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German Pages [340] Year 2006
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Sonja Rothärmel / Ines Dippold / Katja Wiethoff / Gabriele Wolfslast / Jörg M. Fegert
Patientenaufklärung, Informationsbedürfnis und Informationspraxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Partizipationsrechten minderjähriger Patienten unter besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Mit 34 Abbildungen und 97 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-45316-7 ISBN 13: 978-3-525-45316-2
© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Inhalt
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Einleitung: Untersuchungsziel und interdisziplinärer Forschungsansatz . . . 13 1. Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation ____________________ 17 1.1 Kinderrechte in ihrer historischen Entwicklung . . . . . . . . . . . 1.1.1 Kinderrechte als Kindesschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Zur Bedeutung des Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention . 1.1.3 Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . 1.1.4 Partizipation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmung und handlungsorientierte Beschreibung von »Partizipation« aus psychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6 Schlussfolgerungen für eine Verwendung des Partizipationsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.2 Ausblick auf die wichtigsten rechtlichen Schlussfolgerungen 1.2.1 Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . 1.2.2 Partizipationsrechte – Vetorecht . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Informationsrecht und Aufklärungsfähigkeit . . . . . .
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2. Die Messlatte: Patientenrechte des Erwachsenen ___________________ 35 2.1 Primat des Willens des Patienten – das Recht zur »unvernünftigen« Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1.1 Seit über 100 Jahren anerkannt: Wille des Patienten geht vor! . . . 35 2.1.2 Bestätigung durch den Bundesgerichtshof: BGHSt 11, 111 . . . . . 35 2.2 Der Aufklärungsanspruch des Patienten: Vom Willensanspruch des Patienten zur informed consent-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Einwilligungsaufklärung in der Geschichte der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Umfang und Standard der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Bestätigung der Körperverletzungsdoktrin durch das Bundesverfassungsgericht – BVerfGE 52, 131 . . . . . . . . . . . 2.2.4 Rechtsfolgen mangelhafter Aufklärung vor einer Heilbehandlung
. 36 . 36 . 37 . 38 38
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2.3 Der Anspruch auf Wahrung der Patienteninformationen gegenüber Dritten – die ärztliche Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata ________________________________________ 41 3.1 Die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht . . . . . . . . . 41 3.1.1 Die Krux der Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die Einwilligungsfähigkeit in der Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Zur Grundsatzentscheidung – BGHZ 29, 33 . . . . . 3.1.2.2 Weiterentwicklung der zivilrechtlichen Rechtsprechung 3.1.2.3 Entwicklung der Rechtsprechung im Strafrecht . . . 3.1.2.4 Die Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.5 Bewertung der Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2 Die Einwilligungsfähigkeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung . . 46 3.2.1 Forschung am Menschen als Motivationsfaktor . . . . . . . . 3.2.2 Rechtswissenschaftliche Forschung zur Einwilligungsfähigkeit und Praxis der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Grundannahmen zur Einwilligungsfähigkeit, die unstreitig sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Amelungs Definition der Einwilligungsfähigkeit . . . .
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4. Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft __________________________________________ 51 4.1. Modell 1: Schwere und Dringlichkeit des Eingriffs als normative Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.2 Modell 2: Formulierung typisierbarer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . 52 4.2.1 Gesetzlich vertypte Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Weitere typische Konfliktlagen, die als Teilmündigkeiten de lege ferenda diskutiert werden . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Kastration und Sterilisation . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Verordnung von Kontrazeptiva . . . . . . . . . . 4.2.2.4 HIV-Test und ähnliche Konfliktlagen . . . . . . . 4.2.2.5 Drogenberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.3 Prinzip der ärztlichen Fürsorge als Rechtfertigungsgrund für einen Heileingriff am Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.3.1 Die Vorüberlegungen Geilens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.3.2 Der Vorschlag des Juristinnenbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.4 Modell der gesetzlich festgelegten Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . 58 4.4.1 Feste Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Altersstufen als Unter- und Obergrenze 4.4.2.1 Die Überlegungen von Seizinger 4.4.2.2 Die Überlegungen von Neyen . . 4.4.2.3 Die Überlegungen von Taupitz .
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4.5 Das Lebensalter als bloße Richtlinie für die ärztliche wie für die richterliche Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4.6 Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind . . . 63 4.6.1 Alternatives Handeln von Eltern oder Kind . . . . . . . . . . 4.6.2 Das kumulative Einwilligungserfordernis . . . . . . . . . . . . 4.6.2.1 Der Vorschlag Jägers und Kochs . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.2 Die Lösung Eberbachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.3 Entsprechende Vorschläge im jüngeren zivilrechtlichen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.4 Der Vorschlag von Lüderitz . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.5 Der Vorschlag von Spickhoff und Wölk . . . . . . . .
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4.7 Verfahrensorientierte Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5. Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge _____________________________________ 69 5.1 Stand der Rechtstatsachenforschung in Deutschland zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.2 Rechtstatsachenforschung zur Einwilligungsfähigkeit in den USA 5.2.1 Vergleichbarkeit der US-amerikanischen informed consent-Doktrin mit der deutschen Einwilligungsdogmatik 5.2.2 Stand der psychologischen und psychiatrischen Forschung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Schlussfolgerungen für die Einwilligungsfähigkeit . . . . . .
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5.3 Die Bedeutung normativer Kriterien für die Einwilligungsbefugnis . . . 75 5.3.1 Die elterliche Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.3.2 Einwilligungsbefugnis und Rechtssicherheitsinteressen – zum Vorschlag fester Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
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5.3.2.1 Zur Senkung des betreuungsrechtlichen Richtervorbehaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Zur Unvereinbarkeit einer festen Altersgrenze mit der kognitiven Entwicklung Jugendlicher . . . . . . . . 5.3.2.3 Zur Unvereinbarkeit einer festen Altersgrenze mit der Vielgestaltigkeit der Regelungsmaterie . . . . . . . . 5.3.3 Rückgriff auf das Prinzip der ärztlichen Fürsorge . . . . . . . . 5.3.3.1 Für den Heileingriff generell . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Für Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Einwilligungsfähigkeit und Schwere des Eingriffs . . . . . . . . 5.3.4.1 Die Diskussion einer »relativen« Einwilligungsfähigkeit in Zusammenhang mit fremdnütziger Forschung . . . . 5.3.4.2 Die »relative Einwilligungsfähigkeit« im Hinblick auf die Heilbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Folgerungen: Eigene Konzeption der Entscheidungszuständigkeit 5.4.1 Gesetzliche Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger und ihrer Voraussetzungen (Definitionsvorschlag) . 5.4.2 Zuständigkeit für die Feststellung dieser Kriterien . . . . . . 5.4.3 Standard der Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Das Feststellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Gerichtliche Überprüfung der ärztlichen Entscheidung . . . 5.4.6 Kriterien der stellvertretenden Einwilligung . . . . . . . . . 5.4.7 Vom Vetorecht zum Anhörungsrecht . . . . . . . . . . . . .
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6. Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen___________________________________ 91 6.1 Bedürfnis nach Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6.2 Krankheitsspezifisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.3 Wirksamkeit von Aufklärung und Information . . . . . . . 6.3.1 Information und Abbruchrate . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Information und Angstabbau . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Informationen und krankheitsbewältigendes Handeln
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6.4 Exkurs Krankheitskonzeptforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.4.1 Kognitiv-strukturalistische Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . 100 6.4.2 Inhaltlich-wissensorientierte Forschungsansätze . . . . . . . . . . . 102 6.5 Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation . . . . . . . . . . 104 6.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 6.5.2 Findet Beteiligung an Behandlungsentscheidungen statt? . . . . . . 105
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6.5.3 Wollen Patienten an Entscheidungen beteiligt werden? Zu den Partizipationsbedürfnissen im medizinischen Kontext . . . . . 108 6.5.4 Zu den Auswirkungen von Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6.5.5 Die Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit als Erklärungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7. Ableitung der Fragestellung für die empirische Untersuchung ________ 123 8. Untersuchungsplanung und Durchführung_______________________ 125 8.1 Erhebungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 8.2 Erhebungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 9. Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu Partizipationsbedürfnissen minderjähriger Patienten __________________________ 129 9.1 Allgemeine Stichprobenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 9.1.1 Diagnoseverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 9.1.2 Therapievorerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 9.2 Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente . . . . . . . . . . . 135 9.2.1 Fragebogen zum Erleben der Aufnahme . . 9.2.1.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen 9.2.1.2 Faktorenanalyse . . . . . . . . . . . 9.2.2 Fragebogen zum Erleben der Behandlung . 9.2.2.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen 9.2.2.2 Faktorenanalyse Zweitfragebogen . . 9.2.3 Motivationsfragebogen I . . . . . . . . . . . 9.2.3.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen 9.2.3.2 Faktorenanalyse . . . . . . . . . . . 9.2.4 Motivationsfragebogen II . . . . . . . . . .
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. 135 . 135 . 139 . 144 . 144 . 146 . 151 . 151 . 154 . 155
9.3 Deskriptive Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 9.3.1 Patienteninformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1.1 Vorbereitung auf den stationären Aufenthalt . . . . . . 9.3.1.2 Informationspraxis in der Klinik (Aufnahmezeitpunkt) . 9.3.1.3 Informationsbedürfnisse minderjähriger Patienten . . 9.3.1.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf das Informationsbedürfnis . . . 9.3.1.5 Informationspraxis während der stationären Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.3.2
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9.3.1.6 Informationsbedürfnisse 4 Wochen nach Behandlungsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kenntnisse zu Beginn der Behandlung . . . . . . . . . . . . . 9.3.2.1 Informationen über die Kinder- und Jugendpsychiatrie . 9.3.2.2 Informationen über die Behandlung . . . . . . . . . . 9.3.2.3 Kenntnisse über den Aufnahmegrund . . . . . . . . . 9.3.2.4 Wissen über kinderpsychiatrische Krankheitsbilder . . 9.3.2.5 Berufsgruppen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . 9.3.2.6 Bildung des Wissensindex . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2.7 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf den Kenntnisstand . . . . . . . Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3.1 Partizipation bei der Aufnahmeentscheidung . . . . . 9.3.3.2 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf Partizipation . . . . . . . . . . . 9.3.3.3 Partizipationsbedürfnisse zum Zeitpunkt der Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf das Partizipationsbedürfnis . . . 9.3.3.5 Partizipation während der Behandlung . . . . . . . . . 9.3.3.6 Partizipationsbedürfnisse während der Behandlung . . Emotionale Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4.1 Emotionale Belastung durch die Aufnahmeentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4.2 Patienten-Vorschläge zur Reduktion von Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme . . . . . . . . . 9.3.4.3 Befürchteter Schaden durch die stationäre Behandlung . 9.3.4.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf die Skala Emotionale Belastung der Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4.5 Emotionale Belastung während der Behandlung . . . . Stigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.6.1 Wissen über eigene Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.6.2 Aufklärung über Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.6.3 Wünsche hinsichtlich eigener Rechte . . . . . . . . . .
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. 195 . 195 . 198 . 202
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. 212 . 212 . 218 . 221 . 221 . 223 . 224
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9.3.6.4 Einschränkungen von Rechten während der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 9.4 Zusammenhanganalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 9.4.1 Auswirkungen des Aufnahmeerlebens auf Behandlungsmotivation und Erleben der stationären Behandlung sowie auf Behandlungsbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 9.4.2 Auswirkungen des Erlebens der stationären Behandlung auf Motivation und Behandlungsbewertung . . . . . . . . . . . . . . . 241 10. Zusammenfassung und Diskussion der empirischen Ergebnisse ________________________________________________ 247 10.1 Untersuchungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.2 Fragebogenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10.3 Diskussion der inhaltlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Informationspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Informationsbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Kenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Patientenbeteiligung und Patientenerleben . . . . . . . . . . 10.3.5 Partizipationsbedürfnisse kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.6 Das emotionale Erleben der Aufnahme und der Behandlung . 10.3.7 Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 11. Bedeutung der empirischen Daten zu Informations- und Partizipationsbedürfnissen für das Recht und die klinische Praxis_____ 265 11.1 Begründung des Informationsanspruchs: Doppelter Aufklärungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 11.2 Rechtsnatur und Notwendigkeit einer Implementierung des doppelten Aufklärungsanspruches ins Recht . . . . . . . . . . . . . . . 267 11.2.1 Tatsächliche Bedingungen für einen Informationsanspruch: Die Daten zu Informationsbedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . 267 11.2.2 Bedingungen für die Implementierung von Partizipationsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 11.3 Vor- und Nachteile von Partizipationsrechten . . . . . . . . . . . . . . . 267 11.4 Die besondere Bedeutung von Partizipationsrechten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
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11.5 Veränderungen in der Praxis der kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Anhang ______________________________________________________ 279 A. Gesetzestexte – deutsches Recht und völkerrechtliche Abkommen . . . . 279 B. Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 C. Verzeichnis der juristischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 D. Verzeichnis der medizinischen, empirischen und psychologischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 E. Mitglieder des Projektbeirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Die Autoren___________________________________________________ 338
Einleitung: Untersuchungsziel und interdisziplinärer Forschungsansatz
Einleitung: Untersuchungsziel und interdisziplinärer Forschungsansatz
Einleitung: Untersuchungsziel und interdisziplinärer Forschungsansatz
Im Zentrum aller medizin- und bioethischen Diskussionen steht das Anliegen, Würde und Persönlichkeit des Patienten zu schützen. Das Persönlichkeitsrecht des Patienten wird uns von Verfassung wegen garantiert und ist im Arztrecht dadurch verwirklicht, dass es der Wille des Patienten als Ausdruck seines subjektiven Erlebens von Krankheit und Gesundheit ist, der den ärztlichen Heilauftrag bestimmt und nicht ärztliche Perspektive. Seit wir davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche nicht nur der staatlichen Schutzpflicht unterliegen sondern auch Anspruch auf Respekt Ihrer Grundrechte auf persönliche Freiheit und Würde haben, sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, Kindern und Jugendlichen diese Rechte in allen »das Kind berührenden Angelegenheiten« (Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention), d. h. auch vor allem im Rahmen eines ärztlichen Heileingriffs wirksam mit den Mitteln des einfachen Rechtes zu garantieren. Nachdem sich die bisherigen Versuche der Rechtswissenschaft, die Persönlichkeitsrechte des minderjährigen Patienten zu stärken, wegen ihrer Konzentration auf die Einwilligungsfähigkeit und das informed-consent-Paradigma als wenig fruchtbar erwiesen haben, wurde für das Projekt »Informationsbedürfnisse und Informationsrechte minderjähriger Patienten« ein interdisziplinärer, empirischer Forschungsansatz gewählt. Ziel unseres interdisziplinären Projektes war es, Ansätze zu entwickeln, die das Recht auf Respekt der Patientenpersönlichkeit auch demjenigen Patienten garantieren, der seine Autonomie nicht durch Selbstbestimmung ausdrücken kann, weil er hierzu mangels Reife oder aufgrund psychischer Störung noch nicht in der Lage ist. Dazu galt es zunächst zu untersuchen, wie – wenn nicht durch die eigenverantwortliche Entscheidung über die ärztliche Behandlung – Minderjährige den Respekt ihrer Persönlichkeit erfahren und umgekehrt, wo und durch wen sie tatsächlich eine Verletzung ihrer Person erleben. Weil es zu diesen Fragen bisher keine empirischen Untersuchungen gegeben hat, wurde in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken der Universität Rostock und Weißenau durch Prof. Dr. J. M. Fegert und seine Mitarbeiterinnen eine erste Untersuchungen hierzu durchgeführt. Das Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie versprach deshalb viel Aufschluss über unsere Fragestellung weil theoretische Vorarbeiten Anlass zu der These gaben, dass Grundrechtseingriffe und Freiheitsbeschränkungen während einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung besonders häufig vorkommen und wir zum anderen vermuten mussten, dass kin-
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der- und jugendpsychiatrische Patienten noch seltener als in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin für selbstbestimmungsfähig gehalten werden, was wir auf das durch die psychische Beeinträchtigung erhöhte Risiko mangelnder Kompetenz einerseits und die erhöhte Dringlichkeit medizinischer Intervention bei psychiatrischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter andererseits zurückgeführt haben. Eine weitere These, die sich im Laufe der Vorstudien bald bestätigen sollte, bestand darin, dass Partizipation in Form von Teilhabe und Information jedenfalls eine wichtige Rolle spielt für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher Behandlungszufriedenheit und Respekt seiner Würde im stationären Alltag erfährt. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist daher das Erleben der stationären Aufnahme und Behandlung in zwei Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Patientenbeteiligung und Informationspraxis. Weil hierzu Studien weder im nationalen noch im internationalen Raum vorliegen hat die Studie einen explorativen Charakter, so dass ein ganz wesentlicher Schwerpunkt des Projekts in der Entwicklung eines geeigneten Erhebungsdesigns und vor allem in der Entwicklung geeigneter Erhebungsinstrumente lag. Im Einzelnen ging es um 1. die Entwicklung eines Instruments zur Erhebung des subjektiven Erlebens der stationären Aufnahme. Erfasst wurden folgende inhaltliche Aspekte: Erleben von Partizipation an der Aufnahmeentscheidung, Informationspraxis sowie Kenntnisstand bei Behandlungsbeginn, Partizipationsbedürfnisse und, emotionale Belastung durch die Aufnahme sowie Stigmatisierungsängste zum Aufnahmezeitpunkt. 2. die Entwicklung eines Instruments zur Erhebung derselben Parameter während der Behandlung 3. Erfassung der Korrelation mit verschiedentlichen Faktoren wie etwa Motivation vor und während der Behandlung, Unterschieden zwischen zwei verschiedenen Kliniken in Deutschland und soziodemografischer, störungsbezogener und regionaler Faktoren und 4. deren Beschreibung. Nach der Analyse der zwischen Februar 2000 und März 2002 an zwei kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken in West- und Ostdeutschland erhobenen Daten konnten wir Aussagen darüber machen, woran sich Respekt der Persönlichkeit des minderjährigen Patienten manifestiert und in welchen Formen dies geschehen kann bzw. muss. Neben Mängeln im Aufklärungsverhalten der Eltern vor einer Einweisung in die Klinik und Mängeln im Aufklärungsverhalten der Therapeuten nach der Aufnahme konnten wir die Bedürfnisse der Patienten unterschiedlicher Altersgruppen und mit unterschiedlichen Störungen beschreiben. Dabei zeichnete sich unter anderem deutlich ab, dass die Aufklärung über die
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Teile der Behandlung weder zu Beginn noch während der Behandlung die Regel war und Zweck und Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen nicht zufrieden stellend vermittelt wurden, während ein großes generelles passives Informationsbedürfnis bei Patienten aller Altersgruppen bestand. Die Frage »Sollten Kinder und Jugendliche über ihr Problem und die Behandlung informiert werden?« bejahten 90 % der Patienten, während bei der tatsächlichen Aufklärung nicht Krankheit und Ziel der Behandlung, sondern die Stationsregeln im Vordergrund standen und sich auf deskriptiver Ebene Zusammenhänge zwischen Diagnose und Partizipation der Patienten bei Behandlungsentscheidungen zeigten. Hervorzuheben ist neben dem Hinweis der Untersuchung auf deutliche Mängel im wahrgenommener Partizipation von Kindern und Jugendlichen auch, dass auch bei Kontrolle von Drittvariablen die wahrgenommene respektvolle Behandlung die Beurteilung des Behandlungserfolgs aus Patientensicht signifikant vorhersagt. Die Partizipationsbedürfnisse, so lässt sich sehr stark vergröbernd zusammenfassen, übersteigen die erlebten Möglichkeiten. Aufbauend auf den umfangreichen und vielfältigen Aussagen der rechtstatsächlichen Untersuchungen wurde im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Fragestellung unter der Teil-Projektleitung von Prof. Dr. jur. G. Wolfslast das bestehende System von Patientenrechten Minderjähriger kritisch untersucht und ein Entwurf rechtlicher Instrumente erarbeitet, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben einerseits wie den rechtstatsächlichen Gegebenheiten andererseits Rechnung tragen und auch nicht einwilligungsfähigen Kindern- und Jugendlichen Rechtsansprüche zum Schutz ihrer Persönlichkeit garantieren. Als eine der wichtigsten Botschaften ist dabei die Forderung nach einer Implementierung eigenständiger Informations- und Mitspracheansprüche des minderjährigen Patienten in den Vordergrund getreten. Die dogmatische Fundierung dieser Ansprüche und die Implementierung dieser Ansprüche ist ein wesentlicher Schwerpunkt des rechtswissenschaftlichen Untersuchungsteils. Da die vorliegende Untersuchung weitgehendes Neuland betreten hat, wäre sie ohne eine mehrjährige Förderung der notwendigen Recherchen und der empirischen Erhebungen sowie der wissenschaftlichen Ausarbeitung nicht zustande gekommen. Der Volkswagenstiftung, die dieses Projekt in ihrem Schwerpunkt Recht und Verhalten wie auch diese Buchveröffentlichung gefördert hat, sind deshalb alle Autorinnen und der Autor zu großem Dank verpflichtet. Namentlich Herr Prof. Dr. Hagen Hof hat dieses Projekt stets mit großer Aufmerksamkeit und immer unterstützend begleitet. Ihm danken wir ganz besonders, denn dieses Projekt hat nicht nur inhaltliches Neuland betreten, sondern auch jungen Wissenschaftlerinnen, mit insgesamt drei mit summa cum laude bewerteten Promotionen, einen wichtigen Schritt der akademischen Entwicklung ermöglicht. Den Beiratsmitgliedern, welche das Projekt wissenschaftlich unterstützen sei ebenfalls an dieser Stelle gedankt (vgl. Anhang S. 337, Liste der Beiratsmitglieder). Ein letz-
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ter, besonders herzlicher Dank gilt den Kindern und Jugendlichen, aber auch ihren Angehörigen und den Betreuungspersonen, die diese Studie durch ihre aktive Mitwirkung und durch die notwendigen Einwilligungen erst ermöglicht haben.
Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
1.
Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
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Kinderrechte in ihrer historischen Entwicklung
Kinderrechte in ihrer historischen Entwicklung
1.1.1 Kinderrechte als Kindesschutz Die Vorstellung, dass Kinder Menschen mit eigenen Rechten und mit Kompetenzen sind, ist relativ jung. Sie hängt zusammen mit der Vorstellung von Kindheit, die in ihrer historischen Entwicklung starkem Wandel unterlag. Der Begriff und das Bewusstsein von Kindheit als besondere abgegrenzte Phase im Leben sind erst während der letzten zwei Jahrhunderte entstanden. So gab es im Mittelalter keine Abgrenzung zwischen Kindern und Erwachsenen. »Sobald ein Kind sich alleine fortbewegen und verständlich machen konnte, lebte es mit den Erwachsenen in einem informellen natürlichen ›Lehrlingsverhältnis‹, ob dies nun Weltkenntnis oder Religion, Sprache oder Sitte, Sexualität oder ein Handwerk betraf. Kinder trugen die gleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichen Arbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenen und hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche« (von Henting, 1975, S. 10).
Kinder waren ausgestattet mit Rechten, die sich charakterisieren lassen als: »falling somewhere between those of slaves and those of animals« (Flekkoy, 1997, S. 15). Die, wie es Blandow (1999) nennt, »Befreiung von Kindern aus diesen sie überfordernden, sie in ihrer Entwicklung hemmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen« (S. 32) vollzog sich erst im Verlauf des 18. Jahrhundert, in dem sich der Umgang mit dem Kind grundsätzlich änderte. Das Kind wurde, beginnend in den oberen Schichten, nicht mehr als Miniaturerwachsener behandelt, Kindheit wurde allmählich als eine Phase des Lernens, Explorierens und Spielens definiert. Damit wurde die Vorstellung vom Kind als »unschuldig, verderblich, des Schutzes und der Erziehung bedürftig« (von Henting, 1975, S. 10) geboren. Die mit diesem Perspektivenwandel verbundene Schaffung erster Gesetzesgrundlagen für Kinder, brachte eine fortschreitende Verbesserung für die Situation von Kindern mit sich. »The nineteenth century was to become the period when legislation concerning children was introduced in many countries, very often in connection with child labour and education, but also in acknowledging a public responsibility toward orphans and other destitute children« (Flekkoy, 1997, S. 19). Basis dieser neuen Sichtweise auf das Kind waren u. a. wirtschaftliche Veränderungen, aber
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auch das sich ausbreitende medizinische, pädagogische und psychologische Wissen über die Bedeutung von Kindheit für das ganze Leben. Maßgeblich war Rousseau (1762), mit seiner Auffassung vom Kind als von Natur aus gut, jedoch verletzlich durch schädliche Einflüsse der Gesellschaft, sowie John Lock (1632– 1704), der ein Bild vom Kind als tabula rasa zeichnete, weder gut noch schlecht, sondern formbar durch Erfahrung. Der zentrale Einfluss der Umwelt auf die Sozialisation des Kindes wurde zum Thema gemacht und damit verbunden die Gefährdung des Kindes durch Immigration, Verstädterung, Industrialisierung und Kinderarbeit. Diese das Kind gefährdenden Bedingungen wurden als eine mögliche Ursache kindlicher Fehlentwicklung und Verwahrlosung gesehen, was in seiner Konsequenz letztlich eine Bedrohung der Gesellschaft bedeutete. Entlang dieses Paradigmas, welches das Kind als essenzielle menschliche Ressource und Determinante der Zukunft verstand (vgl. Hart, 1991), entstanden die ersten Schutzvorschriften für Kinder. Kinderarbeit wurde verboten und die Schulpflicht wurde eingeführt. Dieser Prozess der etwa 1870 begann und in den verschiedenen Industrieländern erst in den 1930er Jahren abgeschlossen war, hat die kulturelle Bedeutung der Kindheit erheblich verändert. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte diese paternalistische, die Notwendigkeit des Schutzes von Kindern allgemein betonende Einstellung dem Kind gegenüber, wobei eine zunehmende Fokussierung auf verletzliche, schwache Gruppen im Sinne einer karitativen Fürsorge für das Wohl des Kindes zu beobachten war (vgl. Rosenheim, 1973). Die Frage von Kinderrechten war anfangs also beschränkt auf den Kinderschutz, Bedürfnissen des Kindes sowie Kinderrechten wurde stellvertretend durch Erwachsene (Eltern, Staat) eine Stimme gegeben. Kinder galten als Objekt staatlicher Fürsorge, Politik wurde dementsprechend für Kinder gemacht. Der Schutzgedanke bildet auch den Hintergrund für diverse neuere Ansätze in der Kinderpolitik, so die Forderung nach anwaltschaftlicher Vertretung von Kinderinteressen über Kinderanwälte, nach Lobbyarbeit für Kinder durch Kinderbüros oder Ombudsmänner und -frauen (vgl. Blandow, 1999). Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich mit den Schlagwörtern Individualisierung der Lebenslagen, Pluralisierung der Lebensformen sowie allgemeine Demokratieentwicklung umschreiben lässt sowie angesichts der bereits bestehenden faktischen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an vielen Lebensbereichen (vgl. Kriener & Petersen, 1999), vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Abkehr von dieser kategorisch auf Schutz und Fürsorge bedachten Sichtweise. Kritisch reflektiert wurde damit, dass Schutzbestimmungen immer auch eine Gefahr der Benachteiligung des einzelnen Individuums in sich tragen, Kinder gerade angesichts ihrer wachsenden Fähigkeiten entmündigen, indem sie ihnen Rechte vorenthalten und sie einem unter Umständen repressiven Regime unterwerfen. Vor diesem Hinter-
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grund wurde die Notwendigkeit, Kinder gerade in ihrer existenziellen Personenwürde zu stärken, betont. In dieser Haltung drückt sich ein Verständnis von Kindern als eigenständige Gruppe von Subjekten, als im Verhältnis zu Erwachsenen grundsätzlich gleichberechtigten und gleichwertigen Menschen, kurz als »individuals in their own right« (vgl. Borsche, 2001) aus. Damit wurde Kindheit als soziales Phänomen, als Wert für sich etabliert (vgl. Qvortrup, 1993). »Moving beyond a charitable orientation to recognize and treat children as citizens is an essential step that replaces paternalistic (and maternalistic) attitudes with deeper, ethical notion of the child as deserving the respect afforded citizens of democracy« (Carlson, 2001, S. 831). Diese vergleichsweise späte »Emanzipation von Kindheit« bzw. späte Entdeckung des Kindes als individuelle Persönlichkeit wurde im rechtlichen Bereich mit der UN Kinderrechtskonvention durch einen Ausbau bzw. eine Erweiterung der Rechte der Kinder nachvollzogen (vgl. Zittelman, 2000). Die im Übereinkommen enthaltenen Artikel können in drei große Gruppen eingeteilt werden: »die drei Ps – protection, provision und participation bzw. in der deutschen Übersetzung: Schutz, Bereitstellung von Ressourcen und Partizipation« (Wintersberger, 1993, zitiert nach Lehwald & Madlmayr, 1998, S. 312). Mit den Artikeln zur Partizipation trat, neben die weiterhin als zentral geltende Notwendigkeit von Schutz und Fürsorge, der Gedanke, den wachsenden Fähigkeiten und dem wachsenden Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln Rechnung zu tragen.
1.1.2 Zur Bedeutung des Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention Dass Kinder ein Recht auf Mitbestimmung haben, ist in Artikel 12 der Konvention festgelegt, dem Grundsatz von fundamentaler Bedeutung für eine Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte des Kindes. Rothärmel (1999) bezeichnet Artikel 12 als »bisherigen Höhepunkt einer weltweit zunehmenden Anerkennung des Kindes als Person« (S. 36), Flekkoy (1997) nennt ihn »the heart of the participatory provisions of the convention« (S. 32). Mit Artikel 12 wird das Recht des Kindes, in Entscheidungsprozesse einbezogen zu werden postuliert, womit der Sichtweise des Kindes in allen förmlichen Entscheidungen, die das Kind berühren, eine zentrale Bedeutung eingeräumt wird. Im Wortlaut heißt es: »1. Die Vertragspartner sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigt die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. 2. Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren entweder unmit-
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telbar oder durch einen Vertreter oder geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden« Art. 12, so Salgo (1999), »räumt dem Kind zwar nicht das Recht der Selbstbestimmung ein, vielmehr postuliert es das Recht des Kindes, in Entscheidungsprozesse einbezogen zu werden« (S. 179). Womit der Sichtweise des Kindes als aktives handelndes Subjekt, als Träger eigener subjektiver Rechte innerhalb der Gesellschaft Ausdruck verliehen wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll, wie in nachfolgenden Kapiteln noch genauer aufgezeigt wird, Artikel 12 der Konvention insbesondere im Zusammenhang mit dem Recht des Kindes auf Informationsfreiheit gesehen werden. Dies betrifft Art. 13.1 der Konvention, in dem es heißt: »Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ungeachtet der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.« Sowie auch Art. 17, der Zugang zu Informationsmedien, »(. . .) insbesondere denjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben«, reklamiert. Die Bereitstellung von Informationen ist eine notwendige Voraussetzung für Partizipation, denn erst Informationen versetzen Kinder überhaupt in den Stand, sich eine freie Meinung zu bilden und diese schließlich zu äußern. Sowie auch »eine freie Entscheidung (ist) nur dann eine freie Entscheidung ist, wenn sie auf einer genügenden Informationsbasis getroffen werden kann« (vgl. Salgo, 1999, S. 181). Die UN-Kinderrechtskonvention hat »der Kindschaftsrechtsreform von 1998 starke Impulse gegeben, daneben aber auch in anderen Rechtsgebieten etwa dem Strafrecht oder dem Verwaltungsverfahren, eine rege Debatte über die Möglichkeit der Implementierung von Kinderinteressen (. . .) ausgelöst« (Rothärmel, 1999, S. 2). Es mangelt also nicht an Rechtsgrundlagen, die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in einer Vielzahl von materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Normen im Jugendhilfe- und Familienrecht sowie im jeweils relevanten Verfahrensrecht festschreiben. »Die altersadäquate Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist somit verfassungsrechtlich zwingend vorgegeben« (S. 37), wie es bei Salgo (2001) heißt. Angesichts dieses deutlichen Zuwachses an Kinderrechten in einer Vielzahl von Gesetzen stellt sich die Frage, ob diese in den Gesetzbüchern erfolgte Stärkung der Rechte der Kinder und Jugendlichen tatsächlich ihre Lebenssituation nennenswert verbessert hat.
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1.1.3 Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe Der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe enthält, wie wahrscheinlich kein anderer, »das Kind berührender Bereich«, umfangreiche Rechtsregelungen, die den Subjektstatus des Kindes in den Vordergrund rücken und auf diese Weise dem bereits beschriebenen rechtlichen und sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsel zum Durchbruch verhelfen sollen. Partizipation wird zum einen als Strukturmaxime im lebensweltorientierten Jugendhilfe-Konzept definiert (vgl. BMJFFG, 1990), zum anderen gilt Partizipation als zentrales Merkmal der dienstleistungsorientierten Jugendhilfe (vgl. Petersen, 1996, Kriener & Petersen, 1999). Theoretischer Anspruch und gelebte Praxis von Beteiligung soll im folgenden in Bezug auf den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe beispielhaft kontrastiert werden. Im KJHG wird Partizipation durch § 8 Abs. 1 besondere Priorität beigemessen, denn danach sind »Kinder und Jugendliche entsprechend ihres Entwicklungsstandes, an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen«. Kinder und Jugendliche besitzen zwar keinen Leistungsanspruch, sind jedoch gemäß § 36 KJHG an der Hilfeplanung und am Hilfeprozess zu beteiligen, wobei zentrale Regelungen über die Mitwirkung von Kindern, Jugendlichen und Personensorgeberechtigten bei der Aushandlung der Hilfe zur Erziehung explizit festgeschrieben werden. So fordert der Gesetzgeber, dass » . . . in Entscheidungen auch Einsichten, Deutungen und Definitionen von Problemen und Bedarfslagen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen und seiner Eltern gleichwertig einfließen. Notwendig ist zudem eine Verständigung darüber, was sich die Familienmitglieder von einer psychologisch-beraterischen Hilfe oder einer Unterstützungsleistung erwarten und erhoffen, was sie an Eingriff und Kontrolle befürchten« (Lenz 2001, S. 26). Im starken Kontrast zu diesem hohen Stellenwert, dem Partizipation durch die gesetzliche Verankerung im Bereich der Jugendhilfe eingeräumt wird, zeigen sich in Evaluationen und Praxisberichten hinsichtlich der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen jedoch erhebliche Implementationsdefizite. Salgo sieht sogar deutliche Tendenzen, die Verfahrensrechte Minderjähriger in der Kinder- und Jugendhilfe in gravierendem Ausmaß zu missachten (vgl. Salgo, 2001). Tatsächlich lässt sich aus den wenigen bislang vorliegenden Untersuchungsergebnisse zur Klienten-Beteiligung an der Hilfeplanung der Schluss ziehen, dass die Umsetzung von Beteiligungsrechten in der Praxis der Jugendhilfe hinter den gesetzlichen Vorgaben weit zurückbleibt. So konnte Sander (1996) anhand der von ihr analysierten 81 Hilfeplänen eines städtischen Jugendamtes zeigen, dass lediglich 28,4 % der unmittelbar von der vereinbarten Maßnahme betroffenen Kinder und Jugendlichen an der Hilfeplanung mitgewirkt haben. Weiterhin wurden nur 10 % der in den Hilfeplänen dokumentierten Aussagen von Kindern getroffen, womit die Wahrnehmungen, Wünsche
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und Vorstellungen von Minderjährigen nur in Einzelfällen Berücksichtigung finden. Über einen ähnlich hohen Anteil der Nicht-Beteiligung sowie mangelnden Wahrnehmung der Vorstellungen und Befürchtungen von Betroffenen berichten auch Becker (1999), Trauernicht & Finke (1994) sowie Merchel (1998). Empirische Untersuchungen, die die Subjektsicht betroffener Kinder und Jugendlicher bezüglich Beteiligung an Hilfeplanung und -prozess in den Mittelpunkt der Evaluation stellen bzw. diese zumindest mit einbeziehen, sind uns im deutschsprachigen Raum bis auf wenige Ausnahmen nicht bekannt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang Peterson (1996), die im Rahmen einer Befragung von 360 Jugendlichen im Kontext Erziehungshilfe bzw. Jugendgerichtshilfe zu folgenden Ergebnissen kommt: lediglich ein Viertel der Jugendlichen schätzte die zur Verfügung gestellten Partizipationschancen als hoch ein, während 42 % gar keine bzw. nur geringfügig vorhandene Mitwirkungsmöglichkeiten erlebten. Die Jugendlichen räumten einer Beteiligung an Entscheidungsprozessen jedoch einen hohen Stellenwert ein. Weiterhin berichten die Autoren über eine positive Beziehung zwischen dem subjektiv erlebten Beteiligungsgrad und der Zufriedenheit mit jugendamtlichem Handeln sowie auch zwischen Beteiligung und Erfolg der erhaltenen Jugendhilfe. Lenz (2001) hat in einer qualitativen Untersuchung 100 Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren über ihre Erfahrungen in der Erziehungsund Familienberatung befragt. Zum einen konnte er zeigen, dass auch junge Kinder eigene differenzierte Einschätzungen, Sichtweisen und Bewertungen über Verlauf, Arbeitsweise und Ergebnis der Beratung äußern können. Zum anderen waren immerhin 65 % der befragten Kinder an den Aushandlungs- und Definitionsprozessen nicht ausreichend beteiligt, dementsprechend wichen ihre Problemdefinitionen und -beschreibungen von denjenigen der Beraterinnen deutlich ab. Lenz (2001) resümiert: »Analysiert man die Aussagen der Kinder genauer über alle Themenbereiche hinweg, so fällt auf, dass sich die negativen Bewertungen in ihrem Kern immer auf eine Unzufriedenheit mit dem Grad der Partizipation am Geschehen zurückführen lassen und umgekehrt die positiven Bewertungen eng mit der Teilhabe und den aktiven Gestaltungsmöglichkeiten im beraterisch – therapeutischen Geschehen zusammenhängen« (S. 128). In einer englischsprachigen Untersuchung von Buchanan (1997) bewertete die Mehrzahl der Minderjährigen ihre Beteiligung an Hilfekonferenzen als »verlorene Zeit« sowie als Überforderung. Ganz ähnlich wie Thoburn et al. (1995) ein geringes Verständnis auf Seiten der Kinder und ihrer Eltern hinsichtlich der konkreten Inhalte der Hilfekonferenz feststellen konnte. Ebenso wie die betroffenen Familien angaben, nur selten das Gefühl gehabt zu haben, ernst genommen zu werden. Diese subjektiven Bewertungen des Hilfeprozesses weisen bereits auf Probleme, Hindernisse und Hürden in Bezug auf die Umsetzung von Betroffenenbeteiligung in der Jugendhilfe hin. Sie stellen aber auch in der allgemeinen Diskussion um Partizipation grundsätzliche Bedenken und Überlegungen dar, die hier kurz
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aufgezeigt und an anderer Stelle vertieft werden sollen (vgl. Blandow, 1999; Salgo, 1999, 2001). Als Kritikpunkte angeführt werden in der Praxis häufig anzutreffende Unkenntnisse über Beteiligungsrechte bzw. gesetzliche Partizipationsverpflichtungen sowohl auf Seiten des Klientels als auch der Mitarbeiter sowie mangelnde zeitliche Ressourcen und finanzielle Restriktionen innerhalb des Systems der Jugendhilfe. Erschwert wird die Umsetzung von Betroffenenbeteiligung darüber hinaus durch fehlende kindgemäße praxisnahe Partizipationsformen und -methoden sowie insgesamt mangelnde Kompetenzen auf Seiten der Fachkräfte, Kinder zu beteiligen. Verwiesen wird vielerorts auch auf die Hilflosigkeit betroffener Kinder und Jugendlichen und deren damit verbundene Überforderung durch Partizipation. Meist hätten die Minderjährigen selbst keinen Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen, so dass die Aufforderung, sich selbst als Träger eigener Rechte einzubringen, der Aufforderung gleichkommen würde, sich »am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen« (Blandow, 1999, S. 36). Weitere Argumente beziehen sich auf das deutliche Machtgefälle zwischen Personal und Betroffenen, so z. B. auf die geringe Beschwerdemacht des Klientels. Letztlich unterliege die Möglichkeit der Partizipation vor allem der Steuerung durch die einzelne Fachkraft und könne nur dann funktionieren, wenn sie von Mitarbeitern der Jugendhilfe getragen werde.
1.1.4 Partizipation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Die Auseinandersetzung mit Partizipation in Abgrenzung zu Autonomie macht gerade in dem von uns gewählten Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie unserer Meinung nach Sinn, da die Einwilligungsfähigkeit neben den bereits beschriebenen grundsätzlich diskutierten Einschränkungen aufgrund des Alters durch die Psychopathologie weiter reduziert sein kann (vgl. Ford, 2001). Vor dem Hintergrund traumatisierender Erlebnisse und von Vernachlässigung ist damit zu rechnen, dass Lernerfahrungen blockiert wurden, es »Fehlentwicklungen« im Bereich des moralischen Bewusstseins gibt und auch emotionale und soziale Kompetenzen eingeschränkt sind. Koocher (1983) spricht in diesem Zusammenhang von »doubly incompetent« (S. 119). Mit dem Verweis auf Magersüchtige, denen eine vollständige Krankheitseinsicht regelmäßig abgesprochen wird, oder auf akut psychotische Patienten, aber auch bei der Behandlung von Kindern mit oppositionellen Störungen wird die Frage des Selbstbestimmungsrechts zumeist und oft mit Recht von vornherein kategorisch verneint (vgl. Batten, 1996). Aber auch oder gerade in solchen Fällen, in denen eine Behandlung gegen den Willen der Patienten aufgenommen und damit das Recht auf Autonomie eingeschränkt wird, dürfen andere Rechte, wie das Recht auf Information,
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durch die Struktur des Arztrechts mit der Vorherrschaft der Informierten Zustimmung nicht verwehrt werden. »The best interest of the child and the child’s evolving capacities are always the guidelines for choice. This means that the child may not be allowed to make decisions, but it does not mean that he or she loses the right to voice opinion – or the right to be informed about the reasons for a different decision« (Flekkoy, 1997).
Zudem hat gerade die Kinder- und Jugendpsychiatrie sehr häufig mit dysfunktionalen Eltern-Kind-Beziehungen zu tun, wo die Interessen des Kindes und seiner Eltern konfligieren oder wo beispielsweise die Pathologie des Kindes von den Kommunikations- und Interaktionsstrukturen in der Familie mit bedingt sind (»das Kind als Sündenbock«) (Fegert, 2000/Partitur; Reiter-Theil et al., 1993; Batten, 1996). Persönliche Interessen der Eltern, ihre emotionale Verfassung, medizinische oder psychologische Unkenntnis können dazu führen, dass die Entscheidung der Erziehungsberechtigten – im Sinne einer stellvertretenden Einwilligung – ohne eine Berücksichtigung kindlicher Meinungen nicht »im besten Interesse des Kindes« ausfällt. Die der Aufnahmesituation innewohnende Emotionalität, Gefühle der Hilflosigkeit und des Versagens auf Seiten der Eltern sowie die Einstellung »doctor knows best«, können, so Brewer & Faitak (1989), auch die Fähigkeit der Eltern zu einer Informierten Zustimmung reduzieren. Medizinische Erwägungen der behandelnden Ärzte sowie die Fürsorgepflicht des Staates können die Entscheidung »im besten Interesse des Kindes« zusätzlich verkomplizieren. Da der Kontakt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zumeist durch die Eltern initiiert wird, besteht zusätzlich die Gefahr, dass die Behandelnden von den minderjährigen Patienten als Verbündete oder zumindest als Auftragnehmer der Eltern wahrgenommen werden, falls eine offene und umfassende Aufklärung und der Respekt vor der kindlichen Sicht ausbleibt. Brewer & Faitak (1989) fordern in diesem Zusammenhang einen »informed forced consent«, der eine kontinuierliche Information über die stationäre Aufnahme, die Behandlung und deren Ziele sowie über Entscheidungen umfasst. Über die Teilnahme an der Behandlung können Minderjährige damit nicht entscheiden, aber ». . . it does give the child an opportunity to be more than a passive, unknowing recipient of services« (S. 143). Abschließend sei darauf hingewiesen, dass mit dem Fortschreiten der medizinischen Entwicklung der Aspekt der Lebensqualität mehr und mehr in den Vordergrund rückt. ». . . there are fewer ›right answers‹ for parents regarding what is the best course of action for their children’s health« (McCabe, 1996, S. 505), so dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Kindern und Eltern immer mehr an Bedeutung gewinnen muss (Goldbeck et al., 2004). Zum Wohle von Kindern und Jugendlichen wie auch aus therapeutischer, ethischer und juristischer Sicht ist es daher erforderlich, vermehrt die Debatte um die
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Aufklärung Einwilligungsunfähiger und ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen zu führen: »Consequently, rather than granting complete treatment autonomy to adolescents either prematurely or too late to be of optimal benefit, a conversational approach can assist parents to tailor the making of health care choices to their children’s cognitive skills that will ultimately ensure mature, autonomous medical and psychotherapeutic decision-making« (Peterson & Siegal, 1997, S. 35). Ein Recht auf Information und Partizipation hat die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der UN-Konvention zwar zugesichert, in der medizinrechtlichen Literatur wird jedoch nirgends von einer Pflicht des Arztes gesprochen, den nicht-einwilligungsfähigen Patienten zu informieren. Eine Pflicht, Kinder in einer ihrem Alter angemessenen Sprache zu informieren, findet sich demgegenüber beispielsweise in der Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften EWP/462/95 zur klinischen Arzneimittelerprobung an Kindern (vgl. Fegert, 1999), eine rechtliche Verankerung von Partizipation liegt im Bereich der Jugendhilfe mit dem KJHG entsprechend seit 1991 vor. In der Krankenbehandlung hingegen handelt es sich bislang, so resümiert Rushforth (1999), lediglich um eine moralische, ethische und professionelle Verantwortung des Einzelnen.
1.1.5 Sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmung und handlungsorientierte Beschreibung von »Partizipation« aus psychologischer Sicht Dem großen Aufschwung, den die Partizipationsdebatte in rechts- und sozialwissenschaftlichen Publikationen und Diskussionen erfahren hat, steht also, was ihre tatsächliche Umsetzung in der Praxis angeht, ein weitgehendes Defizit gegenüber (z. B. Bruner et al. 1999; Salgo, 2001; BMJFFG, 1998). Ein grundlegendes, in der Literatur bisher weitgehend vernachlässigtes Problem stellt unserer Meinung nach das überwiegende Fehlen einer inhaltlichen Bestimmung von Partizipation dar, denn ohne eine klare Definition des Gegenstandes wird Partizipation nicht fassbar. So wird eine theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit Partizipation, getreu dem Motto »Who cares how we define participation as long as we do it« (Healy, 1998; S. 898), nur von den wenigsten Autoren vorgenommen. Die aktuelle Forschung findet vielmehr vor allem handlungsorientiert und erfahrungsgestützt statt. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, Partizipation genauer zu fassen. Während Partizipation innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie kein eigenständiges Thema darstellt, wird die Auseinandersetzung mit Beteiligung vornehmlich im Bereich der Soziologie sowie Pädagogik geführt (vgl. Perleth & Schatz, 2000). Hintergrund dieser Forschungsinteresses bildet neben der UN Kinderrechtskonvention die gesellschaftspolitische Debatte der 70er Jahre um Parti-
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zipation und ein darauf aufbauendes demokratischen Erziehungsverständnis (näheres bei Blandow, 1999). Bei Partizipation handelt es sich also primär um einen politischer Begriff, der in engem Zusammenhang mit der Idee der Demokratisierung der Gesellschaft steht. Wobei unter Partizipation »in demokratisch verfassten Ländern alle Tätigkeiten verstanden werden, die Bürger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen« (Kaase, 1999). Vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit erscheinen uns insbesondere Blandows (1999) Ausführungen zum Partizipationsbegriff hilfreich, wobei er diese auf den Kontext Heimerziehung bezieht. Er unterscheidet zwischen drei Dimensionen von Partizipation, nämlich Form, Stärke und Reichweite. Das Wie der Partizipation betrifft die Umsetzung von Beteiligung als formalisiertes Geschehen. Wobei grundsätzlich drei Formen von Partizipation unterschieden werden: Offene Formen, Parlamentarische Formen und Projektorientierte Formen (vgl. Blanke 1993; Lehwald & Madlmayr, 1999). Während offene Formen (z. B. Kinder- und Jugendforen, Kinderkonferenzen, Jugendhearings) sich durch freien Zugang für alle interessierten Kinder und Jugendlichen und die Möglichkeit zu spontaner Teilnahme auszeichnen, agieren in parlamentarischen Formen (z. B. Kinder- und Jugendparlament, Heimrat, Schülermitverwaltung) nur gewählte oder delegierte Kinder und Jugendliche. Bei projektorientierten Beteiligungsformen (z. B. Kinder Planen ihren Stadtteil, Gestaltung von Spielplätzen etc.) handelt es sich im wesentlichen um themengebundene, auf zeitlich überschaubare Zeiträume beschränkte regelmäßige Zusammentreffen (für eine ausführliche Darstellung der Vielfalt von Beteiligungsformen in der Kommune siehe Bruner, 1999). Die große Vielfalt von Partizipationsformen sagt zunächst aber noch wenig aus über die Art und Weise, ob und wie Kinder eingreifen und Einfluss nehmen können, d. h. mit welchen Rechten man ein Parlament, Gremium oder Kinderforum ausstattet. Wichtig ist jedoch, dass sich Beteiligung von Kindern in Formen vollziehen muss, die Kinder nicht überfordern. »Dabei wird klar«, so Schroeder (1995), der verschiedene Formen von Beteiligung beforscht hat, »dass es keine beste Form der Beteiligung gibt. Jede Form muss auf die konkrete Situation, das konkrete Ziel, die jeweilige Altersgruppe bzw. den jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder abgestimmt werden. Letztlich ist nicht die Form entscheidend, sondern die Konsequenz der Beteiligung« (S. 43). In Zusammenhang mit Partizipation geht es immer auch um das Maß der Einflussnahme, womit die Dimension der Stärke von Partizipation angesprochen wird. Die Stärke bzw. der Grad der Partizipation bringt zum Ausdruck, wie viel Einfluss auf eine Entscheidung genommen werden kann, d. h. wie die Verteilung von Kontrollrechten in Entscheidungssituationen zwischen Kindern und Erwachsenen, etwa dem Personal einer Institution, geregelt ist. Partizipation ist also kein dichotomes Konzept. In der Literatur werden verschiedene Stufenmodelle
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von Partizipation, mit graduell ansteigenden Formen von Beteiligung beschrieben. Abhängig von den jeweiligen Modellen variiert die Anzahl der einzelnen Stufen sowie auch die Auffassung darüber, was alles unter Partizipation zu fassen ist. Vilmar (1973) unterscheidet z. B. in seinem Partizipationsmodell fünf Stufen der Partizipation: Mitsprache, Mitwirkung, Mitbestimmung, Selbstbestimmung und Vetomacht. Ein davon abweichendes, ursprünglich auf Arnstein (1969) zurückgehendes und in der aktuellen Literatur verschiedentlich revidiertes Modell (vgl. Blandow, 1999; Flekkoy, 1997; Healy, 1998; Kriemer & Petersen, 1999) differenziert zwischen Stufen der Nichtbeteiligung, Quasi- Beteiligung und »Echten« Beteiligung. Der untersten Stufe (Niveau der Nichtbeteiligung), auf der Kinder als zu einer Beteiligung unfähig betrachtet werden, sind zugeordnet: Manipulation, im Sinne von Täuschung oder Vorenthaltung wichtiger Informationen; Behandlung von Defiziten, worunter Therapie gefasst wird; Kinder als Dekoration oder Alibibeteiligung, was einer Instrumentalisierung von Kindern für eigene Interessen entspricht. Unter Quasi-Beteiligung bzw. Scheinbeteiligung – der Vorstufe »echter« Partizipation – fallen Information und Beratung (Kinder dürfen Ansichten äußern und werden informiert). Als Partizipation in vollem Sinne gilt schließlich »Partnerschaftliches Aushandeln« und »Delegation von Entscheidungen«. Differierende Sichtweisen im Hinblick darauf, was Partizipation ist, bestehen bei der Frage, ob die Bereitstellung von Information bzw. die Anhörung von Kindern als »Echte« Form von Partizipation angesehen oder nur als Schein- bzw. Quasi– Beteiligung definiert wird. Angeführt wird in diesem Zusammenhang das Argument, dass das Teilen von Macht ein ganz entscheidendes Kriterium von Partizipation darstellt. So formuliert etwa Bruner (1999): »Ernstgemeinte Beteiligung stellt darüber hinaus auch immer die Machtfrage, denn ohne Teilung der Macht wird Partizipation zur Worthülse« (S. 9). Diese einseitige Betonung der Machtfrage ist unserer Meinung nach jedoch nicht sinnvoll. Wie wir auch der Auffassung, ohne Teilung der Macht werde Partizipation zur Worthülse, deutlich widersprechen würden. Werden Kindern in einem Entscheidungsprozeß lediglich Informations- bzw. Anhörungsrechte zugestanden, so weist das auf das Bestehen eines starken ungleichen Machtverhältnisses zwischen Institution und Kind hin. Die Entscheidungsmacht verbleibt eindeutig bei den Erwachsenen. Vorstellbar sind jedoch schwerwiegende Entscheidungssituationen (im Extremfall Fragen um Leben und Tod), in denen ein starker Einfluss auf die Entscheidung seitens des Kindes, z. B. partnerschaftliches Aushandeln, unserer Meinung nach nicht sinnvoll ist bzw. für das Kind zu einer deutlichen Überforderung werden kann. Werden Kinder in solchen Fällen jedoch informiert, würden wir uns dagegen verwehren, von einer »Alibiveranstaltung« oder »Partizipationsspielwiese« zu sprechen (Bruner, 1999, S. 8). Denn alleine die Bereitstellung von Informationen, und damit das Fehlen von Beschlussrechten bzw. echten Einflussmöglichkeiten, hat aus psychologischer Sicht, wie wir später noch zeigen werden (z. B. in Hinblick auf Kontroll-
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Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
bewusstsein, empfundene Fairness einer Entscheidung), weit reichende Folgen. Ob nun der bloßen Bereitstellung von Information bereits der Stellenwert »Echte Partizipation« einzuräumen ist, bleibt fraglich, jedoch ist der Wert und die Wirkung von Information nicht zu unterschätzten. In jedem Fall irreführend ist unserer Meinung nach jedoch das Vorgehen, Selbstbestimmung unter Partizipation zu subsumieren, wie Vilmar (1973) dies z. B. tut. Denn Teilhabe darf nicht mit Abschieben von Verantwortung oder Autonomie, im Sinne von alleine lassen, verwechselt werden. Schließlich bezieht sich die Reichweite von Partizipation auf das Worauf, also die Bereiche, auf die sich die Stärke der Beteiligungsrechte erstrecken. Blandow (1999) unterscheidet in Bezug auf die Heimerziehung systematisch zwischen verschiedenen Bereichen. So etwa Bereiche, die sich auf eigene Angelegenheiten beziehen, z. B. Vereinbarungen über Ziele des Hilfeplans; über Bekleidung; über Rechte am eigenen Körper. Bereiche, die die Gruppe betreffen, z. B. Vereinbarungen über das gemeinsame Zusammenleben, wie Tierhaltung, Einnahme von Mahlzeiten; Vereinbarungen über Gruppenregeln. Und schließlich Bereiche, die sich auf die Einrichtung beziehen z. B. Vereinbarungen über die Gestaltung der Baulichkeiten; über Ressourcen; über Aktivitäten der Einrichtung. Für jeden dieser Bereiche sind Vereinbarungen, die den Grad der Partizipationsrechte regeln, zu treffen. Wobei die Stärke der Beteiligung je nach Bereich stark variieren kann und immer auch Bereiche existieren, in denen Kindern und Jugendlichen ein hohes Maß an Partizipation eingeräumt werden kann. Explizit wollen wir zusammenfassend den Worten Blandows (1999) folgen »Wenn man nicht zugleich angibt, wer sich, wie, woran, in welchem Maß beteiligt, wird Partizipation eine Leerformel bleiben« (S. 89).
1.1.6 Schlussfolgerungen für eine Verwendung des Partizipationsbegriffs Je mehr in letzter Zeit die Rechte des Kindes thematisiert werden, umso deutlicher wird das weitgehende Fehlen einer bewussten Auseinandersetzung mit der Sicht betroffener Kinder und Jugendlicher im Allgemeinen und bezüglich der stationären Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Besonderen. In der wissenschaftlichen Forschung werden Kinder zunehmend als »eigenständiges Subjekt« (Lipski, 1998) und als »vollständiges Mitglied der Gesellschaft« (Lenz, 2001, S. 18) betrachtet. Diese Entwicklung verlangt jedoch, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse, ihre Wünsche und Interessen, ihre Probleme und Konflikte ernst zu nehmen und zu akzeptieren, was wiederum ein Kennen und Verstehen ihrer Sichtweisen voraussetzt. Eltern und auch Fachleute verlassen sich demgegenüber allzu oft ». . . on what
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they believe children think, feel, and understand« (Rushforth, 1999, S. 690). Anstatt sich von diesen bloßen Annahmen in der Praxis leiten zu lassen, sollten wir Kinder und Jugendliche selbst zu Wort kommen lassen – »hear the voices of the children themselves« (Rushforth, 1999, S. 690). Die von Melton & Limber (1992) genannten Gründe für eine stärkere Beschäftigung mit der Kindsicht über eigene Rechte bekräftigen diese Forderung. Erstens, so die Autoren, seien sog. Experten nur schwer in der Lage, die für Kinder wesentlichen Angelegenheiten zu erkennen, ihre Perspektive könne sich deutlich von der der Kinder unterscheiden. Die Vorstellungen von Kindern über ihre Rechte könnten zweitens hilfreich sein ». . . in the design and procedures for implementation of their rights in a manner that is most protective of children’s dignity« (S. 168). Drittens vermittle das Erfragen kindlicher Ansichten Respekt für Kinder als Personen und trage viertens zur politischen und juristischen Sozialisation bei. Die Bestrebungen der Kinderrechtsbewegung werden sich an ihren Ergebnissen messen lassen müssen. Gefordert sind folglich empirisch fundierte Resultate über die Auswirkungen von Partizipation, über die Praxis der Wissensvermittlung an Kinder und Jugendliche sowie darüber, wie Beteiligung umzusetzen ist, wobei die direkte Befragung der Kinder und Jugendlichen von größter Wichtigkeit ist (vgl. Dixon-Woods et al., 1999). Speziell in der Kindheitsforschung zeigt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Tendenz auch Kinder in Befragungen direkt einzubeziehen, insgesamt liegen bisher aber immer noch wenige Studien im deutschen Sprachraum vor, in denen die Wahrnehmung, das Erleben und die Urteile der Kinder im Mittelpunkt stehen. Während im Kinder- und Jugendhilfegesetz mit § 36 den Betroffenen zumindest formal eindeutig Raum gegeben wird, ihre Perspektiven, ihre subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen und Erfahrungen einzubringen, muss für den Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie festgestellt werden, dass es keine Rechtsregelungen gibt, die den Subjektstatus des Kindes ausdrücklich in den Vordergrund rücken. Auffallend ist, dass da, wo über Kinder- und Jugendlichenbeteiligung nachgedacht wird, der Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgeklammert bleibt – hier ist von einer »Brisanz der Beteiligung« zu sprechen, wie dies Blandow (1999) auch für den Bereich der Heimerziehung vermutet. Ein Mangel an empirisch fundierten Untersuchungen zum Erleben der stationären Aufnahme und Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist entsprechend festzustellen. Wenn es jedoch darum gehen soll, wie die spezifischen Bedürfnisse und Ansichten von Kindern und Jugendlichen in Entscheidungsprozesse integriert werden können – im Rahmen dessen, was im institutionellen und kulturellen Kontext möglich ist – müssen zunächst die Sichtweisen der Betroffenen erfasst
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Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
werden. Kinder sind nicht nur mitbeteiligt und anwesend, sondern direkte Adressaten und Hauptpersonen der Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und als solche sind ihr (emotionales) Erleben, ihre Wahrnehmung und ihre Bedürfnisse von zentraler Bedeutung. Begleitet wird die stationäre Behandlung Minderjähriger von der Annahme, dass von einer freiwilligen Beteiligung von Kindern zumeist nicht ausgegangen werden kann. Remschmidt (1987) meint ferner bezüglich der Krankheitseinsicht von Kindern und Jugendlichen: »Jüngere Kinder haben in der Regel keine Krankheitseinsicht. Jugendliche haben häufig ohnehin Widerstände gegen Institutionen jeglicher Art und betrachten ihre seelischen Auffälligkeiten, auch wenn sie selbst darunter leiden, oft nicht als krankhaft« (S. 412). Eine empirische Überprüfung dieser Vermutungen und eine Untersuchung ihrer Konsequenzen stehen jedoch bislang aus. Hinzu kommen die Besonderheiten, die sich aus einer stationären Aufnahme für Kinder oder Jugendliche ergeben, vor allem hinsichtlich des Eingriffs in die soziale Umwelt des Minderjährigen. Kinder und Jugendliche auch in ihren Sorgen und Ängsten bezüglich der Reaktionen ihres Umfeldes, ihre Stigmatisierungsängste, ernst zu nehmen und ihnen »eine Stimme zu geben«, war Anliegen unserer Untersuchung und entspricht insofern dem Paradigma des Partizipationsansatzes. Ausblick auf die wichtigsten rechtlichen Schlussfolgerungen
1.2
Ausblick auf die wichtigsten rechtlichen Schlussfolgerungen
Die in Abschnitt 4 ausführlich dargestellten Vorschläge der rechtswissenschaftlichen Literatur, wie die Rechte Minderjähriger im Rahmen einer Heilbehandlung gestärkt werden sollen, haben sich in der Vergangenheit darauf konzentriert, die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger zu definieren. Die Einwilligungsfähigkeit und ihre Feststellungsbedürftigkeit im Einzelfall wurden als die entscheidenden Hürden für die Inhaberschaft persönlichkeitsschützender Rechte, als »gatekeeper«, ausgemacht. Im Zentrum der juristischen Debatte um Patientenrechte Minderjähriger stand in der Vergangenheit daher das Bemühen um eine Konkretisierung der Einwilligungsfähigkeit. Seizinger hat 1976 in seiner Tübinger Dissertation zur Rechtsstellung Minderjähriger in ärztlicher Behandlung diese Aufgabe aus strafrechtlicher Perspektive aufgegriffen1; Neyen folgte mit seiner Monografie zur Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht2. Voll setzte sich mit dem Thema 1996 aus arztrechtlicher Sicht auseinander3. Im Familienrecht sind es Bel1 2 3
Der Konflikt zwischen dem Minderjährigen und seinem gesetzlichen Vertreter bei der Einwilligung in den Heileingriff im Strafrecht. Tübingen 1976. Diss. Trier 1991. Voll, Die Einwilligung im Arztrecht.
Ausblick auf die wichtigsten rechtlichen Schlussfolgerungen
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ling/Eberl/Michlik u. a. und Rouka, die sich mit der Einwilligungsfähigkeit minderjähriger Patienten beschäftigt haben4. Alle Autoren gingen bislang mehr oder weniger ausdrücklich davon aus, dass in der Verbreiteten Rechtsunsicherheit wegen der nicht definierten Kriterien der Einwilligungsfähigkeit und das für Ärzte damit verbundene Haftungsrisiko die Hauptursache für die mangelnde Einbeziehung Jugendlicher in Behandlungsentscheidungen liegt. Weniger Zurückhaltung ärztlicherseits, Kindern und Jugendlichen Verantwortung zuzuschreiben, könne, so wohl der Grundkonsens, nachhaltig nur verbessern, wer operationalisierbare Kriterien für die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit anbietet5. Damit war stets auch impliziert, dass der Persönlichkeitsschutz des Kindes auf demselben Weg zu bestreiten sei wie der Schutz der Persönlichkeit des erwachsenen Patienten: Durch die Implementierung der Doktrin vom »informed consent«, das heißt durch die Übergabe der Verantwortung für die Behandlungsentscheidung. Jedenfalls in dieser Grundannahme stimmt die Rechtsprechung hiermit überein: Sie erkennt die prinzipielle Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger und damit deren Recht, über Behandlungsaufnahme und –abbruch selbstständig zu entscheiden, seit der Grundsatzentscheidung BGHZ 29, 33 an. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur prinzipiellen Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger hat sich in der Praxis aber nicht durchsetzen können. Unter Ärzten ist der Unterschied, den die Rechtsprechung zwischen der vertragsrechtlichen Geschäftsfähigkeit und der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht macht, häufig nicht bekannt. Die Rechtsprechungskasuistik ist schwer auffindbar, intransparent, in sich widersprüchlich und zu den entscheidenden Kriterien der Einwilligungsfähigkeit floskelhaft. Den Urteilen, in denen sich der Bundesgerichtshof mit dem Selbstbestimmungsrecht des minderjährigen Patienten auseinandergesetzt hat, liegen zumeist atypische, dramatische Fallkonstellationen zugrunde, etwa der besondere Konflikt des Schwangerschaftsabbruches einer Minderjährigen oder die Entscheidung zum Abbruch einer lebenserhaltenden Krebstherapie. Die hier entwickelte Argumentation lässt sich aber nicht generalisierend auf die alltägliche Heilbehandlung eines Kindes übertragen. Schließlich trägt das gänzliche Fehlen einer gesetzlichen Regelung des ärztlichen Heileingriffs, insbesondere des strafbaren eigenmächtigen Heileingriffs dazu bei, dass wegen der Bestimmung von Inhalt und Umfang einer ärztlichen Behandlung die 18-Jahresgrenze in der pädiatrischen und kinderund jugendpsychiatrischen Praxis fortlebt. Anstelle der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung bleibt hier Fremdbestimmung über den Patienten
4 5
Belling/Eberl/Michlik, Das Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen. Insbesondere Amelung, ZStW 104 (1992) S. 552ff; Neyen, Die Einwilligung im Strafrecht S. 64ff; vgl. auch Voll, Die Einwilligung S. 61.
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Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
die Regel. Werden Kinder und Jugendliche ausnahmsweise frühzeitig informiert und durch Anhörung ihres Willens in den Entscheidungsprozess integriert, beruht dies auf dem Engagement einzelner Ärzte und Eltern, ist aber nicht Folge rechtlicher Garantien. So vollzieht sich die Entscheidungsfindung zumeist ausschließlich im Dialog zwischen Arzt und Eltern. Auf die Meinung der Kinder und Jugendlichen wird allenfalls dann eingegangen, wenn der Wille des Kindes dem ärztlichen Dafürhalten entspricht. Eine ablehnende Haltung des Kindes wird hingegen häufig als unvernünftig und damit als Ausdruck fehlender Reife interpretiert. Sie bleibt als Meinung des nicht Einwilligungsfähigen unberücksichtigt, wodurch der minderjährige Patient zum bloßen Objekt der medizinischen Behandlung wird.
1.2.1 Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit Der Versuch, konkrete einfachgesetzliche Rechte des minderjährigen Patienten allein aus dem Personenbegriff des Grundgesetzes herzuleiten, erwies sich als nicht gangbar. Zwar herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass Kindern und Jugendlichen Personenstatus und damit der volle Gehalt der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG zukommt. Der Personenbegriff der Art. 2 Abs. 2, 1 Abs. 1 GG ist zugunsten einer dynamischen Verfassung, die sich den wechselnden gesellschaftlichen Gegebenheiten zu öffnen in der Lage ist, ein offener Begriff. Das Grundgesetz gibt nicht vor, durch welche konkreten einfachgesetzlichen Rechte und Pflichten des Arztes das Persönlichkeitsrecht des Patienten zu schützen ist. Eine Konkretisierung der Rechtspositionen des Patienten ist aber durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Der VI. Zivilsenat und der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs haben in großzügiger Handhabung der eigenen Rechtsetzungskompetenz und in jahrzehntelanger Rechtsfortbildung dem Patienten Rechte zugesprochen. Zu nennen sind beispielsweise das Recht auf Aufklärung, das Recht auf Geheimhaltung gegenüber Dritten oder das Recht auf Einsicht in die Krankenunterlagen. In den Fällen, die den maßgeblichen Urteilen zugrunde lagen, ging es aber stets um erwachsene Patienten. Inwieweit etwa das Recht auf Aufklärung auch für Minderjährige gilt, bleibt offen. Eine Analyse der arzt-(haftungs-)rechtlichen Rechtsprechung erwies sich daher als lohnend, soweit es darum ging, ein Bild vom Persönlichkeitsrecht des erwachsenen Patienten in der Verfassungswirklichkeit zu generieren. In einem zweiten Schritt galt es zu überprüfen, inwieweit es wegen der spezifischen Informationsund Partizipationsbedürfnisse und auch wegen der eingeschränkten Entscheidungsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen sinnvoll ist, die Rechte des erwachsenen Patienten, insbesondere die Doktrin vom informed consent, eins zu eins auf die Situation minderjähriger Patienten zu übertragen.Es geht in diesem zweiten
Ausblick auf die wichtigsten rechtlichen Schlussfolgerungen
33
Schritt damit um die Frage, ob der Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes bzw. Jugendlichen nach einer anderen Qualität von Mitbestimmung verlangt. Auf diesem gedanklichen Zweischritt wurde die Methodik des vorliegenden rechtswissenschaftlichen Untersuchungsteils aufgebaut. Es wurden zunächst die Rechte des erwachsenen Patienten nach geltendem Recht untersucht (2.). Anschließend wurde die Rechtsstellung Minderjähriger untersucht, um sie mit der des erwachsenen Patienten zu vergleichen und eine Bewertung des geltenden Medizinrechts im Hinblick auf die Anforderungen an den Schutz der Persönlichkeit minderjährige Patienten vorzunehmen (3.). Die Lösungsansätze zur Verbesserung der Rechtsstellung minderjähriger Patienten, wie sie im Schrifttum bereits vorgeschlagen worden sind, wurden zusammengetragen (4.). Auf der Grundlage der Diskussion dieser Vorschläge wurde dann ein Lösungsvorschlag für die Problematik der Einwilligungsfähigkeit entwickelt, der an den empirischen Befunden unserer Untersuchung zu Mitsprachebedürfnissen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist und nicht im Lebensalter das maßgebliche Kriterium sieht (5.).
1.2.2 Partizipationsrechte – Vetorecht Aus den später genau dargestellten Ergebnissen der Befragungen der Kinder und Jugendlichen zu deren Informationsbedürfnissen haben wir, wie später genauer erläutert wird, abgeleitet, dass insbesondere jüngere Patienten, d. h. Kinder bis 14 Jahren, seltener die Entscheidung über eine Behandlungsaufnahme selbstständig treffen wollen, dennoch aber informiert und über ihre Meinung befragt werden wollen. Ausgehend von diesem empirischen Befund wurde untersucht, inwieweit Kindern und Jugendlichen im Rahmen einer Heilbehandlung ein Informationsund Anhörungsrecht eingeräumt werden kann. Ein »Vetorecht«, wie es im Schrifttum von Deutsch, Taupitz und Ulsenheimer diskutiert wird, ist im bestehenden Konzept der Einwilligung bereits enthalten und wird als theoretisch verfehlt verworfen. Wichtiger erscheint im Hinblick auf die empirischen Befunde zu Informations- und Mitsprachebedürfnissen die Frage, wie das Recht auf das erhebliche Informationsbedürfnis von jugendlichen Patienten reagiert.
1.2.3 Informationsrecht und Aufklärungsfähigkeit Die in Abschnitt 6 bis 10 dargestellte empirische Untersuchung zu den die Partizipation Minderjähriger betreffenden Rechtstatsachen führt geradewegs zu der rechtlichen Frage, ob auch der nicht einwilligungsfähige Patient Anspruch auf Aufklärung im Sinne einer angemessen Information über die bevorstehenden Be-
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Grundbegriffe: Kinderrechte und Partizipation
handlungsschritte verlangen darf. Die empirischen Befunde zu Informationsbedürfnissen Minderjähriger lassen deutlich erkennen, dass Information und Anhörung positiv mit dem Gefühl von Akzeptanz und Respekt der Persönlichkeit korrelieren: Minderjährige sämtlicher Altersstufen äußern unabhängig vom Krankheitsbild den Wunsch, rechtzeitig über eine bevorstehende Behandlung informiert zu werden. Dieses Informationsbedürfnis besteht unabhängig vom Bedürfnis, über eine Therapieaufnahme selbst zu entscheiden. Mit den Folgen, die aus diesen neuen empirischen Erkenntnissen für eine gesetzliche Regelung in der Zukunft entstehen, befasst sich Abschnitt 11. Aus juristischer Sicht erscheint es wegen der deutlich nachgewiesenen Informationsbedürfnisse minderjähriger Patienten sinnvoll, den Respekt der Persönlichkeit nicht einwilligungsfähiger Patienten dadurch zu verwirklichen, dass selbstständige Anhörungs- und Informationsrechte in das System des Arztrechtes implementiert werden. Der dritte Abschnitt der Untersuchung widmet sich verstärkt dieser Aufgabe. Dazu wird die Natur des Aufklärungsanspruchs des Patienten untersucht und heraus gearbeitet, dass unabhängig vom gängigen informed consent – Modell ein von der Einwilligung unabhängiger Informationsanspruch des Patienten besteht. Anders als die »Einwilligungsaufklärung« ist dieser primär nicht auf Wissensvermittlung gerichtet, sondern auf den Respekt der Persönlichkeit des Patienten. Nicht einwilligungsfähigen Patienten kann dieser Anspruch rechtlich zugesichert werden, wenn er haftungsrechtlich sanktioniert ist. Wie dies auf der Grundlage der geltenden Dogmatik verwirklicht werden kann, wird unter Berücksichtigung familienrechtlicher Aspekte abschließend in Abschnitt 11 diskutiert. Den Besonderheiten der Aufklärung Minderjähriger wird dabei Rechnung getragen. Am Schluss der interdisziplinären Untersuchung steht ein Vorschlag, wie persönlichkeitsschützende Rechte minderjähriger Patienten so in das bestehende System des Arztrechtes implementiert werden können, dass sie den Vorgaben des Grundgesetzes und der UN-Kinderrechtskonvention und den tatsächlichen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden.
Die Messlatte: Patientenrechte des Erwachsenen
2.
Die Messlatte: Patientenrechte des Erwachsenen
2.1
Primat des Willens des Patienten – das Recht zur »unvernünftigen« Entscheidung
Primat des Willens des Patienten
2.1.1 Seit über 100 Jahren anerkannt: Wille des Patienten geht vor! Dass allein der Wille des Patienten die Rechtmäßigkeit der Aufnahme einer Behandlung sowie einzelner Therapieentscheidungen begründet und dem Patienten damit auch das Recht zur »unvernünftigen« Entscheidung zusteht, wurde bereits vom Reichsgericht deutlich formuliert1: Die Kammer führt zu einem Fall, in dem die Ärzte den Fuß eines Mädchen eigenmächtig und gegen den Willen der Eltern amputiert hatten, um das Leben der Siebenjährigen zu retten: »In jedem Falle ist es der Wille des Kranken bzw. seiner Angehörigen und gesetzlichen Vertreter, welcher überhaupt gerade diesen Arzt beruft, die Behandlung dieses Kranken zu übernehmen [. . .]«.
2.1.2 Bestätigung durch den Bundesgerichtshof: BGHSt 11, 111 Der Bundesgerichtshof in Strafsachen hat die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Vorrang des Willens des Patienten fortgeführt2. Das Recht des Patienten, »unvernünftig« zu entscheiden, wurde im Jahr 1957 als durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich garantiert erklärt (sog. Myomurteil3). In der Entscheidung heißt es: »Mag [die Entscheidung des Patienten] für ihn selbst lebensbedrohlich und deshalb jedenfalls dann unverständlich sein, wenn er auch ohne das Organ weiterleben könnte, so muß sie doch von jedem, auch einem Arzt in Betracht gezogen und beachtet werden.«
1 2 3
RGSt 25, 375–389. BGH NJW 1959, 814; BGH VersR 1971, 929; BGH NJW 1989, 1525; zur Entwicklung der Rechtsprechung: Giesen, JZ 1982, 391–403. BGH, Urt. v. 28.11.1957, 4 StR 525/57 (LG Essen) – NJW 1958, 267 = BGHSt 11, 111.
36
Die Messlatte: Patientenrechte des Erwachsenen
2.2
Der Aufklärungsanspruch des Patienten: Vom Willensanspruch des Patienten zur informed consent-Doktrin
Als wichtigen Anspruch zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts haben die Gerichte den Anspruch des Patienten auf ärztliche Aufklärung entwickelt.
2.2.1 Die Einwilligungsaufklärung in der Geschichte der Rechtsprechung Die »echte Aufklärungspflicht«4, die in Hinblick auf Selbstbestimmungsrecht und Persönlichkeitsrecht von Interesse ist, wird als deliktsrechtlich und strafrechtlich sanktionierte Pflicht des Arztes zur sog. »Einwilligungsaufklärung«5 auch als »Selbstbestimmungsaufklärung«6 bezeichnet7. Die Einwilligungsaufklärung gewährleistet, so die Idee des informed consent-Grundsatzes, dass der Patient die für eine autonome Entscheidung notwendigen Informationen erhält8. Ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper judiziert der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im sog. zweiten Elektroschockurteil: »Nur wenn der Patient Klarheit über seine Lage hat, also in großen Zügen weiß, worin er [. . .] einwilligt, kann die Einwilligung ihren Sinn und Zweck erfüllen . . .«9.
Im zugrunde liegenden Fall war ein chronisch kranker Alkoholiker in einer Nervenklinik durch die Behandlung mit Elektroschocks verletzt worden. Der Patient hatte zwar nach einer groben Aufklärung seine Einwilligung erteilt; über mögliche schädliche Nebenfolgen war er jedoch nicht informiert worden. Der Senat stellt die Rechtswidrigkeit der Maßnahme unter ausdrücklicher Betonung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten fest; als verfassungsrechtliche Wurzel des Aufklärungsanspruches nennt er Art. 2 Abs. 2 GG, das Recht auf körper4 5 6
7 8 9
Deutsch, Medizinrecht Rn. 118. Steffen/Dressler Rn. 328. Laufs, Arztrecht Rn. 168; Deutsch, Medizinrecht Rn. 112. Abzugrenzen von der Selbstbestimmungsaufklärung ist die Sicherungsaufklärung, auch »therapeutische Aufklärung« genannt. Sie dient allenfalls mittelbar dem Persönlichkeitsrecht des Patienten. Ihr Ziel sind Erhalt und Wiedererlangung der Gesundheit. Die Sicherungsaufklärung bedeutet die auf Compliance zielende Beratung und Anleitung des Patienten zu heilungsförderndem Verhalten, z. B. Ermahnung zu vorsichtiger Lebensweise bei kardialer Erkrankung. Hiervon zu unterscheiden ist die »Sicherungsaufklärung«, auch »therapeutische Aufklärung« genannt, vgl. dazu Laufs, Arztrecht Rn. 163ff Etwa BGH NJW 1984 1395; BGH NJW 1987, 2923. BGH NJW 1959, 811, 813; ähnlich angedeutet bereits im ersten Elektroschockurteil BGH NJW 1956, 1106–1108.
Der Aufklärungsanspruch des Patienten
37
liche Unversehrtheit, und beruft sich zudem auf »Freiheit und Würde« des Patienten. Seit die Aufklärung zum Wirksamkeitserfordernis der Einwilligung erklärt wurde, ist rechtlich eine »symbiotische« Verbindung zwischen Einwilligung und Aufklärung geschaffen10. Die dadurch ermöglichte Durchsetzung der Aufklärungspflicht mittels der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Tatbestände zum Schutz der Körperintegrität hat sie zum »scharfen Schwert« des Patienten gemacht.
2.2.2 Umfang und Standard der Aufklärung Der Umfang der Aufklärungspflicht wurde vor allem durch die zivilrechtliche Rechtsprechung in Haftungsprozessen um Schadensersatz- und Schmerzensgeld entwickelt und dann von den Strafgerichten übernommen11. Die Aufklärung erstreckt sich danach nicht nur auf Diagnose und Prognose, sondern vor allem auf die Folgen einer Nichtbehandlung und die Risiken einer Behandlung12. Maßgeblich ist dabei die Sicht des Patienten als subjektiver und damit sehr weit gehender Standard: Soll das Einwilligungsrecht dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seinen Körper dienen, muss der Patient alle Informationen erhalten, die für seine persönliche Bewertung der Vorteile und Nachteile einer Behandlung gegenüber einer Nichtbehandlung oder gegenüber alternativen Behandlungsmethoden relevant sein könnten. Aus diesem subjektiv-individualisierten Standard der Aufklärung ergibt sich die Pflicht, umfassend über alle Belastungen und Risiken eines Eingriffes aufzuklären13. Zwar müssen die möglichen Risiken nicht medizinisch exakt und nicht in allen denkbaren Erscheinungsformen vermittelt werden, wohl aber so, dass sich der Patient ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikos machen kann14. Eine genaue Grenzziehung, bis zu welchem Risiko aufgeklärt werden muss, lässt sich nicht abstrakt feststellen, sondern ist an der konkreten Sachlage auszurichten.
10 Voll, Die Einwilligung im Arztrecht S. 48. 11 Vgl. zur Entwicklung Tröndle MDR 1983, 887; sehr kritisch Ulsenheimer, Arztstrafrecht Rn. 555. 12 Hierzu gilt insbesondere die umfassende und nachdrückliche Aufklärung darüber, wie sich die Erkrankung bei Nichtbehandlung entwickelt bzw. entwickeln könnte, ferner die Erfolgsaussichten einer Behandlung (BGH NJW 81, 633). 13 Vgl. RGRK-Nüßgens § 823 Rn. 164; Münch-Komm-Mertens § 823 Rn. 455. 14 Steffen/Dressler Rn. 329.
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Die Messlatte: Patientenrechte des Erwachsenen
2.2.3 Bestätigung der Körperverletzungsdoktrin durch das Bundesverfassungsgericht – BVerfGE 52, 131 Das Bundesverfassungsgericht hat, wie bereits erwähnt, die Rechtsfortbildung des BGH als zulässige Auslegung einfachen Rechts im Lichte der Grundrechte des Patienten gebilligt. Das »Selbstbestimmungsrecht des Patienten« sieht der zweite Senat des BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zur Drittwirkung der Grundrechte des Patienten im Arzt-Patienten-Verhältnis in Übereinstimmung mit der Körperverletzungsdoktrin des BGH in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert15.
2.2.4 Rechtsfolgen mangelhafter Aufklärung vor einer Heilbehandlung Hinsichtlich der Sanktion bei Verletzung der Aufklärungspflicht unterscheiden sich die vertragliche und die deliktsrechtliche Haftung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes. Das Zivilrecht sanktioniert die Verletzung der Aufklärungspflicht im Rahmen der vertraglichen wie auch deliktischer Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB. Problematisch an der vertraglichen Haftung ist, dass hier, anders als bei der deliktischen Haftung, nur der Vermögensschaden ersatzfähig ist, Schmerzensgeld hingegen nicht (s. §§ 249ff, 253 BGB). Dieses viel kritisierte »Defizit an Sanktionsmöglichkeiten«16 hat dazu geführt, dass in der Praxis die deliktische Haftung die weitaus größere Bedeutung spielt als die vertragliche. Schwieriger nachzuweisen als im Zivilprozess ist der Mangel der Aufklärung im Strafprozess. Die Strafbarkeit wegen Verletzung der Aufklärungspflicht setzt voraus, dass der Mangel der Aufklärung, d. h. die Definitionslücke ursächlich dafür war, dass der Patient seine Einwilligung in die Körperverletzung erteilt hat. Dazu muss bewiesen werden, dass der Patient mit Wissen der fehlenden Information seine Einwilligung verweigert hätte, es muss also eine bloß hypothetische Situation bewiesen werden. Die Anforderungen an die Urteilsgewissheit im Strafrecht sind grundsätzlich höher und werden von der Rechtsprechung mit der Formel von der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit umschrieben17. Aufgrund der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bedeutet dies keine Gewissheit im naturwissenschaftlichen Sinn, sondern persönliche richterliche 15 BVerfGE 52, S. 131, 168, abweichende Meinung der Richte Hirsch, Niebler, Steinberger S. 171ff 16 Taupitz, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag S. 14.; grundlegend Deutsch, AcP 192 (1992) , 161f; zu Reformvorschlägen Taupitz, AcP 191 (1991), 201, 243f; Voß, ZRP 1999, 452ff; vgl. dazu auch Brüggemeier, Deliktsrecht S. 376ff 17 RGSt 61, 202, 206; BGHSt 10, 208.
Der Anspruch auf Wahrung der Patienteninformationen gegenüber Dritten
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Überzeugung18. Für das hypothetische Urteil, ob der Patient auch im Falle ordnungsgemäßer, d. h. umfassender Aufklärung in eine Behandlung eingewilligt hätte, wendet der Bundesgerichtshof in Strafsachen den Maßstab des »ernsthaften Entscheidungskonfliktes« an19. Für den Nachweis einer Aufklärungspflichtverletzung genügt es danach, wenn der Patient dartut, dass er bei der Erteilung seiner Einwilligung in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten wäre, hätte er von dem tatsächlich verschwiegenen Risiko gewusst20. Der Anspruch auf Wah rung der Patienteninformationen gegenüber Dritten
2.3
Der Anspruch auf Wahrung der Patienteninformationen gegenüber Dritten – die ärztliche Schweigepflicht
Mit dem Anspruch des Patienten, vom Arzt alle Daten zu erfahren, die ihn persönlich betreffen, korrespondiert die ärztliche Pflicht, das Patientengeheimnis Dritten gegenüber zu wahren. Die ärztliche Schweigepflicht ist nebenvertragliche Pflicht und ihre Verletzung ist in § 203 StGB unter Strafe gestellt. Ergänzt wird dieser Schutz des Patientengeheimnisses durch das Aussageverweigerungsrecht des Arztes als Zeuge vor Gericht sowie eine nur eingeschränkte Pflicht des Arztes zur Anzeige geplanter Verbrechen (§ 139 StGB). Das Gebot der ärztlichen Schweigepflicht ist ferner seit jeher fester Bestandteil ärztlicher Standesethik. Als kategoriales Rechtsprinzip ist der Verschwiegenheitsanspruch des Patienten in nur sehr engen Grenzen der Abwägung gegen andere Interessen iRd. § 34 StGB zugänglich21. Der Bruch der Schweigepflicht ist deshalb nur bei konkreter, erheblicher und nicht anders abwendbarer Gefahr zulässig22.
18 Vgl. speziell zur Kausalität im Rahmen der Strafbarkeit des Arztes: Puppe JR 1994, 515ff 19 BGH NStZ 1996, 34 = JR 1996, 69, 79, zust. Ulsenheimer, NStZ 1996, 132–133.; krit. Rigizahn, JR 1996, 62–75 und Jordan, JR 1997, 32–33. 20 Zu den unterschiedlichen Maßstäben in Zivil- und Strafprozess vgl. Ulsenheimer, Rn. 129ff, der die Kausalität nur dann bejahen will, wenn dem Patienten eine objektiv risikoärmere Behandlungsmethode verschwiegen wurde, was allerdings das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ebenso zu untergraben geeignet wäre; Schönke/Schröder-Eser (25. A.) § 223 Rn. 40. 21 Schönke/Schröder-Lenckner (25. A.) § 34 Rn. 31. 22 Schönke/Schröder-Lenckner (25. A.) § 203 Rn. 31; Wolfslast, Anmerkung zu OLG Frankfurt MedR 00, 196 in: NStZ 2001, S. 151ff
Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata Die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht
3.
Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, welche Patientenrechte im Dreieck zwischen Arzt, minderjährigem Patienten und Eltern nach geltendem Recht schon bestehen und inwieweit sie faktisch auch durchsetzbar sind. Dabei wird gezeigt, warum die Probleme der praktischen Umsetzung von Patientenrechten Minderjähriger eng mit der fehlenden Bestimmung ihrer Einwilligungsfähigkeit zusammenhängen.
3.1
Die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht
Die Rechtsstellung minderjähriger Patienten ist gekennzeichnet durch ein unübersichtliches Gemenge zivil-straf- und verwaltungsrechtlicher Vorschriften1. Die Kompetenz des Minderjährigen, über Behandlungsaufnahme und -umfang einschließlich des Abbruchs der Behandlung zu entscheiden wird kumulativ durch die Geschäftsfähigkeit einerseits und das Erfordernis der Einwilligungsfähigkeit andererseits beschränkt: Während die Fähigkeit zum Abschluss eines Behandlungsvertrages von der Geschäftsfähigkeit, mithin der Volljährigkeit abhängt, ist die die Zulässigkeit der Behandlung gebunden an eine Einwilligung, die wiederum nur dann von der behandelten Person wirksam erteilt ist, wenn sie einwilligungsfähig ist. Der einwilligungsfähige Jugendliche kann also einerseits sich selbstständig in Behandlung begeben und wirksam in den Heileingriff einwilligen, andererseits sind es aber die Eltern, die, jedenfalls bei privat Versicherten, den Behandlungsvertrag abschließen. Im Falle der sich als Missbrauch des Sorgerechts darstellenden Weigerung der Eltern, einen Behandlungsvertrag abzuschließen, kann der einwilligungsfähige Jugendliche, wie Beispiele aus der Rechtsprechung belegen, die erforderliche Willenserklärung gem. § 1666 Abs. 3 BGB durch das Familiengericht ersetzen lassen. Demgegenüber ist der nicht einwilligungsfähige Jugendliche in Bezug auf ärztliche Heilbehandlung praktisch rechtlos, kann er doch nicht wirksam in eine Behandlung einwilligen und demzufolge auch nicht eine Weigerung der Eltern, den Behandlungsvertrag abzuschließen, gerichtlich überwinden. Die Einwilligungsfä1
Vgl. Kopetzki zur ähnlichen Situation in Österreich in: Taupitz (Hrsg.) Zivilrechtliche Regelungen.
42
Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
higkeit ist damit Dreh- und Angelpunkt, ist »gatekeeper« für die Behandlungsaufnahme Minderjähriger.
3.1.1 Die Krux der Einwilligungsfähigkeit Die »Krux« bei der Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit liegt in der Unvereinbarkeit von Fremdbestimmung und selbstständig ausgeübter Autonomie. Sie hat den Gesetzgeber bis heute davon abgehalten, den Begriff der Einwilligungsfähigkeit einer Definition zuzuführen. Es waren schließlich die Gerichte, die sich der Aufgabe einer Definition angenommen haben.
3.1.2 Die Einwilligungsfähigkeit in der Entwicklung der Rechtsprechung Im Zivilrecht wurde die ›Abkoppelung‹ der Einwilligungsfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit im Jahr 1958 vollzogen2.
3.1.2.1 Zur Grundsatzentscheidung – BGHZ 29, 33 Nach dem BGH ist einwilligungsfähig, wer »nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffes zu ermessen vermag.«3 Die Formel der Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit ist beinahe inhaltsleer und Kriterien, die auf die Einwilligungsfähigkeit schließen lassen, werden nicht benannt. Der Senat ließ sich hier wohl entscheidend von dem Gesichtspunkt leiten, dass der Patient »unmittelbar vor der Vollendung des 21. Lebensjahres« stand und hier die Annahme von Einwilligungsfähigkeit deshalb billig und gerecht war, weil der Patient sich widersprüchlich verhalten hatte4.
3.1.2.2 Weiterentwicklung der zivilrechtlichen Rechtsprechung Seit dieser Entscheidung wenden die Gerichte ganz überwiegend die Formel vom »Erkennen Können von Wesen, Bedeutung und Tragweite« an5. Lediglich zwei 2 3 4 5
BGHZ 29, 33ff; zuvor bereits OLG München, MDR 1958, 633f unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung der Strafgerichte und den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. BGHZ 29, 33f Vgl. schon Bosch, FamRZ 1959, 202f; Boehmer, MDR 1959, 705, 707; nachfolgend Pawlowski, FS Hagen S. 12; Lipp, Freiheit und Fürsorge S. 31 und Wölk, MedR 2001, 81. Vgl. BGH NJW 1972, 335, 337; Bay OBLG
Die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht
43
Urteile fallen wieder zum Kriterium der Geschäftsfähigkeit zurück, ohne sich allerdings mit der entgegenstehenden früheren Entscheidung des VI. Senats auseinander zu setzen6. Jäger beobachtet, dass jedenfalls in der frühen Rechtsprechung gerade das Volljährigkeitsalter eine große Rolle zu spielen scheint, nachdem es bei den entschiedenen Sachverhalten7 stets um Jugendliche dicht an der Volljährigkeitsgrenze ging8. Die Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit wäre danach Ausdruck der verbreitet als zu hoch empfundenen Volljährigkeitsgrenze von damals noch 21 Jahren.
3.1.2.3 Entwicklung der Rechtsprechung im Strafrecht Im Strafrecht gibt es unterschiedliche Fälle, in denen die Einwilligungsfähigkeit eine Rolle spielt, ohne dass dort die Kriterien der Einwilligungsfähigkeit genau benannt wären. Oft geht es den Gerichten darum, die Strafbarkeit der Täter zu vermeiden oder zu mildern. Im ersten zu verzeichnenden Fall des Reichsgerichts in Strafsachen zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger, der 1908 entschieden wurde9, ging es nicht um eine Heilbehandlung, sondern um den Vorwurf der tätlichen Beleidigung wegen der Vornahme sexueller Handlungen an Minderjährigen. Der Strafsenat bestätigte die Verurteilung wegen Sexualbeleidigung durch die Strafkammer. Für die wirksame Einwilligung in das Rechtsgut – nach damaligem Verständnis die »Ehre« – komme es nicht auf die Geschäftsfähigkeit, sondern auf die »persönlichen Fähigkeiten und Zustände« der jugendlichen Verletzten an. Es sei, so stellt der Senat fest, »in jedem einzelnen Falle zu prüfen [. . .], ob dem Einwilligenden das [die Einwilligung] gekennzeichnete Urteilsvermögen innewohnt«. Auch die nachfolgenden Entscheidungen des Reichsgerichts zur Einwilligungsfähigkeit betrafen stets sog. Sittlichkeitsdelikte10. Dass die Rechtsprechung in der Anwendung des Begriffs der »Einwilligungsfähigkeit« dabei mitunter allgemeinen Billigkeitserwägungen Rechnung trägt, wird im berühmten »Gisela-Fall« deutlich, in dem es um die Strafbarkeit eines Mannes nach einseitig fehlgeschlagenem Doppelsuizid ging11. Der 2. Senat des Bundesgerichtshofs in Strafsachen ging hier ganz unproblematisch von der Fähigkeit einer Sechzehnjährigen aus, in
6
BGHZ 67, 48, 50; BGH NJW 1980, 1903 sowie BGH NJW1984, 1395, wobei bei letzterer Entscheidung die Einwilligung wieder als Willenserklärung bezeichnet wird. 7 Gemeint sind BGHZ 29, 33,36 und LG München NJW 1958, 633. 8 Jäger, Mitspracherechte 1988, S. 139f; zu demselben Schluss kommt Neyen S. 58. 9 RGSt 71, 349. 10 Vgl. RGSt 71, 349; 75, 180. 11 BGHSt 19, 135.
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Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
ihre eigene Tötung einzuwilligen12. Absicht des Gerichts war es dabei wohl, dem unglücklichen Überlebenden das Privileg des § 216 StGB zugestehen zu können. Keinen Aufschluss über die Kriterien der Strafgerichte zur Einwilligungsfähigkeit gibt auch eine Entscheidung des BayObLG13 aus jüngerer Zeit. Ein 15-jähriger Junge hatte mit Altersgenossen verabredet, sich einer »Mutprobe« zu unterziehen. Das BayOblG verneinte die Einwilligungsfähigkeit des Jungen und stellte dabei auf den Grad der Gefährlichkeit einer Verletzung ab. Auf die Einwilligungsfähigkeit im konkreten Fall wurde dabei nicht eingegangen14.
3.1.2.4 Die Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht Soweit es im medizinrechtlichen Bereich Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger gibt, geht es in den seltensten Fällen um die Einwilligung in den Heileingriff. Häufig geht es um den Schwangerschaftsabbruch einer Minderjährigen. Beim Vergleich der richterlichen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch15 wird in besonderem Maße deutlich, dass die Rechtsprechungsformel zur Einwilligungsfähigkeit eine nähere Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten der Minderjährigen entbehrlich macht und mit ihr beliebige Ergebnisse erzielt werden können. Ohne Prüfung der Einwilligungsfähigkeit im Einzelfall werden häufig ganz pauschale Aussagen über die Fähigkeiten Minderjähriger zu einer Entscheidung über eine Schwangerschaftsunterbrechung gemacht. So befand beispielsweise das AG Celle ohne Bestellung eines Sachverständigen: »Gerade der für den Abbruch der Schwangerschaft erforderliche chirurgische Eingriff zieht vielfach im Zeitpunkt seiner Ausführung noch nicht voraussehbare physische, vor allem aber auch psychische Folgen so gravierender Arzt nach sich, dass auch ein nahezu 17 Jahre altes Mädchen bei durchschnittlicher Intelligenz und Lebenserfahrung jedenfalls im Regelfall mit der Beurteilung der Situation als überfordert anzusehen sein wird.«16.
12 BGHSt 19, 135, 137; vgl. Amelung, a. a. O. S. 538f; kritisch auch Schreiber NStZ 1986, 337, 345 und Roxin AT S. 358. 13 BayObLG NJW 1999, 372–373. Die Frage der Einwilligungsfähigkeit wird hier im Übrigen offen gelassen, nachdem die Sittenwidrigkeit der Einwilligung nach § 226a StGB a. F. angenommen wird. Kritisch die Urteilsanmerkungen von Otto, JR 1999, 403 und Martin, Jus 1999, 122–124. 14 Auf eine insoweit unzureichende Tatsachenfeststellung weisen Otto, JR 1999, 403 und Martin, JuS 1999, 404 hin. 15 AG Dorsten DAVorm 1978, 131–136; LG München NJW 1980, 646; LG Berlin FamRZ 1980, 285–287; LG Köln FamZ 1987, 207f; AG Helmstedt FamRZ 1987, 621; AG Celle FamRZ 1987, 738–42. 16 AG Celle NJW 1987, 2307, 2308 unter Berufung auf LG Berlin FamRZ 1980, 285 (286f).
Die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht
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Das AG Dorsten17 hält demgegenüber ohne nähere Begründung stets das Alter von sechzehn Jahren für maßgeblich, um den Eltern die Befugnis zur Entscheidung abzusprechen. Das OLG Hamm führt 199718 ganz pauschal aus, eine Minderjährige sei in Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich nie einwilligungsfähig19. Nicht selten wird ohne Rücksicht auf den konkreten Fall eine Abtreibung aufgrund »zwingender schwerer psychischer Folgen« als kindeswohlwidrig bezeichnet, womit eine richterliche Ersetzung der elterlichen Einwilligung nach § 1666 Abs. 3 BGB regelmäßig abgelehnt wird20. Anders gehen allein das LG München21 und das AG Schlüchtern22 vor, die ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Frage der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger einer sorgfältigen Prüfung des Einzelfalls bedarf23. Das LG München hält in zwei Entscheidungen nach eingehender Anhörung der Minderjährigen für bewiesen, dass die Betroffenen die Bedeutung der Abtreibung, die mit einer Durchführung und einer Nicht-Durchführung verbundenen Probleme und das Gewicht der Entscheidung erkannt und abgewogen haben24.
17 DAVorm 1978, 131–136. 18 NJW 1998, 3424f 19 Generelle Einwilligungsunfähigkeit Minderjähriger nimmt das OLG Hamm nicht nur für den Schwangerschaftsabbruch, sondern auch für die Heilbehandlung an, NJW 1989, 3424f 20 AG Helmstedt, ZfJ 1987, 85–86. AG Celle, a. a. O. Das LG Köln, FamRZ 1987, 207f versagt die vom minderjährigen Pflegling beantragte Ersetzung der Zustimmung zum Schwangerschaftsabbruch unter Hinweis auf den Vorrang des ungeborenen Lebens vor den Interessen des Pfleglings. Noch weiter geht das AG Dorsten, das die Einwilligung der Eltern in den Schwangerschaftsabbruch ihrer sechzehnjährigen Tochter wegen des ungeborenen Lebens als »Höchstwert« und als missbräuchliche Ausübung des Sorgerechts i. S. d. § 1666 BGB ansieht. Ähnlich das OLG Hamm NJW 1998, 3424–3425. Kaum noch nachvollziehbar befindet das LG München 1980, NJW 1980, 646, dass trotz der Fähigkeit der Minderjährigen, selbst wirksam die Einwilligung in eine Abtreibung zu erteilen, eine auf moralische Gründe gestützte Weigerung der Eltern, den Behandlungsvertrag abzuschließen, nicht missbräuchlich im Sinne des § 1666 BGB sei, vgl. hierzu die Anmerkung von Moritz, JA 1981, 187, der zutreffend anmerkt, dass im Falle der Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen eine Verweigerung des Abschlusses des zivilrechtlichen Behandlungsvertrages rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 1666 BGB ist. 21 NJW 1980, 646. 22 NJW 1998, 832 unter Berufung auf den Beschluss des LG München v. 1980. 23 AG Schlüchtern NJW 1998, 832f 24 LG München NJW 1980, 646; LG Schlüchtern NJW 1998, 832 unter Berufung auf ein bei einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten; im Ergebnis ebenso LG Berlin, FamRZ 1980, 285, 287, wo die Haltung der Eltern, aus moralischen Gründen die Einwilligung in den Schwangerschaftsabbruch zu verweigern, als beachtliche Grundhaltung bezeichnet wird, das Gericht aber darauf hinweist, dass eine solche Grundhaltung ohne elterliche Bemühungen um das Wohl des Kindes (der Schwangeren) als erstarrtes Dogma nicht maßgeblich für das Recht sein dürfe. Vgl. insoweit auch Vennemann, Anmerkung zu AG Celle v. 9.2.1987, FamRZ 1987, 1068f
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Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
3.1.2.5 Bewertung der Rechtsprechung zur Einwilligungsfähigkeit insgesamt Zusammenfassend ist mit anderen Stimmen in der Literatur25 zu folgern, das eine einheitliche Linie bei der Beschreibung der Einwilligungsfähigkeit durch die Rechtsprechung nicht festzustellen ist26. Sie scheint oftmals willkommenes Einfalltor für Billigkeitserwägungen oder sachfremde Wertungsfragen, ein Bemühen um die Konkretisierung ihrer Inhalte ist nicht erkennbar. Die Einwilligungsfähigkeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung
3.2
Die Einwilligungsfähigkeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung
3.2.1 Forschung am Menschen als Motivationsfaktor Medizin und Geisteswissenschaften haben ein Interesse an der Erforschung der Einwilligungsfähigkeit erst in jüngerer Zeit entwickelt; Anlass scheint der rapide Anstieg der Demenzerkrankungen und das Interesse ihrer Erforschung zu sein. Fremdnützige Studien sind auf eine Auswahl solcher Patienten angewiesen, die zwar unter einer Demenzerkrankung leiden, dennoch aber als einwilligungsfähig eingestuft werden können27. Neben den rechtlichen Bestimmungen fordert auch die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber Versuchen an Menschen mit geistiger Behinderung, an Kindern oder Demenzkranken die Entwicklung klarer und vor allem glaubhafter Kriterien für die Probandenauswahl28. Die ersten deutschen Studien zur Einwilligungsfähigkeit von Mayer und Baltes (1996)29 und Geiselmann und Helmchen (1994)30 wie nachfolgende interdisziplinäre und rechtsvergleichende Studien zur Einwilligungsfähigkeit dürften jedenfalls auch im massiven Interesse unterschiedlicher Disziplinen an der Erforschung von Demenzerkrankungen und der Rekrutierung der notwendigen Probandenzahlen begründet sein31. 25 Belling/Eberl/Michlik, Selbstbestimmungsrecht S. 116; Ebenso Wölk MedR 2001, 80, 81 und Neyen, passim. 26 Vgl. Amelung, ZStW 104, 535ff; angedeutet schon bei Geilen, Einwilligung und ärztliche Aufklärungspflicht S. 87. 27 Vgl. Punkt 1 des Nürnberger Codex, die §§ 40, 41 AMG sowie die Deklaration von Helsinki; Zur Problematik grundlegend: Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? 28 Vgl. die erste umfassende medizinethische Untersuchung zu Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie von Vollmann (2000), der ausschließlich die Einwilligung in die Teilnahme an Studien thematisiert und aus amerikanischer Sicht Roberts/Roberts, Psychiatric Research Ethics, Biological Psychiatry 1999, 1025–1038. 29 Mayer K./Baltes P. B. (Hrsg.). Die Berliner Altersstudie, Berlin 1996, passim. 30 Geiselmann G./Helmchen H., Med Law 1994, 177–184. 31 Vgl. Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken Forschen?, passim; Helmchen in:
Die Einwilligungsfähigkeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung
47
Einen solch engen Zusammenhang zwischen den Interessen der forschenden Medizin bzw. Pharmazie und der Hinwendung zum Thema der Einwilligungsfähigkeit beobachtet der Familienrechtler Popper auch in den USA. Die Diskussion um den informed consent in der Pädiatrie habe auch dort erst dann eingesetzt, als die öffentliche Finanzierung von Arzneimittelstudien mit Kindern und Jugendlichen durchgesetzt werden sollte. Wie die Deklaration von Helsinki fordert auch die für die öffentliche Forschungsförderung (Federal Funding) maßgebliche ›common rule‹ den Nachweis der Einwilligungsfähigkeit im Studienprotokoll32.
3.2.2 Rechtswissenschaftliche Forschung zur Einwilligungsfähigkeit und Praxis der Entscheidungsfindung Die Ratifizierung der UN-Kinderrechtsdeklaration, der einfachgesetzliche Maßnahmen nicht gefolgt sind, erscheint heute als euphemistische Proklamation33. Die Abschaffung der »elterlichen Gewalt« in den § 1626ff BGB hat sich auf die begriffliche Ebene beschränkt, und so können unter dem Deckmantel der Kindeswohl-Generalklausel tradierte Herrschaftsmuster zwischen Eltern und Kindern ungestört fortleben. Rechtsschutz für Jugendliche ist vornehmlich auf außerordentlichen Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt und als solcher unzulänglich, um das Selbstbestimmungsrecht des Jugendlichen in allen Bereichen zu garantieren34. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf wird daher von vielen angemahnt und die Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Konkretisierung von Kindesgrundrechten insbesondere im sensiblen Bereichen der medizinischen Behandlung aufgezeigt35. Schon Anfang der siebziger Jahre hatte die SPD/FDP Regierungskoalition im Vorfeld der Sorgerechtsreform dringenden Handlungsbedarf verzeichnet36. Sie sah sich zu einer Lösung jedoch außerstande37. Auch der Vorschlag zur Definition der Einwilligungsfähigkeit im Entwurf des E § 229e StGB, der den Vorschlag einer Regelung der Einwilligungsfähigkeit im 5. Strafrechtsreformgesetz vorsah und die Indikationenlösung zum Schwangerschaftsabbruch zum Gegen-
32 33 34 35 36 37
Hirnliga e. V., Forschung mit einwilligungsunfähigen Patienten S. 7; Haupt/Seeber/Jänner, Der Nervenarzt 1999, 256; vgl. auch Kröber, Rechtsmedizin 1998, 41–46; rechtsvergleichend Koch/Reiter-Theil, Informed Consent in Psychiatry, passim. DePaul L. Rev. S. 819, in Fußnote 19 m. w. N; vgl. umfassend zu rechtlichen Regularien der Forschung am Menschen in den USA: NBAC Report Bd. I und II passim. Finger, ZblJugR 1999, 451–508. Z. B. Salgo, Der Anwalt des Kindes, passim. Belling/Eberl/Michlik, passim; zum Verfahrensrecht: Salgo, Der Anwalt des Kindes S. 405ff BT-Drucks. 7/2060. BR-Drucks. 59/89 S. 229f
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Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
stand hatte, ist fallen gelassen worden38. Keine Mehrheit fand schließlich auch der letzte Versuch einer Regelung der Einwilligung in den Heileingriff (E 229 StGB) im Rahmen des 6. Strafrechtsreformgesetzes von 1997. Damit ist jeder Versuch einer auch nur partiellen Regelung der Pflichten zwischen Kind, Arzt und Eltern bis heute gescheitert. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung sieht die ärztliche Praxis so aus, dass stets die Eltern als Vertragspartner befragt werden und die Kinder in der Rolle des Objekts der Behandlung verharren. Die Abkoppelung der Einwilligungsfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit durch die Rechtsprechung im Jahr 1908, die in der Rechtswissenschaft als so bahnbrechend gefeiert worden ist, ist in der ärztlichen Praxis also noch nicht angekommen39. Vielfach ist unter Ärzten nicht bekannt, dass Einwilligungsfähigkeit nicht mit Geschäftsfähigkeit gleichzusetzen ist. »Im Gesetz gibt es eine Definition der Einwilligungsfähigkeit,« heißt es in einer jüngeren medizinischen Publikation zu dem Thema, wo die Normen zur Geschäftsfähigkeit (§§ 104ff BGB) als für die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit maßgeblich herangezogen werden40. Rechtsunsicherheit bei allen Beteiligten wegen fehlenden Wissens um die die Einwilligungsfähigkeit begründenden Faktoren ist die Folge des mangelnden Willens des Gesetzgebers, bestehende Erkenntnisse festzuschreiben. Die Rechtsunsicherheit geht vordergründig zu Lasten der Ärzte, die theoretisch wegen einer falschen Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können41. Im Ergebnis geht die Rechtsunsicherheit aber zu Lasten der Kinder und Jugendlichen, die in der Praxis regelmäßig als nicht fähig behandelt werden, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Nach wie vor gilt, worauf Uhlenbruck schon 1977 hingewiesen hat: Wenn die Ansicht von Eltern und Kind über eine Behandlung auseinander fällt, hat der Arzt zu entscheiden und muss sich unter Umständen nachträglich vom Gericht sagen lassen, dass er die Einsichtsfähigkeit und Reife eines Kindes falsch beurteilt hat42. Wegen des Prozessrisikos, dem der Arzt dann ausgesetzt ist, wenn er gegen den Willen der Eltern handelt, wird in der Praxis bis zum Alter von 18 Jahren »sicherheitshalber« lieber die Einwilligung der Eltern eingeholt43.
38 BT-Drucks. VI/3434. 39 Hartmann, a. a. O., die von einer dahingehenden herrschenden Ansicht im Zivilrecht ausgeht. 40 Stephan/Bosch/Tscherne, Der Orthopäde 2000, 282. 41 Zu derselben Schlussfolgerung kommen Belling/Eberl/Michlik u. a., S. 106, Lesch NJW 1989, 3209 und Wölk MedR 2001, 80, 81. 42 Uhlenbruck, DMW 1977, 65. 43 So auch schon Zenz, StAZ 1973, 257, 259. Ebenso für die insoweit vergleichbare englische Rechtslage Dixon-Woods et al. BMJ 1999, 778f
Die Einwilligungsfähigkeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung
49
3.2.2.1 Grundannahmen zur Einwilligungsfähigkeit, die unstreitig sind Die Vorschläge der Literatur, die Rechte Minderjähriger im Rahmen einer Heilbehandlung zu stärken, haben sich vornehmlich darauf konzentriert, das Versäumnis des Gesetzgebers, die Einwilligungsfähigkeit zu regeln, nachzuholen. Dabei besteht im juristischen Schrifttum über das Wesen der Einwilligungsfähigkeit Einigkeit nur dahingehend, dass die Einwilligungsfähigkeit weder mit der Geschäftsfähigkeit noch mit dem Begriff der Schuldfähigkeit gleichgesetzt werden kann44. Unstreitig scheint im deutschen wie im internationalen juristischen Schrifttum ferner zu sein, dass die Einwilligungsfähigkeit keine Eigenschaft einer Person ist, sondern als Voraussetzung einer autonomen Handlung in Bezug auf eine konkrete Situation verlangt werden muss45. Die gängige Praxis, die Menschen mit geistiger Behinderung, psychisch Kranken, Minderjährigen und Betreuten automatisch die Einwilligungsunfähigkeit abspricht, wird abgelehnt. 3.2.2.2 Amelungs Definition der Einwilligungsfähigkeit Die größte Beachtung unter den Arbeiten zur Einwilligungsfähigkeit hat wohl die Untersuchung Amelungs erfahren46. Als Amelungs Verdienst gilt es, dass er eine Definition der Einwilligungsfähigkeit und dabei inhaltliche Kriterien ihrer Bestimmung formuliert hat47. Von der erforderlichen kognitiven Fähigkeit, ein Rechtsgut als frei disponibel anzuerkennen und innerhalb des subjektiven Wertesystems zu gewichten, unterscheidet Amelung die Fähigkeit, entsprechend dem Ergebnis der Abwägung zu handeln. In Anlehnung an die Definition der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB spricht Amelung hier von »Steuerungsfähigkeit«. Beim Erwachsenen könne sie insbesondere bei einem krankheitsbedingten Defekt, der die Vermittlung zwischen Einsicht und Entscheidung verhindert48, etwa einer Suchtkrankheit, fehlen49. Nicht krankheits-, sondern entwicklungsbedingt könne bei Jugendlichen die Steuerungsfähigkeit insbesondere durch mangelnde Fähigkeit, dem Druck der »peer group« standzuhalten, verhindert sein50. 44 Amelung a. a. O. S. 543; Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? S. 42f; Voll S. 611ff jew. mit weiteren Nachweisen. 45 Zur medizinethischen Diskussion um »autonomous persons« und »autonomous actions« vgl. Faden/Beauchamp Kapitel 7. 46 Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit ZStW 104 (1992) S. 525–557 (Teil I) und S. 1–833 (Teil II). 47 Amelung spricht in Anschluss an Geilen (1963) S. 90 von der Einwilligung als Instrument der Interessenwahrnehmung, ZStW 104 (1992) S. 544. 48 Amelung ZStW 104 (1992) S. 556; Belling/Eberl/Michlik S. 133. 49 Vgl. BGH NJW 1988, 501, 502; NJW 1989, 2336; NStZ 1990, 384. 50 Vgl. BayObLG NJW 1999, 372–373 mit Urteilsanmerkung von Otto, JR 1999, 403.
50
Der gesetzliche Ist-Zustand: Rechte des minderjährigen Patienten de lege lata
Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat Amelung eine Formel der Einwilligungsfähigkeit erarbeitet51. Die entscheidenden Kriterien der Einwilligungsfähigkeit umschreibt er als: erstens die Fähigkeit zur vernünftigen Wertung, wobei er mit »vernünftig« keine an objektiven Wertmaßstäben messbare, sondern allein eine dem subjektiven Wertsystem kohärente Wertung meint; zweitens, soweit es um die kognitive Seite der Einwilligungsfähigkeit geht, die Fähigkeit zur Erkenntnis von Tatsachen und Kausalverläufen; drittens die Fähigkeit zur einsichtsgemäßen Selbstbestimmung. Daraus ergibt sich folgende Definition52: »Einwilligungsunfähig ist, wer wegen Minderjährigkeit, geistiger Behinderung oder geistiger Erkrankung nicht erfassen kann, welchen Wert oder welchen Rang die von der Einwilligungsentscheidung berührten Güter und Interessen für ihn haben, welche Folgen und Risiken sich aus der Einwilligungsentscheidung ergeben oder welche Mittel es zur Erreichung der mit der Einwilligung erstrebten Ziele gibt, die ihn weniger belasten. Das gleiche gilt, wenn der Minderjährige, geistig Behinderte oder geistig Erkrankte zwar die erforderliche Einsicht hat, aber nicht in der Lage ist, sich nach ihr zu bestimmen.«
Einigkeit scheint im juristischen Schrifttum darüber zu bestehen, dass eine über die von Amelung herausgearbeiteten Kriterien hinausreichende Konkretisierung einer allgemeinen Definition der klinischen Kriterien der Einwilligungsfähigkeit nicht von der Rechtswissenschaft, sondern von den Verhaltenswissenschaften geleistet werden muss, da das Recht hier an die Grenzen seiner Steuerungsfähigkeit stößt53.
51 Amelung ZStW 104 (1992) 525–558 (Teil I) und 821–850 (Teil II). 52 Ders. a. a. O. S. 558. 53 Voll S. 65 ausdrücklich in Anschluss an Amelung.
Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
4.
Modell 2: Formulierung typisierbarer Eingriffe
Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
Im Anschluss an Amelung haben auch andere Lösungsvorschläge in der Literatur die Rechtsstellung Minderjähriger durch eine nähere Konkretisierung des Begriffes der Einwilligungsfähigkeit zu stärken versucht. Die unterschiedlichen Modelle, die hierzu vorgeschlagen worden sind, werden in diesem Kapitel vorgestellt.
4.1
Modell 1: Schwere und Dringlichkeit des Eingriffs als normative Kriterien
Als entscheidendes Kriterium für die Konkretisierung der Einwilligungsfähigkeit werden von Teilen des Schrifttums in Übereinstimmung mit Teilen der Judikatur Schwere und Dringlichkeit einer medizinischen Intervention herangezogen1. Welche Auswirkungen die Dringlichkeit einer medizinischen Maßnahme auf die Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen haben soll, ist dabei aber gänzlich ungeklärt: Von der einen Seite wird dafür plädiert, bei besonders »dringend« indizierten Eingriffen sehr niedrige Anforderungen an die geforderten intellektuellen Fähigkeiten zu stellen. Schwerwiegenden Gesundheitsgefahren soll schnell begegnet werden. Von anderer Seite wird demgegenüber gefordert, bei schwerwiegenden Eingriffen – etwa einer komplikationsträchtigen Operation – besonders hohe Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit zu stellen. Die Gewichtigkeit der Rechtsgüter Leben und Gesundheit gebiete es, Gesundheitsentscheidungen von einiger Bedeutung erst dem ›reifen‹ Jugendlichen zu überlassen. Zu den entgegen gesetzten Meinungen kommen die Vertreter des DringlichkeitsArguments augenscheinlich deshalb, weil unter »Dringlichkeit« Unterschiedliches verstanden wird2.
1
2
Geilen (1963) S. 87; Neyen, S. 59; Belling/Eberl/Michlik, Selbstbestimmungsrecht S. 134 und Ulsenheimer in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard, Therapieverweigerung S. 76. Staudinger-Peschel-Gutzeit, § 1626 Rn. 95. Auf die uneinheitliche Verwendung des »Dringlichkeitsbegriffes« macht Neyen (S. 5) aufmerksam.
52
Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
4.2
Modell 2: Formulierung typisierbarer Eingriffe
Die Beschränkung des Autonomieprinzips zugunsten des Fürsorgeprinzips befürwortet, wer anhand überwiegend normativer Gesichtspunkte einzelne Konflikte zu typisieren versucht. Ulsenheimer und Deutsch etwa haben den Bereich der Fortpflanzungs- und Sexualmedizin als solche »Sonderfälle« ausgemacht3. Als typisch wird heute etwa der Konflikt der Verschreibung von Kontrazeptiva an Jugendliche beschrieben4. Die Gefahren moderner hormoneller Kontrazeptiva schätzt die Gynäkologie bei sorgfältiger Verschreibungspraxis heute als relativ gering ein. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung einschließlich des Schutzes vor ungewollter Schwangerschaft wird dagegen offenbar als so gewichtig eingestuft, dass man von einem weitgehenden gesellschaftlichen Konsens über die Lösung dieses Konflikts zugunsten der Zulässigkeit einer Verschreibung von Kontrazeptiva ausgehen kann. Das »plumpe« Institut der elterlichen Sorge könnte durch Teilmündigkeiten für typische Entscheidungssituationen generell5 wie auch für bestimmte medizinische Eingriffe ausdifferenziert werden6.
4.2.1 Gesetzlich vertypte Eingriffe Der Gedanke, für bestimmte, stets dringliche Eingriffe eine Teilmündigkeit zu schaffen, hat gesetzlichen Niederschlag in den Niederlanden und in manchen amerikanischen Staaten gefunden. In den USA wurden in manchen Staaten per Statut Teilmündigkeiten für die Drogenberatung und -therapie bzw. die Behandlung von Geschlechtskrankheiten eingeführt. Einen entsprechend typisierbaren Konflikt mit hoher gesellschaftlicher Werteübereinstimmung hat der deutsche Gesetzgeber in der Sterilisation gesehen und diese einer allgemeinen Regelung zugeführt. Die Sterilisation beseitigt die Fortpflanzungsfähigkeit, ein Rechtsgut von höchstem Verfassungsrang, dauerhaft und irreversibel. Der Vorteil eines solchen Eingriffs – Schutz vor ungewollter Schwangerschaft – kann auch durch weitaus weniger eingriffsintensive, insbesondere nur vorübergehend wirkende Maßnahmen erzielt werden. Der Gesetzgeber hat daher die Einwilligungsbefugnis für
3 4 5 6
Im Schrifttum werden diese Fälle vielfach unter dem Stichwort »Sonderfälle« diskutiert, etwa bei Neyen S. 66; Seizinger, Konflikt S. 130ff; Rouka S.ff vgl. Etwa Ulsenheimer, Rechtsfragen der Gynäkologie, passim; Deutsch, Medizinrecht Rn. 444; Seizinger, Konflikt S. 132ff Zenz, AcP 173 (1973), 527, 530. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht § 57 VII 3; ähnlich Seizinger, Konflikt S. 81, der im Ergebnis von einer Differenzierung innerhalb des Heileingriffes absieht.
Modell 2: Formulierung typisierbarer Eingriffe
53
die Sterilisation bei 18 Jahren angesetzt, § 1631c BGB7. Begründet wurde diese Vorschrift mit der Typisierbarkeit und Generalisierbarkeit des Konflikts, der stets durch weniger einschneidende Maßnahmen bis zum Volljährigkeitsalter ohne Not aufgeschoben werden kann8. Ein in ähnlicher Weise typisierbarer Konflikt liegt auch der gesetzlichen Regelung rein fremdnütziger Arzneimittelversuche in § 40 Abs. 4 AMG zugrunde. Der Wunsch, als Teilnehmer einer Studie Altruismus zu üben, ist Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit. Ihm wurde aber angesichts der Gefahren einer Arzneimittelprüfung für Leben und Gesundheit des Einzelnen so wenig Gewicht eingeräumt, dass man dieses individuelle Interesse bislang stets zurücktreten lässt. § 40 IV AMG verbietet die Teilnahme Minderjähriger an fremdnützigen Studien weitestgehend9. Ein weiteres Beispiel für ein gesetzlich vertyptes Abwägungsergebnis ist das Transplantationsgesetz. Weil die Gefahr der Einflussnahme auf die freie Willensbildung hier als hoch eingeschätzt wird, begrenzt das Transplantationsgesetz gem. § 8 Abs. 1 Nr. 1a TPG das Recht, als Lebender ein Organ zu spenden, auf volljährige und einwilligungsfähige Personen. Minderjährigen wird das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper insoweit gänzlich versagt10.
4.2.2 Weitere typische Konfliktlagen, die als Teilmündigkeiten de lege ferenda diskutiert werden Im Schrifttum hat man weitergehende gesetzliche Lösungen für bestimmte ärztliche Maßnahmen festzuschreiben versucht. Ins Auge gefasst wurden dabei neben Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch insbesondere die Drogenberatung und -therapie und die oben schon angesprochene Verordnung von Kontrazeptiva. Diskutiert wurde auch, ob es einer besonderen Regelung im Falle der Behandlung maligner Erkrankungen bedürfe11.
7
Zur Entwicklung des Rechts der Sterilisation erwachsener geistig Behinderter, insbesondere des geltenden § 1905 BGB, vgl. Voll, Einwilligung S. 179ff 8 Zur Gesetzgebungsgeschichte zur freiwilligen Sterilisation etwa Seizinger, Konflikt S. 144ff 9 Begrenzte Ausnahmen macht § 40 IV für die Prüfung von Diagnostika und Vorsorgemitteln in Hinblick auf das Allgemeininteresse an der Impfung von Kindern. 10 So bereits vor Verabschiedung des TPG: Voll, Die Einwilligung S. 236ff mit einem Überblick über die damalige Diskussion um eine niedrigere Altersstufe; ebenso Seizinger, Konflikt S. 152. 11 Rosato, The Ultimate Test for Autonomy, Rutgers Law Review 1996, 1–102.; Dierks/Graf Baumann/Lenard (Hrsg.), Therapieverweigerung, passim.
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Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
4.2.2.1 Kastration und Sterilisation Anlass, bei der Entscheidung über einen ärztlichen Eingriff zur Herbeiführung der dauernden Unfruchtbarkeit über ein über der Volljährigkeitsgrenze liegendes Mindestalter von 25 Jahren nachzudenken, gibt die unterschiedliche Altersregelung in §§ 1631c, 1905 BGB gegenüber den §§ 1ff KastrationsG. Diese betreuungsrechtlichen Vorschriften sehen für die Sterilisation die 18-Jahresgrenze vor. Nach den öffentlichrechtlichen Bestimmungen über die Kastration des Mannes (Kastrationsgesetz) gilt als Mindestalter für die Zulässigkeit eines solchen Eingriffes die 25-Jahresgrenze. Der Regierungsentwurf zum 5. Strafrechtsreformgesetz wollte diese schwer erklärbare Ungleichbehandlung beheben. Auch die Sterilisation auf zivilrechtlicher Grundlage sollte erst ab Vollendung des 25. Lebensjahres zulässig sein (§ 226b I des RegE)12. Zur Begründung einer solchen »Teilunmündigkeit für Erwachsene«13 wurden nicht Drittinteressen angeführt, etwa bevölkerungspolitische oder sexualpädagogische Interessen der Gemeinschaft14, vielmehr wird die 25-Jahresgrenze unmittelbar aus mangelnder Reife zum endgültigen Verzicht auf Elternschaft abgeleitet. Regelmäßig könne erst wer 25 Jahre alt sei die Tragweite seiner Entscheidung über die dauernde Unfruchtbarkeit übersehen. Dabei wird in der Begründung zum Regierungsentwurf davon ausgegangen, dass »freilich« auch »junge Menschen von wenig mehr als 25 Jahren in der Mehrzahl der Fälle noch nicht zu ermessen [imstande seien], welche Erlebnisgehalte die Elternschaft zu vermitteln« vermöge; die»Bedeutung von Kindern für die Ehe wird ihnen vielfach noch nicht voll bewusst sein«, heißt es in der Begründung zum Regierungsentwurf15. 4.2.2.2 Schwangerschaftsabbruch Der Regierungsentwurf zum 5. Strafrechtsreformgesetz, dessen zentrales Ziel die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches war, sah in E § 219e eine »Teilmündigkeit« für die Einwilligung in den Schwangerschaftsabbruch vor. Aufgrund des »höchstpersönlichen Charakter[s] der Entscheidung« sollten nicht die Eltern, sondern allein die Schwangere in die Schwangerschaftsunterbrechung einwilligen können, sobald die Schwangere das 16. Lebensjahr vollendet habe16. Eine »echte Teilmündigkeit« der über 16-Jährigen sollte hier jedoch nicht geschaffen werden, denn auch von über 16-Jährigen sollte der positive Nachweis der Einwilligungsfähigkeit
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BT-Drucks. VI/3434. Lenckner in: Eser/Hirsch (Hrsg.), Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch S. 188f So aber Lenckner in: Eser/Hirsch (Hrsg.), Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch S. 188f kritisch Lenckner in: Eser/Koch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch S. 188. BT-Drucks. VI/3434.
Modell 2: Formulierung typisierbarer Eingriffe
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verlangt werden. Letztlich ging es in dem Entwurf darum, ein etwaiges kumulatives Einwilligungsrecht der Eltern ab dem Alter von 16 Jahren auszuschließen17. Der Vorschlag des Juristinnenbundes zur Einwilligungsbefugnis einer Minderjährigen in den Heileingriff geht weit über den Entwurf zum 5. Strafrechtsreformgesetzes hinaus. Der Juristinnenbund will dem Willen der Schwangeren unabhängig von tatsächlicher Einwilligungsfähigkeit Vorrang vor den Interessen Dritter einräumen. Sowohl die Zwangsschwangerschaft als auch die Abtreibung gegen den natürlichen Willen der Schwangeren werden dabei als so erhebliche Eingriffe in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit, das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde bewertet, dass generell kein Überwiegen anderer Interessen denkbar sei. Die Autorinnen des Alternativentwurfes zu § 1626a des Regierungsentwurfes wollen daher für die Einwilligung in eine Schwangerschaftsunterbrechung die Einwilligungsfähigkeit generell gesetzlich vermutet wissen18. Lenckner hat ähnliche Erwägungen angeführt, um ein Vetorecht der Schwangeren gegen den zwangsweisen Abbruch einer Schwangerschaft zu begründen. Zur rechtlich wirksamen Ablehnung eines Schwangerschaftsabbruchs, in den die Eltern eingewilligt haben, solle »Teileinsichtsfähigkeit« genügen. Diese unterscheide sich von der »vollen Einsichtsfähigkeit« dadurch, dass die Schwangere lediglich »eine gewisse Vorstellung von den ihr bei einer Nichtvornahme des Eingriffes drohenden Gefahren und Belastungen« habe19. Warum eine in diesem Sinne »nicht (voll) einsichtsfähige Frau« dann nicht auch das Recht haben soll, die Fortführung einer Schwangerschaft abzulehnen, bleibt bei Lenckner offen.
4.2.2.3 Verordnung von Kontrazeptiva Weil junge Frauen die Verordnung der »Pille« regelmäßig nicht erst ab dem Alter von 18 Jahren wünschen, betrifft die Problematik der Einwilligungsfähigkeit im Besonderen die Gynäkologie. In Frankreich, wo das Recht des Minderjährigen, in einen Heileingriff einzuwilligen, denselben Grundsätzen folgt wie in Deutschland, bildet die Verordnung von Ovulationshemmern die einzige anerkannte »Teilmündigkeit« im Bereich der Gesundheitsvorsorge. Jugendliche ab 14 Jahren haben dort freien Zugang zu Kontrazeptiva. Auch andernorts in Europa scheint der Respekt vor Geheimhaltungsinteresse und sexueller Selbstbestimmung heute so hoch bewertet zu werden, dass die körperlichen Risiken hormoneller Kontrazeptiva als vernachlässigbar eingeschätzt werden, so dass man sich überwiegend 17 Vgl. Seizinger, Konflikt S. 140ff, der den Entwurf hinsichtlich der Herabsenkung der 16-Jahresgrenze stützt, allerdings die kumulative Entscheidungsregelung für unter 16 Jähriger kritisiert 18 E §1628 Abs. II S. 1, abgedruckt in: Neues elterliches Sorgerecht S. 14 sowie hier im Anhang. 19 Lenckner in: Eser/Koch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch S. 178ff
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Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
an der Altersgrenze von 14 Jahren orientiert20. Dem stimmt Voll unter der praktischen Erwägung zu, es sei blauäugig zu glauben, Jugendliche könnten sich durch ein Verbot der »Pille« von Sexualkontakten abhalten lassen21. 4.2.2.4 HIV-Test und ähnliche Konfliktlagen Einen ähnlich durch das Geheimhaltungsinteresse des Jugendlichen geprägten Konflikt stellt die Frage dar, inwieweit Minderjährigen das Recht zugesichert werden soll, in einen HIV-Test einzuwilligen. Die Blutabnahme ist viel bemühtes Beispiel für einen Eingriff, der so geringfügig sei, dass für die Bejahung der Einwilligungsfähigkeit kaum Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes zu stellen seien. Beim beabsichtigten HIV-Test erweist sich dieselbe medizinische Maßnahme aber plötzlich als alles andere als harmlos. Die Einsicht, dass hier die psychosozialen Risiken, der mögliche »soziale Tod«22 der Offenbarung einer HIV–Infektion die Anforderungen an die erforderliche Reife des Jugendlichen mitbestimmen müssen, hat sich schnell durchgesetzt23. Die Entscheidung über die Durchführung eines HIV-Tests wird damit so komplex, dass man kaum davon ausgehen kann, ein Erwachsener, geschweige denn ein unter 18-Jähriger, könne sie in vollem Umfang überschauen. Gegen die Schlussfolgerung von Bruns24, der HIV-Test bedürfe daher stets der Einwilligung der Eltern, wird aber mit guten Gründen eingewandt, dass der Schutz des Geheimhaltungsinteresses im Falle einer HIV-Infektion auch gegenüber den Eltern grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass infizierte Jugendliche behandelt werden können. Den geheimen HIV-Test nicht zuzulassen, sei ein »gesundheitspolitisch untragbares Risiko.«25 Der Schutz des Einzelnen wie der Allgemeinheit muss hier als so gewichtig angesehen werden, dass Neyens Forderung nach niedrigen Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit hier nahe liegt. Von einem Konsens über die Gewichtung der durch den HIV-Test und von der Offenbarung betroffenen Rechtsgüter wird man aber derzeit aber kaum sprechen können26.
20 Seizinger, Konflikt S. 132; Ulsenheimer, Rechtliche Probleme in Gynäkologie und Geburtshilfe S. 132f; Deutsch, Medizinrecht Rn. 44; Voll, Einwilligung S. 72; Gernhuber/Coester-Waljen § 57 VII 3; Deutsch, Medizinrecht Rn. 444. 21 Voll, Einwilligung S. 70. 22 Neyen, S. 66. 23 Dargel, NStZ 1989, 208; Bruns, MDR 1989, 298; Neyen, S. 66ff; a. A. Lesch NJW 1989, 2311f; 24 MDR 1989, 298. 25 Neyen, S. 67. 26 Neyen, S. 66, 68.
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Prinzip der ärztlichen Fürsorge als Rechtfertigungsgrund
4.2.2.5 Drogenberatung Ähnliche gesundheitspolitische Erwägungen werden angestellt, wenn eine allgemein verbindliche Sonderregelung für die Einwilligung in Drogenberatung und Sucht-Therapie erwogen wird. Danach soll eine besondere Teilmündigkeit für die Drogenberatung und -therapie etabliert werden bzw. das Erfordernis der Einwilligung ganz entfallen27. Hier scheint, ähnlich wie bei sexualmedizinischer Behandlung, Konsens über eine Einschränkung der elterlichen Personensorge herstellbar zu sein, nachdem der Schutz des Geheimhaltungsinteresses jugendlicher Suchtgefährdeter typischerweise die Aufnahme einer erforderlichen Therapie bedingt28.
Prinzip der ärztlichen Fürsorge als Rechtfertigungsgrund
4.3
Prinzip der ärztlichen Fürsorge als Rechtfertigungsgrund für einen Heileingriff am Minderjährigen
In Fortführung des Gedankens, das Autonomieprinzip dort in den Hintergrund treten zu lassen, wo offensichtlicher gesellschaftlicher Konsens über die abzuwägenden Rechtsgüter besteht, hat man für die Heilbehandlung Minderjähriger ganz generell erwogen, die Rechtmäßigkeit der ärztlichen Behandlung Minderjähriger allein mit ärztlichen Rat zu begründen.
4.3.1 Die Vorüberlegungen Geilens Geilen hatte diesen Weg bereits vorgezeichnet, als er die Forderung aufstellte, im Falle dringender Indikation nur sehr geringe Anforderungen an die intellektuellen Fähigkeiten minderjähriger Patienten zu stellen. Weil beim Heileingriff das Interesse an der Gesundheit eigentlich gar nicht Preis gegeben werde, bedürfe der Heileingriff keiner Rechtfertigung durch das Autonomieprinzip.
4.3.2 Der Vorschlag des Juristinnenbundes Deutlicher noch als der Regierungsentwurf hat sich der Juristinnenbund in seinem Reformvorschlag zur elterlichen Sorge in § E 1628 I dafür ausgesprochen, die Rechtmäßigkeit der Heilbehandlung Minderjähriger ab 14 Jahren generell davon abhängig zu machen, ob sie aus ärztlicher Sicht indiziert sei oder aufge27 Vgl. Zenz, StAZ 1973, 257, 260, deren Vorschlag im Entwurf des Juristinnenbundes aufgegriffen wurde. 28 So schon Seizinger, Konflikt S. 156ff
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Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
schoben werden könne. Auf der Grundlage ärztlichen Rates sollen Minderjährige ab 14 Jahren – ohne das Erfordernis des Nachweises der Einwilligungsfähigkeit im konkreten Fall – eine Behandlung selbstständig aufnehmen können (§ E 1628 Abs. 3). Der Inhalt der Entscheidung, insbesondere die Modalitäten eines Heileingriffes, sollen nun vom Arzt festgelegt werden. Der Jugendliche müsse nur noch »ja« sagen. Gesetzlich verwirklicht ist ein Regelungsmodell, wie es der Juristinnenbund vorgeschlagen hat, in den Niederlanden29 und in Österreich30.
4.4
Modell der gesetzlich festgelegten Altersgrenzen
Mit Rücksicht auf die Interessen des Rechtsverkehrs, d. h. das Interesse an Rechtssicherheit, wird immer auch diskutiert, ob nicht – wie in so vielen anderen Teilmündigkeitsbereichen auch – das Lebensalter des Kindes für die Vermutung der Einwilligungsfähigkeit herangezogen werden soll31. Der Anspruch an die Einzelfallentscheidung entziehe sich einer praktikablen Regelungsmöglichkeit, so das Hauptargument. In der Literatur setzt sich neuerdings insbesondere der Zivilrechtslehrer Lipp für eine den §§ 104ff BGB (Geschäftsfähigkeit) nachgebildete feste Altersgrenze ein32. Weil außer Zweifel stehe, dass das Recht Ärzten irgendeine Handlungsanweisung geben müsse, biete es sich an, wie auch in anderen Bereichen der Rechtsordnung auf das Lebensalter zurück zu greifen. Und da letztlich jede Altersgrenze willkürlich sei, könne es auch bei der 18-Jahres-Grenze bleiben.33 Auch andere Autoren vertreten mit ähnlichem Argument eine Orientierung am Lebensalter.. Meist wird eine starre Altersgrenze (18, 16 oder 14 Jahre) der zwingenden Annahme der EWF zugeordnet. Diskutiert wird auch ein Stufenmodell. Dies sieht – ähnlich der österreichischen Rechtslage34 – Untergrenzen und Obergrenzen für die zwingende Vermutung der Einwilligungs(un)fähigkeit vor.
29 Art. 450.2., Satz 2 WBGO: In eine – aus medizinischer Sicht dringend indizierte – Behandlung können Kinder damit schon ab 12 Jahren selbstständig einwilligen bzw. dieser zustimmen. Nach Art. 447.1. wird die Einwilligungsfähigkeit des Jugendlichen ab 16 Jahren zwingend vermutet. Bei Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren soll neben der Einwilligung des einwilligungsfähigen Jugendlichen kumulativ die Einwilligung der Eltern für eine Behandlung erforderlich sein. 30 VGl. hierzu Kopetzki (Hrsg.) Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, passim. 31 Vgl. Seizinger, Konflikt S. 31; Zenz, StAZ 1973, 257f 32 Vgl. Seizinger, Konflikt S. 31; Zenz, StAZ 1973, 257f 33 Vgl. Lipp S. 35ff 34 Vgl. Kopetzki, Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, passim.
Modell der gesetzlich festgelegten Altersgrenzen
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4.4.1 Feste Altersgrenzen Das einfachste Modell sieht eine feste Altersgrenze vor, ab welcher zwingend die Einwilligungsfähigkeit vermutet werden soll. Unterhalb dieser Grenze soll zwingend von Einwilligungsunfähigkeit ausgegangen werden. Das entspricht der Rechtslage in Deutschland vor 1908, die als solch klare Altersgrenze die Geschäftsfähigkeit vorsah. Ihre bestechende Klarheit veranlasst einige wenige Zivilrechtswissenschaftler dazu, an der 18-Jahresgrenze, d. h. der Geschäftsfähigkeitgrenze, festzuhalten. Sie halten es für vertretbar, die mit einer unwiderlegbaren Vermutung einhergehende Diskriminierung einwilligungsfähiger Minderjähriger zu vernachlässigen35. Ausdrücklich schlägt Rouka dieses einfache Modell vor. Dabei will sie den gesetzlich bestimmten Übergang von Einwilligungsunfähigkeit zu Einwilligungsfähigkeit nicht bei der Volljährigkeit, sondern bei der Vollendung des 16. Lebensjahres angesetzt wissen36.
4.4.2 Altersstufen als Unter- und Obergrenze Mit dem Lebensalter als unwiderlegliche Vermutung wird häufiger nicht die Idee einer trennscharfen Linie zwischen fehlender und vorhandener Einwilligungsfähigkeit verbunden. Altersstufen sollen nach manchen Vorschlägen im Sinne eines 3-Stufenmodelles angeordnet werden. Bei der untersten Stufe sei die Einwilligungsfähigkeit zwingend zu verneinen, bei der obersten hingegen zwingend zu vermuten. Allein in einem näher definierten Zwischenbereich komme es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entsprechend lautete der schon erwähnte Regierungsentwurf zu § 1626a BGB37. Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Einwilligung in den Heileingriff bei Minderjährigen allgemein anerkannt. Das Projekt der Sorgerechtsreform bot Gelegenheit, dem nachzukommen, nachdem sich die Bemühungen des Gesetzgebers anlässlich des 5. Strafrechtsreformgesetzes auf die Indikationenlösung beim Schwangerschaftsabbruch beschränkt hatten38. Damit haben § 1626a des Referentenentwurfs39, § 1626a des Regierungsentwurfs40 sowie § 1628 des Alternativentwurfs 35 Gitter im MünchKomm 3. Aufl. vor § 104 Rn. 89; Kothe, AcP 185 (1985) 105, 143ff 36 Das Selbstbestimmungsrecht, passim. Zur strikten Altersgrenze bei 18 Jahren neuerdings wieder Pawlowski, FS Hagen S. 5ff sowie ihm folgend Lipp und Taupitz, dazu untern unter dem Punkt »Kumulationslösung«. 37 BT-Drucks. 7/2060. 38 So die ausdrückliche Begründung, BT Drucks. 6/3434. 39 DAVorm 1973, 3ff 40 BT-Drucks. 7/2060.
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Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
des Juristinnenbundes41 die erste intensive Debatte um eine gesetzliche Neuregelung der Einwilligung in den Heileingriff beim Minderjährigen ausgelöst. Kindern und Jugendlichen, die von Zuhause getrennt lebten, dürfe – so der Grundtenor – der Zugang zu indizierter medizinischer Behandlung nicht erschwert werden42. Deshalb wird für die Annahme von Einwilligungsfähigkeit eine Untergrenze von 14 Jahren angesetzt. Unterhalb dieser Grenze sei zwingend von Einwilligungsunfähigkeit auszugehen. Als leitender Gesichtspunkt für die Wahl der 14-Jahresgrenze nennt die Begründung hierbei nicht entwicklungspsychologische Erkenntnisse, sondern andere Teilmündigkeitsregelungen, die das Alter von 14 Jahren enthalten. Gedacht war etwa an § 5 des Gesetzes über die religiöse Erziehung in Verbindung mit§ 59 FGG, wonach ein Kind, welches das 14. Lebensjahr vollendet hat, nur selbst seinen religiösen Glauben bezeugen kann.
4.4.2.1 Die Überlegungen von Seizinger Die Analogie zum Gesetz über die religiöse Erziehung hat im Schrifttum erhebliche Kritik hervorgerufen43. Seizinger unterstützt zwar die Forderung nach einer festen Altersgrenze. Das Alter von 14 Jahren hält er jedoch, wie ihm folgend später auch Rouka44, auch wenn es als Untergrenze nur Indizwirkung haben soll45, für zu niedrig. Insbesondere die hier postulierte Entwicklungskrise der Pubertät hindere den 14-jährigen regelmäßig an scharfem und logischem Denken. Als sachgerechtes Kriterium biete sich eher das 16. Lebensjahr an46.
4.4.2.2 Die Überlegungen von Neyen In seiner Auseinandersetzung mit § 1626a des Regierungsentwurfs und den Ausführungen von Seizinger entscheidet sich auch Neyen in seiner 1990 erschienenen Monografie über die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht für das Modell einer Altersuntergrenze. Die Altersgrenzen sollen dabei im Sinne zwingender Vermutungen zu verstehen sein. Neyen wendet sich unter Hinweis auf die Verschiedenartigkeit all dessen, was unter den Begriff des ärztlichen Heileingriffes fällt, gegen ein starre Altershürde im Sinne des Vorschlags Roukas. Er will aber um der 41 42 43 44 45
Juristinnenbund (Hrsg.) Neues elterliches Sorgerecht. BT-Drucks. 7/2060. Etwa Seizinger, Konflikt S. 89. Vgl. oben unter a. Neben dem Alter von mindestens 14 Jahren verlangt der Entwurf zusätzlich, dass es fähig ist, Grund und Bedeutung der Heilbehandlung einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen. 46 Seizinger, Konflikt S. 98.
Modell der gesetzlich festgelegten Altersgrenzen
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Rechtssicherheit willen eine starre Untergrenze für die Annahme von Einwilligungsfähigkeit annehmen. Weil er das Kriterium der Schwere des Eingriffes für objektivierbar und für den Arzt wohl auch handhabbar hält47, erhebt er diesen Aspekt zum entscheidenden Gesichtspunkt bei der Suche nach einer angemessenen Alters-Untergrenze. Angesichts der Vielzahl relativ unproblematischer Behandlungssituationen überspanne eine starre Untergrenze von 16 Jahren offensichtlich die Anforderungen an die Selbstbestimmungsfähigkeit48. Unter Berufung auf Eberbach, Kern/Laufs und Tempel_49, die schon zuvor auf die Einsichtsfähigkeit recht junger Kinder bei harmlosen Eingriffen hingewiesen hatten, schließt Neyen sich dem Regierungsentwurf zu § 1626a an und kommt zur 14Jahresgrenze zurück.
4.4.2.3 Die Überlegungen von Taupitz Neuerdings schlägt Taupitz in seinem Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag50 eine gesetzliche Fixierung der Einwilligungsfähigkeit bei 14 Jahren vor. Er orientiert sich dabei am schon erwähnten österreichischen Regierungsentwurf zum Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz aus dem Jahr 2000/2001. Bei über 14-Jährigen soll im Zweifel die Einwilligungsfähigkeit gesetzlich vermutet werden. In Anschluss an die Ausführungen von Lipp51 diskutiert Taupitz eine gesetzlich fixierte Teilmündigkeit, die er im Unterschied zu Lipp aber nicht erst bei 18 Jahren ansetzen will. Aus § 5 des Gesetzes über die religiöse Erziehung und dem Recht des 14-Jährigen zum Widerruf der Adoption nach § 1746 II BGB sei eine im deutschen Zivilrecht generell geltende Entscheidung für die Zuerkennung von Alleinentscheidungsbefugnissen in persönlichen Belangen abzuleiten, die bei 14 Jahren liege. Daraus sei zu folgern, dass diese Altersgrenze auch für die Einwilligung in höchstpersönliche Rechtsgüter wie die Körperintegrität heranzuziehen sei52. Nachfolgend betont Taupitz dann jedoch im Widerspruch zu seinen vorhergehenden Überlegungen, dass die dringende Notwendigkeit der Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit im Einzelfall »von medizinischer Seite aus« zu geschehen habe. Er wendet sich ausdrücklich gegen eine feste Altersgrenze. Die Altersgrenze von 14 Jahren soll im Ergebnis so zu verstehen sein, dass die durchschnittliche 47 Inwieweit Regelbeispiele in einer gesetzlichen Regelung zur Objektivierbarkeit des SchwereKriteriums beitragen sollen oder dieses sich durch Richterrecht herausbilden soll, bleibt offen. 48 Neyen S. 62. 49 MedR 86, 58; Kern/Laufs S. 29; Tempel NJW 1980, 614 50 Gutachten A. und S. 60, 61 und 126 (Thesen). 51 Freiheit und Fürsorge S. 82ff 52 Zustimmend Spickhof, NJW 2000, 2298, 2299, der auf eine entsprechende Tendenz im IPR hinweist, selbst aber die Altersgrenze bloß als Richtwert verstanden wissen will.
62
Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
Reife eines 14-Jährigen dem Arzt für seine individuelle Bewertung dienen solle. Taupitz meint, gegenüber einer festen Altersgrenze habe sein Vorschlag den Vorteil, dass er »doch immerhin (rechtssicherer als die bisher gängige Auffassung) das Ausmaß der jeweils geforderten Fähigkeiten kennzeichnet«53.
4.5
Das Lebensalter als bloße Richtlinie für die ärztliche wie für die richterliche Entscheidungsfindung
Anders als Taupitz, der die gesetzliche Fixierung eines Altersmaßstabes de lege ferenda fordert, wird im juristischen Schrifttum häufig davon ausgegangen, ein Maßstab im Sinne eines bestimmten Lebensalters für die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit könne sich auch ohne gesetzliche Regelung als Standard der Praxis herausbilden.Unterschiedliche Autoren gehen, orientiert an den Daten der empirischen Entwicklungspsychologie, von einem Alter von 14 Jahren aus54. Als »Faustregel« empfiehlt Koch55, noch nicht 14-jährige als einwilligungsunfähig und damit vertretungsbedürftig, Volljährige demgegenüber »auch als einwilligungsfähig« anzusehen. Ulsenheimer führt aus, Kinder unter 14 Jahren seien »wohl nie einwilligungsfähig«56. Wieder ohne Begründung nennen andere hier das Alter von 9 Jahren57. Ulsenheimer empfiehlt im Handbuch des Arztrechtes, dass der Arzt sich »bei Jugendlichen ab etwa 15 Jahren auch seiner Einwilligung vergewissern sollte.«58 Laufs59 und Steffen/Dressler gehen davon aus, dass unter 18-jährige »in der Regel« nicht einwilligungsfähig seien60.
53 Gutachten A 63. DJT S. 61. 54 Ulsenheimer in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard (Hrsg.), Therapieverweigerung S. 76; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts § 139 Rn. 29; Deutsch, Medizinrecht Rn. 444; Belling/Eberl/Michlik S. 108; Kern NJW 1994, 754, 755; Tempel, NJW 1980, 609, 614; Halsband, in: Kruse/Oehmichen (Hrsg.) Rechtsfragen der Kinderheilkunde S. 55; Neyen S. 65 schwankt zwischen dem Alter von 12 und 14 Jahren als Untergrenze; für den 14-JahresRichtwert neuerdings auch Spickhoff, NJW 2000, 2298, 2300; ebenso wohl Prinz von Sachsen-Gessaphe, Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter S. 333f 55 Lexikon Medizin, Ethik, Recht S. 603. 56 In Dierks/Graf-Baumann/Lenard (Hrsg.), Therapieverweigerung S. 76. 57 Oehmichen/Schmidt, Arztrecht in der Kinderheilkunde in: Rechtsfragen in der Kinderheilkunde S. 10. 58 § 139 Rn. 30. 59 Arztrecht Rn. 222. 60 Rn. 432.
Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind
63
Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind
4.6
Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind
Einige Autoren favorisieren ein Modell, wonach es eine mittlere Altersstufe einer ›partiellen Einwilligungsfähigkeit‹ geben soll. Diese soll durch gemeinsame Verantwortlichkeit von Eltern und Kind geprägt sein. Das Zusammenwirken von Eltern und Kind kann dabei kumulativ oder alternativ gedacht werden.
4.6.1 Alternatives Handeln von Eltern oder Kind Eine alternative Zustimmungsbefugnis von Kind oder Eltern sieht schon der Regierungsentwurf zu § 1626a BGB vor. Er will einwilligungsfähigen Jugendlichen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, zwar die Einwilligungsbefugnis zubilligen; gleichzeitig aber wird in Satz 2 die Befugnis der Eltern, die Einwilligung in die Heilbehandlung des Minderjährigen zu erteilen, unberührt gelassen. Ähnlich lautet § 1628 II des Entwurfs des Juristinnenbundes61. Grundsätzlich geht der Entwurf davon aus, dass ab dem Alter von 16 Jahren ein Jugendlicher die Einwilligung nur selbstständig erteilen könne. Eine gesetzliche Fixierung der Grenzen der elterlichen Entscheidungskompetenz sei, so Coester-Waltjen62, schon aufgrund der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes aus Rechtsicherheitsgründen unerlässlich. Im Alter von 14 bis 16 Jahren sollten Jugendliche stets in eine Behandlung einwilligen können. Auch hier solle allerdings die daneben bestehende Möglichkeit der Eltern, die Einwilligung zu erteilen, unberührt bleiben. Vom 14. bis zum 16. Lebensjahr eines Jugendlichen wären danach Kind und Eltern alternativ entscheidungsbefugt.
4.6.2 Das kumulative Einwilligungserfordernis Die Kumulationslösung wurde Ende der Siebziger Jahre in Zusammenhang mit den Vorschlägen des Juristinnenbundes vorgetragen.
61 Siehe Anhang und Juristinnenbund (Hrsg.) Neues elterliches Sorgerecht. 62 Stellungnahmen zum E 1626a in: Juristinnenbund (Hrsg.), Neues elterliches Sorgerecht S. 80.
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Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
4.6.2.1 Der Vorschlag Jägers und Kochs Gegen die Lösung des Juristinnenbundes wendet sich insbesondere Jäger63. Sie fordert statt einer alternativen Entscheidungszuständigkeit die kumulative Einwilligung von Eltern und Kindern über 14 Jahren64. Die »doppelte Einwilligung,« das heißt immer auch die Einwilligung der Eltern, sei gerade bei besonders schwerwiegenden Krankheiten wie Drogen- und Alkoholabhängigkeit erforderlich. Die alleinige Einwilligung des Jugendlichen könne allein dann als hinreichend betrachtet werden, wenn nachweislich die Gesundheit des Jugendlichen in erheblichem Maße gefährdet wäre.
4.6.2.2 Die Lösung Eberbachs Ähnlich ist die Ansicht Eberbachs65, der die Einwilligungsfähigkeit des Kindes grundsätzlich schon bei 12 Jahren vermutet. Wie Jäger fordert er für den Regelfall neben der Einwilligung des Kindes »sicherheitshalber« aber die kumulative Einwilligung der Eltern. Von diesem Grundsatz macht er zwei Ausnahmen: In geringfügige Eingriffe soll auch der unter 7-jährige einwilligen können. Bei »Bagatelleingriffen«66, d. h. geringfügigen und deutlich indizierten Eingriffen – als Beispiel nennt Eberbach die Grippeschutzimpfung oder die Einnahme eines risikoarmen Erkältungsmedikaments – wird die alleinige Einwilligung des Minderjährigen, egal welchen Alters, für ausreichend gehalten. Ab dem Alter von 16 Jahren soll dies für alle Eingriffe gelten.
4.6.2.3 Entsprechende Vorschläge im jüngeren zivilrechtlichen Schrifttum Die Kumulations-Lösung scheint sich unerwarteter Beliebtheit im neueren zivilrechtlichen Schrifttum zu erfreuen. Pawlowski will die Einwilligungskompetenz der Eltern unangetastet lassen, bis das Kind das Alter von 18 Jahren erreicht hat. Ein »Eingriff« in das elterliche Sorgerecht könne aus Gründen der Gewaltenteilung so lange nicht geduldet werden, bis der Gesetzgeber eine Teilmündigkeit geschaffen habe67. 63 Mitbestimmungsrechte S. 146, unter Berufung auf Lüderitz, AcP 178 (1978) , 236, 277. 64 Ebenso Bosch, FamRZ 1959, 203 und Schwalm, »Thesen zu juristisch-medizinischen Fragen der Strafrechtsreform v. 2 11.08.19568« im BT-Sonderausschuss, der für über 14-jährige jedoch noch eine Prüfung ihrer tatsächlichen Einwilligungsfähigkeit vorsieht. Für die kumulative Einwilligung von Eltern und Kind auch Zenz, StA 1973, 25. 65 MedR 1986, 14f 66 Eberbach, MedR 1986 S. 15. 67 In: FS für Hagen, S. 5ff
Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind
65
Im Anschluss an Pawlowskis Lösung meint auch Lipp, die Kumulationslösung müsse in Rechtsprechung wie Literatur langsam an Boden gewinnen68. Anders als bei Pawlowski steht für ihn aber nicht die Beachtung des grundrechtlichen Parlamentsvorbehalts, d. h. der Gewaltenteilungsgrundsatz im Vordergrund. Lipp spricht sich auch de lege ferenda für das Fortbestehen der elterlichen Entscheidungsbefugnis bis zur Volljährigkeit des Kindes aus, weil er von der tatsächlichen Schutzbedürftigkeit des Menschen bis zum Alter von 18 Jahren überzeugt ist69. Unklar bleibt bei all den Autoren, die sich für eine kumulative Einwilligungsbefugnis von Kind und Eltern aussprechen, was bei notwendiger »doppelter« Einwilligung gelten soll, wenn der Jugendliche seine Einwilligung verweigert, d. h., wenn zwischen Eltern und Kind ein Meinungskonflikt besteht. Erforderlich wäre ein gerichtliches Verfahren für Meinungsstreitigkeiten70, wenn nicht von vornherein entweder den Eltern oder dem Kind ein Letztentscheidungs- und damit wieder Alleinentscheidungsrecht eingeräumt wird71. Koch bzw. Eser/Koch scheinen neben Spickhoff die einzigen zu sein, die sich über mögliche Konflikte zwischen Eltern und Kind Gedanken gemacht haben. Grundsätzlich soll ihrer Ansicht nach den Eltern wohl stets ein Informations- und Vetorecht und damit ein Alleinentscheidungsrecht verbleiben72. Dort allerdings, wo »aus triftigen Gründen eine gemeinsame Entscheidungsfindung schon als Verfahrensweise nicht möglich« erscheine, solle es aber beim Alleinentscheidungsrecht des unmittelbar betroffenen einwilligungsfähigen Minderjährige bleiben. Dabei denkt Koch an eine Entscheidung über die Fortpflanzung oder den Abbruch einer Schwangerschaft bei »erheblich gestörtem Eltern-Kind-Verhältnis.« Ob aber immer schon dann, wenn Eltern und Kind unterschiedlicher Ansicht sind, von einem hinreichen »gestörten Eltern-Kind-Verhältnis« auszugehen ist und was andernfalls im Konfliktfall gelten soll, bleibt auch bei Koch offen.
68 Freiheit und Fürsorge S. 34f unter Verweis etwa auf Jäger S. 144ff, Lüderitz, AcP 178 (1978), 277f; Pawlowski, FS Hagen 17ff und Flume A. T. II, 3. Aufl. § 13, 11 (219f) und Medicus AT, 7. Aufl. Rn. 201; Anderer Ansicht jedenfalls für die Rechtslage de lege lata Spickhoff, NJW 2000, 2297, 2300, der eine Einbeziehung der Eltern jedoch de lege ferenda als denkbar andiskutiert. 69 Freiheit und Fürsorge S. 29ff 70 Hierfür Zenz, StAZ 1973, 257ff 71 So wohl Eberbach, MedR 1986, 14ff 72 Eser /Koch in: Huber, Alfons/Hiersche, Hans-Dieter (Hrsg.) Praxis der Gynäkologie. Aufl. 1987 S. 21. Kritisch Ulsenheimer in: Dierks/ Graf-Baumann/Lenard (Hrsg.), Therapieverweigerung S. 91., der diesen Vorschlag als inkonsequent bewertet.
66
Bisherige Verbesserungsvorschläge aus der Rechtswissenschaft
4.6.2.4 Der Vorschlag von Lüderitz Mit »Freiheit wagen, aber nicht als unwiderruflich« bezeichnet Lüderitz73 den Kern elterlicher Erziehung und Verantwortung. Er schlägt deshalb eine Regelung nach dem Beispiel des § 36 Abs. 2 SGB I vor: Dem Jugendlichen soll ab einem bestimmten – hier nicht näher konkretisierten – Alter die Möglichkeit eingeräumt werden, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Den Eltern müsse jedoch analog § 36 Abs. 2 SGB I das Recht eingeräumt bleiben, Behandlungsentscheidungen des Jugendlichen zu widerrufen bzw. entgegen seinem Willen durchzusetzen74. Das gemeinsame Entscheidungsrecht von Eltern und Kind wird also von vornherein zugunsten einer Letztentscheidungskompetenz der Eltern ausgestaltet.
4.6.2.5 Der Vorschlag von Spickhoff und Wölk Die genau umgekehrte Lösung der Frage der Letztentscheidungskompetenz im Außenverhältnis schwebt Spickhoff vor75. Er hält eine Regelung de lege ferenda, wonach die Eltern in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden, für denkbar. In Anlehnung an den österreichischen Entwurf zum Kindschaftsrechtsänderungsgesetz aus dem Jahre 199976 soll den Eltern gegenüber dem Kind aber ein Anhörungs- und Mitspracherecht nur im Innenverhältnis zum Kind eingeräumt werden. Die Einwilligung eines einwilligungsfähigen Minderjährigen bei nicht bloß geringfügigen Eingriffen solle wirksam sein, wenn die Eltern Gelegenheit hatten, die Angelegenheit mit Arzt und Kind erschöpfend zu erörtern. Nicht unähnlich klingt der Vorschlag Wölks. Unter Betonung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Eltern will er dem einwilligungsfähigen Minderjährigen das Alleinentscheidungsrecht über Heileingriffe zubilligen77.
4.7
Verfahrensorientierte Lösungsansätze
Den Konflikt zwischen Rechtssicherheit für den Arzt einerseits und dem Respekt vor der Autonomie des Kindes andererseits hat auf einfache Weise Lesch zu lösen versucht. Er fordert einen »Ermessensspielraum« für den Arzt78 und spricht damit einen möglicherweise von vielen gehegten Wunsch offen aus. Allein wie sich 73 74 75 76
AcP 178 (1978) S. 263, 275. Zustimmend Kothe, AcP 185 (1985) S. 105, 149 sowie Lipp, Freiheit und Fürsorge S. 36. Spickhoff, NJW 2000, S. 2297, 2300. Öst. BMJ, JMZ 4. 601 A/1 – I. 1/1999, zitiert nach Spickhoff NJW 2000, S. 2297, 2300 in Fn. 26. 77 Wölk, MedR 2001, 80, 84. 78 Lesch NJW 1989, 3209f; ihm folgend Belling/Eberl/Michlik, Selbstbestimmungsrecht S. 130.
Modell der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Eltern und Kind
67
ein solcher Ermessensspielraum im Delikts- und Strafrecht dogmatisch verwirklichen lassen kann, erklärt Lesch nicht. Belling schlägt, unter Berufung auf Zenz, ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit vor. Als Rechtsgrundlage wird § 1628 BGB analog i. V. m. § 14 Nr. 5 RPflG herangezogen79. Dabei wird betont, dass das Gericht keine inhaltliche Behandlungsentscheidung treffen dürfe. Es habe lediglich darüber zu befinden, ob das Kind einwilligungsfähig ist. Zwar bestreitet auch Belling nicht, dass damit den Gerichten die Bestimmung kaum messbarer Fragen der Entwicklungsreife zugemutet wird. Er hält dies aber für vertretbar, weil die Frage der Einwilligungsfähigkeit in den meisten Fällen doch eindeutig und darüber hinaus die Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung nur bei seltenen Konflikten zu erwarten sei80. Denselben verfahrensrechtlichen Lösungsansatz verfolgt im Wesentlichen Reuter81. Als Rechtsgrundlage zieht er aber dem von Belling angeführten 1628 BGB die Analogie zu § 7 RKEG (Gesetz über die Religiöse Erziehung des Kindes) vor. Die Vorschrift passe besser, weil dort ein Antragsrecht des Jugendlichen bereits gesetzlich geregelt ist. Als Orientierung verweist Reuter dabei auf die Art. 19 II, Art. 28 des schweizerischen Zivilgesetzbuches, wo eben jenes Recht bereits ausformuliert ist.
79 Belling/Eberl/Michlik, FuR 90, 68, 77. 80 Belling/Eberl/Michlik, Selbstbestimmungsrecht S. 136f 81 Reuter, AcP 192 (1992) S. 108.
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
5.
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
Ausgangspunkt der Diskussion der eben dargestellten Modelle einschließlich Einwilligungsbefugnis und Zustimmungsbefugnissen bleibt die Frage nach der »Einwilligungsfähigkeit.« Zu fragen ist zunächst danach, welche klinisch messbaren Fähigkeiten ein Jugendlicher oder eine Jugendliche besitzen muss, um so qualifiziert wie der durchschnittliche Erwachsene Behandlungsentscheidungen treffen zu können. Dazu orientieren wir uns an den in Abschnitt 6 ff. dargestellten Daten zu Entscheidungsbedürfnissen Minderjähriger. Anschließend ist zu fragen, ob es Interessen Dritter, etwa Rechte der Eltern oder Rechtssicherheitserwägungen erlauben, das Selbstbestimmungsrecht des Jugendlichen einzuschränken. Zu fragen ist danach, ob dem minderjährigen Patienten trotz vorhandener Einwilligungsfähigkeit die Einwilligungsbefugnis in bestimmten Situationen abgesprochen werden sollte. Es folgt die Frage nach der Kompetenz und dem Verfahren zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit. Schließlich gilt es zu klären, wer im Falle fehlender Einwilligungsfähigkeit anstelle des Betroffenen entscheiden soll und nach welchen Kriterien diese Entscheidung eines Dritten zu erfolgen hat.
5.1
Stand der Rechtstatsachenforschung in Deutschland zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger
In Deutschland hat die Entwicklungspsychologie bis heute wenig Interesse an der Erforschung der Fähigkeiten Jugendlicher zu Entscheidung in Gesundheitsangelegenheiten gezeigt. Von Seiten der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie wird noch 1995 eingeräumt, »Einsicht« und »Urteilsfähigkeit« seien Begriffe, die in der deutschen psychologischen Literatur kaum diskutiert würden1. werden dort informationsverarbeitende kognitive Prozesse betrachtet2 und verschiedene Ansätze zur Bewertung der moralischen Urteilsfähigkeit von Kindern diskutiert. Weil es in diesen Untersuchungen, deren Gegenstand die Schuldfähigkeit i. S. d. 1 2
Diepold in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard S. 39. Stolpmann, S. 2, 47ff und passim. Zum Regelungsgehalt der §§ 20, 21 StGB s. Wolfslast G. JA 1981, 464ff; zu den Kriterien der Deliktsfähigkeit von Kindern: Wolfslast In FS für Günter Bemmann S. 20ff
70
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
§§ 20, 21 StGB ist, aber um die Fähigkeit zur Akzeptanz heteronom gesetzter Normen geht, können die dort gewonnen Ergebnisse für unsere Frage nach der Fähigkeit zur autonomen Normsetzung als Voraussetzung der Einwilligungsfähigkeit keinen Aufschluss geben. Rechtstatsachenforschung zur Einwilligungsfähigkeit in den USA
5.2
Rechtstatsachenforschung zur Einwilligungsfähigkeit in den USA
In der empirisch orientierten angloamerikanischen Tradition der Geisteswissenschaften werden die Fähigkeiten Jugendlicher zu Gesundheitsentscheidungen von Psychologie und Psychiatrie seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts empirisch erforscht. Insbesondere die Psychologen Garry Melton und Michale Saks sowie die Psychiater Appelbaum und Whitehorn haben Anfang der achtziger Jahre damit begonnen, die Fähigkeit Jugendlicher zur Entscheidung über Gesundheitsangelegenheiten zu entscheiden, d. h. deren »Capacity to Consent«, systematisch zu untersuchen3.
5.2.1 Vergleichbarkeit der US-amerikanischen informed consent-Doktrin mit der deutschen Einwilligungsdogmatik Das informed consent-Paradigma des amerikanischen Rechts stimmt in Funktion und Inhalt nicht in allem mit der deutschen Einwilligungsdogmatik überein. Die verschiedenen US-amerikanischen Jurisdiktionen stellen unterschiedliche Anforderungen an den Umfang der Aufklärung4. Auch die Einwilligungsbefugnis Minderjähriger wird uneinheitlich gehandhabt, nachdem sich die Rechtmäßigkeit des Heileingriffes am Minderjährigen durch Statuten der einzelnen Staaten und nicht durch Bundesrecht bestimmt. Die meisten Staaten stellen jedoch mit 3
4
Vgl. Grissos und Vierlings erste diesbezügliche Literaturstudie v.1978: Grisso T./Vierling L., Minors’ consent to treatment: A developmental perspective , in: Professional Psychology 1978, 412–417. empirische Studien folgten von Melton, G. B., Children’s Concepts of their rights, Journal of Clinical Child Psychology 1980, 186–190; 1981; ders. Children’s participation in treatment planning: Psychological and legal issues, Professional Psychology 1981, 246–252; Weithorn, L. A./Campbell, S. B., The competency of children to make informed treatment decisions, Child Development 1982, 1589–98; Weithorn, L. A., Children’s Capacities für Participation in Treatment Decision-Making in: Schetky, D. H./Benedek E. P. (Hrsg.) Emerging Issues in Child Psychiatry and the Law, N. Y. 1985; Vgl. aus dem deutschen Schrifttum Markus, Die Einwilligungsfähigkeit, passim. Vgl. Giesen, Medical Malpractice Law § 21 und Lidz, Meisel et al., Informed Consent S. 13; Kroft, Journal of International Law and Practice 1997, 457ff
Rechtstatsachenforschung zur Einwilligungsfähigkeit in den USA
71
der »emancipated minor rule«5 zusätzlich auf das Kriterium der tatsächlichen Reife ab6. Nach der ausführlichsten Definition des Gesetzes von Mississippi ist reif genug, wer »ausreichend intelligent ist, die Folgen der vorgeschlagenen Behandlung zu verstehen und zu würdigen7. Nach § 59 des Restatement of Torts (1939) wird ein Minderjähriger als einwilligungsfähig bezeichnet, wenn er »intelligent genug ist, Wesen und Folgen des Eingriffes zu verstehen«8. Ebenso judiziert der Supreme Court in der berühmten Entscheidung »Planned Parenthood of Central Missouri v. Danforth«9 hinsichtlich der Fähigkeit Jugendlicher, in eine Abtreibung einzuwilligen. Wörtlich lautet die Definition der Einwilligungsfähigkeit dort: »ability to appreciate its nature and consequences«. In Art und Spärlichkeit der Kriterien für die Einwilligungsfähigkeit ähnelt diese Formel stark der deutschen Rechtsprechungsformel vom »Erkennenkönnen von Wesen, Bedeutung und Tragweite der Entscheidung«. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn der Psychiater Appelbaum die klinischen Faktoren der Einwilligungsfähigkeit letztlich in ganz ähnlicher Weise wie Amelung10 als das Verstehen der Informationen, die im Aufklärungsgespräch vermittelt werden; die Fähigkeit, die Bedeutung dieser Informationen innerhalb des eigenen Wertesystems zu gewichten, sowie die Fähigkeit, diese Faktoren zueinander in ein Verhältnis zu setzten und eine darauf gründende Entscheidung auszudrücken, versteht11. Die in den USA durchgeführten empirischen Untersuchungen zur Bewertung der Einwilligungsfähigkeit orientieren sich an diesen Kriterien. Wegen der bestehenden Übereinstimmungen im Ausgangspunkt können sie auch für die deutsche Rechtslage als aufschlussreich gelten12.
5
Wadlington, University of Illinois Law Review 1994, 311, 322; vgl. Markus, Die Einwilligungsfähigkeit im angloamerikanischen Recht sowie Belling u. a., Das Selbstbestimmungsrecht, und Appelbaum/Grisso, Assessing Competence S. 75f 6 Zu den unterschiedlichen Ausprägungen der »emancipated minor Rule« in den einzelnen Staaten vgl. Wadlington, University of Illinois Law Review 1994, 311, 322. 7 Miss. Code Ann. §§ 41–41–3(h), zit. nach Markus, Die Einwilligungsfähigkeit im angloamerikanischen Recht, S. 96ff 8 Nach Keith/Spiegel in: Melton/Koocher/Saks S. 191. 9 428 U.S 52 (1976); so schon zuvor der Supreme Court von Kansas 295 Kan. 301, 469, P.2d 330 (1970). 10 Vgl. oben Kapitel 4. 11 Appelbaum, Assessing Competence. 12 Ebenso Belling u. a., Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen S. 5ff
72
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
5.2.2 Stand der psychologischen und psychiatrischen Forschung in den USA Vor dem Hintergrund des informed consent-Paradigmas haben sich die seit den 70er Jahren durchgeführten Arbeiten zur Kompetenz Minderjähriger vornehmlich mit dem Einfluss kognitiver Faktoren auf den Prozess der Entscheidungsfindung beschäftigt und sich dabei vor allem auf die Arbeiten Piagets bezogen (u. a. Grisso & Vierling, 1978; Ferguson, 1978; Melton, 1981; Weithorn & Campbell, 1982). Grisso & Vierling (1978) betonen in ihrer frühen Übersichtsarbeit zu diesem Thema die Bedeutung folgender Einflussgrößen: die Fähigkeit, sich auf ein gegebenes Problem zu konzentrieren, die Fähigkeit zum Aufschub einer Entscheidung während des Entscheidungsprozesses, das Vermögen, Risiken und Vorteile einer Behandlung zu erkennen und mehr als eine Behandlungsalternative und damit verbundene Risiken gleichzeitig gegeneinander abzuwägen (kognitive Komplexität) sowie die Fähigkeit zu induktivem und deduktivem Schlussfolgern – Fähigkeiten, die von den Autoren mit der Stufe des formal-operationalen Denkens nach Piaget in Verbindung gebracht werden. Beurteilt nach ihrer kognitiven Kapazität, seien, so das Ergebnis verschiedener Arbeiten (z. B. Grisso & Vierling, 1978; Kaser-Boyd, Adelman & Taylor, 1985; Weithorn & Campbell, 1982), Vierzehnjährige so kompetent wie Erwachsene, Entscheidungen zu treffen. Bereits Kinder in einem Alter von 9 Jahren seien durchaus in der Lage, sinnvolle und vernünftige Entscheidungen zu treffen, jedoch nicht auf einem, Erwachsenen entsprechenden, abstrakten Niveau der Informationsverarbeitung und Schlussfolgerung, wie Weithorn & Campbell (1982) in ihrer viel zitierten Untersuchung ermittelt haben. Verglichen wurde in dieser empirischen Studie die Kompetenz 9-, 14-, 18- und 21-jähriger Personen bei der Entscheidungsfindung im Rahmen hypothetischer medizinischer und psychologischer Szenarien. Anhand eines strukturierten Interviews wurden nach der Darbietung der Dilemmata die 4 Kriterien der Kompetenz bewertet. Deutlich infrage gestellt wird die Einwilligungsfähigkeit bei Kindern unter neun Jahren von Ondrusek et al. (1998), da diese in einer Studie zur Einwilligungsfähigkeit zu klinischer Forschung nur wenig der ihnen vermittelten Informationen zu verstehen in der Lage waren. Belter & Grisso (1984) haben im Rahmen einer simulierten Beratungssitzung das Rechtsverständnis Minderjähriger untersucht. Während 15-jährige die Vorinformation über ihre Rechte in der simulierten Beratungssituation sinnvoll umsetzen konnten, hat die Aufklärung über eigene Rechte bei den 9-jährigen nicht zu einem sinnvollen Verständnis beigetragen, gemessen über die Fähigkeit, Rechtsverletzungen zu erkennen und sich für die eignen Rechte einzusetzen. Ein für eine Informierte Zustimmung ausreichendes sinnvolles Verständnis eigener Rechte, das über das faktische Verstehen hinausgeht, sprechen die Autoren Kindern unter 9 Jahren folglich ab (vgl. Melton,
Rechtstatsachenforschung zur Einwilligungsfähigkeit in den USA
73
1980). Ebenso konnten Roth & Roth (1984) in ihrer Untersuchung bei 6- bis 12-jährigen psychiatrischen Patienten feststellen, dass die Vorstellungen über die Psychiatrie sowie die dort Tätigen noch sehr stereotyp sind und dem Bild des somatischen Mediziners entsprechen, so dass von einer wissenden Zustimmung (knowing consent) – vor allem zu Beginn der Behandlung – nicht auszugehen ist. Vergleicht man die Altersangaben Minderjähriger auf die Frage, ab wann autonome Entscheidungen möglich seien, mit den dargestellten empirischen Ergebnissen, so zeigt sich in einer Untersuchung von Alderson (1993) an 120 orthopädischen Patienten im Alter zwischen 8 und 15 Jahren, dass Kinder und Jugendliche ihre Kompetenzen realistisch einschätzen und im Vergleich zu Ärzten die Grenze für autonome Entscheidungen wesentlich höher legen (14 Jahre durch die Patienten vs. 10,3 Jahre durch die Ärzte). Ein Durchschnittsalter von 15,1 Jahren für autonome Entscheidungen in Gesundheitsangelegenheiten äußerten auch die Befragten in einer Untersuchung von Taylor et al. (1984). Unter den wenigen Autoren, die die Kompetenz pädiatrischer bzw. psychiatrischer minderjähriger Patienten empirisch untersucht haben, sind Billick et al. (1998, 2001) zu nennen. Eingesetzt wurde in diesen klinischen Studien ein für die jeweilige Patientenstichprobe modifizierter Kompetenzfragebogen, der auf Appelbaum et al. (1981) zurückgeht und in einer Vielzahl an Studien im Erwachsenenbereich erprobt wurde (Norko et al., 1990; Billick et al., 1996; Casimir & Billick, 1994; Billick et al., 1997). Von den 69 ambulanten pädiatrischen Patienten erwiesen sich lediglich 2 Kinder mit einem Durchschnittsalter von 9 Jahren als nicht kompetent, in der psychiatrischen Stichprobe waren es 7 von 25, mit einem Durchschnittsalter von 9,6 Jahren. Zusammengefasst unterstützen die Ergebnisse die Annahme eines entwicklungsabhängigen Kompetenzerwerbs, wobei die Autoren auf die größere Bedeutung des Entwicklungsalters in Abgrenzung zum chronologischen Alter verweisen. Ein Alter von 12 Jahren wird als grobe Richtlinie vorgeschlagen. Kompetenz oder kognitive Kapazität stellt jedoch nur eine Größe bei der Bestimmung der Fähigkeit zur Informierten Zustimmung dar, worauf Scott, Reppucci & Woolard (1995) sowie Steinberg & Cauffman (1996) mit Nachdruck hingewiesen haben. Entscheidende Bedeutung für die reife Urteilsfindung schreiben die Autoren neben kognitiven insbesondere psychosozialen Faktoren zu, die Steinberg & Cauffman (1996) den Kategorien »Verantwortung«, »Mäßigkeit« und »Perspektiventwicklung« zuordnen. Analysiert werden Theorie und Forschungsergebnisse bezüglich der Entwicklung von Autonomie, Unabhängigkeit von sozialen Einflüssen/sozialer Erwünschtheit, Selbstvertrauen und Identität (Verantwortung). Weitere Bedingungen sehen die Autoren in Größen, wie Impulskontrolle und Risikobereitschaft (Mäßigkeit) sowie in der Entwicklung von Perspektive – sowohl im zeitlichen Sinne als auch im Hinblick auf Rollenübernahme (Selman), Perspektivenübernahme und Moralentwicklung (Kohlberg). Die Be-
74
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
rücksichtigung dieser Variablen stelle, so die Autoren, die Entscheidungsfähigkeit insbesondere Jugendlicher infrage, bei denen in der Regel von den kognitiven Voraussetzungen für kompetente Entscheidungen auszugehen sei (vgl. auch Ekmann Ladd & Forman, 1995). Unter dem Einfluss des informed consent-Dogmas fehle es jedoch an Untersuchungen über den entwicklungsabhängigen Einfluss nicht-kognitiver Faktoren auf die Entscheidungsfindung. Von Freiwilligkeit, einer entscheidenden Voraussetzung einer validen Zustimmung, könne, so Grisso & Vierling (1978), bei Jugendlichen unter 15 Jahren nicht ausgegangen werden. Die Autoren geben zu bedenken, dass Kinder diesen Alters vor dem Hintergrund eines noch nicht voll entwickelten Rechtsverständnisses durchaus noch sehr empfänglich für die Unterwerfung unter Autoritäten seien (Stichwort: Konformität). Zum einen werde Kindern, so Keith-Spiegel (1976), beigebracht, auf ihre Eltern zu hören, und zum anderen betrachten vor allem jüngere Kinder Rechte als von Autoritäten verliehen (vgl. Melton, 1983). Insbesondere in einem von Erwachsenen dominierten Setting – wie in Aufnahme- oder Behandlungssituationen – wird diese sozialpsychologische Komponente zum Tragen kommen. Darauf haben auch Ondrusek et al. (1998) mit ihrem Befund hingewiesen, dass Minderjährige die Teilnahme an einer Studie nicht ablehnen würden, aus Sorge die Gefühle anderer zu verletzen. Und auch in einer Untersuchung von Abramovitch et al. (1991) befürchteten Kinder der Altersgruppe fünf bis 12 Jahre negative Konsequenzen bei Abbruch der Studienteilnahme. Zusätzlich zeigte sich, dass die Zustimmung zur Teilnahme durch die Eltern – als Schutz für die Kinder implementiert – eine freie Entscheidung der Minderjährigen insofern behindert, als sie eine Ablehnung oder einen Abbruch für die Kinder in der Regel unmöglich erscheinen lässt. Die Bedeutung kontextueller Einflussgrößen wird an dieser Stelle ersichtlich: ein Kind, das aus entwicklungspsychologischer Sicht durchaus in der Lage wäre, Informationen kompetent zu verwerten, realisiert diese Fähigkeit in außergewöhnlichen, belastenden Situationen spontan eher nicht. Die Arzt-Patient-Beziehung sowie Zeitdruck und Stress in akuten Entscheidungssituationen spielen in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle (Pearce, 1994). Weitere Bedeutung im Rahmen der Entscheidungskompetenz wird der persönlichen Erfahrung Minderjähriger beigemessen (Alderson & Montgomery, 1996). Gerade im medizinischen Kontext weisen Kinder mit oftmals langjährigen Krankheitserfahrungen ein für autonome Entscheidungen ausreichendes Verständnis auf, noch vor Erreichen des von Piaget proklamierten Alters des formaloperationalen Denkens. »Many children with chronic conditions have repeated treatment. Their understanding does not consist of ›abstract concepts‹ but of intensely experienced illness or disability and treatment« (Alderson & Montgomery, 1996). Eine letztlich nur am Alter orientierte Entscheidung über die Kompetenz würde diese Kinder benachteiligen.
Die Bedeutung normativer Kriterien für die Einwilligungsbefugnis
75
Und schließlich würde, so Reiter-Theil et al. (1993), die Weigerung, Kinder als Entscheidungsträger zu akzeptieren, zu ihrer postulierten Unfähigkeit beitragen: Neue Erfahrungen werden dem Kind vorenthalten, intellektuelle und emotionale Kompetenzen werden nicht geübt, der eigene Wille wird nicht einmal als Möglichkeit in Betracht gezogen: »Their ignorance is then taken to prove that children cannot understand or emotionally cope with certain knowledge« (Alderson & Montgomery, 1996). Überzeugender Kritikpunkt an einer Vielzahl der durchgeführten Untersuchungen ist jedoch, dass es sich häufig um hypothetische Szenarien sowie um gesunde Kinder und Jugendliche der Mittelschicht handelt, was die Frage der ökologischen Validität der Ergebnisse negativ beeinflusst. Dominiert werden die Veröffentlichungen zu diesem Thema von Besprechungen (reviews), mit dem Fokus auf Altersgrenzen, während die Anzahl der empirischen Untersuchungen, insbesondere im psychiatrischen Kontext, als eher gering einzuschätzen ist. Festzuhalten bleibt jedoch zusammenfassend, dass eine Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger lediglich nach den Kriterien der Kompetenz und nach entwicklungspsychologischen Modellen kognitiver Fähigkeiten, der Thematik nicht gerecht wird (vgl. Mouradian, 1999). Eine Orientierung ausschließlich an kognitiven Fähigkeiten könne jüngere Kinder benachteiligen, während gleichzeitig Jugendlichen unter Umständen eine nicht zu rechtfertigende Kompetenz zugesprochen wird.
5.2.3 Schlussfolgerungen für die Einwilligungsfähigkeit Wenngleich diese empirischen Daten keinen Aufschluss über die Fähigkeiten eines Minderjährigen in Einzelfall geben, machen sie doch deutlich, dass die weit verbreitete Annahme, die Fähigkeiten Jugendlicher, Gesundheitsentscheidungen zu treffen, bliebe in Qualität des Entscheidungsprozesses wie auch Ergebnis (»Outcome«) hinter denen Erwachsener zurück, unzutreffend ist13. Die Bedeutung normativer Kriterien für die Einwilligungsbefugnis
5.3
Die Bedeutung normativer Kriterien für die Einwilligungsbefugnis
Im Folgenden wird das Argument untersucht, rechtliche Interessen Dritter erlaubten es, die Einwilligungsbefugnis nicht allein nach der Einwilligungsfähigkeit zu bestimmen. 13 Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht ebenso: Kind, Zeitschrift für Medizinische Ethik 2001, 363f
76
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
5.3.1 Die elterliche Sorge Als unproblematisch sollte heute eigentlich die Grundannahme gelten, dass die elterliche Sorge mit dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes nicht kollidieren kann. Das Wesen der elterlichen Sorge ist nach heutigem Rechtsverständnis treuhänderischer Natur, ihr Zweck gründet allein in der »Hinführung des Kindes zu Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.«14 Die elterliche Sorge besteht daher nur dort und insoweit, als die Unselbstständigkeit des Kindes, seine noch nicht hinreichende Fähigkeit zur Ausübung der Autonomie, sie erforderlich macht. Wo der Jugendliche hingegen tatsächlich selbstbestimmungsfähig ist, löst sich die elterliche Sorge wegen Zweckfortfalls auf, sie »verflüchtigt« sich, nach der vielzitierten Umschreibung Gernhubers15. Wenn sich trotz des mehrfachen Bekenntnisses des Gesetzgebers zur Pflichtgebundenheit der elterlichen Sorge die Vorstellung der Sorge als Eigenrecht der Eltern hartnäckig im juristischen Schrifttum16, der Rechtsprechung und wohl auch im allgemeinen Rechtsbewusstsein, hält17, wird dieses Phänomen auf die tiefen historisch gewachsenen Wurzeln der elterlichen Gewalt als eigenes Recht der Eltern in unserer Gesellschaft zurückgeführt werden müssen18. In der Rechtswissenschaft muss die Auffassung von der elterlichen Gewalt als Elternrecht aber als überkommen gelten. Schon in der ersten Anmerkung zu BGHZ 29, 33, dem bereits erwähnten »leading case« zur Abkoppelung der Einwilligungsfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit, stellt der Familienrechtler Boehmer 1959 fest, es sei nicht nachvollziehbar, warum dort der Senat überhaupt in Erwägung gezogen habe, dass das Selbstbestimmungsrecht des einwilligungsfähigen Jugendlichen eine Einschränkung der elterlichen Sorge darstellen könnte. 14 Böckenförde in: Essener Gespräche S. 64, 65. Grundlegend für das Verfassungsrecht: Roell, Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, passim. 15 Gernhuber/Coester-Waltchen, Familienrecht 4. Auflage § 57 VII 7; Diederichsen in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard (Hrsg.) Therapieverweigerung S. 98f; zu der insoweit heute herrschenden Meinung Lipp, S. 30, 35ff mit Nachweisen zum Meinungsstand in der Literatur. 16 Lipp, Freiheit und Fürsorge, passim; Pawlowski in: FS für Hagen; vgl. etwa Palandt-Diederichsen 58. und 59. Auflage zu § 1631 BGB. 17 Als irrtümlich musste eine solche Interpretation schon vor 1979 gelten, nachdem sich der Gewaltbegriff der Kodifikationen in Deutschland wie auch des BGB von 1896 nach der Rezeption von »walten« im Sinne von Curatel ableitet. So lautete die Definition der elterlichen Gewalt im Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1765 »Die väterliche Gewalt ist eine Herrschaft, welche der Vater über seine Kinder den Rechten gemäß auszuüben hat,« (vgl. Palandt zu § 1626). Im österreichischen ABGB von 1812 wird als Inhalt der elterlichen Gewalt in § 139 festgelegt, sie bestehe darin, für der Kinder »Leben und ihre Gesundheit zu sorgen, ihnen den anständigen Unterhalt zu verschaffen, ihre körperlichen und Geisteskräfte zu entwickeln, und durch Unterricht in der Religion und in nützlichen Kenntnissen den Grund zu ihrer künftigen Wohlfahrt zu legen«. 18 Weiterführend Schumacher, passim.
Die Bedeutung normativer Kriterien für die Einwilligungsbefugnis
77
Schon damals galt als selbstverständlich, dass der Jugendliche in dem Moment, in dem man ihn für selbstbestimmungsfähig hält, der »elterlichen Gewalt überhoben« sei und die Frage des Eingriffes in die elterliche Vertretungsmacht nicht in Betracht komme. Wenig Verständnis bringt auch Lenckner denjenigen Autoren entgegen, welche die im Rahmen des 5. Strafrechtsreformgesetzes geplante Teilmündigkeit von schwangeren jungen Frauen ab 16 Jahren als ›Eingriff‹ in die elterliche Sorge kritisierten. Auch er stellt unter Berufung auf Gernhuber fest: Teilmündigkeiten können zur elterlichen Sorge nicht in Widerspruch stehen, wenn man den Sinn der elterlichen Sorge darin sieht, »dem Minderjährigen den Weg zur selbstverantwortlichen Persönlichkeit zu zeigen und zu ebenen«19. Die elterliche Vertretungsmacht wird als »Einschränkung der Rechtsstellung des Kindes« verstanden, die nur gerechtfertigt sein könne, »solange das Kind nicht urteilsfähig ist und deshalb nicht selbst handeln kann«, also nachweislich des Schutzes bedarf20. Dem Recht der Eltern, die Sorge für ihr Kind dahingehend auszuüben, dass sie einer Behandlung zustimmen oder sie ablehnen, sind durch die Einwilligungsfähigkeit damit immanente Grenzen gesetzt21.
5.3.2 Einwilligungsbefugnis und Rechtssicherheitsinteressen – zum Vorschlag fester Altersgrenzen Die Forderung von Peschel-Gutzeit, Rouka und Beitzke nach einer festen Altersgrenze von 16 Jahren22 kann als Vorschlag für eine qualitative Verbesserung der Rechtsstellung des Kindes ebenfalls nicht überzeugen.
5.3.2.1 Zur Senkung des betreuungsrechtlichen Richtervorbehaltes Würde man bei unter 16-jährigen die Einwilligungsunfähigkeit als unwiderleglich gesetzlich vermuten, bedeutete dies im Ergebnis einen Rückfall in das überholte Konzept der Einwilligungsfähigkeit als Statusbeschreibung, dem die »durch die Geschäftsfähigkeit starr schablonisierten Altersgrenzen«23 zugrunde lagen. Auch wenn man, wie im britischen und im niederländischen Recht, das Bestehen 19 Lenckner in: Eser/Koch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch S. 182ff; zuvor bereits in: ZStW 72, 446ff 20 Zutreffend insoweit Lipp S. 30 unter Verweis auf BVerfGE 72, 166, 170 sowie m. w. N., der aber selbst dann von einer Befugnis der Eltern zur Einwilligung bis zur Volljährigkeit ausgeht. 21 Vgl. die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der BÄK zu Behandlung bösartiger Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen. 22 Vgl. die Ausführungen hierzu oben in Kapitel 5 unter Punkt 4.a. 23 So schon Geilen, Einwilligung und ärztliche Aufklärungspflicht S. 86.
78
Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
der Einwilligungsfähigkeit ab 16 Jahren nach dem Vorbild der Section 8 des Family Reform Act (England) und art. 447.1 des Zivilgesetzbuches der Königlichen Niederlande gesetzlich zwingend vermuten wollte, würde eine Senkung des betreuungsrechtlichen Richtervorbehaltes für die Aberkennung der Einwilligungsfähigkeit von 18 auf 16 Jahre kaum eine qualitative Änderung der Rechtstellung von Kindern und Jugendlichen bewirken können.
5.3.2.2 Zur Unvereinbarkeit einer festen Altersgrenze mit der kognitiven Entwicklung Jugendlicher Eine feste Altersgrenze von 16 Jahren würde Statistiken über die durchschnittliche Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich durchschnittlich komplexer Behandlungsentscheidungen gerecht, nicht aber der unterschiedlichen Entwicklung Jugendlicher und der Verschiedenartigkeit der Behandlungssituationen. In der Entwicklungspsychologie wird davon ausgegangen, dass die Einwilligungsfähigkeit von Kindern gleichen Alters mit unterschiedlichen intellektuellen Fähigkeiten, Erfahrungen und vor allem sozialem Hintergrund stark variiert. Abgesehen vielleicht in Hinblick auf bestimmte Erkrankungen korreliert sie kaum mit dem Lebensalter24. Die seit den achtziger Jahren in der amerikanischen Gesundheitspsychologie verfolgte Erforschung »mentaler Repräsentation von Gesundheit und Krankheit« untersucht, wie der ›Durchschnittsmensch‹ Gesundheit versteht und konzeptualisiert25. Danach wird in der Psychologie heute davon ausgegangen, dass sich die Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen verschiedener sozialer Gruppen stark unterscheiden26. Auch gilt als gut belegt, dass Gesundheit und Krankheit von Jugendlichen nicht nur schicht-spezifisch, sondern auch kulturspezifisch ganz unterschiedlich konzeptualisiert werden. So sollen deutsche Jugendliche einen sehr viel stärker um Krankheit, Arzt und Krankenhaus zentrierten Gesundheitsbegriff haben, während gleichaltrige Jugendliche von den Philippinen wesentlich mehr Assoziation zu ›Körper‹ und ›Körperlichkeit‹ nennen27. In besonders augenfälliger Weise früh entwickelt gelten das Körperbewusstsein sowie das Krankheitsverständnis chronisch kranker Kinder. Ein Kind mit einer chronischen Erkrankung – etwa jahrelanger Dialyseerfahrung oder Tumor- oder Rheumabehandlung – habe viel Erfahrung mit den Schüben der Krankheit, der Kliniksituation und behandlungsbedingten Eingriffen in Körper und Freiheit. So könne unter Umständen schon ein 6-jähriger Patient die Umstände einer erneuten Akutbehandlung sehr viel klarer erkennen und überschauen als ein Erwach24 25 26 27
Dixon-Woods et al, MBJ 1999, 778 Flick, psychomed 1998, 5 mit zahlreichen Nachweisen. Flick, psychomed S. 5f m. w. N. Schäfer in: Trojan/Sturm (Hrsg.), Gesundheit fördern statt kontrollieren, S. 84–93.
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sener, der erstmals mit derselben Erkrankung konfrontiert ist28. Die Psychoanalytikerin Diepold beschreibt eine 9-jährige Patientin mit einem Hirntumor, die nach der zweiten Operation, die sich nach der Erstbehandlung als erforderlich erwies, weitere Strahlentherapie sowie eine dritte notwendig gewordene Operation verweigerte. Sie habe offenbar »gewusst,« dass eine Weiterbehandlung sinnlos wäre und sich daraufhin mit dem bevorstehenden Tod intensiv auseinandergesetzt. Diepold schließt aus ihren in der Arbeit mit todkranken Kindern gewonnenen Erfahrungen, dass die Einsicht von Kindern auch in unangenehme Sachverhalte deutlich weiter entwickelt sei, als Erwachsene herkömmlich meinten29. Chronisch kranke Kinder machten einen deutlich akzelerierten Reifungsprozess durch, der sie sehr wohl in die Lage versetzte, das Erfordernis einer Behandlung oder aber deren Begrenzung zu erfassen. Dieses erfahrungsbedingte Wissen könne je nach Familienstruktur, Erziehungsstil der Eltern und Werthaltungen in der Familie ganz unterschiedlich sicher eingesetzt werden30.
5.3.2.3 Zur Unvereinbarkeit einer festen Altersgrenze mit der Vielgestaltigkeit der Regelungsmaterie Neben der unterschiedlichen individuellen Geschwindigkeit des Reifungsprozesses spricht gegen eine feste Altersgrenze, liege sie bei 16 oder bei 18 Jahren, vor allem die Vielgestaltigkeit all dessen, was unter »Heileingriff« zu verstehen ist. Die Vielfalt der in Rede stehenden Maßnahmen reicht von der zahnärztlichen Kariesbehandlung bis zu einer gehirnchirurgischen Operation. Die Unterschiede sind so erheblich, die Auswirkungen für »das weitere Lebensglück« können so verschieden sein, dass situationsbedingt die Einwilligungsfähigkeit ein und desselben Patienten ganz unterschiedlich zu bewerten sein kann31. Gegenüber diesen Faktoren erscheint das Lebensalter von so schwacher Aussagekraft, dass eine gesetzliche Regelung, die sich allein hieran orientierte, willkürlich anmutete32. Das Lebensalter sollte keine künstliche Hürde sein, weder für die Gewähr von Selbstbestimmung noch für die des erforderlichen Schutzes33.
28 Melton, American Psychologist 1983, 99–103, Alderson/Montgomery, S. 51ff und passim; Thurke in: Flick (Hrsg.) Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit, S. 160–176; Flick psychomed 1998, 5–9. 29 Diepold in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard S. 43. 30 Diepold, a. a. O. 31 Darauf weist insbesondere Neyen hin, vgl. aber auch Ulsenheimer in: Dierks/Graf-Baumann/Lenard (Hrsg.) Therapieverweigerung S. 76. 32 Vgl. Appelbaum/Grisso, Assessing Competence S. 75ff 33 Rosato, Rutgers L. Rev. 1996, 1, 5.
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Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
5.3.3 Rückgriff auf das Prinzip der ärztlichen Fürsorge Nahe liegender als der Rückgriff auf das Lebensalter erscheint die Idee, Eingriffe am Minderjährigen generell, oder doch wenigstens in bestimmten Bereichen, auf das objektive Prinzip der ärztlichen Fürsorge als Rechtfertigungsgrund zu stützen.
5.3.3.1 Für den Heileingriff generell Wollte man das Prinzip der ärztlichen Fürsorge als maßgeblich ansehen, wäre grundsätzlich jeder indizierte und sorgfältig durchgeführte Heileingriff als gerechtfertigt zu betrachten. Dem Persönlichkeitsrecht des Minderjährigen könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass er das Recht zur Zustimmung erhält. Eine entsprechende Regelung enthält der Vorschlag des Juristinnenbundes, vgl. § 1628 Abs. 334. Für eine solche Konzeption spricht, dass die sog. ›stellvertretende Einwilligung‹ letztlich weniger mit dem Autonomieprinzip denn mit dem objektiven Kriterium des Kindeswohles zu tun hat. Eine solche Regelung wäre aber weder mit Art. 6 Abs. 2 GG noch mit dem Selbstbestimmungsrecht des einwilligungsfähigen Minderjährigen nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 vereinbar. Auch wenn der Juristinnenbund dies von sich weist, bedeutete eine originäre Zuständigkeit der Ärzteschaft für ärztliche Heileingriffe am Kind einen Eingriff in die elterliche Sorge.
5.3.3.2 Für Sonderfälle Weniger eindeutig erscheint ein Verstoß gegen Art. 6 GG dort, wo die elterliche Einwilligung nach dem Grundsatz der mutmaßlichen Einwilligung für entbehrlich gehalten werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn das Interesse des Patienten an Vertraulichkeit besonders hoch ist, regelmäßig die Eltern aber nicht Kenntnis von der Grunderkrankung erlangen sollen. So kann davon ausgegangen werden, dass Eltern der Behandlung einer Suchterkrankung regelmäßig zustimmen würden, wenn sie denn von der Erkrankung wüssten. Eine gesetzliche Teilmündigkeit für die Suchtberatung wäre ab 12 Jahren daher sinnvoll und auch dogmatisch begründbar. Zum einen kann vermutet werden, dass ein Jugendlicher, der über so viel Krankheitseinsicht und Behandlungsmotivation verfügt, dass er sich selbstständig um eine Therapie bemüht, in aller Regel auch einwilligungsfähig ist. Zum anderen kann man den Verzicht auf die elterliche Einwilligung dort, wo aufgrund massiver Geheimhaltungsinteressen die Einschaltung der Eltern eine Behandlung gänzlich vereiteln würde, als aus Notstandsgesichtspunk34 Abgedruckt im Anhang, vgl. hierzu oben in Kapitel 4.
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ten gerechtfertigt ansehen. Wenn die Einschaltung der Eltern die Behandlung voraussehbar vereiteln würde, gleicht diese Situation derjenigen, in welcher die Eltern tatsächlich nicht erreichbar sind. Das erklärte Geheimhaltungsverlangen des Jugendlichen führt gewissermaßen zur »normativen Unerreichbarkeit« der Eltern. Damit kann hier und ganz ähnlich im Fall der erforderlichen gynäkologischen Behandlung eine Behandlung ohne die Einwilligung der Eltern als nach den Grundsätzen der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt angesehen werden35. Denkbar wäre etwa eine Vorschrift, welche die elterliche Einwilligung als entbehrlich erklärt, wenn die dringend indizierte Behandlung aufgrund der massiven Geheimhaltungsinteressen des Jugendlichen vereitelt würde, drohten die Eltern Kenntnis zu erlangen. In einer gesetzlichen Regelung sollte dieser Ausnahmetatbestand auf diejenigen Fälle beschränkt sein, in denen ein Geheimhaltungsinteresse des Jugendlichen typischerweise mit einem Behandlungsinteresse kollidiert. Zu fordern ist also eine Vorschrift, die Jugendlichen ab 14 Jahren auch ohne die elterliche Einwilligung den Zugang zur Suchtberatung und -behandlung, zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten, der Verordnung von Kontrazeptiva und eventuell auch zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Diagnostik und Behandlung ermöglicht.
5.3.4 Einwilligungsfähigkeit und Schwere des Eingriffs Macht man das Kriterium der Schwere des Eingriffs zum immanenten Kriterium der Einwilligungsfähigkeit selbst, führt das zu einer starken Verobjektivierung dieses Begriffs. Das hat große praktische Vorteile für die Bemessung der Einwilligungsfähigkeit. Aufgegriffen wurde das Kriterium der Eingriffsschwere auch in Hinblick auf fremdnützige Forschung. 5.3.4.1 Die Diskussion einer »relativen« Einwilligungsfähigkeit in Zusammenhang mit fremdnütziger Forschung Diskutiert wird hier insbesondere von Helmchen und Lauter ein »doppelter Standard«36 für den Begriff der Einwilligungsfähigkeit. Danach sollen im Falle der Forschung an Einwilligungsunfähigen an die kognitiven Fähigkeiten um so niedrigere Anforderungen gestellt werden, je geringer Belastung und Risiken einer Behandlung sind37. Dieses relative Verständnis der Einwilligungsfähigkeit führt 35 Ebenso Ulsenheimer, Rechtsfragen der Gynäkologie und Geburtshilfe S. 90.; ähnlich Seizinger, Konflikt S. 135ff 36 Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? S. 46. 37 Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? S. 46f
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Diskussion der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Verbesserungsvorschläge
dann dazu, dass bei solchen Experimenten, die den Probanden (objektiv) nur geringfügig belasten und nur geringfügige Risiken enthalten, auch Probanden etwa im schon fortgeschrittenen Stadium einer schweren Demenzerkrankung oder eben auch sehr junge Minderjährige als einwilligungsbefugt gelten. Derartige Bemühungen, das Einwilligungsprinzip »flexibel« zu gestalten und nutzbar für Experimente mit Einwilligungsunfähigen zu machen, beinhalten jedoch die Gefahr, dass immer dort, wo es im Interesse der Allgemeinheit bzw. Mehrheit liegt, niedrige Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit gestellt werden38. Dem Einzelnen wird die Bestimmung dessen, was er als ›minimale Belastung‹ empfindet, abgesprochen. Im Ergebnis wird die Funktion des Selbstbestimmungsrechts als individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in die Körperintegrität damit aber aufgegeben. 5.3.4.2 Die »relative Einwilligungsfähigkeit« im Hinblick auf die Heilbehandlung Für die grundsätzliche Frage nach dem Inhalt der Einwilligungsbefugnis bei der Heilbehandlung gilt dasselbe. Wer, wie etwa Peschel-Gutzeit, annimmt, bei Geringfügigkeit eines Eingriffs habe man an die Einwilligungsfähigkeit geringe Anforderungen zu stellen, bleibt eine Begründung dafür schuldig, warum bestimmte objektive Wertentscheidungen es verdienen, Vorrang vor der subjektiven Gewichtung des Patienten zu beanspruchen. In der medizinethischen Literatur wurden derartige Versuche der Bewertung der Einwilligungsfähigkeit anhand objektiver Kriterien im Sinne eines »relationalen Modells der Einwilligungsfähigkeit«39 zu Recht als »verdeckter Paternalismus« kritisiert40. Beauchamp und Childress warnen im Hinblick auf die Diskussion um die Bedeutung normativer Kriterien wie der Schwere des Eingriffes davor, die Einwilligungsfähigkeit (competence judgement) und die Einwilligungsbefugnis (competence itself) zu verwechseln41. Ihrem Vorschlag, beide Begriffe auf theoretischer Ebene zu trennen, wird hier, wie schon oben dargetan, gefolgt.
38 Vgl. auch Vollmann, Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie, passim. 39 Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, S. 27ff; vgl. hierzu Vollmann, Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie S. 103ff 40 Beauchamp/Childress S, 139f; Vollmann S. 103f 41 Beauchamp/Childress S, 139f; ebenso im Ansatz Vollmann a. a. O. S. 103.
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5.4
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An der grundsätzlichen gesetzgeberischen Entscheidung, die Aberkennung der Einwilligungsfähigkeit bei Erwachsenen unter Richtervorbehalt zu stellen, von Minderjährigen hingegen einen positiven Nachweis dieser Fähigkeiten im Einzelfall zu fordern und diese Entscheidung nicht unter Richtervorbehalt zu stellen, kann festgehalten werden, wenn ein praktikables und für alle Parteien Rechtssicherheit garantierendes Verfahren für die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit existiert. Erforderlich ist hierbei zunächst eine gesetzliche Anerkennung des richterrechtlichen Instituts der Einwilligungsfähigkeit sowie eine klare Zuständigkeitsregelung hinsichtlich der Frage, wer die Entscheidung über die Einwilligungsfähigkeit trifft.
5.4.1 Gesetzliche Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger und ihrer Voraussetzungen (Definitionsvorschlag) Erforderlich erscheint zunächst, dass die Möglichkeit prinzipieller Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger vom Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt wird, um einer Tradierung der überkommenen Vorstellung vom unmündigen Minderjährigen zu begegnen. Eine gesetzliche Regelung, die, wie der Entwurf des § 1626a BGB von 1972, festschriebe, dass Minderjährigkeit nicht Einwilligungsunfähigkeit begründet, würde dem weit verbreiteten Irrglauben an die Geschäftsfähigkeit als maßgebliches Kriterium entgegenwirken. Der Erwägung, für eine bloße Umsetzung der Rechtsprechung bestehe keine Notwendigkeit, kann, entgegen der Begründung bei der Streichung des § 1626a aus dem Regierungsentwurf42, nicht zugestimmt werden. Eine allgemeine gesetzliche Definition der Einwilligungsfähigkeit in den Heileingriff muss die vier weithin unstreitigen Kriterien der Einwilligungsfähigkeit – Verständnis der Erkrankung, Vorausschau möglicher Folgen, Wertung und Relationierung der Vorteile und Risiken, sowie die Steuerungsfähigkeit – benennen43. Amelung hat diese Kriterien in seinem Definitionsvorschlag bereits berücksichtigt, insoweit ist ihm zu folgen. Problematisch erscheint an Amelungs Vorschlag allerdings die Formulierung in Abs. 1, wo es u. a. heißt: »Einwilligungsunfähig ist, wer wegen Minderjährig-
42 BT-Drs. 59/89 S. 229. 43 Diese vier Kriterien zur Operationalisierung der Einwilligungsfähigkeit legen sowohl Appelbaum und Grisso als auch Vollmann und Amelung ihren Arbeiten zugrunde.
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keit . . .«44. Eine solche Formulierung lässt auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Minderjährigkeit, psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung und der Einwilligungsunfähigkeit schließen, der aber so nicht gegeben ist45. Wenn zwischen Geschäftsfähigkeit, Minderjährigkeit und Einwilligungsfähigkeit kein Zusammenhang besteht, besteht aber auch kein Grund, den Begriff der Minderjährigkeit, der ja nichts anderes als die Negativdefinition der vollen Geschäftsfähigkeit bedeutet, in einer Definition aufzuführen. Auch wenn man den von Amelung gewählten Begriff der »geistigen Erkrankung« durch den der »schweren geistigen Erkrankung« ersetzte, würde man das Wesen der Einwilligungsfähigkeit als »aktuelles Defizit« einer Person in einer konkreten Situation doch falsch zeichnen. Wenn die Einwilligungsfähigkeit keine Eigenschaft einer Person ist, sondern ein Ereignis, dann sollte eine Definition dies auch sprachlich zum Ausdruck bringen. Will man zum Ausdruck bringen, dass beim Erwachsenen das Urteil der Einwilligungsfähigkeit ausschließlich auf geistige oder psychische Behinderung gestützt werden darf, müsste man eine Definition dementsprechend ergänzen, etwa dergestalt: Einwilligungsunfähigkeit ist der im Einzelfall und für jede Behandlungsentscheidung erneut vom Arzt festzustellende Mangel an der erforderlichen Reife und Fähigkeit, die Tragweite des Eingriffs für den Körper und die persönliche Lebensplanung, insbesondere den Rang der betroffenen Rechtsgüter im eigenen Wertsystem zu ermessen, diese abzuwägen und sich entsprechend zu verhalten.
5.4.2 Zuständigkeit für die Feststellung dieser Kriterien Nachdem wir bei Minderjährigen – anders als beim Erwachsenen – nicht annehmen können, dass sie regelmäßig für jede Gesundheitsentscheidung einwilligungsfähig sind, scheidet die zwingende richterliche Entscheidung über die Einwilligungsunfähigkeit aus. Gleichermaßen unpraktikabel erscheint die regelmäßige Feststellungskompetenz eines anderweitigen Außenstehenden, eines Ombudsmannes oder einer Ombudsfrau. Zwar könnte ein Ombudsmann in einer Institution wie einer Klinik vergleichsweise leicht etabliert werden; seine Funktion könnte ähnlich ausgestaltet werden wie die des Klinikseelsorgers. Nicht realisierbar wäre die regelmäßige Konsultation eines Ombudsmannes jedoch bei der Behandlung durch niedergelassene Ärzte. In jedem Fall würde die Behandlung Minderjähriger in unverhältnismäßiger Weise bürokratisiert. Eine »externe Begutachtung« auch gegen den Willen des Kindes oder der Eltern und auch dort, wo keinerlei Konflikte zwischen Eltern, Arzt und Patient bestehen, würde zudem 44 Amelung ZStW 104, 552ff, vgl. oben unter Kapitel 5. 45 In diesem Sinne etwa Vollmann, Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie S. 51.
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eine möglicherweise als diskriminierend empfundene Hürde für die Behandlungsaufnahme darstellen46. Nachdem die Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit bzw. -fähigkeit darüber entscheidet, ob entweder der minderjährige Patient oder die Eltern das Recht zur Erteilung der Einwilligung haben, kann, ohne unmittelbar in Interessenwiderspruch zu geraten, allein der Arzt darüber zu entscheiden befugt sein, ob der Patient einwilligungsfähig ist. Er hat das umfassende Wissen über Diagnose, Prognose und mögliche Behandlungsalternativen und ist damit am ehesten in der Lage, im Aufklärungsgespräch mit dem Patienten zu beurteilen, ob der minderjährige Patient diese Umstände entsprechend einem erwachsenen Patienten verstanden hat. Zwar wird der Arzt seinem Interesse, eine seinem Rat entsprechende Entscheidung zu erlangen, dadurch zur Durchsetzung verhelfen können, dass die Einwilligungsfähigkeit eher bejaht wird, wenn der Minderjährige seinem Rat folgt. Dieses ist als eine Form des ›schwachen Paternalismus‹47 aber letztlich nicht zu vermeiden, denn schon durch die Art und Weise der Aufklärung kann der Wille des Patienten in die eine oder andere Richtung gelenkt werden. Die Übertragung der Prüfungskompetenz, die beim Erwachsenen dem Richter obliegt, auf den Arzt wäre in der Praxis auch realisierbar und sowohl Arzt als auch Patient zumutbar, sofern praktikable Standards für das Verfahren der Feststellung entwickelt werden. Erforderlich sind kollegial erarbeitete Leitlinien für die Feststellung des Standards sowohl um der Gefahr des verdeckten Paternalismus48 zu begegnen, als auch um dem Arzt Rechtssicherheit zu geben. Neben das am fachlichen Standard orientierte Feststellungsverfahren muss zudem die Möglichkeit der richterlichen Überprüfung treten.
5.4.3 Standard der Einwilligungsfähigkeit Die Gefahr des »verdeckten Paternalismus«, darauf wurde in der Literatur nachdrücklich hingewiesen49, entsteht auch, wenn man all zu hohen Anforderungen an die für die Einwilligung erforderlichen Fähigkeiten stellt, etwa, indem man hoch entwickelte Instrumente zur Bemessung der Einwilligungsfähigkeit verwendet und dadurch Minderjährigen sehr viel mehr abverlangt als dem »normalen« Erwachsenen. Appelbaum und Grisso, die nach jahrelanger Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Bemessung der Einwilligungsfähigkeit als Pionie46 Vgl. Alderson/Montgomery, passim; Appelbaum/Grisso, Assessing Competence S. 67f 47 Vollmann S. 99ff 48 Dazu Zenz, StA 1973, 257–260; Britner P/La Fleur S/Whitehead A., ChiLSchRoundtable 1998, 35, 39; Vollmann S. 101. 49 Schöne-Seifert S. 572; Kind, Zeitschrift für Medizinische Ethik 2001, 363f
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re auf dem Gebiet der Operationalisierung der Einwilligungsfähigkeit gelten, haben 1995 den Mac Arthur Competence Test (»MacCat«) entwickelt50. Er gilt als theoretisch fundiertes, methodisch hoch differenziertes Instrument zur Bestimmung der Selbstbestimmungsfähigkeit; seine Durchführung beansprucht pro Patient mindestens eine halbe Stunde. Diesen Test haben Appelbaum und Grisso an verschiedenen Kontrollgruppen überprüft, sowohl an psychisch und somatisch Kranken als auch an gesunden erwachsenen Probanden. Als Ergebnis stellten sie fest, dass eine methodisch und theoretisch sehr fundierte Überprüfung der für die Einwilligungsfähigkeit geforderten Fähigkeit bei allen Gruppen, auch bei der Gruppe der gesunden Erwachsenen, zu einem sehr hohen Anteil solcher Personen geführt hat, die als nicht selbstbestimmungsfähig bewertet wurden51. Appelbaum und Grisso selbst mahnen daher zu einem vorsichtigen Einsatz ihres eigenen Messinstrumentes und zu Zurückhaltung hinsichtlich der geforderten Leistungen des Patienten52. Seither wird auch von anderen Stimmen, die ähnliche Ergebnisse erhoben haben53, vor einem allzu differenzierten Instrument zur Überprüfung der Fähigkeiten Minderjähriger gewarnt54. Alderson und Montgomery formulieren nach einer Studie in England: »idealised standards of consent are unrealistic and discriminate against young people.«
5.4.4 Das Feststellungsverfahren Der Einsatz von differenzierten Tests zur Bemessung der Einwilligungsfähigkeit sollte auf die Fälle beschränkt werden, in denen begründete Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit bzw. ihrem Fehlen bestehen. Zu denselben Schlussfolgerungen wie Appelbaum und Grisso kommen Psychiater der John Hopkins University Medical School, die einen eigenen Test zur Bemessung der Einwilligungsfähigkeit, den HCAT (Hopkins Competency Assessment Test)55 – ähnlich dem MacCAT – entwickelt haben. Eine wichtige Funktion solcher Messinstrumente wie dem HCAT oder dem MacCAt zur Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit kann darin bestehen, fachspezifische Standards, die Regelvermutungen für die Annahme von Einwilligungsfähigkeit enthalten, zu entwickeln. Führte man etwa, wie es Ta50 Appelbaum/Grisso, Assessing Competence to Consent to treatment; dies. Law Human Behav 1995, 149–174 und Am J Psychiat 1995, 1033–1037; dazu Vollmann S. 92ff und 101. 51 Grisso/Appelbaum, Law Human Behav 1995, 149–174 und Am J Psychiat 1995, 1033–1037; dazu Vollmann S. 92ff und 101. 52 Grisso und Appelbaum, Law Human Behav 1995, 149–174 und Am J Psychiat 1995, 1033–1037. 53 Vollmann S. 92ff 54 Appelbaum, a. a. O. 55 Janofsky JC/McCarthy RJ/Jolstein MF, Hosp Com Psychiat 1992, 132–136; vgl. hierzu auch Vollmann, Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie S. 90ff
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tes und Meuwiesen getan haben, eine Studie zur Einwilligungsfähigkeit an Minderjährigen durch, bei denen ein bloß geringfügiger Eingriff in Betracht kommt (etwa die Behandlung einer Erkältung), würde man zu anderen Altersgrenzen für eine Regelvermutung der Einwilligungsfähigkeit gelangen, als wenn dasselbe Messinstrument in einer pädiatrischen Intensivstation eingesetzt wird. Gelänge es, über den Einfluss bestimmter Krankheitsbilder auf das durchschnittliche Alter der Erlangung der Einwilligungsfähigkeit mehr Aufschluss zu erhalten, könnte in Leitlinien ein fachspezifischer Sorgfaltsmaßstab für die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit aufgestellt werden56. Wenn Alderson und Montgomery, etwa beobachten, dass Patienten mit einem chronischen Hüftleiden regelmäßig schon ab 12 Jahren über sehr detaillierte Krankheitseinsicht verfügen, könnte diese Erfahrung in Form einer Regelvermutung für bestehende Einwilligungsfähigkeit in eine Behandlungsleitlinie mit aufgenommen werden. Die Leitlinie sollte dann empfehlen, dass die Einwilligungsfähigkeit des Patienten über 12 Jahren auch ohne nähere Überprüfung vermutet werden kann, wenn nicht erkennbare Anhaltspunkte gegen seine Einwilligungsfähigkeit sprechen. Indiz für die Notwendigkeit einer Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit (durch ein ausführliches Gespräch oder auch durch den Einsatz solch anspruchsvoller Tests wie des MacCAT) sollten auch Schwere und Risiko eines Eingriffes sein. Die Wahl des Verfahrens der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit vom kurzen Gespräch bis zur psychiatrischen Begutachtung ist der Ort, an dem normative Gesichtspunkte wie Schwere und Risiko eines Eingriffs berücksichtigt werden können57. Ein am normativen Kriterium der Schwere des Eingriffes bzw. Risikos ausgerichteter ›Sliding Scale Standard‹ schlägt sich dann im Verfahren der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit, nicht aber innerhalb ihrer materiellen Kriterien nieder. Damit wird die Ansicht Bockelmanns aufgegriffen, der «Schwere und »Dringlichkeit« des Eingriffes in Zusammenhang mit dem Verfahren der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit diskutiert und ausführt, dass der Arzt »natürlich . . . keine exakte psychiatrische Begutachtung vornehmen zu lassen habe, sondern in aller Regel seine Erfahrung im Umgang mit Patienten für die Bewertung der Einwilligungsfähigkeit ausreiche«, und dass das Urteil über die Einwilligungsfähigkeit um so schneller ergehen könne, je geringfügiger der Eingriff sei. Ein solcher »gemäßigter Paternalismus« erscheint vertretbar angesichts der Tatsache, dass Leitlinien, in denen die Fachgesellschaften Regelbeispiele für schwerwiegende Eingriffe aufstellen, die Rechtssicherheit für den mit der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit betrauten Arzt erheblich erhöhen würden, ohne dass die Umstände des Einzelfalles vernachlässigt werden müssten. Leitlinien sind 56 Vgl. Vollmann S. 101; so zuvor schon aus Rechtssicherheitsgründen Lesch.NJW1989, 31f 57 Ebenso Beachamp/Childress, passim; Vollmann S. 107
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auch für Patienten ein wichtiges Kontrollinstrument, das sie zur Offenlegung und Dokumentation der Gründe, die gegen die Vermutung des Standards sprechen, zwingen. Sie sorgen so für Transparenz und können einem »schleichenden« Paternalismus entgegenwirken58. Leitlinien der Fachgesellschaften, die Regelbeispiele für schwerwiegende Eingriffe auflisten, bewahren daneben vor einer Überregulierung in weiteren gesetzlichen Teilmündigkeiten und bieten gleichzeitig die notwendige Flexibilität, auf neue, unter Umständen risikoärmere Behandlungsmethoden zu reagieren.
5.4.5 Gerichtliche Überprüfung der ärztlichen Entscheidung Eine zwingende Entscheidung des Gerichts über gefährliche Maßnahmen, wie sie § 1904 BGB für Betreute trotz erheblicher praktischer Umsetzungsprobleme vorsieht, ist aus normativen wie Gründen der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung Minderjähriger abzulehnen. Kommt der Arzt, indem er das Selbstbestimmungsrecht von Kindern oder umgekehrt die Schutzbedürftigkeit des Kindes oder Jugendlichen gegen ihn selbst verteidigt, der Forderung nach seiner Rolle als Anwalt des Kindes nach59, muss auch dem Jugendlichen selbst und den Eltern ein Verfahren eröffnet werden, die ärztliche Entscheidung von einer unabhängigen Instanz überprüfen zu lassen. Eltern steht als einfacher Behelf jederzeit die Möglichkeit offen, einen anderen Arzt aufzusuchen und eine erneute Entscheidung über die Einwilligungsfähigkeit herbeizuführen. Neben diesem informellen »Selbsthilferecht«60 muss aber auch der Rechtsweg eröffnet sein. Eine richterliche Überprüfung der Entscheidung des Arztes über die Einwilligungsfähigkeit des Kindes greift nicht in die Familienautonomie ein und kann nicht als Ausweitung des »staatlichen Wächteramtes« nach § 1666 BGB angesehen werden. Es geht hier darum, das Selbstbestimmungsrecht des Kindes bzw. die elterliche Sorge im Außenverhältnis zum Arzt verfahrensrechtlich abzusichern. Es ist deshalb Reuter61 und Belling62 darin zu folgen, dass neben dem ärztlichen, wenn auch standardisierten, so doch informellen Verfahren der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit eine fakultative gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit für Patient wie Eltern eröffnet sein muss. De lege lata erscheint die von Reuter favorisierte Analogie zu § 7 RKEG als gesetzliche Grundlage für die richterliche Entscheidung über die Einwilligungsfähigkeit wie 58 Ebenso in Hinblick auf das britische Recht Law Commission (bei Helmchen) sowie die American Academy of Pediatrics in ihrem ›Policy Statement‹ zur Behandlung Minderjähriger. 59 So schon 1979 die Forderung von Seagull Journal of Clinical and Child Psychiatry 1979, 202f 60 Gernhuber/Coester-Waltchen § 57 IX. 61 AcP 192 (1992), S. 108ff 62 FuR 1990. 68, 77f
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auch die Durchsetzung daraus folgender Rechte gegenüber den Eltern oder dem Jugendlichen vorzugswürdig. De lege ferenda ist eine ausdrückliche Regelung im FGG zu fordern. Dabei empfiehlt sich die Zulässigkeit eines Antrags auf richterliche Entscheidung, wenn ein Eingriff eine ernsthafte Gefahr für die körperliche oder seelische Integrität oder Lebensgefahr des Kindes begründet.
5.4.6 Kriterien der stellvertretenden Einwilligung Wird vom Arzt oder vom Gericht die fehlende Einwilligungsfähigkeit des Patienten festgestellt, haben gem. § 1626 Abs. 1 BGB die Eltern die Einwilligung zu erteilen. Diese sind bei der Erteilung der Einwilligung in die ärztliche Behandlung ihres Kindes grundsätzlich an das Kindeswohl gebunden. Ein Ermessensspielraum, eine dringend indizierte Behandlung abzulehnen, besteht dabei nicht. Inhaltlich ist die elterliche Einwilligung damit regelmäßig sehr stark durch das Prinzip der ärztlichen Fürsorge geprägt63. Die Grenze des Sorgerechtsmissbrauchs i. S. d. § 1666 BGB ist nach allgemeiner Ansicht im familienrechtlichen Schrifttum64 wie der Rechtsprechung65 beim indizierten Heileingriff schneller erreicht als bei Fragen der Erziehung, Ausbildung oder sonstigen das »geistige Wohl« betreffenden Entscheidungen66. Das bedeutet aber nicht, dass die Eltern stets dem ärztlichen Rat zu folgen hätten. Weil nach § 1626ff zum Kindeswohl nicht nur das körperliche, sondern auch das geistige und seelische Wohl zählen, sind die Eltern im Verhältnis zum Arzt in ihrer Entscheidung frei, das körperliche mit dem seelischen Wohl abzuwägen. Sie können etwa eine weniger renommierte Klinik auswählen, wenn diese in der Nähe des Elternhauses liegt und das Kind dadurch häufiger besucht werden kann67. So hat das OLG Stuttgart einen Sorgerechtsmissbrauch zutreffend verneint, wo die Eltern die Eignung eines bestimmten Arztes infrage gestellt und einen weniger spezialisierten gewählt haben68. Im Innenverhältnis zum Kind sind die Eltern gem. § 1626 II gehalten, den Willen des Kindes zu berücksichtigen. Ein Kind kann den von den Eltern gewählten Arzt unsympathisch finden oder eine bestimmte Behandlungsmethode als besonders belastend empfinden. Denkbar ist etwa, dass es das Verbot der Teilnah63 Palandt-Diederichsen, § 1626 Rn. 16f und § 1666 Rn. 64 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 57; zur Unvertretbarkeit der Einwilligung in ein rein fremdnütziges Experiment Ebersbach FamRZ FamRZ 82, 454 65 BGHZ 29, 33; BayOblG 76, 43 (Verweigerung der Einwilligung in Operation und Bluttransfusion); KG Berlin, NJW RR 1990, 716 (Uneinsichtigkeit bei der Befolgung ärztlich angeordneter Medikamentierung); KG Berlin, FamRZ 1972, 646 (Verweigerung einer psychiatrischen Untersuchung bei offensichtlicher Fehlentwicklung eines 10-Jährigen). 66 Ausführlich zur Rechtsprechungskasuistik vgl. im Übrigen vorne, Kapitel C. 67 vgl. Palandt-Diederichsen, § 1626 Rn. 16. 68 FamRZ 66, 256.
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me am Sportunterricht als besonders belastend empfindet, weil dadurch ein für das Kind wesentlicher Bereich der Freizeitaktivität und der Gemeinschaft mit Freunden entfällt. In einem solchen Fall wäre es durchaus denkbar, dass zugunsten des Erhalts der sportlichen Aktivität eine konventionelle Behandlungsmethode gewählt wird.
5.4.7 Vom Vetorecht zum Anhörungsrecht Wie stark der Wille des Kindes im Einzelnen zu berücksichtigen ist, ist im familienrechtlichen Schrifttum nicht geklärt und wird gesetzlich kaum regelbar sein. Den Eltern verbleibt bei der Gewichtung des Kindeswillens innerhalb der Bestimmung des Kindeswohls die »Interpretationshoheit«. § 1626 II BGB schreibt nicht vor, welches Gewicht dem Kindeswillen beizumessen ist, wohl aber, dass der Kindeswille von den Eltern überhaupt in Betracht gezogen wird. Die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Eltern und Kind ist ein innerfamiliärer Prozess. Ärzte müssen daher darauf vertrauen dürfen, dass die Eltern den Kindeswillen in irgendeiner Weise berücksichtigt haben. Eine Grenze des Vertrauensgrundsatzes wird man dort annehmen müssen, wo der Arzt sicher weiß, dass eine Berücksichtigung des Willens des Kindes nicht stattgefunden haben kann. Inwieweit sich hieraus eine ärztliche Pflicht zur angemessenen Information auch des nicht einwilligungsfähigen Kindes oder Jugendlichen ergibt, wird im nächsten Kapitel diskutiert.
Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
6.
Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
Rushforth (1999) bezeichnet die Entdeckung des Bedürfnisses nach Information und Aufklärung über Krankheit, Klinikaufenthalt und Behandlung als: »Major influence on the psychological well-being of patients and clients in recent years« (S. 683). Weiter heißt es, dass zwischen Aufklärung und »Entängstigung«, Stress bzw. Postoperativem Schmerz eindeutige Zusammenhänge nachgewiesen wurden. Ebenso nennt es Bastine (1992) eines der wichtigsten und konvergent findbaren Ergebnisse der Therapieforschung, dass sich mit einer gründlichen Aufklärung und Patientenschulung nicht nur die Zahl der Dropout – Patienten entscheidend verringern lässt, sondern dass sich zugleich die Therapiewirkungen insgesamt deutlich verbessern. Er bezieht sich mit dieser Aussage auf den Bereich der Erwachsenenpsychotherapie, in dem Patientenedukation, Pre-Training, Informationsbroschüren etc. weite Verbreitung gefunden haben, wenn auch von einer tatsächlichen Umsetzung in der Praxis noch nicht im Regelfall auszugehen ist. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie gibt es demgegenüber derzeit weder in der Routine einzusetzende Informationsstrategien, noch wird überhaupt generell stärker versucht, die Kinder und Jugendlichen und ihre spezifischen Sichtweisen stärker in den Blick zu nehmen. Informationswünsche, Informiertheit sowie subjektive Krankheits- und Behandlungsvorstellungen minderjähriger psychiatrischer Patienten sind bisher nur sehr vereinzelt Gegenstand der aktuellen Forschung. Demgegenüber wird im Bereich chronischer Erkrankungen bei Kindern die Forschung zu Krankheitskonzepten und darauf aufbauend, die Entwicklung von Schulungsprogrammen in den letzten Jahren verstärkt vorangetrieben (vgl. Petermann, 1997). Im Folgenden werden empirische Ergebnisse zum Thema Aufklärung und Information dargestellt, wobei wir uns, aufgrund des weitgehenden Mangels an Forschung innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, auch auf Studien aus dem Erwachsenenbereich und dem Bereich somatischer Erkrankungen beziehen werden.
6.1
Bedürfnis nach Information
Während Informationsbedürfnisse minderjähriger psychiatrischer Patienten bisher kein Gegenstand der Forschung sind, ist in Bezug auf das Aufklärungsbedürfnis erwachsener somatischer wie psychiatrischer Patienten bekannt, dass die
92
Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
meisten Patienten den Wunsch haben, von ihrem Arzt ausreichend über Diagnose und Prognose ihrer Erkrankung und andere damit zusammenhängende Sachverhalte (Ursachen, Behandlungsmaßnahmen, etc.) informiert zu werden (vgl. Jones et al., 2001; Luderer, 1989). So referierte z. B. Raspe (1983) 17 Studien, bei denen zwischen 66 und 99 % der Patienten über Diagnose und Therapie ihrer Erkrankung genau Bescheid wissen wollen. Gleichzeitig wird jedoch gerade in der neueren englischsprachigen Literatur darauf hingewiesen, wie häufig dieses Bedürfnis nach umfassender Information im medizinischen Bereich nicht befriedigt wird (vgl. Jones et al., 2001). Zurückgeführt wird diese Diskrepanz zwischen den Aufklärungswünschen der Patienten und der tatsächlichen Informationsgabe seitens der Behandler unter anderem auf eine geringe ärztliche Bereitschaft, Patienten umfassend zu informieren. So formuliert z. B. Luderer (1989): »Das offene Gespräch mit dem Patienten über seine Krankheit scheint für viele Ärzte eine eher unangenehme Pflicht zu sein, der gut informierte Patient wird mit Skepsis gesehen« (S. 308). Als Begründung wird weiterhin auf generelle Kommunikationsprobleme zwischen Arzt und Patient hingewiesen sowie darauf, dass Ärzte die Informationsbedürfnisse von Patienten tendenziell eher unterschätzen, und Patienten trotz bestehender Informationsbedürfnisse wenig Eigeninitiative zeigen und kaum aktiv Fragen stellen (vgl. Raspe, 1980; 1983). Die etablierten Krankheitsvorstellungen und das medizinische Wissen von Patienten werden dementsprechend allgemein als eher unzureichend, teilweise sogar als alarmierend gering eingestuft. So zeigen eine Reihe von Untersuchungen, dass eine beträchtliche Anzahl somatischer wie psychiatrischer Patienten nur sehr grobe Vorstellungen von ihrer Erkrankung haben. Angesichts dieser Ergebnisse aus dem Erwachsenenbereich ist hinsichtlich der Aufklärung und Information kindlicher und jugendlicher Patienten von einer weiteren Zuspitzung der Situation auszugehen. Die Kommunikationspraxis zwischen im medizinischen Bereich Tätigen und minderjährigen Patienten bewertet Rushforth (1999) bezogen auf den angloamerikanischen Bereich als äußerst kritisch. Inadäquate Erklärungen sowie die Tendenz, das Potenzial kindlicher Patienten massiv zu unterschätzen seien weit verbreitet. Auch Golbeck & Dorschner (1996) berichten aus ihrer Erfahrung in der psychologischen Betreuung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher, dass Patienten selten direkt und ausführlich über ihre Krankheit und Behandlung informiert werden, möglicherweise in Unterschätzung ihrer Verständnismöglichkeiten. Krankheitsspezifisches Wissen
6.2
Krankheitsspezifisches Wissen
Inwieweit auf Seiten des von einem stationären Aufenthalt betroffenen Kindes ein Verständnis von Psychiatrie, Störung und Therapieprozeduren, mit denen es im Laufe der Behandlung konfrontiert wird, vorausgesetzt werden kann, ist wie be-
Krankheitsspezifisches Wissen
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reits erwähnt, wenig bekannt. In der Regel ist davon auszugehen, dass der Patient, seine Eltern und der Behandler unterschiedliche, mitunter sogar widersprüchliche Vorstellungen über die Ursachen der Problematik und die notwendigen Maßnahmen entwickelt haben. Krankheitskonzepten der Patienten kommt jedoch, wie es Schmidt und Lehmkuhl (1994) betonen, eine wichtige therapeutische Konsequenz zu: »Bei Inanspruchnahme professioneller Hilfe wird kein Vertrauensverhältnis und damit eine schlechte Compliance entstehen, wenn Untersucher und Patient unverrückbar verschiedene Vorstellungen über die Pathogenese einzelner Erkrankungen haben« (S. 59). Die erste Untersuchung zu psychiatriespezifischem Wissen bei kindlichen Patienten, genauer zu Konzepten über die Funktion psychiatrischen Personals, unternahmen unseres Wissens nach Roth und Roth (1984). Sie führten mit 20 sechs bis 12-jährigen psychiatrischen Patienten wiederholte Befragungen über den Behandlungsverlauf durch, in denen die Kenntnisse über die Rollen der Klinikmitarbeiter (Arzt, Schwester, Lehrer) und die Rolle der Patienten eruiert werden sollten. Vor der Aufnahme sowie zu Beginn der Behandlung zeichneten sich die Rollenkonzepte der Kinder durch stereotype (z. B. »Doctors operate, give shots«, »Children get operated«, »Nurses give out pills, take temperatures«) und allgemein gehaltene, unspezifische Vorstellungen aus (z.B »They help the kids«, »Kids get help«). Wobei die auftretenden Wissensdefizite bei jüngeren Kindern (6–8 Jahre) signifikant stärker ausgeprägt waren als bei älteren Kindern (9–12 Jahre). Im Verlauf der Behandlung wurden die individuellen Rollenvorstellungen jedoch zunehmend adäquater und spezifischer auf die Heilung psychischer Störungen bezogen (z. B. »Doctors help you with your problems like stealing by putting you on a program«, »They get helped for the problems they have . . . if you’re bad . . . like hit people, they go in the quiet room«). Angesichts dieser Ergebnisse kann bei Aufnahme einer Therapie kein adäquates Verständnis der eigenen Erkrankung sowie der bevorstehenden Behandlung vorausgesetzt werden. Mit zunehmendem Alter und wachsender Erfahrung können minderjährige Patienten jedoch die Gründe ihrer Hospitalisierung sowie die Rollen des Personals in der Klinik differenzierter erfassen. Das Bestehen deutlicher Wissensmängel hinsichtlich relevanter Berufsgruppen in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns zeigte sich auch in der Untersuchung von Stösser & Klosinski (1995), die 77 Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern im Rahmen des Erstkontaktes mit der Klinikambulanz befragten. Ein Viertel der dort vorgestellten Kinder und Jugendlichen konnte keinerlei Angaben zu den Klinikmitarbeitern machen, ebenso viele nannten ausschließlich Berufsgruppen, die für die Psychiatrie unspezifisch sind, wie z. B. Hausmeister und Putzfrau. Der Prozentsatz adäquater Nennungen, als solche wurden Arzt, Psychologe und Psychiater gezählt, lag lediglich bei 44 %. Darüber hinaus hatten immerhin 14 % der Patienten keine Vorstellung davon, was im Rahmen des Erstkontaktes auf sie zukommen wird.
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Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
Ferner berichtete über die Hälfte der Kinder, dass die Gründe des Kommens nicht oder fast nicht mit ihnen besprochen wurden. Parallele Wissensdefizite bestanden auch bei 88 % der Eltern, die sich unzureichend über die Einrichtung einer Kinderund Jugendpsychiatrie informiert fühlten. Dementsprechend äußerte die Hälfte der Eltern, im Vorfeld unsicher gewesen zu sein, wie sie ihr Kind auf die Untersuchung vorbereiten sollten. 68 % beließen es bei einer kurzen Ankündigung der Untersuchung, 23 % gaben an, ihr Kind nicht auf den Erstkontakt vorbereitet zu haben. Als ein weiteres Ergebnis zeigte sich, dass Kinder, die über die Gründe des Kommens gut aufgeklärt waren, während des Erstkontakts einen weniger ängstlichen Eindruck machten und eher konkrete Hoffnung auf Besserung äußern konnten, als schlecht informierte Kinder. Dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch im Erfahrungsbereich der Eltern noch wenig Eingang gefunden hat, wird auch anhand der Ergebnisse von Strehlow (1989) deutlich. Bei einer Befragung von insgesamt 313 zum Teil direkt betroffenen Eltern waren das Berufsbild des Kinder- und Jugendpsychiaters und sein Zuständigkeitsbereich unbestimmt und nicht klar gegenüber anderen Berufsgruppen abgegrenzt. Nur ein Drittel der Befragten konnte den Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten richtig als speziell ausgebildeten Facharzt einordnen. Auch in der Untersuchung von Quistrop (1982) lag der Prozentsatz der Eltern, die Wissensdefizite hinsichtlich der Einrichtung einer Kinderund Jugendpsychiatrie angaben, bei über 60 %. Daneben weist auch die Forschung zu Angehörigen psychisch Kranker auf hohe und meist unbefriedigte Informationsbedürfnisse hin (Luderer, 1989). Die Tatsache, dass Krankheitsvorstellungen gerade im familiären Kontext weitergegeben werden, und die kindlichen Konzepte und Erwartungen entscheidend vom Krankheitswissen der Eltern geprägt sind (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2001), lässt die bereits auf Seiten der Eltern bestehenden Informationsmängel um so bedenklicher erscheinen. Untersuchungen, die explizit nach kindlichen Vorstellungen über psychiatrische Behandlung fragen, sind nur vereinzelt sowie nur an sehr kleinen Stichproben durchgeführt worden. Hinweise darauf, dass das etablierte Behandlungswissen häufig dysfunktional ist und folglich einer Therapiemitarbeit zuwider laufen kann, zeigen sich bei Szajnberg & Weiner (1996). Die Autoren haben 22 sieben bis 13jährige stationäre Patienten einige Wochen nach Behandlungsantritt nach ihren individuellen Vorstellungen von Heilung und Behandlung befragt. Immerhin neun Patienten hielten eine Heilung bzw. Behandlung ihres Problems für unmöglich, hegten also deutliche Zweifel an der Therapiewirksamkeit. Dass diese Negativerwartung die Mitarbeit bei therapeutischen Maßnahmen erheblich beeinträchtigen kann, ist sehr wahrscheinlich. An die Möglichkeit einer Behandlung ihrer Störung glaubten demgegenüber 13 Kinder, wobei die geäußerten Behandlungsvorstellungen folgenden Kategorien zugeordnet wurden. An erster Stelle wurde die Vorstellung von Behandlung im Sinne einer externalen Verhaltensum-
Krankheitsspezifisches Wissen
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kehr (z. B. »Acting good«, »Not lie, steal . . .«) genannt, gefolgt von der bei internalisierenden Störungen am ehesten adäquaten Annahme, dass Behandlung mit Veränderung innerhalb der Person zu tun hat (»Getting my feelings out in the open«, »Controlling my anger by talking«). Die beiden letztgenannten Kategorien waren zum einen, die Gleichsetzung von Heilung mit Entlassung (»Being cured meant leaving the hospital«), zum anderen die Meinung, dass Behandlung Veränderung der Umwelt bedeutet (»Getting his family to stop calling him names«). Ähnlich problematische Überzeugungen sowie Wissensdefizite fand auch eine andere Untersuchung bei 30 stationär behandelten Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren. Trotz erfolgter stationärer Einweisung hielt sich die Hälfte der Patienten nicht für krank. 40 % wussten nicht, wie ihr Zustand oder ihre Krankheit heißt, 25 % nannten eine von der ärztlichen Diagnose abweichende Störung. Darüber hinaus war fast die Hälfte der Kinder der Meinung, aus ihrer Sicht »keine« bzw. nur »ein wenig« Hilfe zu benötigen. Dass man an seelischen Krankheiten sterben kann, glaubten immerhin 60 % der Patienten. Hinsichtlich der Verursachung seelischer Erkrankungen waren 35 % der Meinung, dass psychische Krankheiten vererbbar sind, 65 % nannten Angst als Ursache seelischer Störungen. 80 % glaubten, dass freche Kinder oder solche, die schlecht in der Schule sind, in die Klinik kommen. Hinweise darauf, dass fehlende Information z. B. über Diagnose und insbesondere auch über Medikamente sowie deren Wirkungen und Nebenwirkungen auch bei erwachsenen Psychiatriepatienten weit verbreitet ist, finden sich u. a. bei Luderer (1987) und Linden (1980). Für eine größere Stichprobe von Patienten mit juveniler chronischer Arthritis konnte Wiedebusch (1992, 1999) nachweisen, dass Struktur und Inhalt subjektiver Krankheitskonzepte vor allem bei jüngeren Kindern von medizinischen Erklärungen stark abweichen. Anhand eines halbstrukturierten Interviews wurden 60 rheumakranke Kinder und Jugendliche zu ihren Krankheitsvorstellungen befragt, wobei die Antworten der sieben bis 11- und die der 12- bis 18-jährigen Patienten miteinander verglichen wurden. Die Krankheitsvorstellungen der jüngeren Patienten waren an konkrete Erfahrungen geknüpft und bezogen sich vor allem auf externe Faktoren, d. h. sichtbare und spürbare Krankheitsfolgen. Charakteristisch und bedenklich waren insbesondere fiktive und zum Teil destruktive Vorstellungen über innere Körpervorgänge, die mangelndes Wissen über physiologische Prozesse ersetzt haben (z. B. »Nen bißchen kaputt, angefressen, wie fast so’n Apfel, der angefressen wurde vom Wurm oder so. Also, dass da irgendwas drin sitzt, was einem wehtut, was knabbert oder dadran ißt . . .«). Ältere Patienten verfügten dagegen über abstraktere, sich auf interne Faktoren beziehende Krankheitskonzepte, berichteten z. B. signifikant häufiger vom Vorliegen einer Entzündung und konnten komplexe Zusammenhänge zwischen verschiedenen Krankheitsaspekten herstellen. Gerade anhand der unangemessenen Konzeptualisierungen des Krankheitsgeschehens jüngerer Kinder wird deutlich, dass Wissensdefizite dieser Art, die Basis von
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Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
Verhaltensweisen bilden können, die den Therapieanforderungen zuwider laufen und damit zu einer verminderten Compliance führen können. Ebenso wie falsche oder irrationale Annahmen zum Krankheitsgeschehen unbegründete Ängste, Befürchtungen und emotionale Belastungen hervorrufen können. Wirksamkeit von Aufklärung und Information
6.3
Wirksamkeit von Aufklärung und Information
Die Ergebnisse der aufgeführten Studien weisen in Bezug auf den medizinischen und speziell den psychiatrischen Kontext übereinstimmend auf eine Vielzahl mangelnder Kenntnisse sowie unzutreffender Vorstellungen insbesondere auf Seiten jüngerer Kinder, aber auch Jugendlicher, Eltern und erwachsener Patienten hin. In diesem Zusammenhang betont Lohaus (1993) »wenn Kinder (und auch Jugendliche oder Erwachsene) nicht wissen, wie man sich angesichts einer Erkrankung angemessen verhält, oder wenn Unkenntnisse über die Wege einer Krankheitsvermeidung bestehen, dann kann es nicht zu einem angemessenen Handeln kommen« (S. 125) und weist damit auf die negativen Konsequenzen mangelnder Kenntnisse im Hinblick auf den Therapieerfolg hin. Beratung, Aufklärung und Psychoedukation werden in der neueren Literatur als Grundlage aller weiteren Interventionen besprochen, sie dienen dem Ziel, Wissenslücken zu schließen, Ängste abzubauen sowie dysfunktionale Krankheitsvorstellungen bzw. ineffizientes Bewältigungsverhalten zu modifizieren (vgl. Petermann, 1997). Während zumindest für den Bereich chronischer Erkrankungen bei Kindern (etwa Asthma bronchiale, Diabetes mellitus) die Wirksamkeit von Patientenschulungen hinsichtlich einer effektiven Wissenserweiterung empirisch gut belegt ist (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2001), erweist sich die viel postulierte These, dass Aufklärung Ängste und Befürchtungen reduziert und Compliance, Motivation und Therapieerfolg positiv beeinflusst, als empirisch äußerst unzureichend nachgewiesen. Vereinzelt finden sich in der Literatur aber auch gegensätzliche Aussagen, so sei Krankheitsaufklärung in Bezug auf Patienten, die dazu neigen, krankheitsbezogene Informationen zu vermeiden, kontraindiziert, und auch die potenziell angstauslösende Wirkung von Information wird vereinzelt betont (Eiser & Kopel, 1997; Saile & Schmidt 1990).
6.3.1 Information und Abbruchrate Was die Wirksamkeit der Vermittlung von Krankheit- und Behandlungswissen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie betrifft, sind uns, bis auf die Untersuchung von Holmes & Urie, die bereits 1975 durchgeführt wurde, keine weiteren systematischen Studien bekannt. Holmes & Urie (1975) erbrachten den Nachweis,
Wirksamkeit von Aufklärung und Information
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dass eine Informationsvermittlung im Vorfeld der Behandlung praktische Bedeutung hinsichtlich der Nutzung von Therapie besitzt. An der Untersuchung nahmen 88 Kinder im Alter von sechs bis 12 Jahren teil, wobei Kinder, die ein 30- bis 45-minütiges Therapie-Vorbereitungsprogramm erhielten, mit Kindern, die dieses Programm nicht absolvierten, verglichen wurden. Das Vorbereitungsprogramm beinhaltete Informationen zum Krankheitswissen, also Aufklärung über psychische Erkrankungen allgemein sowie über den eigenen Behandlungsgrund. Die Inhalte bezogen sich darüber hinaus auf Therapiewissen, worunter das zu erwartende Verhalten des Therapeuten (dass der Therapeut z. B. keine Spritzen gibt, sondern Gespräche führt und mit den Kindern spielt) und das vom Kind als Patient geforderte Verhalten fielen (dass der Patient mit dem Therapeuten über Dinge, die ihn belasten, sprechen soll). Als Ergebnis zeigte sich, dass informierte Kinder die Therapie mit geringerer Wahrscheinlichkeit abbrachen als Kinder, die vor ihrem Aufenthalt keine gezielten Informationen erhalten hatten. Die anfängliche Informationsvermittlung stand jedoch nicht in Zusammenhang mit der durch den Therapeuten erwarteten Symptombesserung. Ebenso beeinflusste die Teilnahme am Informationsprogramm den nach sechs Sitzungen durch die Eltern und Therapeuten eingeschätzten Therapieerfolg nicht. Übereinstimmende Ergebnisse werden auch aus der Erwachsenenpsychiatrie berichtet, so fand Fouls (1986), dass Patienten, die adäquate Krankheitsmodelle besaßen, die Behandlung seltener abbrachen. Ähnlich belegten Day & Reznikoff (1980) die große Bedeutung, die der Angemessenheit der Erwartungen in Bezug auf eine bevorstehende Therapie hinsichtlich der Abbruchrate zukommt. Sie untersuchten die subjektiven Therapieerwartungen von 42 sieben bis 12-jährigen Jungen und deren Mütter, wobei die Erwartungen anhand eines 25 Items umfassenden Fragebogens erhoben wurden. Nicht überraschend wiesen die befragten Mütter mehr zutreffende Erwartungen bezüglich Therapie auf als ihre Kinder. Die Angemessenheit der Erwartungen war unabhängig vom sozioökonomischen Status und vom Alter des Kindes. Jedoch zeigte sich ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl der Fehlerwartungen und der Abbruchrate. Anhand dieser Ergebnisse wird deutlich, dass die Erhebung und Korrektur bestehender Behandlungsvorstellungen und -erwartungen, die Petermann & Tampe (2002) als eine wichtige Voraussetzung für eine langfristige Behandlungsmotivation bezeichnen, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Therapie sinnvoll und notwendig ist. Auch Ludwig et al. (1990) fanden bei erwachsenen Psychiatriepatienten moderate Zusammenhänge zwischen der Angemessenheit subjektiver Patientenmeinungen (über Erkrankung, Therapie, Medikation etc.) und der Compliance.
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Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
6.3.2 Information und Angstabbau Belege dafür, dass eine gezielte Patientenaufklärung die Wirksamkeit von Therapie vor allem durch »Entängstigung« fördert, liefert die Untersuchung von Löschenkohl & Erlacher (1986), die allerdings nicht an kinderpsychiatrischen Patienten sondern im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen bei Kindern erhoben wurde. Sie verglichen chirurgische Patienten im Alter von drei bis sechs Jahren, die an einem kognitiv-verhaltensorientierten Interventionsprogramm teilnahmen, mit Patienten, die dieses Programm nicht erhielten. Im Rahmen der Schulung erfolgte anhand eines Fotobilderbuches eine systematische Vorbereitung der Kinder auf die verschiedenen Situationen des Klinikaufenthaltes, von der Aufnahme, über die Operation, bis zur Entlassung. Als Ergebnis zeigte sich, dass Angstempfindungen und Weinen bei informierten Kindern seltener auftraten als bei Kindern, die keine Vorabaufklärung erhalten hatten. Auch schätzten die Eltern der vorbereiteten Kinder deren Befinden nach Klinikaufenthalt günstiger ein, als die Eltern der Kontrollgruppe.
6.3.3 Informationen und krankheitsbewältigendes Handeln Da Handeln in der Regel durch kognitive Konzepte gesteuert wird, ist grundsätzlich von einer engen Beziehung zwischen Krankheitswissen bzw. – Konzepten und krankheitsbewältigendem Handeln auszugehen. Zu den Verhaltensbereichen, die durch Krankheitskonzepte beeinflusst werden können, zählt Lohaus (1993) u. a. Compliance, Bewältigungshandeln und präventives Handeln. Jedoch liegen zur Wirkung von Information und Wissen auf Handeln in der Literatur nur wenige und widersprüchliche Ergebnisse vor, die insgesamt nur geringe Beziehungen zwischen Wissen und Handeln nahe legen. Luderer (1989) beschreibt eine positive Wirkung zwischen Wissen und Compliance, sofern die Möglichkeit individueller Beratung besteht und nachgeprüft werden kann, inwieweit Informationen verstanden und behalten werden. Entscheidend für eine Verhaltenswirksamkeit sei also die Qualität der Beratung. Rubin et al. (1989) untersuchten bei 91 asthmakranken Kinder im Alter von sieben bis 12 Jahren den Zusammenhang zwischen Asthmamanagement und einer Reihe von Faktoren, u. a. Wissen über Asthma, Angst, Kontrollüberzeugungen, etc. Das Wissen der Kinder sagte als einziger Faktor das Verhalten im Umgang mit Asthma voraus (vgl. Warschburger et al. 1997). In Anlehnung an die Theorie des vernünftigen Handelns (theory of reasoned action) (Ajzen & Fishbein, 1980), die postuliert, dass Handlung am stärksten durch ihre Intentionen bestimmt wird, wurde insbesondere im Kontext Gesundheitsförderung und Prävention versucht, Verhaltensänderungen durch reine Wis-
Exkurs Krankheitskonzeptforschung
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sensvermittlung zu bewirken. Durch Informationsgabe, so die Hypothese, sollten positive Meinungen über das gewünschte Verhalten und damit Einstellungen, Wünsche und Intentionen bezüglich Gesundheits- und Krankheitsverhalten erzeugt werden, mit dem Ziel, dadurch die Wahrscheinlichkeit gewünschten Verhaltens zu erhöhen. Die Effekte von Information und Aufklärung auf Verhalten erwiesen sich jedoch insgesamt als verschwindend gering (vgl. Jerusalem, 1997), so dass Schwarzer (1992) resümiert: »Aufklärung kann einen Ausgangspunkt darstellen (vgl. Keesling & Friedman, 1987), aber die Gesundheitspsychologie zweifelt an der Verhaltenswirksamkeit von Information allein« (S. 219). In dieselbe Richtung argumentieren auch Schmidt & Dlugosch (1997) indem sie krankheits – und behandlungsbezogenes Wissen und damit die Bereitschaft zur Information als: »Elementare psychologische Grundvoraussetzung jeder Compliance« definieren (S. 31). Jedoch scheint Aufklärung lediglich ein erster Schritt zu sein, eine notwendige jedoch oft nicht hinreichende Bedingung einer Verhaltensänderung. Um eine Umsetzung der vermittelten Kenntnisse in angemessenes Handeln zu gewährleisten, müssen neben ausreichendem Basiswissen weitere Einflussfaktoren hinzukommen, von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang insbesondere Kontrollüberzeugungen (vgl. Schwarzer, 1992). Exkurs Krankheitskonzeptforschung
6.4
Exkurs Krankheitskonzeptforschung
Subjektive Krankheitskonzepte bzw. -theorien werden nach Filipp & Aymanns (1997) als komplexe Aggregate krankheitsbezogener Kognitionen definiert, die in bestimmter Weise organisiert und repräsentiert sind und das Insgesamt aller Wissens- und Vorstellungsinhalte abbilden, die mit der jeweils betrachteten Erkrankung assoziiert sind. Vor dem Hintergrund der ihnen zu Verfügung stehenden Informationen und Erfahrungen entwickeln auch Kinder in Auseinandersetzung mit Erkrankung Annahmen, Vorstellungen, Erklärungen und Deutungen, mit deren Hilfe sie die Krankheit zu »verstehen« suchen. »Irrespective of whether they are given partial information, or no information, children will constantly seek to make sense of the world on the basis of that which they know and experience« (Rushforth, 1999, S. 684). Als problematisch gezeigt hat sich jedoch, wie bereits dargestellt, dass Struktur und Inhalt dieser subjektiven Krankheitskonzepte insbesondere bei jüngeren Kindern in der Regel von medizinisch-wissenschaftlichen Erklärungen stark abweichen (vgl. Wiedebusch, 1993). Nicht selten bilden falsche Vorstellungen, unzureichende Informationen, negative Verzerrungen, Angst, Schuldgefühle, Fatalismus oder Scham die Basis dieser Patientenkonzepte (vgl. Turk & Meichenbaum, 1994). In den bisherigen Forschungsansätzen und Behandlungsangeboten werden jedoch die individuelle Situation minderjähriger psychiatrischer Patienten, ihre Vorstellungen, Erklärungsmodelle, Ängste und Sorgen unzureichend be-
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Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
rücksichtigt. Die Relevanz dieser subjektiven Sichtweisen wird ebenso unterschätzt, wie die Bedeutung von Informationen für den Patienten. Die vorliegende Forschungsliteratur zu Krankheitskonzepten von Kindern bezieht sich überwiegend auf gesunde Kinder und die Entwicklung krankheitsübergreifender Konzeptbildungen (z. B. Lohaus, 1993). Untersuchungen, in denen Konzepte zu spezifischen Krankheitsbildern analysiert werden, fokussieren fast ausschließlich auf chronische Erkrankungen, während die Entwicklung subjektiver Krankheitstheorien bei kinder- und jugendpsychiatrischen Symptombildern bisher weitgehend ausgeklammert wird (vgl. Eiser, 1990; Lohaus, 1993; Petermann & Wiedebusch, 2001; Schmidt & Lehmkuhl, 1994). In Bezug auf die Beschreibung und Analyse subjektiver Krankheitsvorstellungen und -konzepte lassen sich zwei große theoretische Ansätze und damit verbundene theoretische Zugänge unterscheiden, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.
6.4.1 Kognitiv-strukturalistische Forschungsansätze Bei der Erforschung von Krankheitstheorien und -verständnis von Kindern bezieht sich der in der Literatur am stärksten vertretene Ansatz auf die Forschungstradition der kognitiven Entwicklungstheorie nach Piaget. Die Grundannahme besteht dabei darin, dass sich kindliche Theorien bzw. Konzepte über Krankheit in Abhängigkeit von der allgemeinen kognitiven Entwicklung ausbilden. Die in den verschiedenen Entwicklungsstadien verfügbaren kognitiven Operationen bilden nach diesem Ansatz die Grundlage der jeweils verfügbaren Auffassungsmöglichkeiten und -grenzen. Ziel ist es, die für die jeweiligen Entwicklungsstufen typische Krankheitskonzepte zu eruieren und zu beschrieben. Für eine ausführliche Darstellung der in diesem Zusammenhang wesentlichen drei Entwicklungsstadien (präoperationale –, konkret-operationale – bzw. formal-operationale Entwicklungsstufe) sowie der mit diesen Stadien verbundenen typischen Merkmale und Grenzen des Krankheitsverständnisses sei auf Lohaus (1993) bzw. Petermann & Wiedebusch (2001) verwiesen. Wesentlich ist, dass Einschränkungen hinsichtlich Krankheitsvorstellungen und -verständnis insbesondere in Bezug auf das präoperationale- bzw. konkretoperationale Niveau vorhergesagt werden. Aufgrund der Eindimensionalität des Denkens und dem fehlenden Verständnis für Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge werden In Bezug auf die präoperationale Entwicklungsstufe (Altersbereich ca. 3 bis 6 Jahre) fehlende, irrationale oder magische Erklärungskonzepte für das Auftreten von Erkrankungen (z. B. die Auffassung von Erkrankung als Bestrafung für eigenes Fehlverhalten) als charakteristisch beschrieben. »Wird die Krankheit unmittelbar als Strafe empfunden«, so argumentiert Lohaus (1990), »dann kann dies auf der affektiven Seite auch mit Schuldgefühlen seitens des Kindes einhergehen – ein Aspekt, der beim Umgang mit
Exkurs Krankheitskonzeptforschung
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Kindern dieses Stadiums zumindest in Betracht gezogen werden sollte« (S. 40). Die Abhängigkeit des Denkens von direkten Erfahrungen und wahrnehmbaren Erscheinungen führt weiterhin dazu, dass nicht sichtbare oder nicht spürbare Krankheitssymptome nicht erlebt werden. Eine Trennung zwischen den Kategorien psychisch und physisch ist noch nicht möglich, wie auch der Prozesscharakter von Krankheit noch nicht erkannt wird. Der kindliche Egozentrismus verhindert darüber hinaus, Ereignisse aus einer anderen, als der eigenen Sichtweise zu verstehen. Problematische Folge dieses egozentrischen Denkens ist, dass die grundsätzlich positiven Intentionen des Behandlungspersonals, die für das Kind häufig kurzfristig mit Frustrationen oder Schmerzen verbunden sind, nicht erkannt werden können. So können jüngere Kinder: »wenn schmerzhafte medizinische Interventionen erforderlich sind . . . Ängste vor den behandelnden Personen entwickeln, wenn sie nicht zwischen den Erfordernissen der Intervention und den Intentionen der ausführenden Personen differenzieren« (Lohaus, 1993, S. 126). Mit Entwicklung der Perspektiven- und Rollenübernahmefähigkeit im Rahmen der konkret-operationalen Entwicklungsstufe (Altersbereich ca. 7 bis 11 Jahre), wird die egozentristische Sichtweise zunehmend aufgegeben. Neben dem eigenen Blickwinkel wird damit auch die Perspektive anderer Personen, etwa des Behandlungsteams, erschließbar. Das Denken bleibt jedoch an konkrete Ereignisse gebunden, so dass direkt beobachtbare Krankheitssymptome weiterhin fokussiert werden, während intern ablaufende Prozesse wenig Berücksichtigung finden. Insbesondere innere Körpervorgänge werden nicht adäquat konzeptualisiert, mangelnde oder fiktive Vorstellungen über inneres Körpergeschehen sind daher weit verbreitet. Auch im Hinblick auf psychische Vorgänge ist in diesem Stadium noch kein Verständnis zu erwarten. Durch die zunehmende Fähigkeit, mehrere Aspekte gleichzeitig zu betrachten, können jedoch einfache Ursache-Wirkungs-Mechanismen (z. B. Erkrankung als Folge von Krankheitserregern) und Teil-Ganzes-Relationen (z. B. einzelne Teilschritte eines Behandlungsziels) verstanden werden. Erst mit fortschreitendem Alter und insbesondere mit dem Erreichen des formal-operationalen Entwicklungsstadiums werden Krankheiten realistischer, d. h. multifaktoriell gesehen. Neben physikalischen und physiologischen Faktoren wird die Möglichkeit einbezogen, dass auch psychologische Faktoren, wie Gedanken und Gefühle das Krankheitsgeschehen beeinflussen können. So fällt auch die Erkenntnis, dass eine Krankheit das Ergebnis von psychischem Stress sein kann, in dieses kognitive Stadium. Unangemessene Vorstellungen von Krankheit und Behandlung werden der Tradition Piagets folgend also vorwiegend im Altersbereich zwischen ca. drei und 11 Jahren angesiedelt. Vor dem Hintergrund dieser Theorie wird geschlussfolgert, dass Kinder, die sich auf diesen Entwicklungsniveaus befinden, aufgrund fehlender kognitiver Strukturen unfähig sind, medizinische Informationen zu verstehen. Vereinzelt wird sogar angenommen, dass Aufklärung vor dem Hintergrund
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mangelnder kognitiver Operationen mehr Schaden als Nutzen anrichten kann. Rushforth (1999) fasst diese problematische Argumentation strukturgenetischer Ansätze wie folgt zusammen: »Misconceptions, confusion, and partial understanding of health and illness concepts are inevitable consequences of cognitive immaturity, which can only be overcome by advancement in maturation and chronological age. . . . Consequently, repeated assumptions are offered in the health and illness literature, which conclude that a child of a certain age is unable to understand a given concept; therefore it is deemed inappropriate that he should be told« (S. 684). Tatsächlich wurden zu einer Vielzahl von gesundheits- und krankheitsbezogenen Themen Entwicklungsabfolgen, die eine Parallelität zur allgemeinen kognitiven Entwicklung nahe legen, nachgewiesen (eine Zusammenstellung von Untersuchungen liefern z. B. Schmidt & Lehmkuhl, 1994). Der Ansatz liefert unserer Meinung nach wichtige entwicklungsspezifische Anhaltspunkte sowie Verständnis- und Interpretationshilfen für die praktische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Unserer Meinung nach zurecht kritisiert wird jedoch die rigide Kategorisierung und damit Vereinfachung kindlicher Vorstellungen entsprechend dem hypothetisch zugrunde gelegten Modell der kognitiven Entwicklung. Intraindividuelle Unterschiede in der Konzeptbildung in Bezug auf unterschiedliche Erkrankungen werden ebenso vernachlässigt, wie individuelle Krankheitsvorerfahrungen, die Schwere der Erkrankung sowie soziale und kulturelle Faktoren.
6.4.2 Inhaltlich-wissensorientierte Forschungsansätze Dass Kinder ein weitaus größeres Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Hospitalisierung etablieren können als gemäß der traditionellen Entwicklungstheorien angenommen wird, formulieren jüngere kognitionswissenschaftliche Forschungsansätze. Diese neueren Ansätze legen ihren Schwerpunkt stärker auf inhaltliche Aspekte von Wissen sowie auf Erfahrung und gehen nicht von der Annahme einer strukturellen Beschränkung kindlicher Kognitionen aus. Hintergrund bildet die Erkenntnis, »dass Denkprozesse entgegen der früheren Annahmen nicht unabhängig von Wissensinhalten funktionieren, sondern sich bereichsspezifisch und in steter Wechselwirkung mit dem Wissenserwerb aufbauen« (vgl. Oerter 1998, S. 37). Individuellen Erfahrungen mit Erkrankung, Wissensumfang sowie Repräsentation und Organisation des vorhandenen Wissens werden im Rahmen dieser Ansätze zentrale Bedeutung beigemessen. Diesem Forschungsansatz folgend belegen Ergebnisse der Experten-NovizenForschung (vgl. Yoos, 1994), dass Kinder in der Lage sind, Expertenkonzepte aufzubauen und sich in ihrer Informationsstrukturierung nicht von Erwachsenen unterscheiden, sofern sie über einen vergleichbaren Umfang von Wissen und Erfahrung verfügen (etwa beim Schachspiel oder mathemathischen Problemlöse-
Exkurs Krankheitskonzeptforschung
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aufgaben). Jedoch ist bisher nur wenig thematisiert worden, inwieweit Kinder vor dem Hintergrund eigener Krankheitserfahrung und damit verbunden, vermehrter Wissenszufuhr, elaborierte krankheitsspezifische Expertenkonzepte ausdifferenzieren können (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2001). Zusammenfassend basieren die meisten Arbeiten über kindliche Konzepte von Krankheit und Gesundheit auf einem Stufenmodell der Entwicklung, aus dem gefolgert wird, dass Kinder über Krankheit qualitativ anders denken als Erwachsene und sie nur Informationen, die ihrem kognitivem Niveau entsprechen, verstehen können. Vor dem Hintergrund jüngerer kognitionswissenschaftlicher Theorien wird dagegen davon ausgegangen, dass Kinder weder eine vollkommen andere Erklärung als Erwachsene für eine Krankheit brauchen, noch dass sie auf einem bestimmten strukturellen Niveau unfähig sind, bestimmte Konzepte zu verstehen. Beide Herangehensweisen, kognitive Struktur und Inhalt, sind für den klinischen Alltag jedoch von großer Bedeutung, da es sich letztlich, wie Lohaus (1993) überzeugend ausführt, nicht um einander ausschließende, sondern komplementäre Sichtweisen handelt. Ein Verständnis kindlicher Vorstellungen und Konzepte über Krankheit und Behandlung ist daher nur vor dem Hintergrund sowohl entwicklungs- und altersabhängiger struktureller Besonderheiten, als auch inhaltlicher Aspekte, wie Wissensstand und Vorerfahrung möglich. Deshalb ist es auch bei psychisch kranken Kindern wichtig, deren individuelle Wirklichkeit, deren Vorstellungen von ihrer Krankheit zu erfahren, um die Informationen so gezielt auf die kindlichen Bedürfnisse, potenziell unangemessenen Erwartungen, Ängste, Verständnismöglichkeiten und -grenze abstimmen zu können. Jedoch wird »Patientenberatung von Kindern in der Literatur selten erwähnt (wird), obwohl bei dieser Altersgruppe spezielle Gegebenheiten zu berücksichtigen sind, die besondere Herangehensweisen erforderlich machen« (Schmidt & Dlugosch, 1997, S. 33).In Bezug auf die bisher wenigen verfügbaren Informationsprogramme oder -broschüren sei kritisch bemerkt, dass diese häufig auf Eltern ausgerichtet sind und den Bedürfnissen unterschiedlicher Altersgruppen nicht Rechnung tragen. Patientenschulungsprogramme sind jedoch nie Ersatz für individuelle Vorbereitung, so betonen etwa Petermann und Wiedebusch (2001): »Um Patientenschulungen mit chronisch kranken Kindern effizient zu gestalten, ist es erforderlich, die individuellen Konzepte der Kinder kennen zu lernen und sie in die Schulung mit einzubeziehen. . . . Wird die Wissensvermittlung dem jeweiligen kognitiven Entwicklungsstand und damit dem Auffassungsvermögen des Kindes angepasst, können die relevanten Informationen eher in das Krankheits- und Behandlungskonzept integriert werden . . .« (S. 13).
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Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
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Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation
Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation
6.5.1 Einleitung ». . . a serious dialogue with children in matters concerning their own quality of life, in other words, encouraging children’s participation, should both be considered as a basic right, and as a precondition for the promotion of health and well-being« so bezeichnen de Winter, Baerveldt & Kooistra (1999) die Anforderungen nach der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention. Trotz ihrer Verabschiedung vor nunmehr 10 Jahren und der damit verbundenen Verpflichtung, die Sichtweise des Kindes in allen förmlichen, das Kind berührenden Entscheidungen, zu berücksichtigen, gilt jedoch auch heute noch – von einigen Ausnahmen abgesehen – die Feststellung von Kaufmann & Flekkoy aus dem Jahr 1998: »Even with an increasing number of experiences there are no comprehensive systematic studies of how, when, and where children of different ages, in different cultures and contexts, can or should participate in different levels of decision-making« (S. 26). Für den Bereich der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung existiert unseres Wissens nach keine einzige empirische Untersuchung, die die Partizipation minderjähriger Patienten zu ihrem Gegenstand gemacht hat. »Ethical issues related to the rights of children to participate fully in their own mental health treatment decisions have largely been neglected by mental health professionals when they work with children«, so formulieren es auch Hall & Lin (1997; S. 63). Die Bestrebungen der Kinderrechtsbewegung nach Partnerschaft mit Kindern bei der Entscheidungsfindung werden jedoch solange nur geringfügige Erfolge aufweisen, so argumentieren Dixon-Woods et al. (1999), bis es empirisch fundierte Ergebnisse über die Auswirkungen gemeinsamer Entscheidungsfindung gibt sowie darüber, wie Teilhabe minderjähriger Patienten an Entscheidungen in der Praxis umzusetzen ist. Auf ein grundsätzliches Problem bei der Untersuchung von Patientenbeteiligung weisen in diesem Zusammenhang Elwyn et al. (2001) hin. So fehle es trotz des allgemein gestiegenen Interesses am Thema der Patienten-Partizipation bislang an einer übereinstimmenden Definition von »Beteiligung«, was die Erforschung ihrer Auswirkungen insgesamt deutlich erschwert (vgl. Entwistle, 1999). Die Konzeptualisierung des Konstrukts müsse, so betonen die Autoren explizit, der Prozesshaftigkeit von Patientenpartizipation gerecht werden, da Beteiligungsmöglichkeiten je nach Verlauf der Erkrankung variieren können und somit immer wieder neu zu überprüfen seien (vgl. Fegert et al., 1999; Eich et al., 1997). Angesichts ihrer Recherche zu bestehenden Messinstrumenten der Beteiligung erwachsener Patienten kommen Elwyn et al. (2001) zu dem Schluss: »Existing instruments have not been specifically developed to measure ›patient involvement‹ in clinical interactions. Those that have items relevant to this construct are not well
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developed or validated« (Elwyn et al., 2001, S. 14) oder »It is clear that involving patients in decision-making, either implicitly or explicitly, providing treatment options, information about choices and then engaging in a decision-making stage are ›constructs‹ that have not been considered to any significant depth in clinical interaction analysis.« Angesichts dieser Ergebnisse wird bei der nachfolgenden Darstellung empirischer Ergebnisse zum Thema Partizipation – soweit möglich – zusätzlich die Operationalisierung des Konstrukts »Partizipation« erläutert. Aufgrund des weitgehenden Mangels an Forschung innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden wir uns darüber hinaus auch auf Studien aus dem Bereich somatischer Erkrankungen sowie auf Untersuchungen zur Beteiligung erwachsener Patienten beziehen.
6.5.2 Findet Beteiligung an Behandlungsentscheidungen statt? Welchen geringen Stellenwert Beteiligung und Einbeziehung minderjähriger Patienten im ambulanten Setting hat, verdeutlicht die Untersuchung von Taylor, Adelman & Kaser-Boyd (1984). Im Rahmen einer postalischen Fragebogenerhebung bei ambulant psychotherapeutisch oder beraterisch Tätigen, zeigte sich, dass lediglich 48 % der insgesamt 182 teilnehmenden Therapeuten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nach ihrer Zustimmung zur Therapie fragten. Ein Durchschnittsalter von 12,3 Jahren konnte aus den Antworten derjenigen ermittelt werden, die ihre zukünftigen Klienten in die Entscheidungsfindung über den Beginn einer Therapie einbezogen, wobei ihr Vorgehen vorwiegend mit dem Wunsch nach Steigerung der Motivation und einer Verbesserung der therapeutischen Beziehung begründet wurde, mit der Berücksichtigung rechtlicher Vorgaben sowie mit dem Wunsch Autonomie und Kontrolle der Klienten durch die Zustimmung zu erhöhen. Diese, von einem Teil der Behandler genannten Intentionen decken sich mit den in der Literatur vielfach zitierten Auswirkungen von Partizipation – empirische Untersuchungen über die Folgen von Teilhabe an Entscheidungen bzw. die fehlende Berücksichtigung kindlicher Meinungen sind jedoch nur vereinzelt zu finden. Die Befragung der Behandler und nicht der betroffenen Patienten über die Beteiligungspraxis im Rahmen dieser Untersuchung liefert insofern wichtige Einblicke, als die Einstellungen und Werte behandelnder Ärzte und Therapeuten eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der Arzt/Therapeut-Patient-Beziehung spielen (vgl. Brody, 1980; Tates & Meeuwesen, 2001) und somit auch bei der Gewährung von Teilhabe an Entscheidungen. Wie demgegenüber minderjährige Patienten ihre Beteiligung an medizinischen Entscheidungen erleben und wie sehr sich Eltern und Kinder in ihren Sichtweisen über die Beteiligungspraxis unterscheiden, haben Alderson & Mont-
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gomery (1996) in ihrer Untersuchung an 120 Patienten im Alter zwischen acht und 15 Jahren und deren Eltern ermittelt. Während lediglich 36,7 % der Kinder und Jugendlichen der Meinung waren, gemeinsam mit ihren Eltern die Entscheidung über eine orthopädische Operation getroffen zu haben, glaubten 51,7 % der Eltern, sie hätten ihr Kind in diese Entscheidung einbezogen. Diese zwischen Eltern und ihren Kindern differierenden Angaben bestätigen einmal mehr die Bedeutung der zusätzlichen Erfassung der subjektiven Sichtweisen der Betroffenen selbst. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den durchgeführten medizinischen Eingriffen überwiegend um elektive Operationen handelte, erstaunt die geringe Beteiligung der Patienten besonders. McCabe (1996, S. 505f) führt dazu aus: »We need to support minors’ involvement in decision making, particularly for treatment decisions where the clarity of the ›right choice‹ fades, where treatment preferences are based upon personal values and ›quality of life‹ issues.« Die Partizipationsmöglichkeiten an der Entscheidung über eine Impfung – eine offensichtlich weniger invasive und in ihren Konsequenzen weniger weit reichende Maßnahme – wurden in der Untersuchung von Rylance, Brown & Rylance (1995) deutlich höher eingeschätzt. Immerhin 64 % der 11- bis 15-jährigen Kinder und Jugendlichen äußerten, diese Entscheidung gemeinsam mit den Eltern getroffen zu haben. Von den Ärzten nach ihrer Zustimmung und Meinung gefragt, wurden jedoch weniger als 10 % von ihnen, was die Autoren zu der Aussage veranlasst: ». . . children’s rights are little recognised, poorly respected, and inadequately supported by health professional advocacy« (S. 311). Teilhabe minderjähriger Patienten im medizinischen Kontext beziehe sich jedoch nicht nur auf Behandlungsentscheidungen, sondern beginne, so Tates & Meeuwesen (2002), schon bei der Einbeziehung in Gespräche. Obwohl zunehmend anerkannt werde, dass Minderjährige mehr in Gesundheitsangelegenheiten einzubeziehen sind (vgl. Alderson & Montgomery, 1996; Hart & Chesson, 1998), mussten Tates & Meeuwesen (2000, 2001) feststellen, dass die Beteiligung minderjähriger somatischer Patienten sogar an Konsultationsgesprächen sehr gering ausfällt. Grundlage der Studien von Tates & Meeuwesen bilden Analysen von 106 videoaufgezeichneten Arztgesprächen über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren, an denen neben Patient und Arzt die Eltern (vorwiegend die Mutter) beteiligt waren. Alle Personen nahmen dabei lediglich einmal an der Untersuchung teil, es handelt sich also nicht um eine Längsschnittstudie. Im zeitlichen Verlauf (von 1975 bis 1993) konnte insgesamt eine Steigerung der Partizipation minderjähriger Patienten an medizinischen Gesprächen festgestellt werden, vor allem die älteren der 4 bis 12-jährigen Kinder wurden an den Gesprächen beteiligt. Eltern und Ärzte unterschieden sich jedoch deutlich in der Förderung bzw. Unterdrückung der Partizipation Minderjähriger. Während die untersuchten Ärzte das Alter der Kinder beim Versuch einer aktiven Einbeziehung der Kinder berücksichtigten, war das elterliche Verhalten, das insgesamt von einem starken Kon-
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trollbedürfnis über die Gesprächssituation gekennzeichnet war, vom Alter der Kinder unabhängig (Tates & Meeuwesen, 2000). Der Gesprächsanteil der Kinder war in dieser Studie auf lediglich 9,4 % begrenzt, Pantell (1982) ermittelte eine Quote von 14 %, in der Studie von Aronsson & Rundstöm (1988) lag sie bei 8 %. Insgesamt, so die Autoren, haben sich die Ärzte überwiegend beim Anamnesegespräch bzw. bei der körperlichen Untersuchung direkt an das Kind gewandt, bei der Diskussion der Behandlungsentscheidung demgegenüber fast ausschließlich an die Eltern. Entsprechend beschreibt Pantell (1982) das Interaktionsverhalten zwischen Arzt und Eltern als instrumentell, informationsvermittelnd und fragend, die Beziehung zwischen Arzt und Kind als vorwiegend affektiv und als »joking relationship«. Dieser Unterschied im Verhalten minderjährigen Patienten gegenüber steht in deutlichem Gegensatz zu Forschungsergebnissen, die besagen, dass Kinder mehr über medizinische Angelegenheiten und Krankheitskonzepte verstehen als bisher angenommen. Ferner entspricht dieses Vorgehen nicht den Entwicklungen hin zu einem patientenzentrierten Ansatz in der Medizin (vgl. Mead & Bower, 2000) sowie den Erfordernissen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung. »From the perspective of patient-centred care«, so Tates & Meeuwesen (2000, S. 159), »the child’s voice in the consultation should be as important as the parent’s.« Die Analyse der Gesprächsverläufe zeigte ferner (Tates & Meeuwesen, 2002), dass trotz anfänglicher unterschiedlicher Einstellungen von Eltern und Ärzten bezüglich der Partizipation von Kindern im Laufe des Gesprächs eine Situation erzeugt wird, in der die Beteiligung von Kindern eher die Ausnahme darstellt. Die Eltern sehen sich in der Regel verantwortlich für Gesundheitsfragen ihrer Kinder und verhalten sich, so die Autoren, als wären die Kinder gar nicht anwesend. Kinder stellen in der Regel dieses Verhalten der Eltern nicht infrage, von Seiten der Ärzte wird es schließlich häufig sogar weiter gefördert, indem sie sich im Laufe der Interaktion immer mehr nach den Eltern ausrichten. »Obviously, in the case of the doctor-parent-child triad, there are still some gaps to bridge to reach the goal of talking with children instead of talking to children in medical encounters« (Tates & Meeuwesen, 2002, S. 160). Vor allem dürfe die geringe kindliche Beteiligung nicht auf die Inkompetenz der Kinder zurückgeführt werden, warnen die Autoren, sondern vielmehr auf die Gesprächsstruktur, die vor allem von den erwachsenen Beteiligten geprägt wird. Die geringe Anzahl der zur Patientenbeteiligung dargestellten empirischen Studien weist unserer Meinung nach darauf hin, welchen geringen Stellenwert Fragen der Partizipation bei der Behandlung minderjähriger Patienten bisher spielen, insbesondere im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext. Dort, wo die derzeitige Teilhabe von Kindern und Jugendlichen untersucht wurde, lässt sich jedoch eine weitgehende Vernachlässigung kindlicher Meinungen und Sichtweisen feststellen. Inwieweit auf Seiten von Patienten ein Bedürfnis nach Beteili-
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gung besteht und welche Formen Patientenpartizipation annehmen kann, sollen die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Die detaillierte Erforschung der Wünsche der Betroffenen spielt vor allem bei der Anpassung der Beteiligungsangebote eine entscheidende Rolle, worauf auch Guadognoli & Ward (1998, S. 337) hingewiesen haben: ». . . the premise would be that to achieve active collaboration in decision-making, physicians need to evaluate a patient’s level of readiness and to tailor interventions for participation accordingly.«
6.5.3 Wollen Patienten an Entscheidungen beteiligt werden? Zu den Partizipationsbedürfnissen im medizinischen Kontext Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, haben bei der veränderten Sichtweise auf die Arzt-Patient-Beziehung sowohl ethische und moralische als auch juristische Erwägungen eine bedeutende Rolle gespielt. McKinstry (2000, S. 867) stellt jedoch in diesem Zusammenhang fest, ». . . there is little evidence that patients find shared decision making acceptable« und hat daher die Partizipationsbedürfnisse von 410 erwachsenen Patienten in niedergelassenen Praxen anhand von Video-Vignetten untersucht, in denen der behandelnde Arzt entweder partnerschaftlich, den Patienten in die Behandlung einbeziehend dargestellt wurde oder als anweisend und alleine bestimmend. Insgesamt zeigte sich, dass die Beteiligungswünsche der befragten Patienten deutlich variieren. Von der Mehrzahl eindeutig bevorzugt wurde jedoch eine anweisende Behandlungsform des Arztes, womit sich die Präferenzen der Befragten zu einem großen Teil mit dem eingeschätzten Vorgehen des eigenen Arztes und somit mit ihrem eigenen Erfahrungshintergrund deckten. Deutliche Unterschiede zeigten sich jedoch in Abhängigkeit vom Alter der Befragten, von der Art der dargestellten Erkrankung sowie von der sozialen Zugehörigkeit: Patienten über einem Alter von 61 Jahren bevorzugten eindeutig das anweisende Vorgehen des Arztes, das ebenfalls bei physischen Problemen favorisiert wurde. Bei Depressionen hingegen sprach sich die Mehrheit für das partizipative Modell aus, bei dem die Patienten stärker in die Behandlung einbezogen wurden. Für ein gemeinsames Vorgehen in der Behandlung plädierten ferner Patienten der oberen sozialen Schichten. Aus den Begründungen der Studienteilnehmer schlussfolgerte der Autor, dass fehlendes Wissen über eine Erkrankung häufig als Argument für ein eher anweisendes ärztliches Vorgehen herangezogen wird – womit die Bedeutung von Patientenschulungsprogrammen nachhaltig bestätigt wird. Ein partizipatives Modell werde demgegenüber dann von Patienten bevorzugt, wenn sie meinen, einen größeren Einblick in das Problem aufzuweisen als die Ärzte, wie beispielsweise im Fall von Depressionen – im Gegensatz zu physischen Erkrankungen (vgl. auch Savage et al., 1990).
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Signifikante Altersunterschiede im Partizipationsbedürfnis ermittelten auch Cassileth et al. (1980) bei 256 Krebspatienten. So lag der Wunsch nach Teilhabe (erfasst über 2 Items »I prefer to participate in decisions about my medical care and treatment« vs. »I prefer to leave decisions about my medical care and treatment up to my doctor«) bei den 20 bis 39-jährigen bei 87 %, bei den über 60jährigen demgegenüber bei lediglich 51 %. Ein deutlich geringeres Bedürfnis nach Partizipation zeigten Krebspatienten, die erst seit kurzer Zeit mit ihrer Diagnose konfrontiert waren (Degner & Sloan, 1992). Lediglich 12 % der Patienten wollten demnach eine aktive Rolle bei Behandlungsentscheidungen spielen, 29 % wollten die Verantwortung gemeinsam mit dem Arzt teilen und 59 % bevorzugten eine passive Rolle. Als stärkster Prädiktor des Partizipationsbedürfnisses erwies sich auch in dieser Studie das Alter der Patienten, insgesamt ließen sich jedoch nur 15 % der Varianz durch soziodemografische Variablen aufklären. Hervorzuheben ist diese Studie von Degner & Sloan (1992) vor allem aufgrund des Versuchs, die Partizipationsbedürfnisse der Patienten anhand von Präferenzurteilen zu erfassen. Fünf Karten (von der autonomen Entscheidung des Patienten über eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient bis zur autonomen Entscheidung des Arztes) sollten durch Paarvergleiche in eine Reihenfolge gebracht werden, so dass ein Abwägen und Vergleichen für die Patienten ermöglicht wurde, und nicht nur die Wahl zwischen zwei Alternativen, wie sonst üblich. Insgesamt verdeutlichen diese Studien aus dem Erwachsenenbereich, dass sowohl kommunikative Fähigkeiten als auch ausreichend Zeit in Gesprächen nötig sind, um die unterschiedlichen Partizipationsbedürfnisse von Patienten erfassen zu können und diesen gerecht zu werden. Das Alter erwachsener Patienten spielt jedoch, so zeigen diese Ergebnisse, bei der Einschätzung der Beteiligungswünsche eine entscheidende Rolle. Inwieweit auf Seiten minderjähriger Patienten ein Bedürfnis nach Partizipation an medizinischen Entscheidungen besteht, zeigt die bereits zitierte Studie von Alderson & Montgomery (1996). Sowohl vor der orthopädischen Operation als auch danach äußerte jeweils ein Großteil von ihnen (45,8 % bzw. 39,2 %) den Wunsch, in die Entscheidung einbezogen zu werden (»Who should be the main decider?«). Die Präferenz der Kinder und Jugendlichen lag dabei ganz eindeutig auf Einbezug aller Beteiligten in die Entscheidung, d. h. sowohl die Kinder als auch Ärzte und Eltern sollten ihre Meinung einbringen können. »I think everyone should give an opinion, and maybe the doctor put them together«, begründete ein 11-jähriges Mädchen ihren Wunsch. Während immerhin 38 % der Kinder und Jugendlichen sowohl vor als auch nach der Operation ein Interesse an Teilhabe an der Entscheidung verneinten, sprachen sich ca. 15 % für ein alleiniges Entscheidungsrecht der Patienten aus. Welche Faktoren das Partizipationsbedürfnis minderjähriger Patienten vorhersagen, wurde im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht thematisiert. Die Autoren betonen allerdings, ». . . respect for autonomy can mean supporting people as far as they want to go, trying not to impose on them either
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over-involvement or exclusion and, at times, aiming for participation but not necessarily full autonomy if that is the child’s wish« (S. 46). Ein Bedürfnis nach Partizipation während eines Krankenhausaufenthaltes zeigte sich ebenfalls im Rahmen einer nicht-teilnehmenden Beobachtungsstudie von Runeson et al. (2002). Die Inhaltsanalyse der entstandenen narrativen Texte verdeutlichte, dass sich die Bedürfnisse der 21 beobachteten Jungen in unangenehmen, schmerzhaften Situationen und in nicht-bedrohlichen Situationen deutlich unterschieden. Der Wunsch, in Diskussionen über die Behandlung einbezogen zu werden sowie das Bedürfnis, Entscheidungen zu treffen, bezog sich ausschließlich auf die nicht-bedrohliche Momente und dabei sowohl auf alltägliche Angelegenheiten, wie Essen, Kleidung und Aktivitäten, als auch auf das Vorgehen der Ärzte und Schwestern. Bezogen auf die praktische Umsetzung der Ergebnisse schlagen die Autoren vor, dass Kinder gerade in diesen wenig aversiv erlebten Zeiten, wo sie neugierig sind, informiert und an Entscheidungen beteiligt werden sollten, um somit die Wahrscheinlich zu erhöhen, dass sie auch in unangenehmen Situationen ihr Bedürfnis nach Kontrolle zufrieden stellend aufrecht erhalten können. Während die Partizipationsbedürfnisse minderjähriger, stationär behandelter Patienten mit psychiatrischen Auffälligkeiten bisher kein Gegenstand der Forschung sind, konnten Taylor, Adelman & Kaser-Boyd (1983) bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernproblemen ein großes Bedürfnis nach Beteiligung an Schullaufbahnentscheidungen nachweisen. Sowohl vor der Entscheidung über ihre weitere Beschulung als auch danach wurden die Partizipationsbedürfnisse von 32 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 19 Jahren erhoben sowie ihre selbstbeurteilte Partizipationskompetenz, ihre Erfolgseinschätzung und mögliche negative Konsequenzen der Teilhabe. Einzuschätzen waren die Quantität der gewünschten Teilhabe anhand einer 4-stufigen Ratingskala (»How much do you want to be involved?«) sowie die gewünschte Teilnahme an 6 möglichen Planungs- und Entscheidungsstufen. Der Großteil der Befragten äußerte Interesse an einer Beteiligung, lediglich 16 % wollten »überhaupt nicht« partizipieren. Insgesamt zeigte sich jedoch, dass es den Kindern und Jugendlichen weniger um eine Beteiligung an der eigentlichen Entscheidung ging, sondern vielmehr um die Teilhabe an den Vorbereitungstreffen, in denen beispielsweise die Ziele mit den Lehrern diskutiert wurden. Bei dem eigentlichen Treffen und der Entscheidung wollten nur 40 % der Schüler zugegen sein. Nach der beschlussfassenden Zusammenkunft stieg der Anteil der Schüler, der sich selbst für kompetent hielt, signifikant von 65 % (vorher) auf 94 %. Der Wunsch nach Teilhabe wurde begründet mit einem Bedürfnis nach Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidung bzw. mit einem Wunsch nach Information über diese, sie selbst betreffenden Vorgänge. Die Beurteilung der Wirksamkeit ihrer Teilnahme an der Entscheidungsfindung stieg signifikant mit dem Alter der Schüler. Mit der
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positiven Einschätzung der eigenen Wirksamkeit nahm ferner das Interesse an zukünftiger Partizipation zu, das insgesamt von 53 % der Kinder und Jugendlichen geäußert wurde. Der Vorteil dieser Studie ist darin zu sehen, dass die Kinder und Jugendlichen im Rahmen einer sie direkt betreffenden Entscheidungssituation befragt wurden und sich nicht zu hypothetischen Dilemmata zu positionieren hatten. Einschränkend muss jedoch darauf verwiesen werden, dass es sich u. a. bedingt durch diese Realitätsnähe um eine sehr kleine Stichprobe handelt, die eine Generalisierung der Ergebnisse nur einschränkend erlaubt. Die Replikation dieser Studie mit 81 Schülern im Alter zwischen sieben und 20 Jahren (Taylor, Adelman & Kaser-Boyd, 1985) unterstützt jedoch die Reliabilität der Ergebnisse bezüglich Partizipationsinteressen und tatsächlicher Partizipation. Erneut zeigte sich, dass Minderjährige in Entscheidungen über ihre schulische Zukunft einbezogen werden wollen (99 %), sie sich für kompetent halten (95 %), sie ihre Präferenzen benennen können und dass sie ihre Pläne bis zum Ende verfolgen. Neben einer Zunahme des Partizipationsinteresses und des Durchhaltevermögens mit dem Alter zeigte sich, dass diejenigen mit den schwersten Problemen das größte Interesse an Beteiligung äußerten. Zusätzlich konnte im Rahmen dieser Studie festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche nicht nur an Partizipation interessiert, sondern darüber hinaus auch bereit sind, in die Verbesserung ihrer Partizipationsfähigkeit zu investieren (Kommunikationstrainings, Vorbereitung auf ein Auftreten in Ausschüssen etc.). Die an der Entscheidung beteiligten Erwachsenen (Eltern, Lehrer, Schulpsychologen) beurteilten die Kinder und Jugendlichen ferner als effektiv in ihrer Teilnahme an den Entscheidungen. Das Partizipationsinteresse und die tatsächliche Teilnahme stiegen bei denjenigen Schülern (N = 18), die sowohl an der ersten als auch an der zweiten Studie teilnahmen. Dieses Ergebnis betrachten die Autoren im Zusammenhang mit den geringen negativen Auswirkungen von Beteiligung und dem großen Bedürfnis nach zukünftiger Teilhabe als guten Indikator dafür, dass Partizipation an Entscheidungen nicht als »upsetting experience« erlebt werden muss. Auf den Mangel an Studien zu den Folgen von Partizipation wird jedoch abschließend kritisch verwiesen: »The degree to which appropriate involvement enhances and generalizes minors’ motivation and competence to participate in decision making and positively affects professional attitudes are matters for further study« (S. 234). Insgesamt zeigen die dargestellten Untersuchungen einerseits, dass Patienten grundsätzlich an einer Beteiligung an (Behandlung-)entscheidungen interessiert sind, jedoch andererseits, dass hierbei Alter und Art der Entscheidung eine bedeutende Rolle spielen. Forschung zu den Partizipationsbedürfnissen minderjähriger psychiatrischer Patienten ist daher dringend gefordert, um diesen in zukünftig zu entwickelnden Beteiligungsmodellen überhaupt gerecht werden zu können. Dass Partizipationsbedürfnisse durch eine entsprechende Gestaltung der Kontextbedingungen oder der Arzt-Patient-Beziehung zu fördern bzw. mitunter
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erst zu wecken sind, darauf weisen Guadagnoli & Ward (1998, S. 336) hin: ». . . improvements have to be made to create an environment that encourages patients to participate at a level that is satisfactory to them, since the needs of many patients are not currently being met.« Hinsichtlich der Behandlung Minderjähriger stehen dementsprechend Behandler in der besonderen Verantwortung, explizit die Erlaubnis zu erteilen, Fragen zu stellen und Meinungen einzubringen (vgl. Fegert, 1999), was angesichts von Statusunterschieden und der Neuheit der Situation bei Kindern und Jugendlichen nicht vorausgesetzt werden kann.
6.5.4 Zu den Auswirkungen von Beteiligung Die Befolgung von Therapieverordnungen und ärztlichen Vorschriften durch den Patienten basiert auf dem lange Zeit gültigen Rollenverständnis über die »Definitionsmacht des Experten« im Gesundheitswesen. Dieses unterstellt, dass die Krankheitsdefinitionen des Arztes bzw. Therapeuten grundsätzlich eindeutig und die Verordnungen und Empfehlungen unstrittig seien. »Eine solche Form des ›Patientengehorsams‹«, so schreibt Petermann (1998, S. 9), »scheint weder zeitgemäß noch wird sie der Aufgabe gerecht, eine solide Motivation des Patienten zur Mitwirkung bei einer Therapie aufzubauen und dauerhaft aufrechtzuerhalten. Die erfolgreiche Behandlung eines chronisch Kranken über lange Zeiträume erfordert von diesem zunehmend die Bereitschaft zu aktiver Beteiligung und selbstständigem Engagement. Das medizinische Expertenwissen, die Beratung und Schulung durch den Arzt bzw. den Therapeuten bildet zwar eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung des Therapieerfolgs, da der Patient letztlich selbst in Eigenverantwortung alle Therapieentscheidungen mittragen und umsetzen muss.« Dieser Logik folgend beziehen sich auch die Argumente für die Beteiligung Minderjähriger an Entscheidungen vorwiegend auf eine Steigerung von Motivation, Engagement, Anstrengung und Compliance sowie unter Verweis auf Brehm (1972) und Deci (1980) auf eine Abnahme von Widerstand und Reaktanz (Taylor et al., 1983; Weithorn, 1983). Erwartet wird ferner eine Erhöhung von persönlicher Verantwortung und Kontrolle (Melton, 1983), mit positiven Auswirkungen auf das psychische Befinden sowie eine Stressimpfung (vgl. Meichenbaum, 1977) gegenüber möglichen therapeutischen Anforderungen. Kognitive Entwicklungstheorien und soziale Lerntheorien betonen die Bedeutung von Teilnahme im Hinblick auf Rollenübernahme und moralische Entwicklung (vgl. Melton, 1983). De Winter et al. (1999, S. 20) gehen in ihren Formulierungen noch weiter und schreiben: »Children’s participation in local health projects should be considered as a protective condition for individual development, health and well-being, and as a necessary condition for social integration«. Die empirische Forschung über die Folgen von Partizipation, insbesondere im kinder- und jugendpsychiatrischen Kon-
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text, bleibt jedoch bislang weit hinter diesen Diskussionen zurück, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen werden. Inwieweit Partizipation zu positiven Auswirkungen bei somatisch erkrankten Erwachsenen beitragen kann, haben Guadagnoli & Ward (1998) anhand einer Literaturübersicht zu ermitteln versucht. Positive Folgen von Beteiligung ließen sich demnach sowohl im Hinblick auf das psychische Befinden der Patienten nachweisen, wie beispielsweise auf Hoffnungslosigkeit, Depression und Lebenszufriedenheit (Cassileth et al., 1980; Fallowfield et al., 1990; Pozo et al., 1990), als auch bezüglich medizinischer Variablen (Brody, 1989; Kaplan et al., 1989; Schulman, 1979), wobei die Effekte teilweise nur kurzfristig festzustellen waren (Pozo et al., 1990; Morris & Royle, 1987). Vereinzelt wird auch eine angst- und depressionsauslösende Wirkung von Wahlmöglichkeiten diskutiert, so beispielsweise bei Krebspatienten vor der Entscheidung über eine Operation (Levy et al., 1989). Eine der wenigen Studien, die die Auswirkungen subjektiv erlebter Beteiligung Minderjähriger direkt untersucht hat, wurde von Rosen, Heckman, Carro & Burchard (1994) durchgeführt. Im Rahmen ihrer Studie zur Zufriedenheit mit verschiedenen ambulanten psychiatrischen Betreuungsmaßnahmen haben die Autoren 20 Kinder und Jugendliche mit emotionalen und Verhaltensstörungen im Alter zwischen 11 und 19 Jahren über einen Zeitraum von 3 Monaten befragt. Neben der Zufriedenheit mit der Betreuungsmaßnahme, ihrer subjektiv erlebten Beteiligung am Behandlungsprogramm sowie der erlebten Unbedingtheit der Fürsorge wurde die Anpassung der Kinder und Jugendlichen sowie die Einschränkungen durch die Lebensverhältnisse (Restrictiveness of Residential Placement) erhoben. Die Bedeutung von Teilhabe wird anhand des Ergebnisses belegt, dass Kinder und Jugendliche, die einen hohen Grad an Beteiligung erlebten, zufriedener mit den Maßnahmen waren als die nicht-teilnehmenden Minderjährigen (r = .63; p < .01). Die Beziehung zwischen Partizipation und Zufriedenheit erwies sich darüber hinaus als unabhängig von der Restriktivität der Verhältnisse. D. h., die Zufriedenheit mit dem Behandlungsprogramm konnte auch unter hoch restriktiven Bedingungen durch Partizipation erhöht werden, wohingegen wenig restriktive Bedingungen ohne ein Gefühl von Beteiligung nicht ohne weiteres zur Zufriedenheit beitragen konnten. Zusätzlich zeigte sich, dass teilhabende Kinder und Jugendliche signifikant weniger internalisierende Verhaltensauffälligkeiten (Depression, selbstverletzendes Verhalten) aufwiesen als die anderen Befragten. Insgesamt liefert die Untersuchung, so Rosen et al. (1994), wichtige Hinweise für die Umsetzung von Betreuungsmaßnahmen: ». . . listening to young peoples’ opinions about their care seems inherently positive, furthering the goal of providing services for youths which are humane, respectful and productive« (S. 66). Hervorzuheben ist die Studie einerseits aufgrund des Versuchs, die Auswirkungen von Beteiligung empirisch zu er-
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fassen, andererseits aufgrund des Bemühens, die Partizipation Minderjähriger zu operationalisieren, wobei sich die Items auf folgende Dimensionen beziehen: feelings of being listened to, feelings that youths’ opinions are elicited and respected by caretakers, the perception among youths of having some control over their services. Dass ein Mangel an Einbezug zu negativen Einstellungen einer psychiatrischen/psychotherapeutischen Behandlung gegenüber beitragen kann, haben auch Taylor, Adelman & Kaser-Boyd (1985) gezeigt. Die Autoren haben sich mit der Frage des Widerstands Minderjähriger gegen Therapien auseinandergesetzt, da die Akzeptabilität therapeutischer Maßnahmen bei Minderjährigen aufgrund der häufig vorgenommenen Überweisung durch Dritte nicht selten infrage gestellt wird. Im Rahmen dieser Studie musste festgestellt werden, dass 80 % der 42 Kinder und Jugendlichen im Laufe ihrer Therapie Widerstreben und Unzufriedenheit mit der Maßnahme äußerten. Diese negativen Einstellungen wurden an erster Stelle mit einem Mangel an Wahlfreiheit begründet (»I had to«, »didn’t feel I had a choice«). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse sei Widerstand gegen eine Therapie nicht ausschließlich als defensives und unangebrachtes Verhalten oder als Vermeidungsstrategie zu betrachten. Vielmehr – so die Autoren – sprechen diese Resultate dafür, Wahlmöglichkeiten bezüglich der Zielsetzung und der durchzuführenden Aktivitäten stärker in den Vordergrund zu rücken, um damit die Unzufriedenheit mit der Therapie reduzieren zu können. Dass Mitsprache bei der Therapie auch für erwachsene psychiatrische Patienten ein wichtiger Bestandteil der Bewertung der »idealen« stationär-psychiatrischen Behandlung darstellt, konnten neben Hanson, Björkman & Berglund (1993) auch Spießl, Spießl & Cording (1999) für den deutschsprachigen Raum ermitteln. Basierend auf der qualitativen Inhaltsanalyse von Interviews mit 38 Patienten wurde ein Fragebogen erstellt, der anhand von 39 Items die relative Wichtigkeit verschiedener Aspekte zur Patientenzufriedenheit aus Patientensicht erfasst. Das Item Mitsprache bei der Therapie rangierte im Rahmen dieser Einschätzungen immerhin auf Platz 17. Von den parallel dazu befragten Therapeuten wurden die Items zumeist ähnlich gewichtet, jedoch wurden u. a. die Bedeutung der Mitsprache bei der Therapie sowie des freien Ausgangs unterschätzt. Dies wiege, so die Autoren, umso schwerer, ». . . da die Patientenautonomie gerade im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung und den damit teilweise notwendigen Freiheitsbeschränkungen stark beeinträchtigt sein kann« (S. 7). Hinweise auf eine Verringerung des Erlebens von Zwang durch Beteiligung am Aufnahmeprozess liefern Studien bei zwangseingewiesenen erwachsenen Psychiatriepatienten (vgl. Gilboy & Schmidt, 1971; Hiday et al., 1997; Cascardi & Poythress, 1997; Hoge et al., 1998). Im Rahmen dieser Untersuchungen erwies sich der formale/legale Status (Zwangseinweisung vs. freiwillige Aufnahme) entgegen früheren Annahmen als nur eingeschränkt geeigneter Indikator des durch die Patienten wahrgenommenen Zwangs. So erlebten beispielsweise in einer Studie von Hoge et
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al. (1997) immerhin 10 % der offiziell freiwillig aufgenommenen Patienten Zwang, während sich demgegenüber sogar 35 % der zwangseingewiesenen Patienten eigenen Angaben zufolge nicht zu der Aufnahme gezwungen fühlten. Infolgedessen wurde eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt, mit dem Ziel diejenigen Faktoren zu identifizieren, die trotz der Unfreiwilligkeit einer Maßnahme das Zwangserleben reduzieren. Als federführend ist in diesem Zusammenhang die »MacArthur Network in Law and Mental Health«-Gruppe zu nennen (z. B. Lidz et al., 1993; Bennett et al., 1993; Gardner et al., 1993; Hoge et al., 1993). Die Möglichkeit des Patienten, im Rahmen des Aufnahmeprozesses seine Meinung zu äußern (»to have a voice«), zum eigenen Fall Stellung zu nehmen sowie die Beteiligung am Entscheidungsprozess wird demnach von Psychiatrie-Patienten als zentrale Größe bei der Beurteilung des Aufnahmeprozesses und bei der Wahrnehmung von Zwang erlebt, wie Hoge et al. (1993) und Bennett et al. (1993) als eine der ersten Autoren ermittelt haben. In nachfolgenden Studien, beispielsweise von McKenna et al. (1999) bei 138 psychiatrischen Patienten, konnten 45,2 % der Varianz der abhängigen Variable Zwang durch Mitsprache (voice) aufgeklärt werden. Hiday et al. (1997) haben 331 zwangseingewiesene stationäre Patienten nach dem wahrgenommenen Zwang, dem erlebten negativen Druck sowie nach dem Gefühl der Beteiligung befragt. Operationalisiert wurde ›Teilhabe‹ im Rahmen dieser Studie anhand folgender Items »I had enough of a chance to say whether I wanted to come into the hospital«, »I got to say what I wanted about coming to the hospital«, »No one seemed to want to know whether I wanted to come into the hospital« und »My opinion about coming into the hospital didn’t matter«. Obwohl alle untersuchten Patienten gegen ihren Willen aufgenommen wurden, zeigte sich auch hier eine deutliche Variation im erlebten Zwang, im negativen Druck sowie in der Beteiligung. Trotz einer Zwangseinweisung können Patienten demnach ein Gefühl von Beteiligung erleben und negativer Druck bzw. Gewalt können auch bei fehlender Wahlfreiheit vermieden werden. Das für uns wesentliche Ergebnis besteht jedoch darin, dass bei der Vorhersage des erlebten Zwangs im Rahmen einer logistischen Regression Beteiligung sowie negativer Druck bedeutender waren als Geschlecht, Bildung, ethnische Zugehörigkeit oder Familienstand. Klinische Variablen, wie Art der Störung, Schwere der Symptome oder die Anzahl früherer Klinikaufenthalte spielten im Hinblick auf das Erleben der Aufnahme keine Rolle. Dass sich Patienten, deren Angehörige und das aufnehmende Personal in ihrer Wahrnehmung des Aufnahmeprozesses deutlich unterscheiden, zeigen die Ergebnisse von Hoge et al. (1998). Während Angehörige und Behandler fast durchgängig der Meinung waren, die Patienten hätten maximale Möglichkeiten gehabt, ihren Präferenzen eine Stimme zu verleihen und sie ferner glaubten, dass die Beteiligten alles Mögliche getan hätten, um die Sorgen der Patienten ernst zu nehmen und sie fair zu behandeln, gab es auf Seiten der Patienten eine große Variabilität in ihren
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Einschätzungen. Aufgrund der Subjektivität dieser Angaben lässt sich keine Schlussfolgerung darüber ziehen, ob die Einschätzungen der Patienten durch zu hohe Erwartungen beeinflusst waren oder inwieweit Angehörige und Behandler das Ausmaß der ermöglichten Mitsprachemöglichkeiten überschätzt haben, um ihr eigenes Verhalten rechtfertigen zu können. Eine Klärung dieser Frage kann anhand der Ergebnisse nicht erfolgen – bestätigt wird jedoch einerseits die Bedeutung von Mitsprache, Fairness und ernst genommen werden bei der Beurteilung des Aufnahmeprozesses sowie andererseits die Notwendigkeit der Betroffenenbefragung, da deren subjektives Erleben die Grundlage der Bewertungsprozesse darstellt. Die Reduktion des Zwangserlebens durch eine von Beteiligung geprägte Gestaltung der Aufnahmesituation kann einerseits als ein Ziel an sich gefordert werden, das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Die Untersuchung von Rogers (1993) verdeutlicht jedoch andererseits, welche verheerenden Auswirkungen Erfahrungen von Zwang auf die Behandlung haben können. Der Autor zeigte, dass das Erleben von Zwang bei der Aufnahme einherging mit der Ablehnung der Diagnose, mit der Annahme, eine ungewollte Behandlung zu erhalten sowie mit Unzufriedenheit mit den Informationen über die Behandlung und über den eigenen Zustand. »If coercion sets up the conditions under which services are viewed negatively, then compliance with treatment and negotiation of an ongoing satisfactory professional client relationship after discharge from hospital is likely to be impaired«, so fasst Rogers (1993) die Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen. Inwieweit Zwang die Einstellung Minderjähriger zu einer Behandlung und die Fortschritte der Behandlung beeinflussen, wurde unseres Wissens nach nur im Rahmen einer einzigen Studie von Bastien & Adelman (1984) untersucht. 27 per Gerichtsbeschluss eingewiesene und 28 Jugendliche, die sich freiwillig in Behandlung gegeben haben, einer sozial rehabilitativen Einrichtung unterschieden sich den Ergebnissen zufolge nicht im Ausmaß der wahrgenommenen Wahlfreiheit, das gebildet wurde aus Fragen zur Freiwilligkeit (entered treatment voluntarily), zur Wahlmöglichkeit (had a choice about coming to treatment) sowie zur Zustimmung (had agreed with the decision to enter the program). Den bisher dargestellten Ergebnissen der Untersuchungen aus der Erwachsenenpsychiatrie entsprechend, spielten andere Faktoren als der Aufnahmemodus (Zwangseinweisung/freiwillige Behandlung) eine größere Rolle bei der Einschätzung der Wahlfreiheit. Als entscheidend erwies sich auch im Rahmen dieser Studie die Beteiligung an der Entscheidungsprozedur, im Sinne der Möglichkeit, Vorabinformationen über die möglichen Einrichtungen zu erhalten und diese zu besichtigen sowie der Zusicherung, die Entscheidung über die ausgewählte Einrichtung auch später wieder revidieren zu können. Wahlfreiheit bezüglich der anfänglichen Unterbringung stand in signifikanter Beziehung zu der anfänglichen Einstellung der Behandlung gegenüber, wie dem Anerkennen von Problemen und der Erwartung, Hilfe durch das Programm zu erhalten, nicht jedoch zu Fortschritten durch die Therapie.
Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation
117
Diese konnten wiederum durch Wahlfreiheit über das Verbleiben in dem Programm (»I am currently in this program because I think it’s best for me«) vorhergesagt werden. Vor dem Hintergrund, dass auch offiziell freiwillig behandelte Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer fehlenden Einwilligungsfähigkeit und der damit verbundenen Zustimmung durch die Eltern eine stationäre Behandlung häufig als nicht freiwillig und erzwungen erleben, besteht für den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie weiterer Forschungsbedarf, um die Faktoren identifizieren zu können, die das Erleben von Zwang reduzieren. Paul, Foreman & Kent (2000) haben beispielsweise bei der Befragung 42 ambulanter psychiatrischer Patienten ermittelt, dass immerhin ein Drittel der fünf bis 17-jährigen Patienten nicht an dem Termin teilnehmen wollte, d. h. unfreiwillig in der Klinik war. In einer Untersuchung von Kammerer & Göbel (1985) zur »Stationären jugendpsychiatrischen Therapie im Urteil der Patienten« wurde dementsprechend das Einverständnis zur stationären Aufnahme retrospektiv sowohl von Abbrechern als auch von Nicht-Abbrechern skeptisch beurteilt. Anhand von Korrelationsberechnungen konnte ferner gezeigt werden, dass ein hohes Ausmaß an Einverständnis mit der stationären Aufnahme mit einem hohen Wert der globalen Zufriedenheit einher ging (r = .41, p = .001). Zusätzlich konnte Kazdin (1986) zeigen, dass psychisch kranke Kinder eine ambulante Psychotherapie einer stationären Behandlung vorzogen, während das Gegenteil für die Eltern der Fall war. Der Autor geht davon aus, dass eine bessere Vorbereitung und eine stärkere Einbeziehung in den Aufnahmeprozess die mit der Trennung von zu Hause verbundenen Ängste und Sorgen reduzieren sowie die Akzeptabilität stationärer Therapie und die Compliance erhöhen könnte. Angesichts der vorliegenden Darstellung der Studien zu Partizipation und ihren Auswirkungen müssen wir uns im Hinblick auf die stationäre psychiatrische Behandlung Minderjähriger einerseits leider der Aussage von Blandow et al. (1999, S. 145) anschließen: »Ein Beweis dafür, dass Partizipation etwas bringt, und Belege dafür, dass spezifische Formen und methodische Arrangements anderen überlegen sind, sind gegenwärtig noch nicht zu erbringen.« Andererseits stimmen wir jedoch Melton et al. (1998) zu, wenn sie formulieren: »The provision of liberty clearly has meaningful and positive consequences. Perhaps, though, the key issue is that liberty has ethical significance apart from its effects. Denial of the significance of liberty for children and youth is a denial of their personhood.«
118
Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
6.5.5 Die Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit als Erklärungsmodell Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die eingangs formulierten Annahmen des Einflusses von Beteiligungsprozeduren auf das Erleben und Verhalten minderjähriger Patienten theoretisch zu untermauern. Eine psychologische Fundierung der Partizipation ist – so auch Lenz (2001) – noch schwach ausgeprägt, so dass die Bedeutung von Teilhabe anhand einer empirisch fundierten Theorie aus den psychologischen Grundlagenfächern zu erklären versucht wird. Als entscheidendes Kriterium der Fairness in Entscheidungssituationen hat sich der Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit zufolge die Möglichkeit erwiesen, die eigene Meinung in einen Entscheidungsprozess einbringen zu können (Thibaut & Walker, 1975; Walker, LaTour, Lind & Thibaut, 1974). Da unserer Auffassung nach Meinungsverschiedenheiten zwischen minderjährigen Patienten und Behandlern oder Eltern über die Notwendigkeit einer stationären Behandlung in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit Auseinandersetzungen in anderen Entscheidungssituationen haben, erscheinen uns die Ergebnisse der Forschung zur prozeduralen Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang als viel versprechend. In der sozialpsychologischen Literatur ist prozedurale Gerechtigkeit als »die wahrgenommene Fairness der Verfahren, die zur Entscheidungsbildung benutzt werden« definiert worden (Folger & Greenberg, 1985, S. 143). Schon die ersten Studien der Psychologie prozeduraler Gerechtigkeit (Thibaut & Walker, 1975; Walker, LaTour, Lind & Thibaut, 1974) haben gezeigt, dass die Möglichkeit, eigene Meinungen sowie relevante Informationen in den Entscheidungsfindungsprozess einbringen zu können, die Fairness-Urteile der Betroffenen entscheidend erhöht. Thibaut & Walker (1978) prägten für diesen Effekt den Begriff der Prozesskontrolle, Folger spricht in diesem Zusammenhang von »voice effect«. Diese sog. Prozesskontrolle ist von der Entscheidungskontrolle abzugrenzen, die sich darauf bezieht, inwieweit ein Beteiligter einseitig das Ergebnis des Streits festlegen kann. Im Rahmen mehrerer empirischer Untersuchungen (Thibaut & Walker, 1975; Lind, Lissak & Conlon, 1983; Sheppard, 1985) wurde gezeigt, dass beispielsweise Gerichtsverfahren dann als besonders fair eingeschätzt und zufrieden bewertet wurden, wenn die Streitparteien ein Maximum an Kontrolle über die Darstellung der Beweislage sowie Mitsprache besitzen (hohe Prozesskontrolle der Kontrahenten), während eine dritte Instanz das Urteil spricht (niedrige Entscheidungskontrolle der Kontrahenten). Frühe Theorien (Thibaut & Walker, 1975, 1978) haben den sog. voice effect auf die erwarteten instrumentellen Konsequenzen der Beteiligung zurückgeführt. Das Einbringen eigener Ansichten und Argumente in einen Entscheidungsprozess – so die Annahme – führe bei den Betroffenen zu der Überzeugung, den Entscheidungsträger beeinflussen und damit die Entscheidung kontrollieren zu
Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation
119
können. »In the leading instrumental theories voice is seen as fair because it increases the probability of either a favorable outcome (Leventhal, 1980) or an equitable outcome (Thibaut & Walker, 1978)« – so Lind, Kanfer & Early (1990, S. 952). Neuere Untersuchungen zur prozeduralen Gerechtigkeit beziehen sich demgegenüber auf die nichtinstrumentellen Aspekte der Prozesskontrolle. So schlagen beispielsweise Lind & Tyler (1988) ein Gruppenwert-Modell vor, das kommunikative Prinzipien der Fairness enthält, wie Vertrauen in die Entscheidungsträger sowie Ehrlichkeit und Höflichkeit der Entscheidungsträger. Insbesondere die letzten beiden Variablen, so Tyler (1989), erklären einen großen Varianzanteil der wahrgenommenen prozeduralen Fairness. Ferner werde durch die Möglichkeit, eigene Ansichten und Meinungen einbringen zu können, das Gefühl gestärkt, ein anerkanntes und vollwertiges Mitglied der Gruppe darzustellen, dessen Ansichten es wert sind, gehört zu werden. Nicht-instrumentelle Theorien der prozeduralen Gerechtigkeit postulieren somit, dass Vorgehensweisen immer dann als fair und zufrieden stellend beurteilt werden, wenn Teilhabe ermöglicht wird – unabhängig vom Ausgang des Konflikts oder der Entscheidung. Die Debatte über die unterschiedlichen Erklärungsansätze aufgreifend, weisen Lind & Taylor (1988) darauf hin: ». . . the entire range of procedural justice phenomena can be explained only if it is accepted that fairness judgements are driven both by instrumental, informed self-interest concerns and by noninstrumental, group-value concerns« (S. 240–241). Hinweise für die Bestätigung eines »mixed model of procedural fairness« liefert eine Studie zum Einfluss von Mitsprache auf Gerechtigkeitsurteile, Entscheidungsakzeptanz und Leistung von Lind, Kanfer & Early (1990). Es zeigte sich, dass die Möglichkeit, eigene Meinungen einzubringen, die Fairness-Urteile der Probanden erhöhte, selbst dann, wenn keine Möglichkeit bestand, die Entscheidung zu beeinflussen. Die wahrgenommene Fairness wurde jedoch nicht nur durch Mitsprachemöglichkeiten erhöht, sondern darüber hinaus durch aufgabenrelevante Informationen. Die Autoren gehen davon aus, dass diese Informationen die Selbstwirksamkeitserwartungen und damit die wahrgenommene Kompetenz der Probanden erhöht haben, so dass das zu erreichende Ziel als weniger schwer und fairer bewertet werden konnte. Neben den Effekten auf die Fairness-Urteile erbrachte die Studie Hinweise auf die akzeptanz- und leistungsfördernde Wirkung von Mitsprachemöglichkeiten und dargebotenen Informationen. Sowohl Mitsprache vor und nach der Entscheidung als auch aufgabenrelevante Informationen erhöhten die Akzeptanz der Entscheidung sowie die Leistung in der durchzuführenden Aufgabe. Zu einem besseren Verständnis der Faktoren, die prozedurale Fairness beeinflussen, stellt Bierhoff (1992) in seinem Überblicksartikel verschiedene theoretische Annahmen dar. So geht Bies (1987) davon aus, dass Hinweise auf die Ursachen, die die Entscheidungsträger in ihrem Urteil bestimmen, bei negativen Entscheidungen für die Bewertung der prozeduralen Fairness von Bedeutung
120
Rechtstatsachen: theoretische Vorüberlegungen und frühere empirische Untersuchungen
sind. Neben der Mitsprache scheint die Rechtfertigung der Entscheidung sowie die Ehrlichkeit einen unabhängigen Einfluss auf die Akzeptanz einer negativen Entscheidung und auf die prozedurale Fairness zu haben (Bies & Shapiro, 1988; Tyler, 1989). Erklären lassen sich die Effekte von Rechtfertigung – so Bierhoff (1992) – durch wenigstens zwei Gründe. Erstens entspreche es den Regeln der Gesprächsführung, dass eine hinreichende Erklärung für ein Ereignis gegeben werde. Zweitens zeigt sich schon in Untersuchungen mit Kindern, dass negative Vorgaben (Verbote) besser befolgt werden, wenn dafür eine kognitive Struktur durch eine angemessene Erklärung bereitgestellt wird (Kuczynski, 1983). Durch Erklärungen werden kognitive Kontrollmechanismen eingeschaltet, die es den Betroffenen ermöglichen, das Ereignis in ein Bezugssystem einzuordnen. Übertragen auf den Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und die Entscheidung über eine stationäre Behandlung lässt sich aus den dargestellten Ergebnissen schlussfolgern, dass die Möglichkeit, eigene Ansichten und Meinungen in den Entscheidungsprozess einzubringen, eine ausführliche Darlegung der Gründe für eine stationäre Behandlung durch Eltern und Ärzte sowie die Vermittlung von psychiatriespezifischem Wissen die Akzeptanz der getroffenen Entscheidung auf Seiten der Patienten erhöhen, selbst dann, wenn nur Eltern und Behandler der stationären Aufnahme zustimmen. Dementsprechende Auswirkungen auf die Compliance mit der Behandlung beschreiben auch Brewer & Faitak (1989, S. 146f): »Quite often a family meeting in which the parents provide their consent in front of the child and explain how they and the treaters are working as a team for the child’s benefit can be effective in improving the child’s compliance with treatment.« Dass auch jüngere Kinder Verstöße gegen faire Prozeduren durchaus wahrnehmen und somit ein Verständnis prozeduraler Gerechtigkeit aufweisen, darauf haben Gold, Darley, Hilton & Zanna (1984) hingewiesen. Im Rahmen ihrer entwicklungspsychologisch fundierten Studie wurde in Anlehnung an Piagets Stufenkonzept zunächst erwartet, dass Kinder im Alter zwischen 6 und 7 Jahren bei der Beurteilung von Fallgeschichten das strafende Verhalten von Eltern als gerechter erleben als Fünftklässler, da jüngere Kinder sich in ihrem Urteil überwiegend auf die Meinung von Autoritäten stützen. Folgt man den Arbeiten Piagets und Kohlbergs, so ist davon auszugehen, dass sich kindliche Konzepte über eigene Rechte sowie das Verständnis von gesetzlich-ethischen Begriffen entlang einer vorhersehbaren Sequenz bzw. Stufenfolge entwickeln. Kinder im Vorschul- und frühen Grundschulalter stellen demnach vorgegebene Normen nicht infrage, sondern akzeptieren grundsätzlich als berechtigt, was Eltern und andere Autoritäten sagen (vgl. Montada, 1987). Unabhängig von der Omnipotenz, die Autoritäten zugeschrieben wird, wurde jedoch im Rahmen der Untersuchung von Gold et al. (1984) beispielsweise die Weigerung der Erwachsenen, die kindliche Sicht in einem Konfliktfall anzuhören, sogar von Erstklässlern als unfair wahrgenommen.
Empirische Untersuchungen zum Thema Partizipation
121
Die Annahme eines grundsätzlich mangelnden Verständnisses von Gerechtigkeit und Freiheit sowie einer damit verbundenen mangelnden Fähigkeit zur Wahrnehmung eines Freiheitsverlusts auf Seiten Minderjähriger war dennoch lange Zeit vorherrschend, wie Melton et al. (1998, S. 57) ausführlich darstellen: »With a double disability of mental disorder (or at least a perceived need for treatment) and status as a minor, youth in treatment programs may be viewed by many people as especially undeserving of liberty or at least as uncaring about it.« Vor dem Hintergrund der dargestellten Untersuchungen zu den Themen Partizipation und Zwang und ihren Folgen kann diese Sichtweise jedoch nicht aufrechterhalten werden. Sogar 6–7-jährige Kinder können der Untersuchung von Gold et al. (1984) zufolge die Entscheidung über eine stationäre Aufnahme bei fehlenden Mitsprachemöglichkeiten als unfair erleben, auch wenn sie sich »äußerlich« der Entscheidung ihrer Eltern und der Ärzte nicht widersetzen werden, was dem präkonventionellem Stadium der Moralentwicklung entspricht, auf dem jüngere Grundschulkinder sich in der Regel befinden (vgl. Piaget; Kohlberg). Welche Reaktionen und Folgen wahrgenommene (Un-)fairness auslöst, wurde bisher vor allem in organisationspsychologischen Zusammenhängen analysiert, die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen sich jedoch unserer Meinung nach gut auf den therapeutischen Kontext übertragen. In mehreren empirischen Untersuchungen wurde gezeigt, dass unfaire Prozeduren vor allem mehr Ärger und aggressive Tendenzen auslösten – womit häufig eine »innerliche Kündigung« verbunden ist, weil Ärger die Loyalität mit dem System untergräbt – sowie weniger Leistungsbereitschaft (Mark, 1985; Hassebrauck, 1984). Hinsichtlich der Behandlung minderjähriger Patienten besteht diesen Resultaten zufolge ein Risiko verminderter Anstrengungsbereitschaft und Motivation bezogen auf das zu erreichende Therapieziel sowie die Gefahr aggressiven Verhaltens, falls die Entscheidung der stationären Aufnahme aus Sicht der Patienten als wenig fair und ungerecht betrachtet wird. »Yet, if the children view treatment as more acceptable, they may be more likely to work in conjunction with treatment procedures, to adhere to, or comply with the treatment regime, and to accrue the benefits associated with that particular intervention«, so formuliert Kazdin (1986, S. 340) seine Hoffnungen an die Beteiligung Minderjähriger an Entscheidungsprozeduren. Brewer & Faitak (1989) sehen in der Beteiligung Minderjähriger und deren Eltern eine gute Möglichkeit, das Verständnis für die eigenen Probleme zu erhöhen, ein Gefühl von Kontrolle zu sowie eine Einstellung von Verantwortung für das eigene Wohlergehen zu erzeugen.
Ableitung der Fragestellung für die empirische Untersuchung
7.
Ableitung der Fragestellung für die empirische Untersuchung
Ableitung der Fragestellung für die empirische Untersuchung
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Erleben der stationären Aufnahme und Behandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Patientenbeteiligung und Informationspraxis. Wie im Theorieteil ausgeführt wurde, liegen weder im nationalen noch im internationalen Raum Studien vor, die diese Themen bei kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten untersucht haben, so dass die hier vorliegende Studie einen explorativen Charakter hat. Folgende Ziele und Fragen lassen sich für die Untersuchung formulieren: 1. Entwicklung eines Verfahrens zur Erhebung des subjektiven Erlebens der stationären Aufnahme. Im Einzelnen sollen folgende inhaltliche Aspekte erfasst werden: Erleben von Partizipation an der Aufnahmeentscheidung, Informationspraxis sowie Kenntnisstand bei Behandlungsbeginn, Partizipations- und Informationsbedürfnisse, emotionale Belastung durch die Aufnahme sowie Stigmatisierungsängste zum Aufnahmezeitpunkt. 2. Entwicklungen eines Verfahrens zum subjektiven Erleben der Behandlung, wobei Partizipation während der Behandlung, emotionales Befinden während des Aufenthaltes, Partizipations- und Informationsbedürfnisse sowie Informationspraxis erfasst werden sollen. 3. Entwicklung eines Verfahrens zur Erhebung von Motivation zu Beginn und während der Behandlung. 4. Bereitstellung einer empirischen Datenlage zum subjektiven Erleben von Aufnahme und Behandlung durch die Erhebung an einer ausreichend großen Stichprobe an zwei Kliniken Deutschlands 5. Lassen sich hinsichtlich bestimmter personaler (Alter, IQ, Geschlecht, Vorerfahrung mit Psychiatrie), soziodemografischer (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung und Tätigkeit der Eltern), störungsbezogener oder regionaler Faktoren (Ost-West) moderierende Effekte auf das Erleben der Aufnahme bzw. der Behandlung nachweisen? 6. Wie lassen sich die Zusammenhänge zwischen den Faktoren des Erlebens der Aufnahme bzw. der Therapie quer- und längsschnittlich beschreiben? 7. Wie wirken Partizipation, Kenntnisstand, emotionale Belastung auf Motivation und therapieevaluierende Maße?
Ableitung der Fragestellung für die empirische Untersuchung
124
Auf die Formulierung expliziter Hypothesen wird aufgrund des explorativen Charakters dieser Studie bewusst verzichtet. Einige Überlegungen, die auf den Ergebnissen vergleichbarer Untersuchungen sowie auf theoretischen Ableitungen beruhen, wurden bereits im theoretischen Teil formuliert.
Untersuchungsplanung und Durchführung
8.
8.1
Untersuchungsplanung und Durchführung
Untersuchungsplanung und Durchführung
Erhebungsdesign
Zu Beginn der Untersuchung wurden im Rahmen einer Vorstudie 30 leitfadengestützte Interviews mit Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen zu den interessierenden Themenbereichen durchgeführt. Das Ziel der Vorstudie bestand darin, das Verständnis der Fragen zu überprüfen sowie weitere aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen wichtige Themen für die Konstruktion des strukturierten Interviews zu eruieren. Die im Anschluss entwickelten Fragebögen, die als Grundlage der Befragung dienten, wurden erneut bei 10 Patienten verschiedener Altersstufen eingesetzt, wobei insbesondere die Erprobung der Verständlichkeit der Formulierungen, das äußere Design der Fragebögen sowie Aspekte der Motivation der Probanden interessierten. Insgesamt waren für die Untersuchung der Hauptstudie drei Erhebungszeitpunkte vorgesehen, um die gesamte stationäre Behandlung vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zur Entlassung erfassen zu können. Da eine Befragung einige Tage vor der Aufnahme aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten nicht möglich war (beispielsweise aufgrund zu großer Entfernungen von der Klinik, aufgrund der schnellen Entscheidung über den Aufnahmetermin etc.), erfolgte das erste Interview möglichst kurz nach der Aufnahme. Etwa vier Wochen nach Behandlungsbeginn erfolgte die Befragung zum Erleben der Behandlung und möglichst kurz vor der Entlassung die Bewertung der Behandlung. Mit Beginn der Untersuchung im Februar 2000 wurden sämtliche in die Rostocker Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie/Psychotherapie konsekutiv aufgenommenen Patienten registriert. Befragt wurden nur diejenigen Kinder und Jugendlichen, die im Rahmen ihres stationären Aufenthaltes an einer Psychotherapie teilnahmen. Ausschlusskriterien waren neben dem Alter (unter 7 Jahre, über 17 Jahre) neurologische Erkrankungen bzw. neurologische Verdachtsdiagnosen. Wir strebten an, die Erhebung bei einem möglichst großen Altersspektrum der Patienten durchzuführen (ab 7 Jahre), so dass die Datenerhebung in Form von halbstandardisierten Einzelinterviews und nicht mittels Fragebogen erfolgte. Damit konnte einerseits eine gewisse Standardisierung bei der Beantwortung der Fragen gewährleistet werden, andererseits blieb genügend Raum für freie Beant-
126
Untersuchungsplanung und Durchführung
wortungen und Ergänzungen. Die Interviewform ermöglichte es auch, flexibler auf die Kinder und Jugendlichen einzugehen. Zu Beginn der Befragung wurde den minderjährigen Patienten Vertraulichkeit, Ablauf und der Zweck der Erhebung erklärt sowie die Freiwilligkeit ihrer Teilnahme erläutert. Ferner wurden die Kinder und Jugendlichen explizit dazu aufgefordert, bei Nichtverständnis nachzufragen. »Ich weiß nicht«-Antworten sowie die Möglichkeit, Fragen bewusst nicht zu beantworten, wurden ausdrücklich erlaubt. Jeder Patient wurde bis zu einer Woche nach Aufnahme, im Durchschnitt drei Tage danach, befragt. Die Dauer des Interviews betrug ca. 50 Minuten, falls notwendig erfolgte die Befragung an zwei Terminen. Nach dem Erstinterview wurden die Patienten gefragt, ob sie zu einer weiteren Befragung bereit wären, etwa vier Wochen nach diesem ersten Termin. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Patienten nach Absprache mit dem Pflegepersonal individuell kontaktiert und bei Einverständnis erneut interviewt. Möglichst zeitnah vor der Entlassung wurden die Kinder und Jugendlichen abschließend um eine Beurteilung ihrer Behandlung gebeten. Im Rahmen einer Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Weißenau im Ravensburg konnten die Befragungen zum Erleben der Aufnahme sowie zum Ende der Behandlung darüber hinaus in einer weiteren Klinik, im Süden Deutschlands, durchgeführt werden. Erhebungsinstrumente
8.2
Erhebungsinstrumente
Der Fragebogen zum Erleben der Aufnahme (FEA) enthält wie der Fragebogen zum Erleben der stationären Behandlung (FEB) sowohl offene als auch geschlossene Fragen. Bei Fragen mit offenen Antwortmöglichkeiten wurden die Antworten wörtlich von geschulten Interviewern protokolliert. Die Fragenbereiche betreffen einerseits psychiatriespezifische Kenntnisse, wie beispielsweise Wissen über Psychiatrie, psychiatrische Behandlung, kinder- und jugendpsychiatrische Krankheitsbilder sowie Vorstellungen von Psychiatriemitarbeitern und eigener Erkrankung. Andererseits wurden die Kinder und Jugendlichen nach ihren Sorgen, Belastungen und Befürchtungen in Bezug auf die stationäre Behandlung befragt sowie zu ihren Vorstellungen zu Rechten als Patient. Die während der Befragung wörtlich oder stichwortartig protokollierten Antworten der Kinder und Jugendlichen wurden nach der Befragung transkribiert und nach inhaltlichen Überlegungen sortiert. Die Zusammenfassungen wurden von zwei weiteren Personen überarbeitet, abweichende Kategorisierungen wurden diskutiert bis Konsens herrschte. Hinweise auf die jeweiligen Auswertungsrichtlinien und die Vergabe einzelner Punkte bzw. die Beschreibung verschiedener Kategorien erfolgen jeweils im Zusammenhang mit der Darstellung der Ergebnisse zu den einzelnen Fragen.
Erhebungsinstrumente
127
Der übrige Teil der Fragebögen ist in Fragen und Antworten vollstrukturiert, wobei die Fragen anhand einer fünfstufigen Rating-Skala zu beantworten waren (ja sehr – eher ja – teils/teils – eher nein – gar nicht). Um die Verständlichkeit der verbalen Antwortmöglichkeiten zu erleichtern, wurden diese durch smilies ergänzt.
Folgende Themenbereiche wurden anhand geschlossener Fragen sowohl im Erstinterview als auch vier Wochen nach Behandlungsbeginn behandelt: Informationspraxis, Informationsbedürfnisse, die Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten, Partizipationsbedürfnisse, das emotionale Befinden sowie zum Aufnahmezeitpunkt die befürchtete Stigmatisierung und zum zweiten Messzeitpunkt Fragen zur Privatsphäre, zum Umgang mit Rechten während der stationären Behandlung. Die Itemauswahl für die Fragebögen erfolgte auf der Grundlage der im Theorieteil dargestellten Untersuchungen und aufgrund eigener Überlegungen und Erfahrungen im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext sowie vor dem Hintergrund juristischer Erwägungen. Der Itempool wurde im Projektteam diskutiert und überarbeitet und anschließend einer Expertenrunde mit Wissenschaftlern und Praktikern vorgestellt. Fragebogen zur Behandlungsmotivation Ebenfalls sowohl zum Zeitpunkt der Aufnahme als auch nach vier Wochen stationärer Behandlung (nur Rostock) wurde die Behandlungsmotivation anhand eines selbst entwickelten Fragebogens erhoben. Bei der Fragebogenkonstruktion haben wir uns an der Skaleneinteilung des von Pfeiffer (1989) entwickelten Fragebogens zur Erfassung der Behandlungsmotivation bei alkoholabhängigen Patienten orientiert. Lediglich die Skala »kognitive Einschätzung der Störung als beeinträchtigend und unkontrollierbar« wurde ganz weggelassen. Neben den für Kinder und Jugendliche umformulierten Items des Fragebogens von Pfeiffer (1989) haben wir die Skalen durch weitere Items ergänzt. Ausgehend von der Annahme vieler Autoren, dass Kinder nicht aus eigenem Anlass eine Behandlung aufsuchen (vgl. Mempel, 1985), haben wir darüber hinaus Items aufgenommen, die sich auf den Druck der Umwelt, d. h. der Eltern, Lehrer oder Freunde beziehen. Fragebögen zur Beurteilung der Behandlung Die Fragebögen zur Beurteilung der Behandlung (FBB, Mattejat & Remschmidt,
128
Untersuchungsplanung und Durchführung
1998) sind ein Instrument zur Therapieevaluation und zur Qualitätssicherung bei psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Von den Autoren wurden drei Fragebogenversionen zusammengestellt, eine Therapeutenversion (FBB-T), eine Patientenversion (FBB-P) und eine Elternversion (FBB-E), wobei wir uns in unserer Untersuchung auf das Therapeuten- und Patientenurteil beschränkt haben.
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
9.
Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu Partizipationsbedürfnissen minderjähriger Patienten
9.1
Allgemeine Stichprobenbeschreibung
Allgemeine Stichpro benbeschreibung
Im Erhebungszeitraum konnten zuverlässige Daten von insgesamt 298 Patienten erhoben werden, 147 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Rostock, 151 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Weißenau in Ravensburg. In die Rostocker Klinik wurden im Erhebungszeitraum Februar 2000 bis Februar 2001 insgesamt 214 Kinder und Jugendliche im Laufe eines Jahres aufgenommen. Aufgrund vorab festgelegter Ausschlusskriterien wurden N = 10 Patienten aufgrund ihres Alters (< 7 Jahre = 8, > 17 Jahre = 2) und N = 16 aufgrund neurologischer Erkrankungen bzw. neurologischer Verdachtsdiagnosen nicht befragt. Die Stichprobengröße reduzierte sich ferner dadurch, dass einige Patienten vor der Durchführung des Aufnahmeinterviews bereits wieder entlassen wurden (N = 22). Darüber hinaus war es nicht möglich, Patienten in die Untersuchung einzubeziehen, zu denen aufgrund von akuten psychotischen Erkrankungen, Mutismus oder Debilität bei Behandlungsbeginn kein verbaler Zugang bestand (N = 5). Insgesamt haben wir 161 Rostocker Patienten zur Aufnahmesituation befragt, 14 Patienten konnten jedoch im Rahmen der weiteren Auswertungen nicht berücksichtigt werden, da sie den Fragebogen aufgrund mangelnden Verständnisses nur teilweise bearbeiten konnten. Die folgenden Auswertungen beziehen sich letztlich auf insgesamt 147 Rostocker Kinder und Jugendliche. Die Größe der Stichprobe, auf die sich die einzelnen Auswertungen beziehen, variiert, da einige Fragen in Einzelfällen nicht beantwortet werden konnten (z. B. bei Notaufnahmen, Verlegungen aus anderen Kliniken etc.). Die Stichprobe der Weißenauer Kinder und Jugendlichen, die in die Auswertungen eingeht, umfasst insgesamt 151 Kinder und Jugendliche, d. h. von den im Erhebungszeitraum von Februar bis Ende Oktober aufgenommenen 235 Patienten konnten 84 nicht befragt werden. In 10 Fällen verweigerten die Patienten oder deren Eltern die Teilnahme an der Untersuchung, 30 Patienten konnten aufgrund zu kurzer Aufenthaltsdauer nicht einbezogen werden. Aufgrund von Sprachverständnisproblemen oder einer zu niedrigen Intelligenz schieden 21 Kinder und Jugendliche aus, weitere 3 Patienten aufgrund einer akuten psychotischen Er-
130
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
krankung. Insgesamt 17 Patienten wurden ausgeschlossen, da sie im Befragungszeitraum bereits zum zweiten Mal in die Klinik aufgenommen wurden. Schließlich mussten 3 Patienten aufgrund unvollständiger Daten aus den Auswertungen ausgeschlossen werden. Die Zusammensetzung der Gesamtstichprobe sowie der Rostocker und der Weißenauer Stichprobe zeigen die folgenden Tabellen. Tabelle 1: Zusammensetzung der Gesamtstichprobe des ersten Messzeitpunktes
N
gesamt
männlich
weiblich
298
159
139
Alter (SD)
14,15 (2,58)
13,48 (2,69)
14,91 (2,23)
IQ
93,91 (N = 250)
92,75 (N = 139)
95,36 (N = 111)
In der Stichprobe der insgesamt 298 Patienten befanden sich 139 weibliche (46,6 %) und 159 männliche (53,4 %) Kinder und Jugendliche. Das mittlere Alter der Probanden lag bei 14,15 Jahren (SD = 2,58), wobei die Mädchen mit 14,91 (SD = 2,23) im Durchschnitt signifikant älter waren als die Jungen mit einem Durchschnittsalter von 13,48 Jahren (SD = 2,69) (t = –4,936; p = .000). Die durchschnittlichen Intelligenzquotientwerte (IQ) der Gesamtstichprobe lagen bei 93,9 mit einer Standardabweichung von 16,2. Die Mädchen unterschieden sich mit einem durchschnittlichen IQ von 95,4 (SD = 16,6) nicht signifikant von den Jungen mit einem durchschnittlichen IQ von 92,8 (SD = 15,9). Die Verteilung der IQ-Werte kann in allen Fällen als normalverteilt angesehen werden (Kolmogorov-Smirnov-Test). Die Stichprobe setzt sich überwiegend aus durchschnittlich intelligenten Kindern zusammen. Im Rahmen der Befragung wurde von den geschulten Interviewern in jedem Einzelfall darauf geachtet, ob die Fragen von den Probanden verstanden wurden, so dass Kinder mit einem unterdurchschnittlichen IQ (29,6 % der Probanden) nur dann in die Stichprobe aufgenommen wurden, wenn von einem Verständnis der Fragen ausgegangen werden konnte. Tabelle 2: Zusammensetzung der Rostocker und Weißenauer Stichproben gesamt
N Alter (SD) IQ
männlich
weiblich
Rostock
Weißenau
Rostock
Weißenau
Rostock
Weißenau
147
151
88 (59,9 %)
71 (47 %)
59 (40,1 %)
80 (53 %)
12,8 (2,66)
13,82 (2,70) 14,3 (2,52)
15,13 (2,01)
92,67 (N = 81)
92,86 (N = 58)
93,88 (N = 56)
13,4 (2,70) 94,37 (N = 136)
14,51 (2,45) 93,36 (N = 114)
96,87 (N = 55)
Allgemeine Stichprobenbeschreibung
131
Die Rostocker und die Weißenauer Stichproben unterschieden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme signifikant im Alter (t-Test für unabhängige Stichproben: t = –2,503; p = .013), d. h. die Rostocker Stichprobe war signifikant jünger als die Weißenauer. Zurückzuführen war dies u. a. auf die unterschiedliche Geschlechterverteilung in beiden Kliniken (χ² = 4,937; p = .026). In der Weißenau wurden mehr Mädchen behandelt, die im Durchschnitt älter waren als die Jungen, in Rostock dagegen mehr Jungen. Signifikante Unterschiede in der Intelligenz konnten nicht ermittelt werden. Zum zweiten Messzeitpunkt, vier Wochen nach Behandlungsbeginn, wurden insgesamt 111 Rostocker Kinder und Jugendliche befragt. Von den anfänglich 147 Rostocker Patienten wurden 31 vor der Durchführung der Zweitbefragung bereits entlassen, zwei Patienten wurden auf andere Stationen verlegt und drei Patienten haben auf eigenen Wunsch die Befragung abgebrochen. Die durchschnittliche Intelligenz der Stichprobe lag bei 95,01 (SD = 14,7), die Verteilung der IQ-Werte kann erneut als normalverteilt angesehen werden. Zwischen weiblichen und männlichen Probanden zeigen sich signifikante Alters- (t = –2,51; p = .014) und Intelligenzunterschiede (t = –2,69; p = .008), d. h. die weiblichen Probanden waren im Durchschnitt älter und intelligenter als die männlichen. Tabelle 3: Zusammensetzung der Stichprobe zum zweiten Messzeitpunkt
N
gesamt
männlich
weiblich
111
69 (62,2 %)
42 (37,8 %)
Alter (SD)
13,56 (2,68)
13,08 (2,58)
14,36 (2,67)
IQ
95,01 (N = 106)
92,05 (N = 65)
99,71 (N = 41)
Für die Abschlussbefragung, die möglichst zeitnah vor der Entlassung stattfand, konnten insgesamt 203 Kinder und Jugendliche kontaktiert werden: 111 Weißenauer und 92 Rostocker Patienten, wobei die Rostocker mit einem Durchschnittsalter von 13,45 signifikant jünger waren als die Weißenauer Patienten mit Tabelle 4: Zusammensetzung der Stichprobe zum dritten Messzeitpunkt gesamt
N
weiblich
Rostock
Weißenau
Rostock
Weißenau
Rostock
Weißenau
92
111
57 (62 %)
52 (46,8 %)
35 (38 %)
59 (53,2 %)
Alter (SD) 13,45 (2,49) IQ
männlich
94,85
14,22 (2,44) 94,71
13,06 (2,33) 13,54 (2,61) 14,08 (2,65) 14,82 (2,12) 92,48
95,84
98,63
93,60
132
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
einem Durchschnittsalter von 14,22 Jahren (t = –2,23; p = .027). Die Gesamtstichprobe setzt sich aus 109 männlichen (53,7 %) und 94 weiblichen (46,3 %) Probanden zusammen. Einen Überblick über die Zusammensetzung der Stichprobe liefert Tabelle 4. Tabelle 5: Soziodemografische Angaben der Rostocker und Weißenauer Stichprobe (Angaben in Prozent) Rostock
Weißenau
Schichtzugehörigkeit der Eltern untere Schicht – Ungelernte Arbeiter/Kleinste Selbstständige
3,1
5,6
– Angelernte Berufe/Kleine selbstständige Gewerbetreibende
8,3
24,1
– Facharbeiter, Handwerker, Angestellte und Beamte im einfachen Dienst/Selbstständige Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibende (kleine Betriebe)
67,4
42,5
– Mittl. Angestellte, Beamte im mittl. Dienst/selbst. Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibende (mittlere Betriebe)
12,1
12,8
mittlere Schicht
obere Schicht – Höher qualifizierte Angestellte
5,3
3,5
– Leit. Angestellte, Beamte im höheren Dienst/Selbst. Akademiker, freie Berufe, größere Unternehmer
3,8
11,4
Kein Schulabschluss
0,8
0,9
Sonderschule
3,1
0,9
Hauptschule
10,7
52,6
Realschule
74,8
30,7
nicht zutreffend (Rostock) = 10/(Weißenau) = 1 keine Angaben (Rostock) = 5/(Weißenau) = 9 Schulbildung der Mutter
Abitur
5,3
7,9
(Fach)hochschule/Universität
5,3
7,0
nicht zutreffend (Rostock) = 11/(Weißenau) = 27 keine Angaben (Rostock) = 5/(Weißenau) = 10 Schulbildung des Vaters Kein Schulabschluss–
2,0
Sonderschule
3,7
3,1
Hauptschule
17,4
50,0
Realschule
61,5
21,4
6,4
13,3
11,0
10,2
Abitur (Fach)hochschule/Universität nicht zutreffend (Rostock) = 33/(Weißenau) = 38 keine Angaben (Rostock) = 5/(Weißenau) = 15
Allgemeine Stichprobenbeschreibung
133
Tabelle 5 gibt einen Überblick über den Sozialstatus der Eltern sowie über den Schulabschluss der Mutter und des Vaters der Rostocker und der Weißenauer Stichprobe. Den Angaben zufolge ist die Stichprobe sowohl in Rostock als auch in der Weißenau der unteren Mittelschicht zuzuordnen. Der Vergleich der drei Schicht-Gruppen (untere, mittlere, höhere Schicht) anhand des χ²-Tests weist jedoch auf einen signifikanten Unterschied zwischen der Rostocker und der Weißenauer Stichprobe hin (χ² = 18,952; p = .000), demzufolge der Anteil der Weißenauer Eltern sowohl in der unteren als auch in der oberen Schicht höher ist als der der Rostocker Eltern, die zu fast 80 % der mittleren Schicht angehören. Signifikante Unterschiede zeigen sich ebenfalls für den Schulabschluss Mutter/ Vater (χ² = 59,661; p = .000 bzw. χ² = 40,936; p = .000). Demnach ist der Anteil der Weißenauer Stichprobe (sowohl bei den Müttern als auch bei den Vätern) in der Gruppe ohne Schulabschluss, mit Sonder- oder Hauptschulabschluss wesentlich höher als der der Rostocker Eltern, die wiederum häufiger als die Weißenauer über Realschulabschlüsse verfügen. Der Anteil der Eltern mit Abitur oder Universitätsabschluss ist in der Weißenau höher als in Rostock. Von den 147 Rostocker Eltern liegen 133 Angaben über die derzeitige Tätigkeit der Mutter vor. 69,2 % waren demnach berufstätig, 30,8 % waren nicht erwerbstätig, wobei hiervon 17,3 % angaben, derzeit arbeitslos zu sein. Von den Vätern liegen 106 Angaben zur derzeitigen Tätigkeit vor, von diesen waren 83,0 % erwerbstätig, 11,3 % gaben an, arbeitslos zu sein. Von den Weißenauer Müttern, von denen Angaben zur derzeitigen Tätigkeit vorliegen (N = 136), waren 58,8 % erwerbstätig, 2,2 % arbeitslos, der Rest war nicht erwerbstätig (Ausbildung, Rentnerin, im Haushalt tätig). Die Väter (N = 114) gaben zu 93 % an, erwerbstätig zu sein, 2,6 % waren arbeitslos. Der Vergleich der Ost- und Weststichprobe deuten sowohl für die Mütter als auch für die Väter auf signifikante Unterschiede in der derzeitigen Erwerbstätigkeit hin (Mütter: χ² = 33,446; p = .000 bzw. Väter: χ² = 6,879; p = .032). Bei den Müttern liegen die deutlichsten Unterschiede in der Quote der Arbeitslosigkeit (17,3 % Ost – 2,2 % West) und der Nicht-Erwerbstätigen (13,5 % Ost – 39 % West), bei den Vätern vor allem in der Quote der Arbeitslosigkeit (11,3 % Ost – 2,6 % West).
9.1.1 Diagnoseverteilung Die Gruppe der kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten teilt sich nach Diagnosen – im Vergleich zwischen Rostock und der Weißenau – wie folgt auf: Signifikante Unterschiede zwischen beiden Standorten zeigen sich lediglich in Bezug auf Persönlichkeitsstörungen (F60), die in der Weißenau häufiger auftra-
134
Ergebnisse der empirischen Untersuchung %
50
Rostock (N = 145) Weissenau (N = 151)
40 30 20 *
**
10 0
F9
F9
98 3-
0
0
0
0
0
0,
F8
F6
F5
F4
F3
0
0
7
F2
F1
F0
91
** p < .01
2 ,9
* p < .05
fehlende Angaben (Rostock) = 2
Abbildung 1: Diagnoseverteilung nach ICD-10 (Erstdiagnose)
Tabelle 6: Introversive vs. expansive Störungen, differenziert nach ICD-Diagnosen (Erstdiagnose) Introversive Störungen und Psychosen
T1 gesamt Jungen
Mädchen
T2 gesamt Jungen
Mädchen
Schizophrenie F20
7%
9,9 %
3,7 %
6,6 %
7,6 %
5%
Affektive Stör. F30
4,5 %
3,3 %
5,9 %
3,8 %
3%
5%
Neurot. Stör. F40
19,5 %
15,9 %
23,5 %
17 %
16,7 %
17,5 %
Essstörungen F50
8,4 %
17,6 %
7,5 %
Emotionale Stör. F93–98
10,5 %
9,6 %
15,1 %
– 11,3 %
gesamt (N)
143
61
Expansive Störungen
T1 gesamt Jungen
Mädchen
T2 gesamt Jungen
Persönlichkeitsst. F60
6,6 %
1,3 %
12,5 %
2,8 %
42,2 %
55,6 %
27,2 %
45,3 %
90
–
28
2,6 %
144
15,2 %
53
1,4 %
gesamt (N)
20 %
82
. . . F10
Stör. Sozialverh. F90,91,92
–
54
1,9 %
53
15 %
25
3%
Mädchen –
– 54,5 %
38
7,5 % 30 %
15
135
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
ten, sowie hinsichtlich der F93–98, die in der Rostocker Klinik häufiger anzutreffen waren. Unterteilt man die Diagnosen in expansive vs. introversive Störungsbilder, dann ergibt sich für den ersten und zweiten Messzeitpunkt, getrennt nach Jungen und Mädchen folgende Übersicht (Tabelle 6). Zu der Gruppe der introversiven Störungen gehören: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20), affektive Störungen (F30), neurotische-, Belastungs-, somatoforme Störungen (F40), Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (vor allem Essstörungen, F50) sowie emotionale Störungen (F93–98). Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10), Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten (F60) sowie Störungen des Sozialverhaltens (F90–92) zählen demgegenüber zu den expansiven Störungen. Tabelle 7: Angaben über psychiatrische/psychotherapeutische Vorerfahrungen der Rostocker und Weißenauer Stichprobe (Angaben in Prozent) gesamt
Rostock
Weißenau
N = 298
N = 147
N = 151
Keine ambulante/stationäre Therapie
42,6 %
45,6 %
39,8 %
stationäre Therapie
17,8 %
13,6 %
21,8 %
ambulante Psychotherapie
34,6 %
34 %
35,1 %
Keine Angaben
5%
6,8 %
3,3 %
9.1.2 Therapievorerfahrungen Tabelle 7 gibt einen Überblick über Vorerfahrung hinsichtlich einer im Vorfeld der aktuellen Aufnahme stattgefundenen stationären bzw. ambulanten psychotherapeutischen Behandlung. Es ergeben sich dabei zwischen der Rostocker und der Weißenauer Stichprobe keine signifikanten Unterschiede. Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
9.2
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
9.2.1 Fragebogen zum Erleben der Aufnahme 9.2.1.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen Partizipation Ausgehend von der Zielsetzung, die von den Patienten erlebte Beteiligung an der Aufnahmeentscheidung und die von ihnen erlebte Wahlfreiheit im Rahmen die-
136
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 8: Statistische Kennwerte der Partizipationsskala Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1. Hat sich jemand für deine Meinung interessiert?
2,55
1,54
,61
2. Hattest du das Gefühl, mit entscheiden zu können?
2,70
1,68
,69
3. Bist du freiwillig in der KJPP?
2,60
1,57
,70
4. Warst du mit deiner Aufnahme einverstanden?
2,28
1,47
,76
5. Hast du der Entscheidung, dass du in die KJPP aufgenommen wurdest, zugestimmt?
2,08
1,43
,71
6. Hattest du die Wahl?
2,97
1,78
,59
7. Wer hat entschieden, dass du in die KJPP aufgenommen wurdest?
2,42
0,63
,53
8. Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
2,72
1,64
,56
9. Im Moment bin ich in der Klinik, weil ich glaube, dass ist das beste für mich.
2,08
1,45
,52
2,20
1,56
,38
10. Wurdest du dazu überredet, hier zu kommen?
ses Prozesses zu erfassen, haben wir 10 Items zu diesem Themenkomplex in den Fragebogen zum Erleben der Aufnahme aufgenommen. Die Items wurden von uns selbst auf Basis der Ergebnisse der Vorstudie formuliert, wobei wir uns zum Teil an dem MacArthur Admission Experience Survey (Gardner et al., 1993) orientiert haben. Die Tabelle 8 gibt einen Überblick über die Mittelwerte, Standardabweichungen und Trennschärfekoeffizienten der Items der Partizipationsskala. Die Schwierigkeiten der Items liegen zwischen 2,08 und 2,97, d. h. die befragten Kinder und Jugendlichen erleben in der Mehrzahl Möglichkeiten der Beteiligung. Die Trennschärfekoeffizienten (Item-Gesamtwert-Korrelation), die zwischen ,38 und ,71 liegen, können insgesamt als zufrieden stellend beurteilt werden. Für die Gesamtskala ergibt sich eine interne Konsistenz (Cronbachs α) von .87. Partizipationsbedürfnis Die Mittelwerte der Skala Partizipationsbedürfnis fallen insgesamt deutlich geringer aus und liegen zwischen 1,74 und 2,44. Vor allem die Items, die eine Wichtigkeitseinschätzung verlangen (Ist es dir wichtig . . .), weisen besonders niedrige Schwierigkeiten auf, sie tragen demzufolge wenig zu einer interindividuellen Differenzierung bei. Es ist anzunehmen, dass hier im Sinne sozialer Erwünschtheit geantwortet wurde. Die Trennschärfekoeffizienten fallen deutlich geringer aus, wobei vor allem die Items 1 und 5 kritisch zu bewerten sind. Für die Gesamtskala ergibt sich eine interne Konsistenz (Cronbachs α) von .50.
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
137
Tabelle 9: Statistische Kennwerte der Skala Partizipationsbedürfnis Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1. Sollten Kinder und Jugendliche das Recht haben, die Behandlung abzubrechen?
2,44
1,53
,21
2. Ist es wichtig, dass man vom Arzt gefragt wird, ob man mit der Aufnahme einverstanden ist, oder nicht?
1,78
1,35
,33
3. War (wäre) es dir wichtig (gewesen), mit zu entscheiden?
1,74
1,24
,39
4. Wer sollte entscheiden, ob man in die KJPP kommt?
2,12
0,70
,42
5. Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?
2,34
1,31
,15
Emotionale Belastung durch die Aufnahmeentscheidung Ebenfalls in Anlehnung an das MacArthur Admission Experience Survey (Gardner et al., 1993) wurden Fragen zur emotionalen Bewertung der Aufnahmeentscheidung in den Fragebogen aufgenommen (Items 1–6) sowie weitere selbst formulierte Fragen. Die Mittelwerte der Items zur Erfassung der emotionalen Bewertung der Aufnahmeentscheidung sind insgesamt zufrieden stellend, ebenso die Trennschärfeindices, die zwischen .36 und .64 liegen. Die interne Konsistenz der Gesamtskala liegt bei .81. Tabelle 10: Statistische Kennwerte der Skala Emotionale Belastung Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Als du von der Aufnahme erfahren hast, warst du da zufrieden?
3,21
1,46
,64
2.
. . . erleichtert?
3,10
1,52
,56
3.
. . . froh
3,25
1,50
,64
4.
. . . verängstigt?
2,81
1,59
,36
5.
. . . wütend?
2,39
1,56
,47
6.
. . . traurig?
3,07
1,44
,55
7.
Machst du dir Sorgen über das, was auf dich zukommt?
2,84
1,58
,45
Stigma Zur Frage der Stigmatisierung im Gefolge einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung liegen vor allem im deutschsprachigen Raum nur wenig empirische Untersuchungen vor (vgl. Lücke & Knölker, 1991), so dass wir uns dazu entschlossen haben, diesen Aspekt in den Fragebogen aufzunehmen. Die Mittel-
138
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 11: Statistische Kennwerte der Skala Stigma Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Denkst du, dass andere sich darüber lustig machen, dass du in der KJPP bist?
2,68
1,60
,42
2.
Schämst du dich, dass du in der KJPP bist?
1,99
1,44
,50
3.
Hältst du es vor anderen geheim, dass du in der KJPP bist?
2,37
1,64
,46
4.
Denkst du der Aufenthalt in der KJPP könnte dir schaden?
1,66
1,20
,24
5.
Ist es dir wichtig, dass deine Eltern nicht alles erfahren, was du mit dem Arzt/Therapeuten besprichst?
3,34
1,73
,20
werte der Items zur Erfassung der subjektiv erlebten Stigmatisierung fallen recht unterschiedlich aus, vor allem Frage 2 und 4 tragen nicht sehr gut zur Differenzierung der befragten Kinder und Jugendlichen bei. Antworttendenzen, wie soziale Erwünschtheit könnten auch hier eine Rolle spielen. Die geringen Trennschärfeindices der Items 4 und 5 deuten ferner darauf hin, dass sie weniger geeignet sind, das von uns theoretisch angenommene Konstrukt zu erfassen. Die interne Konsistenz der Gesamtskala erreicht nur einen Wert von .60. Informationsbedürfnis Die Items zur Erfassung des Informationsbedürfnisses sind unter skalenanalytischen Gesichtspunkten als wenig zufrieden stellend zu beurteilen. Auch hier weisen die Mittelwerte auf deutliche Antworttendenzen hin, vor allem die Frage »ist Tabelle 12: Statistische Kennwerte der Skala Informationsbedürfnis Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du in die KJPP gekommen bist?
3,27
1,58
,18
2.
Ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden, wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist – oder nicht?
1,82
1,32
,36
3.
Auch wenn deine Eltern über alles entscheiden dürfen, ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden – oder nicht?
1,46
1,01
,26
4.
Würde es die Aufnahme erleichtern, wenn man sich die Klinik vorher anschauen könnte?
1,87
1,24
,21
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
139
es dir wichtig . . .« scheint das Antwortverhalten deutlich im Sinne sozialer Erwünschtheit zu beeinflussen. Die niedrigen Trennschärfeindices von .18 bis .36 spiegeln sich in der ungenügenden internen Konsistenz der Skala von .44 wider.
9.2.1.2 Faktorenanalyse Die Fragebögen des ersten und zweiten Messzeitpunktes wurden im Hinblick auf ihre faktorielle Struktur analysiert. Dies sollte dazu dienen, die Dimensionen zu eruieren, nach denen die jeweiligen befragten Kinder und Jugendlichen den Aufnahmeprozess und die stationäre Behandlung beurteilen. Weiterhin konnte durch diese Analysen die Frage überprüft werden, ob bzw. in welcher Hinsicht die a priori gebildeten Itemgruppierungen empirisch gültig sind. Als Methode der Faktorenextraktion wurde die Hauptkomponentenanalyse gewählt, als Rotationsmethode die Varimax-Rotation. Erstfragebogen Für den Erstfragebogen wurden nach dem Eigenwertkriterium (Eigenwert > 1) sechs Faktoren zur Repräsentation der Gesamtvarianz aller Variablen nach der Parallelanalysemethode (Lautenschlager et al., 1989) extrahiert. Diese Faktoren klären insgesamt 53,08 % der Varianz auf. Tabelle 19 enthält die Faktorladungsmatrix, wobei die Items nach Ladungshöhe und Faktorreihenfolge gruppiert sind. Während die ersten 5 Faktoren in der varimax-rotierten Matrix eindeutig interpretierbar sind, ist die inhaltliche Zuordnung des sechsten Faktors, der lediglich 2 Items umfasst, unklar. Er klärt im Gegensatz zu den vorherigen weniger als 5 % zusätzliche Varianz auf, so dass die inhaltliche Interpretation von nur 5 Faktoren gerechtfertigt erscheint. Vergleicht man die faktorenanalytischen Ergebnisse mit den von uns ursprünglich gebildeten Skalen, zeigt sich, dass sich viele unserer inhaltlichen Differenzierungen empirisch bestätigen lassen. Der erste Faktor, der acht Items1 umfasst, bringt zum Ausdruck, ob die Patienten sich an der Aufnahmeentscheidung beteiligt fühlen und bestätigt damit weitestgehend die von uns a priori gebildete Skala Partizipation. Die interne Konsistenz (Cronbachs α) von α = .87 kann als sehr zufrieden stellend beurteilt werden, ebenso wie die Schwierigkeiten und Trennschärfeindices der Items der Partizipationsskala, die folgende Tabelle zeigt. 1
Items mit einer Ladungshöhe < .40 werden nicht berücksichtigt
140
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 13: Itemkennwerte der Partizipationsskala Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Hat sich jemand für deine Meinung interessiert?
2,55
1,54
,62
2.
Hattest du das Gefühl, mit entscheiden zu können?
2,70
1,68
,74
3.
Bist du freiwillig in der KJPP?
2,60
1,57
,69
4.
Warst du mit deiner Aufnahme einverstanden?
2,28
1,47
,72
5.
Hast du der Entscheidung, dass du in die KJPP aufgenommen wurdest, zugestimmt?
2,08
1,43
,69
6.
Hattest du die Wahl?
2,97
1,78
,61
7.
Wer hat entschieden, dass du in die KJPP aufgenommen wurdest?
2,42
0,63
,55
8.
Als du von der Aufnahme erfahren hast, warst du da wütend?
2,39
1,56
,49
Mit dem zweiten Faktor, auf dem sieben Items laden, die die emotionale Befindlichkeit widerspiegeln, wird die theoretisch formulierte Skala emotionale Belastung durch die Aufnahmeentscheidung bestätigt, lediglich um ein Item reduziert (»Als du von der Aufnahme erfahren hast, warst du da wütend?«). Die interne Konsistenz der Skala beträgt α = .79, Schwierigkeiten und Trennschärfen der Items sind zufrieden stellend. Tabelle 14: Itemkennwerte der Skala »Emotionale Belastung durch die Aufnahmeentscheidung« Items 9. Als du von der Aufnahme erfahren hast, warst du da zufrieden?
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
3,21
1,46
,61
10. . . . erleichtert?
3,10
1,52
,55
11. . . . froh
3,25
1,50
,65
12. . . . verängstigt?
2,81
1,59
,38
13. . . . traurig?
3,07
1,44
,55
14. Machst du dir Sorgen über das, was auf dich zukommt?
2,84
1,58
,47
15. Hast du die Aufnahme als belastend erlebt?
2,71
1,63
,47
Die Items des dritten Faktors beschreiben Aspekte der Behandlungsmotivation bei der Aufnahme. Theoretisch haben wir zwei dieser Items (»Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?«, »Im Moment bin ich in der Klinik, weil ich glaube, das ist das beste für mich«) der Partizipationsskala zugeordnet, sie spiegeln jedoch in der faktorenanalytischen Lösung zusammen mit dem Item »Denkst du,
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
141
Tabelle 15: Itemkennwerte der Skala »Allgemeine Behandlungsmotivation« Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Denkst du, der Aufenthalt könnte dir schaden?
1,66
1,20
,49
2.
Im Moment bin ich in der Klinik, weil ich glaube, das ist das Beste für mich.
2,09
1,45
,59
3.
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
2,71
1,64
,54
der Aufenthalt könnte dir schaden?« tatsächlich eher motivationale Aspekte wider. Trotz der Kürze dieser Skala findet sich eine interne Konsistenz von α = .71. Entgegen unseren Erwartungen lässt sich die theoretische Trennung von Informations- und Partizipationsbedürfnissen empirisch nicht untermauern, diese Items laden gemeinsam auf dem vierten Faktor. D. h. Kinder und Jugendliche, die ein hohes Informationsbedürfnis aufweisen, sind auch daran interessiert, an Entscheidungen beteiligt zu werden. Die interne Konsistenz der Skala liegt lediglich bei α = .61. Vier der auf diesem Faktor ladenden Items weisen zusätzlich sehr geringe Schwierigkeiten auf, so dass dieser Faktor nur unter Vorbehalt inhaltlich zu interpretieren wäre. Vor allem die Frage »Ist es dir wichtig . . .« scheint das Antwortverhalten deutlich im Sinne sozialer Erwünschtheit zu beeinflussen. Tabelle 16: Itemkennwerte der Skala »Informations- und Partizipationsbedürfnis« Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
6. Sollten Kinder und Jugendliche das Recht haben, die Behandlung abzubrechen?
2,44
1,53
,24
7. Ist es wichtig, dass man vom Arzt gefragt wird, ob man mit der Aufnahme einverstanden ist, oder nicht?
1,78
1,35
,36
8. War (wäre) es dir wichtig (gewesen), mit zu entscheiden?
1,74
1,24
,39
9. Wer sollte entscheiden, ob man in die KJPP kommt?
2,12
0,70
,43
10. Ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden, wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist?
1,81
1,31
,35
11. Auch wenn deine Eltern über alles entscheiden dürfen, ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden?
1,44
0,98
,39
Da Informations- und Partizipationsbedürfnisse diesen Ergebnissen zufolge nicht zufrieden stellend erfasst werden konnten, wird im Rahmen der weiteren Berechnungen auf Einzelitems zurückgegriffen, die eine mittlere Schwierigkeit aufweisen, also gut zwischen den befragten Personen differenzieren. Zur Erfas-
142
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 17: Itemkennwerte der Skala »Stigma« Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
6.
3,32
1,60
,41
Denkst du, dass andere sich darüber lustig machen, dass du in der KJPP bist?
7.
Schämst du dich, dass du in der KJPP bist?
4,01
1,44
,43
8.
Hältst du es vor anderen geheim, dass du in der KJPP bist?
3,63
1,64
,47
9.
Ist es dir wichtig, dass deine Eltern nicht alles erfahren, was du mit dem Arzt/Therapeuten besprichst?
2,66
1,73
,23
sung des Partizipationsbedürfnisses sind dies die Items »Wer sollte entscheiden, ob ein Kind oder Jugendlicher in die Psychiatrie kommt?« und »Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?«, Informationsbedürfnisse bei der stationären Aufnahme werden erhoben über die Frage »Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen bist?«. Die a priori gebildete Skala Stigma findet sich in der empirisch ermittelten Faktorenstruktur wider (Faktor 5), weist jedoch mit vier Items eine interne Konsistenz von lediglich α = .60 auf. Die Stigma-Skala konnte demnach anhand der vorab formulierten Items nicht zufrieden stellend repliziert werden. Da das Erleben von Stigmatisierung jedoch inhaltlich bedeutsam ist, werden wir auch hier auf Einzelitems zurückgreifen, die über gute Schwierigkeitsindices verfügen: »Denkst du, dass andere sich darüber lustig machen, dass du in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bist?«, »Hältst du es vor anderen geheim, dass du in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bist?« Die folgende Tabelle liefert abschließend einen Überblick über die Kennwerte der verwendeten Skalen. Mit Ausnahme der Stigma-Skala und der Skala emotionale Belastung handelt es sich um linksschiefe Verteilungen. Eine Überprüfung der Normalverteilungsannahme anhand des Kolmogorov-Smirnov-Tests zeigt, dass lediglich die Skala Emotionale Bewertung der Aufnahmeentscheidung einer Normalverteilung angenähert ist (K-S-Z-Wert = .97, p = .303). Tabelle 18: Skalenkennwerte der Skalen des ersten Messzeitpunktes Skala
N
Anzahl Items
M
sd
Schiefe
alpha
Partizipation
288
8
25,95
8,67
– .38
.87
Emotionale Belastung
296
7
21,01
7,14
.03
.79
Allgemeine Motivation
296
3
11,52
3,46
– .89
.71
Informations- u. Partizipationsbedürfnis
287
6
22,67
4,23
–1.03
.61
Stigma
295
4
10,37
4,33
.37
.60
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
143
Tabelle 19: Ergebnis der Faktorenanalyse des Erstfragebogens Items
F1
F2
F3
F4
F5
F6
.05
.13
–.05
–.03
–.17 –.18
.13
–.11
–.09
Hattest du das Gefühl, mit entscheiden zu können?
.85
Hattest du die Wahl?
.77
Hat sich jemand für deine Meinung interessiert?
.76
.06
.11
.09
.00
.14
Bist du freiwillig hier?
.70
–.17
.25
.10
–.05
–.02
.03 –.04
–.18
–.12
.04
Wer hat entschieden . . .
–.67
.02
Warst du mit deiner Aufnahme einverstanden?
.65
–.40
.35
–.04
–.06
–.06
Hast du der Entscheidung, dass du aufgenommen wurdest, zugestimmt?
.63
–.20
.42
.01
–.00
–.02
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da wütend?
–.49
.27 –.27
.30
.13
.03
Wurdest du dazu überredet, hierher zu kommen?
–.37
.29
.26
–.10
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da traurig?
–.17
.69
–.08
–.02
.02
.06
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da froh?
.37
–.65
.19
–.06
.04
.21
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da verängstigt?
.17
.64
.08
–.09
.19
.14
Machst du dir Sorgen über das, was auf dich zukommt?
.03
.63 –.13
.03
.17
.30
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da zufrieden?
.44
–.60
.10
–.22
–.01
.17
Als du erfahren hast, dass du aufgenommen werden sollst, warst du da erleichtert?
.45
–.54
.07
–.04
.04
.31
.47 –.33
.16
.14
.07
Hast du die Aufnahme als belastend erlebt?
–.16
Denkst du der Aufenthalt könnte dir schaden?
–.11
.26 –.07
.08
.25
.06
Im Moment bin ich in der Klinik, weil ich glaube, das ist das Beste für mich.
.41
–.14
.60
–.18
.02
.09
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
.40
–.38
.53
.05
.05
.11
Würde es die Aufnahme erleichtern, wenn man sich die Klinik vorher anschauen könnte?
.11
–.05
.38
.18
–.05
.34
Wer sollte entscheiden . . .?
.10
–.06 –.12
.63
.18
–.10
Ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden, wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist?
.10 –.71
–.08
.08
.05
.56
–.10
.49
Auch wenn deine Eltern über alles entscheiden dürfen, ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden?
.09
.06
.15
.57
–.17
.18
Ist es wichtig, dass man vom Arzt gefragt wird, ob man mit der Aufnahme einverstanden ist?
.02
.05
.08
.55
.19
.22
144
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Items
F1
F2
F3
F4
F5
F6
War (wäre) es dir wichtig (gewesen) mit zu entscheiden?
.26
–.06 –.22
.52
.04
.01
Sollten Kinder das Recht haben, die Behandlung abzubrechen?
.10
.21 –.27
.44
.16
–.29
–.09
.07 –.01
.06
.75
–.01
.03
.06 –.09
.11
.64
.13
–.04
.20 –.34
–.06
.63
.09
Hältst du es vor anderen geheim, dass du in der KJPP bist? Denkst du, dass andere sich darüber lustig machen, dass du in der KJPP bist? Schämst du dich, dass du in der KJPP bist? Ist es dir wichtig, dass deine Eltern nicht alles erfahren, was du mit dem Arzt/Therapeuten besprichst?
.02
–.01
.35
.39
.50
–.12
Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?
.02
–.03
.30
–.24
–.02
–.60
–.01
.09
.14
–.03
.14
.57
22,65 10,61 5,51
5,20
5,01
4,10
Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du in die KJPP gekommen bist? aufgeklärte Varianz (%)
Zur weiteren Absicherung der anhand der Faktorenanalyse gewonnen Skalen haben wir zusätzlich alle Items mit zu geringer bzw. zu hoher Schwierigkeit sowie zu gering ladende Items (< .40) in einer zweiten Faktorenanalyse aus dem Datenpool eliminiert. Die Faktorenstrukturen verschiedener möglicher Faktorenlösungen bestätigen unter weitestgehend identischer Itemzusammensetzung die Faktoren Partizipation, emotionale Bewertung der Aufnahmeentscheidung und Stigma. Alle weiteren Faktoren wären inhaltlich nicht eindeutig interpretierbar oder würden nur zwei Items umfassen, so dass die erste Faktorenlösung unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen beibehalten wird.
9.2.2 Fragebogen zum Erleben der Behandlung 9.2.2.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen Partizipation Die Tabelle 20 gibt einen Überblick über die Mittelwerte und Standardabweichungen. Bei der überwiegenden Anzahl der Items liegen mittlere Schwierigkeiten vor, die Trennschärfekoeffizienten (Item-Gesamtwert-Korrelation) sind überwiegend zufrieden stellend. 3 Items weisen eine Trennschärfe von unter 0,30 auf, was darauf hindeutet, dass diese Items Mängel bei der quantitativen Erfassung von Partizipation aufweisen. Für die Gesamtskala ergibt sich eine interne Konsistenz (Cronbachs α) von .66.
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
145
Tabelle 20: Statistische Kennwerte der Skala Partizipation Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Wirst du in Entscheidungen darüber, wie du behandelt wirst einbezogen?
3,05
1,36
,42
2.
Hast du das Gefühl, die Ärzte und Therapeuten interessiert deine Meinung?
2,72
1,52
,27
3.
Bist du freiwillig in der KJPP?
2,38
1,58
,42
4.
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
3,07
1,57
,35
5.
Machst du die Therapie freiwillig?
2,23
1,46
,49
6.
Könntest du die Behandlung abbrechen, wenn dir danach zumute ist?
3,25
1,62
,16
7.
Bist du zufrieden, wie Entscheidungen auf Station gefällt werden?
2,88
1,41
,26
8.
Hast du dich letzte Woche verstanden gefühlt?
2,51
1,35
,36
9.
. . . fair behandelt gefühlt?
2,71
1,42
,36
Emotionales Befinden Wie aus der Tabelle 21 ersichtlich, liegen die Mittelwerte mit Ausnahme von einem Item im mittleren Bereich. Item 2 hat einen sehr niedrigen Mittelwert, d. h. ein Erleben von Angst wird von der Mehrzahl der Patienten deutlich verneint, dieses Item trägt damit wenig zur Differenzierung zwischen den Kindern bei. Die Trennschärfekoeffizienten, die zwischen .39 und .66 liegen, sind insgesamt gut. Für die Gesamtskala ergibt sich eine zufrieden stellende interne Konsistenz (Cronbachs α) von .78. Tabelle 21: Statistische Kennwerte der Skala Emotionales Befinden Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Hast du dich letzte Woche traurig gefühlt?
2,78
1,44
,66
2.
. . . verängstigt gefühlt?
1,87
1,30
,39
3.
. . . einsam gefühlt?
2,38
1,63
,52
4.
Warst du letzte Woche froh?
3,12
1,44
,48
5.
Warst du letzte Woche wütend?
2,43
1,46
,53
6.
Warst du letzte Woche zufrieden?
2,85
1,33
,64
Informationsbedürfnis Die Items der Skala Informationsbedürfnis verfügen durchgängig über sehr niedrige Schwierigkeiten, werden also von der Mehrzahl der Kinder ähnlich beantwortet, in diesem Falle inhaltlich bejaht. Möglicherweise werden durch die gewählte Formulierung (Ist es dir wichtig . . .) Antworttendenzen im Sinne der sozialen Er-
146
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
wünschtheit bzw. Akquieszenz erzeugt. Gute Werte ergeben sich für die Trennschärfekoeffizienten, die interne Konsistenz (Cronbachs α) ist mit .64 eher niedrig. Tabelle 22: Statistische Kennwerte der Skala Informationsbedürfnis Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Sollten Kinder und Jugendliche über ihr Problem und ihre Behandlung informiert werden?
1,36
,95
,40
2.
Ist es dir wichtig, dass du mit dem Arzt über die Ziele der Behandlung sprichst?
1,85
1,30
,42
3.
Ist es dir wichtig, dass dich jemand über deine Rechte aufklärt?
1,86
1,40
,51
4.
Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, ist es dir wichtig über alles informiert zu werden?
1,97
1,47
,43
Partizipationsbedürfnis Ähnlich, wie beim Informationsbedürfnis ergeben sich auch für die Skala Partizipationsbedürfnis niedrige Itemschwierigkeiten, d. h. auch bei dieser Fragengruppierung antwortet der Großteil der Kinder und Jugendlichen mit Ja, insofern gelten die bereits oben beschriebenen Einschränkungen hinsichtlich möglicher Antworttendenzen. Darüber hinaus sind die Trennschärfekoeffizienten unzureichend sowie auch die interne Konsistenz, die bei .38, liegt. Diese insgesamt mangelhaft ausfallenden Kennwerte deuten auf die Unbrauchbarkeit dieser Skala hin. Tabelle 23: Statistische Kennwerte der Skala Partizipationsbedürfnis Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Sollten Kinder das Recht haben, die Behandlung abzubrechen, wenn ihnen danach zumute ist?
2,56
1,58
,24
2.
Meinst du man sollte Kinder und Jugendliche nach einigen Wochen noch einmal Fragen, ob sie mit der Aufnahme einverstanden sind?
1,56
1,15
,09
3.
Wer sollte entscheiden, ob ein Kind/Jugendlicher behandelt wird?
2,25
0,57
,31
4.
Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?
2,59
1,39
,30
9.2.2.2 Faktorenanalyse Zweitfragebogen Für den Zweitfragebogen wurden zur Repräsentation der Gesamtvarianz aller Variablen nach der Parallelanalysemethode (Lautenschläger et. al. 1989) 4 Faktoren extrahiert. Diese 4 Faktoren binden 48 % der Gesamtvarianz. In folgenden werden die Faktoren sowie die dazugehörigen Items dargestellt.
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
147
Der erste Faktor deckt sich in hohem Maße mit unserer a-priori gebildeten Skala und ist gekennzeichnet durch Items, die die emotionale Befindlichkeit bezogen auf die zum Zeitpunkt der Fragebogenerhebung letzte Behandlungswoche beschreiben. Wir nennen diesen gut interpretierbaren Faktor Emotionale Belastung während der Behandlung. Für die Gesamtskala ergibt sich eine zufrieden stellende interne Konsistenz (Cronbachs α) von 0,78. Tabelle 24 gibt einen Überblick über die Itemkennwerte. Tabelle 24: Itemkennwerte der Skala Emotionale Belastung während der Behandlung Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Hast du dich letzte Woche traurig gefühlt?
2,78
1,44
,66
2.
. . . verängstigt gefühlt?
1,87
1,30
,39
3.
. . . einsam gefühlt?
2,38
1,63
,52
4.
Warst du letzte Woche froh?
3,12
1,44
,48
5.
Warst du letzte Woche wütend?
2,43
1,46
,53
6.
Warst du letzte Woche zufrieden?
2,85
1,33
,64
Die Items des zweiten Faktors bringen zum Ausdruck, ob sich die Patienten durch das Klinikpersonal respektvoll und verständnisvoll behandelt fühlen. Die Items dieses Faktors haben wir a priori der Freiwilligkeits-Zwangs-Dimension zugeordnet, sie werden empirisch jedoch separat als unabhängiger Faktor abgebildet. Wir nennen diesen Faktor Respektvolle und Faire Behandlung. Die interne Konsistenz beträgt .62, ist also eher niedrig. Tabelle 25: Itemkennwerte der Skala Respektvolle und faire Behandlung Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Hast du das Gefühl, die Ärzte und Therapeuten interessiert deine Meinung?
2,72
1,52
,27
2.
Bist du zufrieden, wie Entscheidungen auf Station gefällt werden?
2,88
1,41
,51
3.
Hast du dich letzte Woche verstanden gefühlt?
2,51
1,35
,43
4.
. . . fair behandelt gefühlt?
2,71
1,42
,48
5.
Sollten Kinder das Recht haben, die Behandlung abzubrechen, wenn ihnen danach zumute ist?
2,56
1,58
,21
Der dritte Faktor beschreibt Informations- und Partizipationsbedürfnisse, d. h. unsere a-priori getroffene inhaltliche Differenzierung in ein separates Informationsund Partizipationsbedürfnis lässt sich empirisch nicht bestätigen, diese beiden Bereiche hängen offensichtlich sehr eng zusammen. Kinder differenzieren nicht zwischen Informations- und Partizipationsbedürfnis, wenn ein Bedürfnis nach Infor-
148
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
mation geäußert wird, dann besteht häufig auch ein Bedürfnis nach Partizipation. Zu beachten ist jedoch, dass die Item-Mittelwerte auf dieser Skala, wie aus Tabelle 25 hervorgeht, insgesamt sehr niedrig sind. Inhaltlich heißt das, dass die Fragen von der Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen in die gleiche Richtung beantwortet, in diesem Fall bejaht werden. Damit tragen die Items dieser Skala insgesamt wenig zur Differenzierung zwischen den Kindern bei. Möglicherweise werden durch die gewählte Formulierung (Ist es dir wichtig . . .) Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit bzw. Akquieszenz erzeugt. Die interne Konsistenz ist zwar mit .70 befriedigend, die Skala erscheint jedoch vor dem Hintergrund der bereits genannten Gründe für weitergehende Auswertungen wenig brauchbar. Tabelle 26: Itemkennwerte der Skala Informations- und Partizipationsbedürfnis Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Ist es dir wichtig, dass du mit dem Arzt über die Ziele der Behandlung sprichst?
1,83
1,30
,43
2.
Ist es dir wichtig, dass dich jemand über deine Rechte aufklärt?
1,84
1,40
,48
3.
Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, ist es dir wichtig über alles informiert zu werden?
1,95
1,46
,57
4.
Meinst du man sollte Kinder und Jugendliche nach einigen Wochen noch einmal Fragen, ob sie mit der Aufnahme einverstanden sind?
1,56
1,15
,28
5.
Wer sollte entscheiden, ob ein Kind/Jugendlicher behandelt wird?
2,25
0,57
,32
6.
Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?
2,59
1,39
,42
Der 4. Faktor spiegelt schließlich das Ausmaß an Freiwilligkeit bzw. Zwang bezogen auf den psychiatrischen Aufenthalt wider und ähnelt damit der a-priori angenommen Itemzusammenstellung, wobei die theoretische Skala ursprünglich noch um die Items des Faktors Respektvolle und Faire Behandlung verlängert war. a beträgt .67 und ist angesichts der relativ niedrigen Itemanzahl noch zufrieden stellend. Tabelle 27: Itemkennwerte der Skala Freiwilligkeit-Zwang Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Wirst du in Entscheidungen darüber, wie du behandelt wirst einbezogen?
3,05
1,53
,42
2.
Bist du freiwillig in der KJPP?
2,38
1,57
,52
3.
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
3,07
1,57
,29
4.
Machst du die Therapie freiwillig?
2,23
1,46
,48
5.
Könntest du die Behandlung abbrechen, wenn dir danach zumute ist?
3,25
1,62
,27
149
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
Zusammenfassend ergeben sich mit den Skalen Respektvolle und Faire Behandlung, Freiwilligkeit-Zwang sowie Emotionale Belastung während der Behandlung drei gut interpretierbare Skalen mit zufrieden stellenden Kennwerten (siehe Tab. 28). In Bezug auf die Skala Informations- und Partizipationsbedürfnis haben wir uns angesichts deren geringer Differenzierungsfähigkeit entschieden, diese zur weitergehenden Analyse fallen zu lassen und durch brauchbare Einzelitems zu ersetzten. Das Bedürfnis nach Partizipation während der Behandlung haben wir schließlich mit den Fragen: »Wer sollte entscheiden, ob ein Kind/Jugendlicher behandelt wird?« sowie »Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?«, die parallel auch im Erstfragebogen gestellt wurden und eine mittlere Schwierigkeit aufwiesen erhoben. Fragen zum Informationsbedürfnis während der Behandlung gingen aufgrund von mangelnden Itemkennwerten nicht in weitere Auswertungen ein. Eine Überprüfung der Normalverteilungsannahme anhand des KolmogorovSmirnov-Tests zeigt, dass außer der Skala Informations- und Partizipationsbedürfnis (K-S-Z-Wert = 1,58, p = .013) alle Skalen einer Normalverteilung angenähert sind. Tabelle 28: Skalenkennwerte der Skalen des zweiten Messzeitpunktes Skala
N
Anzahl M Items
sd
Schiefe alpha
Respektvolle und Faire Behandlung
110
5
16,61
3,96
.03
.78
Freiwilligkeit Zwang
110
5
15,98
5,12
–.16
.67
Emotionale Belastung während der Behandlung
111
6
20,54
5,97
–.29
.78
Informations- u. Partizipationsbedürfnis
109
7
26,52
5,14
–1.04
.70
Zur Absicherung der anhand der Faktorenanalyse gewonnen Skalen haben wir alle Items mit zu geringer bzw. zu hoher Schwierigkeit sowie zu gering ladende Items (< .40) in einer zweiten Faktorenanalyse aus dem Datenpool eliminiert. Dies betraf insgesamt 5 Items des Faktors Informations- und Partizipationsbedürfnis sowie das Item »Hattest du letzte Woche Angst?«. Die 4-Faktorenstrukturen bestätigt unter nahezu identischer Itemzusammensetzung die Faktoren Respektvolle und Faire Behandlung, emotionale Belastung während der Behandlung und Freiwilligkeit-Zwang. Der Faktor Informations- und Partizipationsbedürfnis wird ebenfalls repliziert, reduziert um 5 Items. Aufgrund der insgesamt niedrigen Itemanzahl wurden zu weiteren Analysen die bereits dargestellten Ergebnisse der ersten Faktorenlösung unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen beibehalten.
150
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 29: Ergebnisse der Faktorenanalyse des Zweitfragebogens Items des Zweitfragebogens
F1
F2
F3
F4
,04
–,10
Hast du dich letzte Woche einsam gefühlt?
,75
–,02
Hast du dich letzte Woche traurig gefühlt?
,73
–,25
,10
,08
Hast du dich letzte Woche verängstigt gefühlt?
,71
,25
–,00
–,10
Warst du letzte Woche wütend?
,60
–,41
,09
,20
Warst du letzte Woche zufrieden?
,60
,47
–,05
,18
Bist du zufrieden, wie Entscheidungen auf Station gefällt werden?
,01
,69
–,17
,03
Hast du dich letzte Woche fair behandelt gefühlt?
–,15
,65
–,00
,11
Hast du dich letzte Woche verstanden gefühlt?
–,26
,60
,05
,09
Warst du letzte Woche froh?
,48
,51
–,00
,09
Hast du das Gefühl, die Ärzte und Therapeuten interessiert deine Meinung?
,08
,50
,26
,11
Wer sollte entscheiden, ob ein Kind/Jugendlicher behandelt wird?
,09
–,46
,46
,09
Sollten Kinder das Recht haben, die Behandlung abzubrechen, wenn ihnen danach zumute ist?
,17
–,41
,33
,31
Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, ist es dir wichtig über alles informiert zu werden?
,06
–,07
,75
–,02
Ist es dir wichtig, dass dich jemand über deine Rechte aufklärt?
,27
,08
,64
,14
Sollten Kinder und Jugendliche über ihr Problem und ihre Behandlung informiert werden?
–,15
–,15
,62
,09
Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?
–0,1
,21
–,60
,15
Ist es dir wichtig, dass du mit dem Arzt über die Ziele der Behandlung sprichst?
,17
,21
,57
,25
Meinst du man sollte Kinder und Jugendliche nach einigen Wochen noch einmal Fragen, ob sie mit der Aufnahme einverstanden sind?
,01
,16
,45
–,04
Bist du freiwillig in der KJPP?
–,04
,01
–,02
,83
Machst du die Therapie freiwillig?
,03
,05
–,04
,80
Wirst du in Entscheidungen darüber, wie du behandelt wirst einbezogen?
,08
,24
,14
,60
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
–,35
,16
–,08
,46
Könntest du die Behandlung abbrechen, wenn dir danach zumute ist?
–,18
–,18
,31
,46
Aufgeklärte Varianz
18,2 % 13,5 % 8,8 % 8,2 % (48,7 %)
151
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
9.2.3 Motivationsfragebogen I 9.2.3.1 Itemanalyse der theoretischen Skalen Leidensdruck Die Tabelle 30 gibt einen Überblick über die Mittelwerte, Standardabweichungen und Trennschärfekoeffizienten der Items der Skala Leidensdruck. Die vier Items weisen überwiegend mittlere Schwierigkeiten auf. Die Trennschärfekoeffizienten (Item-Gesamtwert-Korrelation), die zwischen .51 und .60 liegen, können insgesamt als zufrieden stellend beurteilt werden. Für die Gesamtskala ergibt sich eine interne Konsistenz (Cronbachs α) von α = .80. Tabelle 30: Statistische Kennwerte der Skala Leidensdruck Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trenns chärfe
1.
Zurzeit geht es mir wegen meines Problems sehr schlecht.
3,15
1,53
,59
2.
Ich leide sehr unter meinem Problem.
3,54
1,41
,60
3.
Ich glaube, mein Problem zerstört mein ganzes Leben. 2,70
1,61
,54
4.
Trotz meines Problems geht es mir eigentlich gut.
1,43
,51
2,47
Erfolgserwartung Die Mittelwerte dieser Skala fallen durchschnittlich sehr hoch aus, d. h. die Mehrzahl der Patienten äußert sehr hohe Erfolgserwartungen. Demzufolge tragen die Items wenig zu einer interindividuellen Differenzierung bei und es besteht die Gefahr, dass hier im Sinne sozialer Erwünschtheit geantwortet wurde. Die Trennschärfekoeffizientenfallen insgesamt zufrieden stellend aus. Für die Gesamtskala ergibt sich eine interne Konsistenz (Cronbachs α) von α = .82. Tabelle 31: Statistische Kennwerte der Skala Erfolgserwartung Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Mein Problem kann ich ohne eine Behandlung nicht lösen.
3,61
1,47
,47
2.
Diese Behandlung wird bei mir sowieso nicht helfen.
4,02
1,26
,59
3.
Ich glaube, eine Behandlung wegen meines Problems 3,99 wird mir nützen.
1,29
,63
4.
Ich glaube, dass mir der Aufenthalt in der Kinderund Jugendpsychiatrie schaden wird.
1,19
,54
5.
Mein Problem kann ich nur hier in der Klinik lösen.
3,39
1,46
,60
6.
Ich sehe in meiner Behandlung keinen Sinn.
3,92
1,44
,72
4,31
152
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Kosten Die Skala zur Erfassung der erwarteten Kosten kann unter skalenanalytischen Gesichtspunkten als nicht brauchbar bezeichnet werden. Die Item-Mittelwerte fallen recht unterschiedlich aus, vor allem die Items 1 bis 4 werden von der Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen bejaht, was einerseits auf schlechte Itemformulierungen hindeuten kann, andererseits auf Antworttendenzen oder soziale Erwünschtheit. Die Trennschärfeindices, die zwischen .07 und .51 liegen, zeigen, dass nicht alle Items gleich gut geeignet sind, das theoretische Konstrukt zu erfassen. Die interne Konsistenz der Gesamtskala liegt bei lediglich α = .58. Tabelle 32: Statistische Kennwerte der Skala Kosten Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1. Ich würde viel darum geben, wenn ich mein Problem verlieren könnte.
4,44
1,10
,16
2. Wie so viele Probleme löst sich mein Problem mit der Zeit von selbst.
3,55
1,48
,30
3. Ich glaube, dass meine Behandlung wegen meines Problems verlorene Zeit ist.
3,95
1,41
,51
4. Wenn man mir nur hier im Krankenhaus helfen kann, bin ich bereit, einige Wochen zu bleiben.
3,89
1,48
,45
5. Damit es mir besser geht, finde ich es O. K., lange von meinen Eltern und Freunden getrennt zu sein.
2,53
1,59
,30
6. Es gibt Dinge in meinem Leben, über die rede ich nicht.
2,09
1,39
,07
7. Es fällt mir schwer, einem Arzt etwas über mein Problem zu erzählen.
3,08
1,55
,19
8. Es geht niemanden etwas an, was in mir vorgeht.
2,89
1,48
,32
Therapiemotivation Die Items verfügen durchgängig über hohe Schwierigkeiten und werden von der Mehrzahl der Patienten bejaht. Antworttendenzen, wie soziale Erwünschtheit könnten auch hier eine Rolle spielen. Insgesamt sehr gut fallen dagegen die Trennschärfeindices der Items aus. Die interne Konsistenz der Gesamtskala erreicht einen Wert von α = .87.
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
153
Tabelle 33: Statistische Kennwerte der Skala Therapiemotivation Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1. Wenn ich Unterstützung bekomme, strenge ich mich an, mein Problem loszuwerden.
4,24
1,09
,46
2. Ich brauche dringend Unterstützung, mein Problem loszuwerden.
3,79
1,37
,59
3. Ich halte mein Problem für behandlungsbedürftig.
3,66
1,42
,67
4. Ich habe schon öfters darüber nachgedacht, wo ich Hilfe finden könnte, mein Problem loszuwerden.
3,31
1,54
,53
5. Über mein Problem habe ich schon intensiv nachgedacht.
4,02
1,32
,46
6. Ich habe schon einmal gedacht, etwas gegen mein Problem tun zu müssen.
3,77
1,43
,45
7. Mein Problem beschäftigt mich immer wieder.
3,78
1,44
,57
8. Ich halte es für notwendig, etwas gegen mein Problem zu tun.
4,33
1,14
,68
9. Ich habe mir eine Behandlung wegen meines Problems gewünscht.
3,26
1,66
,58
10. Ich will, dass man mir hier hilft.
4,21
1,23
,68
11. Ich will mein Problem gar nicht loswerden.
4,63
1,00
,47
12. Eigentlich glaube ich, dass ich mein Problem selbst am besten lösen kann.
3,56
1,54
,40
13. Ich wüsste gerne, was ich gegen mein Problem unternehmen kann.
4,25
1,14
,63
Sozialer Druck Die Items 2 und 4, die sich inhaltlich auf die Akzeptanz durch die Gleichaltrigengruppe beziehen, weisen bei ansonsten mittleren Schwierigkeiten der Items sehr geringe Mittelwerte auf. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen fühlt sich durch ihre Beschwerden nicht von Gleichaltrigen ausgegrenzt, die Items tragen jedoch nicht zur interindividuellen Differenzierung bei. Die niedrigen Trennschärfeindices von vier der 6 Items spiegeln sich in der ungenügenden internen Konsistenz der Skala von α = .54 wider.
154
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 34: Statistische Kennwerte der Skala Sozialer Druck Items
Mittelwert
Standardabweichung
Trennschärfe
1.
Wegen meines Problems habe ich schon oft Ärger mit meinen Lehrern gehabt.
3,05
1,74
,25
2.
Wegen meines Problems wollen meine Freunde nicht mehr mit mir spielen/sich nicht mehr mit mir treffen.
1,65
1,22
,37
3.
Anderen Kindern/Jugendlichen macht das nichts aus, dass ich so bin.
2,49
1,51
,19
4.
Ich bin wegen meines Problems bei Gleichaltrigen unbeliebt.
1,98
1,39
,41
5.
Meine Eltern haben mir schon oft gesagt, dass ich 3,96 mich ändern muss.
1,40
,29
6.
Meine Eltern stört mein Problem.
1,60
,22
3,37
9.2.3.2 Faktorenanalyse Zur Überprüfung der Frage, ob bzw. in welcher Hinsicht die a priori gebildeten Itemgruppierungen empirisch gültig sind, wurde der Fragebogen einer Faktorenanalyse unterzogen. Als Methode der Faktorenextraktion wurde die Hauptkomponentenanalyse gewählt, als Rotationsmethode die Varimax-Rotation. Die zuvor beschriebene Itemanalyse hat gezeigt, dass eine Vielzahl von Items zu hohe bzw. zu niedrige Schwierigkeiten aufweist. Aufgrund der großen Itemzahl des Fragebogens haben wir uns dazu entschlossen, diese aus dem Datenpool zu eliminieren und die Faktorenanalyse mit insgesamt 25 Items durchzuführen. Für den Motivationsfragebogen wurden nach dem Eigenwertkriterium (Eigenwert > 1) und der Parallelanalysemethode (Lautenschläger et. al., 1989) 5 Faktoren extrahiert, von denen die ersten drei gut und eindeutig interpretierbar sind. Ab dem vierten Faktor wird die inhaltliche Interpretation schwieriger und weniger eindeutig, so dass eine Begrenzung auf drei Faktoren erfolgt. Die auf dem ersten Faktor hoch ladenden Items beschreiben eine allgemeine Einstellung zur Behandlung (»Ich glaube, dass meine Behandlung verlorene Zeit ist.«, »Mein Problem kann ich nur hier in der Klinik lösen.«). Die interne Konsistenz dieser Skala beträgt α = .88. Hinsichtlich der inhaltlichen Interpretierbarkeit ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine signifikante Korrelation der Itemladungen mit den Itemschwierigkeiten besteht (r = .615, p = .001), der Faktor also eher Schwierigkeiten abbildet. Der zweite Faktor beschreibt den erlebten Leidensdruck und entspricht damit der von uns theoretisch gebildeten Skala. In seiner Endform ist diese lediglich um ein
155
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
Item verlängert. Das Item »Mein Problem beschäftigt mich immer wieder«, das auf Faktor 2 und Faktor 3 etwa gleich hohe Ladungen aufweist, haben wir aus inhaltlichen Gründen dem Faktor 3 zugeordnet. Für den Faktor Leidensdruck konnte eine interne Konsistenz von α = .78 ermittelt werden. Auch hier zeigt sich eine signifikante Korrelation der Itemladungen mit den Itemschwierigkeiten (r = .531, p = .006), was die inhaltliche Interpretierbarkeit einschränkt. Die Items des dritten Faktors bringen eine kognitive Auseinandersetzung mit dem Problem zum Ausdruck. Der ursprünglich drei Items umfassende Faktor wurde ergänzt durch ein Item des zweiten Faktors und problembezogene Behandlungsmotivation genannt. Trotz der Kürze dieser Skala findet sich eine interne Konsistenz von α = .69. Der vierte Faktor, der lediglich eine interne Konsistenz von α = .31 aufweist, ist inhaltlich nicht eindeutig zu interpretieren. Der fünfte Faktor setzt sich aus Items unserer a priori gebildeten Skala sozialer Druck zusammen. Die lediglich drei Items umfassende Skala weist jedoch eine nur ungenügende interne Konsistenz von α = .52 auf. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich die angenommene Differenzierung des Konstrukts Behandlungsmotivation empirisch nicht bestätigen lässt. Die einzige der a priori gebildeten Skalen, die sich in der Faktorenstruktur nahezu identisch wieder finden lässt, ist die Skala Leidensdruck. Die folgende Tabelle 35 gibt einen Überblick über die Kennwerte der verwendeten Skalen. Bei allen Skalen handelt es sich um linksschiefe Verteilungen. Eine Überprüfung der Normalverteilungsannahme anhand des Kolmogorov-SmirnovTests zeigt, dass lediglich die Skala Leidensdruck einer Normalverteilung angenähert ist (K-S-Z-Wert = 1,21; p = .108). Tabelle 35: Skalenkennwerte der Skalen des Motivationsfragebogens I Skala
N
Anzahl M Items
sd
Schiefe alpha
Einstellung zur Behandlung
289
10
35,8
10,19
–.83
.88
Leidensdruck
289
5
15,4
5,42
–.05
.78
Problembezogene Behandlungsmotivation
289
4
14,7
4,15
–.54
.69
9.2.4 Motivationsfragebogen II Der Motivationsfragebogen wurde in identischer Form auch zum zweiten Messzeitpunkt – vier Wochen nach Behandlungsbeginn – eingesetzt. Der Vergleich der Itemmittelwerte des Motivationsfragebogens zum ersten und zweiten Messzeitpunkt zeigt, dass nahezu dieselben Items aufgrund zu nied-
156
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 36: Ergebnis der Faktorenanalyse des Motivationsfragebogens Items
F1
F2
F3
F4
F5
Ich glaube, dass meine Behandlung verlorene Zeit ist
,82
–,03
,04
,12
–,05
Ich sehe in meiner Behandlung keinen Sinn
,77
–,03
,21
,17
–,09
Mein Problem kann ich nur hier in der Klinik lösen
,76
,07
,04
–,18
,04
Wenn man mir nur hier helfen kann, bin ich bereit, einige Wochen zu bleiben
,72
,12
,12
,03
,07
Ich glaube eine Behandlung wegen meines Problems wird mir nützen
,69
–,07
,20
,08
–,01
Ich halte mein Problem für behandlungsbedürftig
,60
,22
,41
–,02
–,06
Eigentlich glaube ich, dass ich mein Problem selbst am besten lösen kann
,60
,15
,07
,24
–,05
Mein Problem kann ich ohne Behandlung nicht lösen
,55
,22
,38
–,07
–,01
Damit es mir besser geht finde ich es O. K. lange von meinen Eltern und Freunden getrennt zu sein
,51
,38 –,13
–,02
–,01
Ich habe mir eine Behandlung wegen meines Problems gewünscht
,49
,27
,38
,06
,00
Trotz meines Problems geht es mir eigentlich gut
,03
,75
,04
,21
–,05
Ich glaube, mein Problem zerstört mein ganzes Leben
,00
,72
,17
–,11
,09
Zur Zeit geht es mir wegen meines Problems sehr schlecht
,04
,68
,29
–,15
–,27
Ich leide sehr unter meinem Problem
,35
,60
,39
–,15
,01
Wie so viele Probleme löst sich mein Problem mit der Zeit von selbst
,34
,57
,01
,23
,10
Mein Problem beschäftigt mich immer wieder
,28
,46
,46
–,07
,12
Ich habe schon öfters darüber nachgedacht, wo ich Hilfe finden könnte, mein Problem loszuwerden
,15
,10
,74
,10
–,01
Ich habe schon einmal gedacht, etwas wegen meines Problems tun zu müssen
,08
,05
,71
,05
,19
Ich brauche Unterstützung, mein Problem loszuwerden
,41
,29
,52
,01
–,04
Es fällt mir schwer, einem Arzt etwas über mein Problem zu erzählen
,09
–,21 –,01
,74
–,05
Es geht niemandem etwas an, was in mir vorgeht
,15
,21
,58
–,14
,36 –,08
,48
,13
–,03
,77
Anderen Kindern macht das nichts aus, dass ich so bin Meine Eltern haben mir schon oft gesagt, dass ich mich ändern muss Meine Eltern stört mein Problem Wegen meines Problems habe ich oft Ärger mit meinen Lehrern gehabt
–,02 ,06 –,26 ,04
,06
–,05 ,22 –,08
,02 ,06 ,10
,21 –,28
,62 ,61
157
Struktur und statistische Kennwerte der Instrumente
riger oder zu hoher Schwierigkeit auszuschließen sind. Der reduzierte Datensatz wurde ebenfalls einer Faktorenanalyse unterzogen, als Methode der Faktorenextraktion wurde wiederum die Hauptkomponentenanalyse gewählt, als Rotationsmethode die Varimax-Rotation. Die Dimensionen des ersten und zweiten Messzeitpunktes sind in der gewählten fünf-faktoriellen Lösung weitestgehend identisch. Der erste Faktor entspricht der Skala Problembezogene Behandlungsmotivation, auf dem zweiten Faktor laden die Items der Skala Einstellung zur Behandlung, die Skala Leidensdruck findet sich ebenfalls in der Faktorenstruktur wieder. Aufgrund dieses Ergebnisses haben wir uns dazu entschlossen, die für den ersten Messzeitpunkt vorgenommene Skalenbildung auf den Motivationsfragebogen II anzuwenden. Die Skalenkennwerte sind der folgenden Tabelle 37 zu entnehmen. Tabelle 37: Skalenkennwerte des Motivationsfragebogens Skala
N
Anzahl M Items
sd
Schiefe alpha
Einstellung zur Behandlung
109
10
9,72
–.90
Leidensdruck
109
5
13,11
5,11
.19
.76
Problembezogene Behandlungsmotivation 109
4
13,93
4,49
–.44
.75
35,83
.87
Bei den Skalen Einstellung zur Behandlung und Problembezogene Behandlungsmotivation handelt es sich um linksschiefe Verteilungen. Eine Überprüfung der Normalverteilungsannahme anhand des Kolmogorov-Smirnov-Tests zeigt, dass lediglich die Skala Leidensdruck einer Normalverteilung angenähert ist (K-S-ZWert = ,76; p = .615). Die Skalen Einstellung zur Behandlung sowie Problembezogene Behandlungsmotivation weichen demgegenüber gering signifikant von der Normalverteilung ab (K-S-Z-Wert = 1,48; p = .025 bzw. K-S-Z-Wert = 1,42; p = .035). Ergebnisse der Faktorenanalyse bezogen auf den Fragebogen zur Behandlungsmotivation (T1 und T2) Für den Motivationsfragebogen (T1) ergibt die Faktorenanalyse 5 Faktoren, von denen die ersten drei gut und eindeutig interpretierbar sind und gute bis zufrieden stellende Itemkennwerte bzw. Werte der internen Konsistenz aufweisen, so dass eine Begrenzung auf 3 Faktoren vorgenommen wird. – Auf den ersten Faktor fallen Items, die die allgemeine Einstellung zur Therapie erfragen. – Der zweite Faktor ist mit der theoretisch gebildeten Skala Leidensdruck nahezu identisch.
158
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
– Der dritte Faktor, der inhaltlich eine kognitive Auseinandersetzung mit dem
Problem zum Ausdruck bringt, wird mit Problembezogene Behandlungsmotivation benannt. Die Dimensionen des Motivationsfragebogens erhoben 4 Wochen nach Behandlungsbeginn (T2) sind in der fünf – faktoriellen Lösung nahezu identisch mit der Faktorenlösung, die sich für den ersten Messzeitpunkt ergeben hat. Die auf 3 Faktoren begrenzte Skalenbildung mit den Faktoren Einstellung zur Therapie, Leidensdruck und Problembezogene Behandlungsmotivation kann deswegen identisch auf den zweiten Messzeitpunkt angewandt werden. Deskriptive Ergebnisse
9.3
Deskriptive Ergebnisse
9.3.1 Patienteninformation »Beim ersten Mal in Schwerin, da hatte meine Ärztin mir das so erklärt; da gibt es Pferde, da kannst du reiten, da gibt es ein Schwimmbecken und so. Als man nachher dahin kam, da lag man erst einmal ein paar Wochen im Bett, toll – nichts mit Reiten und nichts mit Schwimmen oder so. Die sollen einen schon darauf vorbereiten, was einen da erwartet, was tatsächlich kommt . . . dass einem, nachdem man gehört hat, du kommst in die Klinik, erst einmal gesagt wird, wie sieht’s da überhaupt aus. Wenn du noch nie in der Klapse warst, dann denkst du, da sind überall Gummizellen und so.«
9.3.1.1 Vorbereitung auf den stationären Aufenthalt Den Angaben minderjähriger psychiatrischer Patienten zufolge fand eine Vorbereitung auf den Aufenthalt in der Psychiatrie durch die einweisenden Ärzte überwiegend nicht statt. Über 60 % aller Kinder und Jugendlichen gaben an, dass sie eher nicht oder überhaupt nicht auf den bevorstehenden Klinikaufenthalt vorbereitet wurden. Wie Abbildung 2 zeigt, wird das Aufklärungsverhalten der Ärzte jedoch in Abhängigkeit vom Alter der Patienten beurteilt und ist bei den unter 14-jährigen als sehr gering zu bezeichnen. Von ihnen fühlten sich etwa 68 % eher wenig bis gar nicht informiert – im Vergleich zu ca. 55 % der über 14-jährigen Patienten (F = 6,61; p = .011). Danach gefragt, was die einweisenden Ärzte über die Psychiatrie erzählt hätten, wurde von den Kindern und Jugendlichen beispielsweise genannt (geordnet nach der Häufigkeit der Nennungen): – »dass es Therapien gibt« (27,6 %) – »dass man da Hilfe bekommt« oder »dass Probleme gelöst werden« (21,9 %)
Deskriptive Ergebnisse
159
Hat der Arzt vor der Aufnahme mit dir über die Psychiatrie und das, was auf dich zukommt, gesprochen? 70
N = 267
%
14Jahre
60 50 40 30 20 10 0 ja sehr
eher ja
teils teils
eher nein
überhaupt nicht
keine Angaben = 5 weiß nicht = 4 nicht zutreffend (vorher kein Arztbesuch) = 22
Abbildung 2: Aufklärungsverhalten der Ärzte
– »dass da andere Kinder sind« oder »dass da viele Kinder sind, die fast alle
dieselben Probleme haben« (20 %) – »dass es eigentlich ganz schön da ist«, »dass es gut für mich ist« oder »dass ich keine Angst haben muss« (20 %) Darüber hinaus hätten die Ärzte über das Freizeitangebot und den Tagesablauf informiert (11,4 %), über Rechte und Regeln (9,5 %) und darüber, dass es eine Schule gäbe (8,6 %). Informationen über die Dauer des Aufenthaltes erinnerten nur 5,7 %, über die Räumlichkeiten (Zimmer, Spielplatz) nur 4,8 %. 6,7 % der Patienten berichteten schließlich, dass ihnen lediglich gesagt wurde: »Es muss sein« oder »Ich soll in dieses Krankenhaus gehen«. Signifikante Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen zeigen sich nur in der Häufigkeit der Nennung von Therapie (χ² = 8,886; p = .003). Im Vergleich zu der Aufklärung durch die einweisenden Ärzte wurde die Vorbereitung auf den Klinikaufenthalt durch die Eltern insgesamt besser, vor allem von den jüngeren Patienten als deutlich ausführlicher erlebt. Während etwa 65 % der unter 14-jährigen Patienten angaben, sehr oder ziemlich ausführlich aufgeklärt worden zu sein, meinten 54 % der jugendlichen Patienten, ihre Eltern hätten sie eher nicht oder überhaupt nicht informiert (F = 28,95; p = .000).
160
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Haben deine Eltern mit dir über die Psychiatrie und das, was auf dich zukommt, gesprochen? 50
N = 291
%
14 Jahre
40
30
20
10
0 ja sehr
eher ja
teils teils
eher nein
überhaupt nicht
keine Angaben = 5 weiß nicht = 2
Abbildung 3: Aufklärungsverhalten der Eltern
Die signifikante Interaktion Alter × regionale Zugehörigkeit (F = 4,56; p = .033) verdeutlicht, dass sich Kinder in der Weißenau durch die Eltern ausführlicher informiert fühlten als in Rostock, während sich die Jugendlichen aus Ost und West in ihrer Einschätzung sehr ähnelten (vgl. Abbildung 4).
Haben deine Eltern mit dir über die Psychiatrie und das, was auf dich zukommt gesprochen? sehr ausführlich
Rostock Weissenau
teils teils
nein, gar nicht =14 Jahre (N=166)
Deskriptive Ergebnisse
161
Wie bei den einweisenden Ärzten standen nach Angaben der Kinder und Jugendlichen auch bei den Eltern Aussagen darüber an erster Stelle, dass man in der Psychiatrie ganz allgemein versuche, ihnen zu helfen (20 %), »dass sie die Ursache für das Problem finden wollen« (15,3 %) oder spezifischer »dass du dann besser lernen kannst« (4,1 %). Im Vergleich dazu erinnerten nur 8,2 % der Patienten, dass ihre Eltern konkret über Therapien mit ihnen gesprochen hätten. Informationen zum allgemeinen Tagesablauf und zu vorhandenen Regeln (»ihr dürft erst eine Woche nicht raus, nur in Begleitung«, »haben Regeln vorgelesen«) hätten 14,1 % der Patienten erhalten. Auskünfte wie beispielsweise »ich muss hier zum Arzt gehen«, »es werden Untersuchungen auf dich zukommen« oder »du gehst in eine Art Krankenhaus« erhielten eigenen Angaben zufolge 12,9 % der Befragten. »Dass man da Kontakte knüpfen kann«, »dass da andere Kinder sind«, »dass alle nett sind« oder »dass ich mit anderen zusammen bin, die auch Probleme haben« waren ebenfalls Informationen, die Eltern ihren Kindern häufig im Vorfeld der Aufnahme vermittelten (12,4 %). Aussagen wie »dass ich keine Angst haben brauche« oder »Ist nicht so schlimm, es gibt keine Spritzen, wenn Du zurück kommst machen wir Urlaub« erinnerten 6,5 % der Kinder und Jugendlichen, Sätze wie »dass es hier schön wäre, dass man hier auch ’nen schönen Urlaub machen kann« und »da wird es bestimmt lustig« weitere 5,9 % der Befragten. Die Frage nach der Dauer des Aufenthaltes (s. u.) wurde von etwa 40 % der Eltern nicht mit ihren Kindern besprochen. Entsprechend dem insgesamt besser beurteilten elterlichen Aufklärungsverhalten bei den unter 14-jährigen Patienten fühlten sich die jüngeren Patienten auch bezüglich der Dauer besser informiert als die Jugendlichen (χ² = 5,30; p = .021). Die Wichtigkeit einer möglichst erlebnisnahen Vorabaufklärung über die Psychiatrie verdeutlicht abschließend folgendes Ergebnis: 79 % aller Kinder und Jugendlichen waren der Meinung, dass eine vorweg erfolgte Besichtigung der Klinik die stationäre Aufnahme erheblich erleichtert hätte.
9.3.1.2 Informationspraxis in der Klinik (Aufnahmezeitpunkt) Das Aufklärungsverhalten des Behandlungsteams zu Beginn der stationären Behandlung wird von den Patienten unserer Untersuchung differenziert beurteilt. Über die Stationsregeln fühlten sich die minderjährigen Patienten weitaus am besten aufgeklärt. Insgesamt 73 % aller Patienten bejahten diesbezügliche Informationen, wobei sich die Jugendlichen der Rostocker Klinik deutlich von allen
162
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Wurdest du informiert über Stationsregeln? sehr ausführlich
teils teils
Rostock Weissenau
überhaupt nicht < 14 Jahre
>14 Jahre
Abbildung 5: Information über Stationsregeln
anderen Patienten unterschieden und sich tendenziell sehr gut über vorhandene Regeln informiert fühlten (Interaktion Alter × regionale Zugehörigkeit: F = 4,946; p = .027). In der Weißenau bestanden dagegen zwischen Kindern und Jugendlichen eher keine Unterschiede. Marginal signifikant ist auch der Haupteffekt Störungsgruppe (F = 3,569; p = .060), d. h. Patienten mit expansiven Störungen fühlten sich insgesamt besser über die Regeln aufgeklärt als Patienten mit introversiven Störungen. Deutlich schlechter wurde die Aufklärung über die psychische Störung oder Krankheit bzw. über die zu erwartende Therapie von den minderjährigen Patienten beurteilt. Während etwa die Hälfte aller Patienten erklärte, das Behandlungsteam habe sie über das Problem informiert, das sie in die Behandlung geführt hat, meinten jedoch immerhin 25 %, überhaupt nicht über ihr Problem aufgeklärt worden zu sein. In der Informationspraxis zeigten sich jedoch deutlich Einflüsse der regionalen Zugehörigkeit (F = 9,087; p = .003), d. h. Kinder und Jugendlichen der Klinik Weißenau stimmten einer Aufklärung über ihr Problem signifikant häufiger zu als Rostocker Patienten. Lediglich 34 % der Patienten bejahten darüber hinaus die Frage nach der Information über die bevorstehende Behandlung. Auch hier gilt, dass Weißenauer Patienten eigenen Angaben zufolge besser informiert wurden (Haupteffekt regionale Zugehörigkeit F = 16,332; p = .000), das Geschlecht der Patienten übt jedoch einen weiteren differenzierenden Effekt aus (Interaktion regionale Zugehörig-
Deskriptive Ergebnisse
163
Wurdest du informiert über deine Behandlung? sehr ausführlich
männlich weiblich
teils teils
überhaupt nicht Rostock
Weissenau
Abbildung 6: Information über die bevorstehende Behandlung
keit × Geschlecht F = 4,512; p = .034). Die männlichen Patienten der Weißenau bewerteten die Aufklärung über die Behandlung weitaus besser als die Mädchen, in Rostock fiel die Aufklärung unabhängig vom Geschlecht insgesamt schlechter aus (vgl. Abb. 6). Eine Aufklärung über Nebenwirkungen und Langzeitfolgen von Medikamenten, die eigenen Angaben zufolge 46 % der Patienten einnehmen, fand in weniger als der Hälfte der Fälle (44 %) statt (sig. Alterseffekt zu Lasten der unter 14-jährigen: χ² = 7,937; p = .005). Mit etwa 24 % fiel die Rate der Aufklärung über alternative Medikamente noch geringer aus. Trotz der aufgezeigten Mängel im Aufklärungsverhalten waren etwa 60 % der Patienten mit dem zufrieden, was sie über die Psychiatrie, ihr Problem und die Behandlung wissen. Diese Einschätzung ist jedoch vor allem auf die Patienten der Weißenau zurückzuführen (F = 4,509; p = .035), die auch die Informationspraxis bezüglich Problem und Behandlung positiver bewertet haben. Darüber hinaus verdeutlicht die folgende Abbildung, dass die über 14-jährigen mit introversiven Störungen insgesamt am wenigsten mit dem eigenen Wissen zufrieden waren, während sich die Zufriedenheitswerte der unter 14-jährigen in Abhängigkeit von der Art ihrer Störung wenig unterschieden (Interaktion Altersgruppe × Störung: F = 4,324; p = .039). Bei der Aufklärung über Diagnose und Behandlungsmaßnahmen geht es neben der Menge vor allem auch um die Verständlichkeit der vom Arzt zur Verfügung gestellten Information. Bei der Bewertung der Verständlichkeit der Kom-
164
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Bist du insgesamt zufrieden mit dem, was du über die Psychiatrie, dein Problem und die Behandlung weisst? ja sehr
introversiv expansiv
teils teils
überhaupt nicht 14 Jahre
Abbildung 7: Selbstbeurteilte Zufriedenheit mit der Aufklärungspraxis
munikation zwischen Behandlungsteam und Patient zeigen unsere Ergebnisse deutlich, dass Kinder die Erklärungen und Fragen der Ärzte/Therapeuten weniger gut verstanden als Jugendliche (F = 7,056; p = .008). Während 37 % der unter 14-jährigen die Erklärungen und Fragen der Behandler zumindest nur teilweise verstanden, waren es immerhin auch noch 22 % der Jugendlichen, die die Kommunikation als wenig verständlich beurteilten. Bemängelt wurde vor allem die Verwendung ärztlicher Fachsprache: »die Sprache, bisschen mehr auf deutsch«, »sie sollen deutlicher sprechen, weniger Fachausdrücke verwenden«, »so umformulieren, dass es auch ein Kind versteht, nicht so therapeutische Ausdrücke«. Gewünscht wurde außerdem, dass Gespräche nicht zu lang sein dürften und beispielsweise durch Pausen aufgelockert werden sollten: »Die Ärzte, die reden so viel und so schnell, da kommt man nicht mit!« Im Rahmen unserer Befragung bejahten ferner nur 54 % der Patienten (48 % der Kinder, 58 % der Jugendlichen (χ² = 2,831; p = .092) – 62 % in Rostock, 48 % in der Weißenau (χ² = 6,324; p = .012)) die Frage, ob sie von den Behandlern aufgefordert werden, Fragen zu stellen.
9.3.1.3 Informationsbedürfnisse minderjähriger Patienten Wie bereits dargestellt, fallen die Items zum Informationsbedürfnis mit den Items zum Partizipationsbedürfnis auf einen Faktor, der jedoch aufgrund methodischer Erwägungen als wenig brauchbar erscheint. Auf deskriptiver Ebene soll daher im
Deskriptive Ergebnisse
165
Auch wenn deine Eltern über alles entscheiden dürfen, ist es dir wichtig, über alles informiert zu werden, oder nicht? überhaupt nicht
Rostock Weissenau
teils teils
ja sehr introversiv
expansiv
Abbildung 8: Selbstbeurteiltes Informationsbedürfnis
Folgenden den Informationsbedürfnissen der minderjährigen Patienten auf Itemebene nachgegangen werden. Etwa 86 % der Kinder und Jugendlichen hielten es wenigstens teilweise für wichtig, über Gespräche, bei denen sie selbst nicht anwesend sind, informiert zu werden, wobei das Informationsbedürfnis mit dem Alter anstieg (F = 7,414; p = .007) und bei Patienten der Weißenau stärker ausgeprägt war (F = 7,608; p = .006). Und auch der Wunsch, über alles informiert zu werden, selbst dann, wenn Eltern entscheiden können, wurde von 93 % der Kinder und Jugendlichen geäußert. Die Ergebnisse der Varianzanalyse bestätigen erneut ein größeres Informationsbedürfnis bei den Jugendlichen (F = 6,415; p = .012). Bei der Gruppe der expansiv gestörten Kinder und Jugendlichen fanden wir darüber hinaus einen Ost-West-Effekt (Interaktion Störung × regionale Zugehörigkeit F 4,440; p = .036). Demzufolge war das Informationsbedürfnis bei Patienten mit expansiven Störungen in der Weißenau am größten, bei Patienten mit expansiven Störungen in Rostock am geringsten. Zusammenfassend deuten diese Ergebnisse auf ein großes »passives« Informationsbedürfnis hin. Aktiv geäußert wurden konkrete Informationswünsche jedoch demgegenüber von nur 56 % der Patienten. Die Bedürfnisse bezogen sich an erster Stelle ganz allgemein auf den Tagesablauf in der Psychiatrie: »wie es hier ist«, »was hier abläuft«, »wie der Tagesablauf ist« (34,9 %). Allgemeine Aufklärung über die Ein-
166
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du gekommen bist? N = 286 sehr viel
teils/teils
14 Jahre
Rostock
Weissenau
expansiv
introversiv
gar nichts Alter
Region
Art der Störung
Abbildung 9: Selbstbeurteiltes Informationsbedürfnis vor der Aufnahme in Abhängigkeit von Alter, regionaler Zugehörigkeit und Art der Störung
richtung Psychiatrie (»ob das wie ein Krankenhaus ist«, »ob es Zwangsjacken und Gummizellen gibt«, »wie es aussieht«), wurde von 11,4 % der Kinder und Jugendlichen gewünscht. Spezifischere Informationen, beispielsweise zu den Freizeitmöglichkeiten (»ob man Freizeit hat«, »ob ich was zum Spielen mitbringen kann«) forderten 10,2 %, zur Beschulung (»ob man in die Schule geht«) weitere 10,8 %. Als ein wirksames Mittel zur Minderung der Angst im Vorfeld der Aufnahme sind Informationen über die mögliche Aufenthaltsdauer (»ob man überhaupt wieder nach Hause darf«) zu betrachten, die von 25,9 % der Patienten gewünscht wurden, sowie Informationen über Mitpatienten (»ob andere Kinder da sind«, »was für Kinder da sind« – 15,1 %). Konkrete Fragen dazu, »was in den Therapien gemacht wird« oder »ob man Medikamente nehmen muss« spielten für 9 % der Kinder und Jugendlichen eine Rolle. Das Ausmaß der Informationsbedürfnisse vor der Aufnahme wurde vom Alter der Patienten, von der Art ihrer Störung und der regionalen Zugehörigkeit signifikant beeinflusst. Demnach wollten die Patienten der Weißenau mehr wissen als die Rostocker (F = 7,717; p = .006), die unter 14-jährigen mehr als die über 14-jährigen (F = 5,943; p = .015) und die introversiv gestörten mehr als die expansiv gestörten Kinder und Jugendlichen (F = 8,351; p = .004). Wie Abbildung 9 zeigt, war das aktiv geäußerte Informationsbedürfnis durchschnittlich jedoch eher gering.
Deskriptive Ergebnisse
167
9.3.1.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf das Informationsbedürfnis Zur Beantwortung der Frage, inwieweit soziodemografische Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, gegenwärtige Erwerbstätigkeit), Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie intellektueller Status des Kindes Einfluss auf das subjektive Erleben der Aufnahme haben, wurden jeweils einfaktorielle Varianzanalysen für die abhängige Variable Informationsbedürfnis (»Wolltest du selbst etwas wissen, als du in die Klinik gekommen bist?«). Aufgrund der hohen Anzahl fehlender Angaben über sowohl Tätigkeit als auch Schulabschluss des Vaters, haben wir uns auf diesbezügliche Angaben der Mütter beschränkt. Die Schichtzugehörigkeit basierte demgegenüber auf der Einschätzung des jeweils sozial höher gestellten Elternteils. Der intellektuelle Status des Kindes wurde anhand des Ergebnisses im Intelligenztest operationalisiert. Für die abhängige Variable »Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du in die Klinik gekommen bist?« ergab die einfaktorielle Varianzanalyse mit der unabhängigen Variablen Erwerbstätigkeit der Mutter einen signifikanten Haupteffekt (F = 3,536; p = .031). Scheffé-Tests ergaben Unterschiede zwischen Kindern erwerbstätiger und nicht erwerbstätiger Mütter (nicht aber bezogen auf arbeitslose Mütter), wobei letztere ein signifikant höheres Informationsbedürfnis äußerten. Die einfaktorielle Varianzanalyse, in die intellektuelle Leistungsfähigkeit als abhängige Variable einging, wurde ebenso signifikant (F = 2,857; p = .059), nachträgliche Scheffé-Tests erbrachten jedoch keine signifikanten Ergebnisse. Deskriptiv war das Informationsbedürfnis bei Patienten mit überdurchschnittlicher Intelligenz am niedrigsten. Vorerfahrung als unabhängige Variable zeigte in Bezug auf das geäußerte Informationsbedürfnis einen marginal signifikanten Effekt (F = 3,066, p = .081), wobei Probanden, die das erste Mal mit einer psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung in Kontakt kamen tendenziell mehr wissen wollten, als Kinder und Jugendliche mit einschlägigen Vorerfahrungen. Tabelle 38: Effekte einzelner unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable »Wolltest du selbst etwas wissen, bevor du in die Klinik gekommen bist?« Unabhängige Variable
F
p
Stationäre/ambulante Vorerfahrung
3,066
.081
IQ
2,857
.059
Erwerbstätigkeit der Mutter
3,536
.031
Schichtzugehörigkeit der Mutter
1,586
.207
Schulbildung der Mutter
0,052
.949
168
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
9.3.1.5 Informationspraxis während der stationären Behandlung Eine Aufklärung über die Ziele der Behandlung war nicht die Regel, wie unsere Ergebnisse zeigen. Etwa 32 % aller Kinder und Jugendlichen konnten vier Wochen nach Behandlungsbeginn eher wenig oder gar keine Auskunft über die Ziele ihrer Behandlung geben. Der Vergleich kindlicher und jugendlicher Patienten weist zusätzlich auf eine Benachteiligung der unter 14-jährigen Patienten hin, in dieser Gruppe fühlten sich immerhin 44 % eher nicht oder überhaupt nicht in die Kommunikation einbezogen (F = 8,674; p = .004). Die Aufklärung über den Zweck und die Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen oder psychologischer Tests muss im Rahmen unserer Untersuchung insgesamt als wenig zufrieden stellend bezeichnet werden. 62 % der Patienten fühlten sich über ärztliche Maßnahmen informiert (48 % der 7- bis 10-jährigen, 77 % der 16- bis 17-jährigen (n. s.)), eine Aufklärung über die Ergebnisse dieser Untersuchungen bestätigten insgesamt nur etwa 45 %. In der Gruppe der jüngsten Patienten (7–10 Jahre) fühlten sich sogar nur 25 % über die Resultate ärztlicher Untersuchungen aufgeklärt. Ähnlich schlecht wurde die Informationspraxis der Psychologen beurteilt, wobei sich hier zusätzlich Alterseffekte zu Lasten der jüngeren Patienten zeigen. 51 % der Minderjährigen bestätigten eine Mitteilung über das Ziel psychologischer Tests, wobei diese den Angaben zufolge bei Jugendlichen häufiger erfolgte als bei Kindern (bei 40 % der Kinder, bei 64 % der Jugendlichen, χ² = 5,890; p = .015). Tendenziell signifikant weniger informiert fühlten sich Kinder auch bezüglich der Ergebnisse der Tests (χ² = 3,408; p = .065), die insgesamt bei nur 43 % der Patienten erfolgte. Diese wenig an die Patienten gerichtete Informationspraxis spiegelt sich auch darin wider, dass etwa die Hälfte der Patienten der Meinung war, dass die Ärzte ausschließlich mit anderen Personen (vor allem den Eltern) besprechen, wie es mit ihnen weitergeht. Von den unter 14-jährigen nannten 60 %, von den Jugendlichen immerhin noch 34 % andere Personen als Hauptansprechpartner der Ärzte (χ² = 7,726; p = .005). Dementsprechend hatten 55 % der Kinder und 28 % der Jugendlichen das Gefühl, ihre Eltern seien besser informiert als sie selbst (F = 7,158; p = .009). Unabhängig vom Alter fanden etwa 74 % der Patienten, die eine nur an andere Personen gerichtete Informationspraxis angaben, dies ». . . gut, weil ich ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern habe, wir reden darüber« bzw. »eigentlich ganz in Ordnung.« Weniger zufrieden damit äußerten sich andere Patienten: »Kinder sollten dabei sein, sie müssen wissen, was die reden«, »Eigentlich bin ich ein bisschen neugierig, ich finde das ein bisschen doof.« Darüber hinaus meinten 8 % der Patienten (3,4 % Kinder – 13,2 % Jugendliche), die Ärzte würden überwiegend mit ihnen alleine über ihre Zukunft reden
Deskriptive Ergebnisse
169
Bist du insgesamt zufrieden mit dem, was du über die Psychiatrie, dein Problem und die Behandlung weißt? überhaupt nicht
14 Jahre
teils teils
ja sehr introversiv
expansiv
Abbildung 10: Selbstbeurteilte Zufriedenheit mit dem Wissen vier Wochen nach Behandlungsbeginn
und 41 % (33 % Kinder – 51 % Jugendliche; χ² = 3,774; p = .052) fühlten sich in die Gespräche einbezogen. Auch vier Wochen nach Behandlungsbeginn äußerten sich trotz der offensichtlichen Mängel in Bezug auf die Informationspraxis knapp 70 % der Rostocker Patienten zufrieden mit ihrem Wissen über die Psychiatrie. Deutliche Unterschiede zeigten sich jedoch zwischen den Geschlechtern (F = 4,826; p = .030): etwa 57 % der Mädchen und etwa 77 % der Jungen waren eigenen Angaben zufolge ausreichend informiert. Die sich darüber hinaus ergebende signifikante Interaktion zwischen der Altersgruppe und der Art der Störung (F = 4,595; p = .035) bringt zum Ausdruck, dass Jugendliche mit introversiven Störungen mit ihren Kenntnissen unzufriedener waren als Kinder, während sich beide Altersgruppen innerhalb der Gruppe der expansiven Störungen eher ähnelten.
9.3.1.6 Informationsbedürfnisse 4 Wochen nach Behandlungsbeginn Auch für den zweiten Messzeitpunkt ließ sich die a priori vorgenommene Trennung von Informations- und Partizipationsbedürfnissen wie bereits beschrieben nicht bestätigen. Auf Itemebene zeigt sich auch vier Wochen nach Behandlungsbeginn ein großes generelles passives Informationsbedürfnis: insgesamt 90 % der Patienten bejahten die Frage: »Sollten Kinder und Jugendliche über ihr Problem und die Behandlung informiert werden?«. Die signifikante Interaktion Alter × Störungsgruppe (F = 4,751; p = .032) weist darauf hin, dass die Forderung nach Aufklärung bei den
170
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
expansiven Jugendlichen besonders stark ausgeprägt war, dagegen bei den expansiven Kindern am geringsten. Bei Patienten mit introversiven Störungen ließen sich demgegenüber keine Alterseffekte nachweisen. Begründet wurde dieser Wunsch nach Information folgendermaßen: »damit man Bescheid weiß und die Eltern nicht vergessen, etwas zu erzählen«, »es geht um sie, um ihr Problem, die Kinder sollen auch an ihrem Problem arbeiten. Sie müssen wissen, in welche Richtung, welche Anforderungen gestellt werden«, »es wäre nicht schlecht, wenn man anderen ein Fremdwort an den Kopf knallen kann, wenn die einen fragen. Damit die wissen, man spinnt nicht, sondern ist krank«, »damit sie auch richtig wissen, was sie haben, damit sie selber sagen können, ob sie das machen wollen oder nicht«, »eine Behandlung, wo der Patient nicht einverstanden ist, nützt nichts«, ». . . auch um die Angst zu verkleinern«. In anderen Fällen verwiesen die Patienten auch explizit auf ein Recht auf Information. Die Aufklärung über die Ziele der eigenen Behandlung hielt der Großteil der befragten Patienten (74 %) für wichtig bis sehr wichtig, wobei die Bedeutung der Informationsvermittlung mit dem Alter zunahm (F = 4,143; p = .045). Auch die Wichtigkeit der Aufklärung über Gespräche, die ohne Patientenanwesenheit stattfinden, stieg mit dem Alter (F = 13,217; p = .000). Während es für 43 % der 7- bis 10-jährigen sehr wichtig war, waren es fast 85 % der 16- bis 17jährigen, die diese Frage eindeutig bejahten. Wichtig war es nach Angaben der Kinder und Jugendlichen vor allem aus dem Grund, dass es um ihr Leben geht, »weil das meine Behandlung ist«, »weil ich wissen will, wie es weitergeht, wie lange ich hier bleibe und was als nächstes kommt«, »vielleicht wird da was beschlossen und ich weiß nichts davon«, »wenn etwas erzählt wird, was nicht stimmt, dass ich was sagen kann, das berichtigen kann«. Eine aktive Einforderung von Informationen war unseren Ergebnissen zufolge jedoch eher die Ausnahme.Lediglich 19 % der Patienten wollten explizit mehr wissen (»Willst du mehr wissen?«), am häufigsten gewünscht wurden Informationen über die Behandlung (»was die Therapie eigentlich soll?«, »was sie bei meiner Untersuchung raus finden, ob ich sehr krank bin, ob ich strohdoof bin« – 52,4 %), über den Zeitpunkt der Entlassung (14,3 %) und über die eigene Erkrankung (»mehr über mich selbst, was die Ärzte denken, was bei mir im Kopf los ist« – 9,5 %). Vorbereitung auf den stationären Aufenthalt – 60 % der minderjährigen Patienten (68 % der kindlichen 55 % der jugendlichen Patienten) verneinten die Aufklärung durch einweisende Ärzte im Vorfeld der Behandlung. Patienten der oberen Schicht fühlten sich schlechter vorbereitet als Patienten der mittleren und unteren Schicht. – Eine Vorbereitung auf Psychiatrie und Behandlung durch die Eltern erlebten 47 % der Patienten (65 % der Kinder > 54 % der Jugendlichen). – Unkenntnis über die Aufenthaltsdauer bestand bei 40 % der Patienten.
Deskriptive Ergebnisse
171
Informationspraxis zum Aufnahmezeitpunkt – 73 % der Kinder und Jugendlichen bejahten Informationen über Stationsregeln, – 50 % äußerten, dass Gespräche über die Störung stattgefunden hätten (Weißenau > Rostock) und – 34 % erlebten eine Aufklärung über die bevorstehende Behandlung (Weißenau > Rostock). – Mängel hinsichtlich der Verständlichkeit, der durch Ärzte und Therapeuten an sie gerichteten Informationen wurden von 29 % (37 % der Kinder > 22 % der Jugendlichen) geäußert, kritisiert wurde insbesondere die Verwendung medizinischer Fachsprache. – Nur die Hälfte der Patienten fühlte sich durch das Behandlungsteam explizit dazu aufgefordert, Fragen zu stellen. Informationsbedürfnisse zum Aufnahmezeitpunkt – Ca. 90 % der Patienten bejahten eigene allgemeine Informationsbedürf-
nisse, wobei Jugendliche der Aufklärung einen höheren Stellenwert einräumten als Kinder. – Konkrete Informationswünsche wurden demgegenüber von nur etwa der Hälfte der Probanden aktiv geäußert (Jugendliche > Kinder; Weißenau > Rostock; nicht erwerbstätige Mutter > erwerbstätige Mutter; überdurchschnittlicher IQ < durchschnittlich, unterdurchschnittlich; Vorerfahrung < keine Vorerfahrung) und bezogen sich in erster Linie auf den Tagesablauf in der Psychiatrie, die Aufenthaltsdauer, Informationen über Mitpatienten und die Freizeitgestaltung. Informationspraxis während der Behandlung – 4 Wochen nach Behandlungsbeginn verneinten 32 % der Patienten (44 %
der Kinder > und Jugendlichen) die Teilnahme an Gesprächen über Behandlungsziele. – Für 60 % der Kinder und 34 % der Jugendlichen stellten andere Personen, insbesondere Eltern, die Hauptansprechpartner für Ärzte und Therapeuten dar. Nur 33 % der Kinder und die Hälfte der Jugendlichen fühlten sich in die Gespräche über ihre weitere Zukunft einbezogen. – 60 % der Patienten fühlten sich über den Zweck der erfolgten medizinischen Untersuchungen aufgeklärt, Informationen über Untersuchungsergebnisse bejahten 45 % (25 % der Kinder!). Über das Ziel psychologischer Diagnostik fühlten sich 40 % der Kinder und 64 % der Jugendlichen informiert. 43 % der Patienten bejahten Kenntnisse bezogen auf die Testergebnisse.
172
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
– Die Hälfte der Patienten, die Medikamente verordnet bekamen, fühlte sich
über Nebenwirkungen und Langzeiteffekte aufgeklärt Informationsbedürfnisse während der Behandlung – Informationsbedürfnisse bestanden wiederum bei einem Großteil der Pa-
tienten und nahmen mit dem Alter zu: 90 % der Patienten wünschten sich Informationen über Störung und Behandlung, 74 % maßen einer Aufklärung über Behandlungsziele eine hohe Bedeutung bei. – Ein aktives Einfordern von konkreten Informationen war demgegenüber deutlich seltener – explizit mehr wissen wollten nur 20 % der Kinder und Jugendlichen.
9.3.2 Kenntnisse zu Beginn der Behandlung Kinder und Jugendliche, die von einer psychischen Krankheit betroffen und mit einem stationären Aufenthalt konfrontiert sind, entwickeln individuelle Vorstellungen und Erwartungen über den bevorstehenden Aufenthalt, die Behandlung sowie die eigene Erkrankung. Über den Inhalt dieser subjektiven Konzepte und deren alters- und entwicklungstypischen Verlauf ist bezogen auf den Behandlungskontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie bisher kaum etwas bekannt. Zielsetzung unserer Befragung war es, erste deskriptive Erkenntnisse über psychiatriespezifisches Wissen, Vorstellungen und Erwartungen minderjähriger Patienten unterschiedlicher Altersgruppen zu gewinnen. Die hier zusammengefassten Ergebnisse basieren auf halbstrukturierten Explorationen, die zu Behandlungsbeginn durchgeführt wurden und sich auf vorgegebene Fragen konzentrieren. Erfragt wurden die Informiertheit über die Einrichtung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, individuelle Vorstellungen hinsichtlich der Behandlung, Kenntnisse über die verschiedenen Berufsgruppen, die innerhalb der Psychiatrie von Relevanz sind sowie Wissen über die eigene Erkrankung und kinderpsychiatrische Krankheitsbilder allgemein. Die transkribierten Antworten wurden inhaltlich geordnet und gemäß einer deskriptiven Typenbildung zu Kategorien zusammengefasst. Die Beurteilung der Richtigkeit und Vollständigkeit der von den Probanden erhaltenen Antworten auf Kenntnisfragen fand zum Teil basierend auf den Definitionen im Psychologischen Wörterbuch (Dorsch) statt, weshalb von einer ausreichend hohen Auswertungsobjektivität auszugehen ist. Um altersspezifische Aussagen über den Informationsstand zu erhalten, wurde die Stichprobe für diesen Analysenschritt in 4 Altersgruppen unterteilt (7–10 Jahre, 11–13 Jahre, 14–15 Jahre und 16–17 Jahre).
Deskriptive Ergebnisse
173
9.3.2.1 Informationen über die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wie würdest du einem Freund erklären, was eine Kinder- und Jugendpsychiatrie ist? »Ein Seelendoktor, ein Krankenhaus für Seelenkranke oder für welche, die psychisch nicht ganz auf dem Laufenden sind« »Wo Kinder hin müssen, die lernen müssen, was sie für eine Krankheit haben.«
Wie Tabelle 39 verdeutlicht, konnten jeweils knapp ein Viertel der Probanden im Alter von 7–10 bzw. 11–13 Jahren nicht beantworten, was eine Psychiatrie2 ist. Weitere 20 % der 7- bis 10-jährigen beschreiben Abläufe, die sie unmittelbar im Stationsalltag erlebten, die jedoch keine im weitesten Sinne medizinischen Beschreibungen enthielten, – Bspl: »Man kann spielen, Mittags am Tisch Mittagessen, Teller und Tassen selbst wegräumen, man kann auf sein Zimmer gehen oder mit den anderen spielen«. Darüber hinaus nannten 33 % der 7- bis 10-jährigen Definitionen, in denen der Unterschied zwischen Psychiatrie und einem klassisch pädiatrischen Krankenhaus nicht deutlich wurde – Bspl.: »Man nimmt da Blut ab . . .«, »Da wird man untersucht . . .« »Ein Gebäude, in dem man Hilfe bekommt«. Stereotype Krankenhausvorstellungen wurden aber auch noch in den höheren Altersgruppen mit jeweils 16 bzw. 20 % geäußert. Eine zumindest grobe Abgrenzung der Psychiatrie von einer somatischen Klinik, indem die Psychiatrie als ein Ort definiert wurde, in dem Probleme gelöst werden, konnte von jeweils 20 %–30 % der Probanden aller Altersgruppen getroffen werden – Bspl.: »Da kommen Kinder hin, die Probleme haben, die sie da besprechen können.« Vollständig adäquate Antworten, in denen zur Sprache kam, dass die Funktion der Psychiatrie darin besteht, psychisch Kranke zu heilen, waren in der jüngsten Probandengruppe verschwindend gering, nahmen mit dem Alter kontinuierlich zu, lagen bei den 16- bis 17-jährigen aber auch nur bei knapp 50 % – Bspl.: »Es gibt Tabelle 39: Altersspezifische Kenntnisse über die Kinder- und Jugendpsychiatrie Alter (Jahre) Kategorien
7–10 (N = 38) %
11–13 (N = 90) %
Weiß nicht
23,1
22,2
Konkrete nichtmedizinische Tagesabläufe
20,5
8,9
5,3
7,5
0
8,9
13,2
3,2
Klapse
8
16
16–17 (N = 93) % 3,2
Stereotype Krankenhausvorstellungen
33,3
Ort zur Lösung von Problemen
17,9
23,3
27,6
24,7
2,6
16,7
28,9
45,2
Krankenhaus zur Behandlung psychisch Kranker
20
14–15 (N = 75) %
16,1
χ² = 63,90; p = .000; keine Angaben = 2
2
Kindern, die den Begriff Psychiatrie nicht kannten, wurde erklärt, dass man das Gebäude, in das sie gebracht wurden, Psychiatrie nennt.
174
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Unterschiede: es gibt kranke Menschen und psychisch oder seelisch kranke – die sind dann hier«. Definitionen, in denen der Psychiatrie abwertend als Klapse bezeichnet wurde, waren insgesamt mit 7 % überraschend selten. Bei Kindern unter 11 Jahren traten derartige Äußerungen in keinem Fall auf, am ehesten waren sie bei den Altersgruppen der 11–13 und 14–15 Jahre vorzufinden, Bspl.: »Klapse – Zeit absitzen«, »Da kommen Leute rein, die einen Dachschaden haben«, »Anstalt für Psychopathen«, »Da kommen Verrückte hin, da kommt man wegen jedem kleinen bisschen hin, das soll einen eigentlich helfen«.
9.3.2.2 Informationen über die Behandlung Was glaubst du wird bei deiner Behandlung passieren? »Weiß nicht, sie werden mein Gewissen verbessern würde ich sagen« »Ich versuche lieb zu sein, dann darf ich wieder nach Hause« »Dass man die Probleme mit viel Freizeit wegbringen will«
Anhand der Antworten auf die Frage nach individuellen Behandlungsvorstellungen wurden sowohl sehr signifikante Alterseffekte (χ² = 44,504; p = .000) als auch erhebliche Wissensdefizite deutlich. Alarmierend war insbesondere die Anzahl der Probanden, die bekundeten nicht zu wissen, was während der Behandlung auf sie zukommen wird. Dies waren fast die Hälfte der 7- bis 10-jährigen, knapp 40 % der 11- bis 13-jährigen und immerhin noch 20 % der 16- bis 17-jährigen. Insgesamt 10 (3,5 %) Probanden meinten, dass während der Behandlung »nichts« bzw. »gar nichts die Ärzte machen sich einen Fetten« passieren würde. Darüber hinaus bestanden bei zahlreichen Kindern und Jugendlichen unzutreffende Behandlungvorstellungen. So wurde eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung von 30 % der 7- bis 10-jährigen mit Freizeitund Schulkonzepten beschrieben, – Bspl.: »Wird lustig hier sein, machen viele Spiele, gehen Schwimmen«, »ich werde Tischtennis, Fußball, Billard usw. hier spielen«, »Schulbesuch, sonst keine Vorstellung«. Den Erklärungen von ca. jeweils einem Viertel der Patienten in den Altersgruppen 11–17 Jahre mangelte es an differenzierten Vorstellungen über Behandlung. In diese Kategorie fielen einerseits Antworten, in denen stereotype medizinische Behandlungsvorstellungen abgegeben wurden – Bspl.: »Ultraschall, in Rücken gepiekt, jeden Dienstag Blut abnehmen«, »Viele Untersuchungen, Spritzen«. Wobei diese stereotypen Vorstellungen insbesondere bei den 11- bis 13- und 14- bis 15-jährigen anzutreffen waren. Andererseits haben wir in diese Kategorie Antworten eingeordnet, die Behandlung ganz allgemein mit – Hilfe erhalten – (»ich werde Hilfe bekommen, keine Ahnung wie«) bzw. – dass man sich ändert – umschrieben (»Ich hoffe, dass es mir hinterher besser geht«, »es wird sich alles verändern«), wobei diese Aussagen hauptsächlich von den 16- bis 17-jährigen stammen. Adä-
Deskriptive Ergebnisse
175
Tabelle 40: Altersspezifische Kenntnisse über die Behandlung Alter (Jahre) Kategorien
7–10 (N = 37) %
11–13 (N = 90) %
14–15 (N = 72) %
16–17 (N = 87) %
Weiß nicht
45,9
37,8
31,9
21,8
5,4
2,2
1,4
5,7
6,9
Nichts Freizeit & Schule
27
12,2
Undifferenzierte Vorstellungen (som. Behandlung/Hilfe)
10,8
26,7
25
23
2,3
Adäquate Vorstellungen
10,8
21,1
34,7
47,1
Keine Angaben = 2, Sonstige = 10
quate Vorstellungen im Sinne von Behandlung insbesondere über das Medium Sprache, aber auch mittels anderer Ausdrucksformen z. B. Kreativtherapie (z. B. Musiktherapie, Ergotherapie, Kunsttherapie) (»Tests, Gesprächsrunden, Rollenspiele, Redeproben«) sowie adäquate Angaben über die individuellen Behandlungsziele (»gesunde Essverhalten wieder erlernen, besser mit der Essstörung umgehen lernen«, »dass die Schulleistungen besser werden und ich lernen, mich korrekt zu verhalten gegenüber Freunden«) nahmen mit fortschreitendem Alter kontinuierlich zu, lagen aber auch noch bei 16- bis 17-jährigen Jugendlichen bei knapp unter 50 %. In der jüngsten Altersgruppen waren zutreffende Behandlungskenntnisse jedoch nur in 10 % der Fälle anzutreffen.
9.3.2.3 Kenntnisse über den Aufnahmegrund Weißt Du selbst, warum du aufgenommen wurdest? »Weil ich nervig bin, ich gehe meinen Eltern auf den Geist«
Bei der Beantwortung der Frage, nach der eigenen Diagnose ergaben sich keine signifikanten Alterseffekte. D. h. unabhängig vom Alter konnten ca. 60–70 % alle Patienten die eigene Diagnose3 nennen oder auf der Symptomebene beschreiben – Bspl.: »Wegen der Schule, weil ich unruhig und rücksichtslos war« (F 91), »Weil wir zu Hause Probleme haben, ich höre nicht, ich gehe nicht zur Schule« (F91.2), »Wegen meines Essverhaltens, Untergewicht« (F50). Hinsichtlich des vergleichsweise hohen Prozentsatzes der 7- bis 10-jährigen, die in die Kategorien »Diagnose« bzw. »Beschreibung auf der Symptomebene« fielen, ist jedoch einschränkend anzumerken, dass diese überwiegend LRS bzw. Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben als Antwort nannten und die eigentliche Erstdiagnose (meist Störung des Sozialverhaltens) außen vor ließen. Keine speziellen Krankheitssymptome 3
Die Angaben der Kinder wurden mit der Entlassungsdiagnose in der Bado verglichen
176
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 41: Altersspezifische Kenntnisse über den Aufnahmegrund Alter (Jahre)
7–10 (N = 35) %
Kategorien Weiß nicht
11–13 (N = 86) %
14–15 (N = 69) %
16–17 (N = 89) %
5,7
2,3
8,7
3,4
Probleme allgemein
17,1
31,4
33,3
28,1
Beschreibungen auf Symptomebene
54,3
54,7
49,3
44,9
Diagnose
22,9
11,6
8,7
23,6
Keine Alterseffekte! 19 Antworten nicht einordenbar: will nicht sagen (3), keine Angaben (3), mir egal (2), hab nix (7), falsch (4)
nennen, sondern lediglich sehr allgemeine Problembeschreibungen liefern, konnten ca. jeweils 30 % der Patienten der Altersgruppen 11–17 Jahre bzw. 20 % der jüngsten Altersgruppe – Bspl.: »Wegen Konflikten mit meinem Bruder«, »Es soll besser werden in der Schule«. Nur 13 Kinder gaben an, nicht zu wissen, warum sie stationär aufgenommen wurden, ebenso wie nur 7 Patienten angaben, »eigentlich wegen gar nichts« in der Psychiatrie zu sein. Inwieweit die von uns befragten Kinder und Jugendlichen glaubten, krank zu sein, zeigt Tabelle 42. Bei der Frage: »Glaubst du, dass du krank bist?« ergaben sich sehr signifikante Alterseffekte (χ² = 21,72; p = .001), über die Hälfte der 16bis 17-jährigen nahmen den eigenen Aufnahmegrund als eine Krankheit wahr, während signifikant weniger, nämlich nur jeweils 30 % der Kinder und Jugendlichen unter 16 Jahren, sich für krank hielten. Einflüsse darauf, ob die eigene Störung als krankheitswertig betrachtet wurde, hatte darüber hinaus auch die Diagnose. So lag der Prozentsatz der Patienten, die sich als krank bezeichneten, bei den Essstörung (F50) mit über 80 % sowie bei depressiven Störungen (F30) mit 70 % am höchsten (siehe Abb.), während Kinder und Jugendliche mit einer emotionalen Bindungsstörung (F93–98) sowie mit Störungen des Sozialverhaltens nur zu ca. 20 % glaubten, krank zu sein. Weiterhin interessierte uns, wie diejenigen Patienten, die die Frage nach dem Kranksein verneinten, ihren Zustand bezeichnen würden. Deutlich wurde, dass 76,8 % der Patienten, die glaubten nicht krank zu sein, anstelle des Begriffs Tabelle 42: Antworten auf die Frage: »Glaubst du, dass du krank bist?« Alter (Jahre) Kategorien
7–10 (N = 37) %
11–13 (N = 90) %
14–15 (N = 73) %
16–17 (N = 89) %
Ja
27
26,7
34,2
55,1
Nein
64,9
70
64,4
42,7
1,4
2,2
Weiß nicht Teils teils χ² = 21,72; p = .001
8,1
3,3
Deskriptive Ergebnisse
177
Krankheit den Begriff Problem bzw. Störung zur Beschreibung ihres gegenwärtigen Zustands wählen würden, Bspl.: »Ich habe zwar ein Problem damit, aber ich bin noch nicht krank deswegen«, »Dass ich ein Problem habe«, »Nicht direkt als krank, das ist zu krass, eben als Störung«, »vielleicht etwas unnormal, aber nicht krank«, »ich bin nicht krank, ich bin nur ein bisschen anders« oder »etwas ganz komisches – Krankheit ist organisch«, »körperlich eigentlich gesund, psychisch labil.« »ist nur ein Problem, keine Krankheit wie z. B. Krebs«. Dies waren insbesondere ca. die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhalten (F90–92), neurotischen Störungen (F40) sowie emotionalen (F93–98). 23,2 % (N = 39) der Patienten, die sich nicht für krank hielten, meinten jedoch »vollkommen gesund« zu sein oder bezeichneten ihren Zustand als »sehr gut«, bzw. »normal, habe kein Problem«, äußerten also mit diesen Antworten ein mangelndes Problembewusstsein. Bei der Gruppe der Essgestörte Patientinnen sowie bei Patienten mit depressiven Störungen trat ein Mangel an Störungsbewusstsein in keinem Fall auf. In Bezug auf den eigenen Hilfewunsch zu Beginn der Therapie zeigten sich signifikante Haupteffekte für regionale Zugehörigkeit (F = 5,24; p = .023), Störungstyp (F = 5,02; p = .026) und Alter (< 14Jahre vs. ≥ 14 Jahre) (F = 3,63; p = .058). Inhaltlich bringen diese Effekte zum Ausdruck, dass der Hilfewunsch bei Jugendlichen größer war als bei Kindern. So gaben 20 % der unter 14jährigen an, gar keine Hilfe zu benötigen gegenüber 6 % der jugendlichen Probanden. Weiterhin äußerten Patienten mit introversiven Störungen einen signifikant höheren Wunsch nach Hilfe als Probanden mit expansiven Störungen, gar keine Hilfe wollten 20 % der Patienten mit expansiven Störungen im Vergleich zu 6 % der introversiv gestörten Kinder und Jugendlichen. Und schließlich war der Hilfewunsch bei Patienten in der Weißenau größer als in Rostock (Rostock: 16 % gar keine –, 12 % sehr viel Hilfe vs. Weißenau: 8 % gar keine –, 24 % sehr viel Hilfe).
9.3.2.4 Wissen über kinderpsychiatrische Krankheitsbilder Welcher Kinder kommen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie? ». . . die Kinder haben Sachen angestellt und sind krank im Kopf«
Wie Tabelle 43 veranschaulicht, blieb die Frage nach den Gründen, weshalb andere Patienten in der Psychiatrie seien, nur bei 14 % der 7- bis 10-jährigen und bei jeweils weniger als 10 % der übrigen Altersgruppen unbeantwortet. Ebenso gingen nur wenige Kinder und Jugendliche unzutreffend davon aus, dass in der Psychiatrie körperlich kranke Kinder behandelt würden – Bspl.: »Die operiert werden müssen«, ». . . Nase gebrochen haben«, »Solche mit Erblindungen«. Ca. jeweils 30 % der Antworten der 7- bis 15-jährigen beschränkten sich auf eine
178
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 43: Altersspezifische Kenntnisse über kinderpsychiatrische Krankheitsbilder Alter (Jahre) Kategorien
7–10 (N = 37) %
Weiß nicht
13,7
8,2
1,3
4,5
5,4
5,9
3,9
3,4
Probleme allgemein
29,7
32,9
31,6
10,1
Beschreibung von Symptomen
29,7
32,9
25
32,6
Nennung von Diagnosen
21,6
20
38,2
49,4
Physische Erkrankungen
11–13 (N = 85) %
14–15 (N = 76) %
(N = 89) %
χ² = 33,95; p = .001
unspezifische Schilderung von Problemen allgemein, Bspl.: »Wo die Eltern die Kinder nicht mehr unter Kontrolle haben«, »Leute, die Probleme mit sich selbst haben«, »Wenn die mit anderen Kindern nicht klar kommen«, »Die Probleme mit der Schule haben«. Spezifische kinder- und jugendpsychiatrische Symptome wurden unabhängig vom Alter von ca. 30 % aller Kinder und Jugendlichen benannt, wobei sich hinsichtlich der jeweils genannten klinischen Merkmale deutliche Altersunterschiede abzeichneten. Während Kinder unter 14 Jahren häufiger expansive Symptome (»Kinder mit Ausrastern«) sowie Lernschwierigkeiten bzw. schlechte Leistungen in der Schule beschrieben, nannten ältere Kinder ein weitaus breiteres Spektrum an möglichen Symptomen – Bspl.: »Selbstverletzungsverhalten«, »Die Probleme haben mit Drogen, phantasieren«, »Kinder, die abnehmen müssen«, »die, die nicht mehr ordentlich schlafen können«. Eine korrekte Nennung kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnosen dominierte in der Altersgruppe der 16- bis 17-jährigen, wobei am häufigsten Essstörungen (Bulimie, Anorexie), Drogenabhängigkeit, und Psychosen genannt wurden. Hinsichtlich der 20 % der 7- bis 10-jährigen, die über Diagnosekenntnisse verfügten, muss einschränkend festgestellt werden, dass hier LRS als Antwortvariante überwog. Insgesamt nur 5-mal fiel die Antwort, die Kinder seien in der Psychiatrie weil sie frech oder böse seien, ebenso wie kinder- und jugendpsychiatrische Patienten nur 9-mal als behindert beschrieben wurden. 9.3.2.5 Berufsgruppen in der Psychiatrie Bei der Auswertung der Frage, wer in der Psychiatrie arbeite, war von Interesse, welche Personengruppen von den Kindern und Jugendlichen genannt wurden. Keine Personenangaben machen konnten 8 Kinder der Altersgruppe 7–10 (20,5 %) sowie 5 Probanden im Alter von 11–13 Jahren (5,6 %), während weiß nicht Antworten bei den über 13jährigen lediglich ein mal vorkamen. Durchschnittlich nannten die 7- bis 10-jährigen eine Person, gegenüber durchschnittlich jeweils 2 Angaben in den restlichen Altersgruppen. Die Berufsgruppen, die in allen Alters-
Deskriptive Ergebnisse
179
Tabelle 44: Wer arbeitet in einer KJPP? (Mehrfachantworten) Alter (Jahre) Personengruppen
7–10 (N = 39) %
11–13 (N = 90) %
14–15 (N = 76) %
16–17 (N = 93) %
Arzt
51,3
71,1
77,6
81,7
Psychiater
2,6
11,1
11,8
20,4
Schwester
53,8
73,3
77,6
83,9
Psychologe
28,2
44,4
68,4
66,7
Sozialarbeiter
0
0
3,9
7,5
Lehrer
5,1
8,9
5,3
2,2
Putzfrau
0
7,8
9,2
10,8
Koch
0
0
2,6
2
Sekretärin
0
1,6
2,6
0
20,5
5,6
1,3
0
Keine Nennungen
Einrichtung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie – Bei ¼ der Kinder im Alter von 7–13 Jahren bestehen Wissenslücken in Bezug auf die Einrichtung einer KJPP. – weitere 33 % der 7- bis 10-jährigen aber auch ca. 20 % der 11- bis 17-jährigen äußern klassisch pädiatrische Krankenhauskonzepte. – Adäquate Erklärungen nehmen mit dem Alter kontinuierlich zu (3 % 7bis 10-jährige, 50 % 16- bis 17-jährige). – Abwertende Aussagen über die Psychiatrie z. B. »Klapse« sind mit 7 % gering. Aufnahmegrund – Unabhängig vom Alter wissen knapp 70 % der Patienten, warum sie in der
Klinik sind, wobei 7- bis 10-jährige überwiegend LRS sowie Schulschwierigkeiten anstelle der Erstdiagnose nennen. – Unkenntnisse über den Aufnahmegrund sind mit 4 % verschwindend gering, ebenso wie nur 2 % der Patienten angeben, wegen »gar nichts« in der Psychiatrie zu sein. Personen(gruppen) in der Psychiatrie – Durchschnittlich werden von den 7- bis 10-jährigen eine bzw. von den 11-
bis 17-jährigen zwei Personengruppen genannt, am häufigsten Ärzte (73 %) und Schwestern (75 %).
180
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
– 20 % der 7- bis 10-jährigen haben keine Vorstellung davon, wer in einer
Psychiatrie arbeitet. – Kenntnisse über die Berufsgruppe der Psychologen bestehen bei 70 % der
Patienten über 13 Jahren, jedoch nur bei 30 % der 7- bis 10-jährigen. – Die Nennung von Sozialarbeitern und Lehrern liegt in allen Altersgruppen
unter 10 %. Behandlungsvorstellungen – 34 % aller Patienten verfügen über fehlende Behandlungsvorstellungen (46 % der 7- bis 10-jährigen aber auch noch 20 % der 16- bis 17-jährigen) – 30 % der 7- bis 10-jährigen erklären Behandlung unzutreffend mit Freizeit- und Schulkonzepten – 20 % der 11- bis 15-jährigen können psychiatrische Behandlung nicht von klassisch pädiatrischer Behandlung abgrenzen – Adäquate Behandlungsvorstellungen nehmen mit dem Alter kontinuierlich zu erreichten jedoch auch in der Altersgruppe 16–17Jahre nur 50 % Kinder- und jugendpsychiatrische Krankheitsbilder – Unabhängig vom Alter nennen 30 % der Patienten spezifische Kinder-
und Jugendpsychiatrische Symptome, wobei Kinder unter 14 Jahren überwiegend expansive Symptome sowie Schul-/Lernprobleme nennen. Ältere Patienten äußern demgegenüber ein weitaus breiteres Symptomspektrum – 10 % der Patienten im Alter von 7–13 Jahren haben fehlende Kenntnisse über Kinder- und Jugendpsychiatrische Erkrankungen – 50 % der 16- bis 17-jährigen gegenüber 20 % der 7- bis 13-jährigen können konkrete Diagnosen nennen
gruppen am häufigsten genannt wurden, waren Ärzte und Schwestern4. In der Altersgruppe 7–10 Jahre traf letzteres auf nur jedes zweite Kind zu, für mehr als 70 % der Probanden in allen anderen Altersgruppen. Der Begriff Psychiater wurde deutlich seltener, nämlich von nur jeweils 12 % der 11- bis 13- bzw. 14- bis 15-jährigen und 20 % der 16- bis 17-jährigen genannt, kann also nicht als bekannt vorausgesetzt werden. 7-mal wurde der Begriff Neurologe genannt, Oberarzt und Professor jeweils 6-mal, Chefarzt viermal. Die Berufsgruppe der Psychologen wurde ab dem 14. Lebensjahr von der überwiegenden Anzahl der Jugendlichen genannt. Kenntnisse über Psychologen bestanden auch bei knapp der Hälfte der 11bis 13-jährigen, aber nur bei ca. 30 % der Kinder unter 11 Jahren. Die Nennung der 4
Als Synonym zu Schwester wurde Pflegepersonal, Erzieher, Bezugsperson oder Betreuer bewertet.
Deskriptive Ergebnisse
181
Berufsgruppen der Sozialarbeiter und Lehrer stellte eher eine Ausnahme dar und lag in allen Altersgruppen unter 10 %. Weitere Berufe, die genannt wurden, jedoch kein spezielles Psychiatriepersonal darstellen waren Putzfrau (N = 24), Koch (N = 8), Nachtwächter (N = 5) sowie Sekretärin (N = 3).
9.3.2.6 Bildung des Wissensindex Kinder- und Jugendpsychiatrie Die Antworten auf die Frage, was eine Kinder- und Jugendpsychiatrie sei, wurden wie folgt bewertet: 0 Punkte wurden vergeben, wenn keine Beschreibung der Psychiatrie vorgenommen werden konnte (weiß nicht, keine Angaben) sowie ebenso für Antworten, die in die Kategorie »Unspezifische Tagesabläufe« fielen. 0 Punkte erhielten auch diejenigen Kinder, die Psychiatrie als »Klapse« beschrieben und darüber hinaus keine Angaben machten. Antworten, in denen der Unterschied zwischen einer Psychiatrie und einem klassisch pädiatrischem Krankenhaus nicht deutlich wurden, die also in die Kategorie »Stereotype Krankenhausvorstellungen« fielen, wurden mit 1 Punkt bewertet. Wenn Psychiatrie als »Ort zur Lösung von Problemen« beschrieben wurde, also eine erste Abgrenzung von körperlichen Erkrankungen vorgenommen werden konnte, wurden 2 Punkte vergeben. Schließlich wurden mit 3 Punkten Antworten bewertet, in denen zur Sprache kam, dass die Funktion der Psychiatrie darin besteht, psychisch Kranke zu behandeln (Kategorie: »Krankenhaus zur Behandlung psychisch Kranker«). Tabelle 45: Bewertung der Frage »Was ist eine Psychiatrie?« Bewertung der Frage: Was ist eine Psychiatrie?
Anzahl der vergebenen Punkte (%)
0 Punkte (keine Angaben, weiß nicht, Tagesabläufe, Klapse)
29,5 (N = 88)
1 Punkt (stereotype Krankenhausvorstellungen)
19,5 (N = 58)
2 Punkte (Ort zur Lösung von Problemen)
24,2 (N = 72)
3 Punkte (Krankenhaus zur Behandlung psychisch Kranker) 26,8 (N = 80)
Behandlungskonzepte Die Frage: Was glaubst du, wird bei deiner Behandlung passieren? haben wir im Falle ausbleibender Antworten (keine Angaben, weiß nicht) mit 0 Punkten bewertet. Ebenso 0 Punkte wurden vergeben bei unzutreffenden Behandlungskonzepten, also Antworten, die entweder in die Kategorie »Freizeit & Schule«, »Nichts« oder sonstige fehlerhafte Angaben (N = 10) fielen. 1 Punkt wurde für Antworten der Kategorie »Undifferenzierte Vorstellungen« vergeben, wenn also klassisch medizinische Behandlungsmethoden beschrieben wurden oder Behandlung als Hilfe bezeichnet wurde. Mit der maximalen Punktzahl (2 Punkten)
182
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 46: Bewertung der Frage »Was glaubst Du, wird während der Behandlung passieren?« Bewertung der Frage: Was glaubst du wird bei deiner Behandlung passieren?
Anzahl der vergebenen Punkte (%)
0 Punkte (keine Angaben, weiß nicht, Sonstige, Freizeit & Schule, Nichts)
48,0 (N = 143)
1 Punkt (Undifferenzierte Vorstellungen (somatische Behandlung/Hilfe))
22,1 (N = 66)
2 Punkte (Adäquate Behandlungsvorstellungen)
29,9 (N = 89)
wurden schließlich Antworten bewertet, die in die Kategorie »Adäquate Behandlungsvorstellungen« fielen. Kenntnisse über den Aufnahmegrund Die Antworten auf die Frage: Weißt du, warum du aufgenommen wurdest? wurden mit 3 Punkten bewertet, wenn die eigene kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose korrekt genannt werden konnte (Kategorie »Diagnose«). Wurde der Aufnahmegrund nur auf der Symptomebene beschrieben, haben wir 2 Punkte vergeben. Antworten, die in die Kategorie »Probleme Allgemein« fielen, in denen also keine spezifischen Krankheitssymptome, sondern lediglich allgemeine Probleme geschildert wurden, wurden mit 1 Punkt bewertet. Im Falle ausbleibender (keine Angaben, weiß nicht) oder fehlerhafter Antworten (hab nix, falsch) wurden 0 Punkte vergeben. Tabelle 47: Bewertung der Frage »Weißt du, warum du aufgenommen wurdest?« Bewertung der Frage: Weißt du, warum du aufgenommen wurdest?
Anzahl der vergebenen Punkte (%)
0 Punkte (keine/fehlerhafte Angaben, weiß nicht, nichts)
10,7 (N = 32)
1 Punkt (Probleme allgemein)
27,2 (N = 81)
2 Punkte (Beschreibung auf der Symptomebene)
47,0 (N = 140)
3 Punkte (Diagnose)
15,1 (N = 45)
Wissen über kinderpsychiatrische Krankheitsbilder Die Frage: Welche Kinder kommen in eine Psychiatrie? wurde mit 0 Punkten bewertet, wenn keine Antworten vorlagen (weiß nicht, keine Angaben) oder Antworten, die zum Ausdruck brachten, dass in der Psychiatrie physisch kranke Kinder behandelt würden. Antworten der Kategorie »Probleme allgemein« wurden mit 1 Punkt bewertet. 2 Punkte wurden vergeben wenn kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen durch die Nennung von typischen Symptomen beschrieben wurden. 3 Punkte waren reserviert für die Kategorie »Nennung von Diagnosen«.
Deskriptive Ergebnisse
183
Tabelle 48: Bewertung der Frage »Welche Kinder kommen in die Psychiatrie?« Bewertung der Frage: Welche Kinder kommen in die Psychiatrie?
Anzahl der vergebenen Punkte (%)
0 Punkte (weiß nicht, keine Angaben, physisch kranke Kinder)
13,8 (N = 41)
1 Punkt (Probleme allgemein)
24,2 (N = 72)
2 Punkte (Beschreibung auf der Symptomebene)
29,2 (N = 87)
3 Punkte (Diagnose)
32,9 (N = 98)
Personen(gruppen) in der Psychiatrie In die Bewertung der in der Psychiatrie tätigen Personen(gruppen) gingen nur Berufsgruppen ein, die spezifisch für die Psychiatrie sind. Als solche galten Ärzte, Psychologen, Schwestern, Lehrer und Sozialarbeiter. Weitere Nennungen, wie Putzfrau, Sekretärin oder Koch wurden nicht berücksichtigt. In Bezug auf die Berufsgruppe der Mediziner haben wir die Nennungen Oberarzt, Stationsarzt, Chefarzt, Psychiater, Neurologe und Professor gleich behandelt und unter die Kategorie Arzt subsumiert, ebenso wie der Begriff Therapeut der Kategorie Psychologen zugeordnet wurde. Jede Nennung einer relevanten Personengruppe, darunter fielen, wie bereits beschrieben, Ärzte, Schwestern, Psychologen, Lehrer, Sozialarbeiter, wurde mit 1 Punkt bewertet, so dass auf die Frage: Wer arbeitet in einer Psychiatrie? Werte zwischen 0 (keine Nennung) und 4 Punkten (alle relevanten Berufsgruppen genannt) erreicht werden konnten. Da nur 10 Probanden (3,4 %) die volle Punktzahl erhielten, haben wir die Kategorien »3-« bzw. »4 Personengruppen genannt« zusammengefasst, so dass letztlich maximal 3 Punkte möglich waren. Tabelle 49: Bewertung der Frage »Wer arbeitet in einer Psychiatrie?« Bewertung der Frage: Wer arbeitet in einer Psychiatrie?
Anzahl der vergebenen Punkte (%)
0 Punkte (weiß nicht, keine Antwort)
7,4 (N = 22)
1 Punkt (1 Personengruppe genannt)
16,1 (N = 48)
2 Punkte (2 Personengruppen genannt)
36,2 (N = 108)
3 Punkte (3 oder 4 Personengruppen genannt)
40,3 (N = 120)
Für jeden Patienten wurde der Wissensindex durch Summation aller pro Kenntnisfrage erzielten Punktwerte berechnet. Tabelle 50 gibt Auskunft über die statistischen Kennwerte der einzelnen Items. Für 4 Items ergaben sich zufrieden stellende Trennschärfekoeffizienten, die interne Konsistenz ist jedoch mit .57 gering. Angesichts der niedrigen Trennschärfe des Items: Weißt du, warum du aufgenommen wurdest? haben wir uns entschieden, diese Frage aus dem Wissensindex zu eliminieren, so dass der Index letztlich aus 4 Items gebildet wird. Die maximale Summe
184
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
von 11 Punkten wurde von 4,7 % (N = 14) der Probanden erreicht, 0 Punkte hatten 2,3 % der Kinder und Jugendlichen (N = 7). Der Mittelwert lag bei 6,21. Im Rahmen von 4-Weg-Varianzanalysen wurden die Einflüsse von Alter (jünger als 14 Jahre vs. älter als 14), Geschlecht, Störungsgruppe (expansive vs. introversive Störungen) sowie regionaler Zugehörigkeit (Rostock vs. Weißenau) untersucht. Für die Skala Kenntnisstand zeigten sich signifikante Haupteffekte für Alter (F = 31,823; p = .000), Störung (F = 8,404; p = .004) und Geschlecht (F = 4,426; p = .036). Jugendliche (über 14-Jährige) wiesen somit einen sehr signifikant höheren Kenntnisstand auf als Kinder, ebenso wie Patienten mit einer introversiven Störung zu Behandlungsbeginn sehr signifikant mehr wussten, als Patienten mit einer expansiven Erkrankung. Der sich darüber hinaus ergebende Geschlechtseffekt verweist inhaltlich darauf, dass Mädchen über signifikant mehr Wissen verfügten als Jungen. Deskriptiv verfügten jugendliche Essgestörte Mädchen über durchschnittlich am meisten psychiatriespezifisches Wissen, während männliche Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens den niedrigsten Mittelwert und damit die deutlichsten Wissensdefizite aufwiesen. Tabelle 50: Statistische Kennwerte der Kenntnisfragen Items
Mittelwert
SD
Trennschärfe
Alpha
Was ist eine Psychiatrie? (0–3 Punkte)
1,48
1,17
.39
,52
Was glaubst du, wird in deiner Behandlung passieren? (0–2 Punkte)
0,82
0,86
.35
,50
Weißt du, warum du aufgenommen wurdest? (0–3 Punkte)
1,66
0,86
.19
,58
Welche Kinder kommen in eine Kinder und Jugendpsychiatrie? (0–3 Punkte)
1,81
1,04
.38
,48
Wer arbeitet in einer Psychiatrie? (0–3 Punkte)
2,1
,92
.38
,48
9.3.2.7 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf den Kenntnisstand Zur Beantwortung der Frage, inwieweit soziodemografische Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, gegenwärtige Erwerbstätigkeit), Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie intellektueller Status des Kindes Einfluss auf den Kenntnisstand bei Aufnahme haben, wurden einfaktorielle Varianzanalysen durchgeführt. Aufgrund der hohen Anzahl fehlender Angaben über sowohl Tätigkeit als auch Schulabschluss des Vaters, haben wir uns auf diesbezügliche Angaben der Mütter beschränkt. Die Schichtzugehörigkeit ba-
Deskriptive Ergebnisse
185
Tabelle 51: Effekte einzelner unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable »Kenntnisstand« Unabhängige Variable
F
P
Stationäre/ambulante Vorerfahrung
1,575
.211
IQ
4,753
.009
Erwerbstätigkeit Mutter
2,261
.106
Schichtzugehörigkeit der Mutter
2,452
.088
Schulbildung der Mutter
2,365
.096
Wissensindex Bildung eines Summenscore (α = .58) aus folgenden 4 Items, die gemäß ihrer Vollständigkeit und Richtigkeit bewertet wurden: – Was ist eine Psychiatrie? – Welche Kinder kommen in eine Psychiatrie? – Was glaubst du, wird in deiner Behandlung passieren? – Wer arbeitet in einer Psychiatrie Der Umfang psychiatriebezogener Kenntnisse ist abhängig von folgenden Faktoren: – Alter (Jugendliche > Kinder) – Art der Störung (introversiv > expansiv) – IQ (überdurchschnittlich, durchschnittlich > unterdurchschnittlich) – Geschlecht (Mädchen > Jungen) – Schichtzugehörigkeit (untere Schicht < mittlere, höhere Schicht) Unter 14jährige Jungen mit einer Störung des Sozialverhaltens weisen deskriptiv die höchsten Wissensdefizite auf, während jugendliche essgestörte Mädchen am besten informiert sind.
sierte demgegenüber auf der Einschätzung des jeweils sozial höher gestellten Elternteils. Der intellektuelle Status des Kindes wurde anhand des Ergebnisses im Intelligenztest operationalisiert. Für die abhängige Variable »Kenntnisstand« erbrachte die Durchführung mehrerer einfaktorieller Varianzanalysen in Bezug auf die unabhängige Variable intellektuelle Leistungsfähigkeit einen signifikanten Haupteffekt (F = 4,753; p = .009) sowie für die unabhängige Variable Schichtzugehörigkeit der Mutter einen marginal signifikanten Haupteffekt (F = 2,452, p = .088). Wie sich in nachträglichen Scheffé-Tests abzeichnete ist der Kenntnisstand durchschnittlich- und überdurchschnittlich intelligenter Kinder signifikant höher, als der von Probanden mit unterdurchschnittlichem IQ. Für den tendenziell signifikanten Schichteffekt ergaben nachträgliche Scheffé-Tests keine Gruppenunterschiede, deskriptiv ist der Kenntnisstand bei Probanden aus der unteren Schicht am niedrigsten.
186
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
9.3.3 Partizipation 9.3.3.1 Partizipation bei der Aufnahmeentscheidung »Deine Eltern haben entschieden, dass du in die KJPP kommen sollst. Was müssen sie wissen, um so eine Entscheidung treffen zu können?« »Zuerst müssen sie mit dem Kind reden. Dann sage ich ja oder nein und wenn man nein sagt, dann sagt Mama ja.«
Ergebnisse auf Skalenniveau Wie bereits im Rahmen der Skalenbildung beschrieben, ließ sich für den Zeitpunkt der stationären Aufnahme die von uns a priori gebildete Skala Teilhabe an der Aufnahmeentscheidung weitestgehend bestätigen. Der Mittelwert der Stichprobe für diese Skala betrug 3,24 (sd = 1,08), was einer durchschnittlichen Beurteilung von »teils/teils« mit einer Tendenz zu »eher ja« entspricht. Auf diesem Skalenniveau heißt das, dass 16 % der Kinder und Jugendlichen eher wenig bis keine Teilhabe an der Aufnahmeentscheidung wahrnahmen, wobei 1,7 % der Befragten alle Items mit »trifft gar nicht zu« beantworteten, d. h. gar keine Partizipation erlebten. Den höchstmöglichen Gesamtwert von 40, der einem maximalen Erleben von Partizipation entspräche, hat keiner der Patienten erreicht. Insgesamt 35,1 % der Kinder und Jugendlichen erzielten Werte zwischen 32 und 38, fühlten sich also durchschnittlich »eher« bis »sehr stark« an der Aufnahmeentscheidung beteiligt. Im Rahmen von 4-Weg-Varianzanalysen wurden die Einflüsse von Alter (jünger als 14 Jahre vs. älter als 14), Geschlecht, Störungsgruppe (expansive vs. introversive Störungen) sowie der regionalen Zugehörigkeit (Rostock vs. Weißenau) untersucht. Für die Skala Teilhabe an der Aufnahmeentscheidung zeigt sich lediglich ein signifikanter Haupteffekt für das Alter der Patienten. Erwartungsgemäß werden Jugendliche (über 14-Jährige) stärker an der Aufnahmeentscheidung beteiligt (F = 5,995; p = .015), unabhängig von der Art der Störung, dem Geschlecht oder der regionalen Zugehörigkeit. Ergebnisse auf Itemniveau Weiteren Aufschluss über das Zustandekommen des Partizipationsgesamtwertes sowie interessante inhaltliche Ergebnisse liefert eine Analyse auf Itemebene. Betrachtet man zunächst die Antworten auf die direkte Frage »Wer hat entschieden, dass du in die Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen sollst?«, getrennt nach den beiden Altersgruppen, ergibt sich das in Abbildung 11 dargestellte Bild. Die Aussage eines Patienten »Ich durfte ja nichts sagen, ich musste hier rein!« trifft vorwiegend auf die unter 14-jährigen Patienten zu, wie Abbildung 11 ver-
Deskriptive Ergebnisse
187
Wer hat entschieden, dass du in die Kinder- und Jugendpsychiatrie kommst? < 14 Jahre (N = 124) Patient, Eltern, Arzt
Patient, Eltern,andere
mit Patientenbeteilligung 35,5% (N = 44)
Patient, andere
Eltern & Patient 3,2% 1,6%
8,1% 19,4%
3,2% 3,2%
33,9%
9,7%
Eltern 4,8%
Patient alleine andere
12,9%
Eltern u. andere
ohne Patientenbeteiligung
Arzt
Eltern & Arzt
64,5%(N = 80)
weiß nicht= 6
Abbildung 11: Altersspezifische Darstellung der Aufnahmeentscheidung aus Patientensicht
deutlicht. Die große Mehrheit unter ihnen – nämlich fast 65 % – erklärte, dass aus ihrer Sicht die Aufnahmeentscheidung ganz ohne eigene Beteiligung erfolgte, vorwiegend durch Eltern oder Eltern und Ärzte gemeinsam. Von den übrigen 35 %, die sich in den Entscheidungsprozess integriert fühlten, meinten etwa 3 %, alleine über die Aufnahme entschieden zu haben. Jugendlichen wurden demgegenüber deutlich häufiger Partizipationsrechte zuerkannt. Knapp 60 % der über 14jährigen meinten mit oder sogar alleine über die Aufnahme entschieden zu haben, dennoch fühlten sich immer noch 40 % der Jugendlichen fremdbestimmt. Während demnach mit zunehmendem Alter die Erfahrung von Teilhabe wahrscheinlicher wird und das Erleben von FremdbeTabelle 52: Wahrgenommene Entscheidungspraxis in Abhängigkeit von der Diagnose Über 14-jährige
andere (%)
mit Patient (%)
Patient allein (%)
F20 (N = 19)
57,9
31,6
10,5
F30 (N = 12)
16,7
75
8,3
F40 (N = 37)
35,1
59,5
5,4
F50 (N = 18)
33,3
61,1
F60 (N = 19)
68,4
31,6
–
F90,91,92 (N = 49)
38,8
40,8
20,4
F93–98 (N = 6)
33,3
50
16,7
hellgrau: häufiger als Durchschnitt, dunkelgrau: weniger als Durchschnitt
5,6
188
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
stimmung signifikant sinkt (χ² = 17,936; p = .000), ist Partizipation an der Aufnahmeentscheidung auch bei Jugendlichen nicht die Regel. Auf deskriptiver Ebene zeigen sich zwischen der Entscheidungspraxis und der Diagnose interessante Zusammenhänge, die im Folgenden beispielhaft für die über 14-jährigen analysiert werden sollen (vgl. Tabelle 52). Die Ergebnisse der Tabelle 52 verdeutlichen, dass sich Patienten der Diagnosegruppen F20 (Schizophrenie) und F60 (Persönlichkeitsstörungen) häufiger als fremdbestimmt und entsprechend weniger als partizipierend erlebten als der Durchschnitt der über 14-jährigen Patienten. Persönlichkeitsgestörte Jugendliche gaben in keinem der untersuchten Fälle an, alleine über die Aufnahme entschieden zu haben. Der Vergleich dieser Patientengruppe mit der Reststichprobe zeigt, dass persönlichkeitsgestörte Jugendliche sich signifikant häufiger fremdbestimmt erlebten und signifikant seltener alleine entschieden haben als die übrigen Patienten (χ² = 7,504; p = .023). Bei Jugendlichen mit affektiven Störungen (F30) kann demgegenüber davon ausgegangen werden, dass sie häufiger als der Durchschnitt in die Entscheidung einbezogen wurden (75 %). Entsprechend fühlten sich nur etwa 17 % von ihnen hinsichtlich der Aufnahmeentscheidung fremdbestimmt. Eine geringe Rate autonomer Entscheidungen war bei Patienten mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40) sowie bei essgestörten Jugendlichen (F50) vorzufinden (5,4 bzw. 5,6 %). Auffällige Abweichungen in die andere Richtung zeigen sich bei Patienten mit Verhaltens- und emotionalen Störungen (F90). Ob diese Patientengruppe tatsächlich häufiger alleine entscheiden oder ihre Autonomie überschätzen, ist jedoch fraglich. In der Gruppe F90,91,92 wurde signifikant häufiger als in der Reststichprobe alleine über die Aufnahme entschieden (χ² = 6,732; p = .035). Die von den Jugendlichen berichtete stärkere Einbeziehung drückt sich in weiteren Items zum subjektiven Erleben der Aufnahmeentscheidung aus. < 14 Jahre
>= 14 Jahre
Hat sich jmd. für deine Meinung interessiert?
44,6%
59,5%
Hattest du das Gefühl, mit entscheiden zu können?
46,9%
57,8%
Bist du freiwillig hier?
43,1%
Abbildung 12: Ausmaß der Zustimmung zu Items der Partizipationsskala
62,5%
Deskriptive Ergebnisse
189
Wie Abbildung 12 verdeutlicht, haben Jugendliche im Vergleich zu Kindern sowohl ein stärkeres Interesse an ihrer Meinung erlebt als auch ein stärker ausgeprägtes Gefühl, mit entschieden zu haben. Die von ihnen berichtete Freiwilligkeitseinschätzung überstieg entsprechend mit dem anwachsenden Gefühl der Teilhabe die von den unter 14-jährigen angegebene Rate der Freiwilligkeit, die bei etwa 43 % liegt.
9.3.3.2 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf Partizipation Zur Beantwortung der Frage, inwieweit soziodemografische Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, gegenwärtige Erwerbstätigkeit), Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie intellektueller Status des Kindes Einfluss auf Partizipation bei der Aufnahmeentscheidung haben, wurden entsprechend dem Vorgehen hinsichtlich Kenntnisstand wiederum einfaktorielle Varianzanalysen durchgeführt. Die Durchführung mehrerer einfaktorieller Varianzanalysen für die abhängige Variable »Partizipation« erbrachte folgende signifikante Ergebnisse. Bezüglich der unabhängigen Variablen »Vorerfahrung« wurde ein sehr signifikanter Haupteffekt ermittelt, es zeigte sich, dass Kinder mit stationärer bzw. ambulanter Vorerfahrung signifikant weniger bei der Aufnahmeentscheidung partizipierten als Kinder, die über keine entsprechende Vorerfahrung verfügten (F = 7,100, p = .008). Ein ebenso signifikanter Haupteffekt ergab sich für die unabhängige Variable »Erwerbstätigkeit der Mutter« (F = 3,494, p = .032), wobei nachträgliche Scheffé-Tests nicht signifikant wurden. Tendenziell erlebten Kinder erwerbstätiger Mütter am meisten Partizipation, während Kinder arbeitsloser Mütter am wenigsten partizipierten (dieses Ergebnis betrifft insbesondere die Rostocker Stichprobe, da in der Weißenau lediglich 2 % der Mütter arbeitslos sind). Die einfaktorielle Varianzanalyse bezüglich der unabhängigen Variablen Intellektueller Status ergab tendenziell signifikante Unterschiede (F = 2,664, p = .072), wobei durchschnittlich intelligente Probanden tendenziell mehr Partizipation erlebten als unter- oder überdurchschnittlich intelligente Kinder und Jugendliche. Tabelle 53: Effekte einzelner unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable »Partizipation« Unabhängige Variable
F
p
Stationäre/ambulante Vorerfahrung
7,100
.008
IQ
2,664
.072
Erwerbstätigkeit Mutter
3,494
.032
Schichtzugehörigkeit der Mutter
0,238
.788
Schulbildung der Mutter
0,067
.935
190
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
9.3.3.3 Partizipationsbedürfnisse zum Zeitpunkt der Aufnahme »Man kann ja nicht einfach über so ein Lebewesen hinweg entscheiden, ob nun Kind oder Jugendlicher. Es muss ja wenigstens gefragt werden, auch wenn man nicht akzeptiert wird.«
Im Gegensatz zur Partizipationspraxis ließ sich die theoretisch angenommene Skala Partizipationsbedürfnisse in der erwarteten Form nicht bestätigen. Wie bereits dargestellt, fallen die Items zum Partizipationsbedürfnis mit den Items zum Informationsbedürfnis auf einen Faktor, der jedoch aufgrund methodischer Erwägungen als wenig brauchbar erscheint. Auf deskriptiver Ebene soll daher im Folgenden den Partizipationsbedürfnissen der minderjährigen Patienten auf Itemebene nachgegangen werden. Wie aus der Perspektive minderjähriger Patienten die Aufnahmeentscheidung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie grundsätzlich getroffen werden sollte, zeigt Abbildung 13. Den Ergebnissen zur wahrgenommenen Entscheidungspraxis entsprechend, zeigten sich auch bezüglich der Bedürfnisse signifikante Altersunterschiede (χ² = 26,285; p = .000), d. h. der Wunsch nach Teilhabe und autonomer Entscheidung stieg deutlich mit dem Alter der Patienten an. Bei den unter 14-jährigen dominierte mit etwa 48 % das Bedürfnis nach Fremdbestimmung, wobei vor allem Eltern eine starke Rolle als Entscheidungsträger zugedacht wurde: »weil die das Recht haben, weil die klüger sind«, »Die >= 14Jahre (N = 164)
Patient u. Eltern
Patient alleine / mit Patientenbeteilligung
Patient alleine
22,3%
77,8% (N =129)
Patient u. Arzt
21,7% 9,6%
19,7%
1,3% 8,3%
Eltern u. Arzt
Arzt
Patient, Arzt, Eltern
weiß nicht= 1 von der Krankheit abhängig = 2 vom Alter abhängig = 1
andere
4,5% 4,5% 8,3%
Patient, Eltern u. andere
Eltern
ohne Patientenbeteiligung 22,4% (N =35)
Abbildung 13: Alterspezifische Darstellung der Partizipationsbedürfnisse Minderjähriger an der Aufnahmeentscheidung
Deskriptive Ergebnisse
191
dürfen das Leben von den Kindern bestimmen«, »weil die Eltern älter sind als ich«, »weil Mutti mich geboren hat«. Deutlich am stärksten ausgeprägt mit fast 60 % der Nennungen war in der Altersgruppe der über 14-jährigen demgegenüber der Wunsch nach gemeinsamer Entscheidung: »Die Ärzte wissen, wie der Zustand ist, die Eltern sind erziehungsberechtigt und das Kind, weil es schließlich um das Kind geht – es bringt nichts, wenn es nicht will.« Partizipationswünsche, die sich bei den unter 14-jährigen vor allem auf ein gemeinsames Entscheiden mit den Eltern beziehen (»Eltern haben mehr Rechte als das Kind, aber man muss das Kind auch fragen, ob es rein will«), äußerten im Vergleich dazu etwa 36 % dieser Altersgruppe. Für beide Altersgruppen gilt zusammenfassend, dass das Ausmaß an Fremdbestimmung über diese wichtige Entscheidung als zu groß erlebt wird und das Bedürfnis nach Einflussnahme die erlebten Möglichkeiten übersteigt. Wie die folgende Tabelle zeigt, bestehen auch bezüglich der gewünschten Entscheidungsmodalitäten Zusammenhänge zur Diagnose, wiederum beispielhaft für die jugendlichen Patienten dargestellt. Die Befürchtung, minderjährige Patienten könnten sich im Falle von Entscheidungsfreiheit grundsätzlich für Autonomie aussprechen und damit unter Umständen gegen eine Behandlung, scheint sich – wie bereits dargestellt – unseren Ergebnissen zufolge nicht zu bestätigen. Die diagnosespezifische Auswertung deutet noch einmal mehr darauf hin, dass die Patienten ihre Kompetenzen sehr differenziert beurteilen. Vor allem magersüchtige Patienten, bei denen die Frage nach der Krankheitseinsicht und der Einwilligungsfähigkeit kontrovers diskutiert wird, äußerten in unserer Untersuchung sehr viel seltener als der Durchschnitt der Jugendlichen den Wunsch, alleine über die Aufnahme entscheiden zu wollen (6,7 %). Bei dieser Gruppe, wie bei den schizophrenen Patienten und Patienten mit den Diagnosen F93–98, stießen wir häufiger als bei der Gesamtgruppe der Jugendlichen auf ein Bedürfnis nach Fremdbestimmung. Tabelle 54: Gewünschte Entscheidungspraxis in Abhängigkeit von der Diagnose Über 14-jährige
andere (%)
mit Patient (%)
Patient allein (%)
F20 (N = 19)
36,8
42,1
21,1
F30 (N = 13)
23,1
61,5
15,4
F40 (N = 37)
13,9
63,9
22,2
F50 (N = 15)
26,7
66,7
6,7
F60 (N = 19)
15,8
57,9
26,3
F90,91,92 (N = 48)
16,3
59,2
24,5
F93–98 (N = 6)
33,3
66,7
–
hellgrau: häufiger als Durchschnitt, dunkelgrau: weniger als Durchschnitt
192
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Obwohl es auch bezüglich der Einschätzung der Wichtigkeit eigener Beteiligung an der Behandlungsentscheidung signifikante Alterseffekte in die bereits beschriebene Richtung gibt (Frage: »War es dir wichtig mit zu entscheiden?«, F = 4,860; p = .029/»Wäre es dir wichtig gewesen mit zu entscheiden?«, F = 11,427; p = .001), sind es gerade die Begründungen junger Patienten, die verdeutlichen, welche subjektive Bedeutung Teilhabe auch für Kinder hat: »Ja, sehr wichtig. Man kann ja nicht einfach über so ein Lebewesen hinweg entscheiden, ob nun Kind oder Jugendlicher. Es muss ja wenigstens gefragt werden, auch wenn man nicht akzeptiert wird.« oder »Ja, sehr wichtig. Nicht, dass meine Eltern hinter meinem Rücken irgendwas aushecken und ich weiß davon nichts. Und am nächsten Tag heißt es dann, so jetzt gehst Du dahin und ich konnte mich noch nicht mal von meinen Freunden verabschieden.« Neben den beschriebenen Alterseffekten zeigen sich bei der Frage der Wichtigkeit eigener Beteiligung darüber hinaus Ost-West-Unterschiede. Während es den Patienten in der Weißenau unabhängig vom Alter wichtiger war mit zu entscheiden (F = 6,941; p = .009), zeigte sich für die Patienten, die nicht das Gefühl hatten, mit entscheiden zu können, eine signifikante Alters × Ost-West-Interaktion auf die Frage »Wäre es dir wichtig gewesen mit zu entscheiden?« (F = 4,482; p = .037). Demnach ist der Unterschied zwischen Kindern in Rostock und der Weißenau größer als der Unterschied zwischen Jugendlichen aus Ost und West: am wichtigsten wäre Beteiligung für Jugendliche aus Rostock, am wenigsten wichtig für Kinder aus Rostock. Zu unterscheiden von der Beteiligung an der Aufnahmeentscheidung ist der Wunsch nach Teilhabe an Gesprächen nach bereits erfolgter Aufnahme. Während sich der Alterseffekt bei der Frage »Wenn du bei Gesprächen zwischen Arzt und Eltern nicht dabei bist, wie findest du das?« nur noch tendenziell zeigte (F = 3,026; p = .083), sind es hier die Weißenauer Patienten, die ein höheres Partizipationsbedürfnis äußerten als die Rostocker (F = 7,041; p = .008): etwa 23 % der Rostocker gegenüber etwa 13 % der Weißenauer finden es gut bis sehr gut, nicht an Arztgesprächen beteiligt zu werden. Die Entscheidungspräferenzen der Kinder und Jugendlichen wurden darüber hinaus anhand von drei offenen Fragen untersucht: »Wenn du an deinen Aufenthalt denkst, welche Dinge willst du 1) alleine entscheiden, 2) mit entscheiden und 3) welche Dinge überlässt du ganz und gar anderen?« Tabelle 55 zeigt eine Auswahl der Kategorien, die aus den Antworten auf die drei Fragen gebildet wurden (Mehrfachnennungen waren möglich). Angegeben ist der Prozentsatz der Gesamtstichprobe sowie der unter und über 14-jährigen, die diese Kategorie genannt haben. Hinsichtlich der gewünschten Entscheidungsfreiheit über Therapien (»welche Therapien ich mache«, »ob ich Medikamente einnehme«, »mit wem ich über mein Problem rede«) zeigen sich deutliche Altersunterschiede. Insgesamt wurde dieses Thema von den Jugendlichen häufiger angesprochen und der Wunsch, al-
Deskriptive Ergebnisse
193
Abbildung 14: Interaktion zwischen Alter und regionaler Zugehörigkeit bezüglich des Partizipationsbedürfnisses
leine über Behandlungsmaßnahmen zu entscheiden, ist vor allem auf die über 14-jährigen zurückzuführen. In beiden Altersgruppen bestand ferner sowohl ein Bedürfnis nach Partizipation als auch nach Fremdbestimmung, wobei es hier vor allem um die Einnahme von Medikamente geht. Eindeutiger waren die Präferenzen bezüglich des Behandlungsendes/der Dauer des Aufenthaltes (»wie lange ich hier bleibe«, »wann ich nach Hause darf«). Diese Entscheidung wollte nur ein geringer Teil der Patienten anderen Personen überlassen, gewünscht wurde das alleinige Entscheidungsrecht oder Beteiligung. Entscheidungen über Bewegungsfreiheit (»wann ich raus gehen darf«, »alleine raus gehen, z. B. in den Garten«, »wann ich aufs Zimmer gehe«) wollten die Patienten unabhängig vom Alter ganz eindeutig alleine treffen. Ebenfalls vor allem alleine entscheiden wollten die Kinder und Jugendlichen über die Freizeitgestaltung (»wann man ins Schwimmbad geht und wie oft«, »was ich für Musik höre«, »ob ich Gameboy spielen darf«), über Schlafens- und Weckzeiten, die Zimmerbelegung (»welches Zimmer ich kriege«, »mit wem ich ins Zimmer komme«), über das Essen (»den Kostplan zusammen besprechen«, »ob ich essen, wann und wie viel«, »was ich esse«) sowie über Besuch und Telefon (»mit wem ich telefoniere«, »ob ich meine Eltern sehe oder nicht«, »Besuchszeiten und Wochenendurlaub«). Die Frage der Kontaktregelung wollten die Patienten im Gegensatz zu den anderen genannten in keinem Fall anderen überlassen. Die Kategorien Rauchen und Kleidung (»was ich anziehe«) gehen fast ausschließlich auf die Jugendlichen zurück, eindeutig war hier der Wunsch nach Eigenentscheidung. Ebenfalls fast ausschließlich von Jugendlichen thematisiert wurde die Planung der Zukunft nach der Psychiatrie (»ob ich nach Hause oder
194
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Tabelle 55: »Welche Dinge willst du alleine bzw. mit entscheiden, welche sollen andere entscheiden?« alleine (%)
mit (%)
andere (%)
13,8
19,1
18,8
– unter 14 Jahre
5,4
13,6
10,1
– über 14 Jahre
20,1
24,5
25,4
Behandlungsende/Dauer
13,8
15,1
2,7
– unter 14
10,9
12,4
2,3
– über 14
16
17,2
3
Bewegungsfreiheit
18,5
4
2
– unter 14
14
0,8
2,3
– über 14
21,9
Therapie
6,5
1,8
Freizeit
8,1
6
1
– unter 14
7,8
7
1,6
– über 14
8,9
5,3
0,6
Schlafenszeiten
8,7
1
3,4
– unter 14
6,2
2,3
4,7
– über 14
10,7
0
2,4
Zimmer
7,4
4, 7
– unter 14
7,8
5,4
6,2
– über 14
7,1
4,1
1,2
Essen
6,4
1,7
3,7
– unter 14
3,9
0,8
3,1
– über 14
8,3
2,4
4,1
Besuch
3,4
2
– unter 14
3,9
0,8
– über 14
3
3
Rauchen
4
0,7
– unter 14
0
0
– über 14
7,1
Kleidung
1,7
– unter 14
0,8
– über 14 Zukunft
3
–
–
1,2 –
–
2,4 –
4
0,3
– unter 14
0,8
0
– über 14
6,5
0,6
1,7
2,7
0
2,3
Termine
–
– unter 14 – über 14
3
3
17,1
12,4
32,6
– unter 14
26,4
17,8
28,7
– über 14
10,1
8,3
35,5
Keine
Deskriptive Ergebnisse
195
ins Heim gehe«), diese soll jedoch ganz eindeutig mit Beteiligung der Patienten erfolgen. Eine Entscheidung, die zwar insgesamt sehr selten angesprochen wurde, aber in der Mehrzahl anderen überlassen wird, betrifft Entscheidungen über Termine, den Wochenplan und den Tagesablauf. Unter 14-jährige wollen sogar ausschließlich anderen Personen diese Entscheidung überlassen. Der Wunsch gar nichts alleine zu entscheiden oder gar nicht mit zu entscheiden geht vor allem auf die Kinder der Stichprobe zurück, dennoch stammen derartige Äußerungen auch von den Jugendlichen. Etwa 36 % der Jugendlichen und 29 % der Kinder sprachen sich abschließend dafür aus, gar keine Entscheidung an andere Personen abzugeben.
9.3.3.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf das Partizipationsbedürfnis Zur Beantwortung der Frage, inwieweit soziodemografische Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, gegenwärtige Erwerbstätigkeit), Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie intellektueller Status des Kindes Einfluss auf das geäußerte Partizipationsbedürfnis haben, haben wir wiederum einfaktorielle Varianzanalysen durchgeführt. Hinsichtlich der abhängigen Variable Partizipationsbedürfnis, die aufgrund der Unbrauchbarkeit der Gesamtskala mit der Frage »Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?« erfasst wurde, ergaben die mit den einzelnen unabhängigen Variablen durchgeführten Varianzanalysen keine signifikanten Ergebnisse. Tabelle 56: Effekte einzelner unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable »Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?« Unabhängige Variable
F
Stationäre/ambulante Vorerfahrung
0,936
P .334
IQ
1,605
.203
Erwerbstätigkeit der Mutter
1,378
.254
Schichtzugehörigkeit der Mutter
2,353
.097
Schulbildung der Mutter
1,063
.347
9.3.3.5 Partizipation während der Behandlung Für den zweiten Messzeitpunkt ließen sich die theoretischen Annahmen in Bezug auf die Skalenbildung nicht bestätigen (s. Ergebnisse der Faktorenanalyse). Hier fand wie beschrieben, eine Trennung der Items auf zwei Skalen statt, die wir auf-
196
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
grund der inhaltlichen Zusammensetzung »Respektvolle und faire Behandlung« sowie »Freiwilligkeit« genannt haben. Freiwilligkeit Ergebnisse auf Skalenniveau Der Mittelwert für die Skala Freiwilligkeit lag bei 15,98, was einer durchschnittlichen Beantwortung von »weder noch« entsprach, in der Frage der Freiwilligkeit zeichnete sich inhaltlich also keine eindeutige Tendenz ab. 19,1 % der Patienten bezeichneten ihren Aufenthalt in der Klinik nach vier Wochen als eher unfreiwillig bis sehr unfreiwillig, 31,9 % als eher bis sehr freiwillig. Extrempositionen, sehr freiwillig bzw. sehr unfreiwillig äußerten nur jeweils 1,8 % (N = 2) der Patienten. Der signifikante Haupteffekt für die Variable »Alter« deutet darauf hin, dass Jugendliche vier Wochen nach Behandlungsbeginn freiwilliger in der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren als unter 14-jährige (F = 11,843; p = .001). Die signifikante Interaktion des Alters mit dem Geschlecht (F = 4,102; p = .046) zeigt jedoch, dass die Altersunterschiede in der wahrgenommenen Freiwilligkeit bei den Mädchen deutlich stärker ausgeprägt waren als bei den Jungen: unter 14-jährigen Mädchen waren insgesamt am wenigsten freiwillig, über 14-jährige Mädchen am freiwilligsten in der Klinik (Abb. 15 links). Einen weiteren differenzierenden Einfluss auf die Freiwilligkeitseinschätzungen übt die Interaktion Geschlecht × Art der Störung aus (F = 7,985; p = .006). Demnach gibt es einen Unterschied für beide Störungsgruppen wiederum vor allem bei den Mädchen (Abb. 15 rechts). Skala Freiwilligkeit
Skala Freiwilligkeit
N = 105
N = 105
25
20
15
14Jahre
10
introversiv expansiv
5 männlich
weiblich
männlich
weiblich
Abbildung 15: Interaktion zwischen Alter und Geschlecht (links) sowie Geschlecht und Art der Störung (rechts) bezüglich der Freiwilligkeit
Ergebnisse auf Itemniveau Auch für den zweiten Messzeitpunkt sollen neben den Ergebnissen auf Skalenniveau einzelne Items beispielhaft näher betrachtet werden. Wie die Ergebnisse der Varianzanalyse gezeigt haben, fühlten sich die unter 14-jährigen Mädchen am wenigsten freiwillig in der Klinik, die über 14-jährigen
Deskriptive Ergebnisse
197
Mädchen erzielten demgegenüber den höchsten Skalenwert. Das Ausmaß der Zustimmung dieser beiden Extremgruppen zu einzelnen Skalenitems zeigt Abbildung 16. Mädchen < 14 Jahre (N = 14)
Bist du freiwillig in der Psychiatrie?
30,8%
Möchtest du im Moment in der Klinik bleiben?
30,8%
Wirst du in Behandlungsentscheidungen einbezogen?
14,3%
Mädchen ≥ 14 Jahre (N = 28)
85,7%
50%
50%
Abbildung 16: Ausmaß an Zustimmung zu Items der Skala Freiwilligkeit
Während von den über 14-jährigen Mädchen fast 86 % eindeutig freiwillig in der Psychiatrie sind und etwa 68 % von ihnen auch die Therapie freiwillig machen (ohne Abb.), ist der Großteil der unter 14-jährigen Mädchen eindeutig unfreiwillig in der Psychiatrie (ca. 46 %) und auch die Teilnahme an der Therapie bezeichnen nur etwa 50 % von ihnen als freiwillig. Alarmierend gering ist ferner die von den jüngeren Patienten berichtete geringe Rate der Teilhabe an Behandlungsentscheidungen (14,3 %). Die fehlende Teilhabe an Behandlungsentscheidungen wird jedoch nicht durchgehend als negativ erlebt. Immerhin knapp 20 % aller Patienten, die nicht in Behandlungsentscheidungen einbezogen werden, bewerteten es als eher gut bis sehr gut: »weil die Ärzte studiert haben und wissen, was gut ist und was nicht«, »weil mich das nichts angeht«, »weil meine Eltern das zu entscheiden haben – nicht ich und nicht die Ärzte«. Für eine Beteiligung sprach demgegenüber beispielsweise: »weil ich so lerne, Entscheidungen zu treffen«, »weil es um mich geht, würde ich ganz gerne mitreden, wenn was beschlossen wird«, »dann weiß ich, was mit mir geschieht, dann kann ich mich darauf vorbereiten«, »warum sollen die Eltern alles wissen und die Kinder nicht«, »macht dann mehr Spaß, dann mag man die Therapie mehr«. Respektvolle und faire Behandlung Ergebnisse auf Skalenniveau Der Mittelwert der Skala respektvolle und faire Behandlung (M = 16,6) weist im Durchschnitt auf eine tendenziell eher positive Einschätzung zwischen »weder
198
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
noch« und »eher respektvoller Behandlung« hin. 21,7 % der Minderjährigen fühlten sich eher bis sehr respektvoll und fair behandelt, nur 9,1 % der Patienten meinten, eher nicht respektvoll behandelt zu werden. Keiner der Kinder und Jugendlichen bezeichnete den Umgang auf Station als gar nicht fair und verständnisvoll. Für die Skala respektvolle Behandlung während des stationären Aufenthaltes zeigen sich zwei signifikante Haupteffekte. Einerseits gaben die über 14-jährigen an, respektvoller behandelt zu werden als die unter 14-jährigen (F = 6,088; p = .015), andererseits bewerteten die männlichen Patienten den Umgang auf Station fairer und gerechter als die Mädchen (F = 4,482; p = .037). Ergebnisse auf Itemniveau Die beiden geschilderten Haupteffekte spiegeln sich folgendermaßen im Antwortverhalten der Patienten wider: 51 % der Jugendlichen gegenüber 44 % der Kinder fühlten sich fair behandelt und – besonders gravierend – fast die Hälfte der unter 14-jährigen hatte das Gefühl, ihre Meinung sei für das Behandlerteam nicht von Interesse. Diese subjektiv wahrgenommene Nichtberücksichtigung der eigenen Ansichten wurde demgegenüber von nur 13 % der Jugendlichen geschildert. Wie drückt sich der Geschlechtseffekt in der Beantwortung der Fragen aus? Jeweils etwa die Hälfte der Jungen gegenüber 1/3 der Mädchen fühlte sich beispielsweise verstanden und fair behandelt. Und auch in der Zufriedenheit mit der Art und Weise, wie Entscheidungen gefällt werden, lagen die Jungen mit 43 % deutlich über den Mädchen mit 34 %. Folgende Gründe wurden für die eigene Unzufriedenheit mit den Entscheidungsmodalitäten angeführt: »Man macht Termine, die ich dann 10 Minuten vorher erfahre – das finde ich doof«, »meistens wird über unsere Köpfe hinweg entschieden«, »Entscheidungen werden in der Gruppe gemacht, ich muss mich der Mehrheit beugen – das ist nicht immer lustig«, »Ich würde auch gerne wissen, was sie entscheiden«, »Die Ärzte können immer entscheiden und Punkte abziehen, auch wenn nichts war«, »Vieles regeln Schwestern und Ärzte, Kinder dürfen nicht entscheiden: entweder das oder gar nichts«
9.3.3.6 Partizipationsbedürfnisse während der Behandlung Auch für den zweiten Messzeitpunkt ließ sich die a priori vorgenommene Trennung von Informations- und Partizipationsbedürfnissen wie bereits beschrieben nicht bestätigen. Auf Einzelitemebene zeigt sich, dass vier Wochen nach Behandlungsbeginn der Großteil der Patienten (61,5 %) ein Interesse daran hatte, an Behandlungsent-
Deskriptive Ergebnisse
199
scheidungen beteiligt zu werden (»Wer sollte entscheiden, wie ein Kind/Jugendlicher behandelt wird?«) – und zwar unabhängig vom Alter, vom Geschlecht oder der Art der Störung. Etwa 32 % negierten jegliches Bedürfnis nach Partizipation, 6,4 % wünschten, alleine über die Behandlung zu entscheiden. Hinsichtlich des Bedürfnisses nach Teilhabe an Arztgesprächen, das von insgesamt etwa 51 % geäußert wird, ergab sich – anders als bei den Entscheidungsbedürfnissen – ein Wechselwirkungsmuster zwischen dem Alter und der Art der Störung (F = 3,920; p = .051) sowie zwischen dem Geschlecht und der Art der Störung (F = 5,529; p = .021). Während bei den Jugendlichen die Art der Störung kaum eine Rolle in Hinblick auf ihr Partizipationsbedürfnis spielte, war das Bedürfnis nach Teilhabe an Gesprächen bei den unter 14-jährigen expansiv gestörten Patienten signifikant größer als bei den unter 14-jährigen introversiv gestörten Patienten (Abb. 17 links). Für die Wechselwirkung mit dem Geschlecht ergibt sich ein anderes Bild. Der differenzierende Effekt der Art der Störung trat hier nur bei den Mädchen auf: Mädchen mit introversiven Störungen bekundeten das größte Missfallen bei Ausschluss aus Gesprächen, Mädchen mit expansiven Störungen das geringste (Abb. 17 rechts). Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?
Wenn du bei Gesprächen nicht dabei bist, wie findest du das?
N = 106
N = 106
sehr schlecht
introversive Störung expansive Störung
introversive Störung expansive Störung
< 14 Jahre
Mädchen
teils teils
sehr gut
>= 14 Jahre
Jungen
Abbildung 14: Interaktion zwischen Alter und regionaler Zugehörigkeit bezüglich des Partizipationsbedürfnisses
Für eine Beteiligung an Gesprächen zwischen Arzt und Eltern sprechen nach Angaben der Kinder und Jugendlichen folgende Gründe: »weil das meine Behandlung ist, möchte ich dabei sein – es soll keine Geheimnisse geben«, »Die könnten z. B. über Tabletten oder länger bleiben reden«, »weil ich alt genug bin und meine Mutter nicht über mich alleine bestimmen soll«, »manche Sachen sollen nicht besprochen werden, möchte ich nicht«, »weil ich dann gar nicht weiß, was mit mir passiert« Demgegenüber lehnen andere Kinder eine Beteiligung mit folgenden Begrün-
200
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
dungen ab: »manches sollte man nicht mitkriegen, als Kind macht man sich vielleicht zu viele Sorgen«, »weil meine Mutter über mich entscheidet, da muss ich nicht dabei sein, ich krieg es eh mit«, »wir müssen auch nicht alles hören«. Der Vergleich der von den Patienten wahrgenommen Entscheidungspraxis mit ihren Entscheidungsbedürfnissen über verschiedene alltägliche Entscheidungssituationen hinweg, verdeutlicht erneut, wie differenziert die befragten Kinder und Jugendlichen ihre Bewertungen vornehmen. Wir haben festgestellt, dass beispielsweise die Entscheidung, ob sie rauchen dürfen, was sie in ihrer Freizeit unternehmen oder wer ihr Zimmer betreten darf, von jeweils einem Großteil der Patienten eigenen Angaben zufolge alleine oder unter Mitbeteiligung getroffen wird. Bei diesen Entscheidungen ist jedoch der Wunsch nach Partizipation bzw. Autonomie – trotz bereits bestehender relativ weit reichender Einflussmöglichkeiten (Bsp. Freizeit) – noch größer als die wahrgenommenen Möglichkeiten. Daneben gab es Entscheidungen, bei denen sich die Mehrzahl der Patienten als fremdbestimmt erlebte und mehr Einflussmöglichkeiten wünschte, wie beispielsweise mit wem oder wie oft sie telefonieren dürfen, ob sie alleine raus gehen dürfen oder wann sie zu Bett gehen. Die Entscheidung über Medikamente (s. Abb. 18) wird den Angaben der Patienten zufolge mit wenigen Ausnahmen von anderen Personen (zu 62 % von Ärzten) getroffen. Obwohl auch hier das Bedürfnis nach Beteiligung/Autonomie mit ca. 30 % die real wahrgenommenen Möglichkeiten überstieg, ist dies eine der wenigen Entscheidungen, die die Kinder und Jugendlichen in der überwiegenden Mehrzahl anderen überlassen. Wer entscheidet ...? Wer sollte entscheiden...? ...ob du rauchen darfst ...was du in deiner Freizeit machst ...wer in dein Zimmer gehen darf
...mit wem/wie oft du telefonieren darfst ob du alleine rausgehen darfst ...wann du zu Bett gehst
...ob du Medikamente bekommst
5,3
46,7 28 36
16,8 9
48
10,4 13,2
55
12,5 7,7
7,8
70,6 87 92,8
87,5
21,6 1,9
11,1 1,85,4
9,4 3,1
69,7
7,9
22,4
55,1
76,4 79,8
57,8
5,9
36,3 43,9
10,3
45,8
46,4
7,3
46,4
69,8
17,7
12,5
Andere mit Patient Patient alleine
Abbildung 18: Selbstbeurteilte Entscheidungspraxis (links) und Entscheidungsbedürfnisse (rechts)
Deskriptive Ergebnisse
201
Partizipation an der Aufnahmeentscheidung – Immerhin 16 % aller Kinder nahmen eher wenig bis gar keine Teilhabe an der Aufnahmeentscheidung wahr, – 35,1 % fühlten sich eher bis sehr stark beteiligt, – der Großteil der Patienten (48,9 %) zeigte sich in seinem Antwortverhalten indifferent. Folgende Faktoren spielen eine Rolle bezüglich des Ausmaßes wahrgenommener Partizipation: – Alter (über 14 Jahre > unter 14 Jahre), – Intelligenz (durchschnittlich > über- und unterdurchschnittlich), – stationäre/ambulante Vorerfahrung (keine Vorerfahrung > Vorerfahrung), – Tätigkeit der Mutter (Kinder Erwerbstätiger > Kinder Arbeitsloser). – Auf deskriptiver Ebene zeigt sich, dass sich jugendliche schizophrene und persönlichkeitsgestörte Patienten häufiger als fremdbestimmt erleben als der Durchschnitt der Jugendlichen. Eine hohe Rate an Partizipation (inklusive Autonomie) erleben depressive Jugendliche (83 %). Eine vergleichsweise kleine Gruppe der Jugendlichen mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen sowie der essgestörten Patienten berichtet von autonomer Entscheidung. Partizipationsbedürfnisse zum Aufnahmezeitpunkt – Das Bedürfnis nach Partizipation und Autonomie im Hinblick auf die
Aufnahmeentscheidung steigt mit dem Alter der Patienten: 53,2 % der unter 14-jährigen äußerten den Wunsch nach Teilhabe bzw. Autonomie vs. 77,8 % der über 14-jährigen. D. h. jedoch auch, dass fast die Hälfte der Kinder und immerhin 22,4 % der Jugendlichen nicht in diese Entscheidung einbezogen werden wollen. Auffallend gering ist ferner der Wunsch nach Autonomie bei essgestörten Jugendlichen. – Die eigene Beteiligung an der Aufnahmeentscheidung wird von Jugendlichen und von Patienten der Weißenau höher bewertet als von Rostocker Patienten. – Der Wunsch nach Beteiligung an Arztgesprächen wird ebenfalls in der Weißenau häufiger geäußert als in Rostock. Freiwilligkeit während der Behandlung – 19,1 % der Patienten bezeichneten ihren Aufenthalt in der Psychiatrie vier
Wochen nach Behandlungsbeginn als eher bis sehr unfreiwillig, – 31,9 % der Kinder und Jugendlichen beschrieben ihn als eher bis sehr frei-
willig und – 49 % aller Patienten zeigten sich in ihrem Antwortverhalten indifferent.
202
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
– Jugendliche sind grundsätzlich freiwilliger in der Psychiatrie als Kinder. – Am wenigsten freiwillig in der Klinik sind unter 14-jährige Mädchen. – Bei Mädchen spielt außerdem die Art der Störung eine größere Rolle als
bei Jungen: als am freiwilligsten in der Klinik bezeichnen sich introversive Mädchen. Respektvolle und faire Behandlung während der Behandlung – 21,7 % aller Patienten fühlen sich vom Behandlungsteam eher bis sehr re-
spektvoll behandelt, – 9,1 % der Kinder und Jugendlichen bezeichnen den Umgang auf Station
als eher bis gar nicht respektvoll und fair, – der Großteil (69,2 %) zeigt sich in seinem Antwortverhalten unentschlos-
sen. – Deutliche Einflüsse üben das Alter (Jugendliche > Kinder) und das Ge-
schlecht (Jungen > Mädchen) der Patienten aus. Partizipationsbedürfnisse während der Behandlung – 61,5 % der Patienten äußern ein Bedürfnis nach Teilhabe an Behandlungs-
entscheidungen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Art der Störung. Fast 1/3 der Kinder und Jugendlichen präferiert jedoch andere Personen als Entscheidungsinstanz. – 51 % der Patienten bewerten die fehlende Teilhabe an Arztgesprächen negativ, d. h. heißt jedoch gleichzeitig: 49 % erleben mangelnde Beteiligung als gut bis sehr gut. Bei Mädchen spielt in diesem Zusammenhang die Art der Störung eine differenzierende Rolle: Mädchen mit introversiven Störungen bewerten fehlende Teilhabe am negativsten.
9.3.4 Emotionale Belastung 9.3.4.1 Emotionale Belastung durch die Aufnahmeentscheidung Ergebnisse auf Skalenniveau Wie bereits im Rahmen der Skalenbildung beschrieben, ließ sich die theoretisch formulierte Skala emotionale Belastung der Aufnahme faktorenanalytisch bestätigen. Der Mittelwert der Stichprobe für diese, aus 7 Items bestehenden Skala, lag bei 3,00 (sd = 1,02), d. h. die Aufnahme wurde durchschnittlich weder als belastend noch als nicht belastend erlebt (»teils/teils«). 20,3 % der Kinder und Jugendlichen beschrieben sich durch die Entscheidung der stationären Aufnahme eher bis sehr belastet, 2,4 % haben alle Fragen mit maximaler Belastung beantwortet.
Deskriptive Ergebnisse
203
Von den insgesamt 21,6 %, die meinten »eher nicht« bis »gar nicht« belastet zu sein, gaben 1,4 % der Patienten gar keine emotionale Belastung an. Im Rahmen der varianzanalytischen Auswertung zeigte sich weiterhin in Bezug auf die Skala emotionale Belastung ein sehr signifikanter Haupteffekt für Geschlecht, hier waren es die Jungen, die ihr Befinden positiver beurteilen (F = 10,900; p = .001). Ergebnisse auf Itemniveau Was der sich ergebende Geschlechtsunterschied inhaltlich bedeutet sowie weitere, sich auf Itemebene ergebende Informationen und Einzelergebnisse, sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Während die Hälfte der Mädchen im Zusammenhang mit der Aufnahmeentscheidung Ängste und Traurigkeit erlebten, bejahten nur 30 % der Jungen entsprechende emotionale Reaktionen (siehe Abb. 19). Unabhängig vom Geschlecht, fühlten sich ca. 40 % der Probanden aufgrund der stationären Aufnahme jedoch auch erleichtert und zufrieden, knapp 40 % der Jungen und 30 % der Mädchen waren sogar froh über ihre Aufnahme.
Als du von der Aufnahme erfahren hast, warst du da ...ängstlich?
...traurig?
Machst du dir Sorgen ...?
Mädchen
Jungen
49,6%
31,5%
49,6%
31,4%
46,8%
34,2%
Abbildung 19: Ausmaß der Zustimmung zu ausgewählten Items der Skala Emotionale Belastung der Aufnahme
Auf die Frage: »Hast du die Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie als belastend erlebt?«, die ebenfalls in der Skala emotionale Belastung enthalten ist, antwortete die Hälfte aller Patienten (N = 139) mit teilweise bis sehr stark belastet (¼ der Probanden stimmten der Frage sehr zu). Welche konkreten Belastungen von diesen 139 Patienten erlebt wurden, haben wir anhand einer offenen Frage eruiert. Abbildung 20 gibt einen Überblick über die Nennungen, die inhaltlich geordnet und zu Kategorien zusammengefasst wurden, wobei aus Gründen der Übersicht nur die Kategorien, die von mindestens 5 % der Probanden genannt wurden, aufgeführt sind.
204
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Was war bei deiner Aufnahme belastend? N = 139 Häufigkeit der Nennung in % (Mehrfachnennungen)
Trennung und Heimweh Unstellung und Ungewißheit Fremde Menschen Aufnahme gegen Willen Sanktionen u. Eingesperrtsein Aufregung u. Streß vorher Reden müssen Plötzlichkeit 0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
% keine Angaben = 13 nicht zutreffend =146 (Aufnahme war nicht belastend)
Abbildung 20: Belastungen bei der Aufnahme aus Patientensicht
Mit 30 % die insgesamt am häufigsten genannte Belastung war aus Sicht der Kinder und Jugendlichen die erfolgte Trennung von Familie und Freunden und das damit verbundene Heimweh – Bspl.: »dass Mama dann wieder weg ist«, »es ist schwer, sich von zu Hause zu trennen«, »weil ich dann meine Kumpels vermisse«. Signifikante Alterseffekte (χ² = 4,283; p = .035) verdeutlichen darüber hinaus, dass sich Kinder (40 % Nennungen) von dieser Belastung häufiger betroffen fühlten als Jugendliche (23 % Nennungen). Die Umstellung auf die neue, ungewohnte Umgebung sowie die Ungewissheit insgesamt wurde von insgesamt 22 % der Patienten als ein weiterer Belastungsfaktor genannt – Bspl.: »weil alles neu ist«, »es ist alles ganz anders als zu Hause«, »"ich weiß gar nicht, was vor mir steht«, wobei diese Kategorie doppelt so häufig in Rostock (30 % Nennungen) wie in der Weißenau (14 % Nennungen) genannt wurde (χ² = 5,656; p = .017). Auch die Konfrontation mit Mitpatienten und Klinikpersonal, insgesamt von 17 % genannt, sahen die Patienten in Rostock (26 % Nennungen) signifikant häufiger als eine Belastung an als Patienten der Weißenau (9 % Nennungen) (χ² = 7,895: p = .005) – Bspl.: »weil ich Angst hatte, dass die Kinder mich nicht mögen«, »weil ich da niemanden kannte, da musste man sich ja auch erst an die anderen gewöhnen«. Belastend aus Sicht der Patienten war weiterhin (10 % Nennungen), dass die Aufnahme gegen den eigenen Willen erfolgte – Bspl.: »weil ich gar nicht so möchte, dass ich hier bin« »weil ich gezwungen wurde« – was in der Weißenau (14 %) häufiger als in Rostock (4 %) angegeben wurde (χ² = 3,833; p = .05). Einschrän-
205
Deskriptive Ergebnisse
kungen durch Stationsregeln, insbesondere bezogen auf freien Bewegungsspielraum, wurden ebenso als belastend erlebt – Bspl.: »hier ist es, wie ein Käfig«, »weil ich mir hier wie im Knast vorkomme«, »weil man hier mit mir machen kann, was man will« »habe wenig Rechte« und wurden von den Rostocker Patienten (15 % Nennungen) häufiger thematisiert als in der Weißenau (4 % Nennungen) (χ² = 4,5, p = .034). Stress und Aufregung allgemein war ein weiterer Aspekt, den die Probanden, insbesondere in Rostock (χ² = 5,173; p = .023) als belastend empfanden (13 % Rostock vs. 3 % Weißenau) – Bspl.: »war zu viel Hektik«, »ich war aufgeregt«, wie auch die Aufnahmegespräche, mit 7 % Nennungen, zum Teil als quälend erlebt wurden – Bspl.: »alles immer wieder erzählen«, »bei der Aufnahme dachte ich, ich werde ausgefragt«, »zugelabert mit Fachausdrücken von Doktoren«. Weitere 8 Patienten der Weißenau nannten den Umstand: »dass es so plötzlich ging, das ich einen Platz bekam« als unangenehmen Faktor. Antworten, die von weniger als 5 % der Patienten genannt wurden, sind Skepsis gegenüber den Mitpatienten (2,1 %) – Bspl.: »weil ich gemerkt habe, dass mit den anderen Patienten in der Klinik was nicht stimmt, manche sind total weg«, lange Wartezeit bei der Aufnahme (2,7 %) – Bspl.: »weil man mich ziemlich lange sitzen gelassen hat«, Behandlungsängste (4,1 %), Angst vor stigmatisierenden Reaktionen der Umwelt (1,4 %) sowie Verpassen von Schulstoff (2,7 %) Ein weiteres, in der Skala emotionale Belastung enthaltenes Item war die Frage: »Machst du dir Sorgen über das, was während deiner Behandlung auf dich zu-
Inhalte der Sorgen N = 152 (Mehrfachnennungen in %)
Behandlung Dauer Zukunft Mitpatienten Einschränkungen Klischees weiß nicht = 4; keine Angaben = 10; nicht zutreffend = 132 (da keine Sorgen)
0
10
Abbildung 21: Inhalte der Sorgen minderjähriger Patienten
20
30 %
40
50
206
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
kommt?« Auf die bevorstehende Behandlung gerichtete Sorgen wurden von knapp der Hälfte der Mädchen und von 35 % der männlichen Patienten berichtet. Welche Sorgen dies konkret waren, haben wir diejenigen Patienten, die Sorgen zumindest teilweise bis sehr bejahten (N = 152), gefragt. Die zu Kategorien geordneten Antworten, geben die Hauptinhalte der Sorgen wieder, abgebildet sind wiederum nur diejenigen Kategorien mit mindestens 5 % Nennungen. An erster Stelle, mit 40 % Nennungen, standen dabei Befürchtungen, die sich auf die bevorstehende psychiatrische Behandlung richteten – Bspl.: »dass ich ganz viele Spritzen bekomme«, »ob ich hier geheilt werden kann, einige Ärzte haben das schon versucht«, »was dort überhaupt passiert, was auf mich zukommt, was man hier macht«, gefolgt von Sorgen über eine mögliche lange Dauer des stationären Aufenthaltes – Bspl: »dass sie mich ewig hier behalten«, »wie lange die mich einsperren wollen«. Sorgen bezogen sich auch auf die Zeit nach der Psychiatrie, auf die Zukunft allgemein (»wie es danach ist, wenn ich hier weg bin«), aber auch auf mögliche negative Konsequenzen der Behandlung bezüglich Schule und Freundeskreis – Bspl.: »was hinterher ist, z. B. mit der Schule oder allgemein, wird getratscht«, »das die das in der Schule rauskriegen, dann kommt – du bis in Gehlsheim gewesen, du hast einen IQ wie eine Toaststulle –«, wobei diese Besorgnisse signifikant häufiger von Jugendlichen (40 %) als von Kindern (5 %) (χ² = 13,59; p = .000) thematisiert wurden. Die Gestaltung des Kontaktes zu den Mitpatienten war eine weitere Sorge, die von den Patienten geäußert wurde – Bspl.: »dass sie mich ärgern, hauen, dass sie mich anbrüllen«, »dass die mich nicht nehmen, wie ich bin, dass ich Außenseiter und alleine bin«. Befürchtet wurden auch, insbesondere von den unter 14-jährigen (15 % Kinder 3 % Jugendlichen; χ² = 6,882; p = .009), Einschränkungen hinsichtlich Kontaktmöglichkeiten – Bspl.: »dass ich meine Eltern nicht mehr sehe«, »dass ich am Wochenende nicht nach hause kann« sowie ein Entzug von Freiheiten allgemein – Bspl.: »ob man hier Freiraum hat, was passiert, wenn ich etwas falsch mache«. Schließlich nannten 7 % der Patienten in der Kategorie Klischees zusammengefasste unrealistische Befürchtungen darüber, »dass man ruhig gestellt wird«, »wird man vielleicht geschlagen?«, »dass man gesund rein kommt und krank wieder raus«. Keine Unterschiede ergaben sich innerhalb der einzelnen Kategorien bezüglich regionaler Zugehörigkeit, Störungsart und Geschlecht.
9.3.4.2 Patienten-Vorschläge zur Reduktion von Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme Anhand der offenen Frage »Was würde aus deiner Sicht die Aufnahme in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie erleichtern – wie müsste es sein, damit Kinder und Jugendliche freiwillig hierher kommen?« sollten konkrete belastungsreduzierende
Deskriptive Ergebnisse
207
Was würde deiner Meinung nach die Aufnahme erleichtern? N = 208 Häufigkeit der Nennung in % (Mehrfachnennungen)
mehr Aufklärung über Psychiatrie Anstalt schöner Ruf der Psychiatrie verbessern mehr Freizeitangebote mehr Ausgang nette Kinder, gutes Klima freundliches Personal mehr Freiheiten bessere Kontaktregelungen (Besuch, Telefon) ist gut so das geht nicht/nichts
0 keine Angaben = 13 weiß nicht = 77
5
10
15
20
%
Abbildung 22: Prozentuale Häufigkeiten der »Aufnahmeerleichterungsgründe«
Vorschläge der minderjährigen Patienten aufgegriffen werden. Die Antworten der Kinder und Jugendlichen, die zum Teil verschiedene Aspekte umfassten, wurden zu Kategorien zusammengefasst, Mehrfachnennungen waren demnach möglich. In die Abbildung aufgenommen wurden aus Gründen der Übersichtlichkeit nur diejenigen Kategorien, die von wenigstens 5 % der Patienten genannt wurden. Insgesamt mehr Aufklärung über die Psychiatrie wurde mit 16 % am häufigsten als entlastender Faktor von den Patienten benannt. Im Einzelnen forderten die Kinder und Jugendlichen folgendes: »mehr erklären, was passiert, wie der Tagesablauf ist. Die Ärzte sollen mehr zeigen, deutlich machen, dass sie helfen wollen . . .«, »genaue Informationen, was einen hier erwartet«, »ein genaues Bild sollte einem gegeben werden, wie es hier aussieht, was abläuft . . .«, »Sie sollten, bevor sie in die Klinik kommen, mal die Klinik anschauen und sehen, wie die Jugendlichen da leben«, »vielleicht ein klärendes Gespräch, was gemacht wird und wie, um die Angst zu nehmen«, »mehr erklären, wie es hier ist – man wird hier nicht eingesperrt«, »wenn man sich die Psychiatrie zuerst 1–2 Tage anschauen könnte, bevor man richtig aufgenommen wird«, »wenn andere Patienten einem alles zeigen würden«, »erst mal auf Probe – ohne Gespräche oder Therapie«. Gemessen an der Häufigkeit der Nennungen scheint die Informationsvermittlung für Patienten mit introversiven Störungen wichtiger als für expansiv gestörte Patienten (21,9 % vs. 11,6 %; χ² = 3,769; p = .052).
208
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Eine Erleichterung der Aufnahme durch die Verschönerung des Geländes, des Gebäudes und der Zimmer nannten 12,5 % der Patienten: »die Zimmer sind zu klein, die Schränke auf dem Flur, da kann jeder reingucken«, »Zimmer schöner und größer«, »bessere Betten«, »vielleicht sollte es nicht so baufällig aussehen, es sieht nicht besonders Vertrauen erweckend aus«, »eine bessere Lage der Klinik, nicht so weit draußen. Damit man sich nicht so abgeschoben fühlt.« Signifikant häufiger wurde dieser Wunsch mit ca. 22 % von den Rostocker Patienten genannt, im Vergleich zu 4 % der Weißenauer Kinder und Jugendlichen (χ² = 15,050; p = .000). Weitere 12 % plädierten für die Verbesserung des Ansehens der Psychiatrie in der Gesellschaft, wobei signifikant mehr Antworten von Jugendlichen (18,5 %) als von Kindern (2,4 %) in diese Kategorie fielen (χ² = 12,378; p = .000). Befürchtet wurde in diesem Zusammenhang beispielsweise: »Psychiatrie ist negativ behaftet, die Vorstellung in der Gesellschaft müsste sich ändern«, »Wer das hört, denkt an Verrückte. Man könnte raus gehen, das Vorurteil abzubauen«, »Wenn nicht überall bei dem Wort Psychiatrie das Wort Verrückte fallen würde, wäre es nicht so schlimm«, »Allein das Wort Psychiatrie ist schon schrecklich«. Tendenziell häufiger genannt wurde dieser Wunsch ferner in der Weißenau, jedoch nur in der Gruppe der über 14-jährigen (Rostock: 11,3 % – Weißenau: 23,9 %; χ² = 3,201; p = .074). Kinder aus Ost und West unterschieden sich in ihrer Sorge um den Ruf der Psychiatrie nicht signifikant voneinander. Vor allem für die unter 14-jährigen Patienten würde die Aufnahme in die Klinik durch das Angebot von abwechslungsreichen Freizeitmöglichkeiten erheblich erleichtert werden: »Es müsste besser als zu Hause sein, ins Kino gehen, was unternehmen«, »mehr Sport machen, Fußball oder so«, »bei kleinen Kindern Spielzeug unter dem Bett, für Ältere Zeitungen« (χ² = 3,630; p = .057). Ein interessantes Freizeitangebot wurde darüber hinaus von Rostocker Patienten häufiger als die Aufnahme erleichternd beschrieben als von Weißenauer Patienten (16,7 % vs. 6,6 %; χ² = 5,157; p = .023), wobei sich Kinder aus Rostock und der Weißenau in ihrer Einschätzung mehr ähnelten als die Jugendlichen. Die Kategorie »mehr Ausgang«, die von insgesamt 11,5 % der Patienten genannt wurde, umfasst Aussagen wie beispielsweise »dass man mehr alleine raus darf«, »man sollte auf dem Gelände frei rumlaufen können«, »auch mal ohne Begleitung irgendwo hingehen können«. Signifikant häufiger fanden wir diesbezügliche Äußerungen bei den expansiv gestörten Patienten mit 18,9 % der Nennungen, gegenüber 5,7 % der Nennungen bei den introversiv gestörten Patienten (χ² = 8,271; p = .004). Auch ein insgesamt freundlicheres Klima würde den Angaben der Kinder und Jugendlichen zufolge den Behandlungsbeginn erleichtern: zum einen unter den Mitpatienten (10 % der Nennungen): »Da müssten liebe Kinder da sein«, »Wenn die Kinder freundlicher wären« – zum anderen bezogen auf das Personal (8,7 %
Deskriptive Ergebnisse
209
der Nennungen): »nicht ständig rum meckern«, »Wenn die Betreuer nicht so streng wären«, »Ärzte und Schwestern müssten ein bisschen netter sein«. Der Wunsch nach freundlicherem Personal geht vor allem auf die unter 14-jährigen Patienten zurück (15 % der Nennungen, im Vergleich zu 4 % der über 14-jährigen; χ² = 8,296; p = .004). Ganz allgemein mehr Freiheiten und weniger strenge Regeln würden 8,2 % der Patienten die Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie erleichtern. Eine bessere Kontaktregelung, die von insgesamt 7,7 % der Kinder und Jugendlichen thematisiert wurde, bezieht sich einerseits darauf »dass man telefonieren kann, mit wem man will« oder auf »Handys auf Station« andererseits auf »mehr Besuchszeiten«, »wenn Freunde von mir hier wären, mich besuchen könnten vor 6 Uhr abends« oder »wenn die Eltern einen jeden zweiten Tag besuchen würden«. Insgesamt 6 % der Patienten zeigten sich mit der gegenwärtigen Situation einverstanden und würden alles so lassen, wie es ist (»Ist so, dass man hier gerne herkommt«, »Ich fand es richtig gut. Als ich kam, waren alle freundlich, der Zimmergenosse hat mir alles gezeigt«). Der Vergleich der Rostocker und Weißenauer Stichprobe zeigt, dass diese Haltung fast ausschließlich auf die Patienten der Rostocker Klinik zurückzuführen ist (12,7 % vs. 0,9 %; χ² = 11,533; p = .001), wobei die Unterschiede erneut zwischen den Jugendlichen größer sind als zwischen den Kindern. Kritisch bezüglich einer Verbesserung der Aufnahme äußerten sich darüber hinaus 6 % der Kinder und Jugendlichen mit folgenden Begründungen: »Da kann man nichts machen, weil niemand aus seiner sozialen Umgebung raus will«, »Ich glaube das geht gar nicht, man kommt hier her um Probleme zu bewältigen und wird mit diesen konfrontiert. Würde man alles so gestalten, dass es dem Patienten gefällt, würde er es nur zu leicht haben und es würde nichts helfen«, »Hier wird keiner freiwillig her kommen«. Antworten, die von weniger als 5 % der Kinder und Jugendlichen genannt wurden und damit nicht in der Abbildung enthalten sind, bezogen sich auf den Umgang mit Essen und Trinken (4,3 % – »Es ist schlimm, dass man keine Getränke mit aufs Zimmer nehmen kann«, »Sie sollen einem nicht die Naschsachen wegnehmen«), auf allgemein mehr Mitsprache- und Entscheidungsrechte (4,3 % – »dass man zu nichts gezwungen wird, was man nicht möchte«, »dass man entscheiden kann, wann man kommt«), aber auch auf mehr Privatsphäre (3,8 % – »dass man nicht überall kontrolliert wird«, »die Klinik sollte respektieren, dass Eltern nicht alle Infos erhalten dürfen«, »es ist zu eng, keine Privatsphäre, nicht mal auf Klo«). 2,9 % der Patienten dachten, die Möglichkeit, »auch wieder gehen zu können, wenn sie wollen« oder »wenn man den Druck lässt« könnte die Aufnahme in die Klinik erleichtern. Jeweils 2,4 % der Kinder und Jugendlichen sahen »gutes Fernsehprogramm«, »länger Fernsehen« bzw. »später schlafen gehen« oder
210
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
»morgens netter aufwecken« als einen weiteren Weg, Kinder und Jugendliche freiwillig in die Psychiatrie zu bringen. Antworten, die nur vereinzelt genannt wurden und sich keiner der beschriebenen Kategorien zuordnen ließen, wurden in einer Restkategorie zusammengefasst. Insgesamt 9,1 % der Nennungen fielen in diese Kategorie, beispielsweise Äußerungen wie »Jungs und Mädchen getrennt und nur bei Therapien und Unterhaltung zusammen«, »dass man nur 2–3 Wochen bleiben muss«, »bei der Aufnahme sollten nicht so viele Personen dabei sein«, »die bohrenden Fragen nerven«. 9.3.4.3 Befürchteter Schaden durch die stationäre Behandlung 10,7 % der Kinder und Jugendlichen waren zum Zeitpunkt der Aufnahme der Meinung, der stationäre Aufenthalt in der Psychiatrie könnte ihnen schaden, weitere 9,1 % waren sich dessen unsicher. Demzufolge befürchteten insgesamt etwa 20 % der Patienten (N = 59) zumindest teilweise negative Auswirkungen durch den Aufenthalt in der Psychiatrie. 44 Kinder und Jugendliche konnten ihre Befürchtungen begründen, wie sie diese negative Erwartung erklären, zeigt die Abbildung 23. Es handelt sich dabei um Mehrfachnennungen, die Antworten wurden inhaltlich geordnet und zu Kategorien zusammengefasst.
Warum glaubst du, könnte dir der Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie schaden? N = 44 Häufigkeit der Nennung in % (Mehrfachnennungen) Verschlechterung des Zustandes
negativer Einfluß durch Mitpatienten
Freiheitseinschränkung
Stigmatisierungsängste, Verlust von Freunden
Heimweh
neg. Folgen für Schule/Zukunft
0
5
10
15
% nicht zutreffend = 239 (Aufenthalt schadet nicht)
keine Angaben = 14
Abbildung 23: Prozentuale Häufigkeiten der Inhalte der Sorgen
weiß nicht = 1
20
25
Deskriptive Ergebnisse
211
Ganz allgemein eine Verschlechterung ihres Zustandes oder eine Zuspitzung ihrer Probleme durch den Aufenthalt befürchteten 22,7 % der 44 Patienten, die die Frage nach möglichem Schaden durch die Psychiatrie bejahten: »Ich komme hier normal rein und gestört wieder raus«, »dass ich mir wegen der Psychiatrie einrede, nicht normal zu sein«, »ich dreh hier nur noch mehr durch«, »es könnte sein, dass ich hier verrückt werde«. Durch den Umgang mit anderen Patienten negativ beeinflusst zu werden, vermuteten 20,5 % der Befragten, wobei diese Sorge lediglich von den Jugendlichen thematisiert wurde: »vielleicht könnte ich von einigen was abgucken«, »weil ich hier von anderen mit in ihre Probleme rein gezogen werde, die anderen stecken mich so ein bisschen an«, »weil das Verhalten derjenigen Patienten, die schwere psychische Probleme haben, auf mich abfärben könnte«, »einige ritzen sich da auch ganz schön, ich habe Angst, dass ich zurückfalle und noch schlimmer anfange«. Von den sieben Patienten (15,9 %), die negative Folgen durch die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit erwarteten, stammten fünf aus der Rostocker Klinik, nur zwei aus der Weißenau. Darüber hinaus glaubten Patienten mit expansiven Störungen (26,1 %) häufiger als Patienten mit introversiven Störungen (5 %) durch die Freiheitseinschränkungen Schaden zu nehmen: »durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit könnte ich wirklich kollabieren«, »ich kann es nicht ab, eingesperrt zu sein«, »weil ich in einer schwierigen Situation bin und es dann nicht ertrage, gefangen zu sein . . . und die Unsicherheit, ob ich wieder raus komme, weil ich nicht raus darf – nur ein Telefonat am Tag«, »hier wird man irr, weil man nicht raus darf«. Eine weitere Befürchtung, die von insgesamt 13,6 % vor allem jugendlichen Patienten geäußert wurde, bezieht sich auf negative Reaktionen des Umfeldes und wurde folgendermaßen begründet: »es könnte den Umgang mit meinen Freunden verschlechtern, weil sie Vorurteile haben«, »in der Schule wird man von den Lehrern anders behandelt«, »weil ich den Einfluss in Güstrow (Heimatort) verliere und von vorne anfangen muss, wenn ich wieder komme«, »weil mein Freund mich verlassen könnte und das schadet mir, mir würde es schlechter gehen«. Schaden durch die Trennung von zu Hause (». . . dass die Beziehung zu meinen Eltern schlechter wird, weil ich sie nur zweimal die Woche sehe«, »ich habe jetzt eine gute Beziehung zu meiner Mutter, vielleicht verschlechtert sich das«, »ich halte es hier nicht aus, die ganze Zeit Heimweh zu haben«) wurde von ebenfalls 13,6 % der Kinder und Jugendlichen befürchtet. Vier Patienten – ausschließlich Mädchen – sorgten sich ferner um ihre Zukunft ». . . vor allem schulisch, ich war sehr lange krank und habe sehr wenig Zensuren«, »es könnte für meine Zukunft schlecht sein«, »bei der späteren Arbeitssuche könnte es Schwierigkeiten deswegen geben«. In einer weiteren Restkategorie, die nicht in die Abbildung aufgenommen wur-
212
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
de, wurden Antworten zusammengefasst, die sich den anderen inhaltlichen Kategorien nicht zuordnen ließen (N = 8). Durch Medikamente geschädigt werden zu können, befürchteten beispielsweise zwei der Kinder und Jugendlichen. »Dass man mir nicht alles erklärt hier, was man machen muss und so« oder »ich habe Angst, ins Heim zu kommen hinterher« waren weitere Sorgen der Patienten zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.
9.3.4.4 Effekte von soziodemografischen Faktoren, Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie IQ auf die Skala Emotionale Belastung der Aufnahme Zur Beantwortung der Frage, inwieweit soziodemografische Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, gegenwärtige Erwerbstätigkeit), Vorerfahrungen des Patienten mit Psychiatrie bzw. Psychotherapie sowie intellektueller Status des Kindes Einfluss auf die emotionale Belastung in Bezug auf die Aufnahme haben, wurden entsprechend dem bereits beschriebenen Vorgehen einfaktorielle Varianzanalysen durchgeführt. Für die abhängige Variable »Emotionale Belastung« ergab die Durchführung mehrerer einfaktorieller Varianzanalysen einen signifikanten Haupteffekt in Bezug auf die unabhängige Variable Erwerbstätigkeit der Mutter (F = 3,258, p = .04). Nachträgliche Scheffé-Tests zeigten, dass sich Patienten arbeitsloser Mütter (17 % arbeitslose Mütter in Rostock, 2 % in der Weißenau) signifikant stärker belastet fühlten, als Kinder erwerbstätiger Mütter und tendenziell mehr als Kinder nichterwerbstätiger Mütter. Auch dieses Ergebnis betrifft wiederum vorwiegend die Rostocker Stichprobe. Tabelle 57: Effekte einzelner unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable »Emotionale Belastung« Unabhängige Variable Stationäre/ambulante Vorerfahrung
F
p
,861
.354
IQ
1,700
.185
Erwerbstätigkeit Mutter
3,258
.040
Schichtzugehörigkeit der Mutter
1,102
.334
Schulbildung der Mutter
0,113
.893
9.3.4.5 Emotionale Belastung während der Behandlung Ergebnisse auf Skalenniveau Der Mittelwert der Skala emotionale Belastung während der Behandlung lag bei 15,4, was einer durchschnittlichen Beantwortung zwischen »teils teils« und »eher
Deskriptive Ergebnisse
213
Skala Emotionale Belastung während der Behandlung N = 105
30 introversiv expansiv
26 22 18 14 10 6 =14 Jahre
Abbildung 24: Interaktion der Art der Störung mit dem Alter
keine Belastung« entsprach. 34,5 % der Patienten fühlten sich »eher nicht« bis »gar nicht« belastet, wobei 3,6 % alle Fragen nach Belastung gänzlich verneinten. Demgegenüber waren es nur 9 % der Patienten, die sich während der Behandlung »eher belastet« bis »sehr belastet« fühlten, wobei nur 1 Patient auf alle Fragen in Richtung höchster Belastung antwortete. Im Rahmen von 3-Weg-Varianzanalysen wurden die Einflüsse von Alter (jünger als 14 Jahre vs. älter als 14), Geschlecht sowie Störungsgruppe (expansive vs. introversive Störungen) untersucht. Demnach wurde das emotionale Befinden vier Wochen nach der stationären Aufnahme von den Jungen wiederum signifikant positiver bewertet als von den Mädchen (F = 4,968; p = .028). Bezüglich der Art der Störung zeigte sich eine interessante Interaktion mit dem Alter. Für Patienten mit expansiven Störungen spielte demnach das Alter keine Rolle im Hinblick auf ihre Belastungseinschätzung. Während jedoch die unter 14-jährigen Patienten mit introversiven Störungen die geringste Belastung angaben, äußerten sich die über 14-jährigen Patienten mit introversiven Störungen am negativsten über ihr Befinden (F = 5,265; p = .024). Ergebnisse auf Itemniveau Weiteren inhaltlichen Aufschluss über die Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten auf der Belastungsskala liefert Abbildung 25 (links). Demzufolge fühlten sich etwa doppelt so viele Mädchen wie Jungen bei der Beurteilung der vergangenen Woche auf Station traurig – immerhin 50 % – und etwa 40 % der Mädchen gegenüber ca. 30 % der Jungen schilderten Gefühle von Einsamkeit. In der Beschreibung des Ausmaßes des Angsterlebens, das im Vergleich
214
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Warst du in der vergangenene Woche... Mädchen
...traurig?
...einsam?
...ängstlich?
50%
Jungen
26,5%
38,3%
19,1%
27,9%
16,2%
>14 Jahre/introversiv