Paul Nikolaus Gossmann zum sechzigsten Geburtstage am 6. April 1929 [Reprint 2019 ed.] 9783486756029, 9783486756012


150 35 20MB

German Pages 282 [288] Year 1929

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Lieber hochverehrter Herr Professor
Erinnerung
Zwei Gedichte von Paul Nikolaus Cossmann. Komponiert von Hans Psttzner (189
Zwei Parabeln (1898)
Kausalität und Teleologie (1899)
Vom Stiefmütterchen, das in des Knaben Geometriebuch kam (Februar 1901)
Dom hässlichen Prinzen (April 1901)
Die Schlange mit dem Edelstein (Juli 1901)
Thora Weigand (November 1901
Hans Pfitzner (1904)
Eugen Albrechts Gedichte und Gedanken (Januar 1911)
Tierseele (Januar 1914)
Krieg (September 1914)
Rudolf Louis (November 1914)
Alfred Walter von Heymel (Dezember 1914)
Weihnachten (Dezember 1914)
Der einzelne Engländer (Januar 1915)
Zum April 1915
Die Partei der Parteilosen (Oktober 1915)
Josef Ruederer (November 1915)
Pufferstaaten (Dezember 1915)
Dienstmädchen (April 1916)
Kulturpolitik (Juni 1916)
Schöpferische und unschöpferische Politik (Juli 1916)
Eugen Gries (Oktober 1916)
Die Nachfolge Christi und Aristoteles (März 1917)
Der innere Aufstieg (Oktober 1919)
Sozialismus ohne Nationalgefühl? (Februar 1920)
Spenglers „Preußentum und Sozialismus" (Februar 1920)
Lehren der Geschichte (März 1920)
Warnung vor der Geschichte (Oktober 1920)
Deutsche Wärme (Dezember 1920)
Der große Betrug (Juli 1921)
Nationale Würde (Oktober 1924)
Kurzes Gedächtnis (Januar 1925)
Schon wieder Akten! (März 1925)
Deutsche Gesichtspunkte zur Völkerbund Frage (Juni 1925)
Der deutsche Untergang (August 1925)
Gemütlichkeit (Oktober 1925)
Zum neuen Jahr! (Januar 1926)
Fortschritt im Lügen (April 1926)
Noch ist Deutschland nicht verloren (Oktober 1926)
Zum Vaterunser (Dezember 1926)
Worauf es ankommt (April 1927)
Beethovens 100. Todestag (April 1927)
Zum 25. Jahrgang (Oktober 1927)
Kurt Baschwiss (November 1927)
Vergleiche. Nachwort zum Heft: Gegen den Einheitsstaat (Januar 1928)
Psychoanalyse der Religion (Juni 1928)
Die Tiere im christlichen Staat (September 1928)
Wohltäter der Menschheit (Dezember 1928)
Zum ersten Korintherbrief Kapitel 13 (Dezember 1928)
Inhaltsverzeichnis
Recommend Papers

Paul Nikolaus Gossmann zum sechzigsten Geburtstage am 6. April 1929 [Reprint 2019 ed.]
 9783486756029, 9783486756012

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Paul Nikolaus Eoffmann

Von diesem Werke wurden i oo Exemplare handschriftlich

numeriert.

u/. >6^*7»

/N>TMr.

Paul Nikolaus Cofsmann zum sechzigsten Geburtstage

am 6. April 1929

München und Berlin 1929 Verlag von R. Oldenbourg

Lieber hochverehrter Herr Professor!

'enn die „Süddeutschen Monatshefte" Ihnen als Geburtotags-

gefchenk einen Band mit Ihren eigenen Aufsätzen bringen, so mag das dem Außenstehenden vielleicht verwunderlich vorkommen;

aber wer darin Lest, glauben wir, wird uns zustimmen, daß es kein

besseres Mittel gab, zu sagen, was Sie uns bedeuten, als indem wir

Sie selbst aussprechen lassen, was Sie sind. Allen Angriffen gegen­ über, denen Ihr Name in diesen Monaten ausgesetzt war, gegenüber

allen Verzerrungen und Verdächtigungen soll Ihre eigene Stimme den Menschen zeigen, dm wir Näherstehenden in Ihnen gefundm

habm, verehrm und llebm. Auch uns ist der Weg zu ihm nicht immer

ganz leicht gewesm; dmn er führt nicht zu etwas Alltäglichem, und

Sie pflegen ihn in der Regel nicht zu ebnm.

Darf ich erzählen, wie es mir persönlich ergangen ist? Meine erste Begegnung mit Ihnen war an einem düsterm Wintertag 1910, in dem alten kleinen Redaktionszimmer im Erdgeschoß.

Ich hatte

dm „Süddmtschm", die ich seit ihrem Entstehm las und liebte, zum

erstmmal einige unbekannte Schopenhauerdokummte angeboten, und Sie eröffneten mir nun, daß Sie die neuen Aktenstücke gerne nähmen, daß aber mein Begleittext auf ein Mindestmaß gekürzt werden müßte:

gerade auf diesm war ich natürllch, als angehmder Autor, besonders stolz gewesm und opferte ihn nicht leicht. Ihr Gesicht lmchteke sehr bleich, in einem matten Gelb, aus dem tiefdunklm Vollbart und dem Rauch schwerer Zigarrm; Sie sahm schwermütig, ja traurig aus, aber mit einem seltsam gegmsätzlichen Zug von Strmge und Großartig­

keit. Das Gespräch war kurz und wortkarg, mit langm Pausm. Ihre

Art erschien mir eigenwillig, gewalttätig, diktatorisch, und ich wehrte mich innerlich gegen Sie. Aber die Macht des Geistigen, die von Ihnen auoging, auch im Schweigen, nahm mich gefangen; wie ich die

Tür hinter mir schloß, wußte ich, daß ich einem der merkwürdigsten

und rätselvollsten Menschen in meinem Leben begegnet war. Ich sah Sie erst wieder in den gewaltigen Tagen des August

1914, als ich, vom Militär heimgeschickt, beim Roten Kreuz und beim Federdienst Trost suchte. Da schlug mir aus Ihren einfachen, ruhig

beherrschten Worten das Unbedingte, das Rücksichtslose des Einsatzes für Deutschland auch im geistigen Kampf wie «ine Flamme entgegen.

In wenigen Minuten war ein« geistige Gemeinschaft begründet, ein Verhältnis der Zusammenarbeit zwischen Ihnen, dem Älteren und so viel Reiferen, und dem erst noch Werdenden, das allein mich an Sie binden würde, solange ich lebe. Nun erst lernte ich Ihre geistige

Beweglichkeit und Klugheit kennen, die Raschheit und Schärfe Ihres Witzes, die Gedankenfülle, den publizistischen Instinkt, die zähe und

verwegene Tatkraft, die aufreibende Rastlosigkeit Ihrer Arbeit. Aber

Sinn gab allem erst die unbegrenzte Hingabe an das innere Oefcot So erlebte ich mit Ihnen die Hoffnung und alsbald die Sorgen, das

Ringen und den Zusammenbruch des großen Krieges. Ich sah Sie Ihre Stellung, Ihr ganzes bisheriges Lebenswerk ohne Zögern aufs

Spiel setzen; Sie verloren darüber nicht ein einziges Wort — nur das Menschliche, was Sie dabei erfuhren, ging Ihnen nahe. Ich sah Sie

Ihren Namen und Ihre persönllche Ehre dem Verdacht und der Be­

schmutzung preisgeben, wie die innere Stimme auch dieses schwerste

Opfer für das Vaterland von Ihnen verlangte; Ihr Mund hat nicht gezuckt, obwohl Ihr weiches, schmerzempfindliches Herz sich aufbäumtc.

Ich war damals überzeugt davon, daß Ihre Bestimmung sein würde,

irgendwie einmal als Märtyrer zu enden.

Und doch hätte ich Sie auch jetzt noch nicht eigentllch gekannt, hätte ich nicht das Glück gefunden, Ihnen in diesen und den nächsten Jahren auch im rein Menschlichen nahe zu sein — Sie mit Kindern

Schllttschuh

laufen

und

seifenblasen,

mit Ihrem Kanarienvogel

spielen zu sehen, in persönlicher Not selbst Ihre Hilfe zu erbitten,

und durch Ihr Tun das zu erkennen, was Ihre Lippen undurchdring-

lich verschweigen: die Kindlichkeit des Herzens, die hilfreiche Güte eines Schmerzerprobten, die Kraft der mit-leidenden Liebe, welche weiß,

daß sie das Mächtigste und zugleich das Schwächste auf dieser Erde ist, das einzig Verbindende und zugleich das Einsamste: die eigentliche

Kraft Gottes in den Verstrickungen der Endlichkeit.

Auch diese Tage der täglichen Gemeinschaft sind vergangen, und

es scheint umsonst, sich nach ihnen zurückzusehnen. Neue, äußerlich größere Aufgaben

haben Beschlag

auf Sie gelegt.

Sie sind ein

Magnet, der in jeder Lage die Arbeit von allen Seiten an sich zieht,

ein wahrer Verschwender der Arbeit, ein Menschenverbraucher, den seine Aufgaben vom einen immer fort zum andern führen, ein rast­

loser geistiger Wanderer, dessen Weg noch nicht zu seinem Ende gc langt ist. Aber wer je der Ihre geworden ist, den macht keine solche Ferne mehr schwierig. Er kennt die Treue, die in Ihrem Innersten ruht. Er hat einmal ahnend gefühlt, wie alles Einzelne in Ihnen

untrennbar zusammenhängt und

ineinandergreift, was wir nur in

Stücken gewahr werden und was aus der Entfernung sphinxarkig und rätselvoll gemischt erscheint: das Weiche und das Strenge, das Offene

und das Berechnende, bas Mildtätige und das Abweisende — der grausame Realismus und die märchenzarte, märchenstarke Phantasie, der Machtsinn und der Opfertrieb, das Weltkluge und das Welt­

fremde, die Züge, die an Swift und die an Thomas a Kempis erinnern: die Unruhe des Irdischen und die Sülle des Ewigm. Er weiß, auf

welche Sterne in allem Getümmel Ihre Augen gerichtet sind, und wo er Ihrem Blick jederzeit begegnen kann, wenn seine eigenen Augen

rein genug bleiben; wohin in aller Beschränkung und allem Irrtum, denen keiner von uns entrinnt, Ihre Seele zielt: nach jenem inwendi­

gen Reich, „das überall ist, wenn wir es nur betreten könnten, und doch fast nirgends, weil so wenige von uns es eben können; die wenigen

aber, die es können, verdienen Sieger im Kampf des Lebens gmannt zu werden, ihnen gehört das regnum et diadema tutum“.

Erinnerung es sich nicht schön, daß das fünfundzwanzigste Jahr der „SüdOjf deutschen Monatshefte" zusammenfällt mit dem sechzigsten chreo Herausgebers? Kann man Cossmanns gedenken, ohne von Cossmanns Monatsheften zu sprechen? Der Gedanke, ihn in Form einer Fest­

schrift durch eine Sammlung von Beiträgen seiner Mitarbeiter zu ehrm, lag anfangs nahe. Aber macht ihn nicht das gleichzeitig er­

scheinende Gesamtverzeichnis aller Jahrgänge unmöglich? Die „Süd­

deutschen Monatshefte" sind viel zu sehr Cossmanns persönliches Werk, das kein Anderer je hätte leisten können, als daß eine von anderer Seite unternommene Hinzufügung eines weiteren Bandes zu den sei­

nen etwas anderes hätte werden können als eine abschwächende Kopie.

Wenn die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, so ver­ schwindet der Herausgeber einer Zeitschrift hinter seiner Leistung schon

vor der Mitwelt. Er läuft Gefahr, zu einer mythischen Gestalt zu

werdm; und wenn wie bei Paul Nikolaus Gossmann sachlicher Zwang und persönliche Neigung zum einsamen Werk zusammenkommen, ist

es dann nicht geboten, daran zu erinnern, daß hinter diesem einsamen Werk ein höchst persönliches Individuum steht? Hinter dem denkbar

größten Erfolge der Zeitschrift aber jener Verzicht, den Goethe an­ deutet, wenn er zu Eckermann sagt: „Ich habe all mein Wirken und

Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln."

So schien uns der einzig mögliche Beiträger zur Cossmann-Festschrift

er selbst. Wenn wir den Autor für diese nicht zu leugnende Verletzung

des Urheberrechts um Indemnität bitten, können wir einen Aphoris-

MUS ins Feld führen, den er selbst vor dreißig 3a$cen ahnungslos geprägt hat: „Wer Bücher lesen will, die ihm ganz gefallen, der

muß sie selber schreiben." *

„Der Joachim des Violoncells wird am 17. Mai achtzig Jahre alt. Dem jüngeren Geschlecht ist sein Name wenig geläufig, denn

seit mehr als zwei Jahrzehnten hat Bernhard Cossmann auf den Virtuosenlorbeer verzichtet und in Frankfurt a. M. als Lehrer des

Violoncell- und Quartrttspiels am Dr. Hochfchen Konservatorium

eine Lebensaufgabe gefunden, die an idealer Wirkung seine einstigen Konzerterfolge hinter sich läßt.

Bernhard Cossmann ist am 17. Mai 1822 zu Dessau geboren, im selben Jahre wie Joachim Raff.

Gleich vielen Musikern des

vergangenen Jahrhunderts tat auch er den entscheidenden Schritt in die musikalische Öffentlichkeit in Paris. Als er 1840 hinkam, war die

Stadt das Zentrum des europäischen Musiklebens; an sie war die Hegemonie Wiens übergegangen. Liszt war seit 1824 dort, Chopin

seit 1830, ersterer hatte 1836 seinen berühmten Wettkampf mit Thal­ berg siegreich durchgefochten.

Wagner, seit einem Jahr in Paris,

traf 1840 mit Liszt dort zum erstenmale zusammen; Rubinstein trat, ebenfalls in Pans, vor Meyerbeer und Liszt zum erstenmal auf. Mit ihnen allen kam Cossmann in Berührung und galt bald als einer

der erfolgreichsten Virtuosen. Eine Zeitlang traf er täglich Heinrich

Heine im Cafv Montmartre, wo der Dichter

„L’Alge mene (die

„Allgemeine Zeitung") zu lesen pflegte. Von 1843 on verbrachte

Cossmann den Sommer stets in Baden-Baden, wo er an der Groß­

herzogin Stephanie eine kunstverständige Gönnen» besaß; bei ihr hat er oft dem die Großherzogin hoch verehrenden Prinzen von Preußen, dem nachmaligen Kaiser Wilhelm I. vorgespielt. 1847—1849 wirkte

er in Quartettsoiröen des Leipziger Gewandhauses mit; seine Partner

waren Ferdinand David, Joseph Joachim und Niels W. Gade. Mit Joachim kehrte er 1849 nach Paris zurück, wo sie zusammen

Kannnermusikkonzerte gaben. Ihre größte Leidenschaft gall den letzten Quartetten Beethovens, die damals den meisten Musckern und Kri-

tikern (von den Zuhörern nicht zu reden) wirr und unverständlich

erschienen.

Wenn heute diese grandiosen Schöpfungen öfter auf­

geführt, tiefer erfaßt und dargestellt werden, und, wenn auch nicht auf völliges Verständnis, so doch auf unbedingte Ehrfurcht der Hö­

renden rechnen dürfen, so hat dies Quartett daran ein großes Ver­ dienst. Als Cossmann wieder nach Paris kam, weilte Liszt fast schon

zwei Jahre in Weimar, an das nunmehr die geistige Vorherrschaft in

musikallschen Dingen übergeht.

1849 wird Joachim dort Konzert­

meister, 1850 übersiedeln Joachim Raff und Cossmann, in demselben

Jahre wird

„Lohengrin"

in Weimar zum erstenmal aufgeführt,

das Jahr 1851 bringt Raffs „König Alfred", Bülow wird Schüler Liszts, 1852 kommt Peter Cornelius.

Cosima von Bülow hatte Lassen gebeten, bei Cossmann zu son-

dierm, ob er, wenn aus der Sache etwas würde, bereit wäre, an

der nach den Grundsätzen Richard Wagners in München einzurich­

tenden

Musikschule das

Lehramt für Violoncello zu übernehmen.

Cossmann schrieb hierauf an Hans von Bülow: „Wagner stehe ich musikalisch ganz zur Verfügung; diese ehrenvolle Aufgabe wird mir

künstlerische Befriedigung und Genugtuung gewähren und ist zugleich ein Zoll meiner Bewunderung für die Werke des Meisters. Beinah'

befürcht' ich aber, daß Du phiüströs von mir finden wirst, wenn ich den Wunsch ausspreche, zu keiner Fahne zu schwören; das widerstrebt meiner innersten, lange und tief wurzelnden Überzeugung. Mik meinen

besten Kräften nach außen wirken, nach innen fern von allen Partei­ ungen ein ruhiges, unabhängiges Privatleben führen, ist das Ideal meiner Wünsche. Schreibe mir, ob dieses mit den in München von

mir gehegten Erwartungen in Einklang steht."

Bülow antwortete

in einem langen Schreiben am 14. Oktober 1865 (Bülow, Briefe und Schriften, Bd. V, S. 60—64). Er beruhigte Cossmann bezügLch des „Fahneneides".

Dann fährt der Brief fort: „Für Trio,

Quartett — abgesehen von Deinen Leistungen als Solospieler und Orchestercellist — bist Du mir immer als der idealste, sympathifchtc

unter allen Deinen Mitcellisten im Gedächtnis geblieben. Ich habe tonen gefunden, den ich sonst in Deutschland wert erachtete, mit mir

zu musizieren. Du begreifst sonach, weshalb ich bei dieser Gelegenheit

lebhaft die Möglichkeit wünschte, Dich hierher verpflanzt zu sehen." Gleichzeitig jedoch hatte Cossmann einen festen Ruf an das Kon-

servatorium der Kaiserlichen Musikgesellfchaft zu Moskau erhalten, dem er folgte. 1870—1878 verlegte er seinen Wohnsitz nach Baden-

Baden, von wo aus er Konzertreisen unternahm. Für uns kommen hier besonders die vier Museumokonzerte in Betracht, die er mit

Hans von Bülow in München gab (am 22. und 24. Januar, 7. und 10. Oktober 1873).

spielte darin von I. S. Bach die Sarabande

und Gavotte aus der D-dur Suite, mit Bülow zusammen Beethovms

Cellosonaten op. 69, die selten gehörten Sonaten in C und D op. 102, eine Sonate von Boccherini, Werke von Rheinberger, Raff, Saint

Saens und Liszt; mit Bülow und dem Hofkonzertmeister Edmund Singer zusammen die Trios von Bronsart. Die Sonate op. 69 von Beethoven war eine seiner berühmtesten Leistungen; Liszt bezeichnete die Art, wie er sie vortrug, als „einfach vollendet". Gerne spielte der Künstler auch das Cellokonzert von Schumann, das eingeführt zu

haben eines seiner größten Verdienste ist. Er bezeugte dadurch die Un­ abhängigkeit seiner künstlerischen Stellung, denn Schumann war da­

mals bei den Wagnerianern verpönt. Noch glänzender dokumentierte er die Sachlichkeit seines Urteils, indem er von Anfang an für die

neuen Kammermusikwerke des jungen Brahms eintrat. Seit 1878 lebt Cossmann in Frankfurt a. M. Don den zahl­

reichen Cellisten, die ihre Studien bei ihm in Weimar, Moskau, Ba­ den-Baden und Frankfurt vollendet haben, ist der Bayer Heinrich Kiefer der hervorragendste. An Cossmanns Spiel wird in gleicher

Weise die technische Vollendung, der männliche Ton, die meisterliche Phrasierung und die ergreifende Jnnerllchkeit gerühmt."

Diese Aristeia des Vaters Cossmann aus der „Allgemeinen Zei­ tung" in den Textteil aufzunehmen, hinderte nur der Umstand, daß

zwar inhalllich jede ihrer Angaben von seinem Sohne Paul stammt, ihre stilistische Fassung jedoch von mir, gezeichnet mit meiner damaligen

Chiffre A.

Ihren Abdruck an dieser Stelle rechtfertigt vor allem

auch die auffallende Ähnlichkeit weseatllcher Züge im Bilde von Vater und Sohn: zugleich das paracelstsche Alterius non sit qui suus

esse potest wie das Eintreten für das Große: „Unter richtig eintreten

verstehe ich, daß man bauernd einer als groß erkannten Sache treu bleibt," heißt es in Cosfmanns Schrift über Pfitzner.

* Aber nicht von der Musik als seinem archimedischen Punkte aus hatte dieser Sohn eines Musikers versucht, das Gefüge der Welt

zu bewegen. Er kam von der Philosophie und den Naturwissenschaften her.

1899 erschien in einem Stuttgarter Verlage die Schrift „Ele­

mente

der Empirischen

Teleologie", in der cs gegen den Schluß

zu hieß: „Es scheint, daß in der biologischen Forschung eine Periode ihrem Ende ent­

gegengeht.

Das Verdienst dieser Periode kann man wohl darin erblicken, daß

sie versucht hat, so wett als möglich mit rein kausalen Erklärungen zu kommen,

hierbei bleibend Wertvolles geleistet und da, wo sie irrte, durch ihren Irrtum die Grenzen der Kausalerklärung aufgedeckt hat."

Dieses der Zeit vorauseilende Manifest ist in jeder Beziehung

merkwürdig. Merkwürdig die vorlesungsartig klare Anordnung und

Einteilung in Paragraphen, die an Spinozas Ethica geometrico modo demonstrata gemahnte.

Merkwürdig der leidmschaftslofe Ton der

Beweisführung, die Abwesenheit jeder Polemik, wobei man wiederum

an Spinoza denken mochte: non ridere, non lugere, sed intelligere.

Vor allem aber merkwürdig die Kühnheit von zahlreichen dieser schein­ bar so ruhigen Sätze: „Es darf gesagt werden, daß es jetzt kein der Erfahrung zugängliches Ge­

biet mehr gibt, das die wissenschaftliche Forschung nicht bereit wäre, zu betreten." „Welcherlei Zusammenhänge uns bekannt werden können, ist ohne Vorurteil nicht vorauszusagen,- zutrauen sollten wir der Natur jede beliebige Ordnung." „Das

Gefährliche des Vorurteils liegt wohl gerade darin, daß es nicht als Hypothese vorgestellt wird, sondern daß wir es unwillkürlich als etwas Selbstverständliches in unser Denken aufnehmen." „In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es Mode geworden. Teleologisch als tadelndes Beiwort, Kausal, Ätiologisch (wofür

auch häufig Mechanistisch gesetzt wird) als

cpitheta

omantia

zu

gebrauchen;

die Wissenschaft kennt kein anderes Lob als Richtig, keinen anderen Tadel als Falsch."

In hohem Grade merkwürdig war endlich das herangezogene Tatsachenmaterial; es zeigte, daß der Verfasser auf jedem Gebiet der Naturwissenschaften zuhause war. Die Erstlingsschrift des bis dahin völlig Unbekannten, der sogar den akademischen Grad ver­

schmähte, erregte denn auch gerade bei den Autoritäten der Natur­

wissenschaften Aufsehen. Der Bakteriologe Buchner begrüßte sie als

„eine von dem wüsten Geistertraum der Zuchüoahltheorie erlösende Tat". Der Physiologe Tevetz schloß seine Besprechung mit dem Satze: „Die Teleologie, bisher der Spott der .exakten' Naturphilosophen,

sie hat sich das Bürgerrecht in der Wissenschaft erworben." Wilhelm Ostwald sah in ihr einen „Ausdruck für die Ausbildung einer neuen

Epoche unter Derlassung der alten Ideale". Der Botaniker Jo­ hannes Reinke betonte in seiner „Einleitung in die Theoretische Bio­ logie", daß erst Cossmann das Verhältnis zwischen Kausalität und

Finalltät klargelegt habe. Der Physiologe Von Bardeleben wies „alle Kollegen dringend auf diese Untersuchung Cossmanns hin, die ent­ weder widerlegt oder anerkannt und befolgt werden muß". Ernst Mach, in seiner „Analyse der Empfindungen", kann nicht umhin,

sich mit den von Cossmann formullerten Begriffen auseinanderzusetzm.

Der Physiologe Karl Oppenheimer urteilt: „In diesem kleinen Buch steckt so viel an positiver und kritischer Arbeit, daß es unmöglich ist,

all das Neue und Revolutionäre, das der Verfasser in einer fast zu knappen, häufig aphoristischen Form darbietet, auch nur anzudeuten."

Besonders wertvoll war für Cossmann die Gegenschrift des genialen Pachologen Eugen Albrecht „Gegen die Teleologie"; sie führte zu

einer Freundschaft, die nur durch Albrechts allzu frühen Tod ge­

trennt wurde. Unsere ursprüngllche Absicht, die „Elemmte" vollstän­ dig in diese Festschrift aufzunehmen, scheiterte an Raummangel; wir mußten uns mit dem Kapitel „Kausalität und Teleologie" begnügen. Die hohe Anerkennung, welche die „Elemente der Empirischen

Teleologie" bei den angesehensten Vertretern der Naturwissenschaften

fanden, lleß erwarten, ihr Verfasser werde sich der akademischen Lauf­ bahn zuwenden oder zum mindesten auf dem Grenzgebiet von Natur­

wissenschaften und Philosophie weiterarbeiten.

Aber ein Jahr vor-

her (1898) Halle Cossmann ein schmächtiges Bändchen „Aphorismen" herausgegeben,

das bei aller Zurückhaltung mehr Einblick in

fein

Innerstes gewährte als die „Elemente". Daß das Aphoristische eine ihm wesentüche Denkform sei, war bereits Oppenheimer ausgefallen;

es ist bis heute diejenige geblleben, in der er sich vorzugsweise äußert.

Wer diese Sähe mit ihrem sanften Sarkasmus las, konnte schon eher verstehen, warum Cossmann nicht an die akademische Laufbahn dachte: „nach innen fern von allen Parteiungen ein ruhiges, unab­

hängiges Privatleben führen" war das Ideal auch seiner Wünsche, wie es dasjenige seineo Vaters gewesen war. Er fühlle sich noch zu

sehr als Lernenden, als daß es ihm in den Sinn gekommen wäre, schon em Lehrender sein zu wollen.



Um diese Zeit etwa, Sommer 1900, lernte ich ihn kennen, oben in Solln bei dem Musikschriftsteller Arthur Seidl, der die letzten Jahre der einst so ungebärdigen „Gesellschaft" betreute, bei der Coss­

mann und ich gelegenllich mitarbeiteten. „Ich möchte Sie mit ihm

zusannnenbringen," hatte Seidl gesagt, „wenn Sie auch das erstemal nicht viel von ihm haben werden; er spricht nämlich in Gesellschaft

fast nichts." Als ich zu Seidl hinaufkam, waren schon eine Reihe

Besucher da, mir alle gleich unbekannt: aber in dem Augenblick, als ich ins Zimmer trat, wußte ich, welcher von ihnen Cossmann fein

mußte, und trat auf ihn zu. Schon damals sah er ungefähr so aus, wie noch heute; ich kenne wenige Menschen, die sich im Grunde so wenig verändert haben. Bei Seidl war er in der Tat äußerst schweig­

sam, aber als ich mich verabschiedete — ich mußte zurück nach Frei­

sing, wo ich damals wohnte —, begleitete er mich an den Zug, und unvermerkt waren wir ins lebhafteste Gespräch geraten, über Denker, die uns beide stark beschäftigten, Pascal, Lichtenberg, Emerson, und

natürllch über Musik. Als ich allein im Zuge saß, Halle ich Muße,

den ungewöhnllchen Eindruck dieser ersten Begegnung zu überdenken. Dabei kannte ich noch keines seiner beiden Bücher. Die „Gesellschaft", lange Zeit herausgegeben von ihrem Begrün­

der M. G. Conrad, später von Hans Merian, von Ludwig Iako-

bowsky, lag nun in den Händen Arthur Seidls, der sich redliche, aber verlorene Mühe mit ihr gab. Ich glaube, wir sprachen auf dem Heim­

weg auch über die Schwierigkeit, einer Zeitschrift, die mm einmal ein Dutzend Jahre unter einer ganz bestimmten Flagge gesegelt ist — bei der „Gesellschaft" war es der juugdeutsche Naturalismus gewe­

sen — von heut auf morgen ein andres Gesicht zu geben; ahnungslos,

daß wir beide schon in zwei Jahren — die „Gesellschaft" stellte 1902 ihr Erscheinen ein — eine neue Zeitschrift machen sollten.

Die beste periodische Veröffentlichung von München war damals die alle Wochentage erscheinende „Beilage zur Allgemeinen Zeitung",

als wissenschafüiches Tagesorgan ohnegleichen in Deutschland. Ihr

Herausgeber war Oskar Bulle, der aus dem Florentiner Kreis um

Hillebrand und Böcklin kam, der spätere Sekretär der Weimarer Schillerstiftung. An ihr arbeiteten Gossmann und ich mit. An der

Beilage konnte man lernen, wie eine Zeitschrift gemacht wird. Neben Bulles Zimmer war dasjenige des Freiherrn von Mensi, der das

Feuilleton der „Allgemeinen Zeitung" nicht minder glänzend leitete. Ich erwähne das, weil aus diesem Kreise der „Allgemeinen" der

Stamm der frühesten Mitarbeiter der „Süddeutschen Monatshefte" hervorging: Eugen Albrecht, Karl Borinoki, Lujo Brentano, Karl

Theodor von Heigel, Adolf Hildebrand, Georg Kerschenstemer, Isolde

Kurz, Paul Marsop, Franz Muncker, Karl Eugen Neumann, August Pauly,

Helme

Raff, Karl Voll, Wilhelm Weigand, Thaddäus

Zielluski. Sie alle treten schon in den ersten vier Jahren auf. Doch damit habe ich der Entwicklung vorgegriffen.

Ich sah Cossmann erst wieder bei einem schmerzüchm Anlaß.

Am 27. November 1901 stand ein kleiner Kreis der engsten Bekann­

ten und Freunde vor dem Famillmgrab in Bogenhausen, in dem die Aschenreste der von uns allen ob ihres gütigen und vornehmm Wesms verehrtm Gattin Wilhelm Weigands versmkt wurden. Zu unserer

Überraschung ergriff Cossmann das Wort und sprach einm ergreifen« dm Nachruf. Ich glaube, keiner von uns hatte ihn je sprechen hören.

Aber uns allen blieb es unvergeßlich. Er sprach leise, unfeierlich, ohne Pathos, wie im Gespräch, offmbar aus dem Stegreif, wir fühlten

mit, wie sich in seinem Innern die Sätze formten, deren jeder in das

unsere traf. Seitdem habe ich chn noch manchesmal sprechen hören,

bei freudigen, bei traurigen Gelegenheiten. Der Eindruck war jedesmal gleich. Abwesenheit jedes rhetorischen Mittels, phrasenlose Einfachheit.

Immer sprach er mit seltsamer Bestimmtheit das aus, was wir nur

dunkel fühlten, immer kurz, in knappen Sätzen, fast aphoristisch. Ich

habe glänzendere Redner gehört, — einen überzeugenderen nie. Wenn er schloß, hatte man das Gefühl, nun sei das Endgültige ausgespro­

chen, der Gegenstand erledigt.

♦ Freitag, den i. Mai 1903 erhielt ich von Wilhelm Weigand

einen Brief, der mit den Zeilen begann: „Cossmann und ich wollen

Sonntag nachmittag wieder einmal beraten, wie der süddeutschen Kul­ tur zu helfen sei, und dabei möchten wir auch Ihre Meinung hören. Darf ich Sie bitten, zum Tee zu mir herauszukommen, vielleicht um

drei Uhr, damit wir Zeit haben, das anti-Berlinifche Kapitel gründlich zu erörtern?" Der 3. Mai 1903 ist der Tag, an dem zum ersten­ mal der Name „Süddeutsche Monatshefte" ansgesprochen wurde.

Wichelm Weigand, heute längst eine festumrissene Gestalt der Literaturgeschichte, hatte im Jahre 1891 „Essays" veröffentlicht, vor allem zur französischen Literatur, die sich neben Karl Hillebrand und Herman Grimm stellen konnten, außerdem einen fränkischen Roman,

„Die Frankenchaler", der seitdem wiederholt aufgelegt, zum dauern­ den Besitzstand unserer neueren Prosadichtung zählt. In seiner Villa

in Bogenhausen mit einer der erlesensten Gemäldesammlungen Mün­ chens, seit dem Tode seiner Frau noch zurückgezogener, ohne Fühlung

zu suchen weder mit der älteren noch der jüngeren Dichtergeneration, lebte er seinen Arbeiten und Studien. Sein außerordentlicher künst­

lerischer Geschmack hatte ihn als Mitglied der staatlichen Ankaufs­ kommission in Beziehung zu den ersten Künstlern treten lassen, sein feines Verständnis für moderne Musik zum Vorsitzenden einer Ver­

einigung gemacht, die sich deren besondere Pflege zur Aufgabe setzte. Sei«r Verleger war Georg Müller, der erst während des Weltkriegs

viel zu früh seiner Arbeit Entrissene. Lag es nicht nahe, auch die neue

Zeitschrift im gleichen Verlag erscheinen zu lassen? Und doch beschwor

gerade dieser scheinbar so günstige Umstand die erste Krise herauf.

Denn der sechsundzwanzigjährige Georg Müller, der seinen Verlag

am gleichen Tage eintragen lleß, an dem die erste Nummer der „Süddeutschen Monatshefte" in allen Buchhändlerauslagen prangte, stand

geschäftlich selbst noch auf zu unsicheren Füßen, als daß er das Risiko einer Zeitschrift hätte durchhalken können, die nur sehr langsam Boden gewann. Sein Verlag gab den „Monatsheften" nicht viel, und die

„Monatshefte" konnten seinem Verlag überhaupt nichts geben. Als Weigands Mitherausgeber waren außer Paul Nikolaus

Cossmann genannt Josef Hofmiller, Friedrich Naumann, Hans Pfitzner, Hans Thoma. Naumann, damals noch nicht Reichstagsabgeord­

neter, stand auf der Höhe seiner Kraft. Daß er gleichzeitig eine eigene Zeitschrift herausgab, „Die Hilfe", war kein Hindernis einer Mit­

herausgeberschaft, die sich auf den Namen und einen monatllchen

längeren Aufsatz beschränkte. Der Name Naumann war der jungen

Zeitschrift unschätzbar, denn er bedeutete nicht nur ein sozialpolitisches

Programm, sondern zugleich ein innerpolitisches Bekenntnis: so sehr die Monatshefte in Fragen der Kultur gegen die Vorherrschaft Ber-

lins auftraten, so fest standen sie von Anfang an zum Reich, wenn auch nicht zum „neuen Kurs". Wenn wir etwas bedauerten, so war es

dies, daß Politiker, wie der mit Wilhelm Weigand befreundete Georg Vollmar an einem bürgerlichen Blatte nicht mitarbeiten durften: ein

Verbot, das Cossmann nicht nur Vollmars wegen, sondern grundsätzLch, bis zu dessen leider nur kurzen Durchbrechung während des Krie­

ges, als für eine gesunde Innenpolitik verhängnisvoll betrachtete. Ich selbst bin aufs Titelblatt der „Monatshefte" gekommen wie

der Pontius ins Credo. Der Grund ist mir noch heute unerfindlich: was wollten meine paar Theaterkritiken in der Allgemeinen Zeitung"

besagen? Gelegentlicher Mitarbeiter, das konnte ich mir vorstellen.

Aber gleich Micherausgeber? Vielleicht war es gut, daß wir so un­

beschwert an unsere Zeitschrift herangingen. Jedenfalls hatten schon nach ein paar Jahren Cossmann und ich ein wenig das Gefühl des

Reiters überm Bodensee. Denn von der technischen Seite der Heraus-

geberschaft einer Zeitschrift verstanden wir beide so gut wie nichts, und der tatendurstige, aber unpraktische Feuerkopf Georg Müller nicht viel mehr. An dieser Nummer Gns war eine Menge falsch. Wie un­

glücklich war gleich die Hauptsache, die Type! Wie konnten wir nur so weltfremd sein, eine neue Zeitschrift lateinisch zu setzen! Die grüne

Farbe der Umschläge war so dunkel, daß kein Mensch das farbig auf­

gedruckte Inhaltsverzeichnis entziffern konnte; aber Georg Müller

hatte so viel von diesem herrlichen spinatgrünen Papier bestellt, daß wir die Umschläge ein volles Jahr beibehalten mußten. Waren für

eine Nummer Gns die Aufsätze von Hans Driesch über Biologie

und von Eugen Albrecht über Pathologie, noch dazu unmittelbar nach­

einander, nicht zu schwer? Als ein paar Jahre später Ludwig Thoma seine sechs Wochen Haft wegen Beleidigung von Vertretern der Sitt­

lichkeitsvereine absaß, kritisierte er in seinem „Stadelheimer Tagebuch"

am 16. November 1906 unser erstes Heft scharf, aber, und darin glaube ich, würde ihm heute auch Cossmann beistimmen, nicht unge­

recht. Er übersah nur eines: daß wir in den drei Jahren seit dem ersten

Heft, das er so schonungslos vornahm, zwar sehr viel Lehrgeld gezahlt,

aber doch einiges gelernt hatten: unsere Novembernummer 1906 sah aktueller aus, wenn wir auch immer noch ausgesprochene Aktualität

eher vermieden als erstrebten. Süddeutsch: das besagte doch niemals die Einschränkung der Mit-

arbeitcrliste auf Leute, die südlich der Mainlinie geboren waren, son­ dern ein Kulturprogramm, bei dessen Durchführung willkommen war, wer etwas zu sagen hatte. Das erschien freilich manchm Leuten so seltsam, daß in der Faschingszeitung des „Neuen Vereins" im näch­

sten Jahr zu lesen war: „Die Süddeutschen Monatshefte suchen noch einige Dutzend norddeutsche Mitarbeiter."

In welchem Grade vollends der Name Hans Thoma ein Pro­

gramm war, kann sich heute kein Mensch mehr vorstellen. Er be­

deutete die Abkehr von allem, was damals große Mode war, von Berlin und seinen ersten Namen, von seiner Hörigkeit gegenüber den Fran-

zosm. Schon unser erstes Heft brachte von Thoma den Aufsatz „Die Anfänge der Kunst", bezeichnenderweise nicht lateinisch gedruckt, er

hatte sich Fraktur ausgebeten. Hans Thoma hat in der Folge noch

oft in die S. M. geschrieben: den Schriftsteller Hans Thoma heraus­

gelockt zu haben, ist eines von Cossmanns größten Verdiensten. Fast alles, was der wunderschöne Band „Im Herbste des Lebens" ver­

einigt, ist zuerst bei uns gestanden; es war jedesmal ein Fest, wenn ein neuer Beittag in seiner charaktervollen Handschrift einlief. Aber wenn

die „Monatshefte" mit Stolz Thomas Namen auf ihr Titelblatt setzten, heftettn sie sich keineswegs an die Rockschöße eines, und sei es auch nur in Deutschland, vorbehalüos anerkannten Ruhms. Noch im Oktober

igig schrieb mir der Achtzigjährige: „...Schien es mir doch pst, als ob Manche meinten, daß mein ganzer Wert darin bestehe, daß ich zufällig ein Deutscher sei, ja man hat mir darüber

manche Sünde gegen den guten Geschmack, manche vermeintliche Unbeholfenheit, manche Verzeichnung nachsichtig beurteilen zu müssen geglaubt. Was habe ich da alles nicht schon hören müssen bis zur Behauptung, daß ich gute Absichten habe,

nur schade, daß ich nichts gelernt habe, daß ich weder zeichnen noch malen könne. Es hat mir wohlgetan, daß Sie es so klar ausgesprochen haben, daß ich vor

allen Dingen ein Maler sei mit allem Drum und Dran, und wenn ich auch in Frankreich, Japan oder sonst irgendwo statt in Bernau geboren wäre..., Der Beweis, daß ich nebstdem, daß ich ein guter Maler bin, auch ein richtiger Deutscher

bin, ist dadurch erbracht, daß mein Schaffen in Deutschland den stärksten Wider­ stand hervorrief. Meine Bilder wurden fast auf allen Ausstellungen refüsiert, so noch kurz vor dem Krieg von einer Vereinigung, die in Berlin sich gegründet hat, um deutscher Kunst im Ausland wieder mehr Geltung zu verschaffen — sie wies

ein Bild, das ich zu einer Ausstellung in Amerika mitgeben wollte, einen Sankt Georg, zurück mit der Begründung, daß es durch seinen blauen Ton die Harmonie

der deutschen Bilder stören würde..." ♦

Am Weihnachtsabend 1892 schreibt Hans Thoma an Henry Thode: „Schon oft hatte ich es mir schön gedacht, mit jungen Malern zusammenzu­ kommen

mit solchen übermütigen Seelen, wie ich es innerlich in meiner Jugend

immer war. Ich suchte danach, aber alle, die ich sah, waren älter als ich — ich

Fünfzigjähriger war der Jüngling, nirgends war mehr eine Spur von Torheit in

ihnen.

Sie wußten es haarscharf, wie die gute Kunst sein sollte. Ich fand nur

vertrocknete Seelen — es ist dies wohl Zufall — und es gibt wohl außerhalb

Frankfurts noch junge Feuergeister, an deren Feuer noch Gutes reifen kann. Schon gab ich die Hoffnung für Frankfurt auf, da nähern sich mir junge Musiker,

ganz junge Menschen, Schüler vom Konservatorium; die kommen voll Vertrauen,

XIX

teilen mir mit, ton» sie geschaffen, spielen mit ihre Lieder, lesen mit ihre Gedichte, weihen mich in alle« ein, was ihre törichten jungen Herzen in dichterischer Begeiste­ rung erfüllt. Da« kümmert sie gar nicht, ob ich etwa« von Musik und Dichtkunst

verstehe; ich muß e« verstehen, ich soll mich freuen an dem, wa« sie machen, ich soll e« ahnen, wie groß und gut ihre Pläne sind, denen chre Kunst entgegengeht.

Und ich freue mich auch: wo Leben und Jugend spricht, hat alle Kritik ihr Recht verloren."

Eine Anmerkung zu der Stelle nennt den Noamen eines dieser jungen Musiker: Hans PfiHner.

Als einer der ersten erkannte Cossmann PfiHners Größe. Durch

sein Cellospiel in klassischer Kammermusik hatte er früh erfaßt, worin das Organische des Musizierens besteht. Eines Tages, erzählte er mir, als ihm sein Mitschüler PfiHner vorspielte, sei ihm bestürzend

die Einsicht aufgegangen, das sei eine thematische Arbeit wie bei Beet­ hoven. Von diesem Augenbllck an wußte er, worin seine Aufgabe be­

stand: der Vorkämpfer des größten lebenden Tondichters zu werden.

Ein Zeugnis dieses Eintretens ist der Essay, den Cossmann 1900 in der „Gesellschaft" in Bruchstücken, 1904 als Flugschrift herausgab. Das schönste Denkmal dieser Freundschaft aber sind die zwei Gedichte

Cossmanns, die PfiHner 1888/89 vertont hak. Die Ermächtigung, sie an dieser Stelle abzudrucken, verdanken wir dem Verlagohause Adolph

Fürstner in Berlln.

PfiHner lernte ich erst spät persönlich kennen, Thoma überhaupt nie, Naumann sah ich ein einzigesmal. Da ich außer Cossmann der einzige Mitherausgeber war, der in München wohnte, war es, nach­

dem Weigand als Herausgeber zurückgetreten war, das Gegebene, daß

Cossmann und ich regelmäßig zusammenkamen. Wir setzten uns in den Erker Königinstraße 103 im dritten Stock, wo Cossmann heute noch

wohnt, mit dem schönen Bllck über die Baumwipfel des Englischen Gartens. Im Sommer kamen vom Chinesischen Turm her verwehte

Weisen des nachmittägigen Konzerts. Auf dem kleinen Tischchen stand

der Kaffee, daneben ein Stoß Manuskripte, auf dem Teppich lag Kay, der schottische Schäferhund.

Lange noch

hatte unsere redaktionelle

Tätigkeit etwas Improvisiertes; wir hielten uns für weiß Gott wie

fortschrittllch, als wir bei einem kleinen Schwabinger Schreiner für

die angenommenen Manuskripte einen fichtenen Kasten mit zwölf Fä­ chern für die einzelnen Monate hatten fertigen lassen.

Zunächst war ja der Einlauf nicht überwältigend, und ich genoß nebenzu jene schwer zu bezeichnende Freude, die darin liegt, wenn wir allmählich den geistigen Haushalt eines Freundes ein wenig kennen lernen. Wenn ich von Naturwissenschaften nichts, von Philosophie

nicht viel verstand, so kam ich bei Lichtenberg, Jean Paul, Dickens,

Fontane eher mit.

Cossmann ist, selbst für englische Konkurrenten,

ungewöhnlich dickensfest: er kennt ihn fast auswendig und Forsters Biographie dazu, weiß, wo jede Figur vorkommt, erinnert sich jeder

charakteristischen

Situation,

zitiert

jeden

Nicht minder genau hat er die Russen

stojewski, und die Franzosen.

bezeichnenden Ausspruch.

gelesen, besonders Do­

Durch ihn llrnte ich zum Beispiel

Maupassant erst richtig kennen. Dies alles jedoch nur zufällig und nebenbei, aus Anlaß irgendeiner talentlosen Novelle, an der er de­ monstrierte, wie der Autor es hätte machen können. Wie heut erinnere ich mich des strahlenden „Endlich", mit dem er mir eine frisch ein­

gelaufene Erzählung zum Lesen gab; sie steht im Februarheft 1905:

„Wie der Adam starb" und ist von Frau Auguste Supper, die eben­

falls zu jenen Entdeckungen der Monatshefte gehört, deren sie sich am herzlichsten freuen. Aber wmn der Einlauf an Manuskripten nicht groß war, so

war der Eingang an Abonnements noch geringer, und bald merkte ich, daß sich hinter Cossmanns unveränderlicher Heiterkeit schwere Sorgen

verbargen. Sorgen nicht etwa seinetwegen, so berechtigt sie gewesen wären. Aber sich selbst stand er mit spartanischer Bedürfnislosigkeit

gegenüber. Er sorgte sich nur um die Zeitschrift und die Gesellschafter. Sein überstarkes Verantwortlichkeitsgefühl verleitete ihn, um Spesen zu vermeiden und sparen zu helfen, dazu, die Kerze an beiden Enden

anzuzünden.

Jahrelang mutete er sich allein fast die ganze Arbeit

von Redaktion und Verlag zu: er war Herausgeber, las dm ganzen

Einlauf,

besorgte ohne Schreibmaschine, eine Zeitlang sogar ohne

Hilfskraft, die umfangreiche redaktionelle und geschäftliche Korrespondmz, gab unserer neuen Dmckerei, Adolf Bonz in Stuttgart, schrift-

lich und telefonisch die Anweisungm für jedes Heft, las sämtliche Korrekturen, suchte neue Mitarbeiter und Geldgeber zu gewinnen, wurde ein paar Dutzendmal im Tage angerufen oder rief selbst an,

machte Besuche bei Redaktionen, durfte abendlichen Einladungen im

Interesse der Zeitschrift, obwohl zum Umfallen müde, nicht absagen:

ich begreife heute noch nicht, daß er unter dieser, ohne ein Wort der Klage, jahrelang geschleppten Last nicht zusammenbrach. Flicht ein­

mal, Dutzende von Malen sagte ich ihm: „Herr Cossmann, ich werde den Tag segnen, an dem die S. M. endlich auffliegen und Sie Ihren

wissenschaftlichen Aufgaben zurückgegeben werden. Für das alles, was

Sie jetzt tun, sind Sie viel zu gut. Ich kann mir Sie schon an Ihrem Schreibtisch vorstellen, aber doch nur für Ihre eigenen Arbeiten, nicht

für bas Danaidenfaß der Monatshefte. Sie gehören auf einen Ka­

theder!

Ich könnte Sie mir sogar noch eher als einen regulierten

Chorherr» in einem österreichischen Stift vorstellen, jahrzehntelang mit

demselben

biologischen Problem

beschäftigt, wie der alte Mendel.

Alles, nur nicht diese Kuli-Arbeit!"

Unsere Redaktionsräume bestanden in den ersten Jahren aus Coss

manns Arbeitszimmer und dem fünf Schritt langen und einen Schritt breiten Hausgang, in dem das Telefon hing. Von Achtstundentag war für ihn ebensowenig die Rede wie von Urlaub. Er gönnte sich kein sonntägllches Ausspannen. Er allein hat die Zeitschrift in den gefähr

beten Jahren, wo jeder Quartalabschluß, jede Gesellschafterversamm­

lung chr Todesurteil bedeuten konnte, durchgehalten, unter fortwäh­ renden Opfern an Zeit und Gesundheit. Auch in diesem Sinne ist

keine deutsche Monatsschrift so ausgesprochen das zähe und geduldige

Werk eines einzigen Mannes. Es existiert vielleicht noch da und dort das kleine Heftchen, etwa

vom Umfang einer Reclamnummer, vorne Hans Thomas Umschlag zeichnung mit den zwölf Monatsbildern des Tierkreises, das die In­

haltsangaben der ersten drei Jahrgänge enthält. Aus ihm kann man

Schritt für Schritt verfolgen, wie sich die Zeitschrift unter Cossmann entwickelte. Bemerkenswert ist, daß er schon vor dem Krieg gern Son­ derhefte zusammenstellte.

Der August 1904 bringt unmittelbar untereinander folgende Mit­ arbeiternamen: Adolf Hildebrand, Hans Thoma, Henry Thode, Wil­

helm Trübner, Felix Mottl — welche deutsche Zeitschrift konnte zur

gleichen Zeit klangvollere aufweisen? Die Österreicher waren im Juli aufgetreten, im Februar 1905 sandte uns Joseph Viktor Widmann, mit dem wir bis zu seinem Tode herzliche Freundschaft hielten, seinen

ersten Beitrag als Vorboten unseres ersten Schweizerheftes, August

1905, dem fortan bis zum Weltkrieg alljährlich ein neues folgte. Um die Jahreswende 1907 bescherte uns ein gütiges Geschick das

Förderlichste, nämlich eine scharfe Konkurrenz, in Gestalt des von

Albert Langen ins Leben gerufenen „März". Die erste Mitteilung traf uns wie eine Bombe. Aber das Herakleitische Wort, daß der

Kampf der Vater aller Dinge sei, bewahrheitete sich auch hier. Coss-

mann vermehrte noch seine Energie, soweit dies möglich war, und München, das nun zwei rivalisierende Monatsschriften besaß, verfolgte ihren Wettkampf beinahe mit dem Interesse, mit dem es die Trab­

rennen in Daglfing besucht.

Wie das Rennen schließlich ausging,

ist bekannt: Der „März" wechselte zuerst die Herausgeber, dann die

Erscheinungsweise, er wurde Wochenschrift, endlich den Verlag, um während des Krieges ganz einzuschlafen. Wie war das nur möglich? Damals verstanden wir es alle nicht. Inzwischen ist es mir klar ge­ worden: was dem „März" fehlte, war ein Cossmann. Wmn ich auf diese Jahre zurückblicke, sehe ich das Entscheidende in Cossmanns Kompromißlosigkeit. Ich wüßte mich nicht eines einzigen

Falles zu entsinnen, wo er gegen seine Überzeugung nachgegeben hätte. Er focht jede Meinungsverschiedenheit durch bis zur letzten Konsequenz,

lleß sich in dem, was er für richtig hielt, auch vom Aufsichtsrat nichts dreinreden, und beantwortete einen gut gemeinten Versuch, ihn durch Majoritätsbeschluß zu binden, mit der Kabinettsfrage, zu einem Zeit­

punkt, der für ihn persönlich nicht ungünstiger hätte sein können. Wenn eine Entscheidung in der Luft lag, provozierte er sie eher, als daß er ihr

auswich. Er lleß es immer aufs Äußerste ankommen, und diese seine

Eigenschaft vor allem, glaube ich, hat die „Monatshefte" gerettet. Als am 8. Februar 1913 Friedrich Naumann wegen eines antidemo-

Erotischen Aufsatzes von Professor Poehlmann die Mitherausgeberfchaft niederlegte, druckte Cossmann Naumanns Brief ohne ein Wort

des Kommentars ab. Er hatte von je im Fraktionszwang den Krebs­ schaden der Volksvertretung erblickt und verzichtete lieber auf Friedrich Naumann als auf seinen Grundsatz, jede Meinung in den „Monats-

heften" zu Worte kommen zu lassen. War die Entwicklung der Zeitschrift bis August 1914 eine stetige Aufwärtskurve, so stellte der Kriegsausbruch ihren Herausgeber so­

gleich vor folgenschwere Entscheidungen. Ohne Cossmanns geistesge­ genwärtigen Entschluß, sie als ein politisches Kampfmittel weiterzu­ führen, hätte sie das Ende des Kn'eges schwerlich erlebt. Wer ihre Be­

deutung am raschesten erfaßte, war der Schützengraben: keine andere Zeitschrift wurde draußen so viel gelesen.

Vom ersten Tage des Kn'eges an betrachtete Cossmann seine Tä­ tigkeit als einen ihm angewiesenen Posten und wies jedem Mitarbeiter

den feinen an. Darzustellen, wie aufregend und aufreibend die kommen­ den Jahre waren, überschreitet die Absicht und den Rahmen dieser Festschrift. Wir wußtm nie, ob wir im nächsten Monat noch erschei­

nen könnten. Ein einzigesmal wollte sogar Cossmann seinen Posten verlassen. Das kam so.

Im Vorwort des Juaiheftes 1915 stehen folgende Sätze von ihm: „Wir haben einige Leute, die die Politik nur wirtschaftlich betrachten. Für sie wird der Krieg mit Italien kein Erlebnis sein. Sie wundern sich nur, daß die Trientiner Weinbauern chren Vorteil so schlecht kennen und daß die Italiener,

die chren eigenen Boden noch lange nicht urbar gemacht haben, sremden Boden haben wollen.

Moralische Erlebnisse gibt rt für solche Leut« nicht: sie erkennen

das Slttengesetz an, aber sie wären von sich aus nicht darausgekommen, daß e«

eines gibt.

Für uns andere ist dieser Krieg «in moralisches Erlebnis, und zwar das

abscheulichste unsere« Leben«. Bet allem Streben nach Besonnenheit und politischer Einsicht kommt für fühlende Menschen der Punkt, wo chnen der Unterschied zwi­

schen Ameisenstaat und Menschenstaat ousgeht. Aufopferung für die eigene, Feind­ schaft gegen die fremd« Volkswirtschaft hat die Ameise In unübersteigbarem Maß.

Mer sie hat wohl nicht di« Fähigkeit, über allen Freundschaften und Feindschaften und durch sie hindurch einen Punkt zu sehen, wo Freud und Leid, Macht unid

Schwäch« gleichgültig werden, gleichgültig der Zusammensturz der Welt gegenüber dem Zusammensturz de« Sitten gesetzt«.

Einen solchen Augenblick erlebten die Burgunder, als sie, zur Freudenfeier an

Etzels Hof geladen, im Festsaal versammelt, sahen, daß sie verraten waren und als, da alle ehrlichen Angriffe an ihrer Heldenkraft zusammenbrachen, der Saal an den vier Ecken angezündet wurde:

Da sprach von Tronje Hagen: „Ihr edelen Ritter gut, wen der Durst nun zwinge, der trinke hie das Mut:

das ist in solchen Nöthen noch besser denn der Wein!

für Trinken und für Speise kann nichts anderes uns mehr sein." Einen

solchen Augenblick erleben die Deutschen jetzt.

müssen jetzt schweigen.

stellen.

Alle

Überlegungen

Jeder Mann, der kein „Intellektueller" ist, muß sich

Erwägungen von Unabkömmlichkeit und Unersetzlichkeit sind vorbei.

abkömmlich und unersetzlich ist jeder und keiner.

Un­

Mag einer für Wissenschaft

und Kunst die höchsten Gaben besitzen, nichts Höheres kann er in seinem Leben

leisten, als einzustehen für das in den Staub getretene Sittengesetz."

Unterm Zi. Mai 1915 finde ich in meinem Tageskalender den

lakonischen Eintrag: „Mit Cossmann und Pflaum Oberwiesenfeld."

Dr. Pflaum war damals Lazarett-Inspektor, und durch seine Ver­ mittlung hoffte Cossmann beim Militär genommen zu werden. Einen

langen Nachmittag hindurch gingen wir von einer Ersatz-Abteilungs-

Kanzlei zur anderen. Er fand, nun müsse sich jeder melden; es habe

keinen Sinn mehr, eine Zeitschrift herauszugeben. „Mir ist es gleich­

gültig, wohin sie mich stellen, wenn sie mich nur brauchen können. Ich

mache ihnen den Schreiber, ich putze Korridore, ich mache Stalldienst, am liebsten ist es mir, sie schicken mich an die Front, ich gehe überall

hin, nur nicht in die Etappe." Als er überall abgewiesen wurde, war

er deprimiert und schwieg in sich hinein. * Je ausgeprägter der Charakter eines Menschen ist, desto ausge­ prägter wiederholen sich auch seine Erlebnisse mit der Mitwelt und

die Art, wie er auf sie reagiert. Er könnte nicht anders, selbst wenn

er wollte. Er wollte nicht anders, selbst wenn er könnte. Sein Han­ deln entspringt nicht einem Belieben, sondern der Notwendigkeit sei­

nes Wesens. Nichts hat Cossmann von je so widerstrebt wie Polemik.

Er

spricht aus, was er für richtig hält, und nennt, was falsch ist, falsch. Hak er den Eindruck absichtlicher Verschleierung des Tatbestandes, so

macht er

durch Veröffentlichung

sämtlicher Dokumente mit einem

Schlag reine Luft und reinen Tisch. Dies Experiment, das er bisher

nur in corpore vili, zum Beispiel gegenüber Plagiatm, gemacht hatte,

sollte sich während des Krieges in einem überaus kritischen Augenblick

bewähren. Sonntag, den 23. Juli 1916, saß ich mit Cossmann und meiner Schwester im Zuge zwischen Buchloe und Memmingen. Als wir end­ lich im Abteil allein waren, sagte er: „Ich muß Ihnen etwas mit­

teilen. Was wir so oft gefürchtet haben, trifft ein: Die .Süddeut­

schen Monatshefte' werden voraussichtlich bis zum Kriegsende nicht mehr erscheinen.

Man verdächtigt den entlassenen TirpiH, und er

kann sich nirgends wehren. Seinen Briefwechsel mik Bethmann drucke

ich im nächsten Heft, ohne ihn der Zensur überhaupt vorzukgen, weil sie die Veröffentlichung nie genehmigen würde. Das können sich die

Berliner nicht gefallen lassen. Das Mindeste, was sie tun werden,

ist, daß sie die Zeitschrift verbieten, und zwar auf Kriegsdauer. Von

mir aus sperren sie mich ein."

Es war das Stärkste, was er bis

dahin gewagt hatte. Im November endete der aufsehenerregende Pro­

zeß mit Cossmanns glänzendem Sieg. Die „Monatshefte" wurden

zwar nicht verboten, aber unter Vorzensur gestellt, was viele Schere­ reien zur Folge hatte, aber im Verhältnis zum begangenen Delikt nicht als Strafe erscheinen konnte, sondern lediglich als Schikane. Von da an konnte Cossmann seine Ansicht oft nur noch indirekt, in Form einer

kaum noch faßbaren Ironie, aussprechen, was der Zensur gegenüber

ein Vorteil, der Leserschaft gegenüber ein Nachteil war; denn beide waren ausgesprochen unironisch. Und doch war es das kleinere Übel; denn von ihrem Nichterscheinen zwei Jahre hindurch hätte sich die

Zeitschrift nie mehr erholt, sie hätte 1918 wieder von vorne anfangen müssen, was vollkommen unmöglich gewesen wäre. Andererseits ist

das Vorkommnis kennzeichnend für Cossmanns Gleichgültigkeit gegen­ über seinem persönllchen Ergehen: ohne Zeitschrift wäre er auf der Straße, zwölf Jahre seines Lebens wären verloren gewesen.

Die Zeit während der Münchner Räterepublik ist ein Kapitel für sich. Wer z. B. bas Februarheft 1919 mit Cossmanns Beitrag

„Was nun?" heute zur Hand nimmt, muß sich wundern, daß er über­ haupt noch lebt. Eine schärfere Herausforderung des gefährlichsten der

damaligen Diktatoren läßt sich nicht denken. Dabei fiel es Cossmann

nicht ein, nach berühmten Mustern die Wohnung zu wechseln. Hät­ ten sie ihn als Geisel holen wollen, sie hätten ihn jederzeit angetroffen.

Der Krieg ist zu Ende: hatte damit nicht zugleich die Kriegsge­ stalt der „Süddeutschen Monatshefte" chre Daseinsberechtigung ver­

loren?

Jeder andere Herausgeber hätte sich vermutlich auf diesen

Standpunkt gestellt und die Zeitschrift wieder friedensmäßig umgestellt. Cossmann Hüfte tiefer. Er erkannte, daß der Krieg alles andere war

als beendet, weil das Diktat von Versailles alles andere als ein Friede.

Solange die Polltik der Gegner im wesentlichen die Fortsetzung des Krieges mit veränderten Mitteln ist, ist die Aufgabe der Zeitschrift

im wesentlichen die Fortsetzung der Kriegshefte mit veränderten Ge­

genständen.

Cossmanns politische Tätigkeit war nicht abgeschlossen.

Sie begann erst. Sein Werk nach Versailles gehört für alle Zeiten

der deutschen Geschichte an. Er, Paul Nikolaus Cossmann, eröffnet den Kampf gegen die Lügen, denen wir Versailles zu verdanken hatten: die Greuellügen, die Zerstörungslügen, die Koloniallügen, die Schuld­

lügen. Daß er in diesem Kampfe wieder allein stand, daß ihn vor allem keine amtliche Stelle irgendwie unterstützte, konnte ihn nicht

beirren. Von diesen seinen polltischen Aufsätzen mußten wir leider des Umfangs halber eine Anzahl für eine spätere Veröffentlichung

zurückstellen.

Am meisten

bedauern wir,

daß aus diesem Grunde

Cossmanns persönlich und sachlich gleich bedeutendes Schlußwort im Dolchstoß-Prozeß nicht untergebracht werden konnte: es füllt im Ja­ nuarheft 1926 über 30 enggedruckte Seiten, die sich in unserm Bande verdoppelt und dadurch noch viel mehr seiner sonstigen Beiträge hinaus­

gedrängt hätten. Wer Cossmanns Leistung als Organisator und Herausgeber seiner Zeitschrift überdenkt, wird überhaupt kaum begreifen, wie er es fertig gebracht hat, zugleich einer ihrer fleißigsten Mitarbeiter zu werden,

und zwar, mit zunehmenden Jahren, in doppelter Richtung. Seine

Beiträge zu Fragen der Politik stellen seit 1914 seinen Hauptberuf dar. In seinen nichtpolltischen hat er persönllchste Fühlung mit seinen

Lesern gesucht und gefunden; hier äußert er sich zwanglos, schmucklos über Angelegenheiten der Seele. Seine politischen Aufsätze lagen bis­

her nur zum Teil in Buchform gesammelt vor, in dem von ihm und Karl Alexander v. Müller 1925 gemeinsam herausgegebenen Bande „Die deutschen Träumer". Wieviel er für die „Monatshefte" geschrie­

ben hat, zeigt erst das Generalregister.

Den polltischen Cossmann kennt das Inland und das Ausland.

Darum schien es uns desto wünschenswerter, auch vom nichtpolitischen, den nur die Nächsten kennen, endllch einmal ein Bild zu geben. Seine polltischen Thesen lassen sich zusannnenfassen in ehernen Sätzen, die

er nicht müde wird den deutschen Träumern einzuhämmern, Sätze, die wiederum spinozistisch klängen, zum Teile sogar wörtlich bei Spinoza

stehen, wie jenes A und O aller Politik seit und solange die Welt steht: quia

unusquisque tantum Juris habet quantum potentia valet. Der nichtpolitische Cossmann läßt sich nicht auf eine Formel

bringen. Sein Sinnen und Trachten ist nicht der Well der Wirklich­ keit zugewandt, sondern der des Geistes. Was er seinerzeit über Eugen

Albrecht schrieb, gill auch von ihm: „Umnetaphysisch, eine Well des Wissens und des Handelns umspannend, erschien er uns als ein Finder

der Endlichkeit. Nun erkennen wir chn besser, als einen Sucher der Unendlichkeit."

Josef Hofmiller

Zwei Gedichte von Paul Nikolaus Cofsmann

Komponiert von Hans Pfitzner

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Adolph Furstner, Berlin W io, aus dem Werke: „Sechs Lieder für Männerstimme von Hans Pfitzner, opus 6" entnommen.

Widmung Gedicht Don Paul Nikolaus Cojsmann

Mit Genehmigung der Firma Adolph Fürstner, Berlin W 10 tlopyright 1894 bn Adolph Fürstner. Aufführungsrecht Vorbehalten.

Die Bäume wurden gelb Gedicht von Paul Nikolaus Cossmann

Mit Genehmigung der Firma Adolph Fürstner, Berlin W io

Copyright I894 by Adolph Fürstner. Aufführungsrecht Vorbehalten.

Zwei Parabeln .inst lebte ein Volk in einem Lande, welches wenig bekannt war;

v^> um es genauer kennen zu lernen, machten sich viele auf den Weg. Die Forscher blieben zusammen, bis sie eines Tages wieder da ankamen,

von wo sie ausgegangen waren. Nun sagten die einen: Es ist jetzt genug des Umherstreifens; auf

diese Art läßt sich nicht mehr viel erreichen. Es ist besser, wir ver­ wenden die Kenntnisse, welche wir gesammelt haben, dazu, einen mög­

lichst hohen Turm zu bauen; dann werden wir einen Überblick über das

Ganze bekommen. Die andern aber sagten: „Mit nichten! Von der Spitze eines

Turmes aus sieht man ja alles in Verkürzung, also entstellt. Wir bleiben hier unten." Und sie liefen wieder drauf los, erforschten Flüsse und Gebirge, ja die einzelnen Pflanzen und Steine. Doch mochten sie

forschen, so viel sie wollten: einen Begriff vom Ganzen erhielten sie nicht.

Da waren die mit dem Turme immerhin besser daran. Allerdings

zeigte das Bild, welches sich vor ihren Blicken entfaltete, nicht alle Einzelheiten des Landes; aber wenigstens sahen sie dieses ganz. Und viele von den andern kamen zu ihnen, und mit ihren neu erworbenen

Kenntnissen vom Boden, von Steinen und sonstigen Dingen bauten sie neue, bessere Türme.

Viele jedoch blieben bei der Meinung, wenn sie immer neue

Pflanzen entdeckten und jede einzelne zergliederten, wenn sie jeden Stein von allen Seiten betrachteten, dann würden sie das Land kennen lernen. Und solche Leute soll es auch jetzt noch geben.

Einst hatte ein berühmter Gelehrter seine tiefsinnigen Untersuchun­

gen über die Ästhetik der bildenden Kunst beendigt und freute sich seiner Entdeckung, daß man nämlich, um objektiv zu verfahren, die Bilder

einteilen müsse in eingerahmte und uneingerahmte, als er lieben Besuch erhielt: Hans Dummrian. Dieser Werte hatte die kleine Frage auf dem Herzen, wie man ein gutes Bild von einem schlechten unterscheiden

könne. Erschüttert von der Dummheit dieser Frage mußte der illustre Denker sich erst einige Zeit sammeln; dann legte er die Stirne in Fal­ ten und antwortete mit erhobener Stimme also: Ist es in der Natur­

geschichte erhört, daß man die Tiere einteilt in gute und schlechte, oder

die Pflanzen, oder die Steine? Alles dies ist nicht erhört, und in der

Ästhetik muß es auch noch dahin kommen, daß es unerhört ist, danach zu fragen, ob ein Bild gut oder schlecht sei. Das ist die naturwissenschaftllche Methode.

Hans ging hin und erzählte seinen Freunden, was er gelernt hatte, und seitdem teilen sie die Bilder ein in eingerahmte und uneingerahmte,

legen dabei die Stirne in Falten und sagen mit erhobener Stimme:

Das ist die naturwissenschaftliche Methode.

Kausalität und Teleologie ichte hat einer unbefangenen Beurteilung der speziellen am Or­

ganischen herrschenden Gesetze mehr im Wege gestanden, als Unklarheiten über das Verhältnis zwischen Kausalität und Teleologie. Insbesondere Naturforscher, durchdrungen von der Allgültigkeit der

Kausalltät, wußten oft nicht, wie der Konsequenz entgehen, daß diese Allgültigkeit auch Alleingülligkeit besage, und wurden so, indem sie im

Weltall keinen Platz für andere Zusammenhänge neben den ursächli­

chen fanden, zu dem im I. Kapitel (§ 4) skizzierten, dogmatischen Standpunkte geführt. Mit Recht wird man von jeder Theorie des Organischen vor

allem Integrität des Kausalgesetzes verlangen, und ob diese bei An­ nahme teleologischer, also, wie wir sahen, dreigliedriger Gesetze gewahrt

ist, muß Gegenstand der Untersuchung sein. Falls sich die Verträglich­ keit beider Naturordnungen ergibt, wird das Wie dieses Zusammen­ bestehens einen wichtigen Bestandteil der teleologischm Theorie bilden.

Bekanntllch galt lange Zeit hindurch die Angabe sogenannter „Zweckursachen" als Erklärung physikalischer Vorgänge. Es sollte

erklärt werdm, daß auf A notwendig B folgt, und nun wurde gesagt,

B trete ein, damit C folge. Es wurde also erstmo übersehm, daß der

zu erklärende notwendige Zusammenhang zwischen dem Auftreten von A und dem Auftreten von B besteht. Zweitens wurde aber ein unbe-

wiefmer Zusammenhang zwischen B und C behauptet. Die sogenannte

Erklärung ursächlicher Gesetzmäßigkeiten durch die Annahme von Zweckursachen enthielt also zwei Fehler; sie ließ den zu erklärenden Zusammenhang unbeachtet und setzte einen andern voraus, welchen sie

nicht beweisen konnte. Wie verhält es sich aber mit dem Umgekehrten? Kann ein te­ leologisches Phänomen erklärt werden durch die Aufweisung irgend­

welcher Ursachen? Daß teleologische Gesetzmäßigkeiten durch Kausal­

gesetze erklärt werden können und müssen, ist ja in der neuesten Zeit eine sehr verbreitete Anschauung. Ist doch die gesamte Materie der

Kausalität unterworfen und Wohl nur ein Teil von chr der Teleologie! Wie nahe liegt es aber, anzunehmen, die auf einem Spezialgebiete

herrschenden Gesetze seien spezielle Fälle der auf dem Gesamtgebiete herrschenden! — Auch hat es vielleicht einmal nur Anorganisches ge­

geben, aus dem das Organische irgendwie entstanden wäre. Sollte dies aber der Fall sein, so kann man leicht auf die Vermutung kommen,

so wie das Organische aus dem Anorganischen seien die teleologischen Gesetze aus den kausalen durch eine Komplikation entstanden und könn­ ten, wie man zu sagen pflegt, auf jene zurückgeführt werden. — Ob

diese Anschauung begründet ist, wird sich ergeben, wenn wir jetzt das

reale Verhältnis ursächlicher und teleologischer Gesetzmäßigkeiten in der Natur untersuchen. Betrachten wir zum Beispiel die gegenwärtige Flora der Erde. Niemand zweifelt, daß sie sich aus der Flora irgmdeiner früheren

Zeit unter den gegebenen geologischen und klimatischm Verhältnissen

init Notwendigkeit entwickeln mußte, und daß sie sich noch unzählige Male unter denselben Verhältnissen ganz ebenso entwickeln würde: die ehemaligen Pflanzen und die Umgebung bilden zusammen den

Komplex der Bedingungen (u) für die gegenwärtige Vegetation (w).

Hierbei ist die Relation eine kausale; u und w sind konstante Größen,

nämlich die Tertiärflora samt mitwirkenden äußeren Einflüssen und die jetzige Flora.

Wir sind aber nicht nur davon überzeugt, daß aus einer früheren

Flora unter den gegebenen Umständen die jetzige entstehen mußte, son­ dern auch davon: daß unter andern Umständen aus derselben Flora eine

andere, das heißt eine andere Welt organisierter Wesen, sich ent­ wickelt haben würde. Wir betrachten jetzt den früheren Status als in einer gewissen Breite variabel, und somit als Wert einer variablen

Größe (A); die gegenwärtige Flora erscheint dann gleichfalls als ein

Wert einer variablm Größe (M); hierbei ist die Relation eine teleo­ logische. — Im ersten Falle hatten wir die gegenwärtige Pflanzenwelt ebenso betrachtet, wie wir des Erdkörpers steinernen Gürtel betrachten, und uns gesagt, daß sie wie dieser notwendig entstanden sein müsse

aus Früherem, gleichgültig, worin dieses Frühere bestanden habe, mö­ gen es organische oder anorganische Substanzen und Vorgänge gewe­

sen sein, so wie die jetzigen Mineralien das Resultat von Früherem

sind; im zweiten Falle haben wir die gegenwärtige Flora als eine Gruppe organisierter Wesen betrachtet, aus der Reaktion früherer organisierter Wesen auf gewisse Reize entstanden. Unsere Betrachtung

führt darauf, daß die Frage nach der Entstehung der jetzigen Pflanzen­

welt eine zweideutige ist, und daß es zwei verschiedene Gleichförmig­

keiten der Vegetation sind, welche das menschliche Erklärungsbedürfnis erregen. „Warum zeigen die pflanzlichen Wesen diese regelmäßigen Koexistenzen, durch welche sie in wesentlich gleichartige Gruppen (Spe­

zies) zerfallen, und warum sind diese Gruppen einander mehr oder weniger ähnlich?" Das ist die eine Frage. Die andre lautet: „Warum sind die pflanzlichen Wesen in einer bestimmten Weise organisiert, das

heißt warum zeigen sie eine Anordnung der Materie, welche die Aus­ übung bestimmter Funktionen ermöglicht, und warum sind diese Funk­ tionen einander mehr oder weniger ähnlich?" Gleichmäßigkeiten und

Zweckmäßigkeiten im Bau der Pflanzen, so weit wir sie für gesetz­

mäßige, das heißt notwendige Gleich- und Zweckmäßigkeiten halten, fordern von der Wissenschaft ihre Erklärung. So lauten denn die an die Wissenschaft zu stellenden Fragen:

i. Warum koexistiert mit dem Pflanzmteil A der Pstanzenteil B? und

2. Warum koexistiert mit dem Pstanzenteil C der Pstanzenteil D

so, daß die Funktion E ermöglicht wird? Beides ist uns zu erklären. Das Auge, unser wohl ätiologisch am besten bekanntes Organ,

eignet sich besonders zur Erläuterung der doppelten Necessität des Naturlaufes. Wenn man sagt, das Auge sei uns physikalisch ver­

ständlich, so betrifft das seine optischen Funktionen. Nicht betrifft es

seine übrigen Funktionen und seine Entstehung. Wir nennen unter den Funktionen die Akkommodationsbewegungen. Fick in Hermanns Handbuch der Physiologie, III i, 1879 (Seite 96). „Immerhin ^trotzdem manche Beobachtungen zeigen, daß Akkommodation für die Nähe nicht immer und nicht genau gleichzeitig von Verengerung der Pupille begleitet iß] ist die

Pupillenverengerung im allgemeinen eine die Anpassung für die Nähe regelmäßig

begleitende Erscheinung und man kann daher füglich die Frage aufwerfen, ob die Verengerung der Pupille dabei für den Sehakt irgend welchen Vorteil hat, stnd wir doch gewohnt, alle typischen Einrichtungen der organischen Natur „zweckmäßig" zu

finden."

Wir weisen ferner hin auf die Reflexe. Man vergegenwärtige

sich einen solchen [I] und vergleiche mit diesem Vorgang die Ent­ stehung eines — etwa durch dieselben Lichtstrahlen bedingten — Netz-

hautbildes [II]. Ersteres als Typus teleologischer, letzteres als Typus kausaler Necessität: Lichtreiz

+ Organismus

1

Nestes

Schutz

(variabel)

(konstant)

[1]

Lichtreiz

+ Organismus

Netzhautbild

[II]

(konstant)

Endlich bedenke man, was eine kausale Erklärung für die Be­ greiflichkeit der Entstehung dieses optischen Apparates zu leisten ver­ mag. Warum zum Beispiel führen bei der Bildung des Glaskörpers Gefäße dorthin, die sich nachher zurückbilden? Bei den Gestalten und

Lichteffekten der Adelsberger Grotte ist das „physikalisch verständlich machen" freilich eine vollständige Erklärung; nicht so beim Organismus.

Von Zurückführbarkeit teleologischer Gesetze und der teleologi­ schen Naturordnung auf kausale Gesetze und die kausale Naturord­

nung kann also nicht die Rede sein; ebensowenig wie vom Umgekehrten. Von einem teleologischen Gesetze sprechen wir, wenn ein Teil der An tecedenzien und ein Teil der Konsequenzen einer Erscheinung bekannt

sind. Von einem Kausalgesetz dann, wenn gewisse Antecedenzien be­ kannt sind. Die Größen, über deren Relation die beiden Gesetze etwas aussagen, sind also verschiedene.

Überblickt man mehrere Instanzen

eines Gesetzes, so bemerkt man, daß die Kausalität stets von Gleichem zu Gleichem führt, die Teleologie dagegen von Ungleichem durch Un­

gleiches zu Gleichem. Die Instanzen eines Kausalgesetzes stellen sich graphisch so dar:

die Instanzen eines spezifisch biologischen Gesetzes dagegen so:

s

A

"»1 >'

»/•' IO

m2* m3\ %'< "jV

'j-

"A

Das Gemeinsame der beiden Relationen besteht in der Not­

wendigkeit, mit der ihre Glieder zusammenhängen, und der sich

daraus ergebenden Berechnungsmöglichkeit. Bei dem kau­

salen Verhältnis kann eine Erscheinung berechnet werden aus Ante

cedenzien, bei dem teleologischen aus Antecedenzien und Succedenzien.

So müßte es möglich sein, bei vollkommener Kenntnis eines Organis­ mus und eines ihm zustoßmdm mechanischen Insults (u), die Narbe

(w) der betreffenden Wunde vorauszubestimmen; aber auch bei Kennt

nis der mechanischen Einwirkung und eines Teiles jenes Organismus, etwa des gefährdeten Organs (a), sowie der Funktion dieses Organs

(S), wird es möglich sein, die Vernarbung (m) zu berechnen.

Nur in einem einzigen Sinne, der aber ein sehr weiter ist, könnte man mit Recht davon sprechen, etwas Teleologisches sei kausal erklärt.

Dann nämlich, wenn man den einzelnen teleologisch eingetretenen Zu­ stand meint. Dieser kann natürlich so gut wie jeder andere Zustand durch Aufweisung des Komplexes seiner notwendigen Bedingungen

als Wirkung einer bestimmten Ursache nachgewiesen werben. Damit ist aber nicht die teleologische Gesetzmäßigkeit auf die ätiologische

zurückgeführt. Übrigens liegt jener Fall verhältnismäßig selten vor; die notwendigen Ankecedenzien sind selten auf biologischem Gebiet be­

kannt. Dies hat einen subjektiven und einen objektiven Grund. Ersterer ist der Stand unserer physikalischen und chemischen Kenntnisse; letz­

terer die große Variabilität der organischen Formen und des biologi­ schen Geschehens, jene Variabilität, die nicht nur die Arten, sondern

auch die Individuen und die temporären Zustände der Individuen so sehr unterscheidet. Deshalb bleibt aber doch die Erklärung alles Or­

ganischen aus möglichst allgemeinen physikalischen Gesehen das eine

Ideal der Biologie; die Erklärung aus möglichst allgemeinen teleologi­ schen Gesetzen ist das andere. Letztere aus ersteren abzuleiten, ist so

unmöglich, wie einen Würfel aus Quadraten zusammenzusetzen.

Wir fassen zusammen und bedienen uns dazu wieder einer gra­ phischen Darstellung (s. S. 12). Bei der Kausalerklärung ist das Stück u einer Kurve gegeben,

welches uns ermöglicht, die Fortsetzung der Kurve zu berechnen; wir

sind also in der Lage, jeden fernerm Punkt (etwa w) seiner Lage nach

zu bestimmen. Das ist der in der Biologie selten vorliegende Fall: Kenntnis des gesamten Komplexes der notwendigm Antecedenzien. Es

gibt aber eine gtoeite Möglichkeit, Punkte der Kurve zu bestimmen;

nügmdes Stück, sondern nur ein einzelner Punkt a bekannt, ferner aber bekannt ist, daß der geometrische Ort für einen späteren Punkt der Kurve die Verbindungslinie von a mit 8 ist, so ergibt sich unter

Umständen die Möglichkeit» die Lage eines Punktes m zu berechnen.

Das gleiche Verhältnis zeigt uns die Zusammenstellung der als Ergebnis von Kapitel I und Kapitel II gewonnenen kausalen und trleologischm Formeln.

w = f (U)

M = f (A, S). So wenig wie eine dieser Gleichungm aus der anderm gefolgert

werden kann, wird je ein Kausalgesetz aus einem teleologischen oder dieses aus jenem abgeleitet Werden. (Aus den „Elementen der empirischen Teleologie".)

Vom Stiefmütterchen, das in des Knaben Geometriebuch kam (ty war einmal em Stiefmütterchen. Seine Farben glänzten im

Sonnenschein, und seine Blumenblättchen waren zart wie Samt. So stand es auf einer Wiese mitten zwischen anderen Blumen. Aber

es wurde gepflückt, und, ich weiß nicht wie es kam, eines Tages lag es

is

gepreßt in einem Schulhefte; der Knabe, dem das Heft gehörte, hatte mit Lineal und Zirkel geometrische Figuren hineingezeichnet, und da lag

nun das Stiefmütterchen zwischen all den Figuren und fühlte sich

recht unbehaglich. Anfangs wurde es gar nicht bemerkt; die Figuren lebten beständig

im Streite miteinander und dachten gerade über neue Bosheiten nach, die sie einander sagen könnten. Ein spitzwinkliges Dreieck rechts unten in der Ecke bemerkte das Stiefmütterchen zuerst und hüstelte, um die Auf­

merksamkeit der anderen auf den Ankömmling zu lenken. Die Haupt­ person war das Sechzehneck; es war die vornehmste unter den Figuren, denn es hatte die meisten Ecken, und der Knabe hatte am meisten Zeit

dazu gebraucht, um es zu zeichnen; doch war es dumm wie ein Stock; und da es nichts zu sagen wußte, sah es das Stiefmütterchen an und

lachte höhnisch, und alle anderen Figuren lachten mit. Es war schreck­

lich. Gewöhnlich verspotteten sie den dicken Kreis, denn er war die

einfachste unter allen Figuren; eigenllich war es kein genauer Kreis, weil dem Knaben mehrmals der Zirkel ausgerutfcht war, als er ihn

zeichnete; jedoch solche kleinen Fehler hatte jede Figur im Hefte, und von ihnen sprach man nicht. Der Kreis nun, der am meisten Spott zu ertragen hatte, war froh, daß jetzt jemand anders da war, über

den man herfallen konnte, und wollte sich auch bei den höheren Figu­ ren, besonders beim Sechzehneck, bellebt machen; drum sagte er zum

Stiefmütterchen: „Du bist ja nicht einmal ein Kreis!" Und alle ande­ ren Figuren riefen höhnisch: „Es ist wahr, nicht einmal ein Kreis!" Je länger das Stiefmütterchen im Hefte lag, desto verzagter

wurde es, und — was das Schlimmste war — es begann zu glauben,

daß die anderen recht hätten. Es besah sich von unten bis oben, es sah die Zacken und Einschnitte am Rande seiner Blumenblätter und über­

zeugte sich, daß dieser Rand wirkllch kein Kreis war. Traurig dachte

es mdllch bei sich selber: „Sie habm recht, ich bin nicht einmal ein Kreis." Und gerade als es so dachte, kam des Knaben Schwesterlein

herbeigesprungen und nahm das Geometrieheft in die Hand. „Was machst Du denn da, dummes Ding", rief der Knabe: „davon ver­

stehst Du ja doch nichts!" Verlegen stand das kleine Mädchen mit dem

i3

aufgeschlagenen Heft und stotterte: „Ach ich, ich weiß nicht, ich möchte

nur das Stiefmütterchen, was da liegt." „Das kannst Dü haben," sprach der Knabe und zuckte mitleidig die Achseln. Jtim nahm das kleine Mädchen das Stiefmütterchen und legte

es in fein Märchenbuch vorne hinein, wo das große schöne, bunte Bild

ist mit dem abgedankten alten König in der Mitte, und den Zwergen, dem Vogel Phönix, dem Tanzbär und den kleinen Kindern rings

herum. Als die alle das Stiefmütterchen erblickten, da freuten sie sich und sprachen: „Wie schön es ist." Und der alte König nickte bedäch­

tig und wohlwollend mit seinem Wackelkopf und sagte: „In der Tat, schönere Blumen hatte ich in meinem Garten auch nicht." Da vergaß das Stiefmütterchen sogleich alle Schmähungen, die

es erduldet, und daß es kein Kreis war, sah sich um, machte seinen

schönsten Knix und sagte: „Ich danke."

Vom häßlichen Prinzen ,0 war einmal ein Prinz, der war in allen Ländern berühmt wegen seiner überschwänglichen Häßlichkeit. Von allen Orten kamen die Leute in seine Residenz, um ihn zu sehen; und wenn man von einer

Reise dorchin zurückkam, war die erste Frage: „Hast du den häß­ liche«» Prinzen gesehen?" So groß war der Andrang der Fremden,

daß, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihn zu sehen, der Prinz sich im Königlichen Museum täglich betrachten ließ; Wochentags von elf bis

eins, Sonntags von zwölf bis eins. Senn er war stolz auf seine Häß­

lichkeit und das ganze Land war stolz darauf, daß jeder Fremde beken­ nen mußte: „Ja, es ist wahr, so einen häßlichen Menschen habe ich noch nie gesehen." So ganz im Innern vielleicht, wann er mit sich allein war, so

abends vor dem Einschlafen, mochte dem Prinzen zuweilen der Ge­ danke kommen: Wie wäre es, wenn man nicht so häßlich wäre? Und es war so etwas in ihm wie eine Stimme, die dafür sprach. Auch

hatte er manchmal so etwas wie Arger, wenn ihm morgens beim Auf-

stehen die Höflinge sagten: „Durchlaucht übertreffen sich selber, Durch­ laucht haben im Leben noch nicht so häßlich ausgesehen." Diese ge­ heimen Gefühle und Wünsche wurden dem Prinzen aber erst recht klar, als eines Tages der alte Haushofmeister erzählte, er habe ge­ lesen, die Menschen, die zuvor die häßlichsten gewesen seien, könnten

die allerschönsten werden, wenn man das richtige Mittel wisse; die außerordentliche Häßlichkeit sei eine Verzauberung, aus der man er­

löst werden könne, und es sei prophezeit, mit dem Prinzm werde es auch so gehen. Der Haushofmeister sagte, er habe das in einem alten Buche gelesen. Nun frugen ihn alle, und am lebhaftesten der Prinz,

ob in dem alten Buche nicht stehe, wie man den Häßlichen aus der

Verzauberung erlösen könne; er sagte, es werde wohl drin stehen, er

habe es jedoch vergessen; das Buch habe er verlegt, und momentan hätte er auch keine Zeit, danach zu suchen. Da bat ihn der Prinz recht schön, er möge sich besinnen, und versprach ihm, wenn er zur

Entzauberung verhelfe, dürfe er jedesmal bei der süßen Speise sich zuerst nehmen. Nun sagte der Haushofmeister: „Wie wäre es, wenn

wir diejenigen Jungfrauen des Landes, die ein Mittel zu wissen glau­

ben, aufforderten, sich hier einzufinden und es zu nennen? Ich schlage

vor, daß wir das tun." Er hätte gerade so gut etwas anderes vor schlagen können; aber das war nun einmal seine Art. Nun wurde ein Ausschreiben durch'» ganze Land erlassen: Am

nächsten Sonntag sei der Prinz nicht im Königlichen Museum zu sehen; sondern um zwölf Uhr hätten sich diejenigen jungen Mädchen, die wüßten, wie man außerordentliche Häßlichkeit in Schönheit um­

zaubern könne, in der Vorhalle des Schlosses einzufinden. Als nun der Sonntag kam, war der ganze Hofstaat in der Vorhalle des Schlos­

ses versammelt, und ein großer Spiegel war dort aufgestellt, damit sich der Prinz darin sehen könne. Zuerst kam ein Mädchen herein, das

brachte eine Seife; es sagte, mit dieser Seife wasche es sich — früher

sei es außerordentlich häßlich gewesen, und jetzt, durch den Gebrauch der Seife, sei es sehr schön. Das konnte der Prinz durchaus nicht fin­

den, und deshalb sagte er, er wolle sich lieber nicht mit der Seife

waschen. Jetzt kam eine Jungfrau, die wirklich sehr schön war; sie

15

sagte, der Prinz solle sie eine Mertelstunde lang ansehm: das sei das Richtige. Das tat der Prinz denn auch; aber als die Viertelstunde

vorüber war, sah er gerade so häßllch aus wie zuvor. Nun kam eine dritte. Die beiden anderen hatten laut gesprochen, damit man sie bes­

ser höre; und da es in der Halle recht dröhnte, hatte es geschallt, daß einem die Ohren weh taten; diese aber sprach leise (denn sie liebte ihn)

und sah ihn an; und indem sie ihn ansah, kamen ihr Tränen in die

Augen, und durch die Tränen hindurch sah sie, was die anderen ohne

Tränen nicht hatten sehen können, daß zwei kleine, kleine Splitter in

des Prinzen Augen steckten; es waren Splltter, die man für gewöhnlich nicht sehen konnte; aber durch Träum hindurch sah man sie ganz dmt-

lich funkeln. Das Mädchen sagte, es wolle dem Prinzen etwas aus den Augen ziehen; und damit sie es besser tun konnte, kniete er vor ihr nieder. Als sie die beiden Splitter entfernt hatte, und der Prinz in

dm Spiegel sah, fand er sich merkwürdig verändert und sagte: „Es scheint, daß ich gar nicht mehr so häßllch bin," und der Haushofmeister,

welcher dabei stand, sagte: „Ja, es scheint so."

Und wirkllch so war es; aus dem häßlichen Prinzen war ein

schöner geworden, und von Tag zu Tag wurde er schöner. Da war

großer Jubel, und der alte Haushofmeister durfte sich von seht ab immer zuerst von der süßen Speise nehmen und war überhaupt der

angesehenste Mann des Landes, weil er ja zur Entzaubemng verholfm hatte. Es wurde ein großes Festmahl abgehalten, welches drei Tage

dauerte, und dem jungen Mädchen, welches leise gesprochen hatte, wurde erlaubt, zuzusehen und auch einige Freundinnen mitzubringen, denen es

auch erlaubt sein sollte. Ob sie gekommen ist, weiß ich nicht; aber wer das alte Buch des Haushofmeisters hat, der kann es nachsehen.

Die Schlange mit dem Edelstein Johannionacht, ja die hat etwas zu bedeuten! Am Johannis-

tag erreicht die Sonne ihren höchsten Stand und entzündet, was gut ist im Herzen, zu neuem Glanze; und in der Nacht zuvor,

da ist es einem so eigen wie in keiner andern Nacht des Sommers. Die Tiere fühlen, daß etwas Besonderes vorgeht, und versammeln

sich in der Iohannisnacht um ihren König. Einst war der Löwe Kö­ nig, aber jetzt gibt es ja keine Löwen mehr bei uns; d'mm waren die Tiere lange ohne König. Da hörte man eines Tages da und dort

erzählen, es sei im Walde eine Schlange, die habe einen Edelstein im Kopfe. Viele sagten, das sei unmöglich; denn bis jetzt habe nie eine Schlange einen Edelstein im Kopfe gehabt. Aber das Gerücht wurde lauter und lauter und endlich war nicht mehr daran zu zweifeln; die

Schlange hatte einen weithin leuchtenden Edelstein im Kopfe; und

nun stand es auch fest, sie mußte König sein. Woher die Schlange den Edelstein hatte, weiß niemand. Vielleicht ist es ein Stückchen

von der Sonne, welches Gott zur Erde gesandt hat, damit die armen Tiere in der Nacht eine Leuchte haben. Seitdem versammelten sie sich alljährlich in der Iohannisnacht unter einem Baume, am Lieblingsplatz der Schlange. Für die Zug­

vögel war's ein Vergnügen; sie lieben, mit vielen beisammen zu sein.

Die Eidechsenfräulein kamen, weil sie ihre neue Haut zeigen wollten; sie fanden, das Edelsteinlicht stehe ihnen so gut. Andre wieder kamen

in der Hoffnung, irgend einen guten Bissen zu erwischen. Und die Schlimmsten waren die, welche kamen, um nachher denen vom Lichte

der Schlange zu erzählen, welche in der Iohannisnacht nicht dabei

sein konnten; denn sie dachten die ganze Zeit nur darüber nach, was sie nachher erzählen könnttn. Und da von dem reinen Licht nicht viel

zu erzählen ist, erzählten sie von bett anderen Tieren, die da waren, oder berichteten: der Edelstein habe etliche große Trübungen, man

müsse ihn auonehmen und in die Fabrik zur Reparatur schicken; oder auch: der Stein sei zwar tadellos, aber er müsse geschliffen werden,

dann erst werde er richtig leuchten. Für andere jedoch war's vollkom­ mener Ernst; sie dachten das ganze Jahr an die eine Nacht, und das

Bild der Schlange mit dem Edelstein ruhte in ihrem tiefsten Herzen. Aber die Schlange war sterblich; nachdem sie viele Jahre denen geleuchtet, die ihr Licht suchten, fühlte sie den Tod herannahen; lange

besann sie sich: „Wer wird den Stein am heiligsten halten?" ...Und

endlich erkannte sie's: „Wer mich am meisten liebt." Eines Nachts glitt sie sachte durch das Gebüsch, da erblickte sie eine junge Schlange;

sie lag in tiefem Schlaf und träumte. Die alte Schlange hielt an, um den Schläfer nicht zu stören: da hörte sie diesen im Traume ihren

Namen nennen; nie hatte er die Schlange mit dem Edelstein gesehen, und in dem Aussprechen des Namens drückte sich die tiefe Sehnsucht

aus. Jetzt wußte der König, daß er den rechten Nachfolger gefunden, und küßte den Schläfer auf die Stirne, die im selben Momente vom

Glanze des Edelsteins von innen heraus zu leuchten begann. Die alte

Schlange begab sich nach Hause und starb. Die um sie waren, bestatteten nicht den Leib, sondern auf's künst­

lichste suchten sie ihn zu erhalten. Sie stopften ihn aus, balsamierten

ihn ein, und als die Johannisnacht nahte, verbreiteten sie die Kunde, die Schlange, wenn auch tot, leuchte so schön wie ehedem; die Tiere

sollten sich um ihren König versammeln. Und wahrlich: es war eine schöne Leiche; die Farben des herrlichen Tieres waren so glanzvoll wie vormals; nur eins fehlte — das Licht. Der Regenwurm, der keine

Augen hat, sagte: „Ach ja, die Schlange leuchtet so herrlich wie je, ich sehe es genau." Diele sprachen es ihm nach; einige kluge Tiere

jedoch merkten wohl, daß die Sache nicht in Ordnung war, und nah­

men sich vor, das nächste Jahr in der Johannisnacht auszubleiben; denn sie dachten: „Dunkel hab' ich's zu Hause auch."

Fern im Walde, an einsamer Stelle, da leuchtete und glänzte ein

Licht durch die Nacht: die Schlange mit dem Edelstein. Sie gedachte in dieser Nacht ihres Vorgängers im Licht und gelobte ihm, sein kost­ bares Vermächtnis heilig zu halten. Dieses, der Edelstein, durchleuch­

tete die Nacht — aber niemand sah ihn.

Thora Weigand evor unsere Freundin in das Diakonissenhaus zur Operation sich

begab, las sie noch einmal eins ihrer Lieblingsbücher, die Ge­ spräche Goethes. Und zwar war das Letzte, was sie gelesen hat, wie

Goethe sich erzählen läßt von jungen Vögeln, die der Mutter be­

raubt von einer fremden Vogelmutter aufgezogen werden.

Als Goethe das gehört hatte, da sagte er: „Wer das hört und

nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Teil

seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat und schon im Tiere dasjenige als Knospe andeutet, was in edlen Menschen zur schönsten Blüte kommt." Verehrte Leidtragende, Sie wissen es, eine solche Blüte hat hier

ein plötzlicher Sturm geknickt. Aus wolkenlosem Glücke wurde Thora Weigand abberufen. Alles schien sich vereinigt zu haben, um sie glück­

lich zu machen. Eine ausgezeichnete Familie, eine vorzügliche Erzie­ hung, die großen Vorteile des Landes, auf dem sie aufgewachsen und

dem sie entsprossen war, verbunden mit allem, was eine höhere Kultur zu bieten hat, treue Freunde und Diener, — lebte sie umgeben von

herrlichen Kunstwerken

in vollkommener Seelengemeinschaft zwölf

Jahre lang mit einem Manne, dem jeder Tag dieser zwölf Jahre wie

ein Märchen erschien. Sie wollte glücklich sein; und sie war es. Wäre es nur das Glück gewesm, das ste anstrebte, wir stündm an dieser

Asche, wie an einem durch die Gewalt der Elemmte zerstörten Kunst­

werke. Diese Frau lebte jedoch noch in einem ganz anderen Reiche als in dem, in welchem nach Glück und Unglück gewertet wird. Sie lebte

im Reich der Liebe. Von der Gier nach Leben war sie befreit. Einfach,

wahr, kindlich und gut lebte sie in der Liebe zum Edlen, zum Schönen, zur Natur, zur Seele. Ihre Liebe war nicht ein unbestimmtes Schwär­

men, sondern eine Liebe zur einzelnen Seele, auch der des Tieres. In

denen, welchen sie Wohltaten erwies — und niemand ahnt wohl den Umfang dessen, was sie Notleidenden und Kranken an Wohltaten

erwiesen hat —, erblickte sie den Menschen, der als solcher nicht unter, sondern neben ihr stand. Und was mehr ist als Taten, jede Tat, jede

Äußerung von ihr war echt, dmn sie war eine Natur. Und das alles auf dem tiefen Grunde echter Weiblichkeit, ja — heute dürfen wir es

sagen — echter Mütterlichkeit. Ihre Seele war mütterlich.

Die mütterliche Liebe, das ist jenes göttlich« Element, welches ein­

zig diese Welt des Hasses zu erhalten vermag nnd über sie hinausführt. Wir können nichts anderes tun, als ihr hier an ihrem Grabe ver­

sprechen, in ihrem Sinne weiterzuwirken. Treu zu dem geliebten Gat­ ten, zu ihren Verwandten, Freunden und Schutzbefohlenen zu stehen.

Und wenn in einer höchsten Stunde wir das Gefühl haben, daß du mit uns zufrieden, daß du uns nahe bist, so werden wir es als Gnade

begrüßen; denn auch in dir verehren wir einen Teil der Gottheit.

Hans PfiHner Mit den Herren Schuster und Loeffler in Berlin fyatte ich die Herausgabe einer Pfitzner-Biographie verabredet, die eine erweiterte Umarbeitung meiner im Jahre 1900 in der „Gesellschaft" veröffentlichten Aufsatze über Pfitzner sein sollte.

Ich bin zu dieser Umarbeitung bis jetzt nicht gekommen; aber der Justizmord, den ein Teil des Publikums und der Kritik vor einigen Tagen anläßlich der ersten Münchner Aufführung der „Otofe vom Liebesgarten" an diesem Meisterwerk der

Romantik, das so populär werden wird wie ,^Lohengrin", begangen hat, läßt es als rätlich erscheinen, die Aufsätze sofort in einem Münchner Verlag erscheinen

zu lassen, fast genau so wie ich sie damals geschrieben habe.

Der Verlag von

Schuster & Loeffler hat hierzu seine Einwilligung gegeben, wofür ich ihm auch

an dieser Stelle verbindlichst danke. München, den 1. März 1904.

P. I7. Cossmann. „Aber das Leben ist kurz und die Wahrheit

wirkt ferne und lebt lange: sagen wir die Wahrheit."

ir der dringende und oft wiederholte Wunsch des hochgeschätzten

t Redakteurs einer Zeitschrift, der meinte, ich könne es am besten, veranlaßt mich, über Hans Pfitzner zu schreiben; denn es ist durchaus

zwecklos.

Wenn wir, der Leser und ich, wenigstens darüber einig

wären, was unter Kunst zu verstehen sei und welche der im bürger­

lichen Leben als Künstler bezeichneten Herren mit ihr etwas zu tun

haben!

Wer ist der größte zeitgenössische Dramatiker? wurde vor

einiger Zeit Hermann Bahr gefragt; „unstreitig Sudermann", ank-

wertete er. Es kann mir nicht einfallen, demgegenüber nachweisen zu

wollen, eia andrer sei größer; denn diese Äußerung zeigt, daß wir über­

haupt ganz Verschiedenes unter Kunst verstehen; sonst könnte jener

nicht einen talentierten Tages- und Abendschriftsteller, wie deren jedes Zeitalter einen braucht und hat, nennen, wenn von Kunst die Rede

ist. Daß einer einem in angenehmer Weise durch theatralische Ver­ anstaltungen einen Abend ausfüllk, einen spannt, unterhält, gruseln macht (Tragödie), lachen macht (Komödie), beides (Schauspiel), das

ist es, was nach der Ansicht vieler den Dramatiker auomachk. Es ist

die weitverbreitete Auffassung der Kunst als Spaß. Eine zeit­ genössische philosophische Schriftstellerin sagt, wenn das Ziel der Phi-

sophie erreicht werden soll, ließe sich noch am ehesten auf die Lösung der ästhetischen Probleme verzichten, „da diese für die Gesamtheit unserer Weltanschauung von relativ geringer Bedeutung sind". Diese

„wir", von denen hier die Rede ist, pflegen die Künstler als Insekten zu betrachten, belustigend aus der Ferne, belästigend in der Nähe,

wenn sie sich einem auf die Nase oder gar auf die Tasche setzen; als

Clowns, dazu bestimmt, dem ernsten Geschäftsmann einige freie Stun­ den auszufüllen. Daß ich doch solche veranlassen könnte, nicht weiter zu lesen; ich möchte mich nicht lächerlich vor ihnm machen, denn es

sind ausgezeichnete Lenke darunter. Der Dichter Lmz hat ihren Stand­

punkt in seinen Anmerkungen übers Theater vertreten und hat den

„Mann von Geschäften", für dessen Unterhaltung der Künstler zu sorgen hat, im neuen Menoza auf die Bühne gebracht; so wie später

Goethe die dazu gehörigen Künstler im Theaterdirektor und der lusti­

gen Person im Vorspiele zu Faust auftreten ließ; und es ist kein Zu­ fall, daß die Aussprüche dieser beiden Figuren mit besonderer Vor­ liebe — und zwar allen Ernstes, nicht etwa ironisch — zitiert werden.

Andre nehmen die Kunst ernst; nämllch als Politik. Die Kunst als Spaß ist besonders bei den Lesenden beliebt; die Kunst

als Politik bei den Schreibenden, die bemüht sein müssen, ihrer Tätig­

keit einen Zweck unterzuschieben. Bei den Jungdeutschen war diese Anschauungsweise so recht zu Hause, und Gutzkow glaubte seine neun­

bändigen Romane nur unter der Voraussetzung verantworten zu kön-

4

nen, daß sie nützten. Statt viele Watte zur Charakteristik der politi­ schen Auffassung zu verwenden, setze ich acht hierher, welche über Wagners Parsifal gesagt wurden: „Als damals (1877) »Parsifall

so weit nach rechts abbog"... Eine vielen Kunstkritikern sympathische Auffassung ist die der Kunst als Schusterei. Wenn man liest, was für Vorschriften

so «ni Schreiber einem echten Künstler gibt — etwas kürzer, viel Heller und dergleichen — so erkennt man deutlich die Voraussetzung, daß Kunstwerke so entstehen wie Schuhe. Ein bekannter Kunstkritiker schreibt: „Die leicht einttetende Wirkung langer, lyrischer Pattien in

Dramen mit starker Handlung ist aber die, daß, wenn der Dichttr von dem ttaumverlorenen, süßen Verweilen sich losreißt, dann die Hand­

lung mit verdoppelttr Schnelligkeit den Aufenthalt einholen muß und ein allzu rasches Hinttreinander von wichtigen Ereignissen die Wir­

kung des einzelnen beeinttächtigt. Wir erinnern an (Wagners) Tristan

und Isolde"... Ein andrer schreibt, die Dichter erwarteten, baß das

Dasein sich so abspiele, wie sie es im Reich ihrer Phantasie zu „arran­ gieren" gewöhnt sind...

Das Schreckllchste, was einem Menschen passieren kann, ist, in

diese Welk als ein Künstler mit ganz andersartiger Auffassung hinein­ gesetzt zu werden, mit der angeborenen Auffassung der Kunst als

Ernst. „Wehe dem, der eine große Tat zu vollbringen hat", heißt es einmal bei Ibsen.

Die Spaßmacher, Politiker und Schuster

haben zu allen Zeiten gefunden, daß die Menschen gerade ihrer

Zeit

jedes

Verdienst

zu

würdigen

wissen,

daß

jeder,

der

was

Tüchtiges leistet, reich an Ehren und Geld, hochbefriedigt von den zeitgmössifchen Kunstverhältnissen, ein Leben voller Freude führt. Ja,

früher, da war das anders. Goethe sagst, man sei nie mit ihm zufrie­ den gewesen, und die Berliner waren auch nach seinem Tode durchaus

nicht befriedigt von den istachlaßbänden. Beethoven wurde mit seinen

letzten Quartetten ausgelacht, und Schubett konnte für seine L-Dur

Symphonie keinen Verleger finden. Von Wagner gar nicht zu reden: aber wie gut geht es jetzt den Wagnerianern! Sie sind Hofkapell­

meister, und wenn sie die modernsten Sachen schreiben, sie haben sofort

Gelegenheit, sie in Konzerten mit den besten Orchestern und so vielen

Proben, wie sie wünschen, aufzuführen, unter dem Hellen Jubel des Publlkums, und Opern können sie sich wenigstens gegenseitig auf­ führen, wieder mit dem Aufgebot aller Mittel; ein ganzer Stab von

Literaten verficht die größten iTteuerungen mit Begeisterung im Kaffee­

haus und der Presse und reißt den zuweilen etwas renitenten musikallfch gebildeten Teil der Nation mit sich fort. Was will man mehr? Wie wird's dann zuletzt so herrlich weit gebracht! Dasselbe Bild hat sich zu allen Zeiten geboten. Nachdem das

Genie — in unserem Falle ist es Wagner — sein Herzblut hingegeben

hat, konnte damit der Baum des Ruhmes tüchtig begossen werden,

so daß es den Epigonen nicht an Lorbeerblättern für ihre Suppe mangelte. Ist ein wirklicher Nachfolger da, der sein Genie, wie Parsifal den Speer, einem inneren Gebote folgend, nicht dazu verwenden darf, sich vorwärts zu kämpfen, so ist er übel dran. Die Liebe zum Meister ist zu groß, die zu den Jüngern zu klein, um sich zu äußern;

ohne Anschluß an eine Partei, kann er warten, bis sich eine für ihn

bildet, was meistens nach dem Tode, günstigen Falles auch einmal, wenn er von einer unheilbaren Geisteskrankheit befallen wird, zu ge­

schehen

pflegt.

Daß

ich Hans Pfitzner für den

Nachfolger

W a g n e r s halte, wird niemanden wundernehmen, der weiß, baß wir befreundet sind. Beweisen läßt sich hier nichts; also, wie gesagt, es

ist völlig zwecklos, daß ich, wie das die anderen bei ihren Klassikern tun, nun hier von Leben und Werken Hans Pfitzners erzähle. Wer findet, daß diese Biographie zu ausführlich sei, der stelle sich vor.

Pfitzner sei vorige Woche gestorben; dann würde niemand sich wun­ dern, in allen Blättern ausführliche Lebensgeschichten zu finden; im

Gegenteil: wie reizend, wie interessant, wie poetisch, ein Künstler, der

sich im Kampf um Verhältnisse, unter denen es ihm einigermaßen mög­ lich ist, zu schaffen, im Sehnen nach einer vollständigen Aufführung seiner Werke aufgerieben hak — allerliebst; die Freunde des Verstor­ benen können gar nicht genug Feuilletons über ihn liefern, und es

müssen daher Leute, die nur einmal mit ihm gesprochen haben, als Freunde verwendet werden. Man sieht eben das Genie an wie „den

4" -3

Hasen, als welcher erst nach seinem Tode genießbar und der Zurich­

tung fähig wird; auf den man daher, solange er lebt, bloß schießen muß". Hans Pfitzner wurde am 5. Mai 1869 in Moskau geboren, nicht,

wie das bei einem Komponisten unserer Zeit sein sollte, als Sohn

eines Italieners oder eines Grafen oder eines Millionärs oder Richard Wagners, sondern eines vortrefflichen deutschen Musikers, der seiner­ zeit unter Wagner gespielt und von diesem eine Photographie mit Widmung erhalten hatte. Mit einem ganz hervorragenden musika­

lischen Gehör begabt, am Leipziger Konservatorium nicht nur zum tüchtigen Geiger, sondern auch allgemein musikalisch aufs gründlichste

ausgebildet, machte Pfitzners Vater den typischen Lebenslauf vieler

deutscher Musiker in der aufreibenden Orchestertätigkeit durch, erst in der sächsischen Heimat, dann an der Moskauer Oper und zuletzt als

Musikdirektor am Stadttheater zu Frankfutt a. M., immer die ver­ körperte Pfllchttreue und immer ohne „etwas" aus sich zu machen

und ohne es zu „etwas" zu bringen. In Moskau hatte er seine, einer

deutschen, in Rußland lebenden Familie entstammende Lebensgefähr­ tin gefunden, eine an Talenten hervorragende Frau, die ihr pianisti-

sches Talent bei Villoing, dem Lehrer von Anton und Nikolaus

Rubinstein, ausgebildet und sich auch eine ungewöhnliche wissenschaft-

Lche Bildung, besonders auf philologischem Gebiet angeeignet hatte. Es war somit dem Pfitznerschen Ehepaar die Mögllchkeit gegeben,

die drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne, selbst in den Schul­ fächern und musikallsch auszubilden. Jedoch zeigte sich bei der Über­ siedelung nach Deutschland nach einigen Jahren die praktische Not­

wendigkeit, die beiden Söhne einer öffentliche Schule anzuvertrauen. Und has geschah denn auch.

Im September 1878 kam Pfitzner in die Frankfurter Realschule „Küngerschule". Es waren für di« Sexta drei neue Schüler ange­ meldet, Pfitzner, der Sohn des Lehrers von Niederrad bei Frankfurt und ich. Während wir drei geprüft wurden, unterhielten sich indessen

Pfitzners Eltern und meine Mutter, die auf uns warteten, unten im

Hof. Als wir nach glücklich bestandener Prüfung hinunterkamen, trafen wir sie als gute Bekannte; es hatte sich gezeigt, daß zu der

Zeit, als der Gegenstand und der Verfasser dieses Aufsatzes geboren wurden, unsere Väter sich kannten; der meinige war damals Professor an dem unter meinem Paten Nikolaus Rubinstein neueröffneten Kai­

serlichen Konservatorium zu Moskau gewesen, während er jetzt, im Herbst 1878, von Baden-Baden aus, wo wir die vorhergehenden Jahre gelebt hatten, einem Ruf an das unter Joachim Raff eröffnete Dr. Hochfche Konservatorium gefolgt war. So ergab sich schon durch

das seltsame Zusammentreffen persönlicher Beziehungen ein näherer

Verkehr zwischen Pfitzner und mir von selbst, während die Interessen des dritten Neueingetretenen nach anderen Seiten lagen. Die nach Klinger benannte Schule machte während unseres ge­

meinsamen Schulbesuches gerade die Sturm- und Drangperiode durch.

Wir hatten dort schon früh Gelegenheit, den Lauf der Welt an Streitigkeiten im Lehrerkollegium kennen zu lernen, den aussichtslosen Kampf der ideal veranlagten Minorität gegen die real veranlagte Majorität. Wir erlebten die Maßregelung eines Lehrers, der Miß­

stände aufgedeckt hatte, in Anwesenheit der ganzen Schule durch den Direktor, welcher mit unermüdlicher Bezugnahme auf Bibelworte uns Schülern den mißliebigen, damals noch im Amte befindlichen und

anwesenden Lehrer als „Wolf im Schafskleide" schilderte, welcher Wolf den Splitter im Auge seines Nächsten sehe und nicht den Bal­

ken im eigenen; nach eingehender Bibelexegese fuhr er fort: „Ihr Schüler habt alle schon einen solchen Mann gesehen" und nun folgte

eine Personalbeschreibung des Herrn Halter (der es gewagt hatte, einem dem Direktor nahestehenden Lehrer das unerlaubte Erteilen von

Privatstunden an Schüler der eigenen Klasse, einem anderen, der

noch dazu ein Landsmann des Direktors war, das Unterschlagen von Trinkgeldern, die für die Schwimmlehrer bestimmt waren, zu ver­

übeln). Die Sache endigte mit der Entlassung des unbequemen Leh­ rers. Falls es ihm gelungen ist, seine Existenz weiterzufristen und er

dieses Heft in die Hand bekommen sollte, möge er daraus ersehen, daß sein Schicksal an manchen seiner damallgen Schüler nicht spurlos

vorübergegangen ist. Während diese Angelegenheit längst öffentlich

bekannt und sozusagen bereits historisch geworden ist, liegen die ande­

ren Erlebnisse aus der Sturm- und Drangschule nicht weit genug zurück, um schon jetzt geschildert zu werden; trotzdem sie vpn erheblichem erziehungogeschichtlichen Interesse wären. OTur soviel, daß neben eini

gen sehr sympathischen und hochstrebenden Lehrern uns eine ganze Musterkarte menschlicher Eigentümlichkeiten, meist nach der negativ moralischen Seite gerichteter, bekannt wurden.

Pfitzner war einer

der besten Schüler der Schule, sowohl durch Begabung als auch durch Fleiß. Jtuc die für einen Künstler unserer Zeit wichtigste Kunst, die

des Rechnens, machte ihm stets Schwierigkeit. Aber ausgefüllt war er — auch ein Fehler bei einem modernen Komponisten — durchaus

nur durch die Musik; die Werke und das Leben der musikalischen Klassiker, das war seine Welt. Auch Kompositionen aus der aller­

frühesten Zeit sind vorhanden; und hier haben wir als ersten Beitrag zur Schilderung von Pfitzners künstlerischer Persönlichkeit zu sagen, daß eine Entwicklung im Sinn zunehmender Vollendung, allmählicher

Befreiung von fremden Einflüssen bei Pfitzner nicht vorhanden ist;

für größere Formen fehlte chm zu jener Zeit die Technik, aber er

schrieb Lieder, von denen späterhin wohl manche in die Öffentlichkeit gelangen werden, die schon ganz das individuelle Gepräge, die Höhe

und die Reinheit seiner spätrem Musik zeigen und in sich vollmdet

sind. In ihm war eine, wie eo damals scheinen wollte, unversiegbare Quelle musikalischer Eingebungen, insbesondere auch solche heiteren Charakters.

Im Jahre 1886 trat er in das Hochsche Konservatorium zu Frankfurt ein; in der Kompositionslehre und im Kontrapunkt war Iwan Knorr sein Lehrer, im Klavierspiel James Kwast. Von der

Konservatoriumszeit ließe sich viel erzählen. Aber ich fürchte schon

sowieso, daß meine Abhandlung zu lang wird, und muß mich auf das Notwendigste beschränken. Hat Pfitzner viel Unglück und Miß­ geschick zu erleben gehabt, wovon manches im Fortgang unserer Dar­

stellung zur Sprache kommen kann, das meiste aber nicht, so hatte er

andererseits in einer Beziehung großes Glück; darin nämlich, daß er

mit einigen Leuten zusammentraf, mit denen ihn eine tiefere Verwandt­ schaft als das unter dem Namen der Freundschaft verbreitete Ge-

schäftoverhältois verband. Als Pfihner am Hochfchen Konservato­ rium studierte, besuchte dieselbe Anstalt ein etwa gleichaltriger, in England

geborener und

aufgewachsener Deutscher namens James

Grün; die Grenzen von PfiHners Begabung waren scharf gezogen: er war seiner Grundrichtung nach dramatischer Komponist, aber sich seine Dramen auch zu dichten, wie Wagner, war ihm versagt; mit der­

selben Bestimmtheit war auch Grüns künstlerische Begabung auf das Musikdrama gerichtet, nur daß ihm die musikalische Hälfte fehlte.

Das einzigartige Verhältnis führte zu Ergebnissen, von denen weiter­ hin die Rede sein muß; was aus Pfihner geworden wäre, wenn er Grün nicht kennen gelernt hätte, vermag man sich nicht vorzustellen.

Ein intimes Verhältnis verband Pfihner ferner mit dem gleichzeitig jene Anstalt besuchenden Karl Dienstbach, einem schwer zu erkennenden, tiefangelegten Musiker, der, eine andere Seite des deutschen Wesens

wie Pfihner darstellend, philosophisch grübelnd symphonischen Zielen zustrebte. Und wieder eine ganz andere Seite war in der bajuwarischen Kraftnatur des Cellisten Heinrich Kiefer verkörpert, der späterhin in

der Geschichte von PfiHners Musik eine Rolle spielte. Auf dem Konservatorium bereits schrieb er sein erstes dramati­ sches Werk, die Musik zu Ibsens „Fest auf Solhaug". Und damit begann nach der Zeit naiven Schaffens für ihn die Leidenszeit. Ich

muß hier ein paar Worte sagen über das Verhällnis des Dramatikers

zur Welt. Herr Meyer meint, es bestehe darin, daß der Dramatiker von der Welt möglichst viel Geld haben möchte.

In Wirklichkeit

ist das erste: daß er sein Werk hören und sehen will, ja muß. Er braucht das zum Weiterarbeiten. Diese innere Nötigung scheint bei manchen geringer zu sein, so daß sie die Leiden anderer nicht recht glau­ ben könnm. Bei Pfihner ist sie so stark, daß er, mangels einer ein­

zigen Aufführung trotz einer unbeschreibllchen Energie Jahre hindurch wie gelähmt seiner Begabung nichts abzuringen vermochte, Jahre, die

unwiederbringlich verloren sind. Eine Partitur in den toten Zeichen 27

vor sich zu sehen, ohne sie zu tönendem Leben bringen zu können, das

muß eine der größten Qualen sein, denen ein Künstler ausgesetzt sein kann, und die Leidensfähigkeit eines Künstlers ist größer als die an­

derer Männer.

Es scheint aber nicht nur die Nötigung des Hörenmüssens vor­

zuliegen, sondern auch ein Gefühl der Verpflichtung dem neuen Werke gegenüber, ihm die Möglichkeit der Wirkung zu geben. Wie es bei

produktiven Künstlern bestellt ist, davon haben die meisten Leute, auch viele, die im bürgerlichen Leben als Künstler bezeichnet werden, keine

Ahnung. Auch ich hätte keine, wenn ich nicht zufällig mit einem pro­

duktiven Künstler zu tun gehabt hätte. Bei einem solchen ist das Verhältnis zu den Werken ähnlich wie bei vielen Tieren dasjenige zu der Nachkommenschaft; ein unwiderstehlicher Trieb zwingt sie, chr

mit eigener Lebensgefahr zum Leben zu verhelfen, sie an einem siche­

ren Orte unterzubringen. Wagner hat sich über das dämonische Schick­

sal, das so den Künstler an eine, ihm ihrer Grundrichtung nach entgegengesetzte Welt kettet, folgendermaßen ausgesprochen: „Ohne einen

allgemeinen, für alle Kulturepochen gültigen Grundsatz aufstellen zu wollen, fasse ich für jetzt unsere heutigen öffentlichen Kunstzustände in das Auge, wenn ich behauptt, daß unmöglich etwas wirklich gut

sein kann, totnn es von vornherein für eine Darbietung an das Publi­ kum berechnet und diese beabsichtigte Darbietung bei Entwerfung und

Ausführung eines Kunstwerkes dem Autor als maßgebend vorschwebt. Daß dagegen Werke, deren Entstehung und Ausführung dieser Ab­ sicht durchaus ferne liegen mußten, dennoch dem „Publikum" darge-

boten werden, ist ein dämonischer, in der tiefsten Nötigung zur Kon­

zeption solcher Werke aber begründeter Schicksalszug, durch den das Werk von seinem Schöpfer der Welt gewissermaßen abgetreten wer­ den muß."

Am schlimmsten von allen ist der musikalische Dramatiker von der

Welt abhängig. Der Maler, der Epiker kann wenigstens sein Werk vollenden ohne sie, aber das Werk des Dramatikers ist erst mit der

Aufführung vollendet; für diese braucht der musikalische Dramatiker einen größeren Apparat als irgendein anderer Künstler; die Erlaub-

INS, welche Zeus bei Teilung der Erde dem Künstler gab, mit ihm in seinem Himmel zu wohnen, kann ihm nicht genügen; denn es gibt an

jenem Ort keine Theaterdirektoren, Regisseure, Orchester, Chorsänger, Solisten, Schauspieler, Dekorationsmaler, und alle diese Leute braucht er.

Von dem was er erlebt, ist der echte Künstler auch insofern ab­ hängig, als Leben und Schaffen bei ihm ein Ganzes bilden. Während

die Symphonien und Musikdramen der alten und neuen Kapellmeister­ musik Stimmungen enthalten, die nirgends in der Welt vorkommen, außer in Konzertsälen und Opernhäusern, ist bei Pfitzner jedes Werk,

ja jeder Takt ein Stück seines Lebens; Musik ist ja immer eine ein­ drucksvolle Sache; nun gar ungewohnte Harmonien und Rhychmen

— und doch alles Schwindel, wenn es nicht die Originalität der Wahrheit hat, künstliche Blumen, die allerdings von Prinzessinnen

(im Märchen nämlich) den natürlichen vorgezogen werden. In meiner Nähe wohnt ein moderner Musiker, den ich spielen höre; ich denke

immer, er spiele Wagner, aber er fängt die Motive nur an, dann geht es anders weiter: er komponiert. Wer Ohren für musikalische

Physiognomien hat — eine ebenso seltene Gabe wie Augen für Cha­ rakterphysiognomien — wird bei keinem Takt von Pfitzner denken,

er könnte auch von Wagner sein. Von dem furchtbaren Gewicht der Selbstkritik bei einem auf dem Kunststandpunkt stehenden Künstler

machen sich wenige eine richtige Vorstellung; für manchen talentvollen Komponisten ist es immer leicht, den musikalischen Faden fortzuspin­

nen, das Genie hingegen muß unter Umständen monatelang auf eine

Eingebung warten, die ihm durch nichts ersetzt werden kann. So ist der echte Künstler auch ein echter Kritiker, nur daß er sich selber kriti­

siert, während bei den gewöhnlich sogenannten Kritikern die Kritik sich auf andere beschränkt.

Daß hier etwas ganz Besonderes vorliege, hat von bekannten Persönlichkeiten

zuerst

der Gründer des ersten Richard-Wagner-

Vereins, der auch als Komponist bekannte Mannheimer Kapellmeister

Langer erkannt, dem seine, Pfitzners Musik verehrende schöne Tochter Frau Stephanie Kratz, die später als opus 2 erschienenen Lieder

übersandte, und der sogleich diese Lieder nicht als Talentprobe, son-

dem als ein Stück dmtsche Musik auffaßte. Ich füge hier gleich an,

daß einige andre Personen damals bereits Pfitzners Bedeutung ahnten

und für ihn eintratm. Ohne derartige Hilfe, deren wir später noch mehrfach zu gedenken haben werden, wäre wohl überhaupt nichts von

Pfitzner in die Öffentlichkeit gedmngen, da für alles Praktische Pfihner

jeder Sinn fehlt. Bevor PfiHner durch seine Bemühungen für das „Fest auf Sol

haug" in Berühmng mit der sogmannten Welt kam,

aber nach

Vollendung der Partitur, schrieb er die Sonate für Klavier und

Violoncell. Ja, ich kann es nicht leugnen, er hat Kammermusik geschrieben, zum Entsetzen des richtigen Wagnerianers. Der richtige Wagnerianer hält die Zeit der Kammermusik für vorüber; Schu­

bert war der letzL, der sich Kammermusik allenfalls erlauben durfte;

was Schumann hier geleistet hat, kommt wie alle Leistungen dieses ganz kleinen Talents nicht in Betracht; von Mendelssohn hat man die Hebridm-Ouvertüre für eins der herrlichsten Musikstücke aller

Zeitm

zu halten, Programm-Musik aller Art ist gut; und was

Wagner geschrieben hat, das sind durchgängig vollendete Kunstwerke,

Rienzi, die Lieder, der Kaisermarsch, kurz alles. So hat der Wagne­ rianer seinem Ahnherrn, dem Wagner im Faust folgend, für jede

Kunstgattung ein gelehrtes Urteil vorrätig.

Ein in der letzten Zeit des Konservatoriumsbesuches geschriebenes Streichquartett ist unveröffentllcht. Die Violoncellsonate ist das erste gedmckte, und deshalb als opus i bezeichnete Werk und ist, insbe

sondere durch Kiefers Vortrag, eine der bekanntesten Pfitznerschen

Kompositionen. Cellisten, die etwa unsere Broschüre lesen, wird es

interessieren, daß mein Vater diese Sonate für die schönste seit den Klassikern geschriebene Violoncellsonake, insbesondere auch den letzten Satz für ganz vollendet hält, in dem Manche Längen finden; diese entstehen, wenn man, den Grundcharakter verkennend, statt den Satz streng im Tempo und einfach durchzuführen, durch Rascherwerden

gegen Ende, durch Langsamerwerden bei den sogenannten Gesangs­

stellen u. dgl. chn auseinander reißt.

Das viel später, im Jahre 1896, geschaffene Trio, um dieses Stück gleich hier zu nennen, ein Werk von Beethovenscher Tiefe, dürfte eben dieser Tiefe und außerdem seiner Schwierigkeit wegen

unter Pfitzners Kompositionen am wenigsten rasch bekannt werden;

wenn ein Komponist einmal sehr berühmt ist, dann sind die Leute auch von denjenigen Werken entzückt, bei denen sie sich langweilen, und

voraussichtlich wird erst auf diesem indirekten Wege das Trio zu all­

gemeinem Ansehen gelangen. Bei einzelnen hervorragenden Musikern jedoch nimmt es bereits die gebührende Stellung ein.

Pfitzners Lieder — er ist trotz seiner Kannnermusikstücke der Grundrichtung nach Dramatiker und Lyriker — erschöpfen nicht nur

den Stimmungsgehalt des Gedichtes, sondern sind außerdem melo­ diöse und in sich geschlossene Musikstücke. Der Lyriker seines Herzens

ist Eichendorff.

Die von ihm komponierten Eichendorffschen Lieder

dürften das Höchstmögliche im Aufgehen eines Komponisten im Stim

mungsgehalt des Gedichtes darstellen. Im Jahre 1897 schrieb übri­ gens ein Berliner Kritiker anläßlich Pfitzners: „Wie kann ein mo­

derner

Komponist überhaupt

so viel von Eichendorff komponieren,

dessen Bedeutung ich keineswegs schmälern will, der aber doch heuk als einer der Überwundensten gelten muß?" Jetzt, 1900, da die Ro­

mantiker wieder so sehr in Mode gekommen sind, würde nicht leicht ein Kritiker so zu schreiben wagen. Welch ein ekelhaftes Ding ist

doch die Mode. „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich

akkommodierm, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne im mindesten zu wissen, was sie will."

Das Komponieren ist ja viel leichter geworden.

Früher hielt

man für nötig, daß einem Komponisten wenigstens einige Themen

für eine Sinfonie einfielen, wie abgeschmackt diese Themen zuweilen auch sein mochten; um „Norma", „Die Stumme von Portici", „Die

weiße Dame", den „Barbier von Sevilla" zu schreiben, mußte man einen Haufen musikallscheo Talent haben; aber jetzt braucht einem

Komponisten musikalisch überhaupt m'chts mehr einzufallen, noch nicht

einmal genug für ein Trommelsolo; wenn er nur Einfälle philosophi

scher Art hat, zum Beispiel den ODur-Dreiklang als „Erlösungs­

motiv" zu bezeichnen und dm 6-Moll-Dreiklang als „Entsagungs­ motiv", und außerdem Einfälle in bezug auf Propaganda für musi­

kalische Werke. Da empfiehlt sich insbesondere die Komposition von

Liebem, wofür immer die neuesten Texte die geeignetsten sind. Wäh­ rend bei Musikdramen eine gewisse Technik, vor allem, was die Jnstmmmkation betrifft, wenn möglich auch in bezug auf Verarbeitung

des Erlösungs- und Entsagungsmotivs wünschenswert ist, welche Ver­ arbeitung dem reinen Liederkomponisten desto mehr imponiert, je kom­

plizierter sie ist, während also zum Komponisten größten Stiles eine

theoretische Vorbildung gehört, die dem Literaten fehlt und daher im­ poniert, ist das Liederkomponieren jedermann anzuraten, der ein Kla­

vier besitzt oder bei geduldigm Freunden benutzen darf. Man nimmt das letzte Heft der „Gesellschaft" her und sucht sich aus dem Ab­

schnitt „Deutsche Lyrik" ein Gedicht eines möglichst jungen Autors heraus. Damit ist eigentlich schon alles gewonnen; durch die Stoff­

wahl hat man bereits bekundet, daß man ein modemer Künstler ist,

und kann auf den Beifall aller modern gesinnten Konzertkritikerrech­

nen. Die musikalische Intuition erfolgt derart, daß man zu jedem Satz des Gedichtes, oder, wenn man so viel Zeit hat, zu jedem Wort^)

eine Illustration liefert, die mehr in die Klavierbegleitung, als in die

Singstimme zu verlegen ist; letztere musikalisch zu bevorzugen überlasse

man solchen Komponisten, die nach alter Schablone mit Melodien u. dgl. arbeiten. Beim Neutoner ist der Sänger nur dazu da, zu

deklamieren. Jetzt also los! „Das Meer erbraust" — da muß man

in k-Moll in der untersten Lage des Klaviers so lange tremolieren, als es wahrscheinlich ist, daß das Publikum es über sich ergehen lassen

wird.

„Des Postdampfers schrille Glocke ertönt" — AOur ganz

*) Wie ganz gründliche Komponisten zu verfahren haben, ergibt sich aus

dem Artikel „Arno Holz und seine Schule" von Kurt Holm („Gesellschaft", Heft 23, 1898); dort heißt es: „Noch nirgends habe ich jedes einzelne Wort des Dichters

musikalisch so genau, mit so selbst den Laien frappierender Schärfe wiedergegeben gefunden, wie bei Stolzenberg, ja, selbst jedes Zeichen, jedes Komma, jeder Punkt

oder Gedankenstrich läßt sich bei ihm nachweisen."

Z2

oben, wieder Tremolo, und nun ganz weich das Postdampferglocken­ sehnsuchtsmotiv cis- d-e. Der feinsinnige Pianist läßt sich bei jedem dieser drei Töne mit dem ganzen Gewicht des Oberkörpers auf die

Klaviatur sinken, um so die metaphysische Bedeutung des Motivs zum Ausdruck zu bringen. Das Publikum, das schon ganz daran ge­

wöhnt ist, jede Woche einen neuen Klassiker kennen zu lernen, wir

leben nun einmal in einer fortgeschrittenen Zeit, ersieht den andern

Morgen aus der Zeitung, daß dem Komponisten von „Das Meer erbraust" jene höchst transzendente Emphase des Ausdrucks zu Ge­

bote stehe, wie sie erst die durch Berlioz, Wagner und Liszt ins Me­

taphysische gesteigerte Ausdrucksfähigkeit möglich gemacht hat.

Die

durch keine Form beengte intuitive Versenkung in den Gehalt der Dichtung erhält gebührendes Lob. — So würde ich, wenn ich Zeit hätte, komponieren.

Die Zeit ist insofern wesentlich, als man bei

längerem Herumklimpern leicht auf ungewöhnliche, sich zum Ausdruck

des Metaphysischen eignende Harmoniefolgen stößt.

Der Philosophiekomponist moderner Fasson ist nicht zu verwech­

seln mit dem philosophierenden Komponisten früherer Art; es hat große Musiker gegeben, die philosophiert haben, aber die musikalische

Produktion fand bei ihnen nicht statt auf Grund wissenschaftlicher Überlegungen, beeinflußt durch die jeweilige Modephilosophie; viel­ mehr waren die musikalischen Meister in ihrer Produktion naiv. Der Philosophiekomponist sagt: „Bin ich nicht ein ganzer Kerl!

Erhalt

ich da zwei verschiedene Bilder von der Welt; das eine durch das linke

Auge, das andere durch das rechte; und doch bring ichs fertig, mir

ein einziges Bild der Welt aus ihnm zu konstruieren."

Ihm ant­

wortet der Musikkomponist: „Wie unwissend ich bin.

Das habe

ich gar nicht gewußt, daß man zwei verschiedene Bilder erhalten kann: so lang mirs denkt, habe ich einfach gesehen." Der Typus des Musik­ komponisten ist Schubert. Wer Sinn hat für das Musikalische in

der Musik, wird ein Moment musical von Schubert höher schätzm als sämtliche Werke eines Philosophiekomponisten; mit

einem

Übergang von Moll nach Dur sagt Schubert mehr, als mit dem

umfangreichsten Programm gesagt werden kann; Dur und Moll,

das war seine Welt, nicht die zeitgenössische philosophische Literatur.

Es llegt im Wesen der Musik, daß sie mehr als die bildende Kunst, vor allem mehr als die Dichtkunst unabhängig ist von den Gedanken und Kenntnissen der Zeit und dem Lärm des Tages; es kommt bei

ihr schlleßlich darauf an, was einem einfällt.

In dem letzten Satz habe ich Pfitzners Kunstphilosophie ausge sprachen; was einem einfällt — in welcher Form einer komponieren

mag. Schumann, Wagner, Bizet, Palestrina, Johann Strauß, Bach, lauter Leute, denen etwas eingefallen ist, so verschieden man auch den

Wert ihrer Inspirationen und ihrer Kunstgebilde einschätzen mag. Pfitzner als dramatischem und lyrischem deutschen Komponisten liegen

außer Bach und Beethoven besonders die dramatischen Werke von

Wagner, Weber und Marschner, die Lieder von Schubert, Schu­ mann, Jensen, Franz und vieles von Hugo Wolf am Herzen. Um

Bürger eines Landes zu werden, muß man jahrelang dort wohnen; im Reiche der Kunst hingegen hat nur das Angeflogene das Heimat­ recht. Das innerllch Notwendige, das ist auch das im künstlerischen Sinn Anständige; weshalb eine fünfaktige Jambentragödie, eine mit

großem Fleiß und großen Kenntnissen verfertigte sinfonische Dich­

tung sehr unanständig, ein Straußscher Walzer sehr anständig sein kann. Für ganz Dumme bemerke ich, daß es in jeder Kunst vieles gibt, das gelernt werden muß: die Verwendung der Ausdruckomittel; aber

das, was ausgedrückt wird, der Inhalt, muß anderswoher kommen. Man gelangt zu ihm nicht durch Beobachtungen, Versuche, Nach­

denken, wie in der Wissenschaft; in dieser könnten die suchenden, nichts

findenden Philosophiekomponisten vielleicht Tüchtiges leisten.

Die

Wissenschaft besteht aus Problemen, Fragen; die Kunst aus Ank

Worten. Im Herbst 1890, nach Austritt aus dem Konservatorium, mußte Pfitzner versuchen, seine Musik zum Fest auf Solhaug zur Auf­

führung zu bringen. Es stellte sich heraus, daß die Verfasserin der von ihm zugrunde gelegten poetischen Übersetzung einen andern Kompo

nisten zur ausschließlichen Verwendung ihrer Arbeit autorisiert hatte. An dergleichen hatte Pfitzner natürlich nicht gedacht. Schreckliche

Zeiten ergaben sich aus dem genannten Umstande. Wie ein Damokles­ schwert schwebte jahrelang die Furcht über ihm, daß, selbst wenn sich

eine Bühne fände, die Aufführung vereitelt werden könne. Es fand sich aber keine, und Pfitzner gab am Coblenzer Konservatorium Stun­

den. Das freundschaftliche Interesse der Vorgesetzten und Kollegen vermochte nicht, seine Existenz zu einer auf die Dauer erträglichen zu

gestalten.

Eine Zeitlang hatte die Komposition des inzwischen für

ihn von Grün gedichteten Dramas „Der arme Heinrich" ihn ganz absorbiert. Aber die Qual, „Das Fest auf Solhaug", ferner einen

großen Teil des „Armen Heinrich", ferner eine Ballade mit Orchester

komponiert zu haben, ohne einen Ton der von ihm neu geschaffenen orchestralen Sprache hören zu können, wurde schließlich so stark, daß die Veranstaltung eines Konzerts eine Lebensfrage wurde. Es fand

am 4. Mai 1893 >" Berlin statt.

Über das Berliner Konzert möchte ich den bekannten Musikschrift­ steller Wilhelm Tappert berichten lassen; ich weiß, daß er in Berlin unten durch ist, was mich aber durchaus nicht hindert, seine Verdienste

anzuerkennen. Man weiß, wie er seinerzeit für Wagner eingetrettn

ist, zu einer Zeit, als das noch etwas heißen wollte, und daß Wagner, wo er vom Zustande der musikalischen Zeitschriften spricht, einzig Tappert rühmend hervorhebt; und Tappert war auch der einzige unter

den Berliner Kritikern, der richtig für Pfitzner einsros; das Konzert vom Mai 1893 besprachen die anderen Kritiker ebenso glänzend; aber

unter „richtig" eintreten verstehe ich, daß man dauernd einer als groß

erkannten Sache treu bleibt. Das ist das furchtbar Betrübende, nicht nur für Pfitzners ferneres Leben, sondern überhaupt für unsere Kunst­ zustände an jenem ungeheueren Berliner Konzerterfolg, von dem eine Zeitung schrieb, er sei dem der „Cavalleria" auf dem Gebiet der Opern­

erfolge vergleichbar, daß er in der Geschichte von Pfitzners Musik

so gut wie keine Bedeutung hakte. Nicht ein einziges Pfitznersches Lied wurde im nächsten Winter in Berlin öffentlich gesungen und,

so weit ich sehe, hat in der Presse niemand an Pfitzner erinnert, außer

Tappett, der immer wieder auf ihn hinwieo mit Betrachtungen wie „die Kritik war einstimmig der Ansicht: Das ist einer! Und was ge­

schah innerhalb des verflossenen Jahres? Nichts!

Kein Verleger

hat etwas drucken lassen, kein Orchester auch nur eines der Werke gespielt, die hier so große Hoffnungen erregten". Die Verehrer Pfitz

ners sind daher Tappert zu großem Dank verpflichtet.

Eine Folge von unabsehbarer Wichtigkeit hätte das Konzert haben können. Da der große Liszt nicht mehr lebte, mußten sich die Hoff­

nungen eines selbständigen jungen Musikers auf Hans von Bü­ low richten. Als Student in Berlin, ich glaube 1889, hatte ich in

Anbettacht dessen, daß Bülow für mich in meiner früheren Jugend eine besondere Vorliebe gehabt hatte, einen schüchternen Versuch ge­ macht, ihn für Pfitzner zu interessieren, traf's aber schlecht; erstens hatte Bülow am Abend jenes Tages eine große Beethoven-Auffüh­ rung zu dirigieren, zweittns leitete ich meinen Besuch damit ein, daß

ich für einen in Not geratenen alten Weimarer ein gutes Wort ein-

legtt — mit wenig Glück, da die Nennung des bttreffenden Namens den sonst so hilfobereittn Bülow in Wut versetzte; als ich dann mit dem komponierenden Freund kam, rief er: „Nein, ich bin ein alttr

Mann, ich kann nichts Neues mehr kennen lernen; die paar Jahre, die

ich vielleicht noch zu leben habe, gehören Bach, Beechoven und einigen

noch älttren Herren." Ich erwähntt, der Freund habe eine Musik zum „Fest auf Solhaug" komponiert; hier schien das Jnttresse der

Jbsenverehrerin Frau von Bülow erregt; aber sie erkannte jedenfalls

besser als ich, wie ungeeignet der Moment war, und sagte nichts. Jetzt, nach dem Berllner Konzett ließ sich Hermann Wolff vom Kompo­ nisten die Partituren der aufgeführttn Werke geben, um sie an Bü­ low zu schicken; Bülow hätte gewiß Kenntnis von jenen Werken genommen, aber bevor es dazu kam, hatte ihn die Krankheit befallen,

von der er sich nicht wieder erholen solltt.

Den inneren Erfolg, wegen dessen es veranstalttt worden war, hatte das Berllner Konzett: Pfitzner vollendete im Sommer 1893 die Komposition des „Armen Heinrich".

Für eine Aufführung mußte ganz besonders die Münchener Oper in Betracht gezogen werden, welche damals in Vogl und Gura die berufenen Darsteller des Heinrich und Dietrich besaß. PfiHners Mün­

chener Aufenthalt blieb jedoch in dieser Beziehung erfolglos.

Der

frühere Intendant, der eine Vorliebe für Ibsens Jugenddramen und Interesse für PfiHners Musik zum „Fest auf Solhaug" hatte, war inzwischen von der Bühnenleitung zurückgetreken, so daß auch in dieser

Richtung keine Hoffnung blieb.

Während seines Münchener Aufenthalts (1894) hatte Pfihner Gelegenheit, einige seiner Werke dem Landgrafen von Hessen vorzu­

führen; dieser, nicht mir musikverständig, sondern selbst vortrefflicher Musiker, erkannte in dem unbekannten jungen Mann einen der her­

vorragendsten neueren Komponisten und verfolgte von da ab PfiH­

ners Schaffen mit dem Anteil nicht des Gönners, sondern des Kunstgmossen. Einen zweiten Vorteil noch hatte der Münchener Aufenthatt. Vor Jahren, in PfiHners Frankfurter Freundeskreis, hattm ein paar

Broschüren sehr gezündet, die ganz den Gesinnungm der jungen Künst­

ler entsprachen: Bach, Beethoven, Wagner, keine „I^eudeukfche Ka­ pellmeistermusik"; der diese Brofchürm geschrieben, Paul Marsop, war in München; Pfihner suchte ihn auf und bat ihn, chm die Par­

titur des „Armm Heinrich" durchzusehen. Der Eindruck auf Marsop war ein so tiefer, daß er seitdem das ©einige getan hat, um Pfihner,

oder wenn man so will, dem Publikum zu helfen. Ein zur Herbeiführung einer Aufführung des „Armen Heinrich" wichtiges Ergebnis brachtt Pfihner von all feinen Irrfahrten heim. Unter anderem halle er den Heldentenor des Kölner Stadttheaters BrunoHeydrich für das Werk zu interessieren gesucht. Heydrich

erhielt einen überwältigenden Eindruck und erklätte: sich derjenigm Bühne, die bereit sei, den „Armen Heinrich" aufzuführen, ohne jede

Entschädigung zur Verfügung zu stellm. Trotzdem mußtt Pfihner einsehen, daß er das Werk nicht bei einer Bühne unterbringen werde,

wenn er nicht selber ans Theater ginge. Er nahm daher im Herbst 1894 eine Stelle als vierter Kapellmeister am Mainzer Stadttheater 5

37

an. Er hätte, um fein Ziel zu erreichen, sich mit Freuden als Logen­

schließer oder Lichterputzer anstelle» lassen, wenn er hierzu befähigt

gewesen wäre. Nicht sonderlich entzückt wurde ich durch den Umstand, daß ein

mir nicht bekannter jüngerer Mitschüler Pfitzners vom Konservato­

rium her als dritter Kapellmeister angestellt war; jedoch hier wie oft

schlug das Unwillkommene zum Glück aus. Denn in dem jugendlichen Oberkollegen Bernhard

Freund.

Sekles gewann sich Pfitzner einen treuen

Im nächsten Winter, als Pfihner zur Würde des dritten

Kapellmeisters aufrückte und Sekles als Lehrer am Dr. Hochfchen

Konservatorium der Theaterlaufbahn Valet sagte, traf einmal in einer Zeit größter Depression ein Brief ein von jener Art, wie Briefe

selten geschrieben werden, da der gute Ton verbietet, Gefühle zu zeigen, außer gehässige.

Sekles schrieb, er habe gerade wieder einmal im

„Armen Heinrich" stndiert und die unvergängllche Größe des Werkes sei ihm dabei so klar geworden, daß es ihn dränge, ein paar Worte

darüber zu schreiben. Es war ein ganz einfacher Brief, aber in dem

Moment, in dem er eintraf, für den Empfänger ein Lichtstrahl. Sekles

hat die hohe Schönheit der PfiHnerschen Musik vom „Fest auf Solhaug" bis zu dem jetzt im Entstehen befindllchen Werke miterlebt, und gehört zu den wenigen, die alles kennen gelernt und so von dieser

Kunst gehabt haben, was man von chr haben kann. Da er selbst be­

gabter Komponist ist, gesellt er sich zu den fremde Verdienste aner­

kennenden Komponisten, deren uns noch mehrere begegnen werden. Das ist bemerkenswert, da im allgemeinen Goethe recht behält mit

den Worten: „Das Unglück ist... in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder pro­

duziere»» will." In jener ersten Mainzer Zeit wandte sich Pfitzner auch an den

gelehrtesten Musikforscher der Gegenwart, den damals in Wiesbaden lebenden Dr. Hugo Riemann, und bat ihn um sein Urteil über dm „Armen Heinrich". Dieses Urteil ist von allgemeinem Interesse,

weil nmerdings die Meinung verbreitet wird, modern zu schreiben, das heiße soviel wie regellos schreibm, willkürlich, je nach Be-

lieben — wenn's nur ungewohnt ist. In der Tat haben natürlich

bedeutende Künstler jeder Art stets mit strenger Gesetzmäßigkeit ge­ schaffen, welche Gesetzmäßigkeit allerdings bei manchen eine neue, theo­

retisch erst noch festzulegende war. In dieser Zeit wird aber vielfach das Verstoßen gegen alte Regeln, auch ohne geniale Erschaffung von

neuen, an sich schon als ein Verdienst betrachtet; mancher meint, wenn

er recht viel Quintenparallelen anbringe, seine Stücke in anderer Ton­ art schlleße als sie anfangen, dann sei er etwas; lieber Gott, als ob man das nicht jedem Feiertagsschüler von durchschnittlichem Verstand

beibringen könnte. Da ist es denn von Interesse zu Horm, was da­ mals der berühmte Theoretiker an den ihm bis dahin völlig unbe­

kannten Komponisten schrieb: „Ihre Freiheit und Kühnheit der Harmoniebehandlung ist erstaunlich, aber

erweckt keine Spur von Mißbehagen, da sie von einem starken Gefühl strenger

Logik (!) getragen wird, so daß ich die Überzeugung hege, daß Sie einer der berufensten Nachfolger Richard Wagners sind."

Am 17. November dirigierte Pfitzner zum erstenmal im Theater, und zwar die Musik zu „Mein Leopold". Von Wichtigkeit wurde die Auffühmng eines Bruchstückes des „Armen Heinrich" in einem

der unter Emil Steinbachs Leitung stehendm Mainzer Abonnements­ konzerte am 5. Dezember. Als mir geschrieben wurde, Sistermans

wolle in einem Mainzer Abonnementskonzert die Erzählung Dietrichs

aus dem „Armm Heinrich" und die Oluf-Ballade fingen, frug ich mich, welcher von unseren Freunden ihn wohl dazu gepreßt habm möge;

dmn ich wußte, daß persönliche Beziehungm zwischen dem berühmten

Sänger und dem unberühmtm Komponisten nicht bestanden. Die Hoff­ nung, daß ein ausübender Künstler Pfitznersche Sachen aus irgend

einem fernliegenden Motiv, etwa weil sie ihm gefielen, auf sein Pro­

gramm setzen werde, hatte ich mir im Laufe der Jahre abgewöhuk. Und doch war es in diesem Falle so. Sistermans ist sich vielleicht selbst

nicht bewußt, welch unabsehbare Dienste er Pfitzner, ohne viel Worte

zu machen, durch die Tat gellistet hat. Jahrelang waren die von chm

gesungenen Lieber das einzige, was von Pfitzner in deutschen Konzert­ sälen zu hören war. Damals in Mainz hat er, man kann wohl sagen, 5*

die Aufführung des „Armen Heinrich" ermöglicht. Dieses Werk galt allgemein als Gipfel der Verrücktheit und für völlig unaufführbar,

wenngleich der liebenswürdige Direktor des Mainzer Theaters in seiner

impulsiven Art die Aufführung leicht versprochen hatte. Indem Si stermans die Erzählung Dietrichs vortrug, gab er eine Probe des

Werks und überhaupt den Mainzern zum erstenmal eine Probe von PfiHners Schaffen (die Aufführung der Oluf-Ballade wurde in letzter

Stunde durch den Tod Anton Rubinsteins unmöglich gemacht, da die Hälfte des Abends zu einer Gedenkfeier für Rubinstein verwendet werden

mußte) und gewann so Pfitzner einige begeisterte Freunde in Mainz.

Alle diese Umstände sind einer Anzahl Personen bekannt. Aber aller Anstrengungen unerachtet schliefen die Vorbereitungen wieder ein. Pfitzner konnte keine Proben bekommen, wurde von morgens bis abends mit untergeordneter Tätigkeit beschäftigt, und wenn sich auch

die Solisten aus persönlicher Gefälligkeit zum Probieren herbeilie­

ßen, von Orchester- und Chorproben war keine Rede. Der Schluß der Saison stand bevor; daß Pfitzner darüber überhaupt nicht hin­ wegkommen würde, wenn die Aufführung nicht zustande käme, war allen klar, die ihn näher kannten. Da ereignete sich etwas, das soviel

ich weiß, bisher niemanden bekannt geworden ist, ich glaube auch Pfitz­

ner selbst nicht; aber die erste Aufführung des „Armen Heinrich" ge hört der Kunstgeschichte an, und ich meine daher, auch den letzten

Schritt erzählen zu sollen, der sie endgültig ermöglichte. Im Moment

äußerster Not, als alles verloren schien, begab sich eine Pfitzner ver­ ehrende junge Dame, ohne daß jemand etwas von ihrem Vorhaben

wußte, mit einem Klavierauszug des „Armen Heinrich" bewaffnet, in das Schloß zu Darmstadt und wünschte den als musikalisch bekannten

Großherzog von Hessen zu sprechen, natürlich zum großen Erstaunen

der diensttuenden Beamten und Offiziere; sie wurde von einer Stelle an die andere gewiesen, und da sie sich standhaft weigerte, jemand

anders als dem Großherzog selber zu sagen, worum es sich handle, wurde ihr endlich zugesagt, ein Brief in dem sie ihr Anliegen vortrage, werde unmittelbar in des Großherzogs Hände gelangen. Den Kla­

vierauszug beilegend, bat sie nun schriftlich den Großherzog, von dem 4o

Werke Kenntnis zu nehmen, und falls es ihm dessen wert erscheine,

möge er dem Komponisten, für den alles von der Ausführung abhänge, eine unschätzbare Förderung erweisen, indem er dem Mainzer Stadtcheater seinen Besuch für die erste Ausführung „anmelden" lasse; zu

kommen brauche er ja nicht. Einige Tage darauf traf bei der Direk­ tion des Stadttheaters in Mainz ein Telegramm vom großherzog­

lichen Hofmarschallamt in Darmstadt ein, das die Direktion um Aus­ kunft über das Datum der ersten Ausführung des „Armen Heinrich"

ersuchte, da der Großherzog (der NB. noch nie das Mainzer Theater betreten hatte) ihr beizuwohnen gedenke. Das wirkte; nun war die

Ausführung gesichert. Dazu kam, daß am 23. März der Landgraf von Hessen in Mainz eintraf, um den letzten Proben und der ersten

Aufführung beizuwohnen. Unter den durch Sistermans' Vortrag von Dietrichs Erzählung

für Pfitzner Gewonnenen war der damallge Redakteur des „Mainzer Anzeiger", Hans R. Fischer; dieser hatte einen so tiefen Eindruck er­ halten, daß er sich vorsetzte, allem Hohn und Spott zu Trotz unaus­

gesetzt seinen Lesern zu sagen, wofür er Pfitzner halte; was er denn auch während Pfitzners ganzen Mainzer Aufenchalts treullch getan

hat. Was das in der ersten Zeit hieß, davon kann sich kaum jemand einen Begriff machen. Nach endlosen Verschiebungen sollte nun die

Ausführung am 2. April 1895, also dicht vor Schluß der Saison, stattfinden. Am Tag der Ausführung — leider besitze ich das Blatt

nicht, ich würde sonst die Notiz gerne abdrucken — hatte Fischer den Mut, in seiner Zeitung ein Ereignis von musikgeschichtlicher Bedeu­ tung und einen ungeheuren Erfolg zu prophezeien. Wäre der ,Mrme

Heinrich"

durchgefallen,

so hätte sich Fischer unsterblich lächerlich

gemacht. Um eine Aufführung des „Fest auf Solhaug" abzuverdienen,

blieb Pfitzner auch den nächsten Winter in Mainz. Die erste Auf­ führung fand am 28. November 1895 statt; der Eindruck war auf

manche der anwesenden bekannten Musiker noch größer als der des

„Armen Heinrich", und einer von ihnen verstieg sich zu dem Ausspruch: 4i

„In Pfitzners Musik offenbart sich ein so großartiges, ungewöhnliches, an die erhabensten Aufgaben heranreichendes Talent im Bunde mit so gewandter Technik, wie sie selbst Wagner nicht besaß" (die letzten

Worte gesperrt gedruckt), während in einem anderen Blatt ein an­ scheinend ziemlich junger Verfasser derartige Vergleiche mit Beet­

hovens Egmont-Musik machte, daß einem Beethoven förmlich leid tun mußte. Trotzdem die Aufführung unter der Regie des trefflichen Schau­

spielers Georg Rücker staud, war es natürlich nicht möglich, Bühne und Orchester in idealen Einklang zu bringen, da zwei Probm sowohl

für das Studium des Orchesters als auch nebenbei die Arrangierung des Schauspiels mit dem Orchester genügen mußten. Überhaupt fan­

den von den bisherigen Aufführungen Pfitznerfcher Werke die meisten dicht vor Saisonfchluß, die anderen teilweise mit zweiter Besetzung oder mit einer ungenügenden Anzahl von Proben statt. In der er (leit

Aufführung des „Armen Heinrich" trat — mangels jeder Regie — der

Dietrich im ersten Auszug viel früher auf als unbedingt erforderlich

war; was das heißm will, brauche ich Kennern des Werkes nicht zu

fegen; in der ersten Wiederholung, bei der Heydrich verhindert war,

sang Hanfchmann — übrigens eine erstaunliche musikalifche Leistung — den Heinrich ohne Probe. Bei der Aufführung des „Armen Hein­

rich" im Winter 1896, die wieder mit Heydrich stattfand, war in Aline Friede eine Hilde von ungewöhnlicher Tüchtigkeit vorhanden. (Segen Ende des Mainzer Aufenthalts wurde das Interesse für

Pfitzner immer reger. Oberbürgermeister Dr. Gaßner stellte sich mit einem Ideallsmus, den man bei einem überbefchäftigten Manne in so

verantwortungsvoller Stellung nicht leicht zum zweiten Male finden wird, an die Spitze eines aus den erstm Mannern der Stadt be-

stehenden Hans-Pfitzner-Komitees und

dieses trat bald mit einem

schönen Konzert an die Öffentlichkeit, in dem Kwast, Kiefer, der Bari­

tonist Strathmann und die llebenswürdige, leider früh verstorbene

Koloratursängerin Dora Montin mitwirkten.

In Frankfurt war der Kreis von Pfitzners Verehrern inzwischen gleichfalls bedeutend gewachsen. Bevor der „Arme Heinrich" irgendwo

4a

aufgeführt worden war, hatte der Komponist das 955erf bei dem

Architekten Ravenstein, bekanntlich einem der ersten, die Hans Tho­ mas Bedeutung erkannten, vorgespielt; er war unzählige Male in der

Zwangslage, zu diesem elenden Notbehelfe zu greifen, und nur an die­ sem Abmd glaubt er am Klavier eine annähemde Vorstellung von der Musik gegebm zu haben. Die tiefe Ergriffenheit, in die Ravenstein

und seine unter dem Namen Mohor als Wagnersängerin bekannte Gattin sowie das anwesmde Thomasche Ehepaar verseht wurdm,

ward für die Zukunft des Komponisten von Wichtigkeit. Thoma hat

von da ab sein Schaffen und seine öffentlichen Darbietungm mit herzlichem Anteil verfolgt, und Ravenstein war unermüdlich für ihn

tätig und vereinigte sich nach der Mainzer Zeit mit anderen Frank­

furter Persönlichkeiten, um Pfitzners Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. — Gern gedenke ich auch der Förderung, welche die Frank­

furter Zeitung PfiHner erwiesen hat, indem sie nicht nach Zeitungsart dem Götzm der Berühmtheit opferte, sondern von Anfang an PfiHners

Bedmtung erkannte und seine Leistungen verfolgte. Ihrem Opern referenten, Hans Pfeilschmidt, verdanken wir einige der feinsinnigstm

Würdigungen PfiHnerscher Werke, insbesondere auch der Lieder. Am 7. Januar 1897 wurde der „Arme Heinrich" zum erstmmal

in Frankfurt aufgeführt, nachdem schon früher Nawiasky durch Vor­ trag von Dietrichs Erzählung gesucht hatte, für das Werk zu inter-

essierm. Der Eindmck des meisten, was in dm Zeitungen über die Dich­ tung des „Armen Heinrich" gesagt worden ist, ist beschämend. Wenn eine bedmtende Persönlichkeit stirbt, geht durch die Zeitungen eine

Anekdote oder eine Strophe, welche Goethe auf den Derstorbmen ge­

dichtet hak; es existiert eine ganze Literatur über den Toten, eine ganze

Sammlung von Anekdoten ließe sich erzählen, Goethe hak viel mehr

über ihn gesagt als die eine Strophe, Lenau hat auch ein Gedicht auf ihn gemacht — durch die Zeitungen geht die eine Strophe: das ist das Klischee, welches in diesem Falle verwendet wird. Beim Grun-

schm „Armm Heinn'ch" ist das Klischee für Zeitungskritiker der bekannte

Ausspmch Goethes über den „Armm Heinrich" von Hartmann

von Aue; nur einer hat gemerkt und gesagt, daß es hier gar nicht hin­ paßt. Dr. Batka nämlich schrieb anläßlich der ersten Prager Auf­

führung (Bohemia vom 26. September 1899): „Die altschwäbische Legende vom „Armen Heinrich" gehört in ihrer Behand­ lung durch Hartmann von Aue allerdings zu den bekanntesten Erzählungen des

deutschen Mittelalters.

Simrork, Chamisso und Wolzogen haben sie ins Neuhoch­

deutsche übertragen; auch eine Übersetzung ins Italienische ist erschienen. FürOpernztvecke indes wurde das Gedicht von unsern die altdeutsche Epik um die Wette

ausschrotenden Librettisten seltsamerweise vor Pfitzner nicht verwendet, vielleicht weil eine Äußerung Goethes, dem die Erzählung trotz der kristallenen Verse Hart­

manns nur Ekel erregt hatte, vor einer Benutzung zu warnen schien. Aber derselbe

Goethe hat ja auch gelehrt, daß kein realer Gegenstand unpoetisch sei, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weiß."

Die anderen, welche unvorsichtig das'Goethe-Klischee gegen den

Text des „Armen Heinrich" verwandt haben, verraten dadurch, daß sie von Goethes Ästhetik keine Ahnung haben. Es würde viel zu weit

führen, wollte ich hier alle die Aussprüche Goethes anführen, in denen er sagt, daß es auf die Behandlung und nicht den Stoff bei einem Kunstwerke ankommt, nur ein Goethefches Wort will ich anführen, weil es wie auf unsern Fall gemünzt ist: „was ist denn überall tragisch

wirksam als das Unerträgliche?" Ist es denn keinem jener Zeitungs­

schreiber in den Sinn gekommen, daß auch unter den ihnen bekannten Stücken eins ist, dessen Inhalt, rein stofflich, als Mordgeschichte betrach­ tet, viel unerträglicher ist als der des „Armen Heinrich" ? Die „Braut

von Messina" enthält eine solche Fülle von Mord, Totschlag und Blutschande, wie sie von einem Drama mit fünf Personen nur irgend

zu verlangen ist. Aber durch den Chor hat Schiller das Schreckliche

des Vorganges in eine höhere Sphäre gehoben, so daß es dem Zu­ schauer nicht so zum Bewußtsein kommt, wie es bei einem Drama mo­ derner Form der Fall sein würde. Noch viel größer ist der Abstand zwischen einem Epos und einem musikalischen Drama; schon aus die­

sem Grunde hat das Wort Goethes über Hartmanns Epos mit der Grunschen Dichtung nichts zu tun. Da ich schon auf eine so unwesentliche Sache wie die Ansicht der sich treffend als Publizisten (Veröffentlicher, im Gegensatz zum

Verinnerlicher, dem Künstler) bezeichnenden Leute eingegangen bin,

darf ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß andere Leute, die sich mindestens ebenso eingehend wie jene mit der Bühne und ihren

Erfordernissen beschäftigt haben, anders über die Grunsche Dichtung denken, daß nämlich Bulthaupt, Gerhart Hauptmann und Ludwig Fulda sie sehr schön finden.

Gewohnt, auszusprechen was ist und nicht was sein sollte, muß ich hier doch einmal sagen, was sein sollte; nicht als ob ich glaubte,

daß damit etwas erreicht werde, sondern der Wahrheit wegen; ich

weiß, daß man eigentllch die Wahrheit nur während des Karnevals

sagen darf, bitte also um Entschuldigung für diesen Verstoß gegen die Regeln des guten Tones. Der „Arme Heinrich" gehört nach Bayreuth.

Es wird jedem Wissenden ein schrecklicher Gedanke sein, Parsifal dem Wochenreperkoire der Hof- und Skadttheater oder auch den, der He­ bung des Fremdenverkehrs gewidmeten sogenannten Musterauffüh­

rungen eingereiht zu sehen. Ebenso ist eine vollendete Aufführung des

„Armen Heinrich" nur in Bayreuth möglich. Die Höhe seines Stoff­ gebietes, der Stil, die Weihe des ganzen Werkes machen eine voll­ endete Aufführung in einem gewöhnlichen Opernhause unmöglich; nur

in Bayreuth könnte der Grundton getroffen und festgehallen werden, wodurch es erst mögllch würde, das Werk in seiner Vollkommenheit zu erfassen; alles was bei den bisherigen Aufführungen als Unvoll­

kommenheit erschienen ist, würde dort als notwendig und schön erkannt werden.

Richard Wagner hatte furchtbarer denn irgendein Künstllr mit denen zu kämpfen gehabt, die das Erbe der vorangegangenen großen

Künstllr zu wahren behaupten; er wußte, daß es einem großen Künstler

nach ihm gerade so ergehen würde; daß dieselbe Sorte, die ihn in den Zeitungen mit Schmuh bewarf, einige Jahrzehnte später vor seinem Na­ men auf dem Bauch liegen würde, um besagtes Geschoß gegen das in

Zukunft neu auftretende Große zu verwenden, daß, wenn der Name Wagner anerkannt sein würde, der Name X. Y. durch ihn nicht

aufkommen werde; daß die Mäcene ihr Geld für ein Wagner-Mu-

seum statt für die Aufführung der Werke von X. Y. verwenden

würden, so wie dereinst, wenn ste dem X. Y. ein Denkmal errichten, btffm geistiger Sohn Y. Z. in irgendeiner Dachkammer verhmigern

wird. Das alles sah Wagner voraus, und daß es in Deutschland we­

nigstens eine Stelle gebe, an der die lebende Produktion und nicht die Konservierung beziehungsweise geschäftllche Verwertung der früheren

Hauptzweck sei, das war di« Bestimmung, die er Bayreuth gab. Wagner schreibt u. a.: er bestimme das Festspielhaus für solche

Werke, „welche der Originalität ihrer Konzeption und

ihres wirklich deutschen Stiles wegen auf eine besonders kor­

rekt theatrallsche Aufführung Anspruch zu erheben haben". Um nicht ungerecht zu sein, muß man die ungeheueren Schwierigkeiten beden­ ken, welche der Verwirklichung von Wagners Absicht entgegensiehen.

Nachdem bis jetzt einzig die Meisterwerke, für die es zuerst geschaffen, in den Räumen des Festspielhauses geherrscht haben, welche Verant­

wortung, zum erstenmal einen nicht von Wagner geschriebenen Ton

erklingen zu lassen! Geradezu entheiligt würde der Raum, falls ein Unwürdiges hier in die Erscheinung träte, wenn nicht ein Werk voll

höchster Weihe hier zur Aufführung gelangte. Wenn Frau Wagner auf den Rat von Männern hin, deren Urteil sie hochschätzt, wie

Hans Thomas, Engelbert Humperdincks, den „Armen Heinrich" bei den nächsten Festspielen zur Aufführung brächte, ich möchte die Hand

dafür ins Feuer legen, nicht bildlich, sondern wirklich, daß Frau

Wagner selbst bei den letzten Tönen des Werkes den Eindruck haben

würde, mit dieser Aufführung den Willen ihres Gatten erfüllt zu haben. Äa sie aber sagen wird, daß ihr mit einer verbrannten Hand nicht viel gedient sei, so könnte sie das eine wenigstens tun: sich das

Werk vom Komponisten vorspiekn lassen und dann selbst urteilen. Es handelt sich nicht nur um die Zukunft Pfitzners, sondern auch um die Zukunft von Bayreuth; darum, ob dieses ein höheres Opern­

theater sein wird, oder etwas ganz anderes.

Wir sind uns

bewußt, uns mit diesem Ansinnen lächerlich zu machen und vermut­ lich niemanden auf unserer Seite zu haben, außer Richard Wagner.

Nach der Frankfurter Aufführung siedelte PfiHner nach Berlin über; er tat biente einzig aus dem Grunde, daß dort der „Arme Hein­

rich" zur Aufführung angenommen war, und er hoffw, durch sein Dort­ sem die Aufführung beschleunigen zu können. Nach einiger Zeit wurde

ihm eine Stellung als Kompositionolehrer am Sternschen Konserva­ torium angetragen, welche er noch jetzt innehat. Don dramatischen

Aufführungen erlebte er inzwischen die Aufführung des „Armen Hein­ rich" in Darmstadt unter de Haan, bei welcher nun der einst so hilfreiche Großherzog das Werk kennen lernte, und die Aufführung des „Armen

Heinrich" in Prag. Das deutsche Landestheater in Prag war übrigens die erste Bühne

gewesen, welcher seinerzeit der „Arme Heinrich" «ingereicht wurde. Der

damallge Gerste Kapellmeister hatte jedoch die Musik mißbilligt, was der Direktor Angelo Neumann bedauerte, da ihm die Dichtung einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Ich führe das an, weil auch er zu den Leuten gehört, die nicht ohne Kenntnis des Bühnenwesens

sind. Eine ganz besondere Freude bereitete bei der Prager Aufführung

dem Komponisten das Orchester, das, trotz angestrengter Beschäf­ tigung in langen Proben dicht vor der Aufführung, nicht nur gern,

sondern Hingebmd, ja mit Begeistemng sich dem Studium des Wer­ kes widmete. In Prag hatten auch Leo Blech und der bekannte

Musikästhetiker Richard Batka Gelegenheit, den „Armm Hein­ rich" zu hören. Batka hak (im zweiten Oktoberheft des Kunstworts,

i8gg) mit Notenbeilagen über das Werk gehandelt. Pfitzner arbeitet nun an einem neuen Drama, dessen Dichtung wie die des „Armm Heinrich" von James Grün stammt; es heißt „Die Rose vom Liebesgarten" und behandell einen frei erfundenen Stoff.

Ein erfahrener Dramaturg findet die Dichtung vom bühnentechnischen Standpunkt aus unübertrefflich; ohne übermäßige Schwierigkeiten zu

mchalten, bringe sie unerhörte Effekte. Wenn es PfiHner gelingt,

das Werk so zu vollmden, wie er es begonnen, so wird dies das Werk sein, welches ihm allerorten Bühne und Publikum erobert. Die Dich­

tung ist von jenem Reichtum an Leidenschaft, Vorgängen und Bildem,

ohne den eine unmittelbare Wirkung auf zahlreiche Theaterauditorien

nicht möglich zu sein scheint. Währmd in den spätern Akten Pfitzner die Fülle seiner Ro­

mantik wird entfalten können, bot der Charakter des Vorspiels — das Werk besteht aus einem Vorspiel, zwei Akten, einem Nachspiel — von dessen Musik wir bis jetzt einzig sprechen können, dem Kompo­ nisten Gelegenheit, die kindliche, heitere, sonnige Seite seiner Kunst erstrahlm zu lassen; eine ununterbrochene Reihe melodischer Inspira­

tionen der entzückendsten Art, von denen die bezaubemde Instrumen­

tation natürlich nicht zu trennen ist, zieht an uns vorüber; ein gleicher Reichtum melodischer Einfälle ist in der neuerm dramatischen Literatur, außer in dem dritten Akte von Lohmgrin, nicht zu finden.

Die Innigkeit, Heiterkeit und Naivität der Musik des Vorspiels hat denn auch alle hervorragendm Musiker, welche sie kennen, hinge-

rissm; unter anderm Dr. Rottmberg, d'Albert, Frederic Lamond, Gustav Holländer, Julius Hey, Emil Steinbach.

In Berlin gesellten sich zu den alten Freunden von Pfitzners Kunst, von dem Konzert im Frühjahr 1893 her, zu Iedliczkas, Liebans eine ganze Anzahl neue; er gewann die Frmndfchaft des berühmten

Heldentenors Ernst Kraus und seiner Frau, der hoffentlich recht bald dm „Armen Heinrich" an der Berliner Hofoper zu singen haben wird, mancher Schriftsteller, wie Philipp Steins und des Redakteurs der

„Gesellschaft", Dr. Ludwig Iacobowski, dessen Interesse sogar vor

der Aufnahme eines so anstößigm Artikels wie des vorliegenden nicht zurückschreckte. Seit Sommer 1899 mit einer Tochter seines ehemaligen Lehrers Kwast aufs glücklichste verheiratet, werden er und ferne

Frau von der Außenwelt kaum mehr erhoffen, als von Zeit zu Zeit eine einigermaßen anständige Aufführung eines Pfitznerfchm Werkes. Nochmals sei es gesagt, es handelt sich dabei nur dämm, dem Künstler das zu bieten, was er zum Weiterarbeiten unumgänglich braucht. Der Beifall der Zeitgenossen dürfte ihm nach den Vorgängen der letzten

Jahre kaum noch von Wert sein; eine Generation, die einem Leon

cavallo zugejubelt hat, hat keine Kränze zu vergeben. Ob einmal ein

Werk an einen Zuhörer kommt, der es zu würdigen weiß, das läßt

sich nicht vorausberechnen. Der Künstler ist ein Sämann; wenn ihn

einer fragt, ob seine Saat aufgehen werde, so kann er nur antworten:

Frage die Sonne.

Wer annehmen wollte, daß nach so vielen Erfolgen die Auf­

führungsverhältnisse für PsiHner sich gebessert haben müß­ ten, der ginge durchaus in die Irre. Bei der letzten Aufführung, der des Vorspiels zur Rose vom Liebesgarten, war lange Zeit überhaupt kein Chor zu bekommen, so daß schließlich einer eigens, zum Teil aus

Nichtsängern, zusammengestellt werden mußte; an manchen Tagen mußten mehrere Proben stattfinden, teilweise mit einzelnen Mitglie­ dern des Chors, nachts bis drei und vier Uhr waren die fehlerhaft kopierten Stimmen durchzusehen und zu korrigieren. Man wunderte sich, daß Pfitzner die Arbeit und Aufregung bei seiner Gesundheit

aushalten konnte, und fürchtete, daß er, bis die Aufführung heran­ käme, nicht mehr fähig fein würde, zu dirigieren. Wie hätten sich

die Leute erst gewundert, wenn sie sein Leben während der vorange­ gangenen zehn Jahre gekannt hätten. Eine Hoffnung, in Berlin „Das Fest auf Solhaug" aufführen zu können, hatte ihn den Sommer 1899

hindurch in Spannung gehalten; aber da der Orchesterraum des be­

treffenden Theaters zu klein war, um ein volles Orchester dort unter­ zubringen, mußte er leider auf diese Hoffnung, an der er sehr hing, verzichten. Es sollte jedoch noch ganz anders kommen. Im Winter

erfuhr er zufällig von einer Theateragentur, am nächsten Tage werde „Das Fest auf Sochaug" mit seiner Musik im Hamburger Thalia-

cheaker aufgeführt. Wahrscheinlich hatte die begabte Schauspielerin, die seinerzeit in Mainz die Margit gespielt hakte, ihrem jetzigen Di­ rektor mit Begeisterung von Pfitzners Musik gesprochen und dadurch

eine Aufführung herbeigeführt, von welcher der Komponist nun plötz­ lich freudig überrascht wurde. Er reiste nach Hamburg; als er ins

Theater kam, merkte er, daß eben eine Musikprobe war, und mochte wohl mmehmen, daß es sich um den ihm von Mainz her so wohl vertrauten

„Lumpaci Vagabundus" handle. Näher kommend, er­

kannte er jedoch an manchen Stellen den andersartigen Charakter des

probierten Werks: es war seine Musik zum „Fest auf Solhaug"; das

Orchester, das für die ihm sonst gestellten Aufgaben, etwa die vorhin

genannte, vermutlich sehr gut ist, enthielt so und so viele Instrumente

überhaupt nicht; diese waren einfach gestrichen; mit derselben Einfach­ heit waren Stellen, die zu schwierig für diese Kapelle waren, gestrichen.

Da Pfitzner sofort sah, daß es ganz hoffnungslos sein würbe, die Sache irgendwie verbessern zu wollen, legte er einen vergeblichen Pro­

test gegen die Aufführung ein und verbrachte den Abend in einem anderen Theater, wo, so viel ich weiß, sorgfältigst vorbereitet und

glänzend ausgestattet ein Werk von Bungert aufgeführt wurde. Wie unbekannt Pfitzner noch jetzt außerhalb der musikalischen Kreise ist, kann man daraus ersehen, daß die Kritiker nicht nur keine Ahnung

davon hatten, daß die Musik zum „Fest auf Solhaug", wo sie

oder ein Teil von ihr gespielt wurde, einstimmig als wunderschön be­ zeichnet worden war, sondern auch nicht einmal Pfitzners Namen

kannten und schrieben, die schreckliche Musik sei von „einem gewissen Pfitzner".

Es ist eine musikgeschichtliche Tatsache, daß manche Werke, die — abgesehen davon, daß sie später als wunderbar schön erkannt wur­

den — höchst effektvoll und brillant sind, bei den Zeitgenossen nicht durchzudringen vermochten.

Diese Tatsache ist ein Spezialfall der

Schwierigkeiten, denen alles Gute begegnet.

Es ist mir ganz unerklärlich, warum Lieder, wie das „Fn'eden", das jedesmal, wmn es gefungm wurde, da capo verlangt wurde, nicht

durch alle Konzertsäle gehm, warum die Lieder opus 2, die zu den dankbarsten Liedern gehören, welche es gibt, nicht von allen Soprani­ stinnen gesungen werden, warum Gura nicht das „Herbstlled", Reich­ mann nicht die Lieder opus 4 und die OlufBallade stngt. Aller

dings ist wenig und zum Teil Unpraktisches versucht worden.

Manche Komponisten besitzen nämllch die Gabe, für ihre Kom­ positionen Propaganda zu machen, bei anderen liegt die Beanlagung mehr nach der Seite des Komponierens. Ich will nicht verhehlen, daß

bei Pfitzner letzteres der Fall ist und daß er daher an dem langsamen Durchdringen seiner Sachen sozusagen selber schuld ist. Ich bin heute noch der Ansicht, daß, wenn er es geschickter anfinge, er leicht be-

sannt1) werden könnte; man möchte «ine gewisse Zweckmäßigkeit darin erkennen, daß

vielen Künstlern die früheren Werke geeignet waren,

den späteren den Weg zu bahnen; so glaube ich, daß auch bei Pfitzner einige seiner frühesten Werke hierzu am geeignetsten wären. Ich glaube, daß viele Konzertgesellschaften das Vorspiel zum dritten Akte des „Festes auf Solhaug" gern ausführen würden, wenn man es ihnen ein­

reichte, und daß chm der Erfolg überall sicher wäre; daß das im Druck

erschienene Orchester-Scherzo leicht bekannt werden könnte; ebenso die nicht schwierigm, zum Teil so heiterm Lieder opus 2. So könnte er in Konzerten zu Ansehen kommen und dadurch feinen dramatischen Werken den Weg ebnm. Doch das sind eben Gedankm eines Philo-

sophm und nicht eines Musikers. Diesem scheint vor allem das Horm

und das Schicksal seines jeweils letzten Werkes am Herzm zu liegen, ein so indirekter Plan wie der angeführt viel zu vernünftig zu sein. Mit

Recht konnte der oben gmannte Freund Karl Dimstbach Pfitzner ein­

mal charakterisierm als „unvernünftigen Musiker".

Von Pfitzners Persönüchkeit muß gesagt werdm, daß sie un­ modern ist. Ich möchte jedoch von der Reinheit seines Lebens, der Wahrhaftigkeit seines Wesens, dem vollkommenm Aufgehm in der

Kunst schon deshalb nicht weiter sprechen, weil die meisten unserer

Leser es doch nicht verstehen würden. Es hat sich in Pfitzners Leben

öfters gezeigt, daß für die höchstm Grade psychischer Helligkeit, ebenso wie für die höchsten Grade physischer Helligkeit, den Menschen der

Sinn fehlt.

Aber einen persönllchen Zug muß ich doch hervorheben, weil er gar nicht zu dem Bilde stimmt, das man sich von Pfitzner zu machen

pflegt. Er ist — ich kann bei diesem Gegenstand einige der mir im all­

gemeinen

nicht

sympathischen Superlative nicht vermeiden — von

1) Hier in München z. 23. war im Jahr 1900 noch nie auch nur eine

Note von Pfitzner zu öffentlichem Dortrag gebracht worden; dabei werden hier

verhältnismäßig wohl mehr Lieder von lebenden Komponisten gesungen, als in irgendeiner andern deutschen Stadt; allerdings meist von den zahlreichen einheimi­

schen Klassikern geliefert. Nicht einmal Pfitzners Komposition Linggscher und Heyse-

scher Gedichte kennt man hier.

allen Menschen, die ich lernte, der witzigste und humorvollste. Sein

Sinn für das Humoristische, insbesondere auch ein unübertreffliches

Nachahmungstalent, passen durchaus nicht zu dem

melancholischen

Bild, das man sich von Pfitzner macht, und das er durch die Macht

der Umstände in den letzten Jahren allerdings auch häufig darbot. Diese heiteren Seiten zeigen seine eigentliche Natur, die darauf ange­

legt war, rastlos zu komponieren, von Zeit zu Zeit zu dirigieren oder eine dramatische Aufführung zu leiten, und im übrigen sich in heiterer

Geselligkeit mit Freunden zu erholen. Das Kindliche seiner Natur macht ihn ungeeignet zum sogenannten Leben der Erwachsenen; alle wirkllch bedeutenden Menschen haben etwas Naives, denn sie alle

sind Gotteskinder. Manche sinö der Ansicht, darunter litten unsere Kunstzustände vor allem, daß sie nur die blasierten Reichen als Publikum zulassen

und die große empfängllche Masse des Volkes ausschließen. Gerade der Herausgeber der „Gesellschaft" scheint einen Beweis hierfür er­

bracht zu haben; seine literarischen Volksausgaben, die in Auflagen von je hunderttausend erscheinen, sind, soweit ich sehe, nächst dem in Auf­

lagen von je einer Million erscheinenden Kalender des Berliner Tierschutzvereins die verbreitetsten deutschen Bücher unserer Tage. Aber es ist doch zweifelhaft, ob die sicherlich vorhandene große Empfänglichkeit

der unteren Stände wirkliches Verständnis sei; es kommt diesen aller­ dings offenbar nicht wie dem feineren Publikum darauf an, daß mög­ lichst rasch und stark gespielt wird; sie scheinen Langsam und Leise zu

bevorzugen; wenigstens bemerkte ich, daß in einem Volkskonzert der Enthusiasmus, den das Lohengrin-Vorspiel entfesselte, sich bei einem

nichtssagenden Wiegenliedchen wiederholte; aber schließlich steht der

Geschmack für sentimentale Wirkungen, fürs Hypnotisierendem wirk­ lichen Kunstverständnis vielleicht nicht näher als der für virtuose Wir­

kungen, fürs Elektrisieren. Überhaupt kommen scheint's Leute, denen's mit irgendeiner idealen Sache vollkommener Ernst ist, immer mehr dazu,

von der jetzigen Generation nichts und nur von der nächsten, von denen, die jetzt jung sind, falls nämlich das Schöne in ihnen ausgebildet wird,

vielleicht (??? d. Derf.) etwas zu erwarten. Als Kinder waren wir

alle, Autoren und Leser, einmal sehr nett; wie sich der Mensch doch

verändern kann! Und so scheint es auch mir, daß nicht nur ausübende Künstler, sondern auch ein Publikum für sie erst erzogen werden müßte;

denn auch das Aufnehmen von Kunst ist eine Kunst, die Anlagm und

Ausbildung, ernstes Streben und Arbeiten erfordert. Das aber ist zweifellos, daß einzelne in den untern Ständen vorhanden sind,

denen die Kunst etwas anderes als Zeitvertreib ist, ferner daß es solche einzelne auch in den oberen Ständen gibt, und zwar — denken Sie! —

nicht nur in Berlin, sondern sogar in kleinen Fabrikstädtchen ftnd

Dörfern. Es gibt in der Tat, so unwahrscheinlich es klingt, Kunst­

freunde. Dazu muß man nun bedenken: baß die Mehrzahl dieser Ein­ zelnen, teils durch den Wohnort, an den sie gebunden sind, teils durch

Geldmangel, in ihrem Leben so wenig eine Beethovensche Symphonie

zu hören wie das Meer zu sehen bekommen. Es ist daher zu begrüßen, wenn jetzt gute Orchester reisen, und es wäre nur zu wünschen, daß

auch gute Schauspielerensembles reiste«» und daß beide die kleinen Orte, diese sogar ganz besonders, berücksichtigten. Die jetzigen Kastenver­ hältnisse sind wohl für die Kunst die ungünstigsten von allen; kein

Kastenwesen, zum Beispiel auch nicht das so verabscheute feudale, dürfte wahrer Kunstpflege so hinderlich sein wie das jetzige, das plutokratifche.

Es ist ein Mißstand, daß die Leute, die am meisten und

am schwersten essen, zur Verdauung den ersten Aufführungen musi­ kalischer

und

dramatischer

Werke

beiwohnen

und

über

sie zu

Gericht sitzen. Ich glaube jeder andere Stand, sagen wir zum Bei­ spiel die Beamten, wären hierzu geeigneter als die sogenannte Geld­

aristokratie. Das Pubükum, das deutsche Volk — dabei denkt man sich oft etwas ganz Unbestimmtes, und wenn man sich etwas Bestimmtes denkt,

häufig etwas ganz Einseitiges, nämlich einige ausgesuchte Leute. Auf

einer Reise in U-Zügen durch ziemliche Strecken von Deutschland habe ich mir die zufällig mitfahrenden Reisegefährten angesehen und

jeden, der ins Coupe kam, als Publikum für Kunstwerke gedacht, oder wenigstens zu denken versucht. Ich empfehle diesen Versuch zur Nach­

ahmung; und man wird erkmnen, daß die Welt dazu da ist, Geschäfte 8

53

mit ihr zu machen. Ferner habe ich zugehört, wenn feine Damen von

Konzert und Theater erzählten, deren Hauptpublikum sie sind. Ich er­ kannte, daß die Welt dazu da ist, unsere freien Abende auszufüllen.

Irgendwelchen Ernst kennen einzelne von den Damen, die ein Herz

und Kinder haben und dadurch die Not der Welt erfassen; die unbe­ mittelten Frauen sind durch den Druck der Umstände häusig weniger

leichtlebig; aber die Mehrzahl der reichen Damen betrachtet Theater und Konzert als eine Kondiwrei, die man abends besucht. Charakte­

ristisch für die Auffassung dieser Kreise ist, daß in der fast einzigen bei

chnen ernsteren Zeit, bei Trauerfällen in der Familie, die Sitte den Besuch jener Kunststätten verbietet, ebenso wie den von Tingeltangels und Eßgesellschaften.

Wie auch ernstere, der Kunst nahestehende, ja selber produzierende

Leute sie auffassen, welche Kluft sie von dem echten Künstler trennt, der mit jeder Faser seiner Existenz an seinen Werken, und nicht nur

an den seinigen, hängt, mögen einige Beispiele aus Bürgers Korre­

spondenz zeigen. Am 27. Februar 1780 schreibt Boie an Bürger: „Vielleicht treibt die Langeweile mich gar, wieder selbst Verse zu machen."

Am 22. Mai 1781 schreibt Gramberg an Bürger: „Verse machen mir mehr Wallungen als Prosa.

Daher hab ich aus medi­

zinischen Gründen dem Dersemachen auf eine Zeitlang entsagt."

Am 6. August 1781 schreibt Boie an Bürger:

„Was machst Du sonst?

Wohl wenig.

wisse Menschen ihrem Mädchen.

Du begegnest der Muse, wie ge­

Sie bekümmern sich nicht um sie, wenn nicht

das Bedürfnis sie treibt." Am 15. November 1782 schreibt Minister von Zedlitz an Kanzler von Carmer:

„Da ich besonders darauf Bedacht nehme, alle Gelegenheit aus dem Wege zu räumen, daß die Jugend keinen frühen Hang zu der alle Seelenkraft und alle

zu Geschäften erforderliche Tätigkeit untergrabenden Poeterei bekomme, so kann ich mit gutem Gewissen den Bürger, so sehr ich ihn auch schütze, in meinen» Departement nicht versorgen."

Wo soll da der Künstler das Publikum finden, das er sucht? Wo die Leute, denen nicht die Nebensachen des Lebens die Hauptsache

sind? Die fühlen, daß sie mitten inne stehen zwischen Leben und Tod,

Geburt und Grab, Glück und Unglück, Haß und Liebe, Himmel und

Erbe; und nicht zwischen dem i. Juli und dem i. August, der Schu­ sterrechnung und der Schneiderrechnung, der Breitestraße und der

Langestraße? Denen nicht die Musik zum einen Ohr hineingeht und

zum andern hinaus, ohne dazwischen etwas zu finden, das des Ver­ weilens wert wäre?

Aber nicht das Publikum ist der wichtigste Faktor für den produ­

zierenden Künstler; sondern die reproduzierenden Künstler sind es. Es gibt keinen Stand, den ich persönlich so liebe wie den der ausübenden Künstler, der Musiker und Theaterleute; ich glaube, daß kaum in einem anderen Stand so viel wahrer Idealismus, so viel edles Ge­ fühl zu finden ist. Und es wäre ja auch merkwürdig, wenn der heiße Golfstrom der Liebe, den die Musik im kalten Meere des Lebens dar­ stellt, nicht wenigstens zu Zeiten den Musiker erwärmt.

Aber es

fehlt diesem Stand bei uns häufig an Initiative. Ich will nicht von

den Strebern sprechen, bei denen sich das Entzücken über eine zeitge­ nössische musikallsche Komposition nur einstellt, wenn sie von einem berühmten und einflußreichen Mann, oder von einem Vorgesetzten,

oder von einem, opulente Diners gebenden Reichen verfertigt ist (viele

Liedersängerinnen können sagen: Wea Brot ich esse, des Lied ich singe), nein, auch bei denen, die es ernst nehmen mit ihrer Kunst, bedarf es in Deutschland meist irgend eines äußeren Anstoßes, bevor sie sich der

Darstellung eines zeitgenössischen deutschen Werkes widmen. Der Mu­

siker begeistert sich, wenn er ein schönes Werk kennen gelernt hat; „dafür will ich eintreten, es gibt doch nichts Schöneres, als einer großen Sache zu dienen". Kam Sommer, Herbst und WinterSjeit, viel Not und Sorg' im Leben,

manch' «hlich Glück daneben,

Kindtauf', Geschäfte, Zwist und Streit,

es kommen persönllche Beeinflussungen verschiedener Art, und schließlich singt und spielt man, was alle Welt singt und spielt; es sei denn, daß man von einem Komponisten aus Vanity Fair gepreßt

55

wird, der natürlich gegenüber dem unpraktischen Kollegen aus Elysium

mannigfache Vorteile besitzt. Und außerdem fehlt es unter den ausübenden Künstlern an Zu­ sammenwirken zu idealen Zwecken; das Zentrum der musikallfchen Ver­

hältnisse ist nicht die Musik, sondern Berlin. Das ganze übrige, das

heißt nichtberllnerifche Deutschland ist darüber einig, daß die Größe

der Berliner weniger in Herz und Hirn als im Mundwerk beruht. Dieses hervorragend ausgebildete Organ verwenden sie unter anderem dazu, auf dem Gebiet des Theaters und der ausübenden Musik jeden

Winter einige neue Größen hinauszuschreien, und dadurch dem rekla-

mehaften, immer nach neuen Sensationen begehrenden Zuge des Zeit­ alters entgegenzukommen; in der Regel halten sich diese neuen Re­

nommees nicht lange. Einen ganz anderen, mehr dm sollderm Re-

nomees einer früheren Zeit verwandten Ruf hat sich unter den Vertretem der jüngeren Gmeration ausübender Musiker fast nur Eugen d'Albert erworbm und nun bereits durch eine ganze Reihe von Jahren

erhalten. Es scheint, daß in allen musikalischen Kreisen — und diese

sollten an Stelle der literarischen wieder die Oberhand im Musik­ leben erhalten — eine Stimme über ihn ist; er wäre daher wohl am meistm geeignet, in der Weise wie das früher Liszt und Bülow getan habm, dirigierend und spielend dec Musik eine Stätte zu be-

reitm, an der sie von dm Künstlern und Hörem gefundm werden kann, denm es emst mit ihr ist. Der Wunsch nach einem neuen Bülow

ist ein tiefliegender und nicht vereinzelter; man hat den Eindmck, daß die Pultvirtuosen moderner Art den Werkm der Klassiker wie boten der Gegenwart gegenüber einen vollkommen andersartigen Stand

punkt haben, als ihn Liszt und Bülow einnahmen; man traut ihnen nicht zu, daß sie mit Aufgabe aller persönlichen Interessen, wie jene es so oft getan haben, in einer Sache aufgehen können: in dm Werken

Beethovens oder eines weltunberühmkm nur X Y die Werke Beet­

hovens oder X Ys

zu sehen vermögm, und nicht einen Gegenstand,

an dem man seine Virtuosität zeigm kann. Gewiß haben die beiden genannten Künstler zuweilen geirrt, aber ihr Streben war immer auf

das Höchste gerichtet, und das ist es, was man — um es einmal offen

zu gestehen — an den meisten der jetzigen Rundreisedirigenten, ich darf wohl sagen ziemlich allgemein, bezweifelt.

Man sagt: das Große dringt schließlich durch; und in der Tat,

es scheint so zu sein. Aber wie und warum das der Fall ist, ist nicht leicht zu begreifen.

Überall schwimmt doch der Schmutz oben und

ballt sich zusammen. In jeder Zeitung, die man in die Hand nimmt,

an allen Konzertprogrannnen und Theaterrepertoires kann man's be­ obachten, wie die Cliquen an der Arbeit sind; ein eitler Laste lobt den andern, mitleidig auf die großen Meister der Vorzeit herabsehend.

Wo aber gar ein bekannter Namen oder Geld hinter einer Produktion

steht, da häufen sich die begeisterten Verehrer der modernen Meister, die sich von den früheren Meistern unter anderem dadurch unter­

scheiden, daß es ihnen mehr darauf ankommt, etwas zu scheinen als darauf, etwas zu sein. Und doch sollte alles das nichts helfen? Fol­

gende Beobachtung kann vielleicht dazu bn'tragen, den Zusammenbruch der falschen Renommees zu erklären. Es scheint, daß nur wirkliche Größe wirkllche Verehrung erzeugt. Wenn sich die modernen Cliquen­

brüder auch gegenseitig in den Himmel heben, im Grunde glaubt doch jeder nur an sich; die anderen dienen ihm teils zur Staffage, teils

braucht er sie der Gegenseitigkeit wegen. Bei sich bietender Gelegenheit wird er gern den Brüdern in Marsyas einen Fußtritt versetzen;

und so kommt es, daß schließlich die Clique in Streit gerät und der moderne Krieg aller gegen alle, nämlich das Schimpfen aller über alle, losbricht. In zoologischen Gärten bitte ich des Vergleichs wegen zu

beobachten, wie eine große Schar Affen friedlich auf einer Stange

beisammensitzt; mit einemmal — ohne erheblichen Anlaß, vielleicht ist einer von ungefähr an seinen Nachbarn gestoßen — springen alle auf und fahren wutentbrannt aufeinander los.

Nur die Verehrung von Großem also scheint uneigennützig und

dauernd zu sein.

Natürlich ist Pfitzner zuweilen Gegenstand von

Backfischschwärmereien gewesen, deren Ewigkeit nach Monaten zähll;

aber seine Kunst ist zuweilen auch wirklich erkannt worden; bei jeder

Aufführung fand sie einen oder den anderen Erkenner; und mit jener

Begeisterung, die nur aus Idealem entspringt, werden diese einzelnen,

so wenig zahlreich sie im Vergleich mit den Dienern der Tagesgrößen sind, ihn im Laufe der Zeit an die gebührende Stelle sehen; voraus

sichtllch allerdings erst dann, wenn es zu spät ist. Wenn alle die Freunde von Pfihners Schaffen, deren ich bei

Darstellung seines Lebens zu gedenken hatte, die in Mainz, in Frank-

flirt, in Berlin und anderen Orten zusammenwirkten, wäre vielleicht eine gute Aufführung seiner bisherigen Werke in Form eines Musik­

festes und manches andre zu ermögllchm;

denn eine Zeit ist jetzt, Wo sich die Guten eng verbinden sollten. Natürlich müßte ein derartiges Unternehmen nicht einer Person, son­ dern allem Großen in der Kunst gewidmet sein: der Weg zum Him­ mel ist (im Gegensatz zu einem anderen Weg) so eng, daß alle, die

ihn gehen, einander nah sind. Für Pfitzner wäre die Direktion und Regie nicht nur der eignen dramatischen Werke, sondern auch der an­ deren musikdramatifchen Meisterwerke die angemessene Tätigkeit; für alle, die ihn wirklich kennen, ist es ganz außer Frage, daß unter den jetzt lebenden

Menschen

keiner

an Verständnis zum Beispiel der

Wagnerschen Werke ihm nahe kommt. Indessen, um Pfitzner an die angemessene Stelle zu setzen, müßte ein Wunder geschehen, wie es in Wagners Leben das Eingreifen König Ludwigs war. Wir wollen

jedoch uns nicht in Träume verlleren, nicht zu ernst werden und nicht anfangen zu predigen; denn jeder Prediger ist ein Prediger in der

Wüste, weil da, wo gepredigt wird, die Leut« fortlaufen.

Nur noch eine allgemeine Betrachtung. Der geneigte Leser wird

ja gemerkt haben, daß alles, was ich hier sage, nicht einer Person, sondern einer Sache gilt, — der deutschen Kunst. Pfitzner wäre der

erste, wenn seine Sache nicht die der deutschen Kunst wäre, seine Werke und sich selbst ins Feuer zu werfen.

Die Wünsche, die ich

hier ausgesprochen habe, sind mir in der Tat zu ernst, als daß sie in einer Broschüre ohne Rest auszudrücken wären. Was hier nur an gedeutet ist, hat Goethe ganz objektiv, mit derben Umrissen Holzschnitt

artig -«gestellt in „Künstlers Erdenwallen" und „Künstlers Apo­

theose". Wir sehen den Künstler bei seiner Arbeit; die Not des

Tages, die Unverschämtheit des Pöbels, das ist die Welk, in der er leben muß; in mühsam erbeuteten Stunden schafft er an seinem Werk, dem Bilde der Venus Urania. Und dann sehen wir, wie nach Jahren,

lang nach des Künstlers Tod, dieses Bild als köstlicher Besitz von

einem Fürsten für große Summen erworben wird; wie es der Galerie als schönste Zierde eingerecht wird; die Künstler und Kunstfreunde,

die zugegen sind, können sich nicht fassen vor Entzücken, am tiefsten

aber ist ein Kunstjünger erschüttert, der den Maler der Venus Urania als höchstes Vorbild verehrt. Oben auf einer Wolke erscheint dieser,

unser einst so verachteter Künstler, von der Muse geführt; sie zeigt

ihm den Triumph seiner Kunst. Er aber, von dieser Apocheose nicht

befriedigt, sagt zur Muse: Was hilft's, o Freundin, mir, zu wissen.

Daß man mich nun bezahlet und verehrt? O, hätt' ich manchmal nur das Gold besessen. Das diesen Rahm jetzt übermäßig schmückt! Mit Weib und Kind mich herzlich satt zu essen. War ich zufrieden und beglückt. Ein Freund, der sich mit mir ergetzte.

Ein Fürst, der die Talente schätzte, Sie haben leider mir gefehlt,Im Kloster fand ich dumpfe Gönner.

So hab' ich, emsig, ohne Kenner

Und ohne Schüler mich gequält. (Hinab auf den Schüler deutend.)

Und willst du diesen jungen Mann Wie er's verdient dereinst erheben.

So bitt' ich, chm bei seinem Leben, So lang er selbst noch kau'n und küssen kann,

Das Nötige zur rechten Zeit zu geben!

So und nicht anders würde Mozart, würde Wagner sprechen,

uns an unsere Pfllchten gegen die zeitgenössischen Komponisten er­ innernd. Ich mußte im vorhergehenden mehrmals mir merken lassen,

daß nach meiner Ansicht manche dieser Komponisten überschätzt werben.

Allerdings ist mir ganz klar, daß einige von ihnen, die man jetzt neben oder über Pfitzner stellt, später neben ihm aussehen werden wie Reis-

siger neben Beethoven, andere wie Kotzeluch neben Beethoven. Aber

es ist weit besser, alle zeitgenössischen Komponisten für Beethovens zu halten, als alle für Kotzeluchs. Das Schönste wäre freilich, wenn

jedem gleich sein richtiger Platz angewiesen würde, schon deshalb, weil das Schlechte dem Guten den Raum wegnimmt und weil das Lob seinen Wert verliert, wenn es so gemein wird wie die Höflichkeit.

Aber es ist kein Unglück, wenn ein eigenllich höflich zu behandelnder Dutzendmensch einige Jährchen als Titan von Verwandten und Be­ kannten bewundert wird, man kann sein Antlltz den Lesern der Famillenblätter ruhig vorsetzen, da unter ihnen selten Satiriker sind,

und man kann dem Titanen und seiner Famille gewiß die Freude

gönnen, daß durch sein Titanengeschäft sich ihnen das Leben in jeder Weise freundllcher gestalte; das alles ist kein Unglück. Aber ein großes Unglück kann es sein, wenn das Große unterschätzt wird.

Soviel

könnte Deutschland doch endlich gelernt haben. Wenn auch nicht besser oder gescheiter, so doch wenigstens erfahrener könnten die Menschen werden. Es ist nur verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, daß wir die Dankesschuld, die wir alle gegen die Kunst haben, da abtragen, wo

wir sie abkragen können: den Lebenden. Alles Jammern über Schuberts Schicksal hilft nichts; wir können ihm nicht die kleinste

Erleichterung verschaffen, sein Leben nicht verlängern, wir können ihm

keine Freude machen, indem wir ihm sagen, wie sehr wir chn lieben. Aber es ist ganz gut so: lasset auch weiterhin den lebenden Künstler sich

abmühen nach einer einzigen elendiglichen Aufführung eines eigenen

Werkes, das er nie gehört hat; laßt auch weiterhin die großen Män­ ner nicht zu dicken Männern werden. Dann braucht ihr dereinstens

zu ihrem Denkmal weniger Material. Denn dem nach Brot ver­

langenden Künstler gebt ihr einen Stein — sein Denkmal.

„Wehe euch; denn ihr bauet der Propheten Gräber, eure Väter aber haben sie getötet."

Eugen Albrechts Gedichte und Gedanken Ci Tue unverbrauchten Kräften des bayerischen Volks war eine neue -*sAr ©eneration herangewachsen. Wissenschaftler, die in der Kunst die höchste produktive Äußerung sehen, in der Wissenschaft das So­ lide, im Leben das Natürliche gelten lassen; von den Dekadenten ge­

trennt durch Anständigkeit, liberal im Sinne der geistigen Freiheit.

Diese Generation hat in Eugen Albrecht ihren heimlichen König ver­ loren. Wir, die ihn lange kannten, wissen, daß das unbegreiflich Viele, was er mit jungen Jahren als Biolog und Mediziner geleistet hat, nur ein Anfang war. Sein letztes Ziel war ein philosophisches. In

allen Wissenschaften arbeitend, wollte er die Grenzen aller erkennen. Ob bei der Ausdehnung der Naturerkenntnis eine solche Kraftleistung

noch möglich ist? Die Frage kann in unserer Zeit so wie in früheren nur das Leben eines Heros beantworten, und der unsrige starb. Das Schönste bliebe ungesagt, wenn nicht von dem Menschlichen gesprochen würde. Davon denen, die ihn nicht gekannt haben, einen Begriff zu

geben, schien uns unmöglich, bis nun aus dem Nachlaß Gedichte und

Gedanken erschienen sind (bei Bergmann in Wiesbaden). Und die, die ihn gekannt haben, lernen ihn besser kennen. Wenige mögen ge­

ahnt haben, daß der stets Heiter-hilfsbereite, stets Lebendig-tätige seit langem die Tür in der Hand hatte. Unmetaphysisch, eine Welt des

Wissens und Handelns umspannend, erschien er uns als ein Finder

der Endlichkeit. Nun, da er mit diesen Gedichten wiederkehrt, erkennen wir ihn besser, als einen Sucher der Unendlichkeit. Manche der Ge­

dichte mögen schwach sein, aber es geht etwas von ihnen aus, das die

Maßstäbe der Poetik vergessen läßt. Auch unter den Gedanken mögen schwache sein, aber der Mensch ist so groß, daß sie bleiben werden. Wir sage» „bleiben" eigentlich als ein Bild. Ob in hundert Jahren noch

etwas gelesen wird, wissen wir nicht, weil wir nicht wissen, ob es in hundert Jahren noch Menschen gibt.

Wir meinen mit „bleiben",

daß dieses Buch irgendwo fortexistiert, wo kein Erdbeben hinrescht und nur selten ein Buch.

Tierseele as ist der Titel einer neuen Zeitschrift, die von Karl Krall in

Elberfeld herausgegeben wird und bei Eisele in Bonn erscheint. Daß in dem bis jetzt vorliegenden Doppelheft Leute wie der Genfer

Psycholog Claparede, der Frankfurter Neurolog Edinger, denen sich im gegenwärtigen Heft der S. 91t. der Basler Psychiater Wolff an­

schließt, überhaupt für möglich halten, daß die Elberfelder Pferde und der 91tannheimer Hund rechnen, lesen, sprechen, genügt, um „Tierseele"

zur wichtigsten aller Zeitschriften zu machen. Ich habe das Heft in Trient gelesen. 91tan weiß, wie die dortigen

Bestien — nur die deutsch-österreichischen Soldaten sind keine — die

dortigen Tiere behandeln; die Ochsen werden sogar beim Essen durch das Doppeljoch gefoltert, das ihnen dabei natürlich nicht abgenommen

wird; und da sitzt in jedem kleinsten Dorf ein Elender, der sich für einen Vertreter Jesu Christi ausgibk. Bis jetzt hat das Verhältnis der Kulturmenschen zu den Tiere»!

darin bestanden, daß er sie frißt. Wenn Krall recht behält, gehen

wir einer neuen Renaissance entgegen; es wäre eine Umwälzung im

Denken wie damals, als man erkannte, daß die Erde nicht der Mittel punkt der Welt ist. Da würde den Ethikern mit dem Verbrecherschä­ del, die den Vegetarismus nur im Sommer verstehen, vielleicht däm »nern, daß Georg Friedrich Daumer, dessen einschlägige Briefe wir

in diesem Hefte bringen, kein kompletter Narr war.

Nur die kälteste mechodische Untersuchung kann diese in den ersten Anfängen stehenden Arbeiten zu sicherm Ergebnissen führm. Aber

ich gestehe, ich, der immer mehr Interesse für einm Concours hippique gehabt habe als für einen Philosophenkongreß, möchte gern noch den

Nachweis erlebm, daß das Pferd, welches das Roß Grane darstellt,

dm übrigen Darstellem geistig ebenso überlegen ist wie moralisch,

und möchte eine Zeit erleben, in der man es für die verkehrte Welt haltm würde, wenn ein Pferd im Denken gestört wird, um einen Den­ ker in die Universität zu fahren, und wenn bei der Zählung der Seelen der Schriftsteller mitgezählt wird und sein Hund nicht.

Krieg CVVun lernen wir Jüngeren die Schrecken des Krieges kennen. Den

tV L unmenschlichen Kamps von Mensch gegen Mmfch, die maß­ losen Opfer der Kampfenden, Ärzte und Schwestern, die Seelen­

qualen der Zurückbleibenden, die Trauer in zahllosen Familien, un­

endliches Leid aller Kreatur. In dem Druck, der auf uns lastet, erleben wir, was wir von je als das Schrecklichste uns vorgestellt. Was wir uns nicht vorgestellt hatten, was wir gelernt haben von

einer Stunde zur anderen, das ist die Größe des Krieges. Wir Ge­ bildeten wissen, daß es in Trapju'stenklöstern und in buddhistischen

Einsiedeleien Werte gibt, die nicht an der Nation haften; aber wir

hatte» nicht gewußt, welche Werte in Aktion treten, wenn auf der

Weltenbühne der Vorhang in die Höhe geht. Wir hatten den Krieg nicht gekannt; denn wir hatten geglaubt, er

sei der Sieg des Körpers über den Geist, und sehen nun, daß er btt

Sieg des Geistes über den Körper ist. Er ist nicht eine Scheidung der Körper in schwache und starke, sondern eine Scheidung der Geister in

feige und mutige, in seichte und tiefe, in selbstische und selbstlose.

Wir hatten unser Volk nicht gekannt. Alle Eigenschaften, di« wir im Frieden an einzelnen geschäht: die Selbstverständlichkeit der Treue, die Sicherheit im Rechten, die Heiterkeit im Schweren, Opferwilligkeit

ohne Grenzen — sie sind der Besitz von Millionen.

Wir hatten das junge Geschlecht nicht gekannt, das wir für ver­ weichlicht und hinfällig gehalten hatten; nun sehen wir, daß das ein

paar Literaten waren, die sich für das junge Geschlecht ausgegeben hat­

ten ; der Schmutz, der in Wasser obenauffchwimmk, in Blut zu Boden sinkt.

Und wir hatten uns selbst nicht gekannt. Wir hatten geglaubt, Deutschland zu lieben, und sehen nun, daß wir nur Deutschland lieben.

Wie einer in der Gefahr des Ertrinkens blitzartig sein ganzes ver­

gangenes Leben beleuchtet sieht, so ist die deutsche Nation hellsichtig geworden im Augenblick der Gefahr. Sie hat erkannt, daß es in dieser

Well, die der deutsche Geist als Welt des Leidens längst erkannt hak,

eine andere Welt gibt, die des deutschen Leidens, des Heldenleidens.

Sie hat erkannt, daß sie bescheiden alles Fremde zu hoch, alles Eigene zu gering geschätzt hat. Jetzt wollen wir es aber aussprechen: das was

da, in ungleichem Einsatz, für uns im Felde steht, ist die Blüte der Menschheit. Es ist nicht die Stunde zum Kritisieren der Vergangenheit und zum Rechtbehalten. Das eine ist sicher und rechtfertigt den Krieg vor

unserem Verstand: wir mußten Krieg führen und konnten nicht warten, bis Rußland seine von französischem Haß bezahlten Rüstungen voll­

endet. Und das andere ist sicher und rechtfertigt den Krieg vor unserem Gewissen: Niemand in Deutschland, vom Kaiser bis zum letzten Tag­ löhner, wollte den Krieg. Selbst das Heer und die Flotte, die wie alle

tüchtigen Organismen den Wunsch haben, sich in der Lage zu bewäh­ ren, für die sie geschaffen sind, hatten keinen anderen Wunsch als

in einem Krieg sich zu bewähren wie diesem,

einem

Verteidi­

gungskrieg. Dieser schönste Verteidigungskrieg, den je ein Volk geführt —

das ist dem blödesten Auge offenbar, seit England mit Rußland ver­

bündet ist — gilt nicht nur Deutschland, gilt der ganzen Kultur. Der

Kultur dienen, heißt jetzt, dem Krieg dienen. Wie im Traum geht uns einmal durch den Sinn, daß es so etwas gibt wie deutschen Wald, deutsche Musik, deutsche Bücher. Die Seele wird wiederkonnnen, Wenn wir durch sind. Jetzt haben wir nur noch Einen Wunsch. Wir

wollen siegen oder alle untergehen, alle.

Rudolf Louis m 15. November 1914 ist unser Mitarbeiter Dr. Rudolf Louis im Alter von vierundvierzig Jahren gestorben.

In dem Augenblick, in welchem man sich von einem Menschen

trennen muß, den man gern gehabt hak, kann man nicht abwägen, welche Eigenschaften es waren, die man an ihm geschätzt hat, kann

man sein Wesen nicht zergliedern. Man empfindet chn als Einheit und empfindet, daß auch da, wo man nicht mit ihm übereinstimmte,

er so war, wie er sein mußte; empfindet, daß man an einem lebendigen

Menschen sich keinen Zug anders denken kann, ohne die ganze Per­ sönlichkeit zu zerstören.

Aber das muß gesagt werden, daß Louis ein wirklicher Musiker war und ein wirklicher Philosoph. Zwei Eigenschaften, von denen jede einzelne selten ist, und deren noch viel seltenere Vereinigung die Voraussetzung einer wirklichen Musikästhetik bildet. Das schriftstelle­

rische Talent fiel daneben gar nicht auf. Alles Glänzende lag ihm

fern; ja er vermied es, wo es ihm mühelos zufiel, so daß viele seiner Leser gar nicht bemerkt haben werden, daß er einer der besten deut­

schen Prosaisten unserer Zeit war. Wir wissen, daß es in seinem Sinne ist, wenn wir als größtes Gluck seines künstlerischen Lebens noch einmal aussprechen, daß er in

einem Zeitgenossen, Hans Pfitzner, einen der größten Meister aller

Zeiten erkannte; daß er es für seine innerste Pflicht hielt, diese Er­

kenntnis laut und rückhaltlos auszusprechen, und für sein größtes Ver­ dienst, daß er dieser inneren Pflicht stets gefolgt ist. Wir wissen aber auch, daß es in seinem Sinne ist, wenn wir in

der größten und ernstesten Zeit des Vaterlands noch nicht sprechen von allen einzelnen Verdiensten, die er sich um die Musikpflege erworben

hat, toenn wir nicht von -en Gaben des Geistes und Talentes sprechen,

die ihn vor Tausenden auszeichneten, sondern von den Eigenschaften,

die er mit Tausenden unserer Landsleute gemein hatte. Er war ein bescheidener, natürllcher, echter Mensch, und er war ein echter deut­ scher Mann. In seinem Sinne wenden sich in diesen Tagen der

Menschlichkeit unsere Gedanken zu seiner Frau, die ihm in guten und

bösen Zeiten treu zur Seite stand, zu seinen beiden jungen Söhnen,

von denen der ältere im Felde zu dieser Stunde wohl noch nicht weiß,

daß er den besten Vater und Freund verloren hat. Mögen Ferner­ stehende den berühmten Musikschriftsteller betrauem, wir betrauern

etwas Unersetzlicheres, einen lieben Menschen.

Alfred Walter von Heymel ie

Süddeutschen

Monatshefte

haben

chren

besten

Freund

verloren.

Als Heymel todkrank aus dem Krieg zurückkehrte, hat er mit

letzter erlöschender Kraft seine Feldpostbriefe für uns zum Druck vor­

bereitet. Dieser Ausklang kann als symbolisch gelten für das Verhält­ nis, in welchem er zu uns stand vom ersten Tag unseres Zusannnentreffens bis zum letzten seines Lebens.

Man brauchte nur zehn Minuten mit ihm zusammen zu sein, um seine kleinen Schwachen zu sehen; man mußte ihn genauer ken­

nen, um seine großen Vorzüge zu sehen; und man mußte mit ihm befreundet sein, um zu wissen, daß er einer der beschwingtesten, kindlichsten, aufopferungsfähigsten, lautersten Menschen unserer Zeit

war. Als er jung und allein ins Leben trat, mag er gelegentlich an Un­

würdige seine Neigung verschwendet haben; denn er war ein Ver­ schwender des Herzens, und sich in jedem Augenblick ganz hinzugeben,

war ihm zum Leben notwendig wie das Atmen. Als er älter wurde,

hat immer mehr der helle Verstand das helle Herz beraten.

Und

da war es wieder eine seltene Eigenschaft, die ihn vorwärts trieb: echte Bescheidenheit. Er schloß sich gern an solche an, die er für reifer

hielt, von denen er lernen konnte, zu denen er in irgendeiner Beziehung aufschaute. In der Dichtung brauchte er keine neue Wahl zu treffen.

Rudolf Alexander Schröder, mit dem er aufgewachsen ist, war ihm bis zuletzt sein Leitstern. Bei dem von ihm begründeten berühmten Verlag konnte er zwar den künstlerischen Ideen treu bleiben, die er

in erstaunücher Jugend gefaßt hat; aber er hat in Anton Kippenberg denjenigen erkannt, der berufen war, sie durchzuführen. Diese Durch­

führung brachte ein neues Moment, das je länger je mehr für sein

ganzes Wirken bestimmend wurde: das polltische im Sinne der Aus­ breitung der deutschen Kultur.

Er hat keiner politischen Partei angehört. Seine Beziehungen reichten von den Soziallstischen Monatsheften bis zur Täglichen Rund-

schau. Für ihn gab es nur eine Losung: Deutschland in der Welt voran! Das hat bis vor einem Vierteljahr als Unpolitik gegolten; jetzt ist es die Politik aller guten Deutschen.

Seine besondere Liebe galt nebm dem Heer, dem er mit Leib und

Seele angehörte, den Kolonien; auch da hat er in den letzten Jahren an Erfahrung gewonnen, indem er sich dem verehrten Leiter des Kolonialwesens anschließen und ihn auf den beiden Afrikareisen beglei­

ten durfte.

Bei uns in München hat er besonders an der Arbeit Hugo von Tschudis sich beteiligt und von unseres Schulrats Kerfchensteiner kul-

turpolitifchen Arbeiten dauernde Eindrücke erhalten. Dieses alles, diese Vereinigung von Kunst und Sozialem, von

Soldatentum und Kultur, von Weltpolitik und Literatur, dies alles mag in seiner Vereinigung manchem snobistisch vorgekommen sein.

Mag so vorgekommen sein. Heute erscheint es wohl keinem mehr so. Denn diese Vereinigung ist nichts rmderes als das Land, dem wir uns

entgegensehnen, das neue Deutschland.

Das ist das Tragische von Heymels Tod: er starb in der Zeit, für die er geboren war. Daß wir einen so verwegenen Reiter nicht

wiedersehen würden, haben wir alle bei Ausbruch des Krieges ge­ dacht. Aber jetzt erkennen wir, seine Zeit wäre erst gekommen. Als einzigen Trost, als wirkllch einzigen, empfinden wir, daß er bis zum

letzten Tag mit allen Fasern diesem neuen Deutschland entgegen«

hoffte. Er hinterläßt eine Gemeinde, die Gemeinde seiner Freunde. Mag

er in der Dichtkunst nicht das Höchste erreicht haben, in der Kunst der Freundschaft hat er es erreicht. Sie sind weit zerstreut, seine Freunde, zum Teil im Feld; der Tod eines von ihnen, des Rittmeisters von

Stedman, der als Erster mit seiner Schwadron in Ipern einritt,

hat seine letzten Lebenstage umdüstert. Die Überlebenden werden zu­ sammenhalten in der Erinnerung an Heymel, in der Liebe zu ihm. Wir

werden weiterarbeiten in seinem Sinn; aber ein Schatten wird über

unserer Arbeit liegen: unser bester Freund ist nicht mehr.

WeihnachLm ie kann man dieses Jahr Weihnachten feiern? Die Vergnü­

gungen, denen man sich sonst hingab, die Geschenke, die man sich sonst machte, erscheinen als frivol gegenüber den Geschenken, die

man in die Schützengräben schickt, wo eine richtig zusammengestellte, richtig beförderte und richtig angekommene Sendung einen Menschen

retten kann; gegenüber dem Gedanken an unsre in der Front stehen­ den Soldaten, an unsre Seeleute auf dem Meer, unsre Landsleute

in den Kolonien und im feindlichen Ausland, unsere Gefangenen pnd

Verwundeten und unsere Toten. Solange es Hilfslazarettzüge gibt, die ohne Bettschüssel sind und in denen die Verwundeten mit Lebens­

gefahr ihre Notdurft auf der Plattform verrichten müssen, fällt es

schwer, sich dessen zu erfreuen, was man diese Jahre her Kultur ge­ nannt hat. Wir sind fast ertrunken in Kultur; die Kultur des Brief­

bogens, die Kultur der Krawatte, die Kultur der Aschenbecher und der Fingernägel und der Stuhlbeine — für jede von ihnen hätte

man jeden Tag einen Aufruf mit den berühmtesten Namen und einen

Verein zusammenbringen können. Vielleicht werden wir jetzt wieder eüvas unkultivierter und einfacher, nachdem diese Kultur durch die

Feuertaufe gegangen ist, nachdem der Maßstab des Lebens — der Tod — an sie gelegt wurde. Es gibt nur einen einzigen weltlichen Gedanken, dem einen Augen bllck sich hinzugeben eine große Nation in solcher Zeit nicht zu scheuen

braucht. Der Gedanke an die große Vergangenheit, die die große Zu­ kunft verheißt.

Die große Vergangenheit zu verstehen, haben wir

seit dem i. August gelernt; denn dazu gehört nicht Kulturgeschwätz, sondern Ernst. Wenn uns einmal in dieser Zeit ein Gedanke kam an die Schönheit des deutschen Landes, der deutschen Literatur, des

deutschen Charakters, so bemerkten wir mit Überraschung, daß uns so schön dieses Land, diese Literatur, dieser Charakter noch nie erschienen

war; und wir wissen, daß es den Draußenstehenden auch so geht.

Unsre Gedanken greifen dabei gerne zurück in ältere Zeiten und möchten an sie anknüpfen. Modern war, was nach der unmaßgebli-

chen Meinung

von Lausbuben

„Zukunft"

hatte,

„Entwicklung",

„Fortschritt" bedeutete. Alle Echten haben nie etwas anderes gekannt, als absolute Werte.

Jeder Vergleich

mit früheren und späteren

Werken wäre chnen als herabsetzend erschienen, und wäre es beim

kleinsten lyrischen Gedicht gewesen; denn der, mit dem sie schaffend sich eins fühlten, war nicht von dieser Welt. Alle diese Echten waren dem modernen Geschlecht nur Vorläufer. Wenn der mittlere Ver­

stand einmal ein Zipfelchen von dem sieht, was das Genie gesehen hat, so sagt er, das Genie habe ihn vorausgeahnt. Man soll aber den

Vortell des Lebenden, daß er ohne Gefahr dümmer sein kann als die

Toten, nicht allzusehr ausnutzen. Laßt uns diesen zu ihrem Recht verhelfen. Nie zuvor ist der Gedanke „Das bist du" uns so zum

Bewußtsein gebracht worden, wie in diesen Monaten. Das in Zeit und Raum Entfernteste ist uns nahe gerückt; wir empfinden, daß es ebenso wirkllch ist wie das Nächste. Alles Entsetzliche und alles Hohe,

das in der Menschennatur Legt, ist an uns herangetreten und sprach

„Das bist du". Wmn wir am Wechnachtsabend einen Augenbllck

lauschend stille stehen, gehe ein Schauer der Wonne und des Gelöb­ nisses durch die Wälder und über das Land: der Gedanke an das alte

Deutschland.

Der einzelne Engländer ''r^Xer einzelne Engländer", sagen manche, „hat keine Schuld an dem

Krieg. Ja, wenn es auf den reizenden Professor in Cambridge angekommen wäre, der noch im Juni bei mir Tee getrunken hat... oder auf meine Tante in Sheffield, die gewiß jetzt für die deutschen

Gefangenen tut, was sie nur kann... oder auf den Minister, der leider meinen Brief nicht mehr bekam, in dem ich ihm Ende Juli den wahren Vorteil Großbritanniens auseinandersetzte..." Wmn man diesm Standpunkt genauer durchdenkt, so bleibt von den Nationm nichts übrig als eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine große

Haushaltung, in der man vorteilhafter kochm kann als in einer Keinen.

Man kann nicht stolz sein auf Shakespeare und Dickens, aber die Verantwortung für die Times ablehnen. Wir können schließlich auch

nichts für den serbischen Fürstenmord, für das Bedürfnis der Fran­ zosen, die von Ludwig XIV. geraubten deutschen Provinzen noch ein­

mal zu rauben, für die russischen Rüstungen, für die größere oder ge­ ringere Geschicklichkeit unserer Diplomaten — und doch wären wir alle

miteinander unglücklich geworden, wenn die Berechnung gestimmt und die Quantität den Ausschlag gegeben hätte. Das ist nun ein­

mal so, wenn Menschen ein Volk bilden.

Der einzelne ist mit­

verantwortlich. Dir Mitverantwortung bildet das Wesen jeder Vergesellschaf­

tung. Der Ruf einer Familie, eines Standes, eines Volkes beruht auf ihr. Der ehrenwerte Vater eines nicht ehrenwerten Sohnes hält seinen

Namen für beschmutzt, auch wenn er sich frei von Schuld weiß. Man kann das unphilosophisch finden, aber man muß dann auch Philosoph

genug sein, sich auf die Fuwrgemeinschaft zu beschränken und auf die

Wertgemeinschaft zu verzichten.

In ihr liegt aber das in die Höhe

Führende der Vergesellschaftung. Diese Einsicht in die Mitverantwortung ist uns erst richtig wäh­

rend des Krieges aufgegangen. Wenn wir jetzt anders über uns und

über unsere Umgebung denken als vor einem halben Jahr, so fassen

das die Neutralen gern so auf, als ob wir in begreiflicher Erregung

aber in unbegreifllcher Verblendung, jedenfalls in einer Art Kriegs­

psychose uns befanden. Wir wissen, daß das Gegenteil wahr ist, daß wir früher verblendet waren. Wir haben uns bis zum ersten August in einer Friedenopsychose befunden. Tiefe Erkenntnisse kommen nur aus tiefen Erlebnissen.

Zwei Leute sönnen jahrelang nebeneinander hinleben, ohne zu mer-

km, daß sie einander nicht kennen. Laßt sie in eine besondere Lage kom­ men, in eine Lage, die über ihr Schicksal entfcheidet, in ein großes

Glück oder Unglück, in Gefahr, laßt sie in einem Schiffbruch auf eine

Planke kommen, die nur für einen Platz hat, und es wird sich geigen, ob sie einander verstehen. Ohne solche große Erlebnisse ist das Ver-

fitzen eine Sache des Hörens und Lesens, so wie in schlechten Theater­

stücken sich einer ans gefälschten Briefen über seine Mitmenschen un­ terrichtet. In solchen Zeiten wie diesen hört man die Kulturschwätzer nicht mehr und sieht die Wirklichkeiten des Lebens. Zu chnen gehört die Mitverantwortung des Einzelnen.

Diese Erkenntnis legt uns Lasten auf. Wenn das deutsche Volk

von seinem Kaiser erwartet, daß er verwandtschaftliche Bande vergißt,

wenn es durch eine ritterliche Kundgebung des Kaisers gegenüber der englischen Königin mit tiefem Schmerz erfüllt werden würde, so muß

es selbst, jeder Einzelne in seinem kleinen Kreis, die Beziehungen zu jedem Einzelnen unserer Feinde abbrechen. Carl Peters hat übrigens in seiner Schrift „Das deutsche Elend in London" (Hirzel, Leipzig)

eben wieder darauf hingewiesen, daß dem Engländer einzig Macht und Haltung imponiert. Für Anbiedern an einzelne seiner Landsleute würde

er nur Verachtung haben, und die von unserem Mitarbeiter Professor Förster

im Bayrischen Staatsanzeiger vorgeschlagene Beschenkung

von Gefangenen würde er für Anbiedern halten.

Diese Erkenntnis hat aber auch etwas Beglückendes. Sie gibt uns das Recht, stolz zu sein auf alles Große unseres Volks. Früher haben

wir uns manchmal gefragt: welches Recht hat das deutsche Volk, sich Richard Wagners zu rühmen, nachdem es ihm jeden Stein, den es finden konnte, in den Weg gelegt hak? was hat der niederbayerische

Bauer mit den Klassikern zu tun? Jetzt wissen wir es. Der Bauer, der nie eine Note von Wagner gehört, der nie ein Stück von Goethe gelesen hat, aber jetzt die deutsche Kultur mit seiner Brust deckt, hat mehr für Wagners Kunst getan, als alle, die Bücher über sie geschrie­ ben haben. Aber man darf nicht glauben, sich, den einzelnen Deutschen,

als Volkswesen nehmen zu können, das Teil hat an allen Verdiensten

seiner Nation, und den einzelnen Engländer als Einzelwesen, das nicht

mitzutragen braucht an der Schuld seines Landes. In dem Sinne, in dem jeder sich der großen Taten seines Volkes rühmt, ist er ver­

antwortlich für die gemeinen.

7" 71

Zum i. April igi5 ie größte Summe von Lügen unsrer Feinde knüpft sich an das

Wort Belgien. Wir haben versucht, durch die besten Kenner — zum Teil natürlich auf Grund von französischen und englischen Be

richten aus der Zeit, als Belgien für die Franzosen noch kein Gegen­ stand des Deliriums, für die Engländer noch kein Gegenstand der Be­ rechnung war — ein Bild des wirklichen Belgiens entwerfen zu lassen.

Bismarcks Hundertjahrfeier darf so wenig den geistigen Kampf unterbre­ chen, wie sie den eigentlichen, den wirklichen Kampf unterbricht. Beiderlei

Kämpfe sind der Vollendung von Bismarcks Werk gewidmet, dem Zu

sammenschluß aller Deutschen zur Erhaltung des Deutschtums. Der nicht zu Deutschland oder Österreich gehörende Deutsche, der sich rühmt, neutral gewesen zu sein, als das Deutschtum vernichtet

werden sollte, ist in unsern Augen ebenso verächtlich wie der, der im Teutoburger Wald nicht mitkämpfte, weil er einen Vertrag mit Rom hatte, und wie der, der Napoleon zujubelte, weil das der Verbündete

seines Fürsten war. Und wenn er von Belgien spricht, dessen Neu tralität geschützt werde, so weiß er, daß er lügt. Das schlechte Ge­ wissen, das solche Leute als Deutsche haben, läßt sie das gute Gewissen

Europas spielen. Die ungeheuerste Lügenkoalition, die die Welt gesehen hat, hat

eine neue Periode der Weltgeschichte, eine neue Eisenzeit herbeigeführt, in der nur eine Regierung von Eisen zu brauchen ist. „Man ist nicht

jeden Tag in der Lage, einer gefährlichen Situation der Art abzu

helfen, und der Staatsmann, den die Ereignisse in den Stand setzen,

letzteres zu tun, und der sie nicht benutzt, nimmt eine große Verant­

wortlichkeit auf sich, da die völkerrechtliche Politik und das Recht der deutschen Nation, ungeteilt als solche zu leben und zu atmen, nicht nach privatrechtlichen Grundsätzen beurteilt werden kann" (Ge­ danken und Erinnerungen II, 80). Wir müssen wissen, daß Recht

und Verträge, auf welche Bismarck sein Reich gegründet hat, den

Feinden — und wer zählte nicht zu ihnen?'— ein deutscher Fetisch sind.

„Jede andre Regirung nimmt lediglich ihre Interessen zum Maßstabe

ihrer Handlungen, wie sie dieselben auch mit rechtlichen oder gefühl­ vollen Deduktionen drapiren mag. Man acceptiert unsre Gefühle, beutet sie aus, rechnet darauf, daß sie uns nicht gestatten, uns dieser Ausbeutung zu mtziehn, und behandelt uns danach, d. h. man dankt uns nicht einmal dafür und respectirt uns nur als brauchbare dupe "

(Gedanken und Erinnerungen I, 180). Wir wollen uns des Vertrags

erinnern, den wir am i. August, jeder mit sich selbst und mit seinen Brüdern, soweit die deutsche Zunge klingt, geschlossen haben.

Die

einzige wirkllche Ethik, die durch keine Paragraphen zu fassen ist, heißt:

lebe deinen höchsten Stunden getreu!

Wie für den einzelnen, gilt

dies auch für die Völler. Bio jetzt ist das deutsche Voll noch jedesmal

aus seinen

höchsten Stunden herabgesunken durch Uneinigkeit und

Würdelosigkeit. Und auch jetzt fürchten wir nicht die Tugenden der

Feinde, sondern die Untugenden der Deutschen. Außer in den Zeiten höchster 9Tof haben noch immer die Krämer geherrscht, denen ihr biß­

chen Leben, Besitz, Einfluß und Sympathien die Hauptsache ist.

„Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und

Personen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl... nicht zu rechtfer­ tigen, weder an mir noch an Andern; es ist darin der Embryo der

Untreue gegen den Herrn oder das Land, dem man dient... Die

Interessen des Vaterlandes dem eigenen Gefühl von Liebe oder Haß gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner Ansicht nach selbst der König nicht das Recht" (Gedanken und Erinnerungen I, 180). Nur dem Krieg verdanken wir, daß wir Bismarcks Geburtstag in Bis­

marcks Sinn feiern können. Noch nie haben wir ihn so vermißt wie jetzt, noch nie so verstanden, daß, wenn das Deutschtum nicht vernichtet

werden soll, es nur eine Losung gibt: Bismarck.

Die Partei der Parteilosen urch den Krieg haben einige Millionen von Deutschen, die so gut wie gar kein politisches Interesse hatten, einen leidenschaft-

lichen Anteil am politischen Leben bekommen. Die Frage taucht wieder

auf, welches eigentlich die Grundsätze dieser Millionen sind. Diese Frage wurde — soweit sie die wahlberechtigten Männer angehk — hier

schon einmal erörtert, als bei der Reichstagswahl 1907 die Wahl beteiligung auf 84 Prozent gestiegen war gegen 75 Prozent bei der vorhergehenden.

Damals schrieb Friedrich Naumann (Märzheft 1907) über die

Partei der Nichtwähler, die sich durch ihr entscheidendes Eingreifen bei dieser Wahl als politischer Faktor ersten Ranges erwiesen habe,

und untersuchte, was sie zur Wahlurne geführt habe: nicht die süd­ westafrikanische Schutztruppe, wegen deren der Reichstag aufgelöst worden war, nicht Bebels theatralische Revolutionsmimik auf dem

Dresdener Parteitag, sondern Religion. Der Kampf zwischen Rom

und Wittenberg sei neu entbrannt und habe die Katholiken für das Zentrum und die Protestanten gegen das Zentrum in Bewegung ge­

setzt. „Und da die Sozialdemokratie für das Zentrum war, so trug sie die Kosten des Wahlkampfes."

In Form einer Rede an die

Nichtwähler hatte Naumann meisterlich seine Anschauung dargelegt. Damals meinten wir Parteilosen, wir könnten, nachdem wir ge­

wählt hatten, zurücktreken in unser Dunkel, unsern Arbeiten nach­ gehen und die Politik den Politikern überlassen. Das glauben wir

jetzt nicht mehr. Wir haben die Lage Deutschlands, von der wir früher

wohl gelegentlich gesprochen haben, jetzt erst wirklich verstanden. Wir habm die Lage des Deutschtums, von der wir früher auch gelegentlich gesprochen haben, auch jetzt erst wirklich verstanden und haben erkannt,

daß Deutschland und das Deutschtum keinen von uns entbehren kann.

Wollen wir die Lehren des Kriegs wieder vergessen, wie die des Sieb­ ziger Kriegs vergessen worden sind? Wie wenig haben doch wir, die

in den achtziger und neunziger Jahren ausgewachsen sind, von jener großen Zeit verspürt; gestehen wir es, wir haben sie erst jetzt, während

des Weltkriegs, im Gefühl miterlebt. Soll es wieder so werden? Soll

die künftige Jugend wieder in satter Friedensstimmung aufwachsen

und nur an politischen Feiertagen von den Lehren dieses Krieges hören?

Nein, antworten die Parteilosen, aber wenn man fragt, wie es anders werden soll, sind sie um eine Antwort verlegen. Es ist zu befürchten,

daß nach dem Krieg die alten Parteien mit ihren fertigen Organisatio­

nen gerüstet sich in den inneren Kampf stürzen werden, und daß die Masse derer, die den inneren Frieden wollen — und hier sprechen wir nicht mehr nur von den Wahlberechtigten, sondern auch von den

Frauen — als führerlose Herde bei diesem Kampfe zufchauen wer­

den. —

Auch

unter

aus diesem

Grund Mitglied

worden sind.

den eingeschriebenen Mitgliedern sind viele,

oder jenem religiösen,

geworden



politischen,

die

wirtschaftlichen

der Parteipolitik überdrüssig ge­

Die Entwicklung des Partei-

und Zeitungswesens

hat viele der Besten mit Ekel erfüllt und hielt sie ab von jedem Hervortreten. Man glaubt es nicht, was es in Deutschland, sogar in

Großstädten, für wertvolle, tiefdenkende Menschen gibt, von denen niemand etwas weiß.

In Deutschland ist Bescheidenheit eine 9Ta=

üonaleigenschaft (während der Italiener, der einmal ein politisches

Buch gelesen hat, sich für einen Polltiker hält), und Bescheidenheit ist im allgemeinen nicht die Eigenschaft, die den Menschen zum Schrift­ stellern und Reden treibt; aber wer nicht innere Widerstände zu über­

winden hat, wer nicht durch die deutsche Not in die deutsche Öffent­

lichkeit getrieben wird, der wird ihr nichts leisten.

Es

sind

nicht die Dümmsten und Unerfahrensten, die bisher

beim politischen Theater nur Zuschauer waren, und es gibt überraschend wenige, die das Programm irgendeiner Partei in allen Punkten unter­ schreiben, so wie es von den Berufspolitikern und Parteijournalisten

aufgestellt wird.

Im Krieg hat sich viel mehr eine moralische als

eine politische Scheidung vollzogen, eine Scheidung zwischen denen, die keine Opfer bringen wollen, und denen, die Opfer bringen wollen,

auch Opfer an Denkgewohnheiten. Ob diese Opferbereiten zusam­ menhalten, davon hängt Deutschlands Zukunft ab.

Die Millionen im Feld und zu Haus, die weder den Agrarier für

einen selbstsüchtigen Lebemann, noch den Gewerkschaftsbeamten für einen Volksverhetzer halten, die weder den politisierenden Geistlichen für das christllche Ideal halten, noch den Katholiken für minderwertig, die nichts wollen, als die Stärke Deutschlands und des Deutschtums,

sie sind unvertreten. Nur ihre Sache soll die unsrige sein.

Josef Ruederer Worte bei der Trauerfeier im Östlichen Friedhof zu München am 22. Oktober 1915.

(T*9 ist im Sinne unseres Freundes, daß wir hier an seiner Bahre von diesem Abschied sprechen, wie wir alle untereinander davon sprechen. War doch der Sinn für ungeschminkte Wahrheit und für

echte Natürlichkeit der hervorstechendste Zug seines Wesens. So wol­

len wir uns die bittre Wahrheit eingestehen, daß dies ein grausamer, versöhnungsloser Abschied ist — mitten in einem Werk, das er als

Lebenswerk betrachtet hat, in einer Zeit, in der erst wenige seine künst­ lerischen Leistungen zu würdigen wußten, am Vorabend einer Zeit,

in der Deutschland Männer brauchen wird wie ihn. So finden wir kein Wort des Trostes für die Famille, mit der ihn ein so inniges

Band verbunden hat, für die Freunde, die den Zauber seines Wesens gekannt haben. Im Sinne Josef Ruederers, der wie wenige die Unerbittllchkeit des Naturlaufs erfaßt und gestaltet und dabei wie wenige

sich gegen diese Unerbittlichkeit aufgelehnt hat, wollen wir Abschied nehmen nicht mit falschem Trost, sondern mit Dank, mit Dank für alles, was er gerungen und geschaffen hat, mit Dank für alles, was

er uns gewesen ist und späteren Geschlechtern sein wird.

Pufferstaaten u den Phantasien, denen die meisten von UNS (wir bekennen es

immer wieder) bis zum Krieg sich gerne Hingaben, gehört auch die,

daß westslawische Völker, z. B. die Polen, wenn sie nur könnten, sich

mit uns gegen die Russen verbinden würden. Herr Müller-Meiningm, der als Politiker nicht so leicht seine Ansicht ändert wie wir

Laien, glaubt das auch jeht noch und drückt es in der Reichstagssihung vom 27. August 1915 so aus, daß das deutsche Volk hoffe

und wünsche, „in den Polen den natürllchen Bundesgenossen gegen die russische Gefahr für die Zukunft zu finden". Das deutsche Volk

wünscht und hofft das allerdings, aber es glaubt nicht recht daran,

und zwar in dem Maße glaubt es weniger daran, als es außer den Klavierstücken von Chopin sonst noch etwas von den Polen kennt. In den der Polengefahr entrückten und auch sonst empfchlenswerten Gast­ häusern von Bopfingen und Böblingen und sonst noch vielen Orten

werden beim Federweißen, wenn kein Tarock Aisammmgehk, sogenannte

Pufferstaaten angelegt, eigenartige Gebilde, die das Bedürfnis haben, sich zwischen zwei Großstaaten in der Weise einzulagern, daß sie sich

von beiden Seiten puffen lassen, ohne einen Ton von sich zu geben; gehen die Großstaaten über den Pufferstaat hinweg aufeinander los,

so hält es dieser — und das ist eine angenehme Eigentümlichkeit von ihm — mit Deutschland. Wir hoffen zwar mit Herrn Müller-Mei­

ningen, daß die Polen unsere Bundesgenossm gegen die Russen sein werden, und mit den Landsleuten beim Abendschoppen, daß sie einen Pufferstaat bilden werden, wissen aber nur noch nicht, ob die Polm die Sache schon richtig erfaßt haben. Mele von ihnen möchten sich

vermutllch gern mit einem Kulturstaat gegen Rußland verbinden, haben aber noch nicht gehört, daß Deutschland ein Kulturstaat ist. Wir sind

nämlich aus der Gesellschaft der Kulturvölker auf fast einstimmigen

Beschluß in aller Form hinausgeschmissen worden; statt daß nun der

Deutsche das sagt, was man als Kulturmensch in solchen Fällen sagt (aber sogar in den S. M. nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten

druckt), und singend seiner Wege zieht, ist er geneigt zu versuchen, ob

er vielleicht auf der Bediententreppe in das Haus zurückkehren und durch bescheidenes Benehmen vielleicht doch wieder einmal in die vor­

nehme Gesellschaft gelangen könne. Also die Polm habm zwar schwer unter dem mssischen Druck gelitten, aber sie möchten sich an ein Kul­

turvolk anschließen. Die Schwärmerei der Dmkschen für die Polen ist ja alt und war in dm vierziger und fünfziger Jahren besonders

groß; auch Treitschke hat in seiner Jugend begeisterte Gedichte auf die Polm gemacht. Bei diesen scheinen es aber doch mehr Ausnah-

mm zu sein (wie die seit Iahrzehntm in England wirkende Pianistin Ianocha, die nach Zeitungsberichten wegen dmtschfrmndlicher Äuße­ rungen interniert sein soll), die diese Neigung erwidern. Für Öster­

reich scheint nicht durchgängig Neigung zu bestehen; wenigstens be-

richtet

die in Berlin

erscheinende „Jüdische Rundschau" vom 13.

August ds. Js., daß unter den Polen, die sich während des Krieges

aus Gallien mehr nach rückwärts, sozusagen nach Rußland, begeben haben, Beamte der politischen Verwaltung, Landgerichtsräte, Ober­ staatsanwälte zu finden sind, und auch Henrik Stanislaw Graf Ba­ dem', Erbliches Herrenhausmitglied, Neffe des früheren österreichischen

Ministerpräsidenten, geht uns ab. Dabei waren die Polen in Österreich Regierungspartei, hatten zwei Universitäten und was sonst ihr Herz begehrt. Preußen ist vielfach unbeliebt, gilt als hart, Volkstum- und sprachenzerstörend, ungeeignet, mit fremdem Volkstum umzugehen, und

viele von uns haben gedankenlos an die Unfähigkeit Preußens zum Kolonisieren und zum Assimilieren fremder oder feindlicher Dolksteile geglaubt. Gedankenlos — viele Preußen wirken auf viele Nichtpreu­

ßen unangenehm (das ist übrigens subjektiv und in Preußen sind so viele verschiedene Stämme vereinigt, daß schon deshalb solche Ver­

allgemeinerungen falsch sind), aber kein Volk des Kontinents hat sich solche große Bestandteile angeeignet, innerlich angeeignet, wie Preu­

ßen. Man hat im Krieg wenig davon gemerkt, daß beträchtliche Teile der Monarchie noch keine fünfzig Jahre dabei sind. Was die polni­ schen Gebietsteile anlangt, so konnte man im Krieg folgendes beobach

ten: Soldaten, die an allen Kriegsschauplätzen waren, wußten nicht genug zu erzählen vom Schmutz und Ungeziefer, von schlecht bebauten

Feldern und schlechtgehaltenen Straßen in polnischen Gebieten. Wenn

man sic dann fragte, wie es denn im Posenfchen mrsschaue, durch das sie doch auch durchgekonnnen seien, so sagte jeder, erstaunt über eine

solche Frage: ja halt wie bei uns. Das hält jeder für selbstverständlich, und wir haben es auch dafür gehalten bis zum Krieg. Jetzt erst sehen

wir ein, was für eine Leistung in diesem „wie bei uns" liegt. Hat je in der Vergangenheit

eine Regierung Ordnung, Reinlichkeit, gute

Wirtschaft unter den Polen erreicht? Haben die Polen selbst sie er reicht? Haben sie nicht erst als Preußen wirtschaftliche Fähigkeiten bewiesen? Das ist eine Seite Preußens, die wir alle bis zum Krieg nicht genug zu schätzen wußten. Auch im Elsaß, in dem die vielge

rühmte Freiheit des französischen Regimes großenteils darin bestand,

daß dieses Regime sich nicht um das Land kümmerte und es in jeder Hinsicht verschlampen ließ. Wir wollen nicht vergessen, daß die preu­

ßische Verwaltung sowieso schon in Grenzländern schwerer arbeitet als im Innern und bei Freunden, und wollen nicht, daß die Schwie-

rigkeit dieser Aufgabe ins Unermeßliche gesteigert wird, nur damit Herr Müller-Meiningen und die Stammtische in Bopfingen und Böblin­

gen lauter vergnügte Gesichter um sich sehen: Die Deutschen, die ihren

Pufferstaat bekommen, die Polen, die in den Deutschen den natürlichen Bundesgenossen gegen die Russen zu finden hoffen, und die Russen, die in den Polen den natürlichen Bundesgenossen gegen die Deutschen

zu finden hoffen.

Dienstmädchen ieser Tage hörte ich, wie ein Dienstmädchen zu einem andern

sagte: „Ich hab die zwei Tag Schmerzen gehabt, da ist es schwer vom Morgen bis Abend zu arbeiten; Halsweh hab ich auch." Es handelte sich wohl um Tage, an denen Opernsängerinnen nicht auf-

zutreten brauchen, trohdem die meisten an allen Tagen gleich schlecht

singen. Bei jener Äußerung fiel mir ein, daß in den S. M. noch nie

etwas über Dienstmädchen gestanden hat; der Zahl nach sind sie aber eine ganz respektable Klasse, und in unserer Zeit ist die Zahl bekannt­

lich wieder heilig geworden wie bei den Pychagoräern.

Die politi­

schen Parteien interessieren sich nicht für sie, weil sie kein Stimm­

recht haben, und daß da in den besseren Straßen in Kammern, Man­

sarden und Hängeböden auch Wesen wohnen, die bei der Volks­ zählung als Seelen bezeichnet werden, vergessen wir leicht. Wenn

man sich ehrlich fragt, warum in Zeitschriften, die doch sonst über Standesfragen, z. B. der Schriftsteller (Dichter), so vieles bringen, nie etwas über Dienstmädchen steht, so muß man antworten: Weil sie nicht organisiert sind. Einige hunderttausend Menschen, wenn sie

sich zusammenschließen, haben in Deutschland immer etwas zu be­ deuten.

Die

Schriftsteller

(Dichter)

sind viel weniger, aber der

Schriftstellerschutzverband sorgt für die Wahrung ihrer Interessen,

und außerdem haben sie es durch die Öffentlichkeit ihrer Meinungen

dahin gebracht, daß das Schriftstellern für eine wichtigere und sogar

schwierigere Tätigkeit gehalten wird als das Kochen. Ich will nicht sagen, es wäre

wünschenswert oder nicht wünschenswert, daß die

Dienstmädchen sich organisieren, sondern nur feststellen, daß sie als Stand nichts zu bedeuten haben, weil sie nicht organisiert sind.

Einer meiner Professoren sagte bei Besprechung der bekannten Stelle des Aristoteles über die Sklaverei, wir bedürften keiner Skla­ ven, „wenn das Weberschiff von selbst webte", die Stelle sei nicht so bös gemeint, wie man sie dem Aristoteles manchmal angekreidet habe;

sie sei so harmlos, wie wenn wir sagten: „Dann werden wir keine Dienstmädchen mehr brauchen, wenn die Suppe sich selber kocht." Ich habe schon damals diese Äußerung meines Professors ebenso wenig

harmlos gefunden wie jene des Aristoteles und bei mir gedacht, daß

wieder zweitausend Jahre später vielleicht mein Professor wegen seiner Äußerung über die Dienstmädchen verteidigt werden muß.

Wenn man's recht betrachtet, ist nämlich die Einrichtung der städtischen Dienstmädchen (die Dienstboten auf dem Land sind als

ländliche Arbeiter etwas anderes) vielleicht nicht nur in Rußland ein

Ausläufer der Leibeigenschaft, in der modernen Zeit aber vielfach ohne das Patriarchallfche, das dem Verhältnis früher anhaftete. Don fei­

ten der Dienstmädchen ist die Anspruchslosigkeit und Anhängllchkeit geringer geworden; und doch wird wohl jeder da oder dort ein Dienst­ mädchen erlebt haben, das auf ein fremdes Kind die mütterllche Liebe, die aufopferndste von allen, überträgt, die allerdings bei besitzlosen,

nicht gesellschaftsfähigen und nicht in der Zeitung stehenden Menschen nicht so hoch gewürdigt wird. Von seifen der Herrschaft wird viel­

leicht bei keiner Klasse von Menschen (nur bei den Tieren) der Grund­

satz, jedes Wesen als Selbstzweck anzusehen, so außer acht gelassen,

wie bei den Dienstmädchen. Sie sind vielfach nur Mittel zur Bequemlichkeit. Am meisten wohl bei rasch reich gewordenen Herrschaften. Gewiß wird oft gerade gutmütigen Leuten mit Undank gelohnt; der

Pfmnig des Knickers wird höher gewertet als die Mark des Frei-

gebigen. Aber Dertrauensbruch ist eigentlich für den schlimmer, der mißbraucht, als für den, der mißbraucht wird. Ich möchte lieber be­

stohlen werden, als einen ehrlichen Menschen durch Mißtrauen kränken. Mag auch der Mißtrauische in neunundneunzig von hundert Fällen

«cht behalten, nur auf den hundertsten kommt es an.

Doch besteht bei den Herrschaften gar nicht die Absicht, die Mo­

ralkritik, das beliebteste Gesellschaftsspiel, auf die Dienstmädchen

auszudehnen. Die Wertung erfolgt da mehr nach dem praktischen Gesichtspunkt der Herrschaft als nach dem Seelenheil der Dienst­ boten. Treu und Ehrüch wird zwar bei Raimunds Valentin und bei

Wagners Kurwenal als etwas in sich Schönes empfunden, in Zeug­ nissen für Dienstmädchen aber mehr in dem Sinn verstanden, daß

man den Wäscheschrank nicht zu verschlleßen braucht.

Und das

Schlechte sagte man nicht wie über gute Freunde zum Vergnügen, son­

dern um auszudrücken, daß der Wäscheschrank abgeschlossen werden muß. Hingegen meint Kant, ohne wie Aristoteles eine besondere Art der Bewertung für Freie und für Sklaven aufzustellen: „Geschick­

lichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; Witz, lebhafte Einbildungskraft und Laune einen Affektionspreis; dagegen Treue im

Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt) haben inneren Wert", und an einer «obern Stelle geradezu: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken

mögllch, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." Wir sprechen hier vom Standpunkt der Herrschaften, da wir von Dienstmädchen wenig gelesen werden; für

diese mag eine gleichgültige, gerechte und ordentliche Herrschaft oft sehr gut sein und von ihnen mehr geschätzt werden, als eine liebevolle und

unordentllche. Vergiftet hat man nur den überspannten Sokrates, nicht die ordentllche Xanthippe. Als großes Verdunst müßte von allen Verteidigern der Prosti­

tution der große Prozentsatz betrachtet werden, den die Dienstmädchen für diese Grundlage des monogamischen Staates liefern. Aus alten

Zeitungen (Münchner N. 9L vom 24. April 1914) krame ich folgen­

den Gerichtssaalbericht heraus:

„3m 3°hre

i9°8 brachte nach einem Balle in Helmbrechts, bei dem viel

Sekt floß, der Fabrikantenssohn Heinrich Findeis die damals im 17. Lebensjahr stehende Weberstochter Anna Greim zu Fall.

Der Verführer ließ das Mädchen

sitzen, ging nach Amerika, heiratete dort und kehrte später als geschiedener Mann nach Europa zurück.

Er forschte den Aufenthalt der Greim aus, die inzwischen in

Fürch eine Dienststelle gefunden hatte, und betörte sie nochmals.

Als er von dem

Mädchen hörte, daß es Mutterfreuden entgegensehe, ließ er es hilflos sitzen. Die Anna Greim schenkte in der Wohnung einer Hebamme einem Knaben das Leben.

Als sie mit dem Kinde zu ihren Eltern zurückkehren wollte, erhielt sie von diesen einen Brief voll bitterer Vorwürfe; es wurde ihr die Rückkehr ins Elternhaus

verboten. Planlos irrte das Mädchen mit dem Kinde auf dem Arme in den Straßen

von Nürnberg und Fürth umher; als es die Füße nicht mehr zu tragen vermochten und es heißer Hunger quälte, setzte es sich auf einer Wiese nieder und drückte bau

Kind so fest an die Brust, daß es starb; die Leiche hat es dann beseitigt.

Als der

DormundschaftSrichter und der Vater wissen wollten, wo das Kind untergebracht

wurde, verfiel die Greim auf den Gedanken, ein Ersatzkind zu beschaffen. fuhr nach Stuttgart,

traf frort auf dem Bismarckplatze eine

Sie

13 jährige Fein­

mechanikerstochter, die ihr 5 Monate altes Brüderchen spazieren fuhr, schickte das Mädchen zur Post, raubte den Knaben, fuhr mit ihm nach Fürth und gab ihn

dort als ihr eigenes Kind aus."

Solche Sachen ereignen sich alle Tage, werden aber nur, wenn

ein großer Dichter sie darstellt, gesellschaftsfähig. In Norddeutsch­ land, wo strengere Auffassungen herrschen als bei uns, ist der Weg

des verführten Dienstmädchens über Verhältnisse (das erste mit einem Offizier, das letzte mit einem Agenten) noch viel näher. Jährlich wer­

den einige Tausend Töchter von ländlichen Gütlern und Häuslern als städtische Dienstmädchen der Prostitution neu zugeführt. (Im Aus­

land ist es wohl auch nicht anders; die Lyoner Seidenfabrikanten sol­ len aber wenigstens für die Landmädchen insofern sorgen, als sie sie

nachher als Ammen für ihre legitimen Kinder verwenden.)

Im Krieg ist das Dienstmädchen etwas gestiegen. Wenn es einen Bruder oder Schatz hak, der sich im Feld auszeichnet, fällt etwas

vom Glanz seiner Taten auf die Herrschaft, die sich mehr als sonst mit dem Dienstmädchen unterhäll und von ihm die Briefe aus dem Felde

gebm läßt zum Weiterzeigen. Sogar wenn Besuch da ist, wird es ins Gespräch gezogen. „Gell, Kachi, Ihr Bruder steht bei Arras,"

und auch der Schatz wird gesellschaftsfähig, ja sogar das Kind, teils als Kriegerkind, teils mit Rücksicht auf die unter allen Umständen

erwünschte Volkovermehrung.

Der Begriff des Dienstmädchens ist, da die von Aristoteles bei

den Sklaven beobachteten anatomischen Unterscheidungsmerkmale feh­ len, nicht zu trennen vom Begriff der guten Gesellschaft, der als Doraussetzung hat, daß es Leute gibt, die nicht dazu gehören. Die gute

Gesellschaft erfordert in Deutschland Geld oder Rang oder Titel oder Zeitungsberühmtheik, bei geringeren Graden dieser Voraussetzungen

auch ein gewisses Benehmen (in England scheint, auch wenn die übri­ gen Vorbedingungen gegeben sind, Geld immer dazu zu gehören); das Dienstmädchen kennt nur Kinderlieber und die der vorbciziehenden Sol­

daten, während die Herrschaft die schwierigsten Werke von Bach und Beethoven vermutet bereits früher genossen zu haben. Menschenliebe, die als abstraktes Gesprächsthema beliebt ist, ist im einzelnen Fall unpassend, wenn sie auf jemanden angewandt wird, der nicht zur guten

Gesellschaft gehört, und mancher Engel ist zu Haus ein Teufel. Gegen­ über Kellnern ist ein gewisser Grad von Verachtung vornehm.

In der Gesinnung haben wir während des Krieges die nicht zur Gesellschaft gehörigen Kreise, das sogenannte Volk, mit am tapfersten gefunden und auch in den Anschauungen am gescheitesten. Eins ist

vom andern nicht zu trennen. Mit dem Herz in den Hosen kann man

nicht politisieren. Ich habe z. B. gefunden, daß die eignen politischen Anschauungen der Briefträger viel gesünder sind als die der Leute, deren Briefe sie einem überbringen; auch würde, wenn die Seher die polltischen Artikel schrieben und die Schriftsteller sie setzten, zwar der

Druck schlechter, aber der Inhalt besser. „Unwissendes Volk, das die Lage nicht kennt", sagt der Diplomat und merkt immer noch nicht, daß

dieses Voll, das das Fürchten nicht kennt, den Krieg gewinnt. Walther Siegfried, der Schweizer, wird in einem unserer nächsten Hefte das

bayerische Gebirgsvolk so darstellen, wie er es im Krieg erlebt hat. Für Leute ohne gesellschaftliche Eigenschaften und Verwandte von

Dienstmädchen haben sich die oberbayerischen Bauern so weit ganz

gut benommen. Wir sind allzumal Sünder, aber vielleicht könnte jetzt doch ein

wenig Schützengrabengemeinschaft hinter der Front versucht wer­

den, nicht nur mit guten Lehren, was die ostelbischen Junker tun

sollten und was die rheinischen Großindustriellen tun sollten, son­ dern auch

mit Taten,

indem wir dem

Dienstmädchen erlauben,

sich bei Krämpfen ein wenig hinzulegen. Allerdings sollte nach den

besten Autoren die Gesinnung keinen Einfluß haben auf die wirtschaft

lichen Verhältnisse, aber alles hier Gesagte sind ja überhaupt dilettan­ tische Bemerkungen, und die Volkswirtschaftler, die zwar mit ihren

eigenen Dienstboten nicht auskommen, aber die Sache im großen doch

am besten verstehen, sehen sie jedenfalls ganz anders an; es gilt daher, die jetzige Zeit zu benutzen, in der die Volkswirtschaftler noch wie er­

schlagen sind durch den Weltkrieg, der nach falschen und längst wider­

legten Theorien verlaufen ist und vorübergehend unwissenden Men­ schen, ja Bauern, recht zu geben scheint; bis die Vollswirtschaftler

wieder fest beim Zeug sind und zeigen, daß sie doch recht hatten und der Weltkrieg unrecht, müssen wir uns auf diesem Gebiet behelfen. Manchmal findet ein blindes Huhn auch ein Korn; ja man kann sagen,

daß ein Korn, das irgendwo ganz abseits liegt, nur von einem blinden Huhn gefunden wird.

Kulturpolitik im besten Sinne des Wortes ist die letzte Note des Deutschen Reichs an Amerika. Mögen die Engländer sich freuen, daß sie die Einstellung

des U-Krieges einigermaßen erreicht haben, mögen Splitterrichter bei

uns in diesem und jenem Punkt finden, daß er mit der Kriegsgebiets­ erklärung vom Februar 1915 oder der Ankündigung des verschärften U-Krieges vom Februar 1916 nicht übereinzustimmen scheine; nicht

darauf kommt es an, den einmal eingenommenen Standpunkt hals­

starrig durchzuführen, sondern mit Berücksichtigung aller Gesichts­ punkte, nicht nur des milltärifchen, sondern auch des ethischen, des

innerpolitischen, kommerziellen, publizistischen, den Mittelweg zu fin-

den, der gerade im Krieg stets der richtige ist. Die rohe Beurteilung nach dem Erfolg ist hier wie überhaupt bei der Wertung menschlicher Handlungen nicht maßgebend, sondern die nach den kulturpolitischen

Tendenzen. Nach den vielen Opfern des Krieges müssen wir auch er­

tragen, wenn einige

nach den neum

Bestimmungen

verfahrende

U-Boote von den vielfach bewaffneten feindlichen Handelsschiffen in den Grund geschossen werden; die Verantwortung für solch feigen

Mord würbe nicht uns, sondern die englischen Politiker treffen, die bei der Verteidigung ihres Landes allen Grundsätzen der Kulturpolitik

in einer Weise Hohnsprechen, wie wir es vor dem Krieg nie geahnt

hätten. Wie Kant richtig bemerkt, kann man einen Menschen nur durch

einen Appell an das in ihm liegende Gute besser machen, und so wird zweifellos Wilson, wenn er überhaupt einer gerechten Handlung fähig ist, durch die deutsche Note dazu aufgefordert, England veranlassen,

den Aushungerungskrieg gegen Deutschland aufzugeben und sich zu ritterllchem Kampf im Land- und Seekrieg zu stellen. Dieser Erfolg wäre eine gerechte Belohnung der alten Sympathie Deutschlands für

Amerika, die schon Friedrich Wilhelm IV. die Amerikaner deutscher Abkunft ermahnen ließ, wahre Amerikaner und nicht Deutschameri­

kaner zu sein, und ihn sagen ließ, er könne nur Amerikaner brauchen. Sollte der Appell an das Gute in Wilson nicht wirksam sein, so trifft ihn

die Verantwortung

für jeden Deutschland erwachsenden

Schaden; wie unser Reichskanzler oft hervorgehoben hak, ist es im Krieg vor allem das gute Gewissen, was dem deutschen Volke Kraft gibt. Nicht nur der Beifall neutraler Länder, auch das Urteil spä­

terer Geschichtsschreiber wird diesem Standpunkt die Anerkennung nicht versagen, daß noch nie ein Volk in dieser Weise seine Existenz für den Kampf des Lichts gegen die Finsternis eingesetzt hat. Viel­

leicht hätte man, um die Befriedigung des deutschen Volkes vollständig zu machen, den preußischen Kronprinzen an den Beratungen teilneh­ men lassen sollen; wir wissen nicht, ob es geschehen ist, jedenfalls hak

die Öffentlichkeit nichts darüber gehört und man müßte ja geradezu einen

Zusammenbruch Deutschlands wie nach den Siegen von i8iz, an den doch kein vernünftiger Mensch glaubt, annehmen, um zu erwarten,

daß nicht er es sein werde, der in späterer, hoffentllch in weiter Ferne

liegender Zeit die Fortführung der Kulturpolitik übernehmen muß.

8

Wir verschleiern in diesem Heft nicht die Seiten des amerikani­ schen Volkes, die dem deutschen Wesen zuwiderlaufen, wenn es aber möglich ist, eine günstige Einwirkung auf die amerikanische Volksseele zu erzielen, so wird es gewiß nur mit den Methoden unseres Reichs­

kanzlers, mögen auch die von Tirpitz rein militärisch wirksamer sein,

durch das Medium eingehender, an alle edleren Triebe sich wendender Kundgebungen gelingen. Gewiß wird es dem Präsidenten, der selbst kürzlich einen Bund fürs Leben geschlossen hat, Eindruck machen,

wmn ihm erneut zum Bewußtsein gebracht wird, wie schrecklich der

von England völkerrechtswidrig geführte Krieg gegen Frauen und Kinder ist.

Schöpferische und unschöpferische Politik er Reichskanzler hat in der Sitzung des Reichstags vom 5. Juni erklärt, er wolle die Zensur abbauen, nachdem einige Tage zuvor Helfferich mitgeteilt hatte, mit diesem Abbau sei bereits begonnen.

Daraufhin wollen wir versuchen, uns unumwunden auszusprechen,

nachdem wir bisher versucht haben, uns umwunden auszusprechen, mit Ironie und Zitaten, Bildern und Geschichten. Sympathisch war es

uns nicht, und nachdem wir uns beim Amerikaheft überzeugt haben, daß dadurch eine Irreführung der Leser entsteht, ist es ein Gebot der Ehrllchkeit, daß wir einmal mit aller Deutlichkeit erklären: wir sind

für Tirpitz und gegen Kullurpolitik.

Der Gegensatz, den man in Deutschland als den zwischen Macht­ politik und Kulturpolitik bezeichnet, würde richtiger als ein Gegensatz zwischen schöpferischer und unschöpferischer Polltik bezeichnet.

Dao jüngere Geschlecht, das im neuen Reich aufgewachsen ist, ist von einem großen Optimismus beseelt. Es häll das deutsche Volk

für selbstverständlich mitführend auch ohne schöpferische Politik, nur

vermöge seiner Kultur. Die deutsche Geschichte spricht nicht für diese Auffassung und mehr dafür, daß das vierzigjährige Reich das Werk

eines einzelnen schöpferischen Politikers, daß dem deutschen Voll als Ganzem die unpolitische Denkweise angeboren und, da es umgeben

von Völkern, die politischer denken, der Zustand der Schwäche natür­ lich ist.

Wir verstehen unter schöpferischem Politiker ein Wesen, das weiß, wie gehandelt werden muß. Beim militärischen Führer ist es jedem klar, daß die Aufklärung über Freund und Feind zwar unge­ heuer wichtig ist, aber daß nicht sie den Führer ausmacht, sondern die Fähigkeit, auf Grund der Aufklärung zu handeln. Im politischen

Krieg, meinen viele Deutsche, sei die Aufklärung alles; aus ihr ergebe sich das Handeln von selbst. Handeln kann man aber in der Politik nicht ohne Instinkt: ein Teil der Wirklichkeit ist schon deshalb nicht

greifbar, weil er in Bedürfnissen besteht, die nicht durch Umfragen

festgestellt, sondern nur durch den Instinkt erfaßt werden sönnen. Ein schöpferischer Staatsmann stellt Ziele auf, die dem Volk selbst noch

nicht bewußt sind; nicht die Stimmzettel, sondern die Bedürfnisse seines Volkes sind sein Programm. Eine nicht schöpferische Natur ist

in ihren Anschauvngen die mittlere Proportionale chres Verkehrs­

kreises. Sie wird bei der Aufstellung von Zielen nicht ausgehen von

den sehr schwer und nicht ohne Intuition zu erkennenden Bedürfnissen der Zukunft, sondern von den feststellbaren Wünschen der Zeitgenossen, für deren Befriedigung sie eine Formel zu finden versucht. Diese For­

mel ist die mittlere Proportionale, mit der niemand ganz zufrieden und

niemand ganz unzufrieden ist. Man befindet sich in einem grundsätzllche» Irrtum, wenn man diese Berechnung von Zielen aus den Zielen

anderer Leute für Realpolitik im Bismarckschen Sinne hält; Bismarck

meinte mit Realpolitik die Benutzung vorhandener Mittel, nicht die

Benutzung vorhandener Ziele. Die Menge des Wissenstoffs ist für das Handeln nur dann von

Vorteil, wenn die Instinktsicherheit entsprechend groß ist, so wie die Güte des Magens der Menge der Nahrung entsprechen muß, wenn diese verdaut werden soll. Bei geringer Fähigkeit zum Verarbeiten wirkt die Menge des Wissenstoffo verwirrend und schädigend, so daß desto weniger Taten sich einstellen, je mehr Tatsachen bekannt sind.

8-

Der unschöpferische Staatsmann versucht aus allem Gegebenen, wirtschaftllchen und militärischen Verhältnissen, dem Nationalismus der Nationalisten, dem Sozialismus der Sozialisten, den Zielen der

Feinde, die Zukunft zu errechnen, während der schöpferische Staats­

mann dies alles gar nicht für Gegenheiten im Sinne von chemischen Stoffen hält, sondern den eigenen Willen für notwendig, trotzdem er

weiß, daß der Kapaun fetter wird als der Hahn; er hat das Bewußt­

sein, selbst etwas Neues hinzuzubringen zu den Tendenzen der Zeit, er stellt Ziele auf, die dem Volk zwar eingeboren, aber noch nicht be­ wußt sind; denn die Bedürfnisse des Menschen decken sich nicht mit seinem Programm.

Unschöpferische Polltik hält Ideen für eine in sich bedeutungslose Milltärmusik, die nur dazu dient, die Truppe im Marsch zu halten,

aber nicht zum Selbstzweck werden darf, und wird nie über bestehende Parteien hinaus neue, zusammenfassende Ideen ausgeben, sondern muß

noüvendig die bestehenden Parteiungen als unumstößliche Gegebenheiten

nehmen, und indem sie zwischen ihnen zu vermitteln sucht, zwischen ihnen und innerhalb von ihnen zersetzend wirken. In dem Maße wie

eine Regierung unschöpferisch ist, wird ihr Volk materiell werden.

Schöpferische Polltik hak den Mut, über alle Parteiungen hinweg sich an die Herzen des Volkes zu wenden. Die Echik unschöpferischer Naturen liegt in der Vergangenheit, ihr Gewissen ist persönllch und daher beeinflußt durch persönllche

Eigenschaften; sie glauben an die Güte der eigenen, die Schlechtigkeit der fremden Handlungen; das Gewissen schöpfenscher Naturen ist das

Nationalgewissen, ihre Echik liegt in der Zukunft und die Rechtferti­ gung ihres Instinkts wird stets erst durch die Zukunft erbracht. Wo

solche Instinkte fehlen, wo nur mechanische Kräfte wirken, da tritt Zersetzung ein. Wir glauben an eine immanente Gerechtigkeit. Wenn wir uns

auch in Augenblicken empören über die Verhetzung gegen schöpferische

Menschen, das dauernde Gefühl ist das der Trauer, weil wir wissen, daß ein Volk für nichts so schwer büßen muß, wie für die Undankbar­

keit gegen gotkgesandtr Männer.

Wir glauben im übrigen an keine Vorausberechnung, weil wir

wissen, daß die Ideen von heute die Wirklichkeiten von morgen sind

und daß Ideen nur in die Welt kommen durch schöpferische Menschen. Und so lang du das nicht hast. Dieses: stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Eugen Gries nsere Gesellschaft hak wiederum einen unersetzlichen Verlust er­ litten. Seinen schweren Verwundungen ist in einem Kriegslaza­ rett der Major im k. b. 18. Infanterieregiment, Eugen Gries, erlegen, der unserer Gesellschaft seit ihrer Begründung angehört hak. Wir

stehn am Grabe eines Mannes, den die weite Welt nicht gekannt hat, von dem die Zeitungen nicht gesprochen haben. Aber die ihn wirklich

gekannt haben, wissen, daß er mehr wert war, gekannt zu sein und ge­

rühmt zu werden als die meisten Berühmtheiten. Er hatte eine Eigen­

schaft, die nicht berühmt macht; er war reines Herzens. Wir fragen uns, ob wir einen Mann kennen gelernt haben, auf den das Wort so

paßt wie auf diesen; ob wir einen Mann kennen gelernt haben, so frei von jedem unlautern, ja auch nur ehrgeizigen, ja auch nur berechnenden

Gedanken, und wir haben das Gefühl, den umndlich Bescheidenen an

seinem Grabe zum ersten Mal sagen zu müssen, wer er war. Vor dem

Krieg mag mancher gemeint haben, ein Mensch, dessen weiches Herz

auch kein Tier

konnte leiden sehen

ohne tiefste Erschütterung, ein

Mensch, dem Standeshochmuk so fern lag wie jeder andere Hochmut, der so gar nichts aus sich machte und überall zurückstand, ein solcher

Mensch tauge nicht zum Soldaten. Der Krieg hat gezeigt, daß dieser selbe Mensch, der jeden Verlust in seinem Bataillon als persönlichen

Verlust schwer getragen hat, daß dieser selbe Mensch alle Grauen dieses Krieges gern und standhaft erduldet hak und als Held voran­

stürmte vom ersten Tag bis zum letzten. Das konnte er leisten, weil er

überzeugt war, für eine gerechte Sache zu kämpfen, weil er überzeugt

war, mit feinem Leben einzutrettn für alles, was uns teuer ist in deut scher Art und deutschem Wesen. Und wir möchten aus einem seiner

Briefe aus dem Feld den Gedanken anführen, er freue sich, nun etwas abtragen zu können von der Dankesschuld, die er gegenüber den großen deutschen Künstlern empfinde. In dieser Vereinigung von Idealis­

mus und milltärifcher Tüchtigkeit, von Güte und Kraft, von Milde und Mut ist er uns das edelste Vorbild eines deutschen Soldat». Den

Dank der Liebe hat er geerntet von allen, die das Glück hatten, unter

einem solchen Mann zu dienen. Der Krieg hat ihm, der unablässig an sich arbeitete, die letzte Reife, die letzte Weihe gegeben. Wir, die

chn gekannt haben, verlieren chn nicht. Er ist der Mensch, den Scho­

penhauer schildert, wo er Talent und Charakter gegeneinander abwägt.

Da schildert er einen Menschen, dessen Herz so groß ist, daß es die ganze Welt umfaßt; der gegen andere jene grenzenlose Nachsicht hat, die sonst jeder nur sich selbst widerfahren läßt; der sogar wenn er ver­

spottet wird, in seinem Herzen nur sich selber vorwirft, zu solchen

Äußerungen der Anlaß gewesen zu sein. Schopenhauer schlleßt: „Was ist dagegen Witz und Genie!" Was der Philosoph mit diesen Sätzen

sagt, das ist mit dem einen gesagt, von denen, die reinen Herzens sind. Und von allem Herrlichen, was denen versprochen wird, die die Selig­

keit verdienen, wird das Herrllchste denen versprochen, die reines Her­ zens sind. Von ihnen heißt es: sie werden Gott schauen.

Die Nachfolge Christi und Aristoteles CXn einer Anmerkung zu dem Aufsatz über die Wechselbeziehungen deutscher und flämischer Mystik (Die Niederlande, Augustheft

1916) habe ich darauf hingewiesen, daß der Verfasser der Nachfolge

Christi sich in seinen ersten Kapiteln mit Aristoteles auseinandersetze. Nach Zuschriften und Anfragen zu schlleßen, scheint dieser Umstand noch nicht bemerkt worden zu sein. Man hat wohl das Büchlein seiner

demütigen Gesinnung wegen vielfach als ein zusammengetragenes Er bammgsbuch genommen und den Verfasser nicht in seiner Individual!

töt als einen der großen deutschen Mystiker erkannt. — In der kriti

scheu Ausgabe von Pohl (Herder 1904) wird nur ein Aristoteles Zitat angegeben; das auffälligste und wörtlichste: nachdem das erste

Kapitel des ersten Buchs die Abwendung des Christen von den Eitel­

keiten der Welt im allgemeinen dargestellt hat, beginnt die Abwen­

dung des christlichen Gelehrten von den Eitelkeiten der Gelehrsam­

keit mit den ersten Worten des zweiten Kapitels (wir zitieren hier nach der Übersetzung von Guido Görres): „Jeglicher Mensch begehrt

von Natur zu wissen", also mit dem ersten Satz der Metaphysik des Aristoteles; dieses Zitat hat der Herausgeber der kritischen Ausgabe natürlich bemerkt, wie es gewiß tausende vor ihm bemerkt haben. Er

macht aber zu den wenigen Zitaten des Verfassers aus profanen Schriftstellern die Bemerknng, man dürfe nicht annehmen, daß Tho­

mas a Kempis diese Schriftsteller alle gelesen habe; er habe die Zitate

wohl aus zweiter Hand, von geistlichen Schriftstellern, übernommen.

Nun will ich mir nicht anmaßen, festzustellen, was Thomas von Ari­ stoteles gekannt hat; aber mein unbefangener Eindruck ist, daß er einige

Bücher des Aristotells (und zwar außer der Metaphysik mindestens noch die Nikomachische Ethik) selbst gelesen hat; denn es handelt sich

nicht um ein zufälliges Zitat, wie es der Verfasser in einer Blütenlese

gefunden haben könnte, überhaupt nicht um das, was man Zitat nennt,

sondern um eine systematische Auseinandersetzung nicht mit Worten,

sondern mit Geist und Gedanken des Aristoteles. Und so wie ich mir den Verfasser vorstelle, heißt Auseinandersetzung mit andern stets Aus­

einandersetzung mit sich selbst; er würde nach meiner Überzeugung nicht gegen Aristoteles polemisieren, wenn er damit nicht gegen sich selbst polemisierte, wenn er nicht selbst seiner Naturanlagen nach Ge­

lehrter gewesen wäre; hier, im ersten Buch bringt er seine Gelehrten natur Christus zum Opfer und hält sich vor, was vom Standpunkt des Evangeliums gegen den Standpunkt der weltlichen Wissenschaft

zu sagen ist, die ihm wohl wesentllch identisch ist mit Aristoteles. So gesehen, ist das erste Buch die spezielle Selbstbelehrung des asze

tischen Gelehrten. Nicht wie die christliche Philosophie des Mittel

alters unter dem Gesichtspunkt der Apologetik, sondern unter dem Ge

sichtspunkt des inneren Fortschreitens, der Nachfolge Christi betrach­

tet Thomas a Kempis wie alle Dinge der Welt auch die Philosophie

des Aristoteles. Das zweite Kapitel des ersten Buches beginnt also mit den An-

sangsworten der Aristotelischen Metaphysik: „Alle Menschen streben von Natur nach dem Wissen". (Nebenbei bemerkt halte ich das vier-

undsünfzigste Kapitel des dritten Buchs im gleichen Sinn für eine Auseinandersetzung mit den Anfangsworten der Nikomachifchen Ethik, wonach alle Menschen nach dem Guten streben — es fetzt dem Aristo­

telischer» Guten aus der Natur das christliihe Gute aus der Gnade entgegen.) Nicht um ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen, beginnt

Thomas mit den Aristotelischen Worten, sondern um sich zur Ruhe von der übergroßen Lernbegier zu ermahnen, um sich zu sagen, daß es

auf das Wissen nicht ankommt und daß Gott ein demütiger Bauers­

mann lieber ist als ein hochmütiger Philosoph, der den Himmelslauf verfolgt und sein Selbst versäumt. „Je größer und besser dein Wis­ sen, um so strenger wirst du danach gerichtet werden, wenn du nicht

um so heiliger gelebt hast." Thomas kontrastiert also in seinem zwei­

ten Kapitel Aristoteles Metaphysik i, i und Römer 12, 16.

Im nächsten Kapitel setzt er sich, und das scheint man noch nicht bemerkt zu haben, in gleicher Weise mit den nächsten Kapiteln der

Aristotelischen Metaphysik auseinander: wiederum nicht, um dem Phi­

losophen zuzustimmen ober zu widersprechen, sondern um zu sagen, daß es auf feine Erkenntnisse für den Christen nicht ankommt. Aristoteles behandelt im zweiten und dritten Kapitel die verschiedenen Arten der

Ursachen, Prinzipien, Anfänge. Gegenüber dieser Untersuchung sagt Thomas in seinem dritten Kapitel „Was haben wir Sorge um der

Dinge Gattungen und Arten", und läßt nur eine Erklärnng zu: „der Anfang, der auch zu uns spricht (principium quod et loquitur no-

bis)".

Er kontrastiert also mit den Anfängen des Aristoteles den

Anfang, von dem die Rede ist im Johannisevangelium 1, 1—3. Ge­ genüber der Mannigfaltigkeit von Prinzipien bei Aristoteles gilt hier

nur eines, zu dem der Weg demütige Erforschung seiner selbst, „ein sichrerer Weg zu Gott als die Forschung tiefer Wissenschaft". Wäh-

rmd Aristoteles in seinem zweiten Kapitel ablehnk, daß der Philosoph solche Untersuchungen „um den Nuhen willen" anstelle und daß sie

so „notwendig" seien wie andere, sagt Thomas: „Große Torheit ist, daß wir Nützliches und Notwendiges versäumend dem Fürwitzigen und Schädlichen sogar nachtrachten."

Die folgenden Kapitel der Metaphysik untersuchen „die An­ fänge" nach einer bei Aristoteles üblichen Methode. Sie wollen die Lösmigsmöglichkeiten des Problems erschöpfen, indem sie die Ansich­ ten der angesehensten Vorgänger darstellen und kritisch beleuchten.

Wir führen aus dem dritten und den folgenden Kapiteln der „Nach­ folge Christi" au: „Zu wem das ewige Wort spricht, der wird von den vielen Meinungen erledigt." „O würden sie (die um das Wissen

sich Bemühenden) so viele Sorgfalt darauf verwenden, Laster auszureuken und Tugenden einzupflauzen, als Fragen aufzuwerfen . . . . Sage mir, wo sind nun alle die Herren und Meister, die du gut ge­

kannt hast, da sie noch lebten und in den Schulen glänzten?" „Nicht jedem Wort und Anreiz ist zu glauben, sondern behutsam und lang­

mütig ist eine Sache mit Gott zu erwägen." „Wahrheit ist in heili­

gen Schriften zu suchen, nicht Beredsamkeit .... Nicht das Ansehen

dessm, der es geschrieben, er sei von geringer oder großer Gelehrsam­ keit, soll dich stören, sondern die Liebe zur lauteren Wahrheit ziehe

dich zum Lesen hin. Frage nicht, wer dies gesagt hat, sondern was gesagt wird, darauf merke."

Der innere Aufstieg it einigem Herzklopfen folge ich der Anregung, meine Welt-

U rx U anschammg auszusprechen, von der meine Freunde meinen, daß sie in dieser Zeit des äußeren Zusammenbruchs unsern Lesern etwas sein könnte. Am schwersten auszusprechen ist ja das, was einem selbst-

verständllch ist. Jeder Mensch, von jedem andern verschieden, hat eine eigene Weltanschauung, so selten einer sie ausspricht. Das was man

ausspricht, ist Zustimmung oder Widerspruch zur Weltanschauung

von anderen. Die eigene liegt in Gefühlen, die selten den Weg zum

Worte finden, weil sie einem selbstverständlich sind. Im Hintergrund

unserer Seele halten sich unsere besten Erkenntnisse auf, während im Vordergrund die Kulissenreißer für die Galerie spielen. Die Mannig­ faltigkeit der Natur ist so groß, daß jeder originelle Gedanken hätte,

wmn er überhaupt welche hätte. Man braucht aber nicht zu fürchten, daß die Zahl der philosophi­

schen Systeme ins Ungemessene vermehrt würde, wenn jeder sich in dieser Weise selbst ausspräche.

Im Gegenteil würde man darauf

kommen, daß gewisse Gmndwahrheiten in jedem Menschen schlum­ mern. Zutiefst die, daß die Seele zu den Singen gehört, die sich durch

den Gebrauch in jedem Augenblick verändern. Kein Gedanke und Ge­ fühl, die nicht ihre Spur zurückließen. Wir nennen die eine Verände rungsrichtung mit einem Bild Aufstieg. Man könnte sie Entwicklung

nennen, wenn das Wort nicht für anderes verbraucht wäre; für den angeblichen Fortschritt der Menschheit, für den angeblichen Fortschritt

des schreibenden Menschen, der, wenn er seine Ansichten ändert, sagt, er habe sich entwickelt.

Etwas bleibt unverändert und etwas ändett sich fortwährend. Nie­

mand wird sagen, daß der heilige Franziskus ganz der gleiche war bei seinem Tod wie als Jüngling, Gretchen am Schluß des ersten Teiles von Faust die gleiche wie am Anfang. Und sollte Beethoven beim Tod der gleiche gewesen sein wie mit zwanzig Jahren? Ich spreche

von ihm nicht als von einem typischen Künstler. Das Besondere in

seinem Schaffen scheint mir, daß er, um zu schaffen, nicht unmenschlich

sein mußte, sondern menschlich. Wenn ihm die innere Stimme ge­ sagt hätte, es sei besser, einen Aussätzigen zu pflegen als die Neunte Sinfonie zu schreiben, hätte er sie nicht schreiben können. Diese alle sind in einem Sinne andere geworden und in andrem Sinne die

gleichen geblieben. Von jedem Menschen scheint es irgendwie ein höhe­ res Ich zu geben, das durch die innere Stimme zu dem lebenden, davon meist sehr verschiedenen Ich redet.

Jene sind der inneren Stimme

gefolgt, aber es ist das durch keine Regel zu Fassende, daß keiner etwas

Höheres werden kann als ganz er selbst. Keine Formel kann ihm hel-

fen. Das Licht kann nur kommen aus unbegrenzter Hingabe. Man muß im Endlichen bis an die Grenze gehen, um ins Ewige zu gelangen. Ich spreche absichtlich vom Ewigen, nicht vom Unendlichen. Das Un­

endliche halte ich für eine Projektion des unruhvollen menschlichen

TNllens. Es gibt einen höheren Zustand, in welchem das Unendliche mit seiner unaufhörlichen Frage „Was dann?" verschwindet und an seine Stelle das Ewige tritt.

Nichts anderes ist der Maßstab des Aufstiegs als die Liebe, inan wird liebevoller oder liebloser. Wir sind uns bewußt, daß dieser Maß­ stab unbeweisbar ist wie jeder andere. Ein anderer, z. B. der der per­

sönlichen Lust, ist ebensowenig beweisbar und ebensowenig widerlegbar. Nur fuhrt jener zu merkwürdigen Erkenntnissen, in ein Reich, in wel­ chem religiöse und philosophische Genien, Künstler und liebevolle Men­

schen aller Zeiten gelebt haben und wer je hereintrat, bezweifelt nicht,

daß der Maßstab doch eüvas anderes als eine persönliche Richtung, daß er doch irgendwie Ausdruck einer Wahrheit ist.

Durch liebevolle Gefühle wird eine Art von Erkenntnis erreicht, die man mit einem Bild bezeichnen kann als Aufwärtsschiebung des

Hintergrundes der Seele. Die Erweiterungen der Seele haben das Merkwürdige, in anderen Seelen erweiternd zu wirken. Dinge, an die nie ein Mensch gedacht hat, brauchen nur einmal ausgesprochen zu

werden, um in entsprechend beschaffenen anderm Seelen als selbstver­

ständlich zu erscheinen. Das ist die Wirkung aller echten Kunstwerke

und Erkenntnisse, wenn auch Minerva es liebt, ihre Lieblinge zeiten­ weise in einem Nebel unsichtbar zu machen. Ich bin geneigt, alles das, was jetzt selbstverständlich ist, ursprünglich für solche gefühls­

mäßige Schöpfung Einzelner zu halten. Daß die Schönheit der Alpen eine ganz neue Entdeckung ist, ist bekannt. Noch Winckelmann und Goethes Vater fuhren über die Alpen, ohne ein Wort über sie zu ver­ lieren. Von den Künstlern, von denen man sagt, daß sie eine Stim­

mung am besten dargestellt hätten, wird man besser sagen, daß sie diese Stimmung geschaffen haben. Aber nicht nur so luftige Erscheinungen wie die Schönheit einer Gegend, wie eine Stimmung, auch das an

scheinend Greifbarste, nicht nur Ideen von Schönheit, Gott, Unsterb­ lichkeit, sondern auch den Begriff des Raumes, der Zahl, den Begriff eines Einzeldinges, die Wortsprache, das Abbilden von Gegenständen auf einer Fläche, die Tonfprach« und schließlich eine Vorstellung, die

jeder geistig gesunde Mensch jetzt hat, die Vorstellung einer Außenwelt, halte ich für solche Schöpfungen. Wenn Plato die Ideen, Goethe

das Urphänomen, Schopenhauer den Willen nicht aufgestellt hätten, so hätten sie nicht ettva ebensogut in anderen entstehen können, die an die bewegliche Decke der Seele hingerumpelt wären; wie ich glaube,

daß bei anderen großen Mathematikern die Mathematik eine andere geworden wäre. Plato, Goethe, Schopenhauer gehören zu den Schöp­

fern des Seelenschauplatzes, und zwar bei allen Menschen, abgestufk

von denen, die ganz in ihnen leben, bis zu denen, die kaum ihren Namen kennen und doch ihre und andrer Schöpfer Geschöpfe sind. Um es paradox auszudrücken, könnte man bezweifeln, ob die Menschen mehr von der Kausalität wüßten als die Hunde, wenn man ihnen

nichts von ihr gesagt hätte. Wir können uns trotz Kaspar Hauser

einen Menschen, der ohne die schöpferischen Ideen anderer Menschen ist, gar nicht vorstellen. Alles das was jetzt selbstverständlich ist, war einmal hinter der Rückwand der Seele. Aber es war latent in der

Beschaffenheit der Seele von je vorhanden. Dieses Latente zum Be­

wußtsein zu bringen, ist die eigenlliche Schöpferkraft. Die Schöpfun­ gen des Logikers und Mathematikers sind nicht willkürlich, sondern

Geographie des Verstandes. Und die kühnsten Systeme sind unschöp­

ferisch, wenn sie nicht eine von je vorhandene Wahrheit verkünden: wenn ihnen die Ehrfurcht vor der Natur fehll. Wie in der Mathe­ matik baut in jeder Erkenntnis am höchsten, wer am vorsichtigsten

baut. Hochfllegende Gedanken sind noch nie hochgeflogen; Schritt für

Schritt auf festem Boden sind die Gedanken geschritten, die von unten betrachtet so auosehen, als ob sie durch die Luft flögen.

Was wahr ist, bleibt wahr; aber der Gedanke einer abgeschlossenen Wahrheit ist sinnlos, weil jede üefere Erkenntnis den Hintergrund der Seele zurückschiebt. Man kann weder sagen, daß der erste, der den

Gedanken der Linie faßte, oder des Unendllchen, oder des Akkords,

etwas Vorhandenes erkannte, noch daß er etwas Neues schuf. Durch jede neue Erkenntnis verändert sich das Erkannte. Die Seele ist nicht wie ein Bergwerk, in dem desto weniger dableibt, je mehr heraus­

geholt ist.

Sie wird durch Entdeckungen

nicht abgebaut, sondern

erweitert.

Man kann also nichts herausholen, was nicht da ist. Was aber ist da? Unser höheres Ich, zu dem die Brücke zu finden vom Ich des

animalischen Kreislaufs nach meiner Auffassung Zweck des Lebens ist. Den Weg zu dieser Brücke weist die innere Stimme. Mit den Vor­

schriften der gesetzlichen und der bürgerlichen Moral braucht diese

innere Stimme nicht zusammenzufallen. Eine Regel für sie ist nicht aufstellbar. Die Möglichkeit der Veränderung des Menschen beruht auf dem unberechenbaren Faktor der Liebe und mit ihm ist eine Ver-

änderllche eingeführt, für die es keine Formel gibt. Negativ ist zu sagen, daß das gegenwärtige und künftige Urteil anderer ausgeschaltet

werden müssen, daß äußere Vorschriften, gefühllose Überlegungen die innere Stimme nicht Herbeiholm.

Man kann die Engel nicht an

Stricken vom Himmel ziehen. Die Neunzehntelwahrheiten, die das

Gespräch der Menschen ausmachen, reichm hier nicht aus. Denn mit

andern spricht man durch Worte, mit sich durch Gefühle. Nur Aus-

haltm und Durchleben eines Konflikts, einer Stimmung, mögen sie noch so drückend sein, bis das Richtige hervortritt mit derjenigen Evi­ denz, die des Beweises unfähig, aber auch nicht bedürftig ist, bringen Erkmntnis. Einer solchen Erkenntnis aus höheren Stunden in den niedrigen treu zu bleiben und nachzuhandeln, ist die einzige Regel, die keine Ausnahme duldet. Die innere Stimme nicht hören zu wollen, ist die Sünde wider den Geist.

Dem Bedürfnisse des Staates und der Gesellschaft wird gedient durch die Annahme von gleichbleibmden Menschen, durch die Annahme

also, daß die Seele sich in einem Horizontalm Niveau bewege, —

eine Fiktion des äußeren Bedarfs, die uns für den inneren Bedarf angenehm ist. Man könnte leben, wie man will oder wie es die sogmanntm Pflichten oder sonstigen äußeren Verhältnisse erfordem,

am Schluß holt man sich dann aus der Garderobe die inzwischen dort

aufbewahrte Seele. Auch die gute Meinung anderer ist aus ähnlichen

Gründen angenehm. Man möchte viele günstige, wenn auch unmaß­

gebliche Urteile von Menschen zusammen bringen gegen das eine maß­ gebliche und ungünstige der innern Stimme.

Der innere Aufstieg und nichts anderes eröffnet tiefere Erkennt­ nisse. Deshalb hat Plato die tiefsten Erkenntnisse an Sokrates ange-

knüpft. Sokrates konnte die Frage nach der Natur des Kosmos ab­

lehnen (ZLenophon, Erinnerungen, I, n), er konnte die Frage nach der Natur der Dinge ablehnen (ebd. IV, 7), aber er stellte sich die

Frage des Echikers „Was nun?" und das genügte Plato, um ihm die tiefsten Erkenntnisse in den Mund zu legen.

Wissen über sich

selbst ist wohl das, was man Weisheit nennt, während das Geistreiche irgendwie mit anderen zusammenhängt und durch sie angeregt wird.

Die weisen Dinge wachsen auf dem Weisen wie die Äpfel, die geist­ reichen Dinge auf dem Geistreichen wie die Galläpfel.

Daß nun aber das, was für den einzelnen in die Höhe und zu

höheren Erkenntnissen führend ist, auch für die anderen gut sei, das ist eine Überzeugung, die sich ebensowenig wie alles übrige beweisen läßt.

Im Grund unseres Innern schlummert die Überzeugung, daß das, was nach Innen recht ist, nach Außen recht ist, während man immer in

Versuchung ist, sich einzureden, was nach Außen recht ist, werde wohl

auch nach Innen recht sein. Aber das innere Dorwärtskommen ist das einzige, was anderen wirkllch hilft. Die Schritte, die der Mensch nach

unten macht, macht er allein; die er nach oben macht, ziehen das Uni­ versum mit.

Es hat den Anschein, daß die meisten Menschen nach dem hier

aufgestellten Maßstab des Zu- oder Abnehmens der Liebe sich unvor­

teilhaft verändern. Von allen Leuten wird sogar als das Natürliche

angenommen, daß sie mißmutig sind. Den Stein, von dem Goethe sagt, er habe ihn sein Lebenlang einen Berg hinaufzuwälzen gehabt,

hat jeder; er läßt ihn aber liegen und spaziert ohne ihn. Im Reden

sind wir weitergekommen, aber es steht zu befürchten, daß Gott im Barometer der Seell nur nach dem Auf- oder Absteigen der Queck­ silbersäule sieht und die Inschriften gar nicht liest. Da wir bei Offen-

heilen sind, wollen wir uns eingestehen, daß wir im Kindheilsalter,

in dem die beiden Ich noch ungetrennt sind, netter warm. Wenn die

Kinder wüßten, was anständig ist, müßten sie öfter die Gonvemante ermahnen, als sie von ihr ermahnt werden. Es gibt außer einem zweilm, auf das wir dann gleich kommen, kein anderes Wort des Evangellums, mit dem so seifen Ernst gemacht wird, wie das, daß wir wie die Kinder werden sollen. Im Gegmteil geht alles darauf hinaus,

daß die Kinder, die man als eine Art Verkleinerung des Normal­

formats auffaßt, werden sollen wie wir. Ich spreche hier hauptsächllch

von dm Männern. Die Frauen werden Kinder mit dm Kindem, die sie gebären, und die mütterliche Liebe halte ich, nicht nur bei dm

Mmschen, für etwas Heillges. Ohne sie würde übrigms trotz der gescheiten Moral und Gesetzgebung der Männer die Mmschheit in

kürzester Frist zugrunde gehen. Hier ist der Punkt, wo die Welt der Lebmserhaltung und die Welt des Aufstiegs zusammenhängm. Wir

Erwachsmen sind Verirrte; denn die innere Stimme wird immer schwächer, je länger wir ihr nicht gefolgt sind. Was wir mit Sinn­ lichkeit meinen, ist nicht stark entwickelte Sinne, sondem daß die Sinne

lauter sind als die innere Stimme. Wir neigen dazu, das Kindlichwerdeir auf die Zeit zu verschiebm, wo wir kindisch werdm. In dieser

Richtung Legt auch Camegies EvangeLum des Erfolges: bringe erst mögllchst viel Geld zusammm, und dann mache einen möglichst guten

Gebrauch davon. Die Verschiebung des Aufstiegs auf einen späteren

Zeitpunkt würde Paragraph Eins, wenn der Teufel ein Lehrbuch der Echik herausgäbe.

Die Gesetze des Aufstiegs nennen wir Ethik. Aber zuerst müssen wir uns einem anderm Gebiet zuwmden, das mit jenem gem verwech­

selt oder wenigstens in Zusammenhang gebracht wird, nämllch der Be­ urteilung der Mitmenschen. Dieses Fach wollm wir Moral nennen.

Es gibt zwei Betrachtungsweisen, die innere und die äußere. Die Moral gehört zur äußerm. In vereinzelten Fällen haben die beiden

Gebiete etwas miteinander zu tun. Bei ganz nahestehenden Menschen

kommt es vor, daß sich der eine um das Seeknheil des anderm be-

9D

kümmert. Auf dem Weg, der ins Waldesdickicht unseres Innern führt, begegnen wir andern nur, wenn wir sie lieben. Moral ist das Gegenteil von Ethik. So ist eine Verwechslung

der Konstanten und Variabeln. Ethik hält für gegeben die Anderen, für veränderlich das Ich. Die Moral behandelt das Ich als gegeben, die Anderen als veränderlich und ärgert sich über die Wirklichkeit.

Diese Verwechslung ist gegenseitig. Der A. sagt zum B. und der B.

sagt zum A.: Wenn ich du wäre, so würde ich mich so und so ver­ halten. Drollig würde es uns vorkommen, wenn das an einem Hebel­

arm wirkende Gewicht nach menschlicher Art, statt zu ziehen, sich über

den Zug des am anderen Hebelarm wirkenden Gewichts entrüstete. Aber es ist nicht anders: die Moral ist eine Kunst, in der es nur Kri­ tiker gibt, und dem Unbegabtesten ist die Lehrbegabung für Moral in die Wiege gelegt. Wenn es lauter herrliche Menschen gäbe, aber

keine Leute, die sich über sie äußerten, so gäbe es keine Moral. Die Theorie des Faches ist das Fach selbst. Jeder steht am Zaun und sagt: „Jetzt wird's Frühjahr, jetzt

sollte der Nachbar pflügen — unglaublich, jetzt in der Sonnenhitze gießt er nicht — hat man schon so etwas von Unkraut gesehen!" Der

Tod dreht mit einem Griff unsern Kopf nach dem eigenen Garten um. Daß Goethe nicht so war, ist das, was man ihm als Egoismus

auolegt. Das Einzigartige von Goethes Persönlichkeit sehe ich darin,

daß er allein unter all diesen Schriftstellern, wenn er in Versuchung war, auf fremde Äcker hinzuschauen, mit einem kräftigen Hüstehott seinen Gaul Herumriß und wieder in das eigene Feld hineinackerte,

mochte es noch so wehtun. Denn alle Wurzeln des eigenen Gartens,

auch die des Unkrauts, sind Blutgefäße, die zu unserm Herzen führen.

Auch das Tyrannische von Bismarck liegt dann, daß ihm keine äußere Zustimmung die Zustimmung seines Gewissens ersetzen konnte. Hingegen ist Moral stets angenehm, ja das bellebteste und ver­

breitetste Gesellschaftsspiel, das es überhaupt gibt. Wmn man sich Anachoreten vorstellt, die beieinander sitzen und über den Lebenswandel

eines Anachoreten lästern, der gerade nicht dabei ist, hak man das Ge­ fühl: das gehört sich nicht, dazu ist man nicht Anachorek und geht in

ioo

die Wüste, um über andere Leute zu lästern, sondern dazu, daß man

seinen innereu Menschen verbessert. Gs ist, als ob man das Recht hätte, vonAnachoretenEchik zu verlangen, weil das ihr Fach ist, während wir

andern ja gleich gesagt haben, daß wir ein anderes Fach haben. In jenem sind wir nur kritische Liebhaber.

An sich wäre es ja denkbar, daß das Anderswünschen seiner Mitmmschen wirksam wäre, wenn der Ansatzpunkt für diesen Wunschhebel

vorhanden wäre. Der Ansatzpunkt ist aber nicht vorhanden, und es scheint, daß das einzige, was ohne Ansatzpunkt wirkt, Liebe ist. Wir neigen allerdings dazu, anzunehmen, daß das, was uns an andern miß­

fällt, ihrer Seele abträglich ist. Bei meinem Hund ist es moralisch, daß er dableibt, bei seinem Floh, daß er weggeht. Aber Moral ist nichts

anderes als eine bequeme Hinausverlegung unserer Willensrichkung. Sie ist eines der Hilfsmittel des Organismus, um Gifte, mit denen

er nicht fertig wird, auszustoßen. Durch Projektion wird indessen das

Projizierte nicht verändert. Die Last der Welt, mit der wir nicht fer­ tig werden, legen wir auf andere. Der zu nichts verpfllchtmde Ge­

danke, daß die anderen anders sein sonnten, als sie sind, drängt sich immer wieder auf, wenn man dem zu allem verpflichtenden Gedanken

entgehen möchte, daß man selbst anders werden sollte als man ist. Am deutllchstm wird das, was ich meine, am moralischen Ärger.

Arger projiziert sogar in die Zukunft, stellt sich vor, daß in Zukunft der andere etwas tun werde, das uns Gelegenheit gibt, unsern Ärger los

zu werden (meist tut er es nicht, wie überhaupt Dinge, die man sich

als künftig vorstellt, nicht eintreten). Ärger ist stets innerlich verur­ sacht. Es ist, wie wmn einer, der zu viel Apfelkuchen gegessen hat, sich im Augenblick übel befindet, wo er einen Apfelschimmel sieht, und

dann behauptet, daß ihm Apfelschimmel Übelkeit verursachten. Wir

ärgern uns über schlechte Karten, weil wir verkennen wollen, daß die Aufgabe nicht ist, zu gewinnen, sondern gut zu spielen. Wenn einer

sich in der Astronomie irrt, so llegt es an seiner Unwissenheit; wenn er sich in einem Mitmenschen irrt, so llegt es an dem seiner Moral. Im allgemeinen ärgert man sich so sehr über die Konstanz der Konstanten, daß man nicht dazu kommt, die Variable zu ändern. IOI

Auch bei den Moralisten im großen ist es so. Wer sich nicht raten kann, rät anderen. Das Arbeiten an mir ist so unbequem, daß ich immer noch lieber an andern arbeite und ein Kulturträger werde.

Statt das Wasser des Lebens zu trinken, schüttet man es den Vorüber­

gehenden auf die Köpfe. Am weitesten entfernt vom Heiligen ist der Moralist.

Das Wort aber, von dem ich vorhin sagte, daß es ebensowenig ernst genommen werde wie das von den Kindern, ist „Richtet nicht". Ja, das Wort ist in sein Gegenteil verkehrt worden: Richtet, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Sich selber richten, ist Ethik; andere richten,

Moral. Wir denken und reden so, als ob unsre Aufgabe sei, uns zur

Teilnahme am Jüngsten Gericht vorzubereiten, aber nicht zu einer passiven, sondern zu einer aktiven. Wenn wir in einem andern Leben

Höllenrichter werden sollten, könnten wir uns nicht besser vorbereiten.

Dabei sind so ziemlich alle liebelosen Urteile von Menschen über Men­ schen falsch. Ins Herz schaut nur Gott. Nur in diesem einen Punkt

ist die Religion der Gnade ungnädig, die in zahllosen Wendungen ver­ langt „Richtet nicht" und davon alles abhängig macht.

Daß die menschliche Moral ein Erzeugnis des menschlichen Egois­ mus ist und keinen weiteren Zweck hat, als das Leben der Menschen

angenehm zu machen, zeigt deren Verhalten gegen die Tiere. Die

Empfindungen eines kleinen Kalbes, das von der Mutter weggerissen wird, werden nicht viel anders sein als die eines kleinen Kindes, das

von der Mutter weggerissen wird. Im einen Falle gilt es als zu­ lässig, das kleine Geschöpf mit Fußtritten weiterzubefördern, im andern

nicht. Warum? Die Zahl derer, die meinen, daß Sonne, Mond und Sterne zu

Beheizungs- und Beleuchtungszwecken für den Menschen vorhanden

feien, wie Sokrates (Xenophon, Erinnerungen IV, 2) so gut wie das

Alle Testament llhrke, ist verschwindend klein; die Zahl derer, die nach der gleichen Anschauungsweise meinen, die Tiere seien für die Menschen

da, wenigstens unter den Gebildeten, gering. Sondern sie denken „nicht für uns da sind sie, aber wir verwenden sie für uns, weil wir die Macht

dazu haben und jeder sich selbst der nächste ist." So ist es. Wenn die Meerschweinchen in der Übermacht wären, so würden im Vorderhaus der Kliniken die kranken Meerschweinchen behandelt und im Hinter­

haus Menschen zu Versuchszwecken gehalten. Und wenn die Igel Hochschulen hätten mit gutbezahlten Lehraufträgen für die Geschichte

der Igel, so würde es begabte junge Leute geben, die diesen Zweig der Geschichte für besonders wichtig hielten. Der wirkliche Grund,

weswegen wir die irrtümlich Weltgeschichte genannte Menschheits­ geschichte für so wichtig halten, ist, daß wir Menschen sind. Von keinem naturalistischen Standpunkte, von keinem Standpunkte als dem,

der der menschlichen Seele eine besondere Heilobestimmung zuschreibk, läßt sich ein geringerer Wert eines Schweins gegenüber seinem Metz­ ger nachweisen. Die in Schweine verwandelten Genossen des Odysseus

haben gewiß die gute Behandlung von Schweinen für wichtiger ge­ halten als die von Menschen. Die herrschende utilikarische Moral — Erzeugung der höchsten

Summe von Lust, der geringsten von Unlust — zeigt sich in ihrer

Unwahrheit, sobald man die durch Menschen den Tieren bereiteten Qualen beachtet. Vom Standpunkt der Lusterzeugung wäre es besser,

wenn das Menschengeschlecht rechtzeitig ausgerottet worden wäre. Der Begriff des Ungeziefers ist relativ. In besonderer Weise als unwahr

zeigt sich im Verhalten gegen die Tiere die sozialdemokratische Moral, soweit sie utilitaristisch und darwinistisch ist; den übergangslosen Unter­

schied von Mensch und Tier aufheben, die Erzeugung der höchsten

Lustsumme als Ziel der Moral aufstellen und sich dabei um Lust und Unlust aller lebenden Wesen mit Ausnahme von einigen Millionen Menschen nicht kümmern, diese Verbindung zeigt die Willensrichtung

der moralischen Werte: Menschenegoismus. Ich halte ihn wie jeden Egoismus für unwiderleglich. Nur muß man sich klar sein, daß er das Gegenteil von dem ist, was in den uns als höhere Menschen er­

scheinenden das Höhere ist. Nach meiner Auffassung sind di« nach

dem Pfund verkauften Karpfen ebensogut unersetzüche, nur einmal vor­ handene Seelen wie die in der sogenannten Weltgeschichte einzeln

behandelten Herrschaften. 9' 103

Da wir bei Bekenntnissen sind, will ich noch meine Überzeugung

aussprechen, daß im Evangelium nichts über das Verhalten gegen die

Tiere vorgeschrieben ist, um di« Bekenner auf chr Verständnis des christli­ chen Geistes zu prüfen, aus dem sich das Verhalten gegen die Tiere von

selbst ergibt. Diese Probe hat nur der heilige Franziskus bestanden. Das Anderswünschen der Welt, das man als Moral bezeichnet,

halte ich also nicht für Idealismus. Ebensowenig das Andersdenken

der Welt, das Annehmen, die Welt sei bereits so wie man sie sich wünscht, das man gleichfalls als Idealismus bezeichnet.

Dies ist die Welt, die Christus gekreuzigt hat.

Das charakteristische Merkmal des nicht tiefer Sehenden ist die Vorstellung, daß, wenn Christus jetzt käme, er nicht gekreuzigt würde.

Diese Art von Ideallsmus besteht dann, daß sie die Wirklichkeit nicht sieht. Sie ist eine Umgestaltung der Natur, in die wir hinein­ gestellt sind, nach unseren Wünschen. Phantasie (soweit sie nicht von

Engeln kommt) kommt vom Teufel. All das Furchtbare, das in jedem Augenblick mit und ohne Zutun

der Menschen vor sich geht, wird dadurch nicht anders, daß man nicht

daran denkt. Wer annimmt, er könne irgendeinen Weg gehen, ohne eine Pflanze oder ein Tier zu töten, der verkennt die Welt. Und im buddhistischen Iaina, der sich ein Tuch vorbindet, um kein Tier ein­

zuatmen und dadurch zu töten, arbeitet der Organismus, ihm schädllche

Organismen zu vernichten oder auszustoßen. Unser Körper arbeitet unablässig daran, uns im Kreislauf des Lebens zu erhalten. Jeder

Heilprozeß des Körpers, auch bei dem, der sich in Indien nur von Reis, bei uns nur von Nüssen und Äpfeln nährt, ist ein Kampf gegen andre Orgam'smen. Für die Bakten en ist das, was für uns

Krankheit ist, blühendste Gesundheit, es gibt keinen Ausgleich zwi­ schen den Interessen der Stechfliege und denen des Pferdes; und in Abstufungen bestehen solche Gegensätze zwischen den einander entgegen­

stehenden Willensrichtungen der Menschen, etwa der Deutschen und

Polen. Man prüfe die Grundlagen der englischen Kultur mit all ihren echten Philanthropen und großartigen wissenschaftlichen Einrich104

Lungen — als Untergrund des Reichtums, auf dem dies alles beruht, wird man den Handel mit Negersklaven finden, die Vergiftung Chinas durch Opium, die Ausrottung der Ureinwohner Amerikas durch Ein­ führung des Branntweins.

Man ändert die Natur nicht, indem

man sie verkennt.

Der Sozialismus war ein Versuch, die auf das Materielle ge­ richteten Willensrichtungen so zu verkennen, baß sie nicht miteinander

in Kampf geraten. Ein Versuch, der so aussichtslos ist wie der, durch eine Bearbeitung der Baumaterialien die Gesetze der Schwerkraft

aufzuheben. Diese Art von Idealismus blüht besonders unter Deut­ schen. Sie verstehen nicht, daß man die Technik ändern kann, aber nicht die Physik.

Man mißverstehe uns nicht dahin, als ob wir die Leiden der Welt für unvermeidllch hielten, weil es in ihr wie in einem Schillerfchen Drama schlechte Menschen gibt. Wir halten sie für unvermeidlich schlechthin so wie bei Goethe, wo die Leiden durch die immanente Be­

schaffenheit der Welt entstehen, auch emter lauter guten Menschen wie in Iphigenie und Tasso. Wir halten jeden vernichteten oder verstümmelten Menschen für

ein unersetzliches Unglück und möchten nicht die Verantwortung für einen einzigen Getöteten oder Verstümmelten übernehmen. Aber die

zum Krieg führenden entgegengesetzten Willensrichtungen, den unge­ heuren Vernichtungswillen gegen alles Deutsche, überhaupt die Pola­ ritäten der Natur, zu verkennen, hallen wir nicht für idealistisch son­

dern für oberflächlich.

Für oberflächlich halten wir auch die Be­

fürchtung, es möchte, wenn es keine Kriege mehr gäbe, hohen menfch-

lichen Eigenschaften,

der Aufopferungsfähigkeit und Furchtlosigkeit

bis in den Tod, die Gellgenheit zur Betätigung fehlen.

Auch die

heldischen Willensrichtungen, wie alle anderen, schaffen sich selbst die

Umwell zu ihrer Betätigung. Wo Christus ist, da ist auch Golgatha. Raimund in seiner tiefsinnigen Komödie „Alpenkönig und Mm-

schenfeind" zeigt uns einen Moralisten, der mit gar nichts zufrieden ist

und sein Leben mit Entrüstung über die ihn umgebenden Menschen

ausfüllt. Der Alpenkönig nimmt die Gestalt des Menschenfeindes an,

so daß dieser sich selber toben sieht und über sich belehrt wird. Es ist ein treffliches Mittel, um auf seine eigenen Fehler zu kommen, daß

man die Menschen, mit denen man zu tun hat, für Alpenkönige hält,

die einem das Vorspielen, was man selbst tut. Das Ergebnis ist über­ raschend, aber nicht schmeichelhaft.

Thomas de Celano (im ersten Kapitel der zweiten Lebensbeschrei­ bung) erzählt vom heiligen Franziskus: „Er pflegte stets bei sich sel­ ber alles das abzutun, was er bei anderen Unrecht nannte."

Unzufriedenheit mit einem andern äußert sich beim Ethiker als Unzufriedenheit mit sich selbst: Du hättest jenen längst ändern sol­

len, sagt er sich. Das Problem der Willensfreiheit löst sich für ihn so:

mein Wille ist frei, der der andern gebunden. Derjenige Umkreis, die „Well", in der ich lebe, ist von mir geschaffen, sagt er sich. Diese Auffassung ist eine Art Gegenstück zum kritischen Ideallsmus

in der Erkenntnistheorie, ein kritischer Idealismus in der Bekennt-

niskheorie.

Der erste Schrill zum inneren Menschen ist, daß man die Fen­

sterläden zumacht und nachsieht, wie es bei einem selber aussieht. Wir, die in der Gesellschaft leben, übertönen die innere Stimme durch Spre­ chen. Wie der Mund, der eigentllch zum Essen da ist, wird das Ge­

hirn, das eigentllch zum Denken da ist, überwiegend zum Sprechen

verwendet. Es gibt kein besseres Mittel gegen Denken als Sprechen. Die Magnetnadel im Innern ist bei jedem da, aber die umgebenden

Massen lenken sie ab. Während wir also das Rücksichtnehmen auf die Moral, auf die

wirkllchen oder vorgestellten Meinungen anderer, für hinderlich auf dem Weg halten, von dem wir zu sprechen versuchen, gilt das nicht

von dem Rücksichtnehmen auf die vorgestelllen Meinungen Verstor­ bener. Man möchte vielleicht rationalistisch den Nutzen, den es hat,

Toll als Zuschauer vorzustellen, so erklären, daß die Tolln unsere

Fiktionen sind. Dagegen ist zu sagen, daß die als Zuschauer vorgestelllln Lebenden auch unsere Fiktionen sind. Und doch wirken die vor-

gestellten Lebenden auf Eitelkeit und Schwäche, während die vorge­ stellten Toten sagen: sei dein höheres Ich. Dieses höhere Ich stellt in

jedem Augenblick die Kabinettsfrage.

In jedem Augenblick gibt es

einen Weg zu ihm und viele von ihm fort. Dabei handelt es sich

nicht nur um Taten, sondern besonders um Gedanken. Schllmmes zu denken, halte ich für schlimmer, als Schlimmes zu tun, die Ge­ dankensünden Peer Gynts für schlimmer als die Tatsünden Fausts. Die

Wirkllchkeit trägt noch in ihrer verworfensten Gestalt irgendeine gött­ liche Faktur.

Einzelne Vorschriften zu geben, wie die Lehrbücher der Moral*), ist mir leider nicht möglich. Ethik ist Geographie des Herzens, aber

eine Landkarte gibt es nicht, der Weg ist hier für jeden ein anderer, nur so viel läßt sich sagen: es kommt nicht darauf an, durch welches

Tor wir in den Himmel gehen. Den Wert der Askese sehen wir darin, den Menschen liebevoller zu machen.

Gut sein, heißt besser

werden wollen. Alles, was uns dem Reiche nähert, das wir als göttllch bezeichnen, ist gut. Ich habe den Vereinigungspunkt meines Glau­

bens und meiner Politik gefunden in der Erkenntnis, daß auch das

Göttliche spricht: right or wrong, my country. Man pflegt solche Richtung auf das Innere als Quietismus zu bezeichnen. Quietisten und Inquietisten unterscheiden sich wie die Leute in zwei aneinander vorbeifahrenden Zügen. Dem Quietisten kommt es vor, als ob der Inquieüst still stünde, dem Inquietisten, als ob

der Quieüst still stünde. Besonders die Historiker haben's gegen die

Quietisten, weil von ihnen nichts zu erzählen ist. Hundert Genera-

tionen von buddhistischen Mönchen, die die ganze Skala des menschlichen Denkens und Fühlens durchlaufen haben, bieten dem Historiker

nicht so viel wie eine einzige von Rowdies, die um ein Stück Land raufen. Das Gleichbleibende kann der Historiker nicht brauchen; sein

(Siemens ist die Veränderung, für ihn kann es nicht genug Napoleons

gebm. Geschichte läßt uns vergessen, daß nicht eine Summe von Men9 Eines (Baumann, Realwissenschaftliche Begründung der Moral, S. 16 f.) vermag zu sagen, wieviel Glas Schankbier man täglich trinken darf, ohne un­

sittlich zu sein, nämlich 2; Weißwein 3/10—4/10 Liter.

schen, sondern der Mensch das Universum ist. Der Mensch ist nicht

nur ein Stück Fluß, sondern auch eine Quelle.

Unter der Schönheit einer Handlung, eines Gedankens verstehe ich also nicht die Nützlichkeit für äußere Verhältnisse, sondern die Nütz­

lichkeit innerhalb einer andern Weltordnung, deren Eigenart es ist, daß das Heil des einen das Heil aller ist. Gestellt ist die Aufgabe, bei einer unbegrenzten Anzahl von gegebenen Größen die eine veränder­

liche, das Ich, ein Maximum von Liebe erzeugen zu lassen. Die un­

begrenzte Anzahl der Gegebenen bringt es mit sich, daß das Gesuchte

nicht errechnet, nur gefühlsmäßig erkannt werden kann. Im Augen­ blick einer entschieden uneigennützigen Handlung versinkt die Welt und wir treten ins Reich der Kunst.

Diese Erkenntnisse hängen in besonderer Weise mit der Kunst

zusammen, ja man kann sagen, sie sind die Weltanschauung aller Künstler gewesen. Kunst ist eine Kristallisierung jener höheren Stun­ den. Für die Echik eines Künstlers sind daher seine Werke ein noch unerbittlicherer Richter als seine Freunde. Unwürdig genießt die Kri­

stalle, wer sie als Vergnügen wie Essen, Trinken, Kartenspielen und nicht als Offenbarungen einer höheren Welt aufnimmt. Ihre Wir­ kung liegt nicht in Moralregeln, nicht im Stofflichen, sondern im

Erheben in höhere Sphären, in die wir dem Künstler folgen, wenn wir ihn ahnen. Die „Gleichnisse", die „denen die draußen sind", „den

Übrigen" an Stelle der Mysterien gegeben sind (Matth. 13, 11; Markus 4, n; Lukas 8, 10), sind für den neueren Menschen die Kunst: Aber das Wort Goeches: „Wer Wissenschaft besitzt und

Kunst, der hat auch Rellgion. Wer beides nicht besitzt, der habe Re­ ligion." ist nicht dahin zu verstehen, daß Kunstgenuß Religion ersetze; also nicht im Sinne des Alten und Neuen Glaubens von D. Fr.

Strauß; vielmehr: wer den Genius in sich hat, der hat das Gesetz in sich. Für die anderen ist die Kunst ein Gesetz nur, soweit sie auf ihr

Leben einwirkt. Die Menge aber bewundert die höchsten Berge nicht, weil die Sonne sie zuerst bescheint, sondern weil ihr Name in jeder­

manns Munde ist. 108

Die triviale Auffassung vom Leben großer Menschen beruht auf

der Zweiteilung in Menschen, die auf dem asketisch heiligen Weg, und

solchen, die in der Welt sind. Bei jenen hält man es für natürlich, daß sie verbrannt werden, bei diesen, daß sie Erfolg haben. Bei einer armen Frau, deren Charakter in ihren vier Wänden leuchtet, und bei einem Trappisten beruhigt man sich dabei, daß solche Menschen

nicht auf die Welt wirken und die Welt ihnen daher nichts schulde.

In dem, was ich unsere guten Stunden nannte, haben wir einen Standpunkt, der zugleich die in der Welt wirkenden Künstler, die arme Frau und den Trappisten umfaßt. Diese Stunden festzuhalten, ist die Kunst des Künstlers.

Kunstwerke sind Brückenbogen vom einen zum andern Ich des Künstlers. Entstanden sind wirkliche Kunst und tiefe Erkenntnisse

aus dem Bedürfnis dieser inneren Brücke, nicht wegen der Wirkung nach außen, so wie der Ekfant die Zähne nicht hat, damit Kleider­ bürsten daraus gemacht werden. Aber das so Entstandene kann Brücke

für die Entwicklung anderer werden. Es enthält die Logik des Her­ zens. Die absichtliche Darstellung von Weltanschauungen scheidet für

uns aus, weil sie nicht Kunst ist. Der Philosoph, der seine Beobach­ tungen an ungenialen Werken macht, gleicht dem Ornithologen, der den Vogelgesang an Kuckucksuhren studiert. Alles Talent ist im Grunde Nkchahmungskalent. Auch ist es eine platte Psychologie, bei der Er-

läukerung eines genialen Werkes nur nach dem zu fragen, was der Künst­

ler im Bewußtsein hatte, als er es schuf. Dao Schönste, was über Künstler gesagt wurde, ist: Den Seinen schenkt es der Herr im Schlaf.

Daß Kunst und Erkenntnis mit Liebe zusammenhängen, haben viele empfunden; aber wie, hat noch keiner gesagt. Auch ist es besser,

sich unbestimmt und richtig auszudrücken, als bestimmt und unrichtig. Die zwei Gefahren des menschlichen Denkens sind Analogie und Anti-

chese. Auf dem Gebiet, von dem wir zu sprechen versuchten, ist die

Gefahr der Analogien mit der äußeren Welt gegeben. Die Welk, von der wir zu sprechen versuchten, hat nun zwar ebenso strenge Ge­

setze wie die äußere Welt, aber die Gesetze sind andere. Ich glaube,

daß bei der naturwissenschaftlichen Richtung des Zeitalters die Kennt­

nis des Hell- und Fernsehens am meisten dazu beitragen wird, die

materialistische Auffassung von Raum und Zeit zu erschüttern und dadurch einer unbefangenen Betrachtung des Lebens und Fortlebens

der Seele den Weg zu bereiten. Man wagt sich in gebildeten Kreisen

die verbreitete

Erscheinung selbst

nicht einzugestehen, daß man bei

Nahestehenden ein unmittelbares Gefühl dafür hat, z. B. wenn sie sich in Gefahr befinden, und daß dabei der Raum keine Rolle spielt. Ich bin unbefangen genug, um Lichtenbergs Bemerkung (in dem Brief an Wolff vom 20. Oktober 1783), daß man von solchen Dingen

desto mehr abgekommen sei, je mehr sich die Zeiten aufklären, als richtig anzuerkennen. Nur bilde ich mir ein, noch unbefangener zu fein, wenn ich für mögllch halte, daß solche Dinge sich auch weniger

ereignen, je mehr sich die Zeiten aufklären, und daß in einem einzigen Kloster des Mittelalters sich mehr davon ereignet hat, als in allen

Börsen, Fabriken, volkswirtschaftlichen Seminaren und Zeitungsredak

tionen unseres Zeitalters. Erst in der Erschütterung dieser geschäfti­ gen Welt durch den Krieg sind sie wieder stärker hervorgetreken. Daß die neue Zeit, wenigstens in ihren öffentlichen Äußerungen,

eine oberflächliche Zeit war, zeigte sich darin, daß sie sich so wenig um die Unsterbllchkeit bekümmerte, das Problem, das früher für die Bekenner sowohl als für die Bestreiter das aufwühlendste war. Man war in unserer Zeit geneigt, sich und alles historisch zu nehmen. Ge­

schichte ist diejenige Menschheitsbetrachtung, die das Unsterblichkeitsproblem ausschließt.

Wo Karl der Große jetzt ist, interessiert den

Historiker nicht. Ich kann mir vorstellen, daß Plato immer noch von

der Liebe spricht, aber nicht, daß Thukydides immer noch vom Peloponnesischen Krieg spricht. Es ist nicht anders: weil wir Menschen sind, halten wir die Menschen für wichtiger als alle andern Ge­ schöpfe, und weil wir leben, lebende Menschen für wichtiger als tote. Moral und Geschichte, jedes auf seine Art, verdunkeln diese Grund­

tatsache des Egoismus. Wir aber halten das Weltgericht für die Weltgeschichte. Während es dem Engländer wie dem Römer natürlich ist, irdische Geschäfte irdisch zu beurteilen, ist es dem Deutschen wie HO

dem Griechen eigen, den Maßstab der Un Erblichkeit anzulegen. Mit

ihm ist er der stärkste, ohne ihn der schwächste. Wir glauben, daß alle

diese Kinder, die in grenzenloser Hingabe zu Männern gereift, und all diese Männer, die streng gegen sich, gerecht und hilfsbereit gegen ihre Untergebenen, vom Schauplatz der Geschichte abgetreten sind,

aufgestiegen sind, während wir zusannnenbrachen. Deutsche Geschichte wird stets nur erfolgreich sein, wenn sie innerer Aufstieg ist.

Sozialismus ohne NaLionalgefuhl? ber unser nationales Znberesse hinaus wird die Zeit nach dem

AA Herbst 1918 dem betrachtenden Menschen stets besonders wichtig sein als erste Periode sozialdemokratischer Herrschaft in irgendeinem

Lande, als erstes Experiment über die Durchführbarkeit der sozial­

demokratischen Lehren.

Der übliche Einwand: Die Verhältnisse in Deutschland seien

zur Durchführung eines solchen Experiments zu ungünstig, durch die vorhergegangene nichtsozialdemokratifche Regierung zu verfahren ge­ wesen, scheint mir nicht stichhaltig. Die Sozialdemokratie hatte nie

anders als durch Katastrophen erwartet zur Herrschaft zu gelangen. Die Revisionisten hatten weder an Katastrophen noch an Herrschaft geglaubt, alle aber — von Marx angefangen —, die an den sozial­

demokratischen Staat geglaubt hatten, erwarteten sein Eintreten vom Zusammenbruch des kapitalistischen Staats. Die deutsche Volkswirt­

schaft hat während des Kriegs eine solche Leistungsfähigkeit bewiesen,

daß ihr Zustand im Herbst 1918, als sie in die unbedingte Gewalt der Sozialdemokratie kam, gewiß unvergleichlich günstiger war, als sich Marx und seine Nachfolger das Ende der privakwirtschaftlichen

Zeit gedacht hatten, die sie nach Verelendung der weit überwiegenden Mehrzahl der Volksgenossen herankonnnen sahen, wobei Katastrophen

aller Art, auch Krieg und Revolution in Rechnung gesetzt waren. Ernster scheinen uns andere Einwände gegen die experimentelle

Bedeutung der deutschen Revolution: es wäre denkbar, daß eine andere

ui

als die deutsche Sozialdemokratie unter gleichen Verhältnissen ein an­

deres Ergebnis erzielt hätte, und es wird manchem denkbar scheinen, daß auch die deutschen Sozialdemokraten, wenn sie Führer gehabt

hätten, ein anderes Ergebnis erzielt hätten. Die Unfähigkeit zum Re­ gieren haftet nicht an der Partei, sondern an der Person. Es gibt nicht richtige und unrichtige Politik, sondern nur richtige und unrichtige

Politiker. Über das Ergebnis selbst sind ja wohl alle eingestandener- oder

uneingestandenermaßen einig. Unsere ganze Generation war von den sozialdemokratischen Anschauungen so weit beeinflußt, daß auch der Nichtsozialdemokrat die sozialdemokratischen Führer für leistungsfähige Interessenvertreter der Fabrikarbeiter hielt, die, wenn sie zur Herr­

schaft kämen, vielleicht die auswärtige Politik und die Landwirtschaft

nicht verstehen, aber in ihrem eigensten Gebiet, der Vertretung des Interesses der Fabrikarbeiter, Neues schaffen würden. Die Sozial­

demokratie konnte nicht Rohstoffe aus der Luft schaffen, aber die Er­ zeugung und Verteilung der Güter je nach Bedarf — Wohl die ein­

leuchtendste der sozialdemokatifchen Lehren — ist, soweit wir sehen, nirgends in die Praxis umgesetzk worden. Schieberkum und Wucher

haben noch mehr um sich gegriffen als zuvor; die vor dem Krieg ge­ leistete praktische soziale Arbeit hat einen Rückgang erfahren; das was

neu eingeführt wurde, insbesondere die Arbeitslosenversicherung, scheint uns den Charakter von Bestechungsmaßnahmen zu haben. Wir haben uns vor dem Krieg durch Sozialpolitiker einreden lassen, daß durch

kluge Berechnung die Lage des Proletariats verbessert werden könne auch ohne Steigerung des sozialen Gefühls. In den jetzigen Zustän­ den sehen wir nicht nur den Bankrott der sozialdemokratischen sondern

auch der bürgerllchen Sozialpolitik. Der Zweifel, den wir als Stu­

denten hatten, ob ein Mann, dessen Konfektionsfabrik unter den Ar­ beiterinnen die Knochenmühle hieß, Führer einer Arbeiterpartei sein

könne, war doch berechtigt.

Aber wir geben unumwunden zu, daß auch der Rückgang der sozialen Gesinnung in Deutschland nicht die Bedeutung eines Experi-

ments gegen die sozialdemokratischen Lehren hat, sondern daß auch auf diesem Gebiet der Mangel an Nationalgefühl die deutschen Ver­

hältnisse von denen anderer Länder unterscheidet. Dadurch, daß die

deutsche Sozialdemokratie wünscht, daß die Welt international werde, ist sie es nicht geworden. Sie hatte, als sie so rasch und unblutig, wie wohl keiner ihrer Theoretiker für möglich gehalten hätte, zur Herrschaft gelangte, ein Volk zu sozialisieren, für dessen Sozialisierung das, was ein Voll sonst zusammenhäll, Nakionalgefühl und Nationalehre, nicht

in Betracht kam. Es könnte also jemand an die Möglichkeit glauben,

daß auch ohne Weltrevolution ein Volk, das nach außen durch Nationalgefühl zusammengehalten

ist, nach

innen

die Sozialisierung

durchführt.

Von den großen Preußen wurden die geistigen Kräfte unterschätzt. Vielleicht wäre Preußen unter dem Nachfolger Friedrichs des Gro­

ßen nicht so herabgesunken, wenn Friedrich für die Bedeutung der

deutschen Kultur das gleiche Verständnis gehabt hätte wie für Heer und Wirtschaft. Nur in Kriegszeiten und in der Vorbereitungszeit

von Kriegen wurde die Begeisterung für deutsche Art und Kunst ge­ fördert.

Man kann von Bismarck wirkllch nicht mehr verlangen,

als er geleistet hat, aber wenn er gewußt hätte, was das für Deutsch­

land bedeutet hätte, wäre nach 1870 in Berlin ein deutsches National­

theater unter Richard Wagners Leitung gegründet worden, statt des Residenzcheakers zur Pflege französischer Possen unter Sigmund Lau­

tenburg. Mit guter Volksschule und der Jnstruktionsstunde glaubte

man alles für die Bildung des Volkes getan zu haben. So ist es geblleben bis zu diesem Krieg. Auf diesem Gebiet arbeitete die Oberste Heeresleitung mit dem Grundbegriff der deutschen Politiker „bei der

Stange halten" und verkannte, daß Geist schöpferisch ist oder über­ haupt nicht. Die Mobilmachung war aufs bewunderungswürdigste

vorbereitet, was aber ist geschehen, um die deutschen Arbeiter über die Wirküchkeiten der politischen Lage Deutschlands aufzuklärend Über die Schönheit des deutschen Landes und deutscher Kunst, die Tragik

der deutschen Geschichte?

Improvisationen

während

des

Kriegs.

HZ

Worte wie „Für Gott, König und Vaterland", die auch einmal schöp­

ferisch todten, genügten als Ladenhüter nicht. Jetzt handelt es sich

einzig noch darum, ob das Volk Führer finden wird, die ihm durch die Tat beweisen, daß Nationalgefühl so wenig wie Familiengefühl Po­ litik oder Sache der Obrigkeit ist, sondern Erleben und Erkennen eines Zusammenhangs. Wir haben keinen Anhalt dafür, anzunehmen, daß

ein solcher Führer sich eher unter Mehrheitssozialisten finden wird als

unter Unabhängigen oder Kommunisten. Ohne ihn — wir wissen nicht, ob das auf die Dauer als Unglück angesehen wird — bricht Deutschland als Industrieland zusammen. Man kann verschiedener Ansicht darüber sein, ob die Industriali­

sierung ein Glück für Deutschland war. Aber man kann nicht ver­

schiedener Ansicht darüber sein, daß die fortschreitende Industriali­ sierung, die unsern Industriearbeitern erwünscht schien, nicht möglich

war ohne Flotte, ohne Schutz des Exports und der Ausländsdeut­ schen. In den Jahren 1897—19°° stieg die Wasserverdrängung der

deutschen Kriegsflotte von 232 000 auf 633 000 Tonnen, der Netto­

raumgehalt der Handelsflotte um 62,6 v. H., der Außenhandel von 8,8 Milliarden auf 14 Milliarden; in dieser Zeit stiegen die

Spareinlagen des deutschen Volkes von 8,8 Milliarden auf 13,1 Milliarden. Wenn die deutschen Arbeiter erst einmal als Sklaven

des Herrn Guggenheimer in südamerikanischen Gruben arbeiten, wer­ den sie in ihrer Freizeit Bismarcks Reden lesen. Mir scheint, daß die größte Leistung praktischer Fürsorge für die Fabrikarbeiter, die in irgendeinem Land stattgefunden hat, die von den Sozialdemokraten

im Reichstag abgelehnte Bismarcksche Arbeiterschutzgesetzgebung gewe­

sen ist, wegen deren er von der Demokratie als Sozialist bekämpft wurde. Von den Fabrikarbeitern wird die Bedeutung der Kranken-,

Unfall-, Alters-, Invalidenversicherung erst voll erkannt werden, wenn sie zusammenbrechen und gleichzeitig die kurzfristigen Bestechungs­ maßnahmen — wie die Arbeitslosen-Dersicherung — die seit der Re­

volution eingeführt wurden. Wir waren während des Kriegs stets überzeugt, daß die Bismarcksche» Versicherungen nur bei siegreicher Beendigung des Kriegs fortzuführen sind. Die nationalen Parteien

haben vor und während des Kriegs ihre Unfähigkeit bewiesen, die Ar­

beiter über die Bedeutung der auswärtigen Politik für die Sozial­ politik aufzuklären, und beweisen diese Unfähigkeit jeden Tag. So wird

nicht die geistige Aufklärung, deren Wesen es ist, die Zukunft anschau­ lich zu machen, bevor sie eintritt, sondern die Belehrung durch Anschau­

ung, nicht die Mechanik, sondern der Stein, der uns auf den Kopf

fällt, das heißt feindliche Besetzung, die deutschen Arbeiter über die

Wirkllchkeit der nationalen Unterschiede aufklären. Ihre Führer sind sich großenteils über diese Unterschiede klar und empfinden sie als

Deutsche, trauen sich aber nicht die Arbeiter darüber aufzuklären, da sie glauben, daß sie die Arbeiter nur dadurch „bei der Stange" halten

können, daß sie ihnen nach dem Mund reden. Die Führer der alten Sozialdemokratie haben sich so wenig wie Bethmann getraut, die nationalen Wahrheiten einzusehen und zu verkünden und haben ge­

glaubt, das Deutschtum als Kontrebande durch den Weltbranb hin­ durchschmuggeln zu können.

Wir bilden uns nicht ein, mit diesem Heft ein Problem wie das

der Sozialdemokratie zu erschöpfen. Wir wollen nur Material zum

Nachdenken für selbstdenkende Menschen bieten. Wir urteilen nicht

»ach dem Erfolg und würden (im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Be­ wunderer) Bismarck für einen ebenso großen Politiker halten, wenn in der Schlacht von Königgrätz den preußischen Truppen durch ein

Naturereignis der Sieg entrissen worden wäre. Aber das eine läßt sich aus dem geschichtüch genommen so kurzen ersten Abschnitt des

deutschen Zusammenbruchs schlleßen: Sozialismus ohne Nationalgefühl ist undurchführbar. Auch wenn eine Weltrevolution kommt, so

kann sie unter Aufhebung des Nationalismus nur, wenn sie religiös ist, dauernde Ergebnisse erzielen; ist sie wirtschaftlich, so muß sie zu­

sammenbrechen, wenn der Egoismus des einzelnen fortbesteht ohne Zusammenhalten der nächsten Gruppen, d. h. ohne Nationalgefühl. Eine Gesinnung, die das Herz für die Antipoden und den Ellenbogen für dm Landsmann gebraucht, führt zu keiner mögllchm Form des Zu-

sammmlebens. Zu einem Volksstaat gehört vor allem ein Volk.

Wir glauben nicht an ein soziales Gefühl, das mit Haß gegen den Landsmann zusammengeht, und glauben nicht, daß — selbst durch eine Weltrevolution — eine dauernde Besserung für die Notleidenden

und Unterdrückten eintreten kann ohne Steigerung der Nächstenliebe. Wir glauben an die Prophezeiung des sterbenden Staretz in Dosto­

jewskijs „Brüder Karamasoff": „Die Spöttar sollte man fragen:...

wie werdet ihr euer Gebäude nur mit eurem Verstand und ohne Chri­ stus aufbauen? An ihre Versicherung, daß auch sie auf ihrem Wege

schließlich zur Einigung der Menschheit gelangen werden, glauben in Wahrheit nur die Einfältigsten unter ihnen, und über diese Einfältigen

kann man sich wirklich nur wundern, dmn wahrlich ihre phantastischen Träume bäum sich auf keine einzige Tatsache auf. Sie denken alles

ohne Christus gerecht aufzubauen, aber sie werden damit enden, daß sie die Welt mit Blut überschwemmm, denn Blut schreit nach Blut, und das Schwert wird nur durch das Schwert vergehen. Und wenn die Verheißung Christi nicht wäre, so würden sie sich auf Erden

gegenseitig bis auf die zwei letzten Menschen vertilgen.

Auch

diese letzten zwei würden nicht verstehm, sich in ihrem Stolze zu bändigen, so daß der Letzte den Vorletztm vernichkm würde und zu­

letzt sich selbst."

Spenglers „Preußentum und Sozialismus" (">swald Spengler hat (im Beckschen Verlag) eine kleine Schrift

„Preußentum und Sozialismus" veröffentlicht.

Wmn Lord

Northcliffe beauftragt »erben sollte, dm deutschen Geist in allen seinen

Äußerungen zu vemichtm, so wird diese kleine Schrift in einem Exem­ plar auf die Nachwelt kommm. Dmn sie ist wie alles, was ich von

diesem Autor bis jetzt kmne, einer Konzeption entsprungen und das ist die Eigmart von Konzeptionm, daß sie nicht umzubringen sind.

Eine andere Eigentümlichkeit von ihnen ist, daß sie die Wirklichkeit

beeinflussen. Spengler spricht manche von jenen elementaren Gedan­

ken aus, die nur einmal ausgesprochen zu werdm brauchm, um wahr

zu scheinen.

In dieser Schrift stellt er das deutsche Heer und die

Bebelsche Sozialdemokratie als Schöpfungen des Preußentums dar. Altpreußischer Geist und Soziallsmus seien ein und dasselbe. Bebel scheint er mir zu überschätzen. Ich halte die alte Sozialdemokratie

nicht für eine Schöpfung Bebels, sondern Bismarcks.

Der große

Gegenspieler weckte, auch mit seinen Gewaltmaßregeln, die Kräfte

der jungen Bewegung. Wie umgekehrt Bethmann so wie alles übrige auch die Sozialdemokratie zerstört hat. Eine ganze Persönlichkeit an

der Spitze des Reiches im Krieg, würde als Feind oder Freund auch Persönllchkeiten in der Partei herausgerufen und entwickelt haben,

während eine halbe in der Politik wie auf allen Gebieten den Nähr­

boden des Schiebertums bildete. Bismarck schuf nicht nur den gewal­ tigen Körper der deutschen Weltwirtschaft, in der sich die Sozial­ demokratie entwickeln konnte — auch die von den Arbeitern am Mund abgesparten Beiträge für die sozialdemokratischen Kassen sind als Ver­

dienst aus dem deutschen Export letzten Endes Bismarcks Werk — sondern er weckte durch die Größe seiner Persönlichkeit auch alle Kräfte

in seinen Gegnern. Wir halten es nicht für Zufall, daß die Parla­

mentarier seiner Zeit in der Entfernung größer ausschauen als die

jetzigen in der Nähe.

An Kräften zur Führung hätte es in der

Sozialdemokratie auch während des Krieges nicht gefehlt, wenn das Reich

einen Führer

gehabt hätte.

Durch Bethmanns Politik —

halte mich, dann halt ich dich — sind alle Parteien ohne Ausnahme demorallsiert worden. Sowohl ein Kanzler, der bei Kriegsausbruch

die Verfassung geändert hätte, als einer, der bei Kriegsausbruch erklärt hätte, daß er die Verfassung erst nach siegreicher Vollendung des Krieges ändern werde, hätte in der Sozialdemokratie den von Speng­

ler vermißten Bebel an die Spitze gerufen, während Bethmann, der weder zum einen noch zum andern den Mut hatte, in allen Parteien

nicht dm Mut, sondern die Geschickllchkeit zur Voraussetzung des Füh­

rers machte, ja vielfach dm Eigmnutz. Bethmann würde noch auf der Fahrt zum Schafott dem Hmker und dem Kutscher Staats­ sekretariate angebotm haben.

Jeder Leser unserer Hefte muß die

Schrift Spmglers lesen. Seine Bücher haben das mit künstlerischen

Werken gemein, daß man sie nicht durch Inhaltsangaben, nur durch sich selbst kennenlernen kann.

Spenglers Ausfassung, daß die deutschen Demokraten geistig von den Engländern geführt werden, scheint sich in diesem Augenblick aufs

verhängnisvollste zu bestätigen. Es hat den Anschein, daß die Mehr-

heitssoziallsten, oder wenigstens ihre parlamentarischen Führer, geneigt

sind, um sich den Engländern anzustPießen, mit den Polen gegen Rußland Krieg zu führen.

Sollte es dazu kommen, so werden die

nationalen Kreise und Parteien, wenn sie nicht von allen Göttern ver­

lassen sind, in diesem Punkt mit den Unabhängigen zusammengehen,

die zu sehen scheinen, daß Deutschland und Rußland aufeinander an­

gewiesen sind und sich entweder zusammen erholen werden oder über­ haupt nicht.

Lehren der Geschichte nsere Aufgabe ist eine andere als die der Tageszeitung, ja eine •VV entgegengesetzte.

Will diese so rasch wie möglich das Neueste

berichten und beurteilen, so müssen wir versuchen, durch dieses Hagel­ wetter von Ereignissen hindurch uns zu orientieren, wo Sonne, Mond

und Sterne gebüeben sind. Da sind sie noch. Es ist stets das Kenn­ zeichen des geistigen Pöbels gewesen (und in unserer Jugend haben wir wohl alle ein wenig dazu gehört), seine Zeit für die Zeit aller

Zeiten zu halten; zu meinen mit dieser Zeit sei etwas ganz Neues in die Welt gekommen, wofür alle früheren Zeiten nicht die Wurzel,

sondern das Mistbeet waren. So wie es dem Menschen schwer fällt, sich eine Zeit vorzustellen, in der er nicht mehr da ist. Der Tagespoli­ tiker wird sich schwer von der Überschätzung der Ereignisse seines Tages frei halten können, mit denen er sich pflichtgemäß befassen muß.

Ob der große Leibniz und selbst der göttliche Platon bei ihrer Be­

fassung mit praktischer Polltik dieser Gefahr entgangen sind?

Ob

jener nicht deutsche Duodezfürsten, dieser sizilische für wichtiger ge­ nommen hak, als sie waren? Wir wissen es nicht.

ii8

Aber ein Mittel bleibt uns allen, um uns zu schützen vor dem verwirrenden Sturm in der Nähe: Der Blick in die Ferne. Nicht

als ob wir meinten, daß aus der sogenannten Geschichte zu lernen

wäre wie aus der Physik. Aber es ist schon etwas, wenn wir sehen,

daß das, was als unberechenbar Neues auf uns hereinstürmt, unge­ fähr so schon öfters da war, weil die Menschennatur auch früher schon

ungefähr so gewesen ist. Dies erkennen zu lassen ist ein einigermaßen abgeschlossener Kulturkreis, wie der griechisch-römische, besonders ge­

eignet.

Und es ist schon etwas, wenn wir im Überblick über die letzten Jahrhunderte sehen, daß auch hier etwas Festes und einigermaßen Berechenbares hervortritt: der sich wenig verändernde Charakter der

Völker. Wer aus der morgigen Zeitung ersehen will, wie sich die Eng­ länder heute zu uns stellen, wird stets in die Irre gehen. Das fällt uns Außenstehenden an den Enchüllungen und Erinnerungen der Diplo­ maten auf: wie sie die einzelnen politischen Akte überschätzen, beson­ ders die, an denen sie persönlich beteiligt waren (Eitelkeit ist die Berufs­

krankheit des Politikers). Wir wollen nicht den Streit aufnehmen, ob in diesem oder jenem Zeitpunkt eine wirkliche Verständigung mit

England möglich war. Für uns kann die Frage nur fein: was haben wir in Zukunft von England zu erwarten? Aber das muß gesagt werden: so wie die Politiker meinen, mit einem Programm, heiße es

Ostorientierung oder Westorienüenmg, ward niemals etwas geleistet.

Es kam immer auf die Ausführung an. Man kann nicht sagen, daß Bismarcks Programm, den deutsch­

französischen Krieg zu beendigen, bevor England sich einmischte, als Programm richtig war. Alles kam darauf an, wie die deutsche Politik

oll die mißgünstigen Nachbarn und jeden einzelnen von ihnen be­

handelte. Wäre Bechmann damals Leiter der auswärtigen Politik gewesen, so würde England sich bestimmt eingemischt haben, und trotz aller Siege wäre der Krieg für das deutsche Volk jammervoll aus­

gegangen. Aber auch die größte Persöullchkeit kaun nicht den Charakter der Völker und die durch ihn gegebenen Richtungen auslöschen. Jener

Professor, der uns Anfang August 1914 sagte, der Krieg wäre wahrIO*

119

scheinlich vermieden worden, wenn man einen Brief befördert hätte, den er an einen englischen Staatsmann geschrieben hatte, konnte den

Gang der Weltgeschichte nicht bestimmen, und das Friedenstribunal von Versailles konnte es auch nicht. Es sieht ja alles wunderschön aus: man teilt die Deutschen auf,

jeder ihrer Feinde kann sich auf ihre Kosten bereichern, jeder kommt auf seine Rechnung und häll mit der Beute seine unzufriedenen Volks­

mengen bei guter Laune. So sieht es aus und wir haben nie ver­ kannt: die Rechnung stimmt. Aber es gibt im Leben der Völler un­

berechenbare, im Vollscharakter liegende Züge, die jede Rechnung zu­ schanden mache«. Wie schön hätten die Jtallener die letzten tausend Jahre leben können; ein von der Natur begnadetes Land, gottbegna­

dete Künstler und Dichter, ein anspruchsloses Volk — sie hätten, so

sollte man meinen, sich nur sagen brauchen: jeder von uns arbeitet, nicht viel, nur gerade was zum Leben nötig ist, wir vereinigen uns staatlich, wie wir in der Sprache und im Charakter vereinigt sind,

Fremde lassen wir nicht herein, wollen sie eindringen, so halten wir

alle zusammen. So zu denken wäre vernünftig gewesen; aber das Vernünftige ist noch nie Wirküchkeit geworden.

Das ist es, was so viele Zeitgenossen vor den Kopf schlägt, daß sie sehen: auch jetzt, auch in unsrer Zeit aller Zeiten, wird das Ver­ nünftige nicht Wirküchkeit. Auch jetzt noch ist Eigennutz und Haß, Aufschwung und Verfall, Tüchtigkeit und Faulheit, Blut und Glaube

stärker als Vernunft. Darüber kommen auch die so klugen Entente kapitallsten nicht hinweg.

Was lehrt uns diese Betrachtung? Mögen die früheren Ver­ ständigungsbestrebungen ehrllch oder unehrlich gewesen sein, — jetzt

tonnen die Engländer ihrer Natur nach, wie sie sich in ihrer ganzen

Geschichte ausspricht, nicht anders, als die am Boden liegenden Deut­ schen am Boden zu halten, solange sie können. Sie haben die Herr­

schaft über die Alte Welt und behalten sie so lange, wie das englische Blut Männer genug hervorbringt, um sie zu behaupten. Keinen Tag länger und nicht ewig.

Und was sehen wir auf dem Kontinent? Die beiden großen Völker, Deutsch« und Russen, ihrer Lage und ihren Fähigkeiten nach

aufeinander angewiesen, zwei Völker, die sich innerlich verwandter

sind als andere, wenn sie auch in Kriege gegeneinander gehetzt wur­ den. Wir wissen nicht, wann sie zusammenkonnnen werden, wir wis­ sen nur, daß sie zusammenkonnnen werden, weil es etwas gibt, das

stärker ist als die Vernunft der Politiker.

Das Ziel der englischen Politik ist, dieses Zusammenkommen auf­ zuhalten. Künstliche Absperrung, Besetzung aller Häfen an der Nord­ see, Ostsee und am Schwarzen Meer, eine Wirtschaftspolitik, die

(im Gegensatz zur amerikanischen) immer und überall darauf ausgehend, Rohstoffe und Halbfabrikate aus den Ländern herauszuziehen, die Ar­

beiter Deutschlands und Rußlands zu Sklaven machen will, wie die

Irlands und Indiens, um niemals die Unterworfenen stark werden

zu lassen, um selbst die Fertigfabrikation und den Handel zu beherr­ schen; jetzt erst recht, wo es gilt, die englischen Arbeiter durch hohe Löhne bei guter Laune zu erhaltm. Es handelt sich darum, Deutschland und Rußland aufs neue zu verhetzen, damit die bolschewistische Armee

nach Westen marschiert statt nach Osten und damit Deutschland sich nicht erholen kann. Zusammen würden Deutschland und Rußland sich

rascher erholen, als heut ein Mensch zu hoffen wagt. Das einzusehen, nützt wenig. Es zu verwirkllchen, dazu gehören Führer, die als Führer geboren sind. Denn auch darin hat sich die

Welt nicht geändert, daß Einsicht und Tat zweierlei ist. Nicht Nieder­ lage und Revolution, nicht Verkommenheit einzelner Schichten und wären sie noch so groß, nicht Verleumdungen und beherrschten sie die Welt, ja den Verleumdeten selbst, haben den Aufgang und Nieder­

gang der Völker bestimmt. Sondern sie haben die Zeit ihrer Jugend, ihrer Reife und ihres Alters. Der Deutsche hat die Sonnenhöhe seines

Lebens noch nicht erreicht, und seinem geistigen Drange entsprechend, den wir auch in seinen Verirrungen noch achten sollten, wird er sie

nicht erreichen, bevor er nicht sich und die Welt kennm lernt so wie sie sind.

Warnung vor der Geschichte Ct sn bie Jugend?" Hat es noch einen Sinn? Sind wir nicht ein »rSA- füc allemal verraten und verkauft?

Es ist einer der großen Irrtümer, zu betten wir uns bekennen, baß

wir allerbings angesichts ber schwerfälligen Frivolität ber deutschen Polltik den Untergang des deutschen Volks erwartet hatten, wenn es nicht mit den Waffen siege. Den Frieden hatten wir uns für diesen Fall genau so erwartet wie er ist — dazu gehörte keine Propheten­

gabe, die Feinde haben nie einen Hehl aus ihren Kriegszielen gemacht,

nur deutsche Trottel haben nicht daran geglaubt — aber wir haben gedacht, wenn es aus sei mit dem Deutschen Reich, sei es auch aus

mit dem deutschen Volk.

Man sieht, wie schwer es ist zu prophezeien, auch nur auf ein paar Jahre hinaus. Hintennach, als Historiker, kann man dann leicht sagen, es sei alles ganz klar, naturnottvendig mußte aus der Vorkriegs­

zeit der Krieg, aus dem Krieg die Revolution kommen, hintennach als „umgekehrter Prophet", wie sich die Historiker gern heißen lassen.

„Umgekehrter Prophet" gehört zu jenen Sinnlosigkeiten, die so sinn­

los sind, daß man glaubt, ihr Sinn müsse verborgen sein. Bitte, meine Herren Historiker, zu prophezeien, so lange es Zeit ist. Es scheint, Sie haben mehr Mut gegenüber toten Helden als gegenüber lebenden

Kollegen. Was haben Sie zu prophezeien? Aber nicht umgekehtt, sondern

geradeaus.... Nichts.

Daß es Völker gegeben hat, die

untergegangen sind, und solche, die nicht untergegangen sind, wissen wir anderen auch. Wir glauben an die historischen Gesetze nicht. Sie

können nur aufgestellt werden wegen ihrer Ungefährlichkeit. Wollte der Historiker auf Grund von Gesetzen, die so unsicher sind wie die

historischen, Brücken bauen oder Menschen kurieren, so käme er ins

Gefängnis. Nur die Jugend kann prophezeien. Wmn sie die Zukunft in sich trägt, so haben wir eine. Sonst nicht. Was wir tun können, das ist, ihr unsere Erfahrung zu über­

tragen, so wie der alte Spatz, der einmal in einer Trichterfalle ge­ fangen wurde, durch seinen Angstruf die jungen Spatzen vor Trichter-

fallen warnt und dieser Angstruf von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbt, nachdem der alte Spatz längst tot ist und keiner mehr weiß,

was es mit Trichterfallen auf sich hat. Das übertragen der Erfahrun­ gen darf aber keine Nebenzwecke haben. „Damit man für die Zukunft daraus lernt", ist der vorgebliche Zweck bei den literarischen Übungen

unserer Diplomaten; damit man sieht, wie gescheit sie waren, das ist der wirkliche Zweck. Außerdem wollen sie ihre Gegner herabsetzen.

Denn es sind rachsüchtige Luder darunter. Manche von ihnen haben jetzt den einzigen Wunsch, irgendwo andershin, möglichst weit fort,

ins Ausland zu kommen, weil sie das deutsche Volk nicht ausstehen

können. Ihr Denken ist ein rückwirkendes. Nur ein vorwärtswirkendes Denken, aus Liebe zum deutschen Volke geboren, kann uns retten. Es gibt nichts, was seiner Schöpferkraft nicht zugänglich wäre.

Deutsche Wärme C| Alljährlich um die Weihnachtszeit drängt sich seit 1914 die Frage Sind nicht alle Menschen Brüder? Ist es nicht Selbst­

sucht, immer nur an das eigene Volk zu denkm? Der Mensch neigt ja zum Denken in die Ferne. Begeistert ge­

denkt er der Mönche, die auf dem St. Bernhard den verirrten Wan­ derer aus dem Schnee graten, während nur zwei Straßen von ihm

entfernt eine Wöchnerin erfriert; mit Rührung vertieft in die Ge­

schichte vom Hund des göttllchen Dulders Odysseus, läßt er den eigenen, der sich dadurch ein Blasenleiden zuziehk, nicht auf die Straße. Niemals ungeduldig gegen seine Sekretärin zu werden, ist schwerer, als

einen Völkerbund zu begründen. So ist es verständllch, daß es ein Literatentum des Wohltuns

gibt und sich unter Leuten, die Mädchen verführen, Verleger be­ trügen, besonders viele Anhänger des Völkerbundes finden, die in

Schlennnerlokalen von der Verbrüderung der Menschheit, der Ab­ schaffung der Kriege, der Bekämpfung des Kapitalismus sprechen.

Wie arm erscheinst daneben du, deutsche Beamtenfrau, deutsche Krie-

gerwitwe, die du während des Krieges für die Verwundeten gestrickt

hast und jetzt für deine Kinder sorgst! Ist es nicht, als ob du einer früheren,

noch

nicht so

fortgeschrittenen Menschheitsperiode ange­

hörtest? Als eine der Ungerechtigkeiten des Weltlaufo empfinden wir es,

daß es so aussiehk, als ob das deutsche Gefühl enger wäre, und daß

wir doch wissen, daß es weiter ist, echter, nur nicht so geschwätzig wie das der andern. Leider, wir sagen leider, haben sich die siegreichen

Deutschen auf dem Wiener Kongreß in den Gedanken hineingeredet,

sie hätten nicht mit den Franzosen Krieg geführt, sondern mit Napoleon — daher blieben sogar die Kriegskontributionen, die Napoleon preußischen Städten auferlegt hatte, auf diesen liegen, so daß die

Städte zum Teil bis nach 1870 an diesen Lasten zu tragen hatten; wir führten schon früher an, daß man damals nicht einmal den wert­ vollsten Teil der von Napoleon geraubten Münzen des Berliner Münz-Kabinetts zurückgefordert hat. Leider regte sich ein großer Teil

des deutschen Volkes darüber auf, als 1870 Paris beschossen werden sollte, leider entrüstete sich ein Teil der deutschen Presse, wenn Bis­ marck gegen irgendeine Unverschämtheit der so glimpflich und ehren­

voll behandelten Besiegten aufkrat. Hingegen ist uns nicht bekannt, daß sich ein Franzose am Hofe

des vergötterten Sonnenkönigs gerührt hätte, als dieser, den Glaubens­ riß der Deutschen und die Hauspolltik der Habsburger benutzend, immer wieder in Deutschland einfiel, ganze Länder- verwüstend, ganze Bevölkerungen vergewaltigend und schlachtend, Reunionskammern er­

richtend, die zu jedem Raub des Schwertes weitere Raubstücke der

Feder hinzufügten. Die Form ist etwas anders geworden. Schon im Krieg war die Hungerblockade ein eleganteres Mitttl des Strangulierens als das

frühere Abbrennen der Felder und Forttreiben der Haustiere. Man

spießt die Säugllnge nicht mehr auf, sondern läßt sie verhungern, in­

dem man die Milchkühe nimmt, und man treibt diese nicht mehr selbst fort, sondern läßt sie auf diplomatischem Wege abliefern. Noch feiner­ ist der Engländer, der, so wie er es während des Krieges in Griechen-

land gemacht hat, mir zusiehk. Eo muß dem klugen Lord Haldane un­

gemischtes Vergnügen bereiten, wenn er sieht, wie die dummen Deut­ schen ihn heute noch für chren Freund halten, wie vollkommen die

britische Methode bei ihnen einschlägt, andere die schmutzige Arbeit tun zu lassen und sich selbst als feiner Hund mit gelindem Entsetzen ojbzuwenden. Millionen von Deutschen sehen immer noch nicht, daß England

es jeden Tag in der Hand hätte, den französischen Greueln zu weh­ ren, wenn es wollw. Warum aber sollte es wollen? Sich mit Frank­

reich über den so viel wichtigeren Orient veruneinigen, um dem deut­

schen Wirtschaftskonkurrenten wieder auf die Beine zu helfen? Die Weihnachtsfreube, die der französische Politiker hat, wenn er an Deutschland denkt, hat der englische, wenn er sich Rußland vor­ stellt.

Hier hat man einigermaßen Zustände, wie man sie in und

nach dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland hatte, und zwar herr­

licherweise durch die Russen selbst hergestellt. Rußland ist die europä­ ische Macht, die England militärisch-politisch als den größten Gegner

betrachtet hatte, wie Frankreich Deutschland. Beide sind nun im Zu­ stande angenehmer Verwüstung.

Und doch sieht alles etwas anders aus, als wenn in früheren Jahrhunderten verwüstet wurde. Wir sind durchdrungen von der Unveränderllchkeit des Volkscharakters und kamen dadurch in Gefahr die

Änderungen zu übersehen, die durch die Zeit bewirkt werden; die Nach­ kriegszeit hat uns belehrt. Es ist doch anders als nach dem Dreißig­ jährigen Krieg. Die Sitten haben sich verfeinert, allerdings auch die

Nerven

der Menschen und

ihre Empfindllchkeit.

Im achtzehnten

Jahrhundert mit der Post von Hamburg nach Berlln zu reisen, war körperllch unangenehmer, als jetzt hingerichtet zu werden. Auch haben die Verkehrsverhältnisse in Deutschland — nicht in Rußland — einen

solchen Grad erreicht, daß die erwünschte Aushungerung technischen

Schwierigkeiten begegnet. Endllch ist es nicht mehr so glatt möglich, ein Land von den andern Ländern abzuschließen, wie in früheren Jahr­

hunderten. Es kommen Unterstützungen für einzelne von Verwandten

und

Freunden

im Ausland, es kommen Unterstützungen für viele

I25

durch die Amerika-Hilfe. Am guten Willen der radikalen Vernich­ tung fehlt es nicht, aber die Technik ist erschwert. Wir sind jetzt

überzeugt, daß sie unmöglich würde, wenn das deutsche Gefühl sich

von seiner Perversität befreite, dem Masochismus, dem Bedürfnis

gedemütigt zu werden — dem Gegenstück der französischen Perversität, dem Sadismus, dem Bedürfnis zu demütigen. Für uns haben die

französischen Gefühle immer eüvas von der hohen Schul« der Hysterie, dem Theater. Kürzlich schrieb der Deutschland bereisende Korrespon­

dent des Echo de Paris: „Die Rheinländer haben mich gleich verstanden.

Der Militärgeistliche von

Mainz schreibt mir: ,Sie wünschen, daß in Straßburg eine Statue der Jeanne

d'Arc aufgestellt und daß der Kultus unserer Nationalheldin der katholischen Be­

völkerung der Pfalz, Hessens und Kölns nahegelegt werde. In Hessen und Mainz

ist dies schon geschehen.

Jeanne, in der einen Hand das Banner, in der anderen

den glorreichen Degen Frankreichs, ist in der Garntsonkirche in Mainz aufge­

stellt ... Jeanne wird hier geliebt; sie erfüllt mit Begeisterung.

Sie würden an­

genehm berührt sein, wenn Sie sehen würden, wie die rheinischen Mädchen Tag

für Tag zur Statue kommen und beten. Die Rheinländer beneiden uns um unsere

Jeanne d'Arc,

und

alle

sprechen

mit Bewunderung

von

der ,Jungfrau von

Orleans? Das ganze Mittelalter beschäftigte sich mit dieser einfachen Jungfrau. Nir­

gends jedoch so sehr wie im Rheinlande. Man glaubte dort an sie, ehe ihr König, ehe Frankreich an sie glaubte.

sehen. keit.

Das Rheinland wollte Frankreich triumphieren

Es verfolgte die Taten Jeannes mit eifriger und ängstlicher Aufmerksam­ Die Rheinländer wollten nicht an chren Tod glauben, nirgends hatte man

ein glückliches Ende ihrer Mission heißer ersehnt als am Rheine.

In allen For­

men der gereimten Chronik, des Romans, des Dramas, der Malerei, kam diese Sympachte zum Ausdruck.

Jeanne d'Arc kann uns am Rheine den größten Dienst leisten.

Tode ist ihre Mission nicht zu Ende.

Mit ihrem

Wie Jeanne d'Arc wollen wir mit unsern

Feinden von gestern die Zivilisation fördern... Jeanne kann sehr viel tun für den Frieden am Rhein.

Zur Zeit existiert

in Deutschland, speziell der Rheinprovinz unter den Intellektuellen, besonders der Jugend, eine starke katholische Strömung, deren lateinischer Charakter nicht zu

verkennen ist... Diese rein religiöse, apolitische Bewegung hat einen speziell litur­

gischen Charakter und bewegt sich folglich in durchaus lateinischem Fahrwasser. .. Die Heilige wird noch mehr wirken im friedlichen Leben des Alltags.

legt den Rheinländern das nahe, was sie selbst gerne möchten.

Sie

Sie gibt ihnen

den Rat, den ganz versklavten, ihnen in der Seele verhaßten preußischen Geist

abzulehnen.

Jeanne ist ihre Nachbarin und ist ihnen wesensverwandt.

Unter

ihrem Banner können sie, unter Beibehaltung ihrer rheinischen Fahnen, zur Selbst­

erkenntnis kommen und sich befreien... Möge Jeanne ein Banner sein über den geeinten Völkern zum Triumphe der Zivilisation." (Bei den zwei öffentlichen Hau­

sern für die Besatzung, die in Wiesbaden in nächster Nähe der Hauptstraße

errichtet wurden, ist die Statue der Heiligen vergessen worden, so daß dort die

rheinischen Mädchen noch nicht ihre tägliche Andacht verrichten können.)

Die französische Seele macht Toilette, ehe sie ausgeht, aber im

Neglige darf man sie nicht überraschen; es ist eine Nation, die vor

dem Spiegel lebt und sich dadurch vor vielen Unarten des Deutschen

behütet, aber auch niemals ganz echt und ganz tief ist. Aus sadistisch­ religiösen Auslassungen wie den angeführten spricht ein Gemisch von

Patriotismus, Sadismus, Sinnlichkeit — selten fehlen darin die ge­

sunde» Elsässerinnen und die hübschen Rheinländerinnen —, eine trü­ gerische Wärme. Die Wärme des deutschen Hauses soll noch einmal hinaus­

strahlen — aber erst muß dieses Haus zu einer Gemeinschaft aufge­ baut sein.

Der Begriff der Gemeinde eines bedeutenden Mannes und ebenso der Gemeinde einer Zeitschrift ist uns schrecklich. Der Begriff der

Gemeinde sollte unseres Erachtens für den lieben Gott reserviert blei­ ben. Wenn sich eine Art von Gemeinschaft zwischen unseren Lesern

und uns gebildet hat, so ist wohl die Verbindung von Wärme und

Nationalgefühl das gemeinsame Band. Wir vermuten, daß unter unseren Lesern ebensowenig Rohlinge sind wie Internationalisten. Wir fühlen, daß es eine Menschenliebe gibt, deren Schönheit darin

liegt, daß sie deutsch ist, und ein deutsches Nationalgefühl, dessen Schönheit darin liegt, daß es menschlich ist. Die tiefste Verworfen­

heit der Lüge empfinden wir daher, wenn unsere Ärzte verleumdet werden, die im Weltkrieg dieses deutsche Gefühl bewiesen haben. Arzte möchten auch wir sein, erfüllt, wie jeder Arzt es sein muß,

vom allgemeinen Drang zu helfen und gebändigt, wie der Arzt es sein muß, durch dm Willen da zu helfen, wo man hingestellt ist. Nicht dem eingeschneiten Wanderer auf dem St. Demhard, nicht dem Hunde

des Odysseus, sondem den dmtschm Kindern.

Der große Betrug CY"T*Vir haben im Vorwort zur „Gegenrechnung" über die Gefangenen-Behandlung gesagt, daß noch nie so gelogen worden iß, wie seit August 1914.

Das gleiche müssen wir sagen, wenn wir an die Schuldfrage denken.

Es ist schwer, sich hineinzuversetzm, zum Beispiel in diese Tau­ sende von Franzosen, deren Leben keinen anderen Inhalt hatte, als

die Revanche für 1870 vorzubereiten, die den französischen Unterricht von der Kleinkinderschule an auf den Gedanken der Rache aufbauten,

die mit den elsässischen Verrätern Tag und Nacht an der Franzö­ sierung alten deutschen Landes arbeiteten, mit ihnen Fäden zu den Feinden Deutschlands in der ganzen Welt spannen, die dem zaristischen

Rußland Milliarden gaben, um es zur Vernichtung des Deutschen Reichs zu rüsten, und die heutt, nach Erreichung ihres Zieles behaupten — sie seien überfallen worden.

Daß auch die französische Arbeiterschaft von Haß gegen Deutsch­

land erfüllt war, hat ein Teilnehmer des Internationalm Arbeiter­ kongreß in Zürich im Jahre 1893 schon damals wahrgenommen und

mit folgenden Worten öffentlich ausgesprochen: „Was schon seit den

Tagen, da die Kaiserin Friedrich in Paris der gemeinen Beschimpfung einer pöbelhaften Boulevardpresse sich aussetzm mußte, den Einsichtigm wider allen Wunsch klar sein mußte, hat der Züricher Kongreß aufs neue bekräftigt: Frankreich ist die eigentliche Gefahr für die Existenz Europas. Es ist russischer als Rußland. Der Zarismus beherrscht in Rußland nur die Regierung, in Frank­

reich das Volk. Am Chauvinismus Frankreichs wird der Fort­ schritt Europas scheitem." (Kurt Eisner, der spätere bayerische Mini-

sterpräsidmt, in seinem Bericht über dm Züricher Arbeiterkongreß, wieder abgedmckt in Eisners Aufsätzen „Taggeist", Berlin 1901.)

Die Tatsache des französischen Revanchegeistes, wie ihn Eisner

hier schildert, würde an sich die Deutschen nicht empören; daß ein Volk mit Schmerz an eine Niederlage denkt, daß es sich für sie rächen

will, daß es Provinzen, von denen es von Kindesbeinen an gelernt hat, sie seien ihm geraubt worden, die Bewohner schmachteten unter einem

feindlichen Joch, von dem sie befreit werden müßten, daß es diese

Provinzen zurückerobern will, das ist nichts, was uns empören kann. Die Natur ist Kampf, wir wissen es. Wir beklagen es, aber wir entrüsten uns nicht darüber.

Vergiftet wird die Natur erst durch die menfchllche Lüge. Und die, von der wir hier sprechen, ist so ungeheuerllch, weil sie

nicht nur einzelne Tatsachen, sondern die Natur selber fälscht. Um

die Deutschen zum Auswurf der Menschheit zu machen, stellt es der Friedensvertrag so dar, als ob bis 1914 die sogenannten Kulturvölker geleitet gewesen wären von Nächstenliebe und eine Art von Wohl­ fahrtsverein gebildet hätten zur Förderung gemeinnütziger Zwecke, bis

es einem Verbrecher gelang, in diese Gesellschaft von harmlosen alten Damen sich einzuschleichen, ihnen, während sie gerade Socken für Negerwaisen strickten, an die Kehle fuhr und sie zu erdrosseln suchte.

Es ist eine Lüge, die nicht nur die Geschichte, sondern auch die

Natur fälscht. Und diese ungeheuerliche Lüge ist es, die den Deutschen empört. Nicht,

daß die Engländer ihre in Jahrhunderten aufgebaute

Weltherrschaft vollenden, daß die Franzosen ihr seit Jahrhunderten

verfolgtes Ziel, den Norden und Süden Deutschlands zu trennen, durch einen europäischen Krieg verwirklichen wollten, hätte den stets zur Objektivität gegenüber Feinden geneigten Deutschen bis zu unträglicher Qual gefoltert. Was uns niemals ruhen läßt, ist neben dem Gedanken an die

vergewaltigten Deutschen, der Gedanke an die vergewaltigte Wahrheit. Von den gelehrten Instituten kommt uns keine Hilfe. An den

deutschen Akademien besteht eine historische Kommission.

Ihr An­

sehen ist auch im Ausland so groß, daß über ihre Forschungsergebnisse

nicht hinweggegangen werden kann. Zurzeit beschäftigt sie sich u. a.

mit den Reichstagsakten des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie hat offen­ bar noch nicht im entferntesten auch nur daran gedacht, da Geschichte

zu treiben, wo Geschichte einzig das Volk beeinflussen kann: beim Selbsterlebten. Sie läßt es zu, daß die feindliche Wissenschaft alles

das, wofür in Deutschland Millionen von Zeugen leben, die Kriegs­

verbrechen, die Schuld am Krieg, entstellt, sie läßt die Zeugen sterben, die Urkunden verderben, bis eine künftige Geschichtsforschung aus den

vergilbten Überresten wiederum Stoff zu akademischen Abhandlungen

schöpft, so wie die jetzige aus Überresten früherer Jahrhunderte. So beherrscht die ungeheuerlichste Lüge die Welt. Mögen die

Regierenden noch so ungeschickt gewesen sein, das deutsche Volk — wie

heute noch bewiesen werden könnte — war friedlich, wie keines auf der

Gegenseite. Aber es ist nun einmal im Völkerleben so, daß der ein­ zelne die Folgen zu erleben hat von allem Guten und Schlechten, was

die Führenden getan haben. Deshalb muß sich jeder einzelne, möge er bis zum Krieg sich noch so wenig um Politik gekümmert haben,

die hier gesammelten Tatsachen aneignen. Nur vom einzelnen Deut­ schen aus kann die Wahrheit sich verbreiten. Wir haben keinen Northcliffe, keinen Havas und Reuter, keinen Schutz von amtlichen Stel­

len — nur eine Schneeballenkollekte für die Wahrheit ist möglich — wenn jeder sich an ihr beteiligt, wird aus dem Schneeballen eine La­

wine werden, unter der eine Welt von Lüge in Trümmer geht.

Nationale Würde er Internationalismus, der uns gepredigt wird, hat zum In­

halt: Das Gebot, den ausländischen Kulturmaßstab an Deutsch­

land anzulegen, und das Verbot, den deutschen Kulturmaßstab an das Ausland anzulegen. Einen allgemeinen Kulturmaßstab gibt es nicht.

Die Bestechlichkeit der Presse in den Ländern der westlichen Demo­

kratie (England ausgenommen), die oberflächliche Auffassung der Kunst

in den meisten Ländern, die grauenvolle und unchristliche Behandlung der Tiere bei den Romanen von Deutschland aus überwinden zu wol­

len, würden unsere Internationalisten für schlechte Politik halten.

Deutschland, das Mutterland so vieler geistigen Bewegungen, soll IZO

jedem seelischen Eingriff offenstehen, aber jeden seelischen Eingriff bei

anderen vermeiden. Und das Schönste ist, daß dann den Deutschen

von Ausländern zum Vorwurf gemacht wird, sie hätten ihre Kultur

nur für sich, während die Franzosen von jeher chre Zivilisation der ganzen Welt geschenkt hätten. So zeigt sich der Mangel von 9?ationalgefühl auf geistigem und sittlichem Gebiet ebenso wie auf poli­ tischem und auf allen mit dem gleichen Ergebnis: Untergang des

Deutschtums.

Mit dem Verstand und Wissen allein macht man keine Politik. Bei Bismarck, dm man als Realpolitiker zu bezeichnen pflegt, lag

der Realismus in den Mitteln, nicht in den Zielm. Er hat im Jahre 1891 die Abordnung der dmtschen Studentenschaft daran erinnert,

daß es 1832, als er die Universität bezog, nichts Einigmdes gab als

Wissenschaft und Kunst. Seine Ziele erschienen den wenigen, die sie verstanden, lange als

Romantik. Für Realistik hätte man gehalten, wenn er nichts andres

angestrebt hätte, als sein Vaterland Prmßen möglichst stark zu ma­

chen. Als Realist erschien er der Masse erst, als sein ideales Ziel erreicht war. Er selbst hat nie das Romantische, das Gefühlsmäßige

seiner Ziele vergessen. „Das Gefühl ist, wenn es zur Entscheidung kommt, stärker und standhafter als der Verstand des Verständigen," sagte er am 21. Mai

1892 zur Dresdner Liedertafel. Ebenso hat er am 10. Juli 1892 zu den Württembergern gesagt: „In kritischm und schwierigen Situa­

tionen, und besonders in der nationalen Politik ist das Herz immer stärker als der Verstand." Und ebenso am 29. Juli 1892 zu den Süd­

westdeutschen: „Der Verstand ohne Herz irrt eben doch häufiger, als er selbst glaubt." Erst im nmm Deutschland hak das Ideal den Charakter einer Fabrikmarke erhaltm, eines Wertes für andere, für den Bmrteiler.

Der Servilismus hat sich mit dem Egoismus in der Weise verbündet, daß man sich so zu verhalkm sucht, wie es dem eigenen Verstand ent­

spricht, ohne dabei das Gefühl der andem zu verletzen. Das Welt-

gewissen trat an Stelle des Gewissms.

Bismarck, der sog. Realpolitiker, hatte stets die nationale Würde

für die wichtigste unter den politischen Realitäten gehalten. Wir erinnern an sein Votum vom 6. November 1876 zur Frage, ob die

Pariser Ausstellung von 1878 beschickt werden solle: „Neben den Ge­ boten des Anstandes und des Ehrgefühls hak die Frage, ob und inwie­

weit unsere Teilnahme an der Ausstellung oder unser Fernbleiben für den Handel und die Industrie Deutschlands von Bedeutung sein könnte, ein vermindertes Gewicht; selbst, wenn sich kommerzielle oder

industrielle Vorteile von einer Beschickung der Pariser Ausstellung

erwarten ließen, so würden sie auf Kosten unserer nationalen Würde zu teuer erkauft."

Würde — darunter versteht man nicht lautes Auftreten, auch

nicht Stolz auf seine Fehler — sondern Selbstkritik, eigener Maßstab an Stelle des fremden: in unserem Falle Ausbildung alles Großen

im Deutschtum, unerschrockenes Eintreten für dieses Große, vor allem

für den Wahrheitssinn. Wir möchten das zu Beginn des neuen Jahr­

ganges um so mehr aussprechen, als manche von unserer Arbeit Ge­ brauch machen, weil sie sie für nötig halten, um die Achtung der Welt wieberzugewinnen, und die Achtung der Welt für nötig halten, um mit chr Geschäfte zu machen. Wenn ein Weltkrieg zur Vernichtung Chinas geführt und zum Schluß den Chinesen das Geständnis abge­ preßt worden wäre, sie hätten ihn selbst angezektelt, so würden Tau­ sende von Deutschen sich mit der chinesischen Schuldfrage beschäftigen,

die es jetzt für überflüssig oder unfein halten, sich mit der deutschen zri beschäftigen. Die muß man dem Weltgewissen überlassen. „Er (der Deutsche) frägt weit mehr als die vorigen (Spanier,

Italiener, Franzosen, Engländer) danach, was dieLeutevonihm

urteilen möchten, und wo etwas in seinem Charakter ist, das den Wunsch einer Hauptverbesserung rege machen könnte, so ist es diese

Schwachheit, nach welcher er sich nicht erkühnet, original zu sein, ob er gleich dazu alle Talente hat, und daß er sich zu viel mit der Meinung

anderer einläßt, welches den nimmt,

sittlichen Eigenschaften alle Haltung

indem es sie wetterwendisch und falsch gekünstelt macht."

(Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.)

IZ2

Kurzes Gedächtnis s ist nicht zu bezweifeln, daß, wenn die Franzosen Elsaß und Lothringen beseht hätten, sie damit niemals zufrieden wären, son­

dern das ganze linke Rheinufer, also auch Mainz, Köln usw., verlangen würden. Die Überzeugung, daß Elsaß-Lochringen allein ihnen nichts nutze, daß Her Rhein die natürliche Grenze* sei, liegt den Franzosen tief

im Blut. Die wenigen wirklichen Friedensfreunde, die es in Frankreich immer gegeben hat, würden, wenn sie gegenüber solchen Forderungen

nur deu Mund auftäten, umgebracht wie Jauris.

Bezüglich der

Kriegskontributionen, die wir zahlen müßten, genügt es daran zu er­

innern, daß an den Kriegslasten aus der letzten Franzosenzeit vor ioo Jahren die Stadt Berlin bis zum Jahre 1861 abzuzahlen hatte,

während anderen deutschen Städten die letzten Lasten erst aus der

französischen Kriegsentschädigung des Jahres 1871 abgenommen wer­

den konnten." So schrieben wir in dem Heft „An die deutschen Arbeiter" vom

Januar 1918. Die Warnung blieb erfolglos. Weite Kreise glaubten denen, die ihnen sagten, die Franzosen wollten gar nichts von uns, es

sei nicht nötig zu siegen, wenn wir aufhörten, hörten sie auch auf. Das glaube man in einem Lande, das seit Jahrhunderten von seinem

Nachbarn überfallen und ausgeraubt wurde, das glaubte man ange­ sichts der Ruinen längs des Rheins.

In Spanien ist die Erinnerung an die Napoleonische Zeit leben­ diger geblleben als in Deutschland. Nicht etwa nur durch die volks-

tümllch gewordenen Darstellungen des großen spanischen Malers Goya, sondern besonders durch die Überlleferung von Mund zu Mund.

Man sagt, daß in einem Lande, in dem so viele nicht lesen können, diese mündliche Überlieferung eine größere Rolle spiele als in einem Land, in dem jeder lesen kann, wie in Deutschland.

Aber das Lesen hat uns diese überlleferung nicht vermittelt. Wenn wir in der Schule von Ludwig XIV. hörten, so war er vor

allem der Sonnenkönig; sein Name war mit dem berühmter Schrift­

steller verbunden. Er war nicht der grausame Feind des deutschen

T33

Volkskörpers, aus dessen blutenden Lenden er Stücke herausriß, um das gefolterte Volk dann noch zu verhöhnen. Von den Generälen, die die Pfalz verwüsteten, lasen wir im französischen Unterricht rüh­

rende, nebenbei auch noch erfundene, Geschichten. Auch die Revolutionskriege sahen wir mehr in französischem als

in deutschem Licht. Wir dachten, es handle sich um die Verteidigung

der Ideen von 1789, und wußten nicht, daß die sich rasch zu einem Raub- und Eroberungskrieg enüvickelten, zu einem der grausamsten

der neueren Geschichte, dessen Opfer wieder vor allem die unglück-

llchen Pfälzer waren. Nur aus Hermann und Dorochea konnte man

einen Begriff davon bekommen, daß es sich nicht darum handelte, die Deutschen für die Ideen von 1789 zu gewinnen, sondern darum, die Männer zu erschlagen und die Frauen zu vergewaltigen.

Und die Napoleonische Zeit? Ist nicht die Zeit der Befreiungs­

kriege allein ins Gedächtnis des deutschen Volkes eingeprägt, dagegen die vorausgegangene Zeit der Ausplünderung und Schmach so gut wie vergessen? Die Einführung des französischen Rechts, die Ein­ ziehung geistllcher Güter, die Absetzung kleiner Fürsten, — das alles

erschien Deutschen, je nach ihrem Parteistandpunkt, als Errungenschaft

der Napoleonischen Zeit. Bis uns Poincare verstehen gelehrt hat,

daß alle solche Maßnahmen, die einzelnen Ständen und Parteien in

Deutschland gefallen sollen, keinen andern Zweck haben, als sie gegen andere Stände und Parteien aufzubringen und damit zu Bundesge­ nossen Frankreichs zu machen.

Vergebllch haben manche im Weltkrieg die Folgen vorausgesagk, die der Verlust des Krieges für das deutsche Volk haben würde. In­

zwischen hat diesem die Geschichte selbst wieder einen furchtbaren An­ schauungsunterricht erteilt. Wir haben keinen heißeren Wunsch zu Be­ ginn des Jahres 1925 als den,

daß

dieser Anschauungsunterricht

der letzte gewesen sein möge. Durch Erinnerung an die Vergangenheit die Zukunft zu gestalten, das erscheint uns als die eigentliche Aufgabe

der Geschichte. Möchte das, was in diesem Heft auf Grund der Ur­

kunden dargestellk wurde, niemals vergessen werden von denen — und

das sind alle Deutschen — die die Pfalz lieben.

Schon wieder Akten! chon wieder Akten! So werden manche Leser sagen, wenn sie dieses Heft erhalten. In andern Ländern würde das ganze Volk

den leidenschaftlichsten Anteil an den Vorgängen des Wahrheitskrieges

nehmen, und verlangen, daß mehr Munition hergestellt wird; und es gibt in allen Ländern — sogar in Frankreich — Heute, bie an der Wiederauf­ nahme des Prozesses gegen Deutschland leidenschaftlichen Anteil nehmen, ebenso leidenschaftlich kämpfen dort andere gegen die Wiederaufnahme.

Nur der Verurteilte selber läßt sich nicht aus seiner Ruhe brin­

gen. Wenn es den Anschein hat, daß die Kerkermeister gut aufgelegt sind, sagt er: „Da seht ihr's, die Sache macht sich, nächstens lassen

sie mich frei und kaufen mir eine Villa mit Zentralheizung." Werden die Ketten etwas schärfer angezogen, so sagt er: „Da seht ihr's, das

Recht hilft einem gar nichts, nur nicht reizen, die Leute haben nun ein­

mal die Macht, und wenn man sie ärgert, peinigen sie einen um so schlimmer."

Man muß die Sache der Geschichte überlassen. Wenn erst ein­ mal hundert Jahre vorüber sind, wenn bedeutende Historiker und große Dichter den größten Justizmord der Geschichte so dargestellt haben, daß der Deutsche, der Bücher liest oder im Theater sitzt, sich

einbilden kann, die Menschen, die gefoltert wurden, seien gar keine

Deutschen, sondern Angehörige eines feineren interessanten Volkes ge­ wesen, dann wird er mit der ihm eigenen Objektivität sich über diese

fernliegenden Vorgänge entrüsten, und kein Mensch kann ihm vorwer­ fen, daß er sich aus selbstischen Gründen hinein vertieft. Der einzige kleine Schatten, der auf dieses schöne Zukunftsbild fällt, ist die leise Möglichkeit, daß es bis dahin kein Deutsches Reich

mehr geben könnte, weil der Angeklagte, der ursprünglich nur zu lebens­

länglichem Zuchchaus verurteilt war, inzwischen zum Tode verurteilt

und hingerichtet wurde.

Jedoch solche Sorgen liegen dem stets optimistischen Unschuldig­ verurteilten fern. Er sieht, daß sogar in Serbien, von wo aus seine

körperliche Vernichtung angedreht wurde, Nürnberger Spielsachen geII •

lauft werden, falls sie besser und billiger sind als andere; daß sogar

in den Vereinigten Staaten, wo seine morallfche Vernichtung vollendet wurde, ein zur Strafe abgellefertes Luftschiff, dessen Erfinder wäh­

rend des Krieges gebrochenen Herzens gestorben ist, nicht unfreundllch aufgenommen wurde, und sieht so die Hoffnung auftauchen, wmn auch

nicht gerade morallsch und geistig geschätzt, so doch durch die GeschickLchkeit seiner Hände und die Anspruchslosigkeit seiner Bedürfnisse als

Lchtiger Lohnsklave zwar nicht geachtet, aber doch gefüttert zu werden. Solche Hoffnungen, die in allen Schichten der Bevölkerung, bei

Arbeitgebern und Arbeitnehmern, gefeilt werden, entsprechen der wirtfchaftllchen Einstellung eines fortgeschrittenen Zeitalters. Und da — gerade im Augenblick, wo man wieder anfangen kann, in französische und belgische Seebäder zu gehen, wo die Herrenvölker, die jahrelang nur mit weiblichen Teilen der deutschen Bevölkerung

verkehrt haben, sich herablassen, gut gekleidete deutsche Männer wieder anzureden, — in diesem schönen Augenblick der Weltgeschichte kommt

dieser Schwertfeger mit diesen ungemütlichen Akten. In der besseren Gesellschaft besserer Länder will kein Mensch etwas davon wissen.

Man

schicke

deutsche

Musiker,

allenfalls deutsche Gelehrte

und

Schriftsteller hinaus. Vor allem aber deutsche Kellner, die es ver­

stehen, die Bedürfnisse eines feinen Auslandspublikums an den Augen

abzulesen; die werden es Euch schon sagen, ob deutsche Greuel ä la tatare gefällig sind, oder garnierte Schuldfrage. Wir wissen schon

im voraus, daß unsere Kellner sagen werden:

Nur keine Akten!

Deutsche Gesichtspunkte zur Völkerbundsfrage Bemerkungen zu B. W. von Bülows Buch*)

keinem Krieg der Neuzeit war die Rücksicht auf das Urteil der Neutralen so gering wie bei den Alliierten im Weltkrieg. Als August der Starke seinen Bundesgenossen Peter dm Großm verx) Der Versailler Völkerbund.

Eine vorläufige Bilanz (Verlag W. Kohl­

hammer, Berlin, Stuttgart, Leipzig 1923).

ritt, den russischen Gesandten Karl dem XII. auslieferte, scheint ein

Schauder durch Europa gegangen zu sein; jedenfalls verlor August sein Ansehen. Die Entente hingegen konnte sich sagen, daß im Falle ihres Sieges niemand mehr da sein würde, der es wagen durfte, ihr Völlerrechtsverletzungen vorzuwerfen oder gar in den Arm zu fal­

len. So wie die Toten in Dostojewskijs Bobock hatten die Alliierten beschlossen, sich überhaupt nicht mehr zu schämen.

Der Weltkrieg

bedeutet daher in der Behandlung und dem Verhalten der Neutralen und des roten Kreuzes einen Rückschritt gegenüber den vorangegangenen

europäischen Kriegen. Ganz zu schweigen vom Friedensvertrag, der im Völlerbund verewigt werden soll. Bülows Werk ist — wie alles, was von diesem Verfasser kommt

— bezüglich der Tatsachen dermaßen gründlich und vollständig, daß es

für die Gegenwart geradezu unentbehrlich ist. Niemand kann über dieses Thema mitreden, der das Buch nicht kennt.

Und späterhin wird es einen besonderen Wert haben als Beleg für Schopenhauers Ausspruch: „Die Deutschen sind gewohnt, Worte

statt der Begriffe hinzunehmen." (Über die vierfache Wurzel des Satzes

vom zureichenden Grunde, IV. Kapitel.) Am Völkerbund gefällt Bülow nämlich nur das Wort Völkerbund, aber dieses Wort gefällt ihm so gut, daß er hofft, der richtige Inhalt werde mit der Zeit schon kommen. Als ob etwa ein Eigentumsbund auch dann gegen Raubüberfälle schütze,

wenn seine führenden Mitglieder deklarierte Räuber sind.

Jedes Geschöpf trägt das Gesetz seiner Entstehung in sich. Ent­ standen ist der Völlerbund aus dem Zusammenwirken von North-

cliffe und Wilson. Bülow scheint so wie die Erfahrungen der Völker­ psychologie auch die der Zeitpsychologie unbeachtet zu lassen. In dieser

Zeit sind Abmachungen, auch wenn sie noch so feierllche Namen tra­

gen, nicht so feierllch gemeint, wie in der Zeit der Pharaonen. Und es ist zu erwarten, daß die Alliierten, wenn sie einmal unter sich in Streit

kommen, das gegen die Mittelmächte und gegen die Neutralen ange­

wandte Bobock-Prinzip auch gegeneinander anwenden werden. Für jeden Rechtsbruch, für jede Vergewaltigung liegen die Präzedenzfälle

aus der gemeinsamen Kriegstätigkeit bereit und ebenso der Propa-

gandaapparat, um alles, was der Gegner tut, in der ganzen Well als Rechtsbruch und Vergewaltigung zu verschreien. Bülow scheint sich

immer wieder zu wundern über die Oberflächllchkeit der Völkerbunds -

entscheidungen. Sie erklärt sich doch ganz einfach daraus, daß die führenden Mitglieder weniger darüber nachgedacht haben, wie der

Weltfriede gesichert werden kann, als darüber, was sie den draußm wartenden Berichterstattern sagen können, damit die Leute in Paris und London etwas Nettes in der Zeitung lesen. Die Diplomaten, die

früher hauptsächllch für die Hofloge gespielt haben, spielen jetzt für

die Gallrie. Eine Verbesserung mehr für die Unterhaltung der Völker als für ihr Wohl.

Wenn die Sache nicht so grausig wäre, so wäre sie außerordent-

Lch komisch. Für die polizeiwidrige Art, wie diese Körperschaft arbei­ tet, nur ein paar Beispiell (S. 14 f.)* Griechenland wurde erst am so. März 1920 Mitglied des Bundes, trotzdem nahm Venizelos und später der griechische Gesandte in London vom 16. Januar ab in entscheidender Weise an den Sitzungen des Völkerbundrates teil. Auch

fordertt der Rat bei seiner ersten Tgaung den „zufällig anwesenden"

Lord Grey „in Anerkennung seiner Verdienste um die Erhaltung des Weltfriedens" auf, an den Verhandlungen des Rates teilzunehmen,

trotzdem er nicht dessen Mitglled war. Wenn Bülow sagt, die Her­ ren „kannttn sich so gut, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen,

ihre Vollmachttn gegenseitig zu prüfen, bloß weil sie diesmal als Rat

des Völkerbundes und nicht als Alliierte zusammenkamen," so ist zu sagen, daß bei uns jede Privatgesellschaft sich mit solchem Verfahren einer Gesetzesverletzung schuldig machen würde. In Genf handelt es sich allerdings nur um das Schicksal der Menschheit. Aber der gute

Witz von den Verdiensten Lord Greys um die Erhaltung des Welt­

friedens entschädigt für manches. Poincare gar als Mitglied eines Fn'edensbundes ist zum Toüachen. Man muß den Mitgliedern nach­

rühmen, daß sie bisher unverbrüchllchen Ernst bewahrt haben. Dabei machen die um die Erhaltung des Weltfriedens verdienten

Staatsmänner selbst kein Hehl daraus, daß der Bund den Zweck hat, dm Raub von Versailles, Trianon und Sövres zu sichern.

Nachdem die Gründer, um ihre Verbrechen vor und in dem Kriege mit Phrasen zuzudecken, den Bund gegründet hatten, sind sie diesem Spiel mit ernstester Mime trm geblieben. Kein Zweifel, ob eine Ver­

einigung von Kriminellm

als Kriminalistenvereinigung aufgezogm

werden könne, durfte aufkommm.

Als Bedingung für die Aufnahme eines Staates stelltm sie u. a. die Frage: „Welches ist das Verhaltm seiner Regierung sowohl nach ihren Handlungen wie nach ihren Erklärungen in bezug auf

a) ihre internationalen Verpflichtungen?,

b) die Bestimmung des Völkerbundes betreffmd die Rüstungen?" Währmd zum erstenmal auf europäischem Boden farbige Trup­

pen ausgebildet werden, während Frankreich gegen England die un-

gehmersten Luftrüstungen macht, England sich durch diese Rüstungen in der Grundlage seines Daseins bedroht sieht und auf Abwehrmaß-

nahmm sinnt, stellen sie, ohne eine Mime zu verziehen, gemeinsam in Gmf fest, daß Liechtenstein, das sich um die Mitgliedschaft bewor-

bm hat, gmügend abgerüstet ist. Wamm übrigens Monaco sein Auf­

nahmegesuch zurückgezogen hat, verstehen wir nicht. Es schießt doch

nur auf wehrlose Tauben, die durch den Völkerbund nicht geschützt sind.

Die Kleinheit oder Größe nicht der Gedankm, sondem des

Bodmbesitzes spielt merkwürdigerweise auch eine Rolle. Die Zulas­ sungsgesuche von San Marino und Monaco wurden überhaupt nicht

erörtert (Bülow S. 29), Liechtenstein als zu klein abgelehnt, trotz­ dem es dm oben gestellten Fordemngen, auch bezüglich der Abrüstung,

besser entspricht als Frankreich. Die Kehrseite der zunehmenden Höflichkeit ist die zunehmende

Unwahrhaftigkeit. Wandlung der Sitten ohne gleichzeitige Wand­ lung der Gesinnung ist nur durch Unwahrhaftigkeit möglich. Und in der Unwahrhaftigkeit des Völkerbundes sehen wir eine Gefahr für den

Frieden. Wir habm das dunkle Gefühl, daß der nächste Krieg durch den Völkerbund entstehen wird. Eine Bündnispolitik wie die Bis­

marcks, die 40 Jahre lang den europäischen Frieden bewahrte, ist nicht mehr möglich, weil keine Macht sich auf ein Bündnis verläßt. Die

Entente, die sich im Kriege und nach dem Kriege über alle völkerund privatrechtlichen Bindungen hinweg gesetzt und unter dem Vor­

geben, für das Recht zu kämpfen, einen ungemischten Machkwillen be­ kundet hat, besitzt nun im Völlerbund die moralische Deckung für alle

Vertragsbrüche. Die Entrüstung, die sich gegenüber August von Sach­

sen als eine Art europäische Meinung gellend machte, wird in künfti­ gen Kriegen so wenig eintreten, wie noch jemand an die weiße Flagge und das Rote Kreuz glauben wird.

Aber versuchen wir einmal alle Bedenken zurückzustellen, die sich aus den Erfahrungen der letzten io Jahre ergeben, versuchen wir

B. W. von Bülow in seinem Optimismus zu folgen. Warum sollte nicht wirkllch einmal aus einer Vereinigung, die von Räubern geführt

wird, eine Wach- und Schlleßgesellfchaft werden, wenn sich die Füh­ rung der Gesellschaft verändert? Sind nicht hundertfach Einrichtun­ gen durch Bedeutungswandel etwas anderes geworden, als sie bei

ihrem Entstehen waren, und kann überhaupt ein Fortschritt erziell werden, wenn man die Erfahrungen der Vergangenheit als maßgebllch

für die Zukunft bettachtet? Wenn wir alle grundsätzlichen Bedenken zurückzustellen suchen,

dann bleibt doch ein tatsächliches Bedenken, das unüberwindlich ist: Die französischen Bündnisse. Die in der ideengeschichtllchen Einleitung die­

ses Heftes an uns vorübergezogenen Denker waren darin einig, daß ein Völkerbund nur dann möglich ist, wenn die Bündnisse einzelner

Staaten aufhören, wenn an Sttlle der festen Schutz- und Trutzverbindungen einzelner eine Gesellschaft aller tritt, bei welcher der Frie­ denswunsch der Mehrheit kriegerische Verwicklungen, wie sie durch

feste Bündnisse entsllhen, verhindert; Frankreich hat aber gllichzeitig Bündnisse für den Kriegsfall geschlossen und den Völkerbund für den Friedensfall, so daß sich innerhalb des Völkerbundes dieselbm Macht­ gruppierungen zeigen, die ohnehin vorhanden wären. Wir zweifeln nicht, daß Länder wie die Schweiz, Spanien, die

Niederlande, Schweden usw. neben der Verttetung chrer eigenen In­ teressen im Völlerbund auch Ziele des Gemeinwohles verfolgen wollen.

140

Aber die haben nichts zu sagen. Denn der Völkerbund ist — wie nach Friedrich dem Großen der Lebe Gott — bei den starken Bataillonen, und die sind bei Frankreich und seinen Verbündeten.

Ggentlich verstehen wir den Begriff der Großmacht, von dem im Völkerbund sehr oft die Rede ist, nicht recht. Die Zahl einer Bevöl­ kerung kann es doch nicht sein, die eine Großmacht ausmacht, sonst

wäre unter den im Völkerbund vertretenen Mächten China die größte Großmacht; die Bodenfläche kann es auch nicht sein, sonst käme Bra­

silien weit vor Frankreich... sollte es... wir wagen kaum, es auszu­

sprechen ... das Heer... die Flotte... die doch nächstens abgeschafft werden — nein, es ist nicht möglich, daß die brutale Gewalt der besse­ ren Bewaffnung in einem so idealen Gebilde den Ausschlag gibt...

Es handelt sich um ein bloßes Versprechen, um einen alten Ausdruck aus der Zeit der Machtpolitik. Jetzt ist eine Großmacht diejenige Macht, die große Ideen hat. Nicht Ideen für ein neues Giftgas,

sondern Ideen für den Fortschritt der Menschheit.

Indessen sind Leute, die es wissen können, allerdings der Ansicht, daß der Völkerbund nichts anderes ist, als ein Ausdruck der militärischen Machtverhältnisse. Wilsons Staatssekretär des Auswärtigen, der uns im Namen der Vereinig­ ten Staaten den Krieg erklärte, Lansing, sagt (Bülow S. 9): ,HNan muß von

vorneherein zugeben, daß der Völkerbund ein Werkzeug der Mächtigen ist, um

das normale Wachstum nationaler Macht und nationaler Bestrebungen bei jenen aufzuhalten, die durch die Niederlage machtlos geworden sind."

Und der sozialistisch eingestellte Nitti, der als Ministerpräsident den Ver­ sailler Vertrag für Italien zu ratifizieren hatte, sagt in seinem 1924 erschienenen

Buch „Oie Tragödie Europas und Amerika?" (Deutsche Ausgabe Frankfurter Societätsdruckerei S.

12 f.) bei Besprechung der Verhältnisse im Saargebiet:

„Wo und wann in aller Welt hat man je einem so ekelhaften Schauspiel von

Gewalt, Betrug und Heuchelei beigewohnt?

Daß der Völkerbund nichts als eine

Intrige und ein Mittel der Gewalt ist, weiß heute jeder; aber niemand hätte ihn dennoch gemeiner Durchstechereien dieser Art für fähig gehalten."

Und weiterhin

(auf S. ii6), „daß die Sieger, die für die Frecheit der Völker zu kämpfen vor­

gaben, sich in ihrer Gier nach Raub nicht einmal durch Verträge gebunden fühlen." Don einem der ersten politischen Vertreter Englands berichtet Nitti (auf

S. 13) die Äußerung, „daß der Zweck des Völkerbundes offenkundig nur der fei,

die Reihe der ungerechten Maßregeln, die man erzwungen, nicht abreißen zu lassen".

I4l

Wir können uns nur dem amerikanischen Staatssekretär Lansing anschließen,

der sagt (Nitti S. 12 f.): „Die Sieger wollen ihre verschiedenartigen Begierden auf Kosten der Besiegten befriedigen und ordnen ihrem eigenen Interesse das

Interesse der Menschheit unter. Um den Erwartungen der Völker und dem Idealis­ mus der Ethiker zu entsprechen, haben sie zwar ihren Bund mit dem Völkerbund umgeben: aber man nenne sie, wie man will, sie maskiere sich, wie sie mag, diese

Gesellschaft ist der Bund der Sieger; so wie sie heute geordnet ist, ist sie nichts als der Spielball jeder Gier und jeder Intrige, nur dazu berufen, als gerecht

zu erklären, was ungerecht ist.

Wir haben einen Friedensvertrag, aber er wird

keinen dauernden Frieden bringen, da er lediglich auf den beweglichen Sand der

Interessen eines jeden einzelnen gegründet ist."

Daß Deutschland kein souveräner Staat mehr i|l, kommt auch in den Umgangsformen zum Ausdruck. Ihm gegenüber erlaubt man

sich Einmischungen und Unhöflichkeiten, die früher ganz undenkbar gewesen wären. Früher, d. h. gegenüber dem kaiserlichen Deutschland.

Jetzt, nachdem Deutschland die Republik und die demokratischste Ver­ fassung eingeführt hatte, behandelte man seine Regierung, seine Ver­ treter und zum Teil auch seine einzelnen Staatsangehörigen*) in einer

Form, die sich früher niemand erlaubt hätte. Warum wohl? Eigent­

lich hätte man doch das angeblich verruchte alte System, den angeb­

lichen Anstifter des Weltkrieges schlechter behandeln sollen. Warum geschieht das Gegenteil? Kein Mensch kann doch im Zweifel sein

über die Beantwortung dieser Frage. Sie heißt: Weil wir entwaffnet sind. Also die im Völkerbund führenden Mächte richten ihr Beneh­ men nicht nach geistig-sittlichen Werten ein, sondern nach der Be­

waffnung. Ganz anders ist der Ton gegenüber der Türkei (Bülow S. zi ff.), weil diese bewiesen hat, daß bei ihr mit Drohungen nichts zu erreichen

ist, und zwar ist der Ton ihr gegenüber anders als gegenüber den übrigen Mittelmächten, seit sie neue militärische Erfolge aufzuwei­

sen hat. Welche Qualität in Genf den Schwachen erhöht, das hat Bul­

garien ausgeplaudert, indem es sein Aufnahmegesuch (Bülow S. 25) 1) Die in diesem Augenblick noch stattfindenden Verurteilungen angeblicher

deutscher Kriegsverbrecher durch französische und belgische Gerichte sind das Scham­ loseste und Verlogenste, wodurch jemals der Name des Rechts entweiht wurde.

l42

damit begründete, daß es seit dem Waffenstillstand zahlreiche Beweise

„seiner völligen Ergebenheit gegenüber den Ententemächten erbracht" habe. Die Methode der verschleierten Gewaltpolitik ist natürlich nur

mögllch durch eine außerordentllch durchgebildete Geheimdiplomatie. Bülow (S. 51) muß zugeben, daß der Genfer Kongreß im tiefen Dun­

kel arbeitet und daß es kaum eine internationale Konferenz in der Ge­ schichte gibt, die ihn hierin übertroffen hätte. Wir meinen, daß die deutschen Anhänger des Beitritts folgendes

verkennen. Wenn Deutschland als Mitglied solchen Vergewaltigun­ gen, wie sie der Völkerbund diese Jahre her sanktioniert oder zugelassen hak — Oberschlesien, Eupen und Malmedy, Danzig, Ruhrbesetzung

usw. usw. —, in Zukunft entgegentritt und dabei überstimmt wird, so

hat es sie doch mitsanktioniert oder mitzugelassen. Indem es beitritt, hat es sich den Gesetzen und den Abmachungen des Bundes unter­

worfen. Ein wirkungsvoller Protest kann nur darin bestehen, daß es wieder austritt. Der Austritt aber kann (Bülow S. 34) nur nach

zweijähriger Kündigung erfolgen. Ausgenommen ist der Fall einer

Satzungsänderung; in diesem Fall kann ein Staat, der der Satzungs­

änderung nicht zugestimmt hat, ohne Kündigung austreten. Argen­ tinien ist allerdings auch ohne solchen Grund ohne Kündigung ausge­

treten (Bülow S. 35). Ganz ernst werden die Satzungen des Völkerbundes wohl nur von den Deutschen genommen. Während die Polen an Danzig den­ ken, die Italiener an Bozen, die Tschechen an Wien, die Franzosen an den Rhein, denken die Deutschen an Abstrakta wie Gerechtigkeit,

Völkerglück, ewiger Friede. Bei ihrem mangelnden Sinn für Ironie sehen sie nicht die grandiose Ironie eines von Poincare mitbegründeten Völkerbundes. Laienhaft gesprochen wäre es vielleicht besser gewesen,

wenn Poincare seinen Weltkrieg nicht entfesselt hätte, statt sich um künftige Jahrhunderte durch Begründung des Völkerbundes verdient zu machen. Die Bedmken gegen einzelne nicht ganz pazifistische Mit­

glieder besiegt man durch einen der in Deutschland immer eindrucks-

i43

vollen abstrakten Sätze, die man in Oberbayern Sprüche nennt. In diesem Fall heißt der einschlägige Spruch: Es ist immer gut, wenn

man dabei ist. Im allgemeinen mag es gut sein, wenn man dabei ist. Ob im besonderen Fall, wenn ein Verband gegründet wird, um einen

in der Welt als wütende Bestie zu brandmarken, und diese Bestie

dauernd an die Kette zu legen? Noch heute wird in französischen und belgischen Schulen ver­

breitet, daß die deutschen Soldaten Säuglingen die Hände abhacken.

In Denkmälern von Stein und Erz werden die schändlichsten Dinge als Taten des deutschen Volks verewigt. Kann man eigentlich zivillsierten Völkern zumuten, mit einem Volk, das Säuglingen die Hände

abhackt, sich an einen Tisch zu setzen? Wenn der deutsche Vertreter den Antrag stellte, die Bundesbrüder sollten derartige Beschimpfungen

unterlassen, so würde er wenig Anklang finden. Da müßten ja die

führende» Mitglieder sämtliche Schulbücher mit Ausnahme vielleicht

der Rechenbücher einstampfen lassen. Auf das Recht, den neuen Bun­

desbruder zu beschimpfen, können sie nicht verzichten. Die führenden Mitglieder des Völkerbundes, die den deutschen Milltarismus, d. h. unser deutsches Volksheer, beseitigt haben, dulden die französische Fremdenlegion, die unmenschlichste und abstoßendste

Form des Milltarismus. Frankreich hat durch den Versailler „Ver­ trag" das Recht erhalten, für diese Fremdenlegion auf deutschem Bo­

den zu werben, und wirbt auf dem besetzten deutschen Gebiet und auf dem dem Völkerbund unterstehenden Saarländischen Gebiet Minder­

jährige an, die man zunächst betrunken macht, um sie dann der afrikani­ schen Hölle zuzuführen. Die auf deutschem Boden unterhaltenen wei­ ßen und farbigen französischen Truppen haben natürllch den Zweck,

eine mögllchst große Anzahl von Soldaten auf fremde Kosten unter

den Waffen zu halten und den kriegerischen Geist bei den Kolonial­ völkern nicht einschlafen zu lassen. Ein entzückender Zug ist es, daß die Friedensfreunde Deutschland verbieten, Gasmasken zu besitzen,

während umllegende Länder Giftgase herstellen; dieser kleine Zug be­

weist, daß sie nicht in jedem Fall dafür sind, eine wehrlose Bevölke­ rung gegen kriegerische Überfälle zu schützen. Ganz so hakten sich Kant

i44

und die andern geistigen Väter des Völkerbundes den ewigen Frieden nicht gedacht. Ein Völkerbund ist nur möglich in einem auf Freiheit und Selbst­ bestimmung der Völker aufgebauten Europa. Nicht in dem gegen­

wärtigen ausschließlich auf Waffenentscheidung und Rüstungsverhältnisse pufgebauten. Er ist nur möglich, wenn man auch dem deutschen Volk die Mög­

lichkeit der Selbstbestimmung gibt. Solange Deutschland und Öster­ reich mit blanker Gewalt verhindert werden, den Zusammenschluß, dem

keine Bestimmung des Völlerbundes entgegen steht (Bülow

S. 24), zu vollziehen, solange ist ihre Zugehörigkeit zu einem Völker­ bund mnerlich unwahr.

Ihre Zugehörigkeit ist aber auch formal nach den eigenen Satzun­ gen des Bundes unrechtmäßig. Denn beitreten dürfen nur Staaten

mit voller Selbstverwaltung

(Bülow S. 23).

Deutschland und

Österreich sind aber in ihrer Bewaffnung, ihren Finanzen, ihren Eisen­

bahnen, ihren industriellen Betrieben unter Kontrolle. Solche Länder hat man noch m'emals als autonome Staaten betrachtet, von „voller

Selbstverwaltung" zu sprechen, wäre blutiger Hohn. Solche Länder hat man bisher Kolonien geheißen. Und solche Länder sind nicht in

der Lage, mit den sie beherrschenden Ländern ein Bündnis einzugehen. Wenn Kamerun dem Völkerbund beitritt, so wird es dadurch nicht zu einem souveränen Staat, sondern legalisiert damit lediglich die französisch-englische Herrschaft. Wir verkennen nicht, daß der Völkerbund in der Lage ist, bezüg­

lich des Minderheitenschutzes manches zu tun. Wir verkennen nicht, daß z. B. die Unterdrückung der deutschen Sprache und Kullur in

Südtirol nicht in so barbarischer Weise staktfinden könnte, wenn der

Völkerbund die Kontrolle hätte; es bestände dann doch wenigstens

die Mögllchkeit für die Minderheiten, die sonst wehrlos jeder Unter­ drückung preisgegeben sind, sich an irgendeine Stelle zu wenden, die zu ihren Gunsten wirken kann. Wenn wir trotzdem auch vom Stand­

punkt der deutschen Minderheiten aus nicht für den Eintritt Deutsch­ lands sind, so hat das seinen Grund darin, daß wir gerade für die ab-

getrennten Gebiete den dauernden Schaden einer Anerkennung der gegenwärtigen europäischen Machtverhältnisse für größer halten als

die unsicheren und vorübergehenden Vorteile, die durch die Protektion

einzelner Völkerbundomitglieder zu erlangen sind. Wir würden für die deutschen Minderheiten etwas anderes wünschen: daß die durch

Wilson getäuschten Amerikaner in größtem Stil die Verhältnisse der

abgetrennten und künstlich ferngehaltenen Gebiete studierten.

Schon in dem von uns (im Heft „Zusammenbruch" Dezember

1918) nach der Leipziger Volkszeitung wiedergegebenen japanischen Memorandum vom Spächerbst 1918 ist vorausgesagt, daß England

und die Vereinigten Staaten in der Frage des Selbstbestimmungs­ rechts der Völker auseinander kommen werden. Dieser Zeitpunkt ist

nun eingetreten.

Die

englische Presse bezeichnet das Selbstbestim-

mungsrechk der Völker als einen törichten und gefährlichen Grundsatz,

und England kann in der Tat, solange es sein Weltreich erhalten will, diesen Grundsatz nicht anerkennen.

Die Vereinigten Staaten

aber können ihn anerkennen. Mit dem Eintritt in den Völkerbund würde das deutsche Volk, das wie kein anderes Volk zerstückelt und

künstlich auseinandergehalten ist, sich von derjenigen der beiden Welt­ mächte trennen, die das Selbstbestimmungsrecht anerkennt, und sich derjenigen anschließen, die das Selbstbestinnnungsrecht nicht anerkennt.

Ein großer Teil des englischen Volkes hat die naive Auffassung, daß Weltbeherrschung eine englische Angelegenheit ist, nur von England zum

Segen der Welt ausgeübt werden kann, daß England bei dieser Tätig­ keit zu stören ein Verbrechen ist. Ein Teil des deutschen Volkes hat

allerdings die noch größere Naivität, diese englische Auffassung zu teilen. Wir halten den Engländer vom englischen Standpunkt aus für

sehr schätzenswert, wissen aber nicht, ob er vom menschlichen Stand­ punkt aus wertvoller ist als der im Völkerbund nicht maßgebende Inder. Auch die Iren könntm manches erzählen, was vom Stand­

punkt der englischen Politik aus vielleicht zu rechtfertigen wäre, aber vielleicht den Philosophen und Philanthropen nicht ganz zusagte. Die

Philosophen und Philanchropen hatten sich die Sache so gedacht, daß

nicht nur von künftigen, sondern auch von vergangenen Kriegen abge­

sehen, daß also die Welt neu geordnet wird. Gerade England hat durch seine N^ichtratifizierung der Londoner Seerechtsdeklaration, durch seine Behandllmg des PrivaLigentums, überhaupt durch sein Ver­

halten zum Völkerrecht im Krieg und beim „Frieden" bewirkt, daß der von ihm geführte Weltkrieg völkerrechtlich einen ebensolchen Rück­ schritt gegenüber den vorhergegangenen Kriegen darstellt wie der Ver­ sailler „Friede" gegenüber den vorhergegangenen Friedensschlüssen.

Wie denkt man sich aber die Wirkung unseres Beitritts in den Vereinigten Staaken? Ilkach dem jammervollen Schauspiel unserer schwankenden Haltung im Krieg kam die Wilsonbegeisterung im Herbst 1918, kam, als diese enttäuscht war, das Sich-Hin-Schmeißen an die europäischen Feinde, kam im Herbst 1924 die Annahme des Dawes­

planes, die uns die Hilfe der Vereinigten Staaten sichern sollte, und

unmittelbar darauf der Wunsch, in den Völkerbund einzutreten, d. h.

unsere Polltik von der der Vereinigten Staaten zu trennen. Also

gleichzeitig Versuch der Sklaven, sich mit überseeischer Hilfe aus der

Sklaverei herauszuarbeiten und Bewerbung, in den Verein der Skla­ venhalter ausgenommen zu werden.

Und wie denkt man sich das künftige Verhältnis zu Rußland?

Wenn ein bewaffneter Konflikt zwischen Rußland und Polen entsteht, wird der Völkerbund zum mindesten verlangen, daß französische Trup­

pen durch Deutschland hindurch an den Kriegsschauplatz gebracht wer­ den. Deutschland wird damit in die Lage kommen, Polen, das die

Deutschen ausroktek, das durch den westpreußischen Korridor den schllmmsten Pfahl in seinem Fleisch bildet und Deutschland in zwei

Stücke auseinanderreißk, diesem selben Polen Kriegshilfe zu leisten gegen Rußland.

Also die Vereinigten Staaten, die uns das Selbstbestimmungs­ recht der Völker garantiert haben, haben kein Zulassungsgesuch gestellt und, wie wir aus Amerika hören, nimmt man an, daß auch keine zukünftige Regierung dieses Gesuch stellen wird. Rußland, das einzige fremde Land, mit dem nach unserer Überzeugung Deutschland von

I?atur aus in der Weise verbunden ist, daß beide Völker aufeinander

i47

angewiesen sind, will gleichfalls nicht beitreten. Und von den Län­ dern, die mit Deutschland in ähnlicher Lage sind, Türkei, Ägypten,

Irland, liegen bisher auch keine Aufnahmegesuche vor.

Mit einer Macht will man aber, wie es scheint, noch ein besonderes

polltisches Bündnis schlleßen: Frankreich. Und man spricht von einem

Sicherheitsverkrag, der besser Oberhoheitsvertrag heißen sollte, Wohl mit dem Inhalt, Frankreich den gegenwärtigen Besitzstand zu sichern,

während die Völkerbundssatzung (Art. ig) die Möglichkeit einer Ände-

derung der internationalen Verhältnisse vorsieht. Wenn man die Ge­

schichte der letzten Jahrhunderte überblickt, die erfüllt ist von Angriffen des kriegerischen Frankreichs auf das friedliche Deutschland, da wäre

ja allerdings zu einem Sicherheitspakt alle Veranlassung. Aber das, was man bisher hört, klingt mehr so, als ob das bis an die Zähne

bewaffnete Frankreich gegen das entwaffnete Deutschland geschützt wer­

den soll. Diesen Eindruck muß man schon haben, weil es sich um ein deutsches Anerbieten handelt. Die Welt hat nur die Wahl zu glau­

ben, daß dieses Anerbieten ernst gemeint ist und wir national ehrlos

sind, oder daß es nicht ernst gemeint ist und wir bürgerllch ehrlos sind. Da sich national empfindende Völker nicht vorstellen können, daß solche Anerbietungen ernsthaft sind, betrachtet man sie als neuen Beleg der Doppelzüngigkeit, einer verschlagenen und unaufrichtigen Polltik. Auf die Deutschen im Ausland, die wissen, daß solche An­ erbietungen ernsthaft sind, werden sie eine schrecküche Wirkung aus-

üben. Und das Schllmmste wäre, wenn ein solches Anerbieten zum

Ausdruck brächte, daß wir auf die deutsche Kulturgemeinschaft verzich­ ten. Nicht daß wir darauf verzichten, Elsaß-Lothringen mit Waffen­ gewalt wieder zu gewinnen, nicht daß wir auf die staatliche Zusam­

mengehörigkeit verzichten, wäre der Anfang vom Ende, sondern der

Verzicht auf die kulturelle Zusammengehörigkeit. Wer mit Gleichgül­ tigkeit einen Zustand sich vorstellt, bei welchem in Straßburg nur noch französisch und in Bozen nur noch italienisch gesprochen wird, der ist kein Deutscher.

Bei Gleichgültigkeit

gegenüber der Sprache, dem

Volkstum und der Kultur kann ein Volk als solches nicht fortbestehen.

gstur der Glaube an die Zusammengehöngkeit kann aus einer Sprach­ gemeinschaft eine Nation machen.

Ein Beispiel ist Italien.

Auch

dort haben sich jahrhundertelang die einzelnen Staaten bekämpft, auch

dort haben die Volksgenossen gegen Volksgenossen die Deutschen, die Spanier, die Franzosen ins Land gerufen und erst in der neuesten Zeit, sozusagen vor unseren Augen, ist aus diesen sich bekämpfenden Volks­

genossen ein nationaler einheitlicher Staat geworden, der jedem Italiener seine Sprache und seine Frecheik sichert. Wer glaubt, daß dieses Ziel

erreicht worden wäre, wenn vor 60 Jahren das südliche und mittlere Italien auf Oberitalien zugunsten Österreichs verzichtet hätten?

Wenn der gegenwärtige deutsche Reichstag sich so wenig um Straßburg und Kolmar kümmert wie sein Vorgänger vor 400 Jahren

um das von den Franzosen besetzte Toul und Verdun, so wird das Schicksal von Straßburg und Kolmar das gleiche sein wie das von Toul und Verdun.

Nun könnte man trotz aller Bedenken sagen: Wir trennen uns

von den Vereinigten Staaten und von Rußland und gehen mit unse­

ren Todfeinden, die wir durch unsere Treuherzigkeit zu Freunden machen

werden. Auch bas könnte Polltik sein. Aber das will man in Deutsch­ land gar nicht. Man will immer alles gleichzeitig und erreicht nichts.

Man will gleichzeitig mit den Vereinigten Staaten und Rußland

zusammen gehen und mit dem Völkerbund. So war es auch im Krieg. Nicht, daß die Kriegsziele zu eng, zu weit, sonstwie falsch warm, war

der Fehler, sondem daß sie unklar und schwankend waren. Deshalb

haben sie keinen Eindmck gemacht, konnten sie nicht erreicht werden. So war es schon vor dem Krieg. Wichelm II. wollte mit aller Welt

gut Freund sein und hat sich damit alle Welt verfeindet. Die gegmwärtige Völkerbundspolitik ist die Fortsetzung der Politik Wil­

helms II. ins Demokratische übersetzt.

In ollen Ländern, die dem Völkerbund angeschlossen sind, mit Ausnahme Frankreichs, und in Deutschland gibt es zahlreiche nicht

gewaltpoütisch eingestellte, ideal gesinnte Anhänger des Völkerbundes. Es tut uns leid, so viele Leute, die an den Völkerbund glaubm, zu ver-

letzen, aber wir müssen unsere aufrichtige Meinung sagen: Wir glau­

ben, daß nicht das Christentum und die Humanität zugenommen haben, sondern nur die Reden über Christentum und Humanität. Im Gegen­ teil glauben wir, daß im Mittelalter mehr Menschen bei chren poli­ tischen Taten mit chrem Gewissen gerungen haben als in der Gegen-

wart, und daß heute viel ausschließlicher als damals die Politiker nur deu äußeren Erfolg im Auge haben. Die Welt ist äußerlicher und

indirekter geworden. Der einzelne glaubt nicht mehr, daß durch sein Gewissen die Achse der Welt hindurchgeht, sondern er überläßt das Gewissen den Organisationen, dem Staat, dem Döllerbund. Mögen die deutschen Kinder geistig und körperlich verhungern — der Völker­ bund wird schon für sie sorgen. Wir wollen nicht die trefflichen Leute,

die in allen Ländern Beziehungen zum Völkerbund haben oder an ihn

glauben, verletzen. Aber wir müssen unsere Überzeugung aussprechen: Wenn die Verlogenheit bas Kennzeichen des Zeitalters ist, so ist der

Völkerbund sein Symbol. Das von chm regierte Land, das Saarge­

biet, ist dasjenige europäische Gebiet, in dem die Bevölkerung — mit

Ausnahme der Presse, die dort etwas weniger unterdrückt ist als in der Pfalz — am restlosesten der Willkür der Sieger preisgegeben ist.

Währmd die nicht unter dem Völkerbund stehmdm Südtiroler von

dm Jtalimern nur geohrfeigt werdm, werden die unter dem Völker­

bund stehenden Saarländer von dm Franzosm mit Reitpeitschen ge-

schlagm. Damit die Welt sich um solche Dinge nicht zu kümmem

braucht, muffen wohllebige Diplomaten in Genf einen solchen rhetorischm Lärm machen, daß man die Angstschreie der vergewaltigtm

Bevölkerungen nicht hört. Es ist in der Physiognomie der Zeit ein

ähnlicher Zug wie die Verlegung der Schlachthäuser an die Peripherie der Städte und ihre Einfriedung durch hohe Mauern und Tierschutz­

vereine, so daß die Bevölkerung sich einbilden kann, sie lebe im Zeit­

alter der Humanität. Eine gut eingerichtete Fabrik für Giftgas sieht

viel humaner aus als ein blutiger Zweckampf des Altertums. Wie der Völkerbund in jedem einzelnm Fall, in dem ein Staat

sich Hilfesuchmd an ihn wandte, dm blanksten Machtstandpunkt vertretm hat, d. h. stets dm militärisch Starken gegen dm militärisch

Schwachen, das Völkerbundsmitglied gegen das Nichtmitglied unter­ stützt hat, als eine reine Interessenvertretung der beteiligten Groß­

mächte, das ergibt sich aus der Chronik der Vermittlungstätigkeit, wie sie Bulow auf den S. 186—241 liefert.

Immer wieder müssen wir die Leistung Bülows bewundern, der,

soviel wir sehen,

kein anderes Land etwas Gleichwertiges an die

Seite zu setzen hat, müssen seinem Werk die allergrößte Verbreitung

im In- und Auslande wünschen, beugen uns seiner überragenden Sach­ kenntnis und kommen doch zu ganz anderen Ergebnissen. Letzten Endes

ist es Sache der Weltanschauung, ob man glaubt, aus einem so ent­

standenen, von solchem Geist geleiteten Verband könne mit der Zeit ein ideales Gebilde werden. Es ist Sache der Weltanschauung, ob

man glaubt, baß die Institution den Geist, oder ob man glaubt, daß der Geist die Institution schafft.

Solange der führende Staat, Frankreich, nicht nur seine Ver­

brechen im Weltkrieg nach außen verleugnet, sondern nach innen ver­ herrlicht, ja sogar, um sie zu verhüllen, das, was es selbst getan hat, Deutschland vorwirft und die Bestrafung angeblicher Schuldiger von Deutschland verlangt, solange Frankreich nicht reuig anerkennt, daß seine Behandlung der Gefangenen mit Wiederaufnahme der Prügel­

strafe und Folter*) ein Rückschritt in der europäischen, ja, wir glauben sogar sagen zu dürfen, in seiner eigenen Kulturgeschichte bildet, kann

man von ihm nicht annehmen, daß es durch den Völlerbund etwas anderes als seinen eignen Sadismus fördern will. Wir halten für den Prüfstein dessen, ob einer am europäischen Aufbau mitarbeiten

will, sein Verhältnis zu den Schuld- und Greuelbehaupkungm des

Versailler „Vertrags". Wäre dieser, wie frühere Friedensverkräge,

auf Waffenentscheidung und Machtverhältnisse begründet, so könnten Es handelt sich bei den französischen Greueln nicht um Ausschreitungen

einzelner, wie sie in jedem Lande Vorkommen können, sondern um Handlungen, bei denen das ganze Volk mit wenigen Ausnahmen mitwirkte und zustimmte, die

Bevölkerung, die auf den Straßen auf Schwerverwundete mit Stöcken einhieb,

die meisten Ärzte und Krankenschwestern, vgl. Juniheft 1921 der S. M. „Gegenrechnung" (auch in spanischer und englischer Ausgabe erschienen) und Juniheft 1923 „Die Bestie im Menschen".

I61

wir den Standpunkt derer verstehen, wenn auch nicht teilen, die sagen:

Lassen wir diese alten Geschichten als Ausgeburten des Kriegshasses

und der Kriegsverblendung auf sich beruhen. Wir leben aber unter

dem Gesetz eines Friedensschlusses, der beansprucht, als erster in der

Geschichte auf Wahrheit und Recht begründet zu sein, der sogar das Selbstbestinnnungsrecht der Völker (einschließlich der Kolonialvölker)

außer acht läßt, zugunsten des Gesichtspunktes von Schuld und Sühne. Wollbe der Völkerbund die Ziele verfolgen, die in seiner

Satzung angegeben sind, so müßte er als erster durch seine neutralen Mitglieder die Schuld- und Greuelparagraphen des Versailler „Ver­ trages" prüfen lassen, mit der Verpflichtung aller Staaten, dieser neu­

tralen Kommission jede gewünschteMitarbeit zur Verfügung zu stellen*). Tut er das nicht, so vertritt er blanke Macht, ohne aber die Macht,

wie man das in früheren Jahrhunderten getan hat, als Grundlage der Politik anzuerkennen. Blut und Eisen, garniert mit Phrasen. Wollte aber jemand sagen, daß wir in unserer machtlosen Lage

am wenigsten die Forderung nach Wahrheit und Recht durchsetzen können, so lehnen wir diese Unterwerfung unter die Macht aus tief­

ster Überzeugung ab. Nicht um Ermäßigung der Tribute ist es uns zu tun, wenn wir die Grundlagen des Versailler „Vertrags" be­

kämpfen, sondern um die Lüge, daß jene Tribute nicht Folgen eines

verlorenen Krieges, sondern Sühne für begangenes Unrecht seien. So­ lange die schmachvollen, die Wahrheit in ihr Gegenteil verkehrenden

Schuld- und Greuellügen nicht zurückgenommen sind, ist der Eintritt eine Ehrlosigkeit. Die großen Worte des Wilhelminischen Zeitalters

haben uns nie imponiert. Der Charakter zeigt sich im Unglück.

Es gibt nur zwei Mögllchkeiten:

Entweder der Völkerbund ist eine Einrichtung der militärischen Macht. Dann hat das waffenlose Deutschland nichts darin zu suchen. x) Ende März 1921 wurde vom internationalen Komitee in Genf eine Konferenz einberufen, auf welcher beschlossen wurde, die Kriegsgreuel durch die Roten-Kreuz-Gesellschaften neutraler Staaten prüfen zu lassen. Die vom deutschen Roten Kreuz eingeretchte Denkschrift enthielt 200 Fälle (bekanntlich eine ganz kleine Auswahl) so furchtbarer Art, daß die anderen Roten-Kreuz-Gesellschaften beschlossen, die Untersuchung nicht fortzusehen (Bülow, S. 360 f.).

Oder er ist eine Einrichtung für Recht und Moral. Dann ist

seine erste Aufgabe die Untersuchung der Schuld- und Greuelbehaup­ tungen des Versailler „Vertrags", durch die der gegenwärtige Zu­

stand Europas begründet ist. Dann könnte Deutschland «intreten, um bei der Revision seines Todesurteils gehört zu werden, nachdem es

beim Todesurteil selbst nicht gehört wurde. In den Versailler Bund eintreten, hieße für Deutschland, auf

die einzige Waste verzichten, die ihm geblieben ist, die des Geistes.

Bezüglich der Abfchastung des Militarismus war Frankreich

etwas offener als die anderen. Es verlangte (Bülow, S. 81, vgl. auch S. 464) ein ständiges Organ „zur Ausarbeitung und Vorberei­ tung der militärischen Maßnahmen", also ein Kriegsministerium des

Friedensbundes. In dieser Form wurde der Antrag nicht angenom­

men. Aber der Artikel 10 der BundessaHung sieht vor, daß der Bund militärisch eingreift, wenn eines seiner Mitglieder angegriffen wird.

Man weiß aus der Weltgeschichte, daß man verschiedener Ansicht darüber sein kann, wer bei einem Konflikt der Angreifende ist, und daß hierüber die Tatsache der Kriegserklärung nicht entscheidet. Jeden­

falls hat Frankreich sachlich seinen Willen durchgeseHk: Sein Ver­

treter im Völlerbundsrat konnte bei der internationalen Iuristenkonferenz im Haag am 16. Juni 1920 mitteilen, daß ein Rüstungsaus­

schuß in Rom gegründet worden war, um den Entscheidungen des Bun­

des militärischen Nachdruck zu verleihen. Frankreich war also in dieser Sache etwas offener. Den Gipfel der Heuchelei erreicht England, indem es im ersten Rüstungsbericht des Völkerbundes bei seinem 250 Seiten langen „offenen und vollständigen

Bericht" seiner Flotte — der größten, die die Erde gesehen hat — eine halbe Seite widmet.

Eine der widerlichsten, weil bewußtesten Lügen des Völkerbundes ist die Behandlung der Kolonien. In der VölkerbundssaHung heißt es: „Das Wohlergehen und die Entwicklung der Völker, die noch nicht

imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der

heutigen Welt selbst zu leisen, bilden eine heilige Aufgabe der Zivili­ sation." Die deutschen Kolonien hat der Völkerbund bekanntlich einst­

weilen unter Aufsicht, weil Deutschland noch nicht imstande ist, die

heiligen Aufgaben der Zivilisation zu erfüllen. Hier sagt der ehrliche Freund des Völkerbundsgedankens, B. W. von Bülow (S. 301 f.): „Was ist aber in Wirklichkeit geschehen?

Zunächst haben England, Frankreich, Japan und Belgien die Man­ datsgebiete nach Maßgabe ihrer geheimm Verträge unter sich verteilt. Man verfuhr in keiner Weise anders, als mit den Eroberungen frühe­

rer Kriege — gegen die eingesessenen Weißen sogar ungleich rücksichts­ loser. Von der SchuHgewalt und Aufsicht des Völkerbundes war zu­

nächst nichts zu spüren. Als der Bund schließlich in Aktion trat, hat

sich nichts Wesentliches verändert. General Smuts, der wohl als

der eigentliche Vater des Mandatsgedanken anzusehen ist, erklärte in einer Rebe in Windhuk am 16. 10. 1920: ,Die Machtbefugnisse, welche der südafrikanischen Union (in Deutsch-Südwestafrika) über­

tragen wurden, sind so vollständig, daß chre tatsächlichen Wirkungen identisch sind mit der Annexion/ In Frankreich hat man von Anfang

an auf das Feigenblatt des Völkerbundes wenig Wert gelegt und sich gegen

den Mandatsgedanken gewehrt.

Der französische Kolonial­

minister Simon erklärte am 17. Dezember 1919 in der Kammer, Togo und Kamerun seien der französische Anteil an der Beute; es handelte

sich nicht um ein Mandat, sondern um Annexion. Sein Nachfolger Sarraut hat am 29. Juni 1920 dem Parlament versprochen, die

Frage dieser Annexion auf der Konferenz in Spaa zu klären. Den Völkerbund wollte man also gar nicht erst befassen, sondern nur den

Obersten Rat. Was damals in Spaa zwischen den Alliierten ver­

einbart wurde, ist nicht bekannt. Der Völlerbund hat jedenfalls nicht eingegriffen und hat die Einwohner von Togo, die gegen die franzö­ sische Annexion protestierten, dahin beschieden, daß Verträge vorlägen,

die eine Berücksichtigung chres Einspruches leider unmöglich machm."

Inzwischen haben die Träger der heiligen Aufgaben der Zivili­ sation eine deutsche Kolonie nach der andern richtiggehend annektiert,

d. h. mit anderen Kolonien vereinigt. Wir gestehen offen, daß wir

die glatte Annexion früherer Zeiten sympathischer finden als die ver­ schleierte desMandatssystems, die dm Zweck hatte, den Bruch der dem

deutschm Voll, den Kolonialvöllern und der ganzen Öffentlichkeit ge­

machten Versprechungm zu verschleiern. Wärm die deutschen Kolonim zwischm den siegreichen Mächten einfach aufgeteill wordm, so hätte ihr Wert, dm E. D. Morel, bekanntlich ein hervorragmder Kolo­

nialsachverständiger, auf viele tausend Millionen Pfund Sterling allein für die an England gefallenm Kolonim beziffert*), auf die Kriegsent­

schädigung angerechnet werdm muffen, wie das auch der amerikanische Staatssekrttär Lansing anerkennt (Bülow, S. 328 s.). Was die Be­ fragung der Eingeborenm anlangt, so wurde in den von England besetztm Kolonien eine Umfrage veranstaltet, derm Ergebnis trotz des Drucks der bewaffnetm Macht äußerst klägllch war. Der mglifche Administra­

tor von Deutsch-Ostafrika erklärte es geradezu für unklug, eine offme

und allgemeine Befragung der Eingebormm zu veranlassen*).

Und nun mögen sich die deutschen Döllerbundsfreunde fragm, ob

irgendeine Aussicht besteht, daß durch den Völlerbund in Europa auch

nur eine Schule, eine Kaseme, ein Grmzstein verschobm werden wird, wenn er sich nicht traut, Deutschland die unter lügnerischen Dorwändm abgmonnnenen Kolonim wiederzugebm, ttotzdem sie ihm ja doch jeden

Tag durch die besser bewaffneten heillgen Träger der Zivilisation*) wieder abgenonnnm werdm tonnen.

Trotz all dem Furchtbarm, das auch er berichtet, kommt Bülow

am Schluß dazu, unter gewissm Bedingungm Deutschlands Beitritt zur Gesellschaft der Heiligm zu empfehlm, von ihm eine Verbesserung

der Bundesarbeit zu erhoffm. Wmn wir uns also leider von Bülows Gmndeinstellung und

seinm letzten Schlüssen entfernen müssen, so verkennm wir doch nicht, *) Dgl. Januarheft 19114 der S. M. „Die kolonial» Schuldlüge", S. 96.

2) Dgl. ,/Dfe koloniale Schuldlüge" S. ia8 ff. ■3) Als Material zur Kenntnis der heiligen Träger der Zivilisation ver­

weisen wir auf die Aufsätze von K. A. von Müller, Der Opiumkrieg (Januarheft igi5 „England"), Josef Hofmiller, Belgische Kultur am Kongo (nach englischen Quellen, Aprilheft der S. M. .Belgien"), K. A. von Müller, Aus der englischen

Geschichte (Aprilheft 1917 „Englands Wachstum").

daß fein Werk eine der größten geistigen Leistungen in der politischen £iferafur der Neuzeit darstellt, und daß niemand mitreden kann, der

dieses Porträt der Heillgen nicht kennt. Wir finden nicht, daß sie bei näherer Bekanntschaft gewinnen, so wenig wir finden, daß Wölfe

durch einen Schafspelz gewinnen. Offen gestanden: die Alliierten haben uns im Weltkrieg besser gefallen als im Völkerbund. Wie bescheiden gegenüber den heillgen Aufgaben der Zivilisation

erscheinen etwa die Friedensbemühungen Bismarcks. Wir erinnern daran, wie er den Papst gebeten hat, bei dem Streit über die Karollnen

zwischen Spanien und Deutschland zu vermitteln. Und doch sind wir

der Ansicht, daß solche bescheidene Arbeit bessere Wege in die Zukunft weist. Das Deutsch-Schweizer Abkommen, das Skandinavische Ab­ kommen sind gewiß geeigneter, Streitigkeiten beizulegen als der Völ­ kerbund. Und zwar deshalb, weil sie von den Vertragschließenden ernst

und ehrllch gemeint sind, während die Großmächte im Völkerbund nichts anderes suchen als eine so ausgedehnte Sicherung ihrer Inter­

essen, daß niemand mehr übrigbleibt, der ihnen Vertragsbruch und Untreue vorwerfen könnte. Gerade in diesem Abschieben der Verant­

wortung auf Körperschaften sehen wir einen Zug der Zeit, und zwar im internationalen Verkehr so gut wie im nationalen und im wirtschaftllchen. Der Völkerbund ist die Verkörperung des nicht existierenden

Weltgewissens. Früher sprach man von einem Gewissen des einzelnen. Der hatte es aber auch. Jetzt will man sogar das Gewissen einer ein­

getragenen Gesellschaft überlassen.

Wir erkennen im Völkerbnnd ein Symbol für die Mechanisie­ rung des Zeitalters. Er soll ein Automat sein, in den man die bis

an die Zähne gerüsteten Völker hineinwirft und aus dem der Welt­ friede herauskommt. Nur durch Satzungen soll das erzielt werden, nur durch Worte, nicht durch Wandel der Gesinnung. Der einzige wirkllche Völkerbund ist die Religion. In dem Maß

wie wirkllch christliche Gesinnung die Seelen erfaßt, sie selbstloser und

gütiger macht, wird die Welt besser. Wenn der einzelne Staatsmann seine Beziehungen zu den fremden Völkern vor das Forum seines eigenen Gewissens, statt vor das des „Weltgewissens" bringt, können

die Beziehungen besser werden. Sonst nicht. Wer mitleidlos unter­

worfene Völker in allen Erdteilen mißhandelt und in Genf vom Weltgewissen redet, der bestätigt Macaulays Wort: „Wir halten dafür, das schrecklichste aller Schauspiele sei die Stärke der Zivilisa­

tion ohne ihre Barmherzigkeit."

Der deutsche Untergang größte Gefahr für den Fortbestand des deutschen Volkes bildet der gemütliche Glaubenssatz „ein Sechzig-Millionen-Dolk kann

nicht untergehen".

In Wirklichkeit geht dieser Untergang täglich vor unseren Augen vor sich. Von heute auf morgen kann ein Sechzig-Millionen-Volk aller­ dings m'cht untergehen. Man darf nicht erwarten, daß 5 Jahre nach

dem Krieg in Berlin nicht mehr Deutsch gesprochen wird. Aber der Untergang schreitet von den Grenzen her täglich fort. Tausende von deutschen Schulen im Osten sind geschlossen; in Elsaß und Lothringen können die meisten Schullinder nicht mehr richtig Schriftdeutsch; in ÄRen gab es 1918 eine private tschechische Vollsschule, 192a gab es 104 öffentliche tschechische Volksfchulklassen.

Bei manchen deutsch-fchweizer Städten ist ein Vordringen des Französischen, nicht nur sprachlich, zu bemerken. Bei den Deutsch­

amerikanern ist die deutsche Sprache und damit die deutsche Kultur während dieser 10 Jahre mehr zurückgegangen als vorher in einem

Jahrhundert. Die Auslanddeutschen in anderen Ländern vermögen vielfach ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr zu erhalten. Im Innern des uns verbliebenen Reichs-Torsos bewirkt der zu

enge Lebensraum und die Verarmung Wohnungsnot und damit Ge­ burtenrückgang. Im Jahre igi4 gab es in den Münchener Volls-

schulen 75g6i Schulkinder, im Jahre 1924 waren es noch 50827 Kinder. Der Umfang des Reichs an deutschem Gebiet hak sich seit dem Zusammenbruch des mikklalterlichen Kaisertums bis auf den heutigen

Tag ständig verringert mit einziger Ausnahme der Zurückgewinnung von Elsaß und Lothringen im Jahre 1870. Wenn trotzdem der Anschein von .Mufbau", „Aufstieg" und dergleichen entsteht, so liegt das außer an der Gemütlichkeit der deut­

schen Denkweise daran, daß es vielen einzelnen Deutschen wirtschaft­ lich nicht schlecht geht. Die Reste des Bismarckschen Reiches sind noch

nicht aufgezehrt und die Tüchtigkeit der Deutschen erzielt Einzelerfolge, wo immer sie sich betätigen mögen. Das ändert nichts an der Tatsache, daß jedes deutsche Kind, das nur noch Französisch, Englisch, Italienisch,

Tschechisch lernt, einen Teil des Untergangs bildet. Dem Untergang kann nur entgegengewirkt werden durch ein Ge­

meinschaftsgefühl der deutschen Kultur. Der Ausdruck und das wich­ tigste Instrument dieses Gemeinschaftsgefühls ist die Presse. Für sie

ergibt sich die Aufgabe, das Gemeinschaftsgefühl auf allen Gebieten zu pflegen, unter Deutschen stets das Gemeinsame, nicht das Tren­

nende zu betonen. Einen Gleichgewichtszustand gibt es in der Geschichte so wenig

wie in der Natur. Entweder das deutsche Volk überwindet seinen inne­ ren Hader und wird im Frieden so einig, wie es bisher nur in Stun­

den höchster Kriegsnok gewesen ist — dann beginnt jetzt der Sieges­ lauf der deutschen Kultur; oder es erleichtert den von allen Himmels­ richtungen eindringenden Feindm die Arbeit, indem es sich wie seit

zwei Jahrtausenden selbst bekämpft. Entweder stehen wir am Anfang der deutschen Geschichte ober an ihrem Ende.

Gemütlichkeit er Deutsche ist nicht nur in dem Sinne, in dem E. T. A. Hoff­ mann das Wort gebraucht, gemütlich, d. h. gemütvoll, er ist

auch gemütlich im trivialen Sinn: Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, Als ein Gespräch von Krieg und Krttgsgeschrei,

Wenn hinten, weit, in der Türkei Die Völker aufeinander schlagen.

Die Ungemütlichkeit der Welt zu zeigen, betrachten wir heute wie

während des Krieges als unsere Aufgabe. „Es wird nichts so heiß

gegessen, wie es gekocht wird" war im Krieg eines der beliebtesten

Sprichwörter in Deutschland. Begriffe wie „Derständigungsfrieden"

sind ihrem wirklichen Sinn nach in keine andere Sprache zu übersetzen. Bei den moralgetränkten Ansprachen von Wilson über das künftige Völkerglück hörte der, der Ohren hat zu hören, von Anfang an die

Willensrichtung heraus: die Richtung gegen das Deutschtum. Auch „Machtpolitik" ist ein spezifisch deutscher Begriff, dem die gemütliche

Voraussetzung zugrunde liegt, daß es auch eine Politik ohne Macht

gibt. Don dieser Politik ohne Macht hätten wir jetzt Gelegenheit, Ge­ brauch zu machen. Da hilft der gemütliche Spruch „Ein Sechzig-

Millionen-Volk kann nicht untergehen". Das ist die auf keine Tatsache

begründete Überzeugung des deutschen Volkes, seit es untergeht. Schon im Krieg sind weite Gebiete deutschem Empfinden und deutscher Spra­ che in den während der letzten Jahrhunderte abgetrennten Reichsge­

bieten und in den Vereinigten Staaten verloren gegangen. Und seit dem Zusammenbruch wird die deutsche Sprache in den dmtschen Grenz­

gebieten in einem Zeitmaße ausgerottet wie nie zuvor; es kommt aber (nach Fichtes vierter Rede an die deutsche Nation) nicht auf die vorige

Abstammung derer an, die eine ursprüngliche Sprache fortsprechen, sondern nur darauf, „daß diese Sprache ohne Unterbrechung fortge­

sprochen werde, indem weit mehr die Menschen von der Sprache

gebildet werden, denn die Sprache von den Menschm".

Seit Jahrhunderten hat sich der Lebensraum des deutschen Volkes in Mitteleuropa verkleinert, mit einziger Ausnahme der Rückgewin­

nung von Elsaß und Lochringen im Jahre 1870. Wie wenige aber

im inneren Deutschland haben sich darum bekümmert. Wie wenige haben im mächtigen Deutschen Reich sich um die Kämpfe bekümmert,

die in Böhmen und Südtirol gegen das Deutschtum geführt wurden. Politik war damals für die meisten eine gemütliche Frühstückslektüre,

und die Türkei, von deren Nöten man sich gelegentlich an Sonntagen unterhielt, begann bereits in Österreich.

Dem nun vor unseren Augen stattfindenden Untergang des deut­ schen Volles zu begegnen, ist auch ohne Macht möglich.

Es bedarf

dazu nur eines einzigen — des Willens, des einheitlichen Willens aller.

In Millionen ist er nur verschüttet durch Täuschungen über die uns umgebende Welt. Sie kennen zu lehren wie sie ist, ist der Zweck un­

serer Zeitschrift.

Zum neuen Jahr! «in jeder Leser das neue Jahr mit guten Vorsätzen beginnt, die er nachher nicht ausfühtt, warum sollte dann nicht auch

seine Zeitschrift sich beim Jahreswechsel überlegen: Was möchten wir

geleistet haben, wenn wieder ein neues Jahr ins Land gegangen ist? Uns liegen solche Gedanken dieses Jahr besonders nah, weil der

große Prozeß, dessen Auswirkungen auch in dieses Heft hineinklingen,

uns nötigte, Rückschau zu halten, und Rückschau wird für den, dem Vergangenheit nur Material für Zukunft ist, von selbst zur Ausschau. Also unser guter Vorsatz ist: Wir wollen nach dem vielen, das

wir aus der Geschichte gebracht haben, nun die Folgerungen ziehen. Nicht als ob wir die Geschichte für entbehrlich hielten.

Wer,

ohne sie zu kennen, von einem anderen Planetm auf diese Erde käme, wäre nicht imstande, vorauszusagen, wie die verschiedenen Völlerschaften sich in verschiedenen Lagen benehmen werdm. Die Geschichtt ist

uns «ine Hilfswissenschaft der Völkerpsychologie, und wir glauben, daß die Illusionen, aus denen der deutsche Himmel stets bestand,

nicht hätten aufkommen können bei besserer Kenntnis der Völker­ psychologie.

Da gibt es nun Leute — und hat sie zu allen Zeiten gegeben —

die meinen: das, was bis jetzt war, das ist nur das Mistbeet, auf deni

die Blume der Gegenwart wächst; die richtige Zeit ist erst die gegeuwärtige. Man nennt diese Auffassung modern. Merkwürdig ist, daß

zu allen Zeittn ein großer Teil der denkenden Menschen — wir ver­ muten: der größere Teil — ebenso gedacht hat. Die Sophisten haben

160

gegenüber Plato wohl «in ähnliches Gefühl der Modernität gehabt

wie das junge Deutschland gegenüber Goethe. Und die Mehrheit der

Menschen wird immer dazu neigen, einer Anschauung zu folgen, die das Selbstgefühl so sehr befriedigt: Die Zeit, die du mit deiner An­ wesenheit beehrst, ist eine ganz besondere Zeit, für die alle anderen

Zeiten nur die Vorbereitung waren; und die Gesetze, die bis jetzt das

Zusammenleben der Menschen beherrscht haben, werden jetzt abge­

schafft. Man braucht nur zu wollen.

Wir halten den Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, nicht für so veränderlich.

Hielten wir ihn aber für unveränderlich, so hätte alles Ringen um eine bessere Zukunft keinen Sinn. Liefen die Schicksale der Völker

ab wie ein Uhrwerk, wäre es sicher, daß die Deutschen in aller Zukunft

so uneinig blleben, wie sie es in aller Vergangenheit waren, so wäre ja der Kampf zwecklos.

Wir glauben aber, daß es etwas gibt, das die Völker ändert: schöpferische Gedanken, die nur aus dem Gefühl kommen. Nach unserer Auffassung verkörpert jede Nation eine Idee im

Platonischen Sinn und hat die Aufgabe, diese Idee zu reiner Dar­ stellung zu bringen. Für töricht hielten wir es daher, den Maßstab von

anderen Nationen entlehnen zu wollen. Denn gerade in dem besonde­

ren Wertmaßstab Legt das Besondere jeden Volkes. Bei jedem Volk ist der Begriff der Ehre, die den Wertmaßstab darstellt, ein anderer.

Die Deutschen halten nicht wie manche andere Völker den Ruhm nach außen, die Gewalt nach außen, die Furchtverbreitung nach außen, für

das Fundament der Ehre, sondern die Selbstachtung. Wir erblicken die Ehre nicht in der unberechtigten Schätzung durch andere, sondern

in der berechtigten durch uns selbst. So ist die Ehre beim einzelnen und beim Volk Ansporn zur Selbstverbesserung.

Mit gemischten Gefühlen denken wir an die großen Werte der Vorkriegszeit und würden beim gewonnenen Krieg nicht die Erweite­ rung der äußeren Macht, sondern mit Millionen von Kriegsteil­

nehmern die Verbesserung der inneren, vor allem der sozialen Ver­ hältnisse, die Vereinigung aller Deutschen in Freiheit zur Erhaltung

161

und Ausbreitung der deutschen Kultur für das Ziel gehalten haben.

Die Niederlage hat uns an diesem Ziele nie irre gemacht. Und die

Verleumdung des deutschen Charakters und der deutschen Kultur hat uns in ihm nur bestärkt. Sie hat uns erst recht zum Bewußtsein ge­

bracht, daß der Kampf um die Wahrheit ein Bestandteil des deutschen

Wesens ist. Insofern betrachten wir die Schuld- und Greuellügen

des Versailler „Vertrags" als eia Glück, als sie — und nur sie — alle Deutschen vereinigen können zu dem einzigen Krieg, den ein ent­

waffnetes Voll führen kann, einem Krieg, nicht minder ernst, nicht minder entscheidend als der andere. Es ist ein undeutscher Gedanke,

die Welt dadurch zu befrieden, daß man nicht an Lügen rührt. Unerträgllch bleibt für deutsches Empfinden die Untätigkeit gegenüber Ungerechtigkeit und Lüge. Und zwar noch mehr in der Greuelfrage als in der Schuldfrage. Diese betrifft einzelne, jene das ganze Volk und

den Vollscharakter. Wenn jetzt die Belgier sagen, sie wollten im

Verfolg der Friedenspolltik von Locarno keine Deutschen mehr wegen Kriegoverbrechen verurteilen, so widerspricht solche Erledigung dem Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit. Mit ihr werden die Denk­

mäler nicht aus der Well geschafft, in die die belgische Regierung die Lügen über deutsche Schandtaten hat einmeißeln lassen.

Dao Rote Kreuz, das die Gefangenenbehandlung im Krieg unter­ suchen wollte, hat die Untersuchung eingestellt, als ihm aus den Ber-

lincr Archiven die ersten vierzig Fälle über Folterungen Deutscher vorgellgt wurden. Alle deutschen Regierungen im Krieg und nach dem Kriege haben bezüglich der Wahrheit über die Gefangenenbehand­

lung versagt. Sie haben die deutsche Ehre zum Gegenstand politischer Tauschgeschäfte gemacht, und der Deutsche Reichstag hat bis heute die

mit Einschluß der Sozialdemokraten gefaßten Voten des Parlamenta­ rischen Untersuchungsausschusses über die Greuelbeschuldigungen nicht

veröffenkllcht. Das aber, was deutschen Gefangenen in Frankreich und Rumänien geschehen ist, ist so ungeheuerllch, daß es zu den dunkelsten

Kapiteln der europäischen Geschichte gehört. Daß die Verbrecher nicht

angeklagt werden — ob man die Macht hat, sie zu bestrafen oder

nicht — ist ein Schandfleck der deutschen Geschichte. 16a

Von denjenigen Deutschen, die im Ausland angebliche deutsche Verfehlungen verbreiten, sprechen wir nicht.

Sie stehen außerhalb

der Gefühlsgemeinschaft. Mit Unrecht nennt man sie Selbstbezichtiger und will in ihnen eine Übertreibung einer guten deutschen Eigen­

schaft, der Objektivität, erblicken. Wir haben noch keinen getroffen, der sich selbst bezichtigt. Sie bezichtigen im Gegenteil nur die andern, ihre

Landsleute, um sich selbst als rühmliche Ausnahme in um so helleres

Licht zu setzen. Sie sind Vertreter der häßlichsten deutschen Eigen­

schaft: der Gehässigkeit gegen den Landsmann bei gleichzeitiger Unter­ würfigkeit gegenüber dem Fremden. Sie beichten wie Reineke Fuchs

nicht eigene Sünden, sondern fremde, und wenn sie beten, so beten sie: Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen. Für eine maten'alistische Politik ist die Vergangenheit unwirk­

lich, wirklich nur der in der Zukunft zu erringende materielle Vorteil.

Das deutsche Volk mit seiner tragischen Geschichte und seiner optimi­

stischen Weltanschauung kann aber nur bei der heldischen Auffassung bestehen, deren Ausdruck die Ehre ist. Es hat bis jetzt keine deutsche

Nation gegeben, weil es kein deutsches Nationalgefühl gegeben hat.

Das Gerede vom Mangel der politischen Begabung trifft nicht den Grund des deutschen Unglückes. Ein Volk, das nur eine Jnkeressenund keine Gefühlsgemeinschaft ist, kann nicht bestehen. Schaffm wir

die Gefühlsgemeinschaft!

Fortschritt im Lügen einem früheren Jahrhundert, das vielen in gar zu Hellem Lichte

erstrahlt, konnte man im kunstgetränkten Nürnberg tägllch sehen,

wie nackte Strafgefangene, von ihren Aufsehern mit Peitschen vor­ wärtsgetrieben, Schiffe die Pegnitz hinaufzogen. Wenn man an die Ausbildung der Folter in den verschiedenen

Ländern denkt, an die Verließe, in denen man seine Mitmenschen ge­ fangen hielt, so fragt man sich, ob es in der ganzen Natur etwas so

Grausames gibt, wie den Menschen.

Ungerecht wäre es aber, jeden Fortschritt zu verkennen. Nicht nur, daß die Nerven schwächer geworden sind, und man öffentliche

Folterungen und Verbrennungen doch nicht so genießm würde wie in früheren Zeitaltern, auch gegen geheime und ungesehene Grausam­ keiten lehnt sich das Menschlichkeitsgefühl doch ganz anders auf als

früher. Nicht umsonst haben heldische Menschen im Kampfe gegen die Folter, gegen die Hexenprozesse, gegen die Mißhandlung von Gei­

steskranken, die Selbsttäuschung der teilnahmslosen Menge gekämpft, die schlummernde Menschlichkeit geweckt.

Im Weltkrieg ist aller­

dings ein Rückschritt gegenüber den Kriegen des letzten Jahrhunderts erfolgt. In Frankreich, Rumänien und Afrika hat die Marterung der Gefangenen wieder die Form des Mittelalters angenommen. Daß der Weltkrieg weniger Leiden geschaffen hätte als frühere, kann man

gewiß nicht sagen. Die Waffen sind indirekter geworden; der Chemi­

ker, der ein neues Giftgas bereitet, der Bankier, der es finanziert, hat die Leiben nicht mehr so vor Augen wie in früheren Zeiten der Führer an der Spitze seiner Reiterfchar. In einer Beziehung ist ein unbestreitbarer Fortschritt erfolgt:

nie sind Werke der Selbstsucht so mit Worten der Liebe verkleidet

worden wie in diesem Krieg. Und so ist es auch seitdem geblieben. Man predigt in den ehe­

maligen Feindbundstaaten und den von ihnen geschaffenen neuen den Internationalismus und pflegt den Nationalismus. Wir sind weit davon entfernt, den fortschreitenden Nationalis­

mus der Völker für einen Rückschritt der Menschheit zu halten.

Gegenüber dem dynastischen Staat, dem Bürgerstaat, dem Klassenstaat ist der Nationalstaat etwas Höheres.

Und auch das Volksheer ist gegenüber dem Söldnerheer frühe­

rer Jahrhunderte etwas Höheres. Es ist wie der Nationalstaat ge­ eignet und berufen, die edlen Eigenschaften der Menschen in ihrem

Zusammenleben zu wecken und zu steigern.

Also davon sind wir weit entfernt, die Entwicklung, wie sie die militärische Iugendausbildung in der neuesten Zeit genommen hat, für einen Rückschritt zu halten. Für einen Rückschritt halten wir es

nur, daß diese Militarisierung stattfindet unter gleichzeitiger Veran­

staltung von Abrüstungskonferenzen; daß sie stattfindet bei den Völ­ kern, die angeblich ausgezogen sind, um den deutschen Militarismus

zu bekämpfen und die Welt mit einem — der Massenhaftigkeit und Indirektheit des Zeitalters entsprechenden — Maschinengewehrfeuer

von meist gutbezahlten Artikeln über den ewigen Frieden überschütten, während sie chre Jugend gleichzeitig außer in der Bedienung dieses Maschinengewehrs der Lüge, auch in denjenigen Waffen ausbilden, zu

deren Vermeidung sie angeblich den Völkerbund gegründet haben.

Noch ist Deutschland nicht verloren ewunderungswürdig wie bei den Franzosen ist bei den Polen die

Vaterlandsliebe. Dort sind die Sozialisten auch Nationalisten. Und man kann wohl annehmen, daß diejenigen unter ihnen, die es

etwa nicht sind, sich dafür ausgeben müssen, um nicht hinweggefegt zu werden. Im Verfolge eines Lagardefchen Gedankens erblicken wir in der Einstellung des Sozialismus zur Nation eine Ausstrahlung der größereri oder geringeren Nationalbewußtheit des Gesamtvolkeo. Deut­

sche Sozialdemokraten beanstandeten im Krieg, daß man von Deutsch­

land aus sich mit den Iren zu verbünden suche, die doch Engländer

seien, während sie im eigenen Land Verbündete der Polen, der fran­ zösischen Elsässer, der Dänen gewesen waren und mitten im Weltkrieg

für die Letten gegen die mit letzter Kraft um Erhaltung ihres Deutsch­

tums ringenden Balten eintraten. Wir sehen in dieser Einstellung nicht eine Konsequenz des Soziallsmus, sondern eine Konsequenz des

deutschen Wesens, das sich, lange bevor es eine Sozialdemokratie gab, in ähnllcher Weise beim Kampf der Stämme, Konfessionen, Dyna­

stien offenbarte. Die Einstellung zum Volk, wie wir sie aus zahlreichen Rede» und Schriften der Radikalen noch aus der Kriegszeik kennen,

ist kurz gefaßt die: Das Nationale ist etwas zu Überwindendes. He­

ckert hat auf dem Gründungsparteitag der U.S.P.D. gesagt, es seien, da wir eine Weltwirtschaft haben, „die nationalen Grenzen nur

•3

Hindernisse für das Proletariat". Den Kulturwert der Sprache usw. erkennt er an. Aber was er programmatisch ausspricht, heißt: Das

Nationale ist rückständig; wird es überwunden, so folgt auf das Zeit­ alter der Volksgegensätze und der Kriege ein besseres Zeitalter, das

Zeitalter des Friedens, der Einheit des Proletariats. Demgegenüber

sind wir der Ansicht, daß Völker ihre höchste Blüte gerade nur in der Ausbildung ihrer nationalen Eigenart, ihr höchstes Glück in der Stär­

kung des nationalen Willens erreichen. Die größere Rücksicht des 20. Jahrhunderts auf die Zuschauer und Zuhörer, die zu einer Abnahme

der sichtbaren Rohheit und zu einer Zunahme der hörbaren Lügen ge­

führt hat, hat daran nichts geändert.

Daß die Politik und nicht die Wirtschaft das Schicksal der Völ­

ker bestimmt, hat die große Zeit des Weltkrieges wie bei den Franzosen so auch bei den Polen bewiesen. Beide Völker trugen in der Beschaf­

fenheit des einzelnen wie der des gesamten Organismus schwere, viel­

leicht unheilbare Schäden in sich; aber der Aufschwung des Krieges, die Führung durch leidenschaftliche Politiker, das Zusammenhalten

aller gegen außen, der Glaube an sich selbst, haben sie ihre Ziele er­ reichen lassen. Der Mangel an diesen Eigenschaften bei großen Teilen

des deutschen Volkes hat dieses alle Ziele verfehlen lassen. Nun aber, im normalen Leben wirkt sich die Tüchtigkeit des einzelnen Deutschen

wieder aus. Das deutsche Volk ist so tüchtig, daß es nicht einmal durch die deutsche Politik vernichtet werden kann. Und es ist, als ob in kleinen Zeiten wirklich die Wirtschaft das Schicksal sei.

Im letzten Krieg erwärmte sich Bekhmann für ein selbständiges Polen. Uns war immer klar, daß «in solches Polen nach den östlichen

Gebieten Preußens und an die Ostsee streben werde.

Die nächste

Folge der Errichtung des selbständigen Polens war die Zerstörung der

Mögllchkeit eines Sonderfriedens mit Rußland. C'est un soufflet — das ist eine Ohrfeige — soll der Zar gesagt haben, und sich von da ab

allen Deutschfreunden verschlossen haben.

Deutschland hat bei den nun einmal gegebenen Gegensätzen, Ruß­ land-Polen, Polen-Ukraine, zu wählen, oder wir werden es mit allen

verderben, wie wir es vor dem Krieg mit allen verdorben haben, weil

wir mit allen gut Freund sein wollten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völler, so wie es sich aus der oben geschüderten sozialdemokratischen

Einstellung ergibt, ist dort im Osten nicht durchzuführen. Man müßte, etwa in Gallzien, nicht nur die Dörfer, sondern die Häuser und die

Stockwerke aufteilen, wenn man versuchen wollte, alle Interessen als gleichberechtigt zu behandeln. Das neue Polen aber mit den UngeheuerlichkeiLn

seiner Grenzen

in Oberschlesiea,

Posen, östlich von

Litauen und Tschechien ist bei der Erregbarkeit des polnischen Volkes

eine dauernde Gefahr für seine Nachbarn. Die verfluchte deutsche Objektivität hat sich sogar mitten im

Weltkrieg gezeigt. Unter Diplomaten und anderen Intellektuellen galt es vielfach als vornehm oder als modern, m'cht wie der gewöhnliche

Mann über die Feinde seines Volles zu schimpfen, sondern ihnen die

besten Seiten abzugewinnen, sich, wie man sagte, auf chren Stand­

punkt zu versetzen, ihnen sozusagen wissenschaftllch gerecht zu werden.

Nun gibt es in der Wissenschaft keine Abschätzung des allen Lebe­ wesen eigenen Selbsterhaltungstriebs. Wenn ein angeschossenes Reh halbtot am Boden liegt, und die Schmeißfliegen stürzen darüber, so haben die Schmeißfliegen vom Standpunkt ihres Selbsterhaltungs­

triebs aus recht und es kann ihnen niemand einen Vorwurf machen.

Wenn wir Partei für das Reh ergreifen und die Schmeißfliegen verjagen, so haben wir recht, und es kann uns auch niemand einen Vorwurf machen. Das kräftigste Wort über die Polenbegeisterung hat Ludwig

Thoma gesprochen in seinem Artikel „Polenrausch", den wir in „Pro­ phetisches aus den S. M." zum Teil abdrucken. Der Jubel der Ber­

liner umbrauste am 20. März 1848 die durch einen Gnadenerlaß

Friedrich Wilhelms IV. aus dem Gefängnis befreiten polnischen Auf­

ständischen; ihren Führern wurden die Pferde des Wagens ausge­ spannt, von dem eine von Berllner Damen angefertigte polnische

Fahne herabwehte, und in vielen Weißbierkneipen sang man gewiß

„Noch ist Polen nicht verloren", während die in Berlin Gefeierten

sich bereits nach Posen zurückbegeben hatten und sich dort am Krieg gegen das Deutschtum beteillgten. Nach Sybel entwickelten die Polen >3"

eine ebenso große Tapferkeit gegen die prenßischen Truppen „wie eine

rohe Grausamkeit gegen wehrlose Deutsche und Juden". Genau einen Monat später, am 20. April 1848, richtete Herr von Bismarck an die Magdeburger Zeitung ein Schreiben, in dem es

heißt: „Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich

das Elsaß abzufordern und die dentsche Fahne auf den Tnrm von Straßburg zu pflanzen. Aber es ist mehr als deutsche GutmütiFeit,

wenn wir uns mit der Ritterlichkeit von Romanhelden vor allem

dafür begeistern wollen, daß deutschen Staaten das beste von dem entzogen wird, was dentsche Waffen im Laufe der Jahrhunderte in

Polen gewonnen hatten." Noch einmal hat bas Schicksal durch die Gunst des umgebenden

Hasses dem deutschen Volk seine Aufgabe gezeigt. In den Beschuldi­

gungen fast der ganzen Welt hat der Deutsche die Möglichkeit ge­

funden, seinen überzeitlichen Charakter — den Kampf um die Wahr­ heit — mit seinem zeitlichen Charakter — dem Kampf für die Existenz

— zu verbinden. Ihm würde es nicht anstehen, wie Polen und Fran­ zosen, alles zu behaupten, was der nationalen Eitelkeit schmeichelt.

Das Besondere des deutschen Wahrheitskampfes ist, daß er nicht um die Achtung anderer, sondern um die Selbstachtung ringt. Wir sehen in dieser Einstellung, die heute Gemeingut von Mil-

Iionen in allen Ständen und Parteien ist, eines der Anzeichen für die

Bildnng einer deutschen Nation. Kant sagt vom Deutschen seines

Zeitalters (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Er­ habenen; 1767): „Er fragt weit mehr als die Vorigen (Spanier, Jtallener, Franzosen, Engländer) darnach, was die Leute von ihm

urteilen möchten, und wo etwas in seinem Charakter ist, was den

Wunsch einer Hauptverbesserung rege machen könnte, so ist es diese Schwachheit, nach welcher er sich nicht erkühnet, Original zu sein, ob­

gleich er dazu alle Talente hak, und daß er sich zu viel mit der Mei­ nung anderer einläßt, welches den sittlichen Eigenschaften alle Hal­

tung nimmt, indem es sie wetterwendisch und falsch gekünstelt macht." Ein halbes Jahrhundert später war in Bayern der Kronprinz Lnd-

wig fast der einzige, der den großdeutschen Gedanken zu fassen wagte.

Heute ist dieser Gedanke hier Gemeingut von Hunderttausenden, wie­ derum aus allen Ständen und Parteien.

Wir wollen uns nicht irre machen lassen durch Zeillrankheiten, die, aus den Ländern der westlichen Zivilisation kommend, wie eine an­

steckende Krankheit alle Länder überfallen haben.

Es gibt in den

Völkern wie im einzelnen Organismus etwas, das stärker ist als Politik

und Wirtschaft: Jugend und Alter. Das deutsche Volk ist jung. Fröh-

lich zog es bisher durch die Welt, jedem Straßenräuber um den Hals

fallend. Wie Hans im Glück hat es nach treuem Dienst und Helden-

tum einen Klumpen Gold bekommen und hat ihn sich auf dem Nach­ hauseweg durch Schlauere abfchwäHen lassen, so daß es mit einem Sack fauler Äpfel nach Hause kam.

Unser verstorbener Mitarbeiter Johannes Lepsius hat einmal ge­

sagt, die Deutschen Einigungskriege von 1864/70 seien im Spengler-

fchen Sinn gleichzeitig mit der Einigung der siebm angelsächsischen Königreiche im Jahre 827. Wenn diese Auffassung richtig ist, kann aus dem deutschen Voll noch allerhand werden. Für Frankreich und

Polen war der Versailler Vertrag eine Steinach-Kur. Wir glauben

nicht an Steinach.

Zum Vaterunser Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr

finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. (Match. 7, 7.)

Text, Vorbereitung, Überblick, Einteilung, Form

ir halten uns an die Fassung bei Matthäus 6, 9—13. Bei

Lukas 11, 2—4 fehlt nach den von der katholischen Kirche anerkannten Handschriften „unser, der du bist im Himmel", „dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden", „sondern erlöse

uns von dem Übel".

Das von den Protestanten als Schluß gebetete „denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit", steht in einigen

griechischen Handschriften als Schluß des Vaterunsers Matthäus 6, 13; von der katholischen Kirche werden diese Worte für unecht gehalten. *

Die ganze Bergpredigt, in die das Vaterunser eingebettet ist, kann

als Vorbereitung und Erläuterung des Vaterunsers aufgefaßt werden.

Insbesondere wird es vorbereitet durch die ersten Verse des sechsten Kapitels von Matthäus, in denen die Scheinheiligkeit geschildett wird.

Sie entsteht in der Welt des Scheins als Ersatz für Heiligkeit und daher leicht in menschlichen Gemeinschaften. Man muß sich erinnern, daß die jüdische Religion eine Gemeinschafksreligion ist.

Von den

Büchern des Alten Testaments bis auf die Gegenwatt sind wohl ihre

meisten Gebott auf der Voraussetzung des menschlichen Gemeinschafts­

lebens aufgebaut. Das Wohltun (Matth. 6, i—4) ist ein Anliegen

der Gemeinde, und ebenso das Gebet (Matth. 6, 5—6); bis zum

heutigen Tag wird am Jahrestag des verstorbenen Vaters, am Ver­ söhnungstag und wohl allgemein so viel wie möglich in der Synagoge

gebetet. Auch die Heiden, von denen der Wottreichtum erwähnt wird

(Matth. 6, 7), hatten ihren Kult öffentlich, sie wohl noch allgemeiner als die Juden. Wer zu Hause betet, sich dabei aber in der Spiegel­

welt befindet, an die Wirkung auf andere denkt, ist auch zu Hause in der Öffentlichkeit. Das Chttstenkum ist die Religion des Ich und Du.

Wmn nur ein Mensch auf der Erde lebte und dieser eine wäre ein

Christ, so könnte er alle Gebote erfüllen, da diese sich nicht auf die Werke, sondern auf die Gesinnung beziehen. Auch die Wortt sind

nicht das Wesentliche; wenn ein Gebet nicht fetischistisch sein soll, so muß es nicht gebetet, sondern gelebt werden.

* Die Anrufung. Vater unser, der du bist im Himmel. Die Bitten.

1. Geheiliget werde dein Name,

2. Zukomme uns dein Reich,

z. Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden, 4. Gib uns heute unser tägliches*) Brot,

5. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern

Schuldigem,

6. Führe uns nicht in Versuchung, 7. Sondem erlöse uns von dem Übel. *

Wir teilen das Vatemnser ein in drei aktive Bitten (i—3),

d. h. solche, die den Vorsatz ausdrücken, etwas zu tun, und vier passive

(4—7), d. h. solche, in denen wir den Empfang eines göttlichen Ge­ schenks erbitten. Die vierte Bitte nimmt eine besondere Stellung ein zwischen den drei ersten und den drei letzten Bitten; denn die vierte

Bitte bezieht sich auf Körperliches?), tzjx drei ersten und die drei letzten

beziehen sich auf Geistiges. Und zwar sind die drei letztm mystische Bittm: alles andere könnte man einem mächtigen König auch verspre-

chen oder von ihm erbitten: die drei letztm sind die Bitten um Gnade. *

Man kann auch unterscheiden die vier Du-Sätze (hier ist die An­ rufung mitgezählt, in den erstm drei Bitten ist „dein" zu bekonm)

und die vier Wir-Sätze; und diese Einteilung gibt einen Überblick

über dm Gegensatz des Göttllchen und des Menschlichen. >) Wohl da« in den Übersetzungen strittigste Wort, ohne daß e« in den grir-

djifdjen Handschriften verschiedene Lesarten gäbe (das aramäische Hebräerevange­

lium hat mahar = morgen.

Hennecke, Neutestamentllche Apokryphen, S. 18).

Schon Luther in seiner Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Layen gibt nur bet diesem einen Wort die Vielzahl der Übersetzungen an: außer „täglich"

und „morgig" auch „überwesentlich" und „auserwählt" und sucht diese Begriffe

in seiner Auslegung alle zu verbinden. Andere Übersetzer, z. D. Weizsäcker, sagen „unser nötiges Brot".

Lagarde legte besonderes Gewicht darauf, daß wir nach

dem griechischen Wortlaut unser Brot für morgen erbitten.

Auch die neueste

Übersetzung, die von Roman Woerner (1922), hat „unser Brot für den morgenden Tag" und diese Wiedergabe scheint immer allgemeiner anerkannt zu werden; ver­

gleiche z. B. die im Jahre 1924 erschienene Neuausgabe der Übersetzung von Ludwig Albrecht.

Die Vulgata hat „überirdisch", Augustinus und Thomas von

Aquin aber „täglich". 2) Anders die meisten Erklärer.

Sie meinen, das Brot auf die geistige

Nahrung, insbesondere das Brot der Kommunion beziehen zu müssen und ver­

kennen, wie schön hier in der Mitte des Gebets das Irdische in das Himmlische

171

Du .... Himmel

Unser ....

Brot

Dein

..

. Name

Unsre ....

Schulden

Dein

..

. Reich

Uns

....

Versuchung

Dein

..

. Wille

Uns

....

Übel.

Auch diese Einteilung deutet darauf hin, daß in den ersten drei Bitten wir sagen, wie wir uns zu Gott verhalten wollen, und in den

vier letzten wir bitten, wie er sich zu uns verhalten möge. So herrllch, wie die Aussagen über Gott in den vier ersten Sätzen sind, — sein Himmel, sein Name, sein Reich, sein Wille —,

so kläglich die über den Menschen in den vier letzten Sätzen — sein Brot, seine Schulden, seine Versuchung, sein Übel. Nirgends kommt Wort oder Begriff Ich vor. Es ist ein Gebet

für alle, und von dem einzelnen Betenden wird nichts anderes voraus­ gesetzt, als daß er sündig und erlösungsbedürftig ist. »

Jede Bitte ist eine Welt für sich, weshalb Künstler die einzelnen

Bitten in Bildern darstellen konnten, die nichts miteinander zu tun haben. Und doch setzt jede Bitte jede andere voraus. Es ist nicht mögLch, eine Bitte richtig zu verstehen, wenn man eine andere ablehnt.

Die Anrufung und die einzelnen Bitten

Die Anrufung „Vater" ist symbolisch gemeint. Gott ist nicht mein und dein

Vater, Vater ist Symbol für die schützende Liebe.

Er erhält die

Vögel des Himmels und die Lilien im Felde, gepflanzt ist, damit auch das Irdische seine Wurzeln in einer anderen Welt habe.

Der Heiland ist nicht so vornehm wie die Theologen und verschmäht et nicht, vom Dror zu sprechen, das die Bäcker backen.

Augustin läßt es dem Betenden

offen, an die gesamte Notdurft oder an das Sakrament zu denken.

Thomas von

Aquin stützt unsere Auffassung, indem er sagt (Expositio oralionis dominicae III),

daß wir

in

diesem

dem um Irdisches.

Gebet

an

erster Stelle um Himmlisches

bitten

und

nach

Und (ebd. XXIII) sagt er ausdrücklich, daß wir in den drei

ersten Bitten um Geistliches bitten, in der vierten um Zeitliches, wenn

er auch

(ebd. XXIV) die Auslegung des Brots als Sakrament und Wort Gottes hinzufüg«.

Das erste Wort, das hier auf die schützende Liebe bezogen wird (Dreieinigkeit — die drei Güter: Schutz, Liebe, Erkenntnis) bedeutet,

wenn man auf den Ursinn des Bildes zurückgeht: Erzeuger, den Er­

zeuger der unsichtbaren Welt, die 2. Cor., 4 und 5 erläutert wird; wobei dahingestellt bleibt, wer die sichtbare erschaffen hat. Warum

wenden wir uns aber überhaupt an den Vater, wenn er (nach Mat­ thäus 6, 8) schon vorher weiß, was wir brauchen? Deshalb weil

w i r nicht wissen, was wir brauchen. Wir sollen unsere Wünsche, die von llkatur aus im Koordinatensystem der sichtbaren Well liegen,

in das der unsichtbaren einordnen, und das geschieht im Vaterunser. „Das Schwierigste" sagt Thomas von Aquin (Expositio II) im

Anschluß an Jakobus 4, 3, „ist zu wissen, worum gebeten wer­

den soll." „Unser", darin llegt, daß alle Menschen Brüder sind. „Das Gebet ist ein geistlich, gemein Gut, darum soll man niemand deß be­

rauben, auch nit die Feind" (Luther, Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Layen).

„Der du bist im Himmel", auch dazu hat Lucher das Beste ge­ sagt, nämll'ch in seinen Tischreden: „Ich, wiewohl ich ein alter Doktor der heiligen Schrift bin, bin doch noch nicht aus der Kinderllhre ge­

kommen, und verstehe die zehn Gebote Gottes, den Glauben und das Vaterunser doch noch nicht recht, ich kann's nicht ausstudieren und

ausllrnen, aber ich Urne noch täglich daran und lese den Katechismus mit meinem Sohn Hansen und mit meinem TöchterUin Magdalenen.

Wann versteht man doch durchaus und gründlich nur das erste Wort

im Vaterunser, als da wir sagen: der du bist im Himmel?" Himmel ist das Bild für die unsichtbare Welt im Gegensatz zur

Erde als dem Bild für die sichtbare Welk. Darauf, daß in den Worten „im Himmel" gelegen ist: die All­

macht, alles zu erfüllen, worum wir gläubig bitten, bin ich nicht von selbst gekommen, sondern nur durch Thomas von Aquin

(Expositio

X). Auch eine andere Beobachtung, die Thomas (ebd.) macht, ist zu

schön, um nicht wiedergegeben zu werden: unter den Erfordernissen des Lebens steht die Gläubigkeit an erster Stelle.

Gar nicht verstehen wir schon für diese ersten Worte die Auf­ fassung von Heiler (Das Gebet, S. 298), das Vaterunser sei ein Bittgebet und stehe im Gegensatz zum mystischen Bekm.

In dem

Maß, in dem wir nur für diese Welt bitten, statt uns schon mit den

ersten Worten in eine andere zu versenken, sind wir der Mystik un-

zn,gänzlich, aber auch dem Vaterunser. Nach dem hl. Gregor von Nyssa (331—394) können nur diejenigen die Worte dieses Gebetes

verstehen, denen der Geist der Wahrheit die verborgenen Geheimnisse erschließt.

Uno ist Himmel so viel wie fester Punkt, Maßstab für alles. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, der Himmel nicht.

Die

Schwierigkeit, die sich Hegen die Auffassung zu erheben scheint, daß der Himmel der einzige feste Punkt, der einzige Maßstab sei, näm­

lich, daß Liebe auch nicht Gleichnis sondern selbst Maßstab für alles sei, erledigt sich dadurch, daß Himmel und Liebe dasselbe ist.

Es

könnte auch heißen „der du bist in der Liebe". ♦

Die erste Bitte

„Geheiligt werde dein Name" meint nicht gelegentliche Heili­ gung, sondern beständige. Nach unserer Auffassung: durch die Kunst.

Bei der Heiligung durch die Kunst ist in erster Linie an die kirch­

liche Kunst zu denken, deren einzige Aufgabe die Heiligung des Na­

mens Gottes ist, weiterhin aber an alle hohe Kunst überhaupt. Bei dieser Bitte, ist es klar, daß es eine aktive Bitte ist: der

Mensch soll durch die Kunst den Namen Gottes heiligen, Gott kann sich nicht selbst loben. Wenn ich ein verstecktes Bild Gottes weiß,

muß ich dafür sorgen, daß es offenbar wird, weil es heißt „geheillgl werde dein Name". Die Rückseite mag zerfressen sein, vielleicht konnte

man das Bild nicht anders Herstellen, als indem man den Untergrund zerstörte. Mit der Rückseite sollen wir uns nicht beschäftigen, das

Bild Gottes sollen wir suchen und heiligen. Die Bitte schlleßt in sich, daß man seine Zeit nicht damit zu­ bringen darf, den Namen seiner Mitmenschen zu schänden.

i?4

Ferner »st mit der ersten Bitte gesagt, daß mein Name nicht

geheiligt werden soll und daß es falsch ist, danach zu streben. Auch von meinen Freunden soll ich wünschen, daß sie nicht meinen, sondern deinen Namen heiligen. Es ist vielleicht das erste und allen gemeinsame

Merkmal der Heiligen, daß sie nicht danach gestrebt haben, ihren Narnen zu heiligen.

Der Jgnatianische Vergleich von Christus mit einem kriegeri­

schen Heerführer (vgl. Anhang des zweiten Tags der Exerzitien) be­ deutet nicht nur Verzicht auf eigne Ziele zugunsten der Ziele des

Heerführers, sondern auch Verzicht auf eignen Namen zugunsten des Namens des Heerführers. Ein guter Soldat richtet sein Augenmerk nicht auf die Erlangung eignen Namens, hat sein Absinnen nicht auf die

ErlanMmg von Sonderruhm, ist zufrieden, wenn einzig der Heerführer mit ihm zufrieden ist. Man versuche sich vorzustellen, daß Franziskus

eine Verfügrmg an seine Brüder deshalb hinausgehen lasse, weil er meint, daß sie sich in seiner Lebensgeschichte gut ausnehmen werde. Mit Ausnahme der vierten kann jede Bitte den Inhalt eines

Menschenlebens bilden. Die erste hat vielleicht bei Johannes dem Täufer den einzigen Inhalt des Lebens ausgemacht. Schon im Mut­ terleibe hüpfte er, als Maria zu seiner Mutter kam (Lukas i, 41)Die außernatürliche Richtung des Christentums zeigt sich in seinem Gebet. Der natürliche Mensch strebt danach, sich zu erlustigen und

zu verherrlichen*) oder andere Menschen zu erlustigen und zu verherr­

lichen, oder sich zu heiligen; hier haben wir ein Gebet — also doch

einen Anruf in menschlicher Not, — das in seinen ersten Anrufen

und Bitten nicht für dm Menschen, sondem für Gott bittet, „ge­ heiligt werde dein Name". *) Oie Homerischen Personen beten um Hilfe in menschlichen Angelegen­

heiten zu den Göttern, soweit deren Voreingenommenheit für oder wider einzelne

Menschen

das zuläßt.

Hier werden die Götter noch in Anspruch genommen

zur Bestrafung von Vergehen gegen die Majestät des Betenden.

Nur wo eine

Gemeinschaft bittet, wie das trojanische Volk (Ilias III, 298), oder ein König für

das Volk (Ilias III, 361), wird um Dinge gebetet, um die ein Gebet in unserem Sinne bitten könnte: wie die Heiligkeit des Eides und die Gerechtigkeit des Aus­

ganges.

Aber wenn man bedenkt, daß auch bei solcher Gelegenheit Menelaos

Die zweite Bitte

„Zukomme uns dein Reich", bedeutet das ein von uns verspro­ chenes Suchen oder ein von Gott erbetenes Ausströmen des Heiligen

Geistes?

Nach dem Zusammenhang bedeutet es ein versprochenes

Suchen, ist also eine aktive Bitte, soviel wie „Suchet, was droben ist". Ohne das Versprechen, im Reich Gottes zu leben, soviel man kann, ist diese Bitte geradezu unsinnig.

Es ist die Bitte, an der Herbeiführung des Reiches selbst arbeiten zu können, und das Versprechen, an der Herbeiführung des Reiches selbst arbeiten zu wollen. Aber „zukomme uns dein Reich", darum

zu bitten, würde uns nicht aufgettagen, wenn wir allein, ohne Hilfe, imstande wären, selbst das Reich Gottes herbeizuführen. Das Reich, das kommen soll, ist kein Reich der welüichen Macht,

nicht ein verbessertes Reich des Teufels, sondern ein Reich der Er­ kenntnis, in dem Erkenntnis und Liebe eins sind. Wie gering wellliche

Kenntnisse zu achten sind, zeigt sich ausApesteilgefchichte 4,13,100 Petrus und Johannes, unmittelbar nachdem der Heillge Geist aus Petrus

gesprochen, als ungelehrte und ungebildete Leute bezeichnet werden. Die Auffassung, daß das Reich Gottes in uns ist, wird ausdrück-

llch und wörllich bestätigt durch Lukas 17, 20 und 21: „Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Got­ tes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht

mit äußerllchem Gepränge, auch kann man nicht sagen: Siehe, hier ist es, siehe, dort; denn siehe, das Reich Gottes ist innerhalb euch"*).

Lukas 8, 10 heißt es: „Euch ist gegeben, die Geheimnisse des

Reiches Gottes zu verstehen."

Es ist also diejenige Bitte, die sich

dem Göttervater mit Recht oder Unrecht Grausamkeit vortvirft und diesen Dor­

wurf wegen der den Göttern gefallenden Tieropfer jedenfalls selbst verdient, so

muß man sagen, daß diese Art von Gebeten mit der unsrigen nur den Namen

gemein hat.

Dagegen läßt Plato am Schluß des Phaidros den Sokrates beten:

„O, lieber Pan und ihr übrigen Götter, die ihr hier zugegen seid, verleiht mir,

schön zu sein im Innern und daß, was ich Äußeres habe, dem Inneren befreun­ det sei."

9 Die Sekte der Montanisten meinte, das Reich Gottes komme in Pepuza

in Phrygien (Zange, Zeugnisse der Kirchengeschichte § 22).

176

auf den Heiligen Geist bezieht. Dementsprechend enthält die zweite Bitte für den hl. Gregor von Nyssa Aufschluß über das Wesen des

Heiligen Geistes und seine Eigmfchaften (Dibelius, Das Vaterunser,

S. 62). Man kann nicht bitten „zukomme uns dein Reich" und sich frei­ willig in das des Satans begeben, sei es auch als Höllenrichter (vgl. unten das über den zweiten Teil der fünften Bitte Gesagte). Hin­

gegen ist Liebe immer recht. Hier ergibt sich, daß Entzücken besser ist als Entrüsten. Voraussetzung für das Kommen des inneren Reiches und dessen,

was wir zu seiner Herbeiführung tun müssen, ist: Erfüllung der nächsten Bitte. ♦

Die dritte Bitte

„Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden." Diese Bitte heißt:

1. Ich bin nicht imstande dafür zu sorgen, daß dein Wille auf Erden geschehe. Sonst hätte ich nicht nötig, darum zu bitten.

2. Ich bin bereit, soweit ich kann, dazu mitzuwirken. Sonst hätte

ich kein Recht, darum zu bitten: Man kann nicht bitten, daß Gottes Wille geschehe, und selbst ihn nicht tun. Hier zeigt sich die Bedeutung

der guten Werke: Sie sind die Belege des Glaubens. Wer Werke

des Teufels tut, kann nicht von Gott erbitten, daß sein Wille auf Erden geschehe. Es ist nicht anzunehmen, daß im Himmel Tiere ge­ quält werden; „dein Wille" ist auch in dieser Hinsicht klar.

Nirgends ist etwas davon gesagt, daß wir unsere Individualität ausleben sollen und uns freiwillig in das Reich des Satans begeben

dürfen, etwa um uns besser kennenzulernen. Christus selbst bittet diese Bitte der Demut mit den Worten: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe" (Matth. 26, 39). Und einem, der ihm alle Macht

und Herrllchkeit der sichtbaren Welt angeboten hat, antwortet er:

„Du sollst den Herrn deinen Gott nicht versuchen" (Lukas 4, 12). Auch nicht nach dem Willen anderer Menschen sollen wir uns

richten.

Wille bedeutet das Einzelne, Reich das Ganze. Die zweite Bitte

bezeichnet also das Ziel: das Kommen des Gottesreiches; die dritte das Mittel dazu: das Tun von Gottes Willen. ,Much auf Erden" heißt nicht: auf diesem Planeten. Sondern, wie bei der Anrufung gesagt, sind Himmel und Erde Bilder für die

unsichtbare und die sichtbare Welt. „Wie im Himmel also auch auf

Erden" heißt: wie in der unsichtbaren, so auch in der sichtbaren Welt. Es soll also die sichtbare Welt, von der unsicher bleibt, wer sie ge­

schaffen hat, vergottet, der unsichtbaren angegllchen werden. Es besteht eine gewisse Wahrscheinllchkeit, daß mein Wille und

der Wille Gottes nicht derselbe ist. In dem Augenblick, in dem ich aufrichtig nicht sage „mein Wille geschehe", sondern sage „dein Wille

geschehe", kann mir die Durchkreuzung meines Willens durch den Willen anderer Menschen nichts mehr anhaben; die gefährliche Kurve

liegt dann im Unendlichen. Vielleicht ist bei manchen Menschen die Gefahr, durch Willensrichtungen, die die ihrige kreuzen, abgelenkt zu werden, nicht so groß wie bie, durch Willensrichtungen, die mit der

ihrigen gleichlaufen, in der Annahme bestärkt zu werden, daß die ihrige richtig sei. Die Gefahr, daß ihr Kompaß durchschossen wird, ist nicht so

groß wie die, daß er durch umgebende Massen abgelenkt wird. „Wie uns Freunde durch ihre Schmeicheleien verderben, so bessern uns zu­

weilen zänkische Feinde" sagt Augustin in den Bekenntnissen (IX, 8).

Durch Menschen wird man vereinsamt; nicht einsam ist nur, wer die Einstellung nicht nach den erst zu richtenden Richtungen „auf Erden"

sucht, sondern nach den gegebenen „im Himmel". Zusammengefaßt:

Wir sind geneigt, die heute und hier erkennbaren Willensrichtungen von und in andern für maßgebend zu halten, während maßgebend sind die Verlängerungen ins Unendliche.

Daß auch die dritte Bitte eine aktive ist, wird ausdrücklich bestätigt durch Matthäus 7,21: „Nicht ein jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines

Vaters tut, der im Himmel ist, der wird in das Himmelreich eingehen."

Aus dieser Bitte ergibt sich als Erklärung von Himmel: das, wo Gottes Wille geschieht. 178

Es ist diejenige Bitte, die am seltensten ernst genommen wird.

Nur die Heiligen haben jede Willensrichkung ins Unendliche verlän­ gert, haben auf der Erde so gelebt, wie wenn sie im Himmel wären.

Die Auffassung vom aktiven Charakter der drei ersten Bitten finden wir auch bei Augustin in der Gebetsanweisung für die Witwe

Proba: „Wenn wir sagen »Geheiligt werde dein Name', so ermahnen wir uns selbst zu dem Wunsche, daß der Name dessen, der immer

heilig ist, auch bei den Menschen heilig gehalten, d. h. nicht verachtet

werde; was nicht Gott sondern den Menschen nützt. Und wenn wir

sagen »zukonnne uns dein Reich', so richten wir, sei es, daß wir wol­ len oder nicht wollen, daß es uns zukomme, unsere Sehnsucht darauf, daß es uns zukomme, und daß wir es uns verdienen, in ihm zu herrschen. Wenn wir uns sagen, »Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch

auf Erden', so erbitten wir von ihm den Gehorsam selbst für uns, da­ mit sein Wille so von uns vollzogen werde, wie er im Himmel von

seinen Engeln vollzogen wird."

Die nun folgenden passiven Bitten darf nur auosprechen, wer den Wunsch hak, mitzuwirken, daß „dein Wille geschehe wie im Him­

mel also auch auf Erden". ♦



Die vierte Bitte

„Unser tägllches (morgiges) Brot gib uns täglich", heißt es bei

Lukas. Diese Fassung scheint uns tiefer als die bei Matthäus „Unser tägllches (morgiges) Brot gib uns heute", die aus dem Gebet um

Ewigkeit ein wenig ein Hausgebet macht. Die Bitte hat eine merkwürdige Sttllung. Man könnte erwar-

ten, daß des Lebens Notdurft zuerst komme. Aber zuerst kommen

die drei aktiven Bitten. Die ums Brot steht zwischen den aktiven

und den passiven, als ob sie weder zu den einen noch zu anderen ganz gehörtt. Nach unsrer Auffassung gehört sie ganz zu den passiven, ja

enthält das Versprechen der Passivität. Diese Bitte wird erläutert durch Thomas a Kempis, Nachfolge Christi, 3. Buch 26. Kapitel: „Behüte mich vor den Sorgen dieses

Lebens, damit ich nicht allzu sehr darin verwickelt werde; vor vielen Bedürfnissen des Leibes, damit ich nicht von der Wollust gefangen

werde." Und weiter: „Siehe, Speise, Trank, Kleidung und andere Notdurft, die ja zu des Leibes Erhallung gehört, sind dem inbrün­

stigen Geiste befchwerllch. Verleihe mir, solchen Unterhalt mit Maß

zu gebrauchen, damit ich nicht mit allzu großer Begier darin verstrickt

werde. Alles Hinwegzuwerfen, ist nicht erlaubt, weil die Natur er­ halten werden muß; aber Überflüssiges und was mehr zur Lust ist, aufzusuchen, das verbiegt das heillge Gesetz; sonst würde das Fleisch

übermütig wider den Geist sich erheben. Hier zwifchenhindurch, ich

bitte, Herr, leite mich deine Hand und belehre mich, daß nichts zu viel geschieht." (Dieses Kapitel von Thomas a Kempis brachte uns

auf den Zusammenhang der vierten Bitte mit der sechsten, s. unten

S. i86f.) Ohne Thomas von Aquin (Expositio XXII) hätte ich nicht »be­ merkt, daß schon in dem Wort „Brot" gelegen ist, daß wir nichts Besonderes erbitten sollen, sondern das zur Notdurft Erforderliche.

Ebensowenig hätte ich ohne ihn bemerkt, daß in dem „unser" gelegen ist, daß es verboten ist, das Brot der andern zu begehren.

Während die vorhergehende Bitte aktiv gemeint ist: als Ver­ sprechen, nach Gottes Willen zu handeln und nicht nach dem der Men­

schen, ist die Bitte ums tägllche Brot passiv gemeint: für das LeibLche sorge du!

Dem natürllchen Menschen ist das Erste, was er von seinen eige­ nen Händm und das Letzte, was er von einer unsichtbaren Macht er­

wartet, das tägllche Brot. Gerade dieses aber sollen wir von Gott erbitten. Wir brauchen uns also überhaupt nicht um unsere persönlichen

Angelegenheiten zu kümmern.

Wir verstehen die Bitte als Bitte

auch für die Tiere, überhaupt für das Leben aller. Hier zeigt sich, daß das Leben ein Gut ist. Die Bergpredigt, in der das Vaterunser gelehrt wird, enthält

im gleichen Kapitel di« Erläuterung dieser Bitte (Matth. 6, 25—34): „Sorget nicht ängstlich für euer Leben, was ihr essen werdet, noch

180

für euer» Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr

als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Betrachtet die Vögel des Himmels; sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen: und unser himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid

ihr nicht viel mehr als sie? Wer unter euch kann mit seinen Sorgen seiner Leibeslänge eine Elle zusetzen? Und warum sorget ihr ängstlich für die Kleidung? Betrachtet die Lilien auf dem Felde, wie sie wach­

sen; sie arbeiten nicht und spinnen nicht; und doch sage ich euch, daß

selbst Salomon in aller seiner Herrllchkeit nicht bekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Felde, welches heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, also kleidet, wie

viel mehr euch, ihr Kleingläubigen! Sorget euch also nicht ängstlich

und saget nicht: Was werden wir essen, oder was werden wir trinken, oder womit werden wir uns bekleiden? Denn nach allem diesen trach­

ten die Heiden. Denn euer Vater weiß, daß ihr alles dessen bedürfet.

Suchet also zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit: so wird

euch dieses alles zufallen. Darum sorget nicht ängstlich für dm mor­ gigen Tag; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jedem

Tag genügt seine Plage."



#



Die fünfte Bitte

a) UndvergtbunSunsereSchulden Das „Und" zwifchm der Brot- und der Schuldenbitte bedeutet

vielleicht, daß wir wünschen sollen, am Leben erhalten zu werden, um

verziehen zu bekommen und zu verzeihm. „Vergib uns unsere Schul­ den" würde uns der Heiland nicht sagen lassen, wenn der Wunsch un­

erfüllbar wäre und wenn nicht in dem Augenblick, in dem wir auf­ richtig darum bittm und die Bedingung des Nachsatzes („wie auch wir vergebm unseren Schuldigem") erfüllen, unsere Schuld in Wahrheit

vergebm werden kann. Zur Aufrichtigkeit der Bitte gehört der Vor­

satz, nie wieder zu sündigen. Alle anderen Bitten beziehm sich auf die Zukunft. Aus dieser er­

gibt sich, daß Gott die dem Menschen nicht mögllche, rückläufige Beu 181

einflussung des Weltlaufs, also die Wirkung auf die Vergangenheit,

möglich ist. Die Reue wird durch diese Bitte als notwendig anerkannt.

Wäre Reue falsch, so könnte kein Schuldbewußtsein gefordert wer­ den; ja, das vollkommene Fehlen der Reue würde zur Folge haben,

daß man kein Gedächtnis für seine Sünden hätte. „Vergib" kann man wohl nur sagen, wenn man auf Rechtferti­ gung seiner früheren Taten verzichtet. Es wäre eine gefährliche Unter­ scheidung, wenn man sagen wollte: an den und den Handlungen ist

nichts zu verzeihen, weil sie schön waren. Vielmehr muß der Wunsch des Abnehmens sich wohl auf die ganze Vergangenheit beziehen, die preiszugeben ist für die Zukunft. Die Wiedergeburt heißt: alles Bis­

herige sei nur ein Mit^l, um die Art kennen zu lernen, um deren Ver­ nichtung es sich handelt.

Es heißt „uns unsere Schulden", nicht „mir meine Schulden", also nicht nur sollen wir nicht richten über fremde Schulden, sondern Verzeihung für sie erbitten. Zu den „uns" gehören auch die Schul-

digen, von denen in der zweiten Hälfte der Bitte die Rede ist. In dem „vergib uns unsere Schulden" liegt schon „mein ist die

Schuld" als Gegensatz zu „dein ist das Reich", in dem von der katholischen Kirche für unecht gehaltenen Schluß des Gebetes (f. oben

S. 170). Also von Menschen sollen wir nicht Schuldenvergebung er­ warten, verlangen, wünschen.

Sondern unsere Schulden kann nur

Gott vergeben. („Gericht Gottes! Dir hab ich mich übergeben!")

Unser Verhältnis zu Schulden anderer bestimmt die zweite Hälfte der Bitte.

♦ b) 2D i e auch tvir vergeben unseren Schuldigern

Augustin in seinen Bekenntnissen (IX, 13), wo er bittet, daß Gott der verstorbenen Mutter die Sünden vergibt, führt zur Begründung

an: „Ich weiß, daß sie Barmherzigkeit geübt und von Herzm ihren Schuldigern die Schuld vergeben hat." Währmd die drei ersten Bitten einen Vorsatz ausdrücken, für den göttllcher Beistand ongerufen wird, mkhält bas „wie auch wir ver-

geben unseren Schuldigem" eine unbedingte, nicht von göttlichem Bei­

stand abhängige Zusage, — die einzige des Vaterunsers.

„Unfern Schuldigem" heißt nicht wirklichen Schuldigem, Men­

schen, die eine Schuld gegm uns hätten, wie wir gegen Gott. Sondem: vermeintlichen Schuldigem — aus allen Zeiten allen, die uns ärgern — andere haben wir nicht. Der Mensch ist m'cht imstande als Richter zu richten, er richtet als Angeklagter, der andere ihn be-

schuldigmde Angeklagte beschuldigt. Diesen vermeintlichen Schuldi­

gem zu vergeben, ist das einzige ausdrückliche Versprechen des Vatemusers. Auch der Schuldiger ist ein Geschöpf Gottes. Wenn sie

einen Raubvogel auf sein Opfer herabstoßen sehen, werdm viele das als ein herrliches Schauspiel bewundern, die einen Menschen, der ihnen die mindeste Unannehmlichkeit bereitet, in Grund und Boden ver-

dammm. Wir müssen uns fragen, to« wir bestehen würden, wenn wir, die Gott forkwährmd durch Sünden verletzen, von Gott in der­

selben Weise beurteilt würdm, wie wir biejenigen Menschen beurteilen, die uns fortwährmd verletzen. Wie kommen wir dazu, mehr Gnade

zu erwarten, als wir selbst gewillt sind zu besitzen?

Das Christentum, die Religion der Gnade, wird nur in diesem einen Punkt ungnädig. Nachdem der Apostel am Schluß von Römer i,

von denen sprechend, die unnatürliche Laster haben, als Letztes ihre Unbarmherzigkeit aufgeführt hat, sagt er im Brief an die Römer 2, 1 geradezu: „Wer richtet, wird nicht entschuldigt."

Im selben Vers

behauptet Paulus: „Das, was du an anderen richtest, tust du selbst." So daß also die an anderen vermeintlich bemerkten Sünden nichts

anderes wären, als eine Hinausverlegung der eigenen, so wie das, was

dem Menschenfeind am Alpenkönig mißfällt, m'chts anderes ist als

er selbst. Das, was wir hier über das unseren Schuldigem Vergeben sagen, ist alles schwach gegen das Wort des Apostels: „Das, was

du richtest, tust du selbst." Unsere Auffassung, daß die einzige Verpflichtung, die ausdrücklich

ausgesprochm ist, in den Worten liegt „wie auch wir vergeben unse­ rm Schuldigem", und daß in ihnen der Schwerpunkt des Gebets liegt, wird dadurch unterstützt, daß Jesus nach dem Vatemnser (Matth.

>4"

183

6, i4) unmittelbar fortfährt: „Denn wenn ihr den Menschen ihr« Sünden vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch euere Sün­ den vergeben", und daß das nächste Kapitel anfängt: „Richtet nicht,

damit ihr nicht gerichtet werdet", also diesen verwandten Gedanken weikrführt. (Ebenso Lukas 6, 3?: „Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden; verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammet wer­ den; vergebt, so wird euch vergeben werden.")

Hierher gehört auch Matthäus 18, 21, too Petrus fragt: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt? Sieben Mal?" und ihm geantoorftf wird: „Nicht sieben Mal, son­ dern siebenzig sieben Mal." Am Schluß dieses Kapitels steht die

Erzählung vom nicht vergebenden Schuldiger.

Zu den vielen Stellen, an denen uns verboten wird zu richten, tritt das merkwürdige Wort Jesu (Johannes 8, 15): „Ihr richtet

nach dem Fleisch, ich aber richte Niemanden."

Lukas i2, 54 f. sagt Christus: „Wenn ihr eine Wolke aus der

Abendgegend aufsteigen seht, so sagt ihr sogleich: Es kommt Regen!

und es trifft so ein; und wenn ihr den Südwind merkt, sagt ihr: Es wird heiß werden! und es trifft zu."

Das heißt: Ihr kennt die Meteorologie. Lukas 12, 57 geht es weiter: „Warum beurteilt ihr nicht auch

von euch selbst, was recht ist?"

Das heißt: Ihr kennt nicht die Ethik. Und dann wird dem Sinne nach gesagt: Ihr sollt auch nicht die Moral kennen.

Denn es heißt weiter in Vers 58: „Du aber, wenn du mit deinem Widersacher zur Obrigkeit gehst, so gib dir auf dem Wege

Mühe, von ihm loozukommen, damit er dich nicht etwa vor den

Richter ziehe." Ahnllch Matthäus 5, 25. So geht es einem, wenn man seine Schuldiger richten will statt sich selbst. Daß man andere nicht richtet, ist die Voraussetzung des Sichselbstrichtens*). J) Thoma» a Kempi«, Nachfolge Christi, II. Buch, 5. Kap.: „Du wirst nie

«In innerlicher und andächtiger Mensch, wenn du nicht von anderen schweigst." Franz von Assisi über die Angeber: „Solche Menschen suchen gut zu scheinen.

Die Methode des Christentums ist wie die der Mathematik die Methode der Konsequenz. Wenn es berechtigt wäre, daß ich in einem

einzigen Fall einen Bruchteil einer Sekunde einem Schuldiger nicht vergebe, so ist die ganze Bitte falsch.

Alles wird von Gott gefordert und nur eines versprochen: wie auch wir vergeben unsern Schuldiger». Also, wer bas verspricht, nnd

nur er, darf das schönste Gebet denken. ♦ c)DiefünfteBittealsGanzes

Das Besondere der fünften Bitte ist eine Verbindung von Gött­ lichem und Menschlichem, wie sie in dieser Art in keiner Religion be­ kannt ist. Wir fassen das „wie auch wir vergeben" als ein Versprechen

auf; dem Wortlaut nach könnte man es auch so auffassen, als ob wir ein Vorbild für Gott wären. So tritt nach Gregor von Nhssa der

Mensch, wenn er diese Bedingung erfüllt, an Gott mit dem Anspruch heran: nun solle Gott seine guten Handlungen nachahmen (Dibeliuo, Das Vaterunser, S. 69 f.).

Jedenfalls wird in der ersten Hälfte

Gott aufgefordert, seinen Schuldiger» zu vergeben, in der zweiten der Mensch. Der Zauber der fünften Bitte liegt in der Göttlichkeit, die dem Menschen zugeschrieben wird, wenn er Erbarmen hat.

Die fünfte Bitte ist der geistige Mittelpunkt des Christentums.

Man scheint zu meinen, das Christentum sei die Religion der Schulnicht es zu werden, sie klagen die Laster an, legen sie aber selber nicht ab..., sie

richten alles, wollen aber von niemand gerichtet werden" (Thomas de Celano, Zweite Lebensbeschreibung, 139).

Es ist ein Grundgedanke aller Orden, die Strenge der

Ordensgebote nur bei sich und nicht bei den Laien anzuwenden. Don den Schwach­ heiten eines Edelmannes, den sie als Heiligen bezeichnet, sagt die hl. Theresa v. I.:

„Für mich zwar in meinem Stande wären diese Dinge die größten Fehler ge­

wesen; für ihn aber in seinem Stande waren sie weder Fehler noch Unvollkom­ menheiten" (Leben, von chr selbst beschrieben, 23. Hauptstück).

Und die hl. Kate-

rina von Siena sagt: „Um zur Reinheit des Geistes zu kommen, ist vor allem nötig, sich vor jedem Urteil über den Nächsten zu hüten." Ebenso die Mystiker:

„Tue große Werke und übe dich in allen guten Tugenden. Gott wird dir großen Lohn geben, sofern du dich hütest vor Urteil über deinen Nächsten und du dich auch

nicht selbst für besser hältst als einen andern.

Denn tätest du dies, so weiß ich

wahrlich nicht, ob dir jemals ein Lohn zuteil werde" (Tauler).

185

denvergebrmg nur in dem Sinne, daß uns die Schulden vergeben

werden: hier ist gesagt, daß es auch in dem Sinne die Religion der Schuldenvergebung ist, daß wir vergeben müssen, und es ist ferner

gesagt, daß das eine vom anderen, das Vergebenbekommen und das Selbstvergeben, nicht zu trennen ist. Der gleiche Zusammenhang wird

ausgesprochen in „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barm­ herzigkeit erlangen" (Matth. 5, 7)1) und noch deutlicher 5, 44 und

45, wo von uns erwartet wird, Familienähnlichkeit mit unsrem Vater zu zeigm, der die

Sonne über Guten und Schlechten aufgehen

läßt. Die fünfte Bitte ist ein Bekenntnis zur Wiedergeburt. Alles

Bisherige soll ausgelöfchk, ein neues Leben begonnen werden. „Denn in Christo Jesu gilt weder Beschneidung etwas, noch Vorhaut, sondern

eine neue Schöpfung" (Paulus an die Galater, 6, 15). ♦





Die sechste Bitte

Um in dem neuen Leben erhalten zu werden, das mit der vorigen Bitte begonnen hat, bitten wir „führe uns nicht in Versuchung". Zu

bitten „vergib uns unsere Schulden", ist nicht möglich, wenn man

gleichzeitig neue Schulden vorbereitet, weshalb unmittelbar anfchließk: „Führe uns nicht in Versuchung." Die Bitte schließt das Versprechen in sich, sich selbst nicht in Ver­

suchung zu führen, andere nicht in Versuchung zu führen, und auch nicht zu wünschen, von anderen in Versuchung geführt zu werden; während der natürliche Mensch wünscht, in Versuchung geführt zu

werden. Daß wir uns selbst nicht in Versuchung führen dürfen, er­ gibt sich aus dem Vorsatz der zweiten und dritten Bitte, sich in das Reich Gottes zu begeben und an seiner Herbeiführung zu arbeiten.

Ferner schließt die Bitte in sich, daß wir niemals unserer Kraft vertrauen sollen.

Es ist die Bitte wider den Übermut.

Die obm

*) Wer dieses Wort nur auf die Menschen und nicht auch auf die Tiere

anwenden will, sollte statt dessen lieber sagen: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu."

(S- 179 f.) angeführte Stelle von Thomas a Kempis brachte uns auf

den Zusammenhang der sechsten Bitte mit der Bitte ums Brot. Diese

sagt: gib «ns, was wir zur Notdurft brauchen, damit wir uns dem innern Leben widmen können. Unsere sagt: gib uns nicht mehr, als wir

zur Notdurft brauchen, da wir sonst wiederum abgelenkt würden vom innern Leben.

Die siebente Bitte Auch im griechischen Urtext ist „Schulden" in der fünften Bitte

Mehrzahl, „Übel" in der siebenten Bitte Einzahl. Das „Übel" ver­ hält sich zu den „Schulden" so wie das „Reich" in der zweiten Bitte zu dem „Willen" in der dritten: So wie der „Willen" die einzelne

göttllche Handlung, das „Reich" die ganze göttliche Welt ist, so sind

die „Schulden" die einzelnen teuflischen Handlungen, das „Übel" die ganze teuflische Welt. Nicht die körperlichen Übel sind gemeint, diese sind mitbefaßt in

der vierten Sitte1). Sondern das Verstricktsein in die Welt. Wenn wir von dem befreit sind, gibt es kein Übel.

„Sondern erlöse uns von dem Übel" heißt also: löse uns von der Welt. Das Festwurzeln in der Welt ist verboten, ja schon die Be­ schäftigung mit der Welt. Von all dem sollen wir uns lösen und be­

denken „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte wer­ den nicht vergehen" (Lukas 21, 33).

Nach unserer Auffassung bezieht sich also die Bitte um Schulden­ vergebung auf die einzelnen Sünden, die Bitte um Erlösung vom

Übel auf die Sünde überhaupt, so daß der Schluß des Gebets an den Anfang zurückführt, in Name, Reich und Wille Gottes. Die letzte Bitte wäre eine Wiederholung der beiden vorhergehen­

den, wenn das Übel dasselbe bedeutete wie die Schulden und nicht all­

gemein: Erbsünde. *) Thomas

von

Aquin

(Expositio XXXV)

weist

darauf hin,

daß

auch

nicht die Trübsale gemeint sind; denn diese werden uns zu unsrem Vesten gesendet.

Zusammengefaßt heißen die drei letzten Bitten:

Vergib uns

unsre alten Schulden

Führe uns nicht

in neue Schulden

Erlöse uns

von der Erbsünde.

Worüber nichts gesagt ist

So umfassend das Gebet ifl1), nichts enthält es über das Ver­

hältnis zu Unverständnis und Haß der Umwelt. Es bittet nicht um

Macht gegen die Feinde. Nur das „wie auch wir vergeben unseren Schuldigem", kann auf di« Feinde mitbezogen werden. Das Gebet, gelehrt in einer Zeit, in der die Gläubigen ein armes kleines Häuflein

inmitten eines mächtigm Reiches und eines fanatisierten Volkes waren,

vorgesprochm von dem, der wußte, daß er durch dieses Voll den Mar­

tertod erleiden wird, könnte in einer wohlgesinnten Umwelt nicht anders laute»« als in dieser bösgesinnten. Voll Demut gegen Gott, nimmt es gegen die Well die siegreichste und königlichste Stellung ein: es vergißt sie.

Worauf es ankommt ie Tragik des deutschen Volles besteht darin, daß es sie nicht

empfindet. Seit vielm Iahrhundertm hat jede Umwälzung in Europa —

mit Ausnahme der Rückgewinnung von Elsaß-Lochringen im Jahre 1870 — mit einer Verengung des dmtfchen Lebensraums gemdet.

Wesmtlich an dem, was wir selbst miterleben, ist nicht die Abliefe-

rung von Waffen, die Niederhaltung der Wirtschaft, die Abhängig­

keit der Politik; so schinerzlich dies alles ist, es kann vorübergehend sein, weserrtlich und für alle Zukunft entscheidend ist die Erhaltung l) Augustinus in seiner Gebetsanweisung für die Witwe Proba sagt, es sei uns erlaubt, mit andern Worten, aber nicht erlaubt, um andere Dinge zu

bitten als um die in dem Vaterunser enthaltenen.

(Expositio XXVI) sagt, daß das Vaterunser alles und was zu fliehen ist.

Ähnlich Thomas, wenn er enthält,

was zu wünschen

ober der Rückgang der deutschen Sprache in den Grenzländern, der Sprache, an der letzten Endes auch die Kultur hängt.

Wir sind noch mitten im Krieg, und jede deutsche Schule, die im Osten aufgehoben wird, ist eine verlorene Schlacht.

Man kann es vielleicht als einen wirklichen Fortschritt bezeichnen, daß durch die Entwicklung der Waffen, insbesondere der Luftwaffen, die Grenzen ihre strategische Bedeutung in großem Umfang eingebüßt

haben. Früher waren die Grenzländer immer in Gefahr, unter solchen

Gesichtspunkt» betrachtet zu werden, und sogar Bismarck hat das ua-

glückliche Wort von den Reichslanden als „Glacis" gesprochen. Jetzt wird vielleicht sogar in Deutschland klarer werden, was entscheidet: die Stärke des nationalen Willens, wobei es gleichgültig ist, mit wel­

chen Mitteln sich dieser Wille durchsetzt.

Das, was in diesem Heft geschildert wird, ist Krieg, Krieg ohne Waffen, und nur Völker, die diesen unblutigen Krieg ebenso ernst

nehmen wie den blutigen, werden bestehen. Die Gefahr für Deutsch­ land ist es, daß hier das Alltägliche in Sitte und Kultur, in Wirt­ schaft und Polltik, kurz alles Geistige, national weniger ernst genommen

wird. In demAugenbllck, in dem in Deutschland ein Krieg ausbricht, ver­

langt man das Äußerste von der Vaterlandsliebe. Im Frieden nichts.

Mit einiger Übertreibung hätte man in der Vorkriegszeit in Deutschland sagen können: Die deutsch Eingestellten sind nicht kulturell

eingestellt, und die kulturell Eingestellten nicht deutsch. Ala im Jahre 1910 Pfitzner in Straßburg zum 100. Geburtstag von Robert Schu­ mann ein Musikfest veranstaltete, gab am Abend des Hauptkonzerts der deutsche Statthalter eine Einladung, zu der die Spitzen der Be­

hörden und des Milltärs zu erscheinen hatten. In Prag spielte um

die Jahrhundertwende Angelo Neumann die deutschen Klassiker vor halb leeren Häusern.

Gleichzeitig waren die Aufführungen in der

tschechischen Oper ebenso gefüllt, wie in Straßburg alle französisch Gesinnten herbeiströmken, wenn eine französische Truppe im Stabt-

cheater spielte. Ein reichsländischer Industrieller war noch mitten im Krieg außerordentllch überrascht, als einer unserer Freunde ihn fragte,

ob er eine Bibllothek für seine Arbeiter habe; diesem Mann war 189

offenbar der Gedanke überhaupt noch nicht gekommen, daß es von einiger bevöllerungspoliüscher Bedeutung sei, ob in den Reichslanden

die Arbeit durch einen einheimischen deutschgebildeken Arbeiterstand oder durch Polen geleistet wird. Die Bedeutung dieser Faktoren wurde unterschätzt. Ja, der In­

ternationalismus, der uns gepredigt wird, hat zum Inhalt das Ge­

bot, den ausländischen Kulturmaßstab an Deutschland, und das Ver­ bot, den deutschen Kulturmaßstab an die fremden Länder anzulegen.

Einen allgemeinen Kulturmaßstab gibt es aber nicht. Die Bestechlich­

keit der Presse in den Ländern der westlichen Zivilisation (England ausgenommen), die oberflächliche Auffassung der Kunst in den gleichen Ländern, die unmenschliche Behandlung der Tiere bei den Romanen

und im Orient von Deutschland aus überwinden zu sollen, würden unsere Internationalisten für schlechte Politik halten.

Deutschland,

der Ausgangspunkt so vieler geistiger Bewegungen, soll aller seeli­

schen Einfuhr offenstehen und die seelische Ausfuhr verbieten. Und das Schönste ist, daß dann den Deutschen von geistig hochstehenden Aus­ ländern der Vorwurf gemacht wird, sie hätten ihre Kultur für sich, während die Franzosen ihre Zivilisation in die ganze Welt getragen

hätten. So zeigt sich der Mangel an Nationalgefühl auf geistigem und sittlichem Gebiet ebenso wie auf politischem, und auf allen mit

dem gleichen Ergebnis: Verlust an deutschen Werten.

Ein tröstlicher Gedanke ist es aber, daß das Gefühl von der deutschen

Tragik bei diesem Zusammenbruch stärker ist, als bei irgendeinem früheren. Gewiß sehen wir das Eindringen der westlichen Zivilisation in

Kinos, Iazzbanden, gefärbten Frauen nnd anderen gemütlosen Ver­

gnügungen. Aber eine andere Schicht der Bevölkerung drängt zu Bach und Betthoven und Wagner. Wenn man durch die Straßen geht, hört man Schubertsche Lieder und gute Kammermusik ebmso

wie früher, nein mehr als früher. In der Jugendbewegung von den Kommunisten bis zu den Völkischen sehen wir ein Streben nach Rein­

heit der Lebensführung wie nie zuvor. Und der großbeutsche Gedanke, den z. B. in Bayern vor ioo Jahren fast nur der Kronprinz Ludwig

vertrat, ist gerade hier jetzt das Gemeingut von Hunderttausenden ohne

igo

Unterschied der Partei. In den kleinen Städten und auf dem Lande,

dem Jungbrunnen des Volkes, sitzen an Winterabenden Tausende und Tausende, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß, über guten Bü­ chern. Dieses Volk ist nicht alt.

Auch in den deutschen Großstädten — nur leider nicht in Wien

— sehen wir ein Fortschreiten der volkstümlichen Kunstorganisation.

Und m'cht nach einzelnen Hochgebildeten, sondern nach der Menge, ja

vor allem nach der untersten Schicht ist die Bildung eines Volkes zu bemessen.

Volkstümliche Kunstpflege in unserem Sinn gibt es

z. B. in England und Amerika überhaupt nicht. Theater und Kon­

zerte, die die Werke großer Kunst vermitteln, sind dort nur in den paar allergrößten Städten zu finden, und das so selten und zu solchen

Preisen, daß nur eine kleine Schicht davon etwas hat. Auf wissen­

schaftlichem Gebiet fehlen in amerikanischen Städten, die so groß sind wie unsere Großstädte, alle jene Fachvereine, die man bei uns bis in die kleinsten Orte hinein findet. Die Unterdrückung deutscher Schu­

len, wie sie für manche Gebiete des Ostens in diesem Heft und auch

in Südtirol festzustellen ist, müßte auf die Dauer aus dem gebildetsten

Volk Analphabeten machen; eine Bevölkerung, die schreiben und lesen nur in einer fremden Sprache, nicht in der Muttersprache erlernt, wird praktisch zu Analphabeten. So sehen wir diese Männer, Frauen und Kinder, toenn sie vielfach auch das Wort Kultur nicht kennen,

den Krieg, dessen unschuldige Opfer sie sind, auf dem Gebiet fortsetzen,

auf dem er entschieden wird; während die von Kultur redenden Groß­

städter ihre Mitbürger mit ausländischer Unterhaltung überschütten. Möge»» jene abgetrennten Gebiete wirtschaftlich und politisch auf die Unterstützung des Deutschen Reiches angewiesen sein, in dem, worauf

es ankommt, sind sie unser Vorbild.

Beethovens hundertster Todestag veranlaßte uns die alten Konversationslexika nachzuschlagen, die in

unserer Bücherei stehen. So ein Lexikon gibt ja ein Bild von dem, was zur Zeit seines Erscheinens als allgemein anerkannt Wahrheit

galt. Der Brockhaus von 1819. Im ersten Satz wird der Gerüchte Erwähnung getan, daß Beechoven ein natürlicher Sohn Friedrich Wilhelms II. von Preußen sei. Seine Instrumentalmusik wird am

höchsten und in die Nähe Mozarts gestellt, mit der Einschränkung, „daß er sich vom Fluge seiner Phantasie bisweilen verleiten läßt, seine Zuhörer in unverständllche Regionen zu führen". Von der Vokal­

musik heißt es: „Auch für die Singmusik hat er geschrieben; doch scheint diese, und namentllch die Oper, nicht den Erwartungen ent­

sprochen zu haben, die man davon hatte". Die Ausgabe des Brock­ haus aus dem Jahre 1822 übernimmt unverändert den Artikel (eine halbe Seite Oktav, gegen 3 Seiten über Kotzebue) von 1819, also

auch den gerüchtweisen Fehltritt von Beethovens Mutter mit Fried­

rich Wilhelm II. und die gleichfalls gerüchtweise Enttäuschung über Fidello. Eine neue Folge des Lexikons, die in vier Halbbänden in den

Jahren

1822—1826 erschien, mit Nachträgen zur vorhergehenden

großen Ausgabe, enthält über Beethoven nichts. Interessant ist, daß der Ruhm Kotzeluchs, des Nachfolgers Mozarts und Konkurrenten

Beethovens in seiner ersten Wiener Zeit, zu verblassen beginnt, nach­ dem Kotzeluch 1814 gestorben war. Er hat in dem Lexikon von 1819

neun Zeilen weniger als Beechoven und ist nur noch „einer unserer geschätzten Tonkünstler", während Beechoven bereits „einer der genial­

sten Tonkünstler unserer Zeit" ist. 1819 schon wird Kotzeluch geradezu „Tiefe der Kunst, eigentllche geniale Erfindung und kräftige Fülle" abgesprochen.

Manchen aber, die zum hundertstm Todestag Beet­

hovens Günstigeres über Beechoven geschrieben und gesprochen haben,

möchte man znrufen: „Wehe euch, denn ihr bauet die Gräber der Pro­ pheten, eure Väter aber haben sie getötet."

Zum 26. Jahrgang 's Unbekannte Tatsachen werden am ehesten geglaubt, wenn sie mit A4- einer falschen Theorie verbunden sind. Die siebziger und achtziger Jahre nahmen den Darwim'smus, der den Vorteil der falschen Theorie

hatte, in Deutschland auf, während sie sich ablehnend verhielten gegen

den ohne solche Deckung auftretenden Hypnotismus, der ja schon viel früher als Mesmerismus bekannt gewesen war. Ein bekannter Ge­

lehrter soll damals gesagt haben: Ich werde diese Dinge nicht glauben,

bevor ich sie nicht gesehen habe, und ich werde sie nicht sehen, weil ich

mir solche Sachen grundsätzlich nicht anschaue.

Erst etwa zwanzig

Jahre später erfolgte die Eindeutschung dieser Erscheinungen durch Fremdworte. Man streift seinen Kinderglauben leichter ab als seinen Universitätsglauben.

Erst recht abgelehnt wurde damals bei uns die vielfach mit den

hypnotischen Erscheinungen in Verbindung stehende unmittelbare Ge­

dankenübertragung. Sensible Menschen scheinen zu allen Zeiten und in allen Völkern ein Gefühl für ihnen irgendwie verbundene andere Menschen auch in die Ferne und auch in die Zukunft gehabt zu haben.

Nicht im Kopf, sondern im Leib tritt ein merkwürdiges Brennen auf,

das man vielfach mit dem Sonnengeflecht in Verbindung gebracht

hat.

In der christlichen und in der indischen Religionsgeschichte ist

wohl kein religiös Erleuchteter bekannt, der die Gabe des gefühlsmä­ ßigen Erfassens von anderen Seelen ohne normale Mitteilung nicht

gehabt hätte. Das Gleiche kann man von der Kunstgeschichte sogen.

Die physikalische Erklärung solcher Erscheinungen krankt u. a. daran,

daß das, was übertragen wird, nur in selteneren Fällen optische, aku­

stische oder sonstige sinnliche Eindrücke sind, in den meisten ein Gefühl besonderer Art, auch nicht im Objekt liegen kann, weil es die Einstel­ lung des Snbjekts zu einem ihm unbekannten Vorgang gefühlsmäßig ausdrückt.

Das eine Mal ist das, was wahrgenommen wird, ein

Erlebnis der innerlich verbundenen Person, das andere Mal diese Per­ son selbst. Was die Telepathie, falls sie nicht ein physikalisches Phä­

nomen ist, und das Hell- und Fernsehen weltanschaulich so wichtig macht, ist die Beziehung zur Unsterbllchkeit. Wenn Raum und Zeit bei ihnen keine Rolle spielt, so sind sie immateriell oder unsere Vor­

stellung von Materie ist unvollständig. Unser einmal im Grab ver­ wesender Körper erscheint nicht mehr unauflöslich mit unserem inneren

Leben verbunden.

Weitergehend hatten sich einige Forscher, die sich auf andern Ge-

bieten Weltruf erworben hatten, in den siebziger und achtziger Jahren mit dem eigentlichen Spiritismus befaßt. In England Crookes und

Wallace, in Deutschland Zöllner und in wesenllich geringerem Um­

fang der alte Fechner und Wilhelm Weber. Diese Beschäftigung wurde bei uns bis Ende der achtziger Jahre als eine Marotte sonst bedeu­

tender Männer betrachtet. Jeder, der sich auch nur mit den Grenz­

gebieten befaßte — Forscher, wie Moll und Dessoir, die jetzt zu den größten Zweiflern gezählt werden — war wissenschaftlich verdächtig.

Einen Wendepunkt in der Einstellung der deutschen wissenschaft-

llchen Welt bedeutete i8go das Erscheinen der großen Psychologie des Amerikaners William James. James, der in Deutschland am

höchsten geschätzte ausländische Psycholog, behandelte Hypnotismus und Telepathie als feststehende Tatsachen und hatte die grandiose Un­

befangenheit, von den Erscheinungen der in den folgmden Blättern oft

erwähnten Mrs. Piper, denen er selbst angewohnk hatte, zu sagen, die spiritistische Erklärung scheine hier im ganzen naheliegend.

Es

waren vor James ausländische Arbeiten zu uns gekommen, die der Person ihrer Verfasser wegen ernst genommen wurden. Vor allem

aus England die Phantasms of the Living, deren Herausgeber Gurney, Myers, Podmore als ernste Forscher anerkannt waren.

Aus

Frankreich brachte die Revue de l'Hypnoüsme Fälle von Spaltung der Persönllchkeit, die mit dem bisherigen wissenschaftlichen Weltbild nicht übereinstinnnten.

Es zeigte sich hier der Tatsachen-Sinn der Angelsachsen. Ihnen

war die Fülle des Geschehens die Hauptsache, auch wenn eo nur un­ gefähr erfaßt wurde, während in Deutschland das leidenschaftliche

Streben dahin ging, seellsche und seelisch-körperliche Erscheinungen,

und seien es die scheinbar unbedeutendsten, mit der gleichen Exaktheit zu erfassen wie die körperllchen. Am anderen Ende standen bei uns

festgefügte, unerschütterllche Theorien, die durch die Laboratoriums­ arbeit wenig berührt wurden. Während die Angelsachsen sich mehr zwischen den beiden Extremen bewegten, nicht so exakt im Kleinen, nicht

so unbewegllch im Großen. Sie suchten von den Experimenten aus

ihre Weltanschauung zu gestalten, die der Deutsche zu chnen fertig mitbrachte. So kam James zu der Auffassung vom Welkwissen, die

sich übrigens mit der von Thomas von Aquin bekämpften Lehre des Arabers Averroes von einem dem Menschengeschlecht gemeinsamen universellen Verstand berührt. Allerdings hat die Behandlung dieses Gebiets besondere metho­ dische Schwierigkeiten, die in den nachfolgenden Aufsätzen mehrfach zur

Sprache kommen. So wie viele Arzte Krankheiten in der eigenen

Familie nicht gerne selbst behandeln, sind überhaupt Angelegenheiten, in die man selbst verflochten ist, im allgemeinen wenig geeignet zur

wissenschaftllchen Behandlung. Auf sie ist man aber in der Psycho­

logie sehr angewiesen, und in einem besonderen Sinn trifft das auch auf bas ganze telepathische Gebiet zu: Die berichteten Tatsachen dieses

und der angrenzenden Gebiete berühren überwiegend das intime Leben,

z. T. die tiefsten Erschütterungen eines ganzen Menschenlebens, also

diejenigen, die der Künstler darstellt, der Erkennende aber am wenigsten geeignet und geneigt ist, wissenschaftllch zu behandeln. Wir sind un­ befangen genug, um Lichtenbergs Bemerkung (in dem Brief an F. F.

Wolff vom 20. Oktober 1783), daß man von solchen Dingen desto mehr abgekommen sei, je mehr sich die Zeiten aufklären, als richtig anzuerkennen. Nur bilden wir uns ein, noch unbefangener als er zu sein, wenn wir für mögllch halten, daß solche Dinge sich auch weniger ereignen, je mehr sich die Zeiten aufklären und daß in einem einzigen

Kloster des Mittelalters sich vielleicht mehr davon ereignet hat als in allen Börsen, Fabriken, volkswirtschaftlichen Seminaren und Zeitungsredaktionen des industriellen Zeitalters. Es ist verständllch, daß bei dem systematischen Trieb des Deut-

schen durch die Entdeckung der unsichtbaren Strahlen die Einstellung

zu dm sogenannten okkulten Dingm sich änderte. Für viele ist ja die

Voraussetzung zur Anerkennung von behauptetm Tatsachm die, daß

sie glaubm, die Erklärung in der Tasche zu habm. Zudem läuft eine größere Leichtigkeit in der Anerkennung von Neuem der politischen Entwicklung parallel. So schwer früher eine

zur bisherigm Vorstellung von Wissenschaft nicht passende Behaup-

fung ausgenommen wurde, so leicht jetzt. Die früher auf Tradition

gegründeten deutschen Universitäten, die dazu neigten, jeden als un­

wissenschaftlich abzulehnen, der in der Medizin zu Wasser und Vege­ tarismus, in der Politik zum Sozialismus, in der Literatur und Kunst zur Moderne, in der Biologie zum Vitalismus, in der Psychologie zum Unbewußten sich bekannte, haben ihre Art in großem Umfang geändert. Nun schlägt der Pendel der Geschichte wieder einmal nach

der entgegengesetzten Seite aus. Man ist rückständig, wenn man weiß, wie viel Ehrfurcht vor der Natur in jener übertriebenen Zurückhaltung

gegenüber allem Neuen steckte. Eine gute Gelegenheit für die S. M., sich wie stets zwischen zwei

Stühle zu setzen, die zu Beginn des 25. Jahrgangs nicht versäumt werden bürste, indem wir Anhänger und Gegner zu Wort kommen

lassen. Es ist in Deutschland üblich, die Leser als Kinder zu behan­

deln, denen man nichts vorlegen darf, was sie zu Zweifeln an der Allloissenheit ihrer redaktionellen Eltern führen könnte. Wir haben sie, ohne unsere eigene Überzeugung zu verbergen, als Erwachsene be­

handelt, denen man vorlegt, was Sachkenner, welcher Richtung auch immer sie sein mögen, zu sagen haben. Es gibt neben den vielen, die lesen, um bestätigt zu bekommen, was sie schon vorher gewußt haben,

doch auch viele, die lesen, um über das Gelesene nachzudenken. Ihnen

gilt zum Beginn des 25. Jahrgangs unser Gruß.

Kurt Baschwitz