154, 162f., 168f., 193, 222, 232, 246, 250–255, 273, 300f., 370f., 392, 401f. Freundschaftstheorie/-ideal 131, 133, 137f., 163, 250, 252–254, 297f. Gelegenheitsschreiben/-brief 6f., 11, 13, 92f., 192f., 297, 394–396, 398, 400 Gemeindebrief – (früh-)jüdisch, rabbinisch 58, 76 – frühchristlich 75, 77f. Geschäftsbrief/-korrespondenz 15, 23f., 32, 49–51, 57, 65, 397, 401 Geschäftssprache/-leben 133, 159, 259, 271 Gesundheitswunsch 45–48, 50f., 84, 231f., 241, 247, 253, 402 Gliederung der Rede (dispositio) – allgemein 102, 104f., 199, 314–318, 410f. – prooemium 151, 154 – narratio 316–318 – probatio/confirmatio 316f., 351 – refutatio/confutatio 351, 366 Grußauftrag 48, 86, 130, 168, 193, 214 Grußausrichtung 48, 86, 89, 121, 130, 168, 193, 214, 216, 241 Grußformel (ἀσπάζομαί σε) 48 Handbücher/Lehrbücher (antike) – Epistolographie 33–35, 40, 136, 145, 248, 272f., 278f., 286–291, 293, 300, 383 – Rhetorik 104, 157, 199, 311, 314f., 318– 320, 199 327, 330, 346, 406, 409 Hetärenbriefe 13, 29, 287, 291 Himmelsbrief 54, 74, 196 Illiteraritätsformel 49

Sachen Judenchristen (judaisierend) 179, 183–185, 191–193, 206–208, 264f., 281–283, 323, 325, 327, 331, 333–338, 340, 343f., 350, 366, 377–386, 394, 398 Kondolenzschreiben (Trostbrief) 34, 41, 43f., 46, 57, 57, 299 Kopialbücher 15 Kundgabeformel (disclosure) 50, 66, 68, 225–228, 232–235, 238, 240, 284, 353, 363, 402 Kunstbrief 4, 17f., 29–31, 33f., 56f., 75, 95f., 161, 287, 298, 389, 400 Kunstprosa 2, 14, 93, 269f., 370, 399, 398 Lehrbrief 14, 22, 31f., 38f., 52–54, 57, 63, 77, 93, 200, 249, 255, 261, 294–306, 310–313, 369, 386, 394f., 397, 402, 404 Letter Essay 38f., 52, 57, 303, 305f. Liebesbrief 13, 29, 40, 53, 55 Literarischer Brief 8f., 11, 17, 30–33, 51, 56f–58, 92f., 99f., 118, 148, 220, 227f., 230, 290, 292f., 370, 388f., 396–398, 401, 405 Literarisch überlieferter Brief 4, 12f., 15, 17, 21, 44, 56, 58, 64f., 147f., 220, 227f., 230, 243, 249, 292f., 388, 396–398, 402 Lohnschreiber/Schreiber 16, 24–26, 128, 145, 241, 374, 376 Mitabsender 79f., 123f., 166, 215–217, 373 Mitadressaten 123f., 129f., 160–164, 221 motive for writing 238 Nachtrag, eigenhändig 51, 243f. Namensunterschrift 66–69, 86, 130 Nichtliterarischer Brief 4, 8, 32, 56, 92, 192, 370 Organon-Modell 106f., 163f., 386 Papyrusbriefe 2, 5f., 8, 15–17, 24f., 32f., 42–44, 46f., 50, 53, 55–57, 66, 79, 81, 83, 87, 92f., 95f., 98f., 101, 117, 124, 144, 148, 230, 233, 246f., 249, 292f., 389f., 396–398, 401f., 404 Paulus – Autoritätsanspruch 82, 97, 121f., 127, 131, 141–144, 152–154, 163f., 196,

481 214f., 238f., 254, 285f.,291, 302, 319, 324f., 340, 368, 391, 400, 418 – Bildung 3, 8f., 93f., 96, 100f., 166, 291, 293, 386f., 405–418 – Rhetorik/Rede 101f., 118, 160f., 166, 194–200, 314–318, 366–370, 409–413 – soziale Herkunft 3, 93, 96f., 166, 386, 405f.; 415f. Paulusbriefe – Anspruch 193, 312f., 394–396 – Austausch 77, 108, 163, 395f. – Briefkompilation 10, 72, 390 – Gelegenheitscharakter 6f., 92f., 192f., 394, 396, 398–400 – Sprache, Stil 259, 270, 271f., 293, 302, 371 – Verlesen (vor Gemeinde) 77f., 85, 88, 103, 192, 197, 218, 242, 292, 388f. Petition, Eingabe 45, 48, 50, 249, 284 Philosophie, Popularphilosophie 14, 17f., 22, 28, 31, 39, 46, 7, 131, 134f., 164f., 260–263, 294–298, 322, 386, 401, 403f. Postskript – antiker Brief 44, 51, 55, 82, 87f. – frühchristliche Briefe 73, 78, 88–90 – frühjüdische Briefe 66, 68f. – Paulusbriefe 83, 123, 130, 213f., 245f., 370 Pragmatics of politeness 118f., 162 Präskript – antiker Brief 44–47, 51, 55–57, 87f. – frühchristliche Briefe 73f., 78f. – frühjüdische Briefe 66–71, 88f. – Paulusbriefe 79–84, 87, 96, 121–125, 130, 152, 163, 168, 201–204, 206, 214–222, 241, 255, 285, 303, 328, 350, 370f., 389 Privatbrief/-korrespondenz – allgemein 2, 4, 6, 14–18, 20, 22–25, 30– 33, 45, 48, 51, 56f., 64f., 78, 86, 92, 99f., 117, 130, 144, 163, 192–194, 219, 234, 242, 244, 249, 300, 376, 397, 400f., 406 – kultivierter 7, 29f., 33, 35, 92–95, 100, 389, 391 Progymnasmata 26f., 152, 414 Proskynema-Formel 48, 84f., 125, 221, 223, 402 Protreptikos 295–297 Pseudepigraphie (fiktive/fingierte Briefe) – christlich 73f., 76–78, 223, 390 – frühjüdisch 63

482

Register

– pagan 13, 21–23, 27–29, 33, 51, 53, 57, 99, 147, 220, 229f., 243, 278, 291, 389 Publikation von Briefen 4, 14, 18, 30, 22, 31, 58, 56, 99, 163, 193, 274, 298, 300,312, 389 Rebuke-Formel (Tadel) 223, 283f. Rechtsformeln 127f., 226f., 235, 239, 243– 245, 258f., Rechtssprache 133f., 226, 255f., 258f., 271 Redegattungen (genera dicendi) – Beratungsrede 31, 103, 196f., 199, 314– 316 – Gelegenheitsrede 38, 103, 199, 314–316 – Gerichtsrede 38, 102f., 118, 151, 195– 199, 272, 314–318, 371, 385, 410 Rekurs-Formel 224f., 240f., 306(, 379) Rhetorikkritik, antike 412, 417 Rhetorikunterricht 26–37, 53, 101, 104f., 108, 151, 158, 279, 312, 318, 409–413 Schrift/Schrifttheorie 262f., 267f., 298, 308, 344, 349–354, 360, 367–369, 378f., 382, 404 Schriftbeweis 209, 352, 354, 380 Schuldverschreibung 165 Schlussgruß (Brief) – antiker Brief 25, 47, 50f., 85, 87f., 144, 243, 246, 407 – frühchristliche Briefe 74, 88–90 – frühjüdische Briefe 66–69 – Paulusbriefe 83, 86, 119, 130, 245, 400– 402 Schlussparänese (Paulus) 85, 88 Schwur, Beschwörung 49, 128f., 228f., 259, 337f. Seelenführung/-sorge 22, 296f., 297f., 306, 301, 400 Sekretär – allgemein 24, 26, 40 – Paulus 86, 98, 165f., 213, 241f., 372f., 387, 390 Selbstdarstellung im Brief – antiker Brief 14, 106–109, 277, 282, 291, 312, 376f. – Paulus 108, 162, 164, 271f., 293, 312, 319–324, 327, 376–378, 385, 412f., 417f.

Selbstempfehlung (Paulus) 85, 127, 153 Sentenz 39, 260, 262, 367 Spott 238, 282, 335f., 391 Stilarten (genus tenue) 35, 37 Stilqualität (virtutes dicendi) 37, 104f. Stofffindung (inventio) – allgemein 104f., 160 – Status-Lehre 151, 160 – Topos-Lehre 151, 156, 159, 323, 327, 330, 334f. Subskript 127f., 198 , 213–215, 243–245, 305, 333, 372 Titulaturen (Präskript) – antiker Briefe 45, 81, 100, 121f., 124f., 398 – Paulusbriefe 81f., 108f., 110, 121, 124, 142, 201, 215, 398 Tonfall/Ton im Brief – allgemein 41f., 50f., 233, 236f., 280, 286, 292, 377 – Galaterbrief 168f., 173, 204, 214, 218, 227, 232, 238, 248, 250, 282–284, 286, 288–290, 292f., 302, 368, 370, 374–378, 384f., 392, 403 – Philemonbrief 131–135, 138, 140, 153, 161, 163, 168, 393 Tugend-/Lasterkatalog 185, 213, 240, 262 Traktat in Briefform s. Letter Essay Typenbriefe 13, 29, 33, 53, 57, 287, 389 Umgangssprache 96, 134, 161, 268f., 272, 302, 389 Urkunden in Briefform 15, 24, 48–50, 53, 121, 128, 215, 226, 228, 235, 239, 242, 256, 258f. Vertrauensformel 128, 132, 140, 185, 239f., 253, 402 Widmungsbrief 31f. Zauberpapyri, Zauberei 54 Zirkularschreiben 73, 75, 167, 192, 218f., 312