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German Pages [817] Year 2018
Helmut Remschmidt
Kontinuität und Innovation Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Mit 57 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0831-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Das Titelbild (Entwurf Christel Mþller, UniversitÐtsklinikum Marburg) zeigt drei Entwicklungsetappen der Klinik fþr Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-UniversitÐt: die 1947 eingerichtete Kinderstation, den 1958 fertiggestellten Neubau mit den Stationen und der Schule und die 1984 in Betrieb genommene Tagesklinik. Die Uhr am Marburger Schlo ß symbolisiert die zeitliche Dimension.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . 1.3 Die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . 1.4 Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . 1.5 Wechselbeziehungen zwischen der deutschen (DGKJP), der europäischen (ESCAP) und der internationalen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (IACAPAP) . . . . . . . . . . . 1.6 Anmerkungen zur Gründung der ersten kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Organisatorische und berufspolitische Perspektiven . . . . . . 1.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg. 2.1 Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie (1920–1945) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gründung einer eigenen Kinderstation in der Nervenklinik 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 63 65 66 69 72 75 76 91 96 220 232
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Inhalt
3. Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gründungsgeschichte der Erziehungsberatungsstelle (1950–1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ausbau und Weiterentwicklung der Erziehungsberatungsstelle (1960–1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Neue Aufgaben und Herausforderungen (1980–2000) . . . . . 3.4 Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel in der Zusammensetzung des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einrichtung des Lehrstuhls und Bau einer eigenständigen Klinik 4.1 Einrichtung eines Extraordinariates für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg . . . 4.2 Fertigstellung des Klinikneubaus (1958) . . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Die Klinikschule: Von den Sonderschulklassen zur Schule für Kranke am Klinikum (Edgar Sachse) . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Gründungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Ausgestaltungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Entwicklung der Schülerzahlen . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Lehrkräfte der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Schulleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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291 292 298 305 307 309 314
6. Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims 6.1 Gründung der Lebenshilfe . . . . . . . . . . . 6.2 Kerstin-Heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . .
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315 315 323 328
7. Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kooperationsnetzwerk mit anderen Institutionen . . . . . . . . . 7.1 Kooperationen innerhalb der Universität . . . . . . . . . . . . . 7.2 Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb der Universität . . 7.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331 331 335 338
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Inhalt
8. Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige Facharztdisziplin und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Einrichtung eigener Kinderabteilungen an psychiatrischen Kliniken und Kinderkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ablösung von der Pädagogik und Heilpädagogik und Hinwendung zur Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Herauslösung aus der Psychiatrie und Pädiatrie . . . . . . . . . 8.4 Der Einfluss von Lehrbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Wie es weiterging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339 340 341 342 346 348 354
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355 355 358 372 387
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389 393 398 410
11. Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1980–2006 11.1 Wesentliche Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Krankenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Entwicklung eines umfassenden Versorgungsmodells für psychisch kranke Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . 11.3 Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1983–2006 . . . . . . 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12. Entwicklungen in der Forschung . . . . . . . . . . . . 12.1 Konzeption und Struktur der Forschungseinheit 12.2 Forschungsschwerpunkte und Projekte . . . . . . 12.3 Mitarbeiter in der Forschung . . . . . . . . . . . 12.4 Ausgewählte Forschungsergebnisse . . . . . . . . 12.5 Drittmittelförderung der Forschung . . . . . . . 12.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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427 427 428 430 431 451 452
9. Unruhige Jahre (1968–1980) . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die 1968-er Bewegung und ihre Folgen . . . . . . . 9.2 Die Hochschulreformen in Hessen . . . . . . . . . 9.3 Die Politisierung der Philipps-Universität Marburg 9.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10. Wechsel der Klinikleitung und neue Initiativen (1980) . . . . . . 10.1 Die Berufung von Helmut Remschmidt zum Nachfolger von Hermann Stutte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Veränderung und Erweiterung der Kliniksstruktur . . . . . 10.3 Neue Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
13. Entwicklungen in der Lehre, der Aus-, Weiter- und Fortbildung . . 13.1 Unterricht für Studierende verschiedener Fachrichtungen . . 13.2 Unterricht für Angehörige von Krankenpflegeberufen und pädagogische Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Unterricht für Logopäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Facharztweiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Aus- und Weiterbildungseinrichtungen in der Psychotherapie 13.6 Das Forensische Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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453 454
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457 459 460 460 477 480
14. Weiterentwicklung der Klinik im Zeitraum von 2006 bis 2017 (Michael Haberhausen / Katja Becker) . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Änderungen im personellen und administrativen Bereich 14.2 Entwicklung in der Forschung und Lehre . . . . . . . . . 14.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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483 483 485 487
15. Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Empfang in der Klinik und im Zentrum für Nervenheilkunde 15.2 Der eigene Arbeitskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Gremienarbeit vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Tätigkeiten in wissenschaftlichen Fachgesellschaften . . . . . 15.5 Besondere Projektinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.6 Querelen und Affären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7 Atmosphärisches oder die Marburger Subkultur . . . . . . . 15.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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489 490 491 494 499 512 519 525 530
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533 537 538 539 539
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540 545
17. Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
18. Kinder- und jugendpsychiatrische Kolloquien und Nachmittage . . .
639
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16. Die Bedeutung der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Entwicklung des Faches in Deutschland, Europa und im internationalen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Tätigkeit in wissenschaftlichen Organisationen . . . . . . . 16.2 Gründungsinitiativen und Redaktionstätigkeiten . . . . . . 16.3 Initiativen in der Krankenversorgung . . . . . . . . . . . . 16.4 Initiativen in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5 Ausbildung-, Weiter- und Fortbildung, national und international . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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19. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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20. Genutzte Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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21. Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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22. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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23. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
677
24. Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A1. Bildanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A2. Schriftenverzeichnis von Werner Villinger . . . . . . . . . . . . A3. Schriftenverzeichnis von Hermann Stutte . . . . . . . . . . . . A4. Sozialpsychiatrisch orientierte Arbeiten von Hermann Stutte . A5. Tabellarische Übersicht über Daten und Ereignisse zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A6. Tabellarische Übersicht zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A7. Interview mit Professor Detlev Cabanis am 07. 08. 2008 . . . . . A8. Interview mit Professor Peter Strunk am 17. 03. 2017 . . . . . . A9. Bericht über die 18. wissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 9.–11. Mai 1983 in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A10. Bericht über den 11. Internationalen Kongreß der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP) in Hamburg, 15.–19. September 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . A11. Bericht über den 16. Weltkongress der International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP) in Berlin, 22.–26. August 2004 . . . . .
685 685 691 703 724
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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734 750 753 762
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Vorwort
Das Buch berichtet über die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg und gibt zugleich auch einen kurzen Abriss der Entwicklung dieses noch immer jungen medizinischen Fachgebietes in Europa und in der Welt. Dieser Kontext ist insofern bedeutsam, als Marburg der Ausgangspunkt für die Etablierung des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland war, was nur durch enge Kontakte zu Fachkollegen im Ausland realisiert werden konnte. Darüber hinaus haben die aus Marburg hervorgegangenen Initiativen auch die Entwicklung des Fachgebietes in Europa und im internationalen Bereich maßgeblich mitbestimmt. Die Beschreibung historischer Sachverhalte kann im Lichte unterschiedlicher Perspektiven erfolgen, von denen die drei folgenden bedenkenswert sind: »Dreifach ist der Schritt der Zeit zögernd kommt die Zukunft hergezogen pfeilschnell ist das Jetzt verflogen ewig still steht die Vergangenheit« Friedrich Schiller (1759–1805) (Friedrich Schiller : Sprüche des Konfuzius (1795), gesammelte Werke, Gedichte, Bd. 3, S. 420, Bertelsmann, Gütersloh. o. J.) »Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen« William Faulkner (1897–1962) (William Faulkner (1951) Requiem für eine Nonne. 1 Akt, 3. Szene. Zugleich erster Satz des Romans von Christa Wolf (1929–2011) »Kindheitsmuster« (1976)) »Wir verstehen Geschichte erst, wenn wir nicht die eigenen Maßstäbe anlegen, sondern die des Zeitalters, das uns beschäftigt« Christian Graf von Krockow (1927–2002) (Zitiert nach R. Lempp (1922–2012): Vortrag zum 75. Geburtstag von Friedrich Specht (1924–2010) in Göttingen, August 2000)
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Vorwort
Auch wenn die Vergangenheit, was die Daten betrifft, im Sinne Schillers »ewig still« steht, so ist sie im Bewusstsein nachfolgender Generationen vielfach weiterhin lebendig. Die Denk- und Handlungsweisen von Personen werden aber nur dann verständlich, wenn man sie aus der Perspektive jener Zeit betrachtet, in der sie gelebt haben. Darum habe ich mich in diesem Buch bemüht. Mit den Begriffen Kontinuität und Innovation sind zwei wesentliche Charakteristika der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie umschrieben. Kontinuität steht für die Nachhaltigkeit von Entwicklungen in inhaltlicher und personeller Hinsicht. Inhaltlich wurde von Anfang an ein mehrdimensionaler Untersuchungs- und Behandlungsansatz gepflegt, der stets interdisziplinär ausgerichtet war und empirischen Grundsätzen folgte. Heute nennt man dies »evidenzbasierte Medizin«. Im Hinblick auf die Forschungsthemen besteht bis heute eine selten anzutreffende Kontinuität, insofern als sich zentrale Studien (auch Langzeitstudien) auf die Schwerpunkte Dissozialität und Delinquenz, Begutachtungsfragen, Schizophrenie und Autismus-Spektrum-Störungen konzentrieren. Dies korrespondiert wiederum mit langjährigen Herausgebertätigkeiten in führenden Publikationsorganen u. a. der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Stutte von 1959 bis 1982; Remschmidt ab 1983) und der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Stutte von 1973 bis 1982; Remschmidt als Schriftleiter und Herausgeber von 1973 bis 2003). Aber auch in personeller Hinsicht bestand eine bemerkenswerte Kontinuität insofern, als die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in dem »Kernzeitraum«, über den hier berichtet wird (1946 bis 2006) nur zwei berufene Direktoren hatte1. Dieses Faktum erleichterte die nachfolgend aufgelisteten Innovations- und Gründungsinitiativen, die Marburg auch dauerhaft zu einem führenden Zentrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden ließen: – Die Gründung einer der ersten Erziehungsberatungsstellen in der Nachkriegszeit nach dem angelsächsischen Modell der Child Guidance Clinics (1952). – Die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie in der BRD (1954). – Die Gründung des Jahrbuchs für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete (1956), fortgeführt als Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie (1973) und Gründung der Zeitschrift ECAP2 (1992). – Die Gründung der Schriftenreihe »Klinische Psychologie und Psychopathologie«, ab 2000 »Klinische Psychologie und Psychiatrie« (1984–2006). 1 Abgesehen von jeweils einem Interregnum von 1979/1980 und einem weiteren im Zeitraum 2006 bis 2008, in denen PD Dr. Matthias Martin kommissarisch die Klinik geleitet hat. 2 European Child and Adolescent Psychiatry.
Vorwort
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– Die Errichtung der ersten speziell für die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendpsychiatrie erbauten Universitätsklinik (1958). – Die Mitbegründung der Lebenshilfe (1958), deren Gründungsversammlung in der neu erbauten Klinik stattfand und des Kerstinheims (1962). – Die Etablierung des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung in der einzigen von 14 Modellregionen, in der psychisch kranke Kinder und Jugendliche Schwerpunkt waren (ab 1980). – Der Bau der Tagesklinik (1984) und die Gründung des ersten mobilen kinderund jugendpsychiatrischen Dienstes in der BRD in Zusammenhang mit dem »Modellprogramm«. – Die Veranstaltung zahlreicher Kongresse, von denen nur die drei internationalen genannt seien: so der III. UEP3-Kongress in Wiesbaden (1967), der 11. ESCAP4-Kongress in Hamburg (1999) und der 16. IACAPAP5-Kongress in Berlin (2004). – Die Institutionalisierung von Weiter- und Fortbildungsaktivitäten im nationalen und internationalen Bereich und die Initiativen zur Qualifikation junger Wissenschaftler (ab 1998). Unter ihnen nehmen die internationalen Forschungsseminare einen besonderen Stellenwert ein6. Die von Marburg ausgehenden Initiativen zur Förderung junger Wissenschaftler haben dazu geführt, dass die Mehrzahl der Lehrstühle im deutschsprachigen Raum durch Kolleginnen und Kollegen besetzt werden konnte, die direkt oder indirekt mit der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie in Verbindung waren. Entsprechend meiner Ausbildung und fachlichen Orientierung (als Kinderund Jugendpsychiater, klinische Psychologe und Psychotherapeut) folgt das Buch der Vorgehensweise bei der Erhebung einer Anamnese, die stets die ganze Entwicklung in den Blick nimmt. Dies gilt sowohl für Personen als auch für Institutionen. Alles Gegenwärtige ist nur aus dem Vergangenen verständlich. Und Entwicklungsvorgänge verlaufen nicht linear, sondern weisen auch Wendepunkte (turning points) auf, die geeignet sind, der Entwicklung eine neue Richtung zu geben. Dieser Zugang zur Geschichte verbot es, eine umschriebene Etappe, z. B. die Zeit des Nationalsozialismus herauszugreifen und zum Mittelpunkt der Darstellung zu machen.7 3 4 5 6 7
Union of the European Paedopsychiatrists. European Society for Child and Adolescent Psychiatry. International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Profession. Seit 2006 tragen sie den Namen Helmut Remschmidt Research Seminar (HRRS). Die Bezeichnung Wendepunkte oder turning points wird sowohl in der Entwicklungspsychologie als auch in der Geschichtswissenschaft verwendet. Etwas vereinfacht ausgedrückt, sind turning points biographische oder historische Ereignisse, die in der persönlichen oder
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Vorwort
Gleichwohl bleibt die Involvierung der beiden Gründungsväter Werner Villinger und Hermann Stutte in der Zeit des Nationalsozialismus nicht unerwähnt. Deren NS-Aktivitäten haben sich allerdings nicht in Marburg, sondern in Tübingen ereignet, von wo beide im Jahr 1946 nach Marburg kamen. In aufwändigen Archivstudien wurde dieser Vergangenheit nachgegangen und in einem umfangreichen Kapitel dargestellt. Beide Gründungsväter waren allerdings auch diejenigen, die nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wieder Kontakt zu ausländischen Kollegen suchten. Dabei war bemerkenswert, mit welch großzügiger Geste die ausländischen Kinder- und Jugendpsychiater ihre deutschen Kollegen wieder in die internationale Fachgemeinschaft aufnahmen. Als Verfasser dieses Buches bin ich zugleich Chronist und Zeitzeuge. Als Chronist habe ich versucht, allen wichtigen Ereignissen aufgrund der Faktenund Datenlage nachzugehen. Hierfür waren vielfältige Archivrecherchen erforderlich. Darüber hinaus standen mir zahlreiche Quellen zur Verfügung, die noch nicht Eingang in das Universitätsarchiv Marburg gefunden hatten, nach Abschluss meiner Arbeiten aber diesem übergeben wurden. Als Zeitzeuge habe ich den Vorteil, die Entwicklung der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie seit Herbst 1968 bis Herbst 2008, unterbrochen durch eine fünfjährige Tätigkeit an der Freien Universität Berlin, persönlich erlebt zu haben, darunter 26 Jahre als Lehrstuhlinhaber und Direktor der Klinik. Während meiner Tätigkeit an der FU war ich fast jeden Monat wegen laufender DFG-Projekte für zwei Tage in Marburg. Insofern ist die hier vorgestellte Beschreibung auch ein Erinnerungsbuch, vor allem wenn man die vielen Personen in den Blick nimmt, mit denen ich zusammenarbeiten durfte (vgl. Kap. 17). Dies habe ich immer als ein großes Privileg empfunden. Zur Erweiterung dieser Perspektive habe ich Interviews mit zwei weiteren Zeitzeugen durchgeführt, mit Professor Detlef Cabanis (1921–2010) und mit Professor Peter Strunk (geb.1929), die vor meiner Zeit Ereignisse und Atmosphäre in der Marburger Nervenklinik und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachten und erleben konnten. Beide Interviews sind im Anhang abgedruckt. Zeitzeugen werden in der Zunft der Historiker meist kritisch gesehen. Dies charakterisierte kürzlich Wolfgang Wippermann8 in einer Podiumsdiskussion in Marburg am 22. November 1997 mit dem Satz: »Der Zeitzeuge ist der schlimmste Feind des Historikers«. In anderen Worten ausgedrückt lautet dies auch in der geschichtlichen Entwicklung Veränderungen hervorrufen, die sich signifikant vom zuvor bestehenden Zustand unterscheiden, ja ihn manchmal sogar ins Gegenteil verkehren. In der individuellen Biografie handelt es sich meist um Begegnungen mit bestimmten Personen, um neue wissenschaftliche Einsichten, religiöse Erfahrungen oder auch um Befreiungserlebnisse aus unlösbar erscheinenden Situationen. 8 Wolfgang Wippermann (geb. 1945) war Professor für neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin.
Vorwort
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so: »Geschichtsschreibung ist etwas anderes als persönliches Erinnern. Geschichte ist konstruierte Erinnerung, die auf Daten und Fakten beruht. Erinnern ist subjektiv und emotional. Die Gesellschaft und vor allem die Wissenschaft brauchen beide Formen des kulturellen Gedächtnisses, um etwas über sich selbst zu erfahren«9. Gegen die Orientierung an Daten und Fakten lässt sich natürlich nichts einwenden. Sie ist und bleibt der Maßstab der Wissenschaft. Andererseits ist sie aber nicht oder nur sehr unzureichend in der Lage, Befindlichkeiten und Atmosphärisches zu erfassen, was für den Zusammenhalt und oft auch für den Wirkungsgrad einer Gemeinschaft ausschlaggebend ist. So können faktenorientierte Veröffentlichungen nicht vermitteln, wie die Arzt-Patienten-Beziehung beschaffen ist, wie mit Kindern im Kliniksalltag und in der Behandlung umgegangen wird, wie ein Vorgesetzter sein Personal behandelt usw.. Insofern sind stets beide Zugangswege zum jeweiligen Geschehen legitim, aber auch erforderlich. Über die Zeitzeugeneigenschaft hinaus könnte mir als Nachfolger von Hermann Stutte eine einseitige Betrachtung oder gar mangelnde Objektivität vorgeworfen werden. Dem setze ich entgegen, das es ein legitimes Interesse eines jeden Hochschullehrers sein muss, nicht nur die Geschichte seines Faches, sondern auch die Biographien jener Personen zu erkunden, die diese Disziplin begründet, geprägt oder weiterentwickelt haben, auch wenn sie seine Vorgänger waren. In besonderem Maße trifft dies auf Personen zu, die in nationalsozialistische Aktivitäten involviert waren. Bezogen auf Werner Villinger und Hermann Stutte wollte ich diesbezüglich selbst alle erreichbaren Quellen auswerten und mich nicht mit den Äußerungen anderer zufrieden geben, die die Kinderund Jugendpsychiatrie nur aus schriftlichen Überlieferungen kennen und die über keine Kenntnisse darüber verfügen, wie in dieser Facharztdisziplin untersucht und behandelt wird. Dass dieses Vorgehen berechtigt war, haben meine Recherchen eindeutig bestätigt. Werner Villinger (1887–1961) habe ich persönlich nicht kennen gelernt. Ich kam erst 1968 an die Marburger Klinik. Unter Hermann Stutte (1909–1982) war ich bis zu meiner Berufung auf die o. Professur für Psychiatrie und Neurologie des Kindes- und Jugendalters an der FU Berlin im Jahr 1975 tätig und wurde 1980 sein Nachfolger. Einen Ruf an die Universität Zürich im Jahr 1985 habe ich abgelehnt. Hermann Stutte war ein überaus kenntnisreicher, großzügiger und unterstützender Chef, von dem ich viel gelernt habe. Der Aufbau des Buches folgt einem historischen Zeitraster, das mit der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie beginnt (Kapitel 1), dann die An9 A. Karrenberg 2016: Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit. Nachwort: Nervenarzt 87, Suppl. 1, S. 53.
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Vorwort
fänge der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg beschreibt, wobei auch die nationalsozialistische Vergangenheit der beiden Gründungsväter ausführlich zur Sprache kommt, anschließend die Gründung des Instituts für ÄrztlichPädagogische Jugendhilfe und der Erziehungsberatungsstelle darstellt (Kapitel 3), die eine wichtige Schrittmacherfunktion für die Entwicklung des Faches insgesamt hatte. Es folgen Kapitel über die Einrichtung des Lehrstuhls, die Gründung der Kliniksschule , die Gründung der Lebenshilfe und des Kerstinheims sowie die Position der Klinik im Kooperationsnetzwerk mit anderen Institutionen (Kapitel 4 bis 7). Von besonderer Relevanz ist Kapitel 8, das die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer eigenen Facharztdisziplin beschreibt. Nicht ausgelassen wurden die unruhigen Jahre im Zuge der 1968er-Bewegung und der Hessischen Hochschulreformen (Kapitel 9). Die Kapitel 10 bis 13 beschreiben die Initiativen der Krankenversorgung, Forschung und Lehre im Zeitraum von 1980 bis 2006. Kapitel 14 ist der Weiterentwicklung der Klinik in den Jahren 2006 bis 2017 gewidmet. In Kapitel 15 beschreibe ich einige persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, erfreuliche und auch unerfreuliche. Danach wird in einem eigenen Abschnitt (Kapitel 16) die überregionale und internationale Bedeutung der Marburger Klinik abgehandelt. Den Abschluss (Kapitel 17) bilden Kurzbiographien von Personen, die die nationale und internationale Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie maßgeblich beeinflusst haben. Unter ihnen sind viele, die der Marburger Klinik in besonderer Weise verbunden waren oder noch sind. Der Anhang enthält die Schriftenverzeichnisse von Werner Villinger und Hermann Stutte, tabellarische Datenübersichten zur Geschichte der Marburger Klinik und zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie generell, Interviews mit Zeitzeugen sowie Berichte über die drei wichtigsten Kongresse, darunter zwei internationale, die im Zeitraum von 1980 bis 2004 von der Marburger Klinik organisiert wurden. Im langen Zeitraum bis zur Fertigstellung des Buches haben mir zahlreiche Menschen geholfen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. In diesem Vorwort seien nur einige hervorgehoben, eine ausführliche Danksagung erfolgt am Ende des Buches. Herrn Dr. Haberhausen und Frau Professor Becker danke ich für den Beitrag über die Entwicklung der Klinik im Zeitraum von 2008 bis 2018, Herrn Professor Mattejat für die Beschreibung des IVV, Herrn Sonderschuldirektor a.D. Edgar Sachse für das Kapitel über die Klinikschule und Herrn Professor Hebebrand für die Schilderung seiner Erfahrungen in der Klinischen Forschergruppe. An der statistischen Datenerhebung und Auswertung der Daten haben mitgeholfen: Frau Gerti Gerber, Frau Dr. Monika Heinzel-Gutenbrunner und Frau Sabine Finkenstein, die auch im Hinblick auf die Manuskriptgestaltung eine
Vorwort
17
unentbehrliche Hilfe war. Den überwiegenden Teil der Schreibarbeiten hat Frau Elisabeth Goy in bewährter Weise bewältigt. Daran beteiligt war auch Frau Friederike Bittner. Frau Dr. Katharina Schaal und Herr Dr. Carsten Lind vom Universitätsarchiv haben mich bei den aufwändigen Archivarbeiten mit Nachdruck unterstützt. Herr Professor Gerd Aumüller hat die Kapitel 2 und 3 ausführlich gelesen und mir zahlreiche Anregungen zur Verbesserung gegeben. Dies trifft auch auf Herrn Norbert Jachertz zu, der ebenfalls mit großer Sachkenntnis und mit dem unbestechlichen Blick des Fachredakteurs Kapitel 2 durchgearbeitet hat. Sehr herzlich bedanke ich mich auch bei Herrn Professor Wilfred von Bredow, der Kapitel 9 gelesen und mir wertvolle Hinweise im Hinblick auf die »unruhigen Jahre« an der Philipps-Universität Marburg gegeben hat. Meinem Fachkollegen Professor Rolf Castell danke ich für zahlreiche Hilfestellungen, insbesondere zu historischen Daten unseres Faches. Ein besonderer Dank gilt dem Verlag V& R unipress, insbesondere Frau Marie-Carolin Vondracek und Frau Anke Moseberg für die aufgeschlossene und reibungslose Zusammenarbeit. Marburg, im Februar 2018
Helmut Remschmidt
Redaktionelle Anmerkung: Im Text wird in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Es sind aber jeweils beide Geschlechter gemeint. Dort, wo es angebracht schien, wurde davon abgewichen.
1.
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
1.1 1.2 1.2.1 1.2.2
Einleitung Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer medizinischen Disziplin Fehlentwicklungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Psychiatrie im Nationalsozialismus Gesten der Versöhnung nach dem Krieg Etappen in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie Etappe der Orientierungssuche und Reorganisation (1945–1958) Jahrzehnt des Aufbaus und der Verunsicherungen (1958–1968/69) Jahrzehnt der Sozialpsychiatrie und antipsychiatrischer Strömungen (1968–1978) Jahrzehnt der Psychiatriereformen (1978–1988) Jahrzehnt der Rückbesinnung auf die biologische Psychiatrie (1988–1998) Epoche der Integration unterschiedlicher Denk- und Handlungsweisen (1998 bis heute) Die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie Wechselbeziehungen zwischen der deutschen (DGKJP), der europäischen (ESCAP) und der internationalen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (IACAPAP) Anmerkung zur Gründung der ersten kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen Stationäre und teilstationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie Ambulante Kinder- und Jugendpsychiatrie Ausblick Forschung Organisatorische und berufspolitische Perspektiven Zusammenfassung
1.2.3 1.2.4 1.2.4.1 1.2.4.2 1.2.4.3 1.2.4.4 1.2.4.5 1.2.4.6 1.3 1.4 1.5
1.6 1.6.1 1.6.2 1.7 1.8 1.9 1.10
20
1.1
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Einleitung
Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist zunächst Geschichte der Kindheit, Geschichte der Erziehung, der Philosophie und Psychologie, sie wird erst später Geschichte der Psychiatrie und Pädiatrie und erst sehr spät eigentlich Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wie kommt dies? Gab es früher keine psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen? Es spricht alles dafür, dass dem nicht so ist. Nur spielten Kinder und Kindheit eine vergleichsweise untergeordnete Rolle – und wo dies nicht so war (zeitweise in der Antike), waren doch die Sitten rau: Man setzte kranke Kinder aus, und auch ihre Tötung war lange straffrei. Das römische Recht drückt die Einstellung zum Kind so aus: »Das Recht der Gewalt über seine Kinder gehört zum römischen Bürger. Niemand anderes hat eine solche Gewalt über seine Kinder wie wir.« Auch im deutschen Zivilrecht wurde die Formulierung von der »elterlichen Gewalt« noch lange aufrechterhalten, wenngleich ihre faktische Ausübung sich nicht mehr im Geringsten mit der römischen Praxis vergleichen ließ. Durch das am 4. 12. 1979 in Kraft getretene Sorgerechtsgesetz wurde das Recht der »elterlichen Gewalt« durch das Recht der »elterlichen Sorge« ersetzt. Im römischen Recht hatte der Herr des Hauses unumschränkte Gewalt über Familie und Kinder. Er konnte die Annahme des Kindes wie eine Ware verweigern. So ist historisch belegt, dass in der Antike (in der griechischen wie in der römischen) zahlreiche Mädchen getötet wurden, weil lediglich Knaben als Krieger erwünscht waren und mehr als ein Mädchen in der Familie nicht geduldet wurde. Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich im Rahmen der staatlich verordneten Ein-Kind-Familie in China ab mit der Bevorzugung von Jungen und der Abtreibung zahlreicher Mädchen, die nicht erwünscht waren. Im 3./2. vorchristlichen Jh. nahm die Bevölkerung Griechenlands rapide ab, »weil die Menschen dem Snobismus, der Habgier und dem Leichtsinn verfallen sind, nicht mehr heiraten oder, wenn sie es tun, die Kinder, die ihnen geboren werden, nicht aufziehen wollen, sondern meist nur eins oder zwei, damit sie im Luxus aufwachsen und ungeteilt den Reichtum ihrer Eltern erben« (Polybios, † um 120 v. Chr.10). Kinder wurden ausgesetzt, geopfert, den wilden Tieren zum Fraße hingeworfen, zuweilen auch qualvoll umgebracht. Bei Seneca (1. Jhdt. n. Chr.)11 lesen wir : »Kranke Hunde schlägt man auf den Kopf, böse und wilde Ochsen schlachten wir ; kränkliche Schafe nehmen wir unters Messer, damit sie die Herde nicht anstecken. Unnatürliche Nachzucht 10 Polybios XXXVI 17. 11 Seneca: De ira I, 15, 2.
Einleitung
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zerstören wir ; wir ertränken Kinder, die bei der Geburt schwächlich und abnormal sind, doch geschieht dies nicht aus Zorn, sondern aus Vernunft. Die Vernunft scheidet das Schädliche vom Gesunden.« Erst die jüdische und christliche Tradition führt zu einer Wende. So geißelt der jüdische Religionsphilosoph Philon aus Alexandria im 1. Jh. unserer Zeitrechnung die Unsitte des Kinderaussetzens mit harten Worten und betont, dass es die eigentliche Aufgabe von Vater und Mutter sei, die Kinder zu schützen12. Die Thematik des Aussetzens von Kindern finden wir in zahlreichen Märchen, Sagen und Legenden: Moses wird in einem Binsenkörbchen ausgesetzt, Romulus und Remus werden ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt; weitere Beispiele finden sich in Märchen wie »Hänsel und Gretel« sowie in realen Beobachtungen an den indischen Wolfskindern, Kaspar Hauser, Victor von Aveyron usw. Die christliche Tradition, die – wie die jüdische – die Einstellung zum Kind und zur Kindheit ändern sollte, wird mit dem Kindermord zu Bethlehem eingeleitet. Sie hat in der Folgezeit das Verhalten gegenüber Kindern und gegenüber der Familie tiefgreifend verändert. Im Mittelalter wird das Kind wie ein kleiner Erwachsener betrachtet. Kinder sind auch überall unter Erwachsenen. Ein adäquates Eingehen der Erwachsenen auf Kinder oder gar die Betrachtung des Kindes als eigenständige Persönlichkeit waren so gut wie unbekannt. Die erste Biographie über die Kindheit soll durch einen französischen Abt Anfang des 12. Jhs. veröffentlicht worden sein. Die Auffassung vom Kind als »Miniatur-Erwachsenem« zeigte sich auch in den Kinderkreuzzügen, in denen um 1212 rund 60.000 Kinder zugrunde gegangen sein sollen. Auch im christlichen Mittelalter kam es zu Kindstötungen und -verbrennungen. Der Exorzismus war weit verbreitet, geistig behinderte Kinder wurden vielfach als »Wechselbälger« getötet. Nach Weygandt (zit. in Nissen 1974) sollen im Rahmen von Hexenverfolgungen, die von 1627 bis 1629 in Würzburg stattfanden, 157 Personen verbrannt worden sein, unter ihnen 27 Kinder. Mit der Strömung des Humanismus änderten sich die Auffassungen zusehends. 1526 veröffentlichte Erasmus von Rotterdam seine Erziehungsregeln13, die bereits auf ein stärker individuelles Eingehen auf die Kinder ausgerichtet sind. Eine wesentlich veränderte Einstellung zum Kind entsteht im 18. Jh. im Zuge gewaltiger sozialer und technischer Revolutionen. Das Kind wird allmählich als eigenständiges Wesen betrachtet mit eigenen Bedürfnissen, Rechten und auch
12 Philon: De specialibus legibus 3, 110–119. 13 Erasmus von Rotterdam (1526): Adagiorum, Froben, Basel.
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Pflichten. Freilich gibt es auch hier Missbräuche wie die Kinderarbeit, die z. T. dramatische Ausmaße annahm. In der Folgezeit setzte sich jedoch mehr und mehr die Auffassung von der Eigenständigkeit des Kindes durch, der Entwicklungsgedanke gewann den ihm gebührenden Platz, und auch in rechtlicher Hinsicht wird das Kind zunehmend als ein schutz- und förderungswürdiges Individuum mit eigener Persönlichkeit und eigenen Bedürfnissen und Rechten betrachtet.
1.2
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie ist stark mit der europäischen und internationalen verknüpft. Wenn sie hier zunächst in einem eigenen Abschnitt gewürdigt wird, so deshalb, weil sie einerseits ganz wesentlich zur Entwicklung der europäischen Kinderpsychiatrie beitrug, und zum anderen, weil sie eine spezifische pädagogische und heilpädagogische Vorgeschichte hat, die für den deutschen Sprachraum typisch ist.
Pädagogik, Heilpädagogik und Philosophie Diese Disziplinen bestimmen vom Ausgang des Mittelalters bis ins 18./19. Jh. die Geschichte der deutschsprachigen Kinderpsychiatrie. Zwar beschrieb Paracelsus von Hohenheim (1493–1541)14 als erster den Zusammenhang zwischen endemischem Kropf und Schwachsinn und sein Schüler Felix Platter (1536– 1614) den erblichen Schwachsinn. Derlei medizinische Beobachtungen, die eigentlichen Vorläufer der Kinder- und Jugendpsychiatrie als einer medizinischen Disziplin, sind zu dieser Zeit allerdings sehr selten. Eine gewisse Ausnahme stellt die Epilepsie dar, über die wir sehr frühe medizinische Schilderungen bereits aus der Antike und auch aus dem Mittelalter besitzen. In der Folgezeit herrschen jedoch pädagogische, heilpädagogische und philosophische Strömungen vor. Der Begriff der Heilpädagogik wurde sinngemäß schon bei John Locke (1693) und bei Jean-Jacques Rousseau (1762) verwandt. In den deutschen Sprachraum eingeführt wurde er durch die Leipziger Heilpädagogen Georgens und Deinhardt, die 1861 eine »Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idioten und der Idiotenanstalten« veröffentlichten. Die Folgezeit wird geprägt durch die Werke von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Friedrich Fröbel (1778–1852), Johann Hinrich Wichern (1808–1881), der 1833 als Gründer des 14 Cranefield, P.F., Federn, W. (1967)’: The Begetting of Fools: An Annotated Translation of Paracelsus »De generatione stultorum«, Bull. History of Medicine 41, p. 161ff.
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
23
ersten »Rauhen Hauses« zur Rettung verwahrloster Kinder Erwähnung verdient, und Theodor Heller (1869–1938). Heller, der bei Wilhelm Wundt in Leipzig promoviert hatte (1895), gründete eine heilpädagogische Anstalt und ist der Erstbeschreiber der »Dementia infantilis« (1908), die seinen Namen trägt. Er verfasste ferner auch einen »Grundriss der Heilpädagogik« (1904).
1.2.1 Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer medizinischen Disziplin Parallel zu den pädagogischen, heilpädagogischen und philosophischen Strömungen (zum Teil mit, zum Teil ohne wechselseitige Beeinflussung) entwickelte sich die Kinderpsychiatrie zu einer medizinischen Disziplin. Als früher Vorläufer kann Henry Maudsley (1771–1831) gelten, der in seiner »Physiology and Pathology of Mind« (1857) ein Kapitel von 34 Seiten mit dem Thema »Insanity of Early Life« verfasste, das als Anstoßgeber späterer kinderpsychiatrischer Lehrbücher aufgefasst werden kann. Eine eigene kinderpsychiatrische Abteilung mit Ambulanz und stationärer Aufnahmemöglichkeit wurde allerdings erst 1930 eingerichtet und erst in den fünfziger Jahren wurde ein Lehrstuhl für Kinderund Jugendpsychiatrie am Maudsley-Hospital in London errichtet. Ein wichtiger Markstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das Jahr 1887, in dem das weltweit erste kinderpsychiatrische Lehrbuch, verfasst von Hermann Emminghaus (1845–1904), erschien mit dem Titel »Psychische Störungen im Kindesalter«. Der Psychiatriehistoriker Harms bezeichnete es als »die Wiegenstunde der Kinderpsychiatrie«. 1899 wurde erstmals die Bezeichnung »Kinderpsychiatrie« durch den Franzosen M. Manheimer verwendet, der sein Buch »Les Troubles Mentaux de I’Enfance« (1899) im Untertitel »Pr8cis de Psychiatrie Infantile« nannte (Stutte 1980/8115). Etwa zur gleichen Zeit erscheinen Lehrbücher von Moreau (1888) und Ireland (1898), die noch nicht den Terminus »Kinderpsychiatrie«, aber verwandte Bezeichnungen im Titel führen. Die weitere Entwicklung ist gekennzeichnet durch folgende Namen: Wilhelm Strohmeyer (1910), der eine »Psychopathologie des Kindesalters« verfasste; Theodor Ziehen (1915) mit seinem Lehrbuch »Die Geisteskrankheiten im Kindesalter«; Sante de Sanctis (1925), der den Begriff »Neuropsichiatria infantile« prägte und die »Dementia praecocissima« beschrieb; ferner August Homburger (1926), der sein einflussreiches Werk »Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters« nannte; Paul Schröder : »Kindliche Charaktere und ihre Abartig15 Stutte, H. (1980/81): Über die Anfänge der Europäischen Kinderpsychiatrie. Acta Paedopsychiatrica 46, 189–192.
24
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
keit« (1931); Moritz Tramer, dessen »Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie« (1942) als erste klare Umgrenzung des Fachgebietes angesehen werden kann. Wichtige Weiterentwicklungen dieser Ansätze waren der Handbuchartikel über das Gesamtgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie von Stutte (1960) sowie das Lehrbuch von Lutz (1961) und das deutschsprachige »Lehrbuch der speziellen Kinder- und Jugendpsychiatrie« von Harbauer, Lempp, Nissen und Strunk (1971). Die Weiterentwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde aber auch durch die Gründung wissenschaftlicher Zeitschriften wesentlich gefördert. Hier lassen sich drei Entwicklungen nachzeichnen: 1. 1898 wurde das Periodikum »Die Kinderfehler« gegründet, das dann seine Fortsetzung in der »Zeitschrift für Kinderforschung« fand, die 1944 mit dem 50. Band ihr Erscheinen einstellen musste. Werner Villinger (1887–1961) gehörte dem Herausgeberkreis von 1934 (Bd. 43) bis 1944 an.. Diese Zeitschrift wurde fortgesetzt durch das von Villinger und Hermann Stutte (1909– 1982) und später von Stutte herausgegebene »Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete« (seit 1956), das seinerseits 1973 von der »Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie« abgelöst wurde. 2. 1934 wurde durch Tramer die »Zeitschrift für Kinderpsychiatrie« gegründet, die bis 1984 als »Acta paedopsychiatrica« erschien. 3. Als Periodikum mit zunächst stärker psychoanalytischer Orientierung und später interdisziplinärem Ansatz wurde 1951 die »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie« begründet (initiiert von Annemarie Dührssen (1916–1998) und Werner Schwidder (1917–1970)), die ebenfalls weite Verbreitung und einen großen Leserstamm gefunden hat. Die Etablierung einer neuen Fachdisziplin gelingt aber nur, wenn sich auch entsprechende Organisationen bzw. Fachgesellschaften entwickeln. Im Jahre 1939, auf dem letzten Vorkriegskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, kam es zur Gründung einer »Kinderpsychiatrischen Arbeitsgemeinschaft«, die den Auftrag erhielt, eine wissenschaftliche Gesellschaft zu gründen. Die Kommission trat am 27. 3. 1939 zusammen. Dieser Tag kann somit als Geburtsstunde der heutigen »Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie« angesehen werden (vgl. Stutte 1980). Die offizielle Gründung dieser Fachgesellschaft erfolgte jedoch erst am 5. 9. 1940 in Wien als »Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik«. Bereits damals auf der Gründungsversammlung war auch ein Vertreter der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen anwesend, mit der die kinder- und jugendpsychiatrische Fachgesellschaft auch heute noch sehr enge Beziehungen unterhält. Vorsitzender dieser ersten deutschsprachigen kinderpsychiatrischen
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
25
Fachgesellschaft wurde Paul Schröder (1873–1941), der jedoch ein Jahr nach der Gründung starb. Sein Nachfolger wurde, nach komplizierten Beratungen zwischen Ernst Rüdin (damals Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater)16, Hans Reiter (Präsident des Reichsgesundheitsamtes)17, Herbert Linden (Reichsministerium des Inneren)18 und Werner Heyde (Ordinarius für Psychiatrie in Würzburg und T4-Obergutachter)19 sowie Paul Nitsche (T4Obergutachter)20, Hans Heinze21, während Werner Villinger stellvertretender Vorsitzender wurde. Heinze war von 1941–1945 nicht gewählter, sondern ernannter Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik. Durch den Krieg wurden die berufspolitischen Aktivitäten behindert. Das Verbandsorgan, die »Zeitschrift für Kinderforschung«, musste sein Erscheinen mit dem 50. Band einstellen. In der Nachkriegszeit gab es 1948 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde 16 Ernst Rüdin (1874–1952)stammte aus der Schweiz und war ein in der Zeit des Nationalsozialismus höchst einflussreicher Psychiater und Rassenhygieniker, Mitbegründer des »Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie«. Er war zunächst Leiter der »GenealogischDemographischen Abteilung« der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und wurde 1931 gf. Direktor dieser Institution. Er hat als Vorsitzender der »Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater« (GDNP) eng mit den Exponenten des nationalsozialistischen Systems zusammengearbeitet, war Beisitzer beim Erbgesundheitsobergericht in München, Mitglied der NSDAP (1937) und mehrerer anderer NS-Organisationen; er soll während der NS-Zeit auch an Menschenversuchen beteiligt gewesen sein. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er zunächst als »Minderbelasteter« und zuletzt als »Mitläufer« eingestuft. 1945 wurde er interniert und ein Jahr später, nach Intervention von Max Planck, freigelassen (Wikipedia, Klee, 2003). 17 Hans Reiter (1881–1969) war Bakteriologe und Hygieniker. Mitglied der NSDAP seit 1931, der SA seit 1941 und anderer Parteiorganisationen, ab 1933 Präsident des Reichsgesundheitsamtes. Exponierter Vertreter der NS-Rassenhygiene (Wikipedia, Klee, 2003). 18 Herbert Linden (1899–1945) war als Arzt und ranghoher Beamter im Reichsministerium des Inneren einer der Organisatoren der Patientenmorde im Rahmen der T4-Aktion, auch als Obergutachter aktiv. NSDAP-Mitglied seit 1925. Er beging 1945 Selbstmord (Klee 2003, Wikipedia). 19 Werner Heyde (1902–1964) war Leiter der medizin. Abteilung der T4-Euthanasie-Zentrale. Mitglied der NSDAP seit 1933, Hauptsturmführer der SS ab 1936. Führend beteiligt an den T4-Mordaktionen. Nach dem Krieg praktizierte er unter dem Namen Dr. Sawade in Schleswig-Holstein, bis er 1959 aufflog und angeklagt wurde. Er entzog sich dem Prozess durch Suizid im Jahr 1964 (Klee, 2003, Wikipedia). 20 Paul Nitsche (1876–1948), Direktor der Heil- und Pflegeanstalten in Leipzig-Dösen und Pirna-Sonnenstein, Obergutachter und medizin. Leiter der T4-Aktion. Überzeugter Anhänger der Rassenhygiene und der Euthanasie. Vertrat vor Gericht die These, wonach die Tötung von unheilbar Kranken gerechtfertigt sei. Er wurde am 7. 7. 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet (Klee, 2003, Wikipedia). 21 Hans Heinze (1895–1983), T4-Gutachter und Gutachter bei der Kindereuthanasie. Er war Mitarbeiter des (Kinder-)Psychiaters Paul Schröder (1873–1941) in Leipzig und zeitweise Leiter der kinderpsychiatrischen Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Berlin. Mitglied der NSDAP seit 1932. Nach dem Krieg wurde er inhaftiert und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ab 1954 leitete er die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik in Wunstorf.
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
in Göttingen Bemühungen um die Wiedergründung einer kinderpsychiatrischen Gesellschaft. Im Jahre 1949 fand das erste Nachkriegssymposium der Kinderpsychiater in Marburg statt. 1950 kam es auf dem deutschen PsychiaterKongress in Stuttgart zur offiziellen Wiedergründung bzw. Neugründung der Gesellschaft als »Deutsche Vereinigung für Jugendpsychiatrie«. Mit dieser Gründung wurde die kinderpsychiatrische Fachgesellschaft als ärztliche Organisation etabliert und gleichzeitig eine Trennung von nichtärztlichen Berufsgruppen herbeigeführt, die allerdings auch weiterhin als außerordentliche Mitglieder der Gesellschaft angehören konnten. Seit ihrer Wiedergründung als eigene medizinische Fachdisziplin hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie Kontakte zu zahlreichen Nachbardisziplinen aufgenommen: zur Heilpädagogik, Pädagogik und Sonderpädagogik (ein wesentlicher Förderer dieser Beziehungen war seitens der Sonderpädagogik Helmut von Bracken (1899–1984)), zur Jurisprudenz (hier waren insbesondere Rudolf Sieverts (1903–1980) und Horst Schüler-Springorum (1928–2015) maßgebliche Partner), zur Psychologie (sehr enge Kontakte bestanden zu Adolf Busemann (1887– 1967) und Karl-Hermann Wewetzer (1926–1978)), zur Psychiatrie (Paul Schröder, Werner Villinger, Hans Bürger-Prinz (1897–1976) ) und zur Pädiatrie (Adalbert Czerny (1863–1941), Erwin Lazar (1877–1932), Carl-Gottlieb Benholdt-Thomsen (1903–1971) und Hubert Harbauer (1919–1980)). Diese engen Beziehungen zu verschiedenen Nachbardisziplinen haben auch dazu geführt, dass kinder- und jugendpsychiatrisches Wissen in anderen Fachgebieten verbreitet wurde und dass auch vor anstehenden Gesetzesreformen kinder- und jugendpsychiatrischer Sachverstand stets gefragt war. Die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nachkriegszeit anhand ihrer ersten Tagungen ist in Tab. 1.1 wiedergegeben, die auch die jeweils erörterten Themenschwerpunkte und z. T. auch Hinweise auf die Teilnehmer enthält.
27
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
Tab. 1.1: Deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie: Erste Tagungen in der Nachkriegszeit Tagung
Themen/Beschlüsse
1949 Göttingen: Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 22.–25. 9. 1949 Mitgliederversammlung23 am 23. 9. 1949
Einige wenige Vorträge zu kinderpsychiatrischen Themen: – Pubertas praecox (Stutte) – Katamnese bei Pubertätsmagersucht (Villinger) – Vereinbarung der Gründung oder Wiedergründung im Hause von Walter Gerson – Prof. Kretschmer bis zur Genehmigung der neuen Satzung Vorsitzender der GDNP – Gliederung der DGNP in vier Sektionen – Vorbereitung der nächsten Tagung 1951 in Stuttgart und Vorschläge zu kinderpsychiatrischen Themen: »Abnorme Jugend« (Villinger), »Psychosen« – Referenten: Villinger, Bürger-Prinz, Sieverts »Psychische Hygiene« (Kleist)
22
1950 Lübeck: 50. Tagung der Dt. Ges. f. Kinderheilkunde, 1 kinderpsychiatrischer Tag 11.–13. 9. 1950
Themen: – Psychosen i. Kindesalter (v. Stockert) – Heilpädagogik (Asperger) – Abnorme seelische Reaktionen im Kindesalter (Villinger) – Tramer : Kinderpsychiatrie fehlt noch die Anerkennung durch die Pädiatrie 1950 Marburg: Diskussion: 1. Nachkriegssymposium – Organisatorische Fragen u. d. dt. »Kinderpsychiater« Beschluss einer Gründung 20./22. 10. 1950 oder Wiedergründung d. Fachgesellschaft (Leitung: W. Villinger) nach der Erstgründung in Wien 1940 22 Castell et al. (2003). 23 Nachlass Ehrhardt.
Teilnehmer Villinger und Stutte (beide Marburg) Erweiterter Vorstand der DGNP
Geringe Teilnehmerzahl v. »Kinderpsychiatern«, auf einer originär pädiatrischen Tagung
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Tagung
Themen/Beschlüsse
Teilnehmer
– Gründung der »Gesellschaft für Jugendpsychiatrie, Heilpädagogik und Jugendpsychologie«; Wahl v. Villinger z. Vorsitzenden – Vorbringen der JahrbuchIdee durch Villinger – Planung einer Facharztausbildung (2 J. Psychiatrie u. Neurologie, 1 J. Jugendpsychiatrie, 1 J. Pädiatrie plus ergänzende Ausbildungen z. B. in einem Jugendheim, EB, etc.) Themen: Vorträge zu diversen Themen ohne spezielles Rahmenthema: z. B. endogene Psychosen, Pubertas praecox, Reifestörungen, Gehirn u. Endokrinium. Marburger Referenten: Förster, Leuner, Stutte, Villinger 1952 Marburg: 5 Hauptthemen: 2. Wiss. Tagung (1) Wachstumsprobleme u. Reifestörungen (2) Störungen 18./19. 4. 1952 Vorsitz: Werner Villinger b. Sinnesdefekten (3) Gebräuchliche Testmethoden (4) Grenzfragen jugendpsychiatrischer Diagnostik (5) Prinzipien der Persönlichkeitsbeurteilung – Stutte (MR): »Reifungsbiologische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen« – Weber (MR): »Szenotest b. psychotischen Kindern u. Jugendlichen« – Förster (MR): »Grenzfragen jugendpsychiatrischer Diagnostik« – Villinger (MR): »Prinzipien d. Persönlichkeitsbeurteilung« Zeitschrift f. Kinderpsychiatrie (Hg. Tramer) ist offizielles Organ der DVJ
1951 Stuttgart: 1. Wiss. Tagung d. DVJ 26.–30. 9. 1951 i. Zusammenhang m.d. Tagung d. GDPN
Die Satzung unterschrieben: Carola Hannappel, Anna Leiter, Clara Schürmann, Eckart Förster, Hermann Stutte, Werner Villinger, v. Stockert
29
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Tagung
Themen/Beschlüsse
Teilnehmer
Teils gemeinsame Sitzungen 1954 Essen: 3. Wiss. Tagung d. DVJ am m.d. Pädiatern 6./7. 9. 1954, gemeinsam – »Der Einfluss d. Präpubertät auf die Entwicklung d. m.d. 54. Tagung d. Dt. Kindes« Ges. f. Kinderheilkunde – »Die Bedeutung d. Kriegsu. der Nachkriegszeit f. d. Entwicklung d. Kindes« Marburger Referenten: Leuner, Förster, Stutte, Villinger, Theopold (Pädiater), Weber – Öffentl. Vortrag v. Hilde Mosse (New York): »Die Bedeutung der Massenmedien f.d. Entwicklung kindlicher Neurosen« 1955 Bad Nauheim: 4. Wiss. Tagung d. DVJ i. Anschluss a. d. Kongress d. GDNP v. 2./3. 4. 1955 1958 Marburg: 5. Wiss. Tagung d. DVJ 28.–30. 7. 1958
Hauptthema: Intelligenz, Intelligenzstörungen, Intelligenzanomalien Marburger Referenten: Leuner, Busemann, Stutte, Villinger Hauptthema: Autistisches Verhalten im Kindesalter – Hans Asperger : Übersichtsreferat – Villinger : Überblick z. Geschichte d. Kinder- u. Jugendpsychiatrie: Wende in der Medizin, ganzheitliche Betrachtung, der kranke Mensch als Subjekt u. Individuum, stärkere Berücksichtigung v. Pädagogik u. Philosophie Marburger Referenten: Leuner, Villinger – Beitritt d. DVJ zur Int. Ass. for Child Psychiatry (IACP) – Bekanntgabe d. Satzung f. d. Heinrich-HoffmannMedaille
Etwa 150 Teilnehmer, etliche auch aus d. Ausland Anzahl d. DVJ-Mitglieder : 188
Die tabellarische Übersicht verdeutlicht, dass im Zeitraum von 1949–1958 unter der Vielzahl von Themen reifungsbiologische Gesichtspunkte, spezifische Krankheitsbilder wie Psychosen, aber auch aktuelle sozialpsychiatrische Fra-
30
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
gestellungen wie die Bedeutung der Nachkriegszeit für die Entwicklung von Kindern und der Einfluss von Massenmedien eine besondere Rolle spielten. Bereits 1950 wurde der Plan diskutiert, eine Facharztweiterbildung zu etablieren. Der Weg zu einer eigenen Facharztdisziplin war aber noch weit. Historisch gesehen hat sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie aus den »Mutterdisziplinen« Psychiatrie und Pädiatrie herausentwickelt. Als ergänzende Anrainerfächer haben die Psychologie, die Pädagogik, die Sozial- und Rechtswissenschaften eine bedeutsame Rolle gespielt. Wie aus Tab. 1.1 hervorgeht, wurde bereits auf dem ersten Nachkriegssymposium der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie 1950 in Marburg die Einführung eines eigenen Facharztes diskutiert und auch ein entsprechendes Weiterbildungsprogramm. Dass dies auch ein europäisches Anliegen war, zeigte sich auf dem 1. Magglinger Symposium, das am 30. und 31. Oktober 1954 stattfand und das im Übrigen auch der Zusammenarbeit zwischen Kinderpsychiatern und Jugendrichtern gewidmet war. Was die »kinderpsychiatrische Ausbildung« betrifft, gaben neun Teilnehmer einen Überblick über die Situation in ihrem Land und die künftigen Pläne. Die einzelnen Statements sind in Tab. 1.2 gerafft wiedergegeben. Aus ihr geht hervor, dass im Jahr 1953 nur in der Schweiz und in Finnland ein Facharzt für Kinderpsychiatrie existierte und lediglich in Paris und Marburg eigene Lehrstühle. Es herrschte aber Einigkeit darüber, dass es ein Gebot der Zeit sei, einen eigenen Facharzt für Kinderpsychiatrie in Europa einzuführen. Tab. 1.2: Status der Kinder- und Jugendpsychiatrie in verschiedenen europäischen Ländern im Jahre 195424 Deutschland: Berichterstatter Villinger, Stutte, v. Stockert – Grundausbildung in Psychiatrie, Neurologie und Pädiatrie erforderlich, möglichst an Universitätsabteilungen. – Praktische und theoretische Kenntnisse in Psychiatrie, Sozialpädagogik, Jugendrecht. – Seit kurzem Lehrstuhl in Marburg (Stutte). – Noch kein Facharzt. Italien: Berichterstatter de Sanctis – Schaffung eines FA geplant, Ausbildung vier Jahre: ein Jahr Pädiatrie, ein Jahr Psychiatrie, ein Jahr Kinderpsychiatrie und ein Jahr einschlägige praktische Betätigung.
24 Nach dem Bericht über das erste Treffen europäischer Kinderpsychiater am 30./31. 10. 1954 in Magglingen ob Biel/Schweiz, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 Akte UEP.
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
31
((Fortsetzung)) Portugal: Berichterstatter Fontes – Seit 12 Jahren Existenz einer Organisation für psychische Hygiene des Kindesalters. – Einzige kinderpsychiatrische Klinik in Lissabon. – Noch kein FA. Niederlande: Berichterstatter van Krevelen – Lehrstuhl in Groningen vorgesehen. – Widerstände gegen das Fach in der Psychiatrie. – FA für Psychiatrie ist obligat für kinderpsychiatrische Tätigkeit. – Noch kein FA. Schweiz: Berichterstatter Tramer – Noch kein offizieller Lehrstuhl. – Ausbildungsstätten in Zürich, Bern, Basel, Genf und Biel. – FA mit vierjähriger Ausbildungszeit seit 1953. Finnland: Berichterstatter Donner – Kinderpsychiatrische Spezialeinrichtungen seit ca. 1920–1925. – Kein Lehrstuhl, aber Ausbildungsmöglichkeiten mit FA-Anerkennung. Österreich: Berichterstatter Spiel – FA mit sechsjähriger Ausbildungszeit geplant. – Seit 1924 existieren in Wien 21 von A. Adler gegründete Erziehungsberatungsstellen (besetzt mit Ärzten und Pädagogen). Frankreich: Berichterstatter Michaux, Heuyer – Ordinariat für Kinderpsychiatrie seit 1949 (Heuyer). – Spezialvorlesungen in Paris seit 1920. – Ein Diplom »Neuropsychiatrie im Kindesalter« sei kürzlich eingeführt worden. – Vorlesungen über Kinderpsychiatrie an verschiedenen Universitäten. – Aktuelle Tendenzen der Psychoanalyse nach Selbständigkeit. Spanien: Berichterstatter Fontes – Offensichtlich besteht noch kein FA. Es existiert aber eine Gesellschaft für Kinderpsychiatrie.
In Deutschland dauerte es noch 14 Jahre, bis auf dem 71. Deutschen Ärztetag in Wiesbaden am 22. Mai 1968 die Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in den Facharztweiterbildungskatalog als eigenes Gebiet aufgenommen wurde. Der Antrag wurde von den Delegierten der Landesärztekammern in Hamburg, Hessen und Berlin gestellt, die die Argumente der drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachvertreter25 Heinrich Albrecht (1921–1967), Hubert Harbauer (1919–1980) und Gerhardt Nissen (1923–2014) sich zu eigen machten. Sie wurden unterstützt durch den Internisten Gotthard Schettler (1917–1996), der bereits einige Jahre zuvor im Deutschen Ärzteblatt die Einführung eines »Jugendpsychiaters« gefordert 25 Heinrich Albrecht und Gerhard Nissen kamen mit psychiatrischem Hintergrund in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, während Hubert Harbauer aus der Kinderheilkunde kam.
32
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
hatte26. »Mit der Facharztanerkennung fand eine Entwicklung ihren vorläufigen Abschluss, die vor 150 Jahren in der Psychiatrie und in der Pädiatrie begonnen hatte« (Nissen, 2005). Vorausgegangen waren allerdings Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie (DVJ). Immerhin wurden diese auf zwei gemeinsamen Kongressen 1950 in Lübeck und 1954 in Essen erörtert und schließlich beigelegt27. Die Diskussion um den Stellenwert der Pädiatrie innerhalb des angestrebten Facharztes für Kinderpsychiatrie wurde auch auf europäischer Ebene geführt. So monierte der Pädiater Bennholdt-Thomsen im Hinblick auf die Themenplanung für das 2. Magglinger Symposium am 8. 12. 1956 (am 1. Symposium nahm er noch nicht teil) in einem Schreiben an den Generalsekretär Friedemann28, – dass die Pädiatrie bei der geplanten Diskussion bezüglich der Kindertherapie zwischen Kinderpsychiatern, Heilpädagogen und Psychologen nicht berücksichtigt sei. Schließlich kämen überall die Mütter mit ihren an psychogenen und psychosomatischen Krankheiten leidenden Kindern zuallererst zum Kinderarzt, dessen Hilfe bei der Klärung mancher »Neurosen« im Kindesalter unumgänglich sei; – dass der Pädiatrie auch bei dem zweiten vorgesehenen Thema für das Symposium »Psychophysische Einheit in der Kinderpsychiatrie« eine wichtige Rolle zukomme, z. B. bei Ernährungsfragen oder beim Hospitalismus und – dass im Hinblick auf die Schaffung eines Facharztes für Kinderpsychiatrie 1 12 Jahre Pädiatrie an einer Universitätsklinik oder einer gleichgestellten Klinik wünschenswert wären. Zur vorgesehenen Diskussion, die Facharztfrage betreffend, äußern sich Stutte und Villinger in einem Schreiben vom 2. 11. 1955 an Friedemann zurückhaltend29 unter Hinweis darauf, dass man sich erst »auf gemeinsame Ausbildungsrichtlinien der in der UEP vereinigten Länder« verständigen müsste, was eine »viel größere Stoßkraft« hätte. Offenbar befürchteten die beiden Herren, zum damaligen Zeitpunkt mit einer Facharztinitiative in Deutschland noch nicht durchzukommen. Im Hinblick auf die Facharztfrage bzw. einen Zusatztitel »Kinderpsychiatrie« war die X. Tagung der DVJ 1966 in Berlin bedeutsam, die im Anschluss an die 64. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde stattfand. Diesbe26 Er hat, so Nissen (2009), einen Analogieschluss zur Pädiatrie gezogen, die sich vor Jahrzehnten aus der Inneren Medizin herausentwickelt hat. Nissen, G (2009): Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute, S. 151, Psychosozial Verlag, Gießen. 27 vgl. Topp, Schepker, Fangerau (2016), a. a. O. 28 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP. 29 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
33
züglich hatte die DVJ bereits zuvor zwei Ausschüsse gegründet, die zwei zukunftsweisende Denkschriften erarbeitet hatten, welche sich als wichtige Wegbereiter für die Verselbständigung des Fachgebietes erweisen sollten: eine »Denkschrift zur Stellung der Kinderpsychiatrie im Rahmen der Universitätsreform« und eine weitere »Denkschrift zur Berücksichtigung kinder- und jugendpsychiatrischer Kenntnisse im Medizinstudium« (Harbauer, 1966)30. Die Herauslösung der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus ihren Mutterfächern Psychiatrie, Neurologie und Kinderheilkunde kann nicht nur unter verbandspolitischen Gesichtspunkten betrachtet werden, sondern ergab sich aus einer inneren Notwendigkeit. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat mit der Pädiatrie die Altersgruppen (Kinder und Jugendliche) gemeinsam, mit der Psychiatrie und Neurologie die Krankheitsbilder und mit allen drei Disziplinen gemeinsame fachliche Schwerpunkte. Dies ist in Abb. 1 dargestellt. Die dort exemplarisch angeführten gemeinsamen Schwerpunkte sind von einer Facharztdisziplin nicht kompetent zu vertreten, sondern schreien gleichsam nach einer Kooperation. Diese betrifft natürlich auch die Klinische Psychologie und ihre Varianten, die Sozialwissenschaften und Teile der Rechtswissenschaft. Letztlich haben diese Notwendigkeiten weltweit zur Herausbildung des Fachgebietes Kinder- und Jugendpsychiatrie geführt. Dass sich dieser Prozess nicht ohne Auseinandersetzungen und persönliche Interessen der jeweiligen Akteure vollzieht, ist nicht verwunderlich und zeigt sich in der Medizin (aber auch sonst) bei nahezu allen Verselbständigungsbestrebungen neuer Fachgebiete. Die Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigene Facharztdisziplin wird in Kap. 8 ausführlich beschrieben. Im Zeitraum zwischen 1950 und 2003 kam es im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Fachgebietes zu mehreren Veränderungen des Namens der Gesellschaft, die im Jahr 1973 die Bezeichnung »Deutsche Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie« führte, ab 1976 die Bezeichnung »Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie« (DGKJ), ab 1994 »Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie« (DGKJP) und die seit 2003 vorübergehend »Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie« (DGKJPP) hieß und jetzt wieder DGKJP heißt. Ein Überblick über die Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und ihrer Vorläufer-Organisationen ist in Tab. 1.3 wiedergegeben.
30 Harbauer H (1966). Bericht über die X. Wissenschaftliche Tagung der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie. Acta Paedopsychiat. 33, 366–367.
34
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Neuropsychiatrie
•
Neurologie
• •
•
Entwicklungsneurologie
Kinderund Jugendpsychiatrie
Vulnerabilitätskonzept Differentialdiagnose
• • •
• •
Psychiatrie Entwicklungspsychopathologie Psychiatrie der Adoleszenz Familienpsychiatrie
Pädiatrie Säuglingspsychiatrie Chronische Krankheiten Psychosomatik (Psychophysiologie)
Abb. 1.1: Mutter- und Nachbarfächer der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Tab. 1.3: Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ihrer Vorläufer-Organisationen Kongress
Ort
Kongresspräsident
Themen
Zeit
Paul Schröder
Vorbereitungskomitee zur Gründung / Gründung einer kinderpsychiatrischen Arbeitsgemeinschaft auf Veranlassung von Prof. Dr. P. Schröder
1. Tagung Wien
Vorsitzender : Paul Schröder, Schriftführer: Werner Villinger
I.
Marburg
Werner Villinger
Gründung der 05. 09. 1940 »Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik« in Wien am 05. 09. 1940. Erstes 21./22. 10. Nachkriegssymposium 1950 einiger Kinderpsychiater in Marburg.
II.
Marburg
Werner Villinger
Wiesbaden
Wachstumsprobleme u. Reifungsstörungen/ …
27. 03. 1939
18.04.–19. 04. 1952
35
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Kongress
Ort
Kongresspräsident
Themen
Zeit
III.
Essen
Otto Bossert und Werner Villinger
06.09.–07. 09. Der Einfluss der präpuberalen Phase auf 1954 die Entwicklung des Kindes / Die Bedeutung des Kriegsgeschehens für die Entwicklung des Kindes
IV.
Werner Villinger
V.
Bad Nauheim Marburg
Werner Villinger
Emotionale Probleme der frühen Kindheit Autistisches Verhalten im Kindesalter
02.04.–03. 04. 1955 28.07.–30. 07. 1958
VI.
Berlin
Werner Villinger
19.10.–21. 10. 1959
VII.
Innsbruck
Psychopatologie endokriner Erkrankungen im Kindes- u. Jugendalter / Begutachtung der Glaubwürdigkeit kindlicher u. jugendlicher Zeugen (Werner Villinger Die entzündlichen gest. 8. 8. 1961) und Erkrankungen des Franz Günther von Gehirns im Kindesalter / Stockert Die Mitarbeiter des Kinderpsychiaters, ihre Ausund Fortbildung. Beschluss der Mitgliederversammlung, der UEP beizutreten (10. 8. 1961)
VIII.
Wiesbaden
IX.
Hamburg
X.
Berlin
XI.
Regensburg Reinhart Lempp
10.08.–12. 08. 1961
Franz Günther von Stockert Vorsitz: Franz Günther von Stockert /Tagesvorsitz: Jakob Lutz
Intelligenz und Intelligenzstörungen Prognose neuropsychiatrischer Erkrankungen im Kindesalter
05.09.–08. 09. 1963 06.05.–08. 05. 1965
Heinrich Albrecht
Pädiatrie u. Kinderpsychiatrie Zwangsphänomene im Kindes- und Jugendalter
08.09.–10. 09. 1966 05.06.–07. 06. 1969
36
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Kongress
Ort
Kongresspräsident
Themen
Zeit
XII.
Würzburg
Hubert Harbauer
Die »Dummheit« und ihre psychosozialen Aspekte / Das Kind in der geschiedenen Ehe
30.09.–02. 10. 1971
XIII.
Freiburg
Peter Strunk
16.05.–19. 05. 1973
XIV.
Göttingen
Friedrich Specht
Seelische Fehlentwicklung und Gesellschaftsstruktur / Störungen der Sprachentwicklung Biologische Bedingungen psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter / Psychische Gesundheit und Schule
XV.
Salzburg
22.06.–25. 06. 1977
XVI.
Münster
Friedrich Specht Recht, Behörde, Kind. – und Max Hermann Probleme und Konflikte Friedrich der Kinder- und Jugendpsychiatrie / Dokumentation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hedwig Wallis Das Kind als Außenseiter / Das Kind in Ausnahmesituationen
XVII.
München
Eckart Förster
XVIII.
Marburg
Helmut Remschmidt
XIX.
Mannheim
Martin Heinrich Schmidt
Suizid bei Kindern und Jugendlichen / Ambulante und teilstationäre Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und Familien / Kinderpsychiatrie und Familienrecht
04.06.–07. 06. 1975
26.09.–29. 09. 1979 25.05.–27. 05. 1981
09.05.–11. 05. 1983
06.05.–08. 05. Langzeittherapie und Verlauf psychiatrischer 1985 Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters / Die Rolle des Vaters in der Entwicklung des Kindes
37
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Kongress
Ort
Kongresspräsident
Themen
Zeit
XX.
FeldkirchVorarlberg
Peter Strunk (D) und Franz Wurst (A)
18.05.–20. 05. Dissozialität / 1987 Psychosomatische Erkrankungen / Psychosomatische Erkrankungen / Anorexia nervosa / Fremdplazierung
XXI.
München
Joest Martinius
XXII.
Bad Homburg
Fritz Poustka
Befund, Klassifikation, Diagnose, Therapieplanung/ Kindesmißhandlung, -vernachlässigung, sex. Mißbrauch/ Pharmakologie, Pharmakotherapie Störungen der kindlichen Entwicklung
XXIII.
Köln
Gerd Lehmkuhl
XXIV.
Würzburg
Andreas Warnke
XXV.
Dresden
Michael Scholz
XXVI.
Jena
Bernhard Blanz
XXVII.
Berlin
Ulrike Lehmkuhl
08.05.–10. 05. 1989
01.05.–04. 05. 1991
Scheidung, Trennung, Kindeswohl/ Chronisch kranke Kinder u. ihre Familien/ Therapeutische Methoden u. Standards Entwicklungsstörungen und psychische Störungen im frühen Kindesalter / Psychische Störungen und Schule / Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
28.04.–01. 05. 1993
Tradition u. Entwicklung in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. -psychotherapie/ Agressivität u. Dissozialität, Störungsspezifische Behandlungsformen Chancen für das seelisch kranke Kind
20.05.–22. 05. 1997
Seelische Krankheit im Kindes- u. Jugendalter – Wege zur Heilung
26.04.–29. 04. 1995
05.04.–08. 04. 2000 03.03.–06. 04. 2002
38
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Kongress
Ort
Kongresspräsident
Themen
Zeit
XXVIII.
Wien
Ulrike Lehmkuhl / Max Hermann Friedrich
Therapie in der Kinder- 02.04.–05. 04. 2003 u. Jugendpsychiatrie: Von den Therapieschulen zu störungsspezifischen Behandlungen
XXIX.
Heidelberg
Franz Resch
16.03.–19. 03. 2005
XXX.
Aachen
Beate HerpertzDahlmann
Die Sprache in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie Versorgung im Notstand: Wer versorgt künftig psychisch kranke Kinder und Jugendliche?
XXXI.
Hamburg
Michael SchulteMarkwort
04.03.–07. 03. 2009
XXXII:
Essen
Johannes Hebebrand
Psychosomatik – Kinderund Jugendpsychiatrie als interdisziplinäres Fach Spannungsfelder Schule, Wissenschaft und klinische Praxis
XXXIII.
Rostock
Frank Häßler
06.03.–09. 03. 2013
XXXIV.
München
Gerd SchulteKörne
Transition – gelingende Übergänge für psychisch und neurologisch kranke Kinder und Jugendliche Veränderte Gesellschaftveränderte Familien
XXXV.
Ulm
Jörg Fegert
Dazu gehören! – Bessere Teilhabe für traumatisierte und psychisch belastete Kinder und Jugendliche
22.03.–25. 03. 2017
14.03.–16. 03. 2007
02.03.–05. 03. 2011
04.03.–07. 03. 2015
Im Hinblick auf die fachliche Orientierung hat sich die deutschsprachige Kinderund Jugendpsychiatrie in eine Richtung entwickelt, die aus verschiedenen Quellen gespeist wird und die sowohl im diagnostischen als auch im therapeutischen Bereich als im guten Sinne eklektisch angesehen werden kann. Dennoch existierten und existieren in der klinischen Ausrichtung gewisse theoretische Schwerpunkte, die sich unter vier Gesichtspunkten kennzeichnen lassen: 1. Die neuropsychiatrische Tradition. Sie geht auf den Einfluss der Psychiatrie und Neurologie zurück, aus der die Kinder- und Jugendpsychiatrie wesentliche Impulse erhalten hat. Viele Abteilungen haben sich aus der Erwachsenenpsychiatrie heraus entwickelt. Diese Tradition findet sich nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Frankreich und z. T. sehr ausgeprägt in den ehemals sozialistischen
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
39
Ländern einschließlich der DDR, wo eine Subspezialisierung »Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters« 1974 eingeführt wurde, die von Neuropsychiatern und Pädiatern erworben werden konnte31,32. Sie hat neuerdings wieder Auftrieb erhalten durch die Neuropsychologie, die die Beziehungen zwischen Erleben und Verhalten einerseits und Hirnfunktionen andererseits untersucht und die man auch als »Fortsetzung der Neurologie mit psychologischen Methoden« bezeichnen könnte. 2. Die heilpädagogisch-klinische Tradition. Sie war insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz an verschiedenen Kliniken, vorwiegend an Kinderkliniken, verbreitet. Wesentliche Promotoren dieser Entwicklung waren in Österreich Hans Asperger (1906–1980), in der Schweiz Paul Moor (1899–1977) und in der Bundesrepublik Deutschland Heinrich Koch (1916–1999). Die heilpädagogischen Stationen und Abteilungen wurden zunehmend durch psychosomatische Einrichtungen abgelöst. 3. Die psychodynamische und psychoanalytische Tradition. Sie hat sich zunächst ausschließlich in Westeuropa und in der westlichen Welt verbreitet, nicht in den früheren Ostblockstaaten. Begründet wurde sie durch Sigmund Freud. Wesentliche Impulse erhielt sie durch Anna Freud (1895– 1982), Melanie Klein (1882–1960), Alfred Adler (1870–1937), August Aichhorn (1887–1949), Ren8 Spitz (1887–1974) und in der Bundesrepublik Deutschland besonders durch Annemarie Dührssen (1916–1998). Seit 1948 existierte eine Ausbildung zum Psychagogen, seit 1970 konnten Psychagogen zu den Krankenkassen zugelassen werden. Durch das Psychotherapeutengesetz vom 19. 6. 1998 wurde, neben anderen psychotherapeutischen Heilberufen, der Beruf des analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als neuer Heilberuf geschaffen, der, nach Approbation, zu den Krankenkassen zugelassen ist. Verschiedene Kliniken im deutschsprachigen Raum sehen das psychodynamisch-psychoanalytische Konzept als Basis an, integrieren jedoch auch andere Ansätze, da sich gezeigt hat, dass nur ein kleiner Teil der kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten mit Hilfe der analytischen Psychotherapie behandelt werden kann. Andererseits ist das psychodynamische Denkmodell eine sehr wichtige Grundlage zum Verständnis einer Vielzahl psychischer Störungen und auch familiärer Aspekte. 4. Die empirisch-epidemiologisch-statistische Tradition. Sie wird insbesondere in den angelsächsischen Ländern, vor allem in England und den USA, vertreten und ist in ihrer Ausrichtung nicht einer speziellen 31 Schumann,U (2013). Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie 3, S. 16. 32 Übersicht bei Häßler F (2016). Meilensteine der Kinderneuropsychiatrie. Fortschr. Neurol. Psychiatr 84, S1-S3; vgl. auch Kap. 8.
40
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
theoretischen Richtung verpflichtet. Sie geht von der Objektivierung empirischer Sachverhalte aus, ist darum bemüht, umfassende Versorgungsmodelle zu entwickeln und diagnostische wie therapeutische Methoden einer kritischen Evaluation zu unterziehen. In das diagnostische und therapeutische Konzept dieser Richtung sind alle Ansätze integrierbar, die sich um die Objektivierung ihres klinischen Handelns bemühen. Auch diese Richtung hat eine lange Tradition und ist derzeit vorherrschend in der deutschen Kinderund Jugendpsychiatrie. Sie ist weitgehend identisch mit der evidenzbasierten Medizin, die sich heute in allen medizinischen Fachgebieten durchgesetzt hat. Exponenten dieser Tradition sind in Europa Michael Rutter und Philip Graham. In den USA waren Leo Kanner (1894–1981), vor allem aber Leon Eisenberg (1922–2009) maßgebliche Protagonisten.
1.2.2 Fehlentwicklungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Psychiatrie im Nationalsozialismus In Abb. 1.2 ist ein Gemälde von Günther Blau33 (1922–2007) wiedergegeben, das in kompakter Form höchst eindringlich und biografisch unterlegt, die Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht34. Im Mittelpunkt steht die alles dominierende Figur Adolf Hitlers als »Kopf der Bewegung«. Rechts neben seiner Unterschrift auf der Staffelei befindet sich ein Jugendbildnis Hitlers, der in jungen Jahren einmal den Plan hatte, Kunstmaler zu werden. Links ist er als Säugling gezeigt. Die unter dem Kopf liegende Leiche symbolisiert die unzähligen Morde der Nationalsozialisten, die im Hintergrund rechts durch weitere am Galgen baumelnde Hingerichtete akzentuiert werden. Der Mann in SS-Uniform rechts im Bild, der ein Huhn hinter sich herzieht, ist Heinrich Himmler (1900–1045). Dies ist eine Anspielung darauf, dass der studierte Landwirt im Nebenerwerb zeitweise auch Hühner züchtete. Links im Bild sehen wir einen Schwan und eine Säule mit Rauchwolken als Atrribute der Wagnerverehrung Hitlers und einen Mann in Zivil neben einem Volksempfänger. Dies ist der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945). Die nationalsozialistische Weltanschauung ist nicht plötzlich entstanden, sondern hat viele Vorläufer. Zahlreiche politische, wissenschaftliche, weltanschauliche und ökonomische Strömungen konvergierten, um schließlich in einen Überwachungsstaat mit radikalem Ordnungsdenken einzumünden. Die 33 Günther Blau (1922–2007) war ein in Marburg lebender und international anerkannter Künstler, der sich aufgrund eigener Kriegserlebnisse intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigte. Das 1965 entstandene Bild ist ein Resultat dieser Auseinandersetzung. 34 Der Verfasser dankt Frau Ruthild Blau sehr herzlich für die Genehmigung zum Abdruck dieses Bildes.
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
41
Abb. 1.2: Nationalsozialismus: Gemälde von Günther Blau, WVZ Nr. 326 Mit freundlicher Genehmigung von Frau Ruthild Blau
Nationalsozialisten haben zahlreiche, lange zuvor bestehende Entwicklungen und Bewegungen aufgenommen und sie in kurzer Zeit radikal und perfektionistisch umgesetzt. In Abb. 1.2 soll die Zeit des Nationalsozialismus durch den dunklen Schatten veranschaulicht werden. Zwischen 1933 und 1945 wurden auf der Grundlage nationalsozialistischer Gesetze und Führerbefehle zahlreiche Menschen zwangssterilisiert und getötet. Die hellere Schattierung in der Abbildung reicht bis in das Jahr 1958 – damit soll gezeigt werden, dass bestimmte Vorstellungen und Konzepte und auch teilweise eine während der Zeit des Nationalsozialismus gebrauchte Terminologie weiter Bestand hatten, bis Anfang der 1960er Jahre eine Umorientierung stattfand, die auf neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch auf demokratischen und freiheitlichen gesellschaftlichen Veränderungen aufbauen konnte. In der Abbildung sind fünf Zeitströmungen wiedergegeben, die ihren Ursprung lange vor der Zeit des Nationalsozialismus haben, während des Nationalsozialismus in pervertierter Weise angewandt wurden, von denen einige auch bis heute fortwirken. Die Basis aller Maßnahmen, die die meisten, wenn nicht alle, Aktionen des Nationalsozialismus durchzieht, ist der Minderwertigkeitsgedanke. Dieser geht
42
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Abb. 1.3: Theoretische Konzepte und ihre Pervertierung in der Zeit des Nationalsozialismus, einschließlich gewisser Nachwirkungen in der Nachkriegszeit
davon aus, dass die Menschen nicht gleichwertig sind, sondern dass es wertvollere oder weniger wertvolle und auch minderwertige Menschen gibt. Er lässt sich bis in die Antike verfolgen. So lesen wir bei Seneca (1. Jhdt. n. Chr.): »Unnatürliche Nachzucht zerstören wir ; wir ertränken Kinder, die bei der Geburt schwächlich und abnormal sind, doch geschieht dies nicht aus Zorn, sondern aus Vernunft. Die Vernunft scheidet das Schädliche vom Gesunden«35. Erst in der jüdischen und christlichen Tradition wurde diese Sicht überwunden (vgl. Kap. 1). Der Minderwertigkeitsgedanke ist aber heute noch virulent. Man denke daran, dass durch die pränatale Diagnostik missgebildete Feten häufig abgetrieben werden und dass z. B. in China unter dem Aspekt der EinKind-Familie lange Zeit weibliche Feten abgetrieben wurden, weil nur Jungen erwünscht waren. Die zweite Bewegung ist die Evolutionstheorie bzw. der Sozialdarwinismus. Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass sich das jeweils Stärkere durchsetzt; der Sozialdarwinismus stellt ein biologistisches Modell der menschlichen Entwicklung dar, das auf dem Prinzip der Auslese beruht, wobei erwünschte Erbanlagen gefördert und unerwünschte ausgelöscht werden sollen. 35 Seneca: De ira I, 15, 2 (vgl. auch Kap. 1.1).
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie
43
Dieser Gedanke fand in der Eugenik-Bewegung und in der Rassenhygiene seine praktische Anwendung und hat in zahlreichen Ländern zu Zwangssterilisationen geführt, die während der Zeit des Nationalsozialismus perfektioniert und gleichsam »am Fließband« durchgeführt wurden. Die Psychohygiene-Bewegung verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz zur Förderung aller Maßnahmen, die dem Schutz der seelischen Gesundheit dienen und präventiv psychische Abweichungen und Erkrankungen zu verhindern suchen. In Deutschland wurde sie vor allem durch den Psychiater Robert Sommer (1864– 1937), der in Gießen tätig war, begründet. Auch die Psychohygiene-Bewegung wurde von den Nationalsozialisten instrumentalisiert. In der Abbildung ist Viktor Frankl erwähnt, der während seiner Internierung im KZ Theresienstadt versucht hat, psychohygienische Maßnahmen i. S. der Prävention bei den Mitgefangenen einzusetzen. Schließlich sind auch die psychotherapeutischen Strömungen zu bedenken, deren Akzent im Nationalsozialismus auf der Charakterologie und der Typenlehre lag, sich mit dem Minderwertigkeitsgedanken und der Rassenhygiene verband, um auch »charakterlich minderwertige Menschen« auszusondern. Im oberen Teil der Abbildung sind einige gesetzliche Bestimmungen sowie für die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg wichtige Gründungsdaten angegeben, so die Gründung einer Kinderabteilung im Jahr 1947, die Gründung der Erziehungsberatungsstelle 1952, die Gründung der Lebenshilfe in der Marburger Klinik 1958 und die Gründung des Kerstinheims im Jahr 1962. Auf diese für die Entwicklung der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie wichtigen Daten wird an späterer Stelle ausführlich eingegangen. Gleichzeitig verweist die Abbildung durch den Hinweis auf die Entdeckung des Chlorpromazins und des Imipramins auch auf revolutionäre Entwicklungen in der Psychiatrie. Das Jahr 1958 war auch noch in anderer Hinsicht im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Medizin bemerkenswert: In diesem Jahr führte Rudolf Zenker (1903–1984) in Marburg die erste Operation am offenen Herzen durch. Schließlich enthält die Abbildung noch einen Hinweis auf die 1968er Bewegung, die die Philipps-Universität Marburg wie wenige andere Universitäten ergriffen hatte. Auch auf diesen Aspekt wird an späterer Stelle ausführlich eingegangen. Sowohl die Psychiatrie als auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die es damals als eigene Fachdisziplin noch gar nicht gab (es gab aber sogenannte Kinderabteilungen, in denen psychisch kranke Kinder und Jugendliche behandelt wurden), haben im Nationalsozialismus eine verhängnisvolle Entwicklung genommen. Diese begann mit dem 1933 beschlossenen und am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das die Zwangssterilisation von Personen mit einer Reihe psychia-
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trischer Diagnosen zur Folge hatte. Auch das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (1935) und insbesondere der Führerbefehl zum »Gnadentod« haben den Tod einer großen Zahl von kranken und behinderten Kindern verursacht. Allein durch die sogenannte Kinderaktion in den »Kinderfachabteilungen« wurden mindestens 5000 behinderte und psychisch kranke Kinder systematisch getötet, z. B. durch die Verabreichung von tödlichen Injektionen oder durch Nahrungsentzug. Der T4-Aktion (benannt nach dem Hauptquartier in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin) fielen etwa 80.000 psychisch kranke und behinderte Menschen zum Opfer. In geradezu zynischer Weise wurden zahlreiche dieser Entwicklungen (u. a. Versuche mit infektiösen Erregern an psychisch Kranken) mit dem Etikett wissenschaftlicher Untersuchungen verbrämt. Viele dieser sogenannten Wissenschaftler fanden in der Nachkriegszeit wieder führende Positionen in der deutschen Medizin und erst sehr spät wurde mit einer Aufarbeitung dieses Teils der nationalsozialistischen Vergangenheit begonnen. Stellvertretend für die inzwischen in großer Zahl vorliegenden Einzelarbeiten sei auf die umfassenden Monographien von Castell et al. (2003)36 und von Fangerau, Topp und Schepker (2017) hingewiesen37. Diese »Wissenschaft auf Irrwegen«, wie ein Band zu dieser Thematik überschrieben ist, erfuhr in der Darstellung des Bonner Medizinhistorikers Heinz Schott (1992) Unterstützung aus drei Argumentationszusammenhängen: – Aus der ökonomischen Begründung, die für die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« eintrat, um die Gesellschaft von »Ballastexistenzen« zu befreien, die sie ökonomisch ruinierten; – aus der biologischen Begründung, die sich auf Rassenideologie und Rassenbiologie erstreckte und die erbkranke und Angehörige sogenannter »minderwertiger Rassen« beschuldigte, das gesunde Erbgut zu verderben und eine biologische Degeneration der Gesellschaft herbeizuführen und – aus der psychologischen Begründung, die zwar von den beiden anderen Begründungen überlagert wurde, die jedoch einen verhängnisvollen Zusammenhang zwischen erblicher Belastung, körperlichen Eigenschaften und dem Seelenleben jener Menschen herausstellte, deren Existenz als schädlich für die Gemeinschaft angesehen wurde.
36 Castell R et al (2003). Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 37 Fangerau HJ, Schepker K, Topp S (Hrsg) (2017). Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Springer, Heidelberg.
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1.2.3 Gesten der Versöhnung nach dem Krieg Die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie, die vor dem Zweiten Weltkrieg gute Kontakte zu den Vertretern und Organisationen der europäischen und internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte, lag nach dem Kriege buchstäblich am Boden. Dabei hatte es vor dem 2. Weltkrieg gut begonnen. Bereits 1935 hatten sich führende europäische Kinderpsychiater (unter Einschluss der deutschen) zu einer Gruppe zusammengeschlossen, aus deren Initiative die »International Association for Child and Adolescent Psychiatry« hervorging (Caplan et al. 1994).Zusammen mit der Mental Hygiene Conference, die 1937 in Paris stattfand, organisierte Georges Heuyer (1884–1977) als Präsident die erste »International Conference on Child Psychiatry«, die sich zum Ziel gesetzt hatte, weitere internationale Tagungen durchzuführen. Paul Schröder (Leipzig, 1873–1941) wurde Präsident des neugegründeten »International Committee for Child Psychiatry«. Es war geplant, die zweite Tagung 1941 in Leipzig durchzuführen, doch Paul Schröder starb und der Zweite Weltkrieg unterbrach jede Kommunikation deutscher Kinder- und Jugendpsychiater mit ihren ausländischen Kollegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die im Dritten Reich begangenen Untaten, die sowohl Patienten gegenüber begangen wurden als auch gegenüber Fachkollegen und insbesondere jüdischen Wissenschaftlern, die ins Ausland geflohen waren, als tiefer Graben zwischen der deutschen und der internationalen Ärzteschaft. Dieser Graben konnte auch nicht so schnell überwunden werden. Einen ersten Versuch, mit der europäischen und internationalen Kinderpsychiatrie wieder in Kontakt zu kommen, unternahm Heinrich Többen38, der als einer der zwölf deutschen Delegierten am I. Internationalen Kongress der Kinderpsychiater 1937 in Paris teilgenommen hatte, im Jahr 1946 in einem Brief an Heuyer. Dieser wies damals seine Anfrage allerdings zurück. Als die Deutsche Vereinigung für Jugendpsychiatrie im Jahr 1953 Heuyer zum korrespondierenden Mitglied vorschlug, nahm dieser die Ehrung an und schrieb am 3. August unter Bezugnahme auf Többens Schreiben nachfolgenden Brief an den Vorsitzender der DVJ, Werner Villinger, der hier wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung (nur leicht gekürzt und ins Deutsche übersetzt) wiedergegeben wird39 :
38 Heinrich Többen (1880–1951) war Rechtsmediziner (Lehrstuhlinhaber in Münster seit 1924) und forensischer Psychiater. Nach Wikipedia war er nicht NSDAP-Mitglied, aber Mitglied des NS-Dozentenbundes und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und förderndes Mitglied der SS. 39 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
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»Ich habe das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass ich über diese Ernennung, die ich als Ehrung empfinde, tief gerührt bin. Aber ich muss Ihnen, dessen Gefühle ich kenne40, auch sagen, dass Ihr Brief für mich eine ernste Gewissensfrage aufgeworfen hat. 1946 habe ich von Herrn Prof. Többen aus Münster, den ich 1937 auf dem internationalen Kinderpsychiater-Kongress in Paris kennengelernt hatte, einen Brief erhalten, in dem er mich um Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen bat. Damals habe ich abgelehnt. Ich habe meine zwei ältesten Söhne während des Krieges unter der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen verloren. Sie waren beide junge Mediziner, meine Freude und meine Hoffnung. Der eine ist im Krieg gefallen, der andere acht Tage vorher an Tuberkulose gestorben, geschwächt durch schlechte Ernährungslage. Ich wusste um ihre Empfindungen. Ich glaubte, einen Verrat an ihrem Andenken zu begehen, wenn ich die Beziehungen zum Gegner von gestern wieder aufnahm. Seitdem habe ich nachgedacht, und ich habe mich bemüht, meine Bedenken zu überwinden. Das medizinische Fachgebiet, dem ich mich verschrieben habe, verpflichtet mich, alle meine Kräfte für die Erhaltung des Friedens und das Gedeihen der Jugend einzusetzen. In der Ungewissheit, die heute auf der Welt lastet, ist die einzige Hoffnung auf Frieden und Freiheit in der Organisation Europas durch eine Entente zwischen Deutschland und Frankreich. Selbstverständlich sollte man die Opfer jener, die ihr Leben gelassen haben, weder vergessen, noch Verrat an ihnen begehen. Man sollte sich den Despotismus stets vor Augen halten, um seinem verheerenden Einfluss zu begegnen und die Kraft zur Errichtung eines freien, demokratischen und befriedeten Europas finden zu können. Aus dieser Gesinnung heraus danke ich Ihrer Gesellschaft für meine Ernennung zum korrespondierenden Mitglied und nehme die mir zuteil gewordene Ehrung an. Empfangen Sie im besten Gedenken den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung.«
Noch 1967 schrieb der schweizerische Kinderpsychiater Adolf Friedemann im Rückblick auf Begegnungen im Jahre 1954 über die Einbeziehung deutscher Psychiater in die »Union Europäischer Pädopsychiater (UEP)«: »Ein ergreifendes und beispielhaftes Zeugnis menschlicher Größe bot uns der hochverehrte Georges Heuyer, an dessen Sohn sich die Feindesmacht im Geiselmord versündigt hatte. Auch für Herrn Tramer war es nicht leicht, die Empfindungen hintan zu stellen, die noch immer nach der Ausmerzung nahe verwandter Familien in ihm kochten, die als Kollektivopfer des Rassenwahns gestorben waren« (S. 17)41.
40 Dies dürfte eine Anspielung darauf sein, dass auch Villingers ältester Sohn im Krieg gefallen war. Christian Villinger berichtet, dass Heuyer und sein Vater sich über dieses gemeinsame Schicksal ausgesprochen und dabei geweint hätten. Mündlicher Bericht am 16. 12. 2014. 41 Nach Mitteilung von Rolf Castell vom 2. 2. 2013 sind die Angaben Friedemanns im Jahrbuch für Jugendpsychiatrie bezüglich der Zeitangabe unrichtig. Die Begegnungen fanden nicht 1952, sondern 1954 statt.
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In der Biographie von Jean-Louis Lang über Georges Heuyer42 findet sich folgende Darstellung zum Tod der beiden Söhne von Heuyer : »Pierre musste 1945 im Krankenhaus behandelt werden wegen eines Pleuro-Pneumothorax, der sich infiziert hatte. Seine Frau Beno%te Groult hatte ihren Schwiegervater alarmiert, der Penicillin besorgte, das zu der Zeit äußerst rar war, aber es war bereits zu spät und Pierre starb zwei Tage später in ihrem Beisein. Inzwischen hatte Philippe sich im Widerstand (Arm8e de la Lib8ration) engagiert und befand sich in Ch.lons-sur-Marne. Als er vom Zustand seines Bruders erfuhr, lieh er sich von einem Kameraden dessen Motorrad, kam aber ebenfalls nicht mehr rechtzeitig bei seinem Bruder an. In diesen Zeiten, in denen sich jeglicher Transport extrem schwierig gestaltete, begleitete er seine Schwägerin und seinen toten Bruder nach Saint-Gervais, wo Pierre provisorisch beigesetzt wurde in einem Kellergewölbe, das entfernten Verwandten gehörte, und folgte seiner Familie dann nach Paris. Einige Tage später, während er die Überführung des Leichnams nach Ch.lons mit dem Motorrad vorbereitete, wurde er auf dem Boulevard Saint-Germain von einem Polizeiauto überfahren. Innerhalb einer Woche hatte Georges Heuyer seine beiden älteren Söhne verloren.«
Die des Öfteren zitierte Version von Friedemann, auch wenn sie im Tenor zutreffend ist, muss gemäß der Darstellung von Lang korrigiert werden43. Unter diesen schwierigen menschlichen Bedingungen muss man den Zusammenschluss europäischer Kinder- und Jugendpsychiater und die Einbeziehung deutscher Kollegen sehen, auf den an späterer Stelle noch ausführlich eingegangen wird.
1.2.4 Etappen in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie Die im Folgenden voneinander unterschiedenen Etappen, die nach jeweils prototypischen Zeitströmungen und Ereignissen benannt sind, sollen der Orientierung dienen. Sie überlappen sich teilweise und erheben nicht den Anspruch, die Ereignisse des jeweiligen Zeitraums vollständig zu beschreiben44.
42 Lang, J.-L. (1997). Georges Heuyer, fondateur de la p8dopsychiatrie, Expansion Scientifique publications, Paris, 122–123. 43 Den Hinweis auf die Darstellung von Lang verdankt der Verfasser einer Mitteilung von Rolf Castell vom 2. 2. 2013. 44 Vgl. Remschmidt H in Helmchen H (2008). Psychiatrie und Zeitgeist, Pabst, Lengerich.
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
1.2.4.1 Etappe der Orientierungssuche und Reorganisation (1945–1958) Die Suche nach einer Neuorientierung der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigte sich darin, dass ihre führenden Vertreter, von denen manche auch in die Machenschaften des Nationalsozialismus involviert waren, Entwicklungen aus dem Ausland aufzunehmen versuchten. Ob sie es immer aus Überzeugung taten oder aus karriereorientierten Intentionen, kann rückblickend schwer entschieden werden. Jedenfalls traf dies auch auf Werner Villinger (1887–1961) zu, der 1946 von Tübingen nach Marburg kam und hier in der damaligen Universitätsnervenklinik, deren Direktor er wurde, eine kinder- und jugendpsychiatrische Station einrichtete. Er wurde im besagten Jahr auf den Lehrstuhl von Ernst Kretschmer berufen, der von 1926–1946 in Marburg wirkte und gewissermaßen im Austausch mit Werner Villinger nach Tübingen berufen wurde. Villinger hatte in Tübingen unter dem bekannten Psychiater Gaupp (1870–1953) die »verstehende Psychologie« in der Psychiatrie kennen gelernt und wirkte vor seiner Tätigkeit als Chefarzt der Anstalt in Bethel (1924) und seiner Berufung nach Breslau und Tübingen 8 Jahre als »staatlicher Kinder- und Jugendpsychiater der Hansestadt Hamburg«. Während des Krieges war er als beratender Psychiater und Neurologe tätig. Sein Name findet sich auch in der Liste der T4-Gutachter, die im Nationalsozialismus die Aufgabe hatten, jene Patienten auszuwählen, die der Euthanasie anheimfallen sollten (zur Biographie vgl. Holtkamp, 2002)45. Villinger bemühte sich in den ersten Nachkriegsjahren, fortschrittliche Entwicklungen im Ausland kennen zu lernen, um sie im Marburger Raum zu realisieren. Hierzu dienten u. a. Konferenzen, die von den Alliierten mit dem Ziel veranstaltet wurden, eine Umorientierung, um nicht zu sagen »Umerziehung«, deutscher Fachleute zu erreichen. Von besonderer Bedeutung für die unmittelbare Nachkriegsentwicklung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie war die internationale Tagung »Gesundheit und mitmenschliche Beziehungen«, die vom 2.–7. 8. 1951 in Hiddesen bei Detmold stattfand. Sie wurde u. a. von der Josiah Macy, Jr. Foundation (New York), der World Federation for Mental Health (London) und der World Health Organization (WHO) (Genf) unterstützt und führte nicht nur zu einem Informationsaustausch zwischen überwiegend amerikanischen und deutschen Praktikern und Wissenschaftlern, die sich mit der seelischen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien beschäftigen, sondern hat nachhaltig zur Etablierung einer humanitären Haltung der im Aufbau befindlichen deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie beigetragen. Der Bericht über diese Tagung 45 Er hat aber vor Gericht mehrfach ausgesagt, keine Gutachten im Rahmen der T4-Aktion angefertigt zu haben. Das Verfahren diesbezüglich wurde 1961 eingestellt. Zu den Einzelheiten vgl. Kap. 2.3.1.
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verdeutlicht in eindrucksvoller Weise, vor welchen Schwierigkeiten und Problemen die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie damals stand (Eckardt und Villinger, 1953). Im März 1951 erhielt Werner Villinger aus dem McCloy Fund eine Spende für den Neubau einer modernen Erziehungsberatungsstelle, die am 27. 11. 1952 als »Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe der Philipps-Universität« eröffnet werden konnte und in dieser engen Verbindung zur Universität bis zum 1. 10. 2006 verblieb. Das Jahr 1952 ist für die gesamte Psychiatrie aber aus einem ganz anderen Grund bedeutsam: In diesem Jahr wurde durch Delay und Deniker das erste Psychopharmakon (Chlorpromazin) eingeführt. Diese Entdeckung und ihre Weiterentwicklung haben das Bild psychiatrischer Kliniken von Grund auf verändert. 1.2.4.2 Jahrzehnt des Aufbaus und der Verunsicherungen (1958–1968/69) Der Beginn dieses Jahrzehnts war gekennzeichnet durch bemerkenswerte Aufbauleistungen in der Bundesrepublik und das beginnende Wirtschaftswunder. Davon haben auch klinische und wissenschaftliche Institutionen profitiert. Parallel zu den vielfältigen Aufbauleistungen und unter Intensivierung gegen Ende des Jahrzehnts ergaben sich allerdings auch zahlreiche Verunsicherungen. Die Studentenbewegung (verkörpert durch Außerparlamentarische Opposition und den Sozialistischen Studentenbund) trat mit dem Ziel auf, die Gesellschaft zu verändern (1960–1968), protestierte gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition, mahnte die bislang ausgebliebene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an und forderte eine Demokratisierung der Universität mit dem Slogan »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren«. Parallel hierzu entwickelte sich die »Heim-Kampagne« (1969), die Heimbewohner als revolutionäres Potential ansah, eine Erziehungsrevolution forderte und die antiautoritäre Erziehung propagierte, die bei vielen jungen Eltern zu einer starken Verunsicherung führte, deren Ergebnisse später nicht selten einer Erziehungsberatung oder gar klinischer Intervention bedurften. Die Heimkampagne begann übrigens 1969 im Jugendheim Staffelberg in Biedenkopf bei Marburg und hat letztlich dazu geführt, dass bis heute keine geschlossenen Heimplätze in Hessen existieren. In die Heimkampagne involviert waren auch RAF-Terroristen, u. a. Andreas Baader und Astrid Proll (Winkler 2007). 1.2.4.3 Jahrzehnt der Sozialpsychiatrie und antipsychiatrischer Strömungen (1968–1978) Die Sozialpsychiatrie entwickelte sich als berechtigte Antwort auf die unhaltbaren Zustände in den psychiatrischen Anstalten und Kliniken. Weitgehend
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parallel hierzu entstanden antipsychiatrische Bewegungen (der Terminus wurde 1967 von David Cooper46 geprägt), die psychiatrische Diagnosen und Erkrankungen als Produkt sozialer, politischer und juristischer Etikettierungsprozesse ansahen. Stichworte sind hier der »labelling approach«, die StigmatisierungsThese und der Etikettierungsansatz. Diese Bewegung ist mit den Namen Szasz47, Laing48, Basaglia49 und Goffman50 verbunden und führte 1970 in Heidelberg zur Gründung des »Sozialistischen Patientenkollektivs« (seit 1973 als »Patientenfront« bezeichnet). Diese Gruppierung verstand sich zunächst als Therapiegemeinschaft, wollte dann aber aus der Krankheit eine Waffe machen und strebte die klassenlose Gesellschaft an, wobei der Erzfeind die »Ärzteklasse« war. Krankheit wurde als »politischer Sachverhalt« begriffen, der in sogenannten Agitationen aufgearbeitet wurde. In der Einzelagitation mit dem Patienten wurde herausgearbeitet, »dass seine individuelle Problematik die realitätsadäquate Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse« darstellt, und als der Zusammenhang zwischen persönlichem Leid und Gesellschaft zu verstehen ist. In der Gruppenagitation brachte der Patient dann seine Schwierigkeiten in die 46 David Cooper (1931–1986) war ein südafrikanischer Psychiater und Psychiatrie-Theoretiker, der gemeinsam mit Laing, Szasz und Foucault die Anti-Psychiatrie-Bewegung initiierte. Der existentialistische Marxist (so bezeichnete er sich selbst) führte wahnbildende psychiatrische und auch andere psychiatrische Erkrankungen auf gesellschaftliche Ereignisse zurück (Wikipedia, 17. 07. 2017). 47 Thomas Szasz (1920–2012) war ein ungarisch-amerikanischer Psychiater und Mitbegründer der Anti-Psychiatrie-Bewegung. Er war zuletzt bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990 Professor für Psychiatrie an der State University New York. Viel Kritik brachte ihm seine Liaison mit der Scientology-Sekte ein (Wikipedia, 17. 07. 2017). 48 Ronald David Laing (1927–1989) gehört ebenfalls zu den Mitbegründern der antipsychiatrischen Bewegung. Der britische Psychiater und Psychoanalytiker war u. a. an der Tavistock-Klinik in London tätig. Seine bekannteste Schrift ist das Buch »The divided self« (1960), das auch in deutscher Sprache erschienen ist. 49 Franco Basaglia (1924–1980) war ein italienischer Psychiater. Er studierte an der Universität Padua und übernahm nach seiner psychiatrischen Weiterbildung 1961 die Leitung des Psychiatrischen Krankenhauses Gorizia, wo er über die Zustände dort so entsetzt war, dass er grundlegende Reformen einführte, letztlich aber zu der Überzeugung kam, dass die psychiatrischen Anstalten aufgelöst werden müssten. Nach zahlreichen Interventionen mit Gleichgesinnten beschloss das italienische Parlament am 13. Mai 1978 tatsächlich ein Reformgesetz, das zur Schließung der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser in Italien führte (Wikipedia, 21. 7. 2017). So begrüßenswert dieser Schritt war, weil er unhaltbare Zustände beendete, so problematisch war er für die Patienten, für die keine adäquaten Ersatzlösungen eingeleitet wurden, so dass in Norditalien viele Patienten in Österreich Hilfe suchen mussten. 50 Erving Goffman (1922–1982) bearbeitete als Soziologe psychiatrische Themen und wurde zu einem der schärfsten Kritiker der traditionellen Psychiatrie, insbesondere der stationären Einrichtungen. Sein bekanntestes Werk »Asyle« (deutsche Ausgabe 1972) beschäftigt sich mit der »totalen Institution« und enthält ein Plädoyer für eine vollständige »Entinstitutionalisierung« von psychiatrischen Krankenhäusern, Altenheimen, Kinderheimen und Gefängnissen. Goffman war zuletzt Professor für Anthropologie und Soziologie an der Universität von Pennsylvania.
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Gruppe ein, wo er seine individuelle Situation als allgemeine Situation begreifen lernte« (Roth, J. Kursbuch 28, S.117, 1972). Einige Mitglieder des Sozialistischen Patientenkollektivs schlossen sich später der Roten Armee Fraktion (RAF) an. In diesen Entwicklungen zeigt sich sehr deutlich, dass die Psychiatrie politisch instrumentalisiert wurde – freilich kein neues Phänomen und tragisch nicht nur für die Betroffenen. Auch totalitäre Regimes haben sich stets dieser Instrumentalisierung in jeweils unterschiedlicher Weise bedient (Missbrauch der Psychiatrie im Nationalsozialismus, in der UdSSR oder auch in der DDR). Der Missbrauch der Psychiatrie wird erst beendet sein, wenn eines Tages die Ursachen psychischer Erkrankungen zweifelsfrei aufgedeckt sind. Im Gefolge der antipsychiatrischen Bewegungen kam es zur Schließung von Kliniken und zur Verelendung von Patienten, die keine Hilfe mehr erhielten. Eine Parallele zur Heim-Kampagne drängt sich hier auf. Aus den sozialpsychiatrischen Initiativen und z. T. auch aus der Antipsychiatrie ergaben sich aber auch positive Folgen wie z. B. die Reform psychiatrischer Einrichtungen, der Aufbau neuer Institutionen und der Kampf gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung psychisch Kranker.
1.2.4.4 Jahrzehnt der Psychiatriereformen (1978–1988) Die in diesem Jahrzehnt stattgehabten Psychiatriereformen sind als geradezu revolutionärer Fortschritt zu betrachten und nicht unabhängig von den vorangegangenen Bewegungen der Sozialpsychiatrie und auch der Antipsychiatrie. Nachdem die Mitglieder der Psychiatrie-EnquÞte bereits 1975 einen gediegenen Bericht über die Lage der Psychiatrie abgeliefert und dieser 5 Jahre in den Schubladen der Bundesregierung geruht hatte, entschloss sich diese, das Modellprogramm Psychiatrie zu etablieren (1980–1985), das mit erheblichem finanziellen Aufwand eine grundlegende Veränderung der deutschen Psychiatrie ermöglichte. Bundesweit sollten in 14 sogenannten »Modellregionen« neue Versorgungskonzepte erprobt, neue Institutionen gegründet und alte reformiert werden, wobei vier Leitprinzipien verfolgt wurden: (1) Gleichstellung psychiatrischer Patienten mit anderen Patienten, (2) Integration der Psychiatrie in die Medizin, (3) Gemeindenähe und (4) Angemessenheit der Versorgung. Marburg und die umliegenden Landkreise bildeten die einzige Modellregion mit dem Versorgungsschwerpunkt psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Hier konnte eine nahezu lückenlose versorgungsepidemiologische Untersuchung in drei hessischen Landkreisen durchgeführt werden (Remschmidt und Walter 1989), es wurde eine Tagesklinik gegründet und es wurden Versorgungsbedarf und Versorgungsrealität von einer eigenen Evaluationsgruppe untersucht und miteinander verglichen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen trugen in den
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Folgejahren zur Verbesserung der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik bei. Das Jahrzehnt der Psychiatriereform hatte bedeutsame Auswirkungen auch auf die folgenden Jahrzehnte: So wurde im Zeitraum zwischen 1991–1995 die Psychiatrie-Personalverordnung etabliert, die erstmals die Personalbemessung nicht mehr an der Relation Patient:Betreuer orientierte, sondern die Intensität und den Aufwand der Betreuung und Versorgung zum Maßstab machte. Weitere Folgewirkungen waren die Einbeziehung der Psychotherapie in das Weiterbildungs-Curriculum zum Kinder- und Jugendpsychiater (1992) und das Gesetz über den psychologischen Psychotherapeuten (1999), das Psychologen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gesetzlich festgelegte Ausbildungs- und Behandlungsmöglichkeiten eröffnete. Nicht zufällig ist vielleicht, dass im Jahrzehnt der Psychiatriereformen auch die Anti-Gewaltkommission der Bundesregierung (1987) gegründet wurde, der es gelang, das Züchtigungsverbot von Eltern gegenüber ihren Kindern gesetzlich zu verankern (Schwind, Baumann et al. 1990). 1.2.4.5 Jahrzehnt der Rückbesinnung auf die biologische Psychiatrie (1988–1998) Dieser Abschnitt wurde deswegen mit »Rückbesinnung« überschrieben, weil eine wichtige Entwicklungslinie in der Psychiatrie schon immer (seit der Antike) der biologischen Verursachung psychischer Erkrankungen verhaftet war. Nur wurde diese Linie in mehr oder weniger großen Zeiträumen überdeckt, z. T. auch verachtet und verurteilt, durch Zeitströmungen, die die Ursachen seelischen Krankseins vorwiegend oder gar ausschließlich in den sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen sahen oder gar als Erfindung der Psychiater. Davon ist auch die Psychoanalyse nicht ausgenommen, obwohl ihr Begründer Sigmund Freud davon überzeugt war, dass man eines Tages psychische Störungen auf biologische Ursachen würde zurückführen können. Wichtiger Vorläufer der biologischen Betrachtungsweise im 19. Jahrhundert war Griesinger, dessen Ausspruch »Psychische Krankheiten sind Krankheiten des Gehirns« (1845) Leitmotiv für die Erforschung und Behandlung psychischer Krankheiten wurde. Eine weitere Strömung der biologischen Psychiatrie leitet sich aus dem Aufkommen des Entwicklungsgedankens und der Evolutionstheorie ab, die mit den Namen Charles Darwin (1859), Herbert Spencer (1880) und John Hughlings-Jackson (1835–1911) verbunden ist, deren Gedanken Detlev Ploog (1920– 2005) aufgriff und als an der Evolution orientierte Verhaltensforschung in die Psychiatrie einführte. Von dieser Betrachtungsweise hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie in besonderer Weise profitiert, beispielsweise bei der Interpretation autistischer Verhaltensweisen.
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Die noch anhaltende neueste Phase der biologischen Psychiatrie wurde akzentuiert durch die Proklamation der »Dekade des Gehirns« (1990–2000) durch den amerikanischen Kongress und inhaltlich ausgestaltet durch die bedeutsamen methodischen Fortschritte auf dem Gebiet der Genetik (PCR, Genome Scan, humanes Genomprojekt), durch die Entwicklung bildgebender Verfahren, die es erlaubten, das Gehirn gewissermaßen »bei seiner Arbeit« zu beobachten sowie durch die Erweiterung des elektrophysiologischen und biochemischen Methodenspektrums. 1.2.4.6 Epoche der Integration unterschiedlicher Denk- und Handlungsweisen (1998 bis heute) Das Jahrzehnt, in dem wir jetzt leben, ist durch eine derartige Vielfalt von methodischen Ansätzen und Erkenntnismöglichkeiten gekennzeichnet, dass jede Charakterisierung vielleicht zu kurz greifen muss. Es ist aber dennoch das Gebot der Stunde die unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen zu integrieren und die Bestrebungen hierzu sind allenthalben zu beobachten. Die Vereinheitlichung der Diagnostik erleichtert die Verständigung und die Zusammenarbeit, wobei wir uns der Vorläufigkeit aller diagnostischen Systeme stets bewusst sein müssen. Gegensätze zwischen theoretischen Positionen und praktischem Handeln werden zunehmend durch empirische Evidenz aufgehoben. Multizentrische Studien an großen Patientenkollektiven sind erforderlich und fördern die globale Zusammenarbeit und spekulative sowie ideologische Auffassungen wurden und werden durch empirische Evidenz widerlegt. Zu ihnen gehört z. B. die sogenannte »Eisschrank-Mutter« als Verursacherin autistischen Verhaltens bei ihrem Kind, die Betrachtung der Schizophrenie als Produkt gesellschaftlicher Etikettierungen, die »schizophrenogene Mutter« als Ursache einer schizophrenen Erkrankung ihres Kindes, die Legasthenie als »Unterschichtsphänomen« oder das hyperkinetische Syndrom als Resultat eines primären Eltern-Kind-Konflikts.
1.3
Die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendpsychiatrie ist natürlich Teil der europäischen. Wie die deutsche, so hat auch die europäische Kinderpsychiatrie zahlreiche Vorläufer. Ihr organisatorischer Zusammenschluss erfolgte jedoch erst relativ spät, später als die Gründung der internationalen Fachgesellschaft und unterbrochen durch den Krieg, dessen Auswirkungen auch aufgrund persönlicher Verluste und tragischer Erfahrungen die Kontaktaufnahme der Ausländer zu uns Deutschen sehr erschwerten (vgl. Stutte 1980/81). Besondere
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Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Verdienste um die Gründung der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und den Zusammenschluss europäischer Kinder- und Jugendpsychiater haben sich im deutschsprachigen Bereich Adolf Friedemann (1902–1981) und Werner Villinger erworben. Auf die Schwierigkeiten der Wiederaufnahme von Beziehungen zwischen deutschen Kinderpsychiatern und ihren europäischen Kollegen wurde bereits zuvor hingewiesen. Das erste Symposium europäischer Pädopsychiater fand am 30. und 31. 10. 1954 in Magglingen (Schweiz) statt. Damals klagte Georges Heuyer (1884–1977) über unseriöse Methoden und mangelhafte wissenschaftliche Fundierung sogenannter neuerer Erkenntnisse. Seine Ausführungen haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren: »Wir sind voller Angst vor der steigenden Flut von Nichtskönnern und Schwätzern, die das Kind nur mit Worten oberflächlich behandeln wollen« (zit. nach Friedemann 1967). Am 31. 10. 1954 erfolgte die Gründung der Union Europäischer Pädopsychiater. Moritz Tramer (1882–1963) wurde zum Präsidenten gewählt, Jakob Lutz (1903–1998) zum geschäftsführenden Präsidenten. Als Vizepräsidenten fungierten L8on Michaux (1899–1978), Camillo Sante de Sanctis (1862–1935) und Werner Villinger. Zum Schriftführer (Generalsekretär) wurde Adolf Friedemann gewählt. Laut Satzung sollte sich der Sitz der Gesellschaft am Wohnort des Generalsekretärs befinden, also zum Zeitpunkt der Gründung in Biel/Bienne, wo Adolf Friedemann das Institut für Psychohygiene leitete. Am ersten Symposium, dem Gründungssymposium der UEP, nahmen folgende 26 Personen aus neun europäischen Ländern teil51: Franziska Baumgarten-Tramer (Bern), Bergier (Lausanne), H. Bersot (Le Landeron), Giovanni Bollea (Rom), Walter Deuchler (Zürich), S.E. Donner (Helsinki), Vitor Fontes (Lissabon), Jürgen Freund (Köln), Adolf Friedemann (Biel), Häberli (Biel), Georges Heuyer (Paris), B. Kistler (Bern), Heinrich Koch (Tübingen), Dick Arnold van Krevelen (Den Haag), Jakob Lutz (Zürich), L8on Michaux (Paris), Camillo Sante de Sanctis (Rom), Hans Aloys Schmitz (Bonn), Rudolf Sieverts (Hamburg), Walter Spiel (Wien), Franz Günther von Stockert (Rostock), Hermann Stutte (Marburg), Sunier (Amsterdam), Moritz Tramer (Bern), Werner Villinger (Marburg) und R. Wyss (Munsingen). Über die Gründungsversammlung und die Beschlüsse finden sich detaillierte Ausführungen im Jahrbuch für Jugendpsychiatrie, Bd. VI (1967). U. a. wurde beschlossen, die »Sonderausbildung« der Kinder- und Jugendpsychiater zu fördern und für die Einrichtung von Lehrstühlen für Pädopsychiatrie an den Universitäten einzutreten. Solange die Ausbildung an den Universitäten nicht gesichert sei, sollten Sonderkurse für Kinderärzte und Psychiater von mindestens vierjähriger Dauer eingerichtet werden. Ferner sollte 51 Castell et al. (2003), S. 161/162; Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
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Die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie
die Zusammenarbeit zwischen Jugendrichter und Kinderpsychiater ausgebaut werden. Eine Satzung wurde damals bewusst nicht verabschiedet. Dies geschah erst am 15. September 1960 in Paris auf dem I. Europäischen Kongress der Kinderpsychiater. Die offizielle Gründung der Union Europäische Pädopsychiater, verbunden mit dem ersten Kongress der UEP, erfolgte jedoch erst 1960 in Paris. Der Kongress war zugleich das 6. Symposium Europaeicum Paedopsychiatricum. Er stand unter der Leitung von L8on Michaux. Weitere Kongresse fanden 1963 in Rom, 1967 in Wiesbaden, 1971 in Stockholm, 1975 in Wien, 1979 in Madrid, 1983 in Lausanne, 1987 in Varna/Bulgarien, 1991 in London, 1995 in Utrecht, 1999 in Hamburg, 2003 in Paris, 2007 in Florenz, 2009 in Budapest und 2011 in Helsinki, 2013 in Dublin, 2015 in Madrid und 2017 in Genf statt. Eine vollständige Liste der ESCAP-Kongresse mit den jeweiligen Themen und Präsidenten ist in Tab. 1.4 wiedergegeben. Tab. 1.4: Kongresse der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP) und ihrer Vorläuferorganisationen Kongress
Zeit
Ort
Kongresspräsident
I.
1960
Paris/ rance
Leon Michaux
II.
1963
III.
1967
Rome/ Giavanni Bollea taly Wiesbaden/ Hermann Stutte Germany
IV.
1971
V.
1975
VI.
Themen The Problem of maturation Character disorders in childhood and adolescence The time factor and predisposition / Pedagogical therapy and psychotherapy / Somatic therapy Psychoses in oligophrenic subjects
Stockholm/ Sweden Vienna/ Austria
Sven Ahnsjö
1979
Madrid/ Spain
VII.
1983
Lausanne/ Switzerland
A. Torrente Serrate Early diagnosis and prevention of neuropsychiatric disorders in children in the first six years life Walter Bettschart Aggression and the family
VIII.
1987
IX.
1991
Varna/ Bulgaria London/ United Kingdom
Walter Spiel
Depressive states in children and adolescents Therapies in child and youth psychiatry
Christo Christosov The vulnerable child Philip Graham
Coping with Adversity
56
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Kongress
Zeit
Ort
Kongresspräsident
Themen
X.
1995
Herman van Utrecht/ Engeland The Netherlands
Changing views
XI.
1999 2003
Helmut Remschmidt Philippe Jeammet
New challenges, new solutions
XII.
Hamburg/ Germany Paris/ France
XIII.
2007
Florence/ Italy
Ernesto Caffo
XIV.
22–26 August 2009
Budapest
Tuula Tamminen
XIV:
Helsinki/ Finland
Tuula Tamminen
Hope for bright futures
XV.
11–15 June 2011 2013
Dublin
Sue Bailey
»Children don’t know what we can do for them«
XVI.
2015
Ruud Minderaa
XVII.
1–5 July 2017
Madrid/ Spain Geneva
From research to clinical practice: linking the expertise Transition: Evolving environment or break of balance?
Stephan Eliez
Developmental psychopathologie – Transmission and change Bridging the gaps – Integrating perspectives in child and adolescent mental health Quality of Life in Child and Adolescent Mental Health
Eine zusammenfassende Übersicht über die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Europa gibt eine Monographie, die aus Anlass des XI. ESCAPKongresses in Hamburg erarbeitet wurde. In ihr sind die Geschichte, die damalige Situation und die künftigen Perspektiven der Kinder- und Jugendpsychiatrie in 31 europäischen Ländern nach einer identischen Gliederung dargestellt (Remschmidt und van Engeland, 1999). Seit 1992 existiert eine eigene europäische Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ECAP), die sich zu einem gediegenen Publikationsorgan entwickelt hat52 In der Amtsperiode 1979–1983 erfolgte eine Umbenennung der Union Europäischer Pädopsychiater in »European Society for Child and Adolescent Psychiatry« (ESCAP). 52 Zur Gründungsgeschichte vgl. Remschmidt H, Graham Ph (2017). 25th anniversary of ECAP: The origin of the journal. European Journal of Child and Adolescent Psychiatry, 26, 137–138.
Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie
57
Eine besondere Bedeutung für die Vereinheitlichung der Facharztweiterbildung in Europa hat die Sektion für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie innerhalb der »Union Europ8enne des M8decins Sp8cialistes« (U.E.M.S.) erlangt. Die Sektion hat ein europäisches Curriculum für die Facharztweiterbildung (Training Log-Book) erarbeitet, das in verschiedenen europäischen Ländern angewandt wird, aber noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden hat.
1.4
Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie
Einige Pioniere der europäischen Kinderpsychiatrie schlossen sich 1935 zu einer Gruppe zusammen, aus deren Initiative die heute bestehende »lnternational Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions« (IACAPAP) hervorging. (Caplan und Mitarb. 1985). Zusammen mit der Mental Hygiene Conference, die 1937 in Paris stattfand, organisierte Georges Heuyer als Präsident die erste »lnternational Conference on Child Psychiatry«, die sich die Organisation weiterer internationaler Tagungen zum Ziel setzte. Paul Schröder (Leipzig) wurde Präsident des neugegründeten »lnternational Committee for Child Psychiatry«. Es war geplant, die zweite Tagung 1941 in Leipzig durchzuführen, doch Paul Schröder starb in diesem Jahr und der Zweite Weltkrieg machte die Durchführung internationaler Kongresse unmöglich. 1945 trafen sich die Geschäftsführer des International Committee for Child Psychiatry in Zürich und beschlossen, die zweite Tagung in London mit J.R. Rees (1890–1969) als Präsidenten durchzuführen. Sie fand vom 11.–14. August 1948 statt. Weitere internationale Tagungen wurden abgehalten 1954 in Toronto (Kanada), 1958 in Lissabon (Portugal), 1962 in Scheveningen (Holland), 1966 in Edinburgh (Schottland), 1970 in Jerusalem (Israel), 1974 in Philadelphia (USA), 1978 in Melbourne (Australien), 1982 in Dublin (Irland),1986 in Paris, 1990 in Kyoto, 1994 in San Francisco, 1998 in Stockholm, 2004 in Berlin, 2006 in Melbourne, 2008 in Istanbul, 2010 in Peking, 2012 in Paris, 2014 in Durban und 2016 in Calgary. Die Deutsche Vereinigung für Jugendpsychiatrie beantragte unter Beifügung der Satzung durch den Vorsitzenden Prof. Villinger mit Schreiben vom 30. 7. 1958 die Aufnahme in die Internationale Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und verwandte Berufe53. Sie hatte damals 190 Mitglieder. Eine vollständige Liste der Weltkongresse der internationalen Gesellschaft mit den Themen und jeweiligen Präsidenten ist in Tab. 1.5 wiedergegeben. 53 Akte DVJ-UEP, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54.
58
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Tab. 1.5: Weltkongresse der International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP) Nr.
Year
Venue
Congress President
Theme
I
1937
Paris
Georges Heuyer (1884–1977) (Frankreich)
Conditioned reflexes – Pedagogics and Child Psychiatry – Juvenile Criminality (Foundation of THE INTERNATIONAL COMMITTEE OF CHILD PSYCHIATRY)
II
1948*
London
John Rawlings Rees (1890–1969) (Großbritannien)
III
1954
Toronto
Frederick H. Allen (1890–1964) (USA)
Personality Development and its Individual and Social Aspects with Special Reference to Aggression (Foundation of IACP) Emotional Problems of Early Childhood
IV
1958
Lisbon
V
1962
VI
1966
Edinburgh
VII
1970
Jerusalem
VIII
1974
Philadelphia
IX
1978
Melbourne
X
1982
Dublin
XI
1986
Paris
XII
1990
Kyoto
V&tor H. M. Fontes (1884–1979) (Portugal) Scheveningen Arn van Krevelen (1909–1979) (Niederlande)
The Emotional Life of the Child 6–12 years (Foundation of IACP& AP) Primary Prevention of Mental Disorders in Children
John Bowlby Puberty and Adolescence (1907–1990) (Großbritannien) Serge Lebovici The Child and His Family (1915–2000) (Frankreich) E. James Anthony (1914–2014) (USA) Albert J. Solnit (1919–2002) (USA)
Children at Risk
Lionel Hersov (UK) Colette Chiland (1928–2016) (Frankreich)
Children in Turmoil – Tomorrow’s Parents New Approaches to Infant, Child, Adolescent and Family Mental Health
Reimer Jensen (Dänemark)
Child Rearing, Education and Psychopathology
Children and Parents in a Changing World (Foundation of IACAPAP)
59
Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Nr.
Year
Venue
XIII
1994
Congress President San Francisco Donald J. Cohen** (1940–2001) (USA)
XIV
1998
Stockholm
XV
2002
New Delhi
XVI
2004
Berlin
XVII
2006**** Melbourne
XVIII 2008
Istanbul
XX
2012
Paris
XXI
2014
Durban
Theme Violence and the Vulnerable Child
Donald J. Cohen** ***
Trauma and Recovery
Helmut Remschmidt (Deutschland)
Facilitating Pathways – Care, Treatment and Prevention in Child and Adolescent Mental Health Nurturing Diversity
Myron L. Belfer (USA) Per-Anders Rydelius (Schweden) Olayinka Omigbodun (Nigeria)
Cancelled as World Congress!
Improving Child Mental Health: Increasing Awareness and New Pathways for Care Brain, Mind and Development
Olayinka Omigbodun (Nigeria)
Promoting the Mental Health of Children and Adolescents through Policy, Practice, and Research XXII 2016 Calgary Bruno Falissard Fighting Stigma: Promoting (Frankreich) Resiliency and Positive Mental Health * Ein 1941 in Leipzig geplanter 2. internationaler Kongress unter der Leitung von Paul Schröder fand wegen des II. Weltkrieges nicht statt. ** Donald Cohen ersetzte den in seiner Amtszeit vor dem Kongress verstorbenen Präsidenten Irving Philips. *** Der 15th World Congress war in New Delhi geplant gewesen, konnte aber wegen äußerer Umstände nicht als IACAPAP-Kongress stattfinden. Daher wurde der Kongress unter der Leitung der indischen Kollegen als regionale Tagung mit internationaler Beteiligung durchgeführt. Es wurde beschlossen, in den IACAPAP-Annalen festzuhalten, dass der 15. Kongress nicht wie geplant unter IACAPAP-Ägide stattfinden konnte und dass der Berliner Kongress als 16th World Congress gezählt werden sollte. **** Bis 2004 fanden die Weltkongresse alle 4 Jahre statt, danach alle 2 Jahre.
Internationale Arbeitsgruppen, die sich zwischen den Kongressterminen trafen und mit Stipendien und von Stiftungen gefördert wurden, bereiteten die Kongresse vor. Name und Ziel der Gesellschaft wurden auf den Kongressen mehrfach erweitert. Der ursprüngliche Name »lnternational Association for Child Psychiatry« (IACP) (1948) wurde geändert in »International Association for
60
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Child Psychiatry and Allied Professions« (IACAP) und 1978 in Melbourne erneut erweitert in »lnternational Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (lACAPAP)«. Hinter dem Beschluss zur Namensänderung standen lange Diskussionen über die Zielsetzung der Fachgesellschaft. 1970 in Jerusalem wurde das Ziel der Gesellschaft von der Generalversammlung in folgender Form verabschiedet: »Die Förderung von Forschung, Therapie, Pflege und Prävention geistiger und emotionaler Störungen und des Schwachsinns von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien«. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft ist weitgehend durch die Mitgliedschaft in nationalen Organisationen geregelt, die in der internationalen Gesellschaft vertreten sind (vgl. Caplan und Mitarbeiter, 1985). Die IACAPAP führt in wechselnden Abständen (seit 1954) Study Groups durch, die aus mehreren Vorstandsmitgliedern bestehen und in der Regel in das Land des bevorstehenden Weltkongresses führen, mit dem Ziel, einen authentischen Eindruck von der Situation der Kinder und Familien und insbesondere von der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung zu erhalten. Seit Beginn dieser Initiativen haben über 30 Study Groups stattgefunden. Das offizielle Organ von IACAPAP ist die Zeitschrift Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health (CAPMH), ein open access online journal. Darüber hinaus gibt IACAPAP regelmäßig ein Bulletin heraus, das über die laufenden Aktivitäten der Organisation informiert und aus dem Internet abrufbar ist. Zu erwähnen sind ferner die intensiven Aus- und Fortbildungsaktivitäten: (1) Die Veröffentlichung eines elektronischen Lehrbuches (IACAPAP-eTextbook) im Internet, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde; (2) das Donald Cohen-Fellowship-Program (DCFP), innerhalb dessen junge Wissenschaftler während der Weltkongresse von erfahrenen Mentoren instruiert werden; (3) die einwöchigen Helmut Remschmidt- Research-Seminars (HRRS), die etwa ein Jahr vor dem jeweiligen Kongress stattfinden; (4) drei Buchserien zu den Themen: »The Child and His Familiy« (11 Bände), »The Leadership-Series« (3 Bände) und die »Working With Children-Series« (5 Bände). Die IACAPAP hat als Dachorganisation der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften die jeweiligen nationalen Gesellschaften als Mitglieder. Individuelle Mitgliedschaften werden nur akzeptiert aus Ländern, in denen keine nationale Fachgesellschaft existiert. Neben den nationalen Fachgesellschaften gehören zu der IACAPAP auch regionale Fachverbände, die jeweils einen Erdteil oder auch eine Gruppe von geografisch benachbarten Ländern repräsentieren. Derzeitige regionale Mitglieder der IACAPAP sind:
Wechselbeziehungen zwischen der deutschen DGKJP und der IACAPAP
61
– die European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP), – die Eastern Mediterranean Association for Child and Adolescent Psychiatry (EMACAPAP), – die Asian Society for Child and Adolescent Psychiatry (ASCAPAP) und – die Federacijn Latinoamericana de Psiquiatria de la Infancia, Adolescencia y Familia y Professiones Afines (FLAPIA). Darüber hinaus sind aus der IACAPAP auch zwei fachspezifische Organisationen hervorgegangen: – die International Society for Adolescent Psychiatry (ISAP) und – die World Association for Infant Mental Health (WAIMH). Eine weitere Organisation mit »Brückenfunktion« zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie ist die »Section of Child and Adolescent Psychiatry« der World Psychiatric Association (WPA), die auf jedem Weltkongress der WPA präsent ist und eine eigene Zeitschrift herausgibt. Alle Informationen über IACAPAP können über die Homepage der Organisation abgerufen werden: iacapap.org. Ausführliche Informationen über die Geschichte und die Aktivitäten der IACAPAP finden sich bei Caplan et al. (1985), Remschmidt (1988), Remschmidt et al. (2018), Castell et al. (2003) und Schleimer (2012).
1.5
Wechselbeziehungen zwischen der deutschen (DGKJP), der europäischen (ESCAP) und der internationalen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (IACAPAP)
Tab. 1.6 zeigt eine Synopse der Entwicklungslinien der deutschen, der europäischen und der internationalen Fachgesellschaft. Was die zeitliche Perspektive betrifft, so ergaben sich lange vor dem Zusammenschluss der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer eigenen Fachgesellschaft Kontakte zur internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ganz besonders durch den I. Internationalen Kongress 1937 in Paris gefördert wurden, auch wenn damals Deutschland nur mit 12 Delegierten vertreten war. Unter ihnen befanden sich aber Fachvertreter, die nach dem Krieg den Aufbau dieses jungen Faches vorangetrieben haben. Überhaupt lag diese Aufbauleistung in den Händen einer kleinen Gruppe von Kollegen, unter denen sich, über fachbezogene Interessen hinaus, auch freundschaftliche Beziehungen entwickelten. Eine Schlüsselrolle nahmen diesbezüglich die Fachvertreter aus der Schweiz und Frankreich ein, die den deutschen Kollegen nach den schrecklichen Kriegsereignissen und der
62
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
deutschen Schuld wieder die Hand reichten. Die Magglinger Symposien waren dabei für die Gesamtentwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Europa von großer Bedeutung. Inhaltliche Diskussionen und freundschaftlicher Umgang miteinander bildeten dabei meist eine glückliche Synthese, wie aus dem erhaltenen Schriftwechsel hervorgeht54. Tab. 1.6: Synopse der Entwicklungslinien der deutschen, europäischen und internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie anhand ihrer Tagungen Deutsche Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Europ. Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Intern. Kinder- u. Jugendpsychiatrie
1935
Initiativgruppe europäischer Kinderpsychiater, 1. Treffen
1937
Paris, 1. Kongress für Kinderpsychiatrie
1939
Gründung einer kinderpsychiatrischen Arbeitsgemeinschaft
1940
Wien: Gründung der Dt. Ges. f. Kinderpsychiatrie u. Heilpädagogik
1941– 1947 1948
London: 2. Int. Kongress u. Gründung d. International Association for Child Psychiatry (IACP)
1949
Göttingen: 1. Nachkriegsinitiative zur Wiedergründung d. Fachgesellschaft
1950
Marburg: 1. Jugendpsychiatrisches Symposium, Gründung d. Dt. Ges. f. Jugendpsychiatrie, Heilpädagogik u. Jugendpsychologie
54 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
Gründung der ersten kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen
63
((Fortsetzung)) Deutsche Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Europ. Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Intern. Kinder- u. Jugendpsychiatrie
1951
Stuttgart: Offizielle Gründung d. Dt. Vereinigung f. Jugendpsychiatrie, 1. Wiss. Tagung
1952
Marburg: 2. Wiss. Tagung d. DVJ Essen: 3. Wiss. Tagung 1. UEP-Symposium in Toronto: 3. Int. Kongress d. DVJ Magglingen d. IACP (Gründungssymposium)
1954 1955
Bad Nauheim: 4. Wiss. Tagung d. DVJ
1956
2. UEP-Symposium in Magglingen
1957
3. UEP-Symposium in Zürich Marburg: 5. Wiss. Tagung 4. UEP-Symposium in d. DVJ Lissabon
1958
1960 1961 1962
1.6
Lissabon: 4. Int. Kongress d. IACP and Allied Professions (IACPandAP)
Paris: 1. UEP-Kongress 6. UEP-Symposium in Magglingen Scheveningen: 5. Int. Kongress d. IACPandAP
Anmerkungen zur Gründung der ersten kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen
An dieser Stelle kann keine ausführliche Darstellung der Geschichte kinder- und jugendpsychiatrischer Institutionen gegeben werden. Es sei hier auf die Ausführungen von Stutte (1966) hingewiesen, die auch Grundlage der folgenden Beschreibung sind.
64
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
1.6.1 Stationäre und teilstationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie »Prähistorische Anfänge« stellen die »Schwachsinnigen-Anstalten« und die »Anstalten für Epileptiker und Geisteskranke« in früheren Jahrhunderten und vor allem um die Mitte des 19. Jhs. dar. Es können hier nur einige wichtige Meilensteine genannt werden: 1850 erfolgte durch Le Paulmier in Paris die Gründung der ersten gesonderten Kinderabteilung einer psychiatrischen Klinik. 1864 begründete Heinrich Hoffmann (1809–1894) in Frankfurt die Kinderabteilung an der »Städtischen Anstalt für Irre und Epileptische«. Sie ist somit die erste deutschsprachige kinder- und jugendpsychiatrische Klinik. 1911 wurde an der Wiener Kinderklinik unter Lazar (in der Amtszeit von Pirquet) die erste heilpädagogische Beobachtungsstation an einer Kinderklinik errichtet. Ihr folgte 1921 die Gründung einer ähnlichen Abteilung an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Berlin durch Franz Kramer (1878–1967) und Ruth von der Leyen (1888–1935). 1920 wurde in Tübingen eine eigene kinderpsychiatrische Abteilung durch Robert Gaupp (1870–1953) gegründet, 1926 in Leipzig durch Paul Schröder und im selben Jahr durch August Homburger (1873–1930) in Heidelberg. An der Heidelberger Klinik gab es bereits 1917 Anfänge einer ambulanten Behandlung. Die Entwicklung im Ausland verläuft in etwa parallel zu der hier skizzierten. 1917 wurde in Moskau unter Giljaworski eine Kinderabteilung gegründet. 1920 in Prag unter Terford und 1925 in Paris unter Heuyer. Es folgten Abteilungsgründungen in Zürich (Lutz) und Rom (Sante de Sanctis, später Bollea). Die universitäre Kinder- und Jugendpsychiatrie erreichte 1930 mit der Gründung ihrer ersten Professur in Baltimore (Leo Kanner) ihre Anerkennung als vollgültige akademische Disziplin. Es folgte 1949 die Errichtung des zweiten Lehrstuhls in Paris (G. Heuyer), danach London (um 1950 Cameron, später Rutter), 1954 Marburg (zunächst Extraordinariat, ab 1963 Ordinariat, Hermann Stutte) und 1964 Frankfurt (Hubert Harbauer). In der Folgezeit wurden in Deutschland und im europäischen und außereuropäischen Ausland zahlreiche Lehrstühle bzw. Universitätskliniken gegründet. Die erste selbständige kinderund jugendpsychiatrische Landesklinik wurde 1926 unter Otto Löwenstein55 in 55 Otto Löwenstein (1889–1965) studierte an den Universitäten Göttingen und Bonn Mathematik, Philosophie und Medizin, war nach Abschluss des Medizinstudiums ab 1913 Medizinalpraktikant an der Rheinischen Provinz-Irrenanstalt in Bonn. Im I. Weltkrieg diente er als Garnisonsarzt, wurde 1920 Oberarzt bei dem Neurologen u. Psychiater Alexander Westphal in Bonn und beschäftigte sich wissenschaftlich mit der Pupillometrie, 1930 wurde er (im Rahmen einer Stiftungsprofessur) zum o. Professor f. Pathopsychologie ernannt. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde er aus dem Amt gedrängt und emigrierte 1938 über die Schweiz in die USA. Nach dem Krieg wurde er rehabilitiert und erhielt 1964 die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn (Wikipedia, 07. 07. 2017).
Ausblick
65
Bonn gegründet. Sie erhielt den Namen »Rheinische Provinzialanstalt für seelisch abnorme Kinder« und heißt heute »Rheinische Landesklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie«. Eine unter historischer Perspektive relativ neue Behandlungsform ist die teilstationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie. Heute wird als modernes Konzept einer regionalen Versorgung die Trias aus ambulanter, teilstationärer und stationärer Behandlung angesehen. Diese Entwicklung wurde in Deutschland durch das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung (1980–1985) maßgeblich gefördert. In den letzten drei Jahrzehnten wurden zahlreiche Tageskliniken in sehr unterschiedlicher Trägerschaft gegründet, was mancherorts zu einer Reduzierung stationärer Behandlungsplätze beigetragen hat.
1.6.2 Ambulante Kinder- und Jugendpsychiatrie Sie wurde stark beeinflusst durch die Child-Guidance-Bewegung (1909 in den USA durch Healy gegründet). 1909 gründete Fürstenheim in Berlin eine »Medico- Pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztlich-erzieherische Behandlung«. Fürstenheim ging später nach Frankfurt und etablierte dort 1916 im Frankfurter Gesundheitsamt eine »Ärztlich-heilpädagogische Jugendsichtungsstelle«, die von der Zielsetzung her auch heute noch existiert. 1922 erfolgte in München die Gründung der ersten Erziehungsberatungsstelle durch Steif. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanzen gegründet. In jüngster Zeit wurde auch kommunalen Krankenhäusern und Krankenhäusern in der Trägerschaft von Landeswohlfahrts- und Landschaftsverbänden die Gründung von Ambulanzen, meist Institutsambulanzen, ermöglicht. Die ambulante Versorgung durch niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater und durch Institutsambulanzen sowie auch Spezialambulanzen stellt heute den Schwerpunkt der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung dar.
1.7
Ausblick
Historische Betrachtungsweisen sind nicht Selbstzweck. Sie sollen den Blick öffnen für das Gewordene, aber auch für das Werdende. Insofern scheint ein Blick in die Zukunft der geeignete Abschluss für eine historische Betrachtung zu sein. Dieser soll auf zwei Aspekte gerichtet sein: auf die Forschung und auf organisatorische Notwendigkeiten für unser Fachgebiet.
66
1.8
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Forschung
Der Fortschritt eines jeden Fachgebietes lässt sich an seinem wissenschaftlichen Standard messen. Nur durch Forschung und Neuentwicklung wird es möglich sein, angemessen zu untersuchen und effektiv zu behandeln. Versorgung allein genügt aber nicht. Nicht die ZahI der Kliniken, die Zahl der Ärzte, Psychologen und anderer Mitarbeiter sind der Maßstab, an dem sich die Wirksamkeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie messen lässt. Viel wesentlicher ist, was in diesen Einrichtungen wie und mit welchem Erfolg getan wird. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben ein neues Verständnis vieler psychischer Störungen mit sich gebracht. Sie haben gezeigt, dass Gegensätze wie »angeboren vs. erworben«, »organisch vs. psychisch«, »psychosozial vs. biologisch« Kunstprodukte unserer Analyse sind und alle diese Sichtweisen bei nahezu jeder Problematik mehr oder weniger beteiligt sind. Es gilt nach wie vor, was E.J. Anthony bereits 1970 als einen komplexen soziopsycho-biologischen Zusammenhang bezeichnet hat, in dem alle genannten Komponenten ihren Platz haben. Er schreibt im Hinblick auf die eigenständige Forschung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: »Es ist von enormer Bedeutung für die Entwicklung dieser neuen Disziplin, dass sie ihren wissenschaftlichen Garten selbst bestellt und ihn nicht als eine untergeordnete oder weniger interessante Aufgabe anderen überlässt« (Anthony, 1970)56. Fortschritte der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung lassen sich in folgenden Gebieten ausmachen bzw. in nächster Zeit erwarten:
(1)
In der kinder- und jugendpsychiatrischen Epidemiologie
Epidemiologische Untersuchungen, die an auslesefreien Stichproben durchgeführt wurden, haben genauere Anhaltspunkte über Art und Häufigkeit kinderund jugendpsychiatrischer Erkrankungen geliefert, über ihre Entstehungsbedingungen und über ihre »Verdünnung hin zum Normalbereich«. Derartige Studien haben wichtige Erkenntnisse für die Planung kinder- und jugendpsychiatrischer Einrichtungen (ambulant, teilstationär oder stationär) erbracht und als eigenes Forschungsgebiet die Versorgungsepidemiologie etabliert, die Forschung und Versorgung zusammengeführt und den Gegensatz zwischen Forschung und Versorgung aufgehoben57. 56 E.J. Anthony (1916–2014), amerikanischer Kinder- und Jugendpsychiater, ehemaliger Präsident und Ehrenpräsident der IACAPAP. 57 S. Themenheft der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 34, Heft 6 (2006).
Forschung
(2)
67
In der Neurobiologie und Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters
Auf diesem Gebiet gibt es wichtige neue Erkenntnisse über die funktionelle Hemisphärenasymmetrie, die Sprachentwicklung, und die Auswirkung von zerebralen Vorschädigungen und ihren Zusammenhang mit einer erhöhten Vulnerabilität für Belastungsfaktoren. Dabei kommt den bildgebenden Verfahren eine besondere Bedeutung zu. Es zeichnen sich auch Erkenntnisse ab, die eine große Bedeutung für die Therapie haben können, z. B. im Bereich der sogenannten funktionellen Übungsbehandlungen oder im Hinblick auf eine individualisierte Pharmakotherapie in Kombination mit einer störungsspezifischen Psychotherapie.
(3)
In der Genetik und Epigenetik
Die Genetik spielt in der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie von jeher eine große Rolle. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde sie in mannigfacher Weise missbraucht und für eine Vielzahl von Störungen und Verhaltensweisen in Anspruch genommen, deren genetischer Hintergrund gering ist. Heute geht man generell von einer Interaktion von genetischen und Umwelteinflüssen aus, wobei aber außer Frage steht, dass bei einigen kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen der genetische Anteil an der Verursachung hoch ist. Dies trifft z. B. auf die Autismus-Spektrum-Störungen, die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS), das Gilles de la Tourette-Syndrom und in geringerem Maße auch auf Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, bipolare und depressive Störungen zu, wobei im Kindes- und Jugendalter immer auch die Entwicklungsperspektive zu bedenken ist (Wegner, 2008; Propping, 1989). Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurde der Beitrag der Genetik zur Aufklärung psychiatrischer Erkrankungen in grotesker Weise überschätzt. Keine einzige dieser Erkrankungen folgt einem monogenen Erbgang, an allen sind zahlreiche Gene beteiligt, deren Suszeptibilitätsloci zahlreich sind. Dennoch sind hier weitere Fortschritte zu erwarten. Eine ähnliche Überschätzuhng erfährt zur Zeit die Epigenetik, wenngleich auch auf diesem Forschungsfeld neue Erkenntnisse zur Aufklärung von psychischen Störungen zu erwarten sind, insbesondere im Hinblick auf transgenerationale Weitergabe traumatischer Lebensereignisse (vgl. Wieser, 2007; Kegel, 2009).
68 (4)
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
In der Familienforschung
Familienforschung muss breit angelegt sein und lässt in dieser Breite noch viele Erkenntnisse erwarten. Sie reicht von der Genetik bis zur familiären Kommunikations- und Interaktionsforschung. Wichtige und wegweisende Ergebnisse hat hier die sogenannte High-Risk-Forschung erarbeitet, ferner die Humangenetik sowie die Kommunikations- und Interaktionsforschung, letztere besonders, was die Erfassung und Beurteilung früher Eltern-Kind-Beziehungen betrifft. Im Lichte dieser Familienforschung haben auch manche familienpathologischen Störungsmuster, wie z. B. das Misshandlungssyndrom, ein neues Verständnis und eine neue Interpretation erfahren.
(5)
In der Therapieentwicklung und Therapieevaluation
Auch auf dem Gebiet der Therapie kristallisieren sich empirisch fundierte Behandlungsmethoden heraus, die pragmatisch sind und sich eher an Indikationen als an Gesichtspunkten therapeutischer Schulen orientieren. Zu diesen gehören z. B. die funktionellen Übungsbehandlungen, manche Methoden der Verhaltenstherapie, problemzentrierte Familientherapien, fokale psychoanalytisch orientierte Ansätze und zahlreiche, weitgehend schulenunabhängige störungsspezifische Behandlungsmethoden. Gerade auf dem Sektor der Psychotherapie ist es wesentlich, sich an klinisch bewährten und empirisch fundierten Behandlungsmethoden auszurichten und nicht an solchen, die am Schreibtisch ersonnen sind und ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden haben. Nicht Therapiegläubigkeit, sondern Therapieevaluation ist das Gebot der Zeit58.
(6)
Ein letzter und wichtiger Fortschritt zeichnet sich auf dem Gebiet des Ausbaus und der Evaluation ambulanter, teilstationärer und komplementärer Bereiche ab.
Die Prinzipien der Psychiatrie-EnquÞte – Gemeindenähe, umfassende Versorgung aller Patientengruppen, Gleichstellung von körperlich Kranken und psychisch Kranken – haben auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ihre Wirkung nicht verfehlt. Neue Methoden der Versorgung werden erprobt und eva-
58 Übersicht bei Remschmidt H, Mattejat F, Warnke A (Hrsg) (2008). Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Thieme, Stuttgart.
Organisatorische und berufspolitische Perspektiven
69
luiert. Es ist zu hoffen, dass diese Ansätze zu einer wesentlichen Verbesserung der Versorgungssituation führen werden.
1.9
Organisatorische und berufspolitische Perspektiven59
Forschung und klinische Praxis allein reichen nicht, die Weiterentwicklung eines Fachgebiets in der notwendigen Qualität und im notwendigen Umfang zu sichern. Es müssen auch organisatorische und berufspolitische Maßnahmen ergriffen werden, die der Forschung und der klinischen Praxis die nötige Breitenwirkung verschaffen. In diesem Sinne hat sich eine erfreuliche Zusammenarbeit der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände entwickelt: der »Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie«, über die bereits an anderer Stelle mehrfach berichtet wurde, dem »Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie e.V.«, der 1978 gegründet wurde und der die niedergelassenen Fachärzte vertritt und der 1990 gegründeten »Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie« (BAG), die die Chefärzte der nichtuniversitären kinder- und jugendpsychiatrischen Krankenhäuser repräsentiert. Diese drei Organisationen haben paritätisch besetzte Arbeitsgruppen gebildet, die sich u. a. mit Fragen der Weiterbildung, der Erarbeitung von Leitlinien für die einheitliche Diagnostik und Therapie, mit Versorgungs- und Forschungsfragen und auch mit etlichen Problemen beschäftigen. Die Vorsitzenden der drei Dachverbände sind jeweils Assoziierte der beiden anderen Organisationen. Das wichtigste Ergebnis der Zusammenarbeit dieser Organisationen sind die »Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter« (AWMF, 3. Auflage, Deutscher Ärzteverlag, Köln 2007). Im Hinblick auf eine erfolgreiche Weiterentwicklung erscheinen folgende Schritte notwendig60 : 1. Qualitative Verbesserung und Erweiterung der FacharztweiterbiIdung Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie wird seine umfassende Position als zuständiger Arzt für psychische und neuropsychiatrische Erkran59 Die hier nur im Überblick dargestellten Themenbereiche werden in Kap. 8 im Zusammenhang mit der Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigene Facharztdisziplin genauer erörtert. 60 Über den Stand und die rezente Entwicklung informiert die 4. Auflage der Denkschrift der KJPP: Warnke A, Lehmkuhl G (20114). Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. Schattauer, Stuttgart.
70
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
kungen im Kindes- und Jugendalter nur behaupten können, wenn die Facharztweiterbildung qualitativ verbessert wird. Dazu gehört ein gegliedertes Curriculum, das die wesentlichen Inhalte des Facharztweiterbildungskataloges enthält und zugleich eine didaktisch gute Vermittlung garantiert. Gleichzeitig muss in die Facharztweiterbildung eine psychotherapeutische Ausbildung integriert werden, die den künftigen Facharzt in die Lage versetzt, ein breites Spektrum psychischer Störungen und Erkrankungen selbständig und eigenverantwortlich psychotherapeutisch zu behandeln. Die Grundvoraussetzungen dafür sind beim Kinder- und Jugendpsychiater besonders günstig. Um diese Ziele aber in qualifizierter Form zu erreichen, erscheint der Zusammenschluss mehrerer Kliniken zu einem regionalen »Weiterbildungsverbundsystem« erforderlich. Die Anforderungen an die Facharztweiterbildung sind heute so differenziert, dass nicht jede Abteilung, insbesondere rein klinische Institutionen ohne wissenschaftliche Möglichkeiten, diesen Anforderungen gerecht werden kann. Der regionale Zusammenschluss ist hier die Methode der Wahl und wird immer mehr akzeptiert und praktiziert. Für bestimmte Fragestellungen und Arbeitsgebiete sind über die reguläre Facharztweiterbildung hinaus spezielle Zusatzweiterbildungen erforderlich, die ebenfalls überregional angeboten werden. Ein gelungenes Beispiel hierfür sind die Weiterbildungskurse in der Forensischen Kinderund Jugendpsychiatrie, die nach einem strukturierten Curriculum erfolgen und mit einem Zertifikat abgeschlossen werden. 2. Intensivierung der originär kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung Das Forschungsfeld des kinder- und Jugendpsychiaters ist überaus breit und interessant, aber zu wenig bearbeitet. Nur die enge Verflechtung von Forschung und klinischer Praxis kann beide Bereiche weiterbringen. Hier müssen zwei Dinge geschehen: einerseits muss das z. T. noch verbreitete Vorurteil überwunden werden, wonach sich klinische Praxis und wissenschaftliche Tätigkeit ausschließen. Beides lässt sich jedoch gut kombinieren. Zum anderen muss die Weiterbildung in Forschungsmethodik stärker gefördert werden. Dies kann nur an einigen wenigen Stellen auf höchstem Niveau geschehen, so dass hier das gleiche gilt wie für die Verbesserung der Facharztweiterbildung. An den von der DFG für die Forschung ausgegebenen Mitteln haben Psychiatrie und Kinderpsychiatrie nur einen sehr geringen Prozentanteil. In einer Übersicht über die Forschungsleistungen (2003–2008) der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie hat eine Arbeitsgruppe (Hebebrand et al., 2009) herausgearbeietet, dass unter den störungsspezifischen Publikationen solche zum Thema ADHS Rang 1 einnehmen, gefolgt von Veröffentlichungen über Essstörungen (2), Adipositas (3), Schizophrenie (4) und Autismus (5). Unter den themenspezifischen Publikationen ergibt sich die Rangfolge: kör-
Organisatorische und berufspolitische Perspektiven
71
perliche Erkrankungen (1), Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie (2), Forensik und Soziopathie (3), schulbezogene Entwicklungsstörungen (4) und Grundlagenforschung (5). Unter übergeordnetem thematischem Schwerpunkt standen Publikationen zur Genetik und Molekularbiologie an erster Stelle, gefolgt von solchen zur Therapie (2) und zur Bildgebung (3). Letzteres zeigt eine deutliche Hinwendung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer verstärkten biologischen Ausrichtung. Als bedenklich weist der Bericht auf die vergleichsweise geringe Zahl von Therapiestudien hin, was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass für derartige Arbeiten nur ein geringer Impact-Faktor erzielt werden kann. Ein weiterer zusammenfassender Forschungsbericht ist seither nicht mehr erschienen. 3. Förderung der Niederlassung für Kinder- und Jugendpsychiater in eigener Praxis Im Hinblick auf diese Notwendigkeit sind zwei Hindernisse zu überwinden: das eine liegt in der Gebührenordnung, das andere im überaus komplexen und langwierigen Weiterbildungsgang zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im Hinblick auf die Gebührenordnung müssen spezifische Ziffern geschaffen werden, die dem niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater die notwendige wirtschaftliche Grundlage geben. Hinsichtlich der Facharztweiterbildung ist bereits eine Vereinfachung dahingehend erfolgt, dass nur noch ein externes Fach (Psychiatrie oder Pädiatrie) als obligat angesehen wird. Dies mag bedauerlich sein, das Durchlaufen dreier Fachgebiete in einem Zeitraum von 4–5 Jahren ist jedoch eine so starke Erschwernis, dass man bei Aufrechterhaltung dieser Modalität mit einer nennenswerten Steigerung kinder- und jugendpsychiatrischer Facharztweiterbildungen nicht rechnen konnte. 4. Systematischer Ausbau der extramuralen Kinder- und Jugendpsychiatrie Eine Facharztgruppe, die zahlenmäßig so gering ist, muss ihre Möglichkeiten potenzieren. Dies geschieht am besten dadurch, dass eine intensive konsiliarische Tätigkeit von Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgeübt wird. Dazu gehört die Betreuung von Schulen und Sonderschulen, von Heimen, Kindergärten, Behinderteneinrichtungen usw. Ein systematischer Ausbau von Konsiliardienst und Institutionsberatung wird die Situation der dort untergebrachten Kinder und die Sorgen ihrer Familien positiv verändern und zugleich mehr Gemeindenähe in die kinder- und jugendpsychiatrische Praxis bringen. 5. Ausbau der ambulanten und teilstationären Behandlungsangebote Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass mit dem Ausbau ambulanter und teilstationärer Behandlungsangebote die Quote der stationären Behandlungsfälle reduziert werden kann. Insofern ist diese Entwicklung ein Gebot der Stunde. Sie darf aber nicht dazu führen, notwendige
72
Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
stationäre Behandlungsangebote kurzschlüssig aufzulösen oder in nicht vertretbarer Weise zu reduzieren. In diesem Feld sind sehr detaillierte Indikationen zu erarbeiten und ein durchlässiges System stationärer, ambulanter und teilstationärer Behandlung zu errichten, das flexibel ist und jedem Kind und seiner Familie das indizierte Behandlungsangebot garantieren kann. 6. Konzentrierung der Öffentlichkeitsarbeit und der Berufspolitik auf empirische Grundsätze und Mitwirkung bei Gesetzgebungsvorhaben. Wir sollten als Kinder- und Jugendpsychiater neuen Modeströmungen nicht kritiklos anheimfallen. Die schlichte Frage nach dem Erwiesenen sollte Maßstab unserer Betrachtungen bleiben. Soziale und soziologische Betrachtungsweisen sind wichtig und wurden lange unterschätzt; man darf aber auch derartige Strömungen nicht überschätzen.
1.10 Zusammenfassung Vorläuferdisziplinen der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren die Philosophie, Psychologie, Pädagogik und verschiedene religiöse Strömungen, die Kinder nicht als eigenständige Wesen betrachteten, sondern als Eigentum, mit dem man in willkürlicher Weise umgehen konnte. So wurden in der Antike missgebildete Kinder vielfach ausgesetzt und auch ihre Tötung war lange Zeit straffrei. Erst die jüdische und christliche Tradition führte diesbezüglich eine Wende herbei. Im Zuge des Humanismus etablierten sich Auffassungen und Erziehungsregeln, die erstmals auf ein individuelles Eingehen auf die Kinder ausgerichtet waren. Für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie war in deren Anfängen nicht die Medizin, sondern die Pädagogik bzw. Heilpädagogik von großer Bedeutung, was sich auch im deutschsprachigen Raum in der Bezeichnung der ersten Fachgesellschaft, der 1940 in Wien gegründeten »Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik« niederschlug. Ein Markstein in der Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie war das weltweit erste Lehrbuch von Hermann Emminghaus mit dem Titel »Psychische Störungen im Kindesalter« (1887) und in dessen Gefolge das Periodikum »Die Kinderfehler« (1898), dessen Erscheinen während der NS-Zeit im Jahr 1944 eingestellt werden musste. Die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie durchlief in der NS-Zeit eine verhängnisvolle Entwicklung, die in der sogenannten »Kindereuthanasie« ihren desaströsen Höhepunkt fand. In der Nachkriegszeit gelang der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie nur mühsam der Anschluss an die europäische und internationale Entwicklung des Faches. Dabei war erstaunlich, in welch großzügiger Weise die ausländischen Kinder- und Jugendpsychiater den belasteten deutschen Kollegen die Hand reichten. Die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie ging mit ihrem ersten in
Zusammenfassung
73
Paris abgehaltenen Kongress (1937) dem Zusammenschluss der europäischen Kinder- und Jugendpsychiater voraus, deren erster Kongress ebenfalls in Paris 1961 stattfand. Maßgeblich für die Entwicklung der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie waren die Magglinger Symposien, die von schweizerischen und französischen Kinder- und Jugendpsychiatern initiiert wurden und an denen auch deutsche Kollegen beteiligt waren. Die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie, die erst im Jahr 1968 eine eigene Facharztanerkennung durchsetzte, durchlief nach dem Krieg eine positive Entwicklung, die sich, ausgehend vom ersten Lehrstuhl in Marburg, zunehmend an nahezu allen Universitäten etablieren konnte. Diese Entwicklung wird hier im Kontext mit der europäischen und der internationalen Fachgeschichte nachgezeichnet. Über den universitären Bereich hinaus wurden zahlreiche Fachkliniken mit ambulanten, stationären und teilstationären Angeboten gegründet und eine große Zahl von Fachärzten ließ sich in eigenen Praxen nieder, die gemeinsam mit den klinischen Einrichtungen in regionale Versorgungsnetze eingebunden sind.
2.
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.2.5 2.3.2.6 2.3.2.6.1 2.3.2.6.2 2.3.2.6.3 2.3.2.6.4 2.3.2.7 2.3.2.8 2.3.2.9 2.3.2.10 2.3.3
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie (1920–1945) Auswirkungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Anzahl und Diagnosen der zur Sterilisation gemeldeten Patienten Überprüfung der eingeleiteten Maßnahmen (Sterilisation und deren Unterbleiben) nach den Akten der Erbgesundheitsgerichte Kasuistiken Gründung einer eigenen Kinderstation in der Nervenklinik 1947 Tübingen als Vorläufer Marburg als Fortsetzung der Tübinger Initiativen Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg Werner Villinger (1887–1961) Biographische Daten Involvierung im Nationalsozialismus Veröffentlichungen Hermann Stutte (1909–1982) Biographische Daten Involvierung im Nationalsozialismus Hermann Stutte und die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie Hermann Stutte und die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie Hermann Stutte und die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie Analyse der Schriften von Hermann Stutte Bibliographische Analyse Inhaltliche Analyse der sozialpsychiatrischen Arbeiten Inhaltliche Analyse der Arbeiten zu anderen Themenbereichen Zur Nomenklatur Sterilisationsgutachten Hermann Stuttes Analyse der Krankengeschichten von Patienten Hermann Stuttes Das Kommunikationsnetzwerk Hermann Stuttes und seine Beurteilung durch die Fachwelt Abschließende Bemerkungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit Hermann Stuttes Kontinuität und Wandel von Einstellungen: Einmal Nazi, immer Nazi?
76 2.4 2.4.1 2.4.1.1 2.4.1.2 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5
2.1
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979 Hintergrund: Studentenschaft und Hochschullehrerschaft im Nationalsozialismus Die Marburger Studentenschaft im Nationalsozialismus Die politische Belastung der Marburger Hochschullehrer Politische Bedingungen für die Zulassung von Studierenden Psychiatrische und kinderpsychiatrische Lehrveranstaltungen ab 1946 Das interdisziplinäre sozialpädagogische Seminar Zusammenfassung
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie (1920–1945)
Auch vor der Gründung einer eigenen kinder- und jugendpsychiatrischen Station im Jahr 1947 wurden Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen stationär und ambulant in der damaligen Universitätsnervenklinik behandelt. Es ist gelungen, die Krankengeschichten dieser Patienten aus den Jahren 1920–1945 aufzubewahren und vor der Vernichtung zu schützen. Im genannten Zeitraum wurden insgesamt 1.475 Patienten stationär aufgenommen. Eine Übersicht über die Anzahl der Patienten, bezogen auf die einzelnen Aufnahmejahre, zeigt Abb. 2.1. Wie aus der Abbildung hervorgeht, ist im Durchschnitt ein Anstieg der Patientenzahlen im Berichtszeitraum zu verzeichnen. Die geringste Anzahl mit fünf Patientinnen oder Patienten findet sich im Jahr 1920, die höchste im Jahr 1943. Unter den 1.475 Patienten findet sich mit 815 Jungen ein Überwiegen des männlichen Geschlechts gegenüber 660 weiblichen Patienten (53,3 vs. 44,7 %). Der Anstieg in den Jahren 1941 bis 1943 könnte mit Kriegsereignissen zusammenhängen. Was die Diagnosen betrifft, die nach einem damals gültigen, stark konstitutions-biologischen Ansatz gestellt wurden, so ist zunächst festzustellen, dass neurologische Erkrankungen und organisch verursachte psychische Störungen im Vordergrund stehen. Eine Trennung zwischen neurologischen und psychiatrischen Stationen gab es im Berichtszeitraum ja noch nicht; in der damaligen Nervenklinik wurden Patienten mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen gleichermaßen aufgenommen und behandelt. Dies betrifft sowohl den Erwachsenenbereich als auch Patienten im Kindes- und Jugendalter. Tab. 2.1 gibt eine Übersicht über die Diagnosen der 1.475 aufgenommenen Patienten.
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
77
Abb. 2.1: Anzahl der Patienten, bezogen auf die einzelnen Aufnahmejahre
Es ist ersichtlich, dass mit 30,2 % der Fälle neurologische Diagnosen überwiegen. Die Bezeichnung »neurologische Erkrankung im engeren Sinne« bedeutet, dass hier ein objektivierbarer neurologischer Befund vorlag (z. B. eine Lähmung, eine entzündliche Erkrankung, ein Tumor etc.), während die an zweiter Stelle mit 25,6 % rangierenden organisch-psychischen Krankheitszustände dadurch gekennzeichnet waren, dass die Psychopathologie dominierte, aber gleichzeitig ein organischer Hintergrund vorlag. An dritter Stelle stehen dann die psychopathischen Anlagen, Reaktionen, Einstellungen und Entwicklungen. In heutiger Terminologie sind darunter die Mehrzahl der psychiatrischen Diagnosen aus der ICD-10 zusammengefasst, einschließlich der Persönlichkeitsstörungen. Die endogenen Psychosen machen einen Anteil von 7,9 % aus. Die übrigen Diagnosen erstrecken sich auf gemischte psychiatrisch-neurologische Fälle, endokrine Störungen, vegetative Störungen usw. Unter der Bezeichnung »andere jugendpsychiatrische Diagnose« (6,2 %) wurden Fälle zusammengefasst, die sich keiner der damals gültigen psychiatrischen oder neurologischen diagnostischen Kategorien zuordnen ließen.
78
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Tab. 2.1: Diagnosen der im Zeitraum von 1920 bis 1945 in der Psychiatrischen Klinik aufgenommenen kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten Häufigkeit Prozent Psychopath. Anlagen, Reaktionen, Einstellungen und Entwicklungen Endogene Psychosen Organisch-psychische Krankheitszustände Neurologische Erkrankungen im engeren Sinne Vegetative vasomotorische Störungen Endokrine Störungen Sexuelle Störungen Nicht psychische-neurologische Fälle Andere jugendpsychiatrische Diagnosen nicht bekannt nicht verschlüsselt Gesamt
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
306
20,7
20,7
20,7
116
7,9
7,9
28,6
377
25,6
25,6
54,2
446
30,2
30,2
84,4
45
3,1
3,1
87,5
25 1
1,7 ,1
1,7 ,1
89,2 89,2
47
3,2
3,2
92,4
92
6,2
6,2
98,6
6 14
,4 ,9
,4 ,9
99,1 100,1
1475
100,0
100,0
Betrachtet man die Anzahl der Diagnosen pro Patient, so wurde in 1.129 Fällen (76,5 %) nur eine Diagnose gestellt, in 302 Fällen (20,5 %) zwei Diagnosen und in 38 Fällen (2,6 %) sogar drei. Das heute viel diskutierte Problem der Komorbidität war damals also auch bereits bekannt und schlug sich in entsprechenden diagnostischen Einschätzungen nieder. Das Alter bei Aufnahme ist in Abb. 2.2 wiedergegeben. Wie nicht anders zu erwarten, häufen sich die Aufnahmen in der Altersspanne zwischen 14 und 18 Jahren; ältere Patienten wurden in der Regel im Erwachsenenbereich aufgenommen, es fanden sich aber immerhin noch 81 19-Jährige, die dem kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich zugeordnet wurden.
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
79
Abb. 2.2: Alter der kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten bei Aufnahme im Zeitraum von 1920 bis 1945
2.1.1 Auswirkungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das am 14. Juli 1933 verabschiedet wurde und am 1. Januar 1934 in Kraft trat, waren die Ärzte verpflichtet, sogenannte erbkranke Personen den Gesundheitsämtern zu melden, um sie ggf. sterilisieren zu lassen. Nach §1, Abs. 2 des Gesetzes sollte bei folgenden Diagnosen eine Unfruchtbarmachung durchgeführt werden: – Angeborener Schwachsinn – Schizophrenie – Zirkuläres (manisch-depressives) Irresein – Erbliche Fallsucht – Chorea Huntington (erblicher Veitstanz) – Erbliche Blindheit – Erbliche Taubheit
80
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
– Schwere körperliche Missbildung – Schwerer Alkoholismus. Die Anzeigeberechtigung bezog sich allerdings nicht nur auf Ärzte, sondern umfasste »praktisch die gesamte Bevölkerung, was der Denunziation Tür und Tor öffnete. Bestimmte Berufsgruppen unterlagen einer Meldepflicht (alle Heilund Pflegeberufe sowie bestimmte Behörden und Institutionen wie Wehrmachtsdienststellen, Schulen, Kindergärten). Sie waren unter Androhung von Strafe dazu angehalten, alle einschlägigen Beobachtungen dem Amtsarzt zu melden« (Form, 1997)61. Die Entscheidung über die Durchführung einer Sterilisation wurde von den ab 1933 eingerichteten Erbgesundheitsgerichten vorgenommen. Sie wurden in Hessen den Amtsgerichten zugeordnet (Form, 1997). Die Erbgesundheitsgerichte setzten sich zusammen aus einem Richter als Vorsitzenden sowie einem beamteten und einem weiteren approbierten Arzt. Da das Gericht mit Stimmenmehrheit beschloss, lag die Entscheidung bei den beteiligten Ärzten. Es war möglich, gegen einen Beschluss des Erbgesundheitsgerichts beim Erbgesundheitsobergericht Einspruch einzulegen (§10, Abs. 3), bei dem dann die endgültige Entscheidung lag. Da die Anzeigen bei den Gesundheitsämtern einzureichen waren, unterlagen die dort tätigen Ärzte einer ganz besonderen Verantwortung. Auch Betroffene konnten einen Antrag auf Unfruchtbarmachung stellen. Nach einer Übersicht von Form (1997), die sich auf die Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes im Deutschen Reich im Jahre 1934 bezieht, lagen unter den gemeldeten Fällen mit 52,9 % Patienten mit angeborenem Schwachsinn an erster Stelle, gefolgt von solchen mit einer schizophrenen Erkrankung (25,4 %), erblicher Fallsucht (14 %), zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein (3,2 %), gefolgt von schwerem Alkoholismus mit 2,4 %. Die übrigen Meldungen verteilten sich auf Chorea Huntington, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere körperliche Missbildungen. Nach einer Übersicht von Roemer (1935) waren im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1934 insgesamt 60.321 Patientinnen und Patienten aus 138 Heil- und Pflegeanstalten und Kliniken zur Sterilisation gemeldet worden62. Was die Gesamtzahl der zwangssterilisierten Patientinnen und Patienten im Deutschen Reich betrifft, so gehen fundierte Schätzungen von etwa 360.000
61 W. Form (1997): Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und seine Entwicklung nach 1945 in Hessen. In: Aumüller, Lauer, Remschmidt (2001) (Hrsg.)(2001) Kontinuität und Neuanfang in der Hochschulmedizin nach 1945, 84–101, Schüren Presseverlag, Marburg. 62 Zit. nach Schmuhl HW (2016). Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus, S. 226ff, Springer, Heidelberg.
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
81
Personen aus. Bezogen auf die Bevölkerung Deutschlands bis 1945, sei in Deutschland 30-mal so häufig sterilisiert worden wie in den USA63. Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden sich in Kap. 2.3.2.7, das sich mit den Sterilisationsgutachten von Hermann Stutte beschäftigt.
2.1.2 Anzahl und Diagnosen der zur Sterilisation gemeldeten Patienten In der Universitätsnervenklinik Marburg wurden im Zeitraum von 1934–1945 196 Patientinnen und Patienten (22,7 %) der in diesem Zeitraum im Kindes- und Jugendalter aufgenommenen Patienten den Gesundheitsämtern gemeldet. Unter ihnen waren 99 männlichen und 97 weiblichen Geschlechts.
Abb. 2.3: Anzahl der den Gesundheitsämtern gemeldeten kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten
Abb. 2.3 zeigt, dass die Meldungen mit dem Jahr 1934 einsetzten und sich bis 1944 erstreckten. Im Jahr 1945 erfolgten keine Meldungen mehr. Der Rückgang 63 Form W (1997), S. 92.
82
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
in den Jahren 1943 bis 1945 (keine Meldungen mehr) entspricht auch den Erhebungen an der Tübinger Nervenklinik (vgl. von Seidlitz, 1999, s. Kap. 2.3.2.7).
Abb. 2.4: Alter in Jahren der bei den Gesundheitsämtern gemeldeten und nicht gemeldeten kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten
Was das Alter der gemeldeten Patienten betrifft, so befanden sich unter ihnen 14 (7,1 %) Patientinnen und Patienten, die jünger als 12 Jahre waren; den größten Anteil nahmen Patienten zwischen 15 und 19 Jahren ein (182, 92,9 %). Unter den Diagnosen der gemeldeten Patientinnen und Patienten (s. Tab. 2.2) standen mit Abstand organisch-psychische Krankheitszustände im Vordergrund (70,4 %), gefolgt von endogenen Psychosen (9,6 %), psychopathischen Anlagen, Reaktionen und Einstellungen (6,1 %), neurologischen Erkrankungen im engeren Sinne (4,6 %); die übrigen Fälle verteilten sich auf »andere jugendpsychiatrische Diagnosen« (4,1 %), vegetative vasomotorische Störungen (1,5 %), einen Fall mit der Diagnose »sexuelle Störung« (0,5 %) sowie auf einige wenige nicht identifizierbare Fälle.
83
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
Tab. 2.2: Diagnosen der den Gesundheitsämtern gemäß dem EGG gemeldeten Fälle im Vergleich zu den nicht gemeldeten (Absolute Zahlen und Prozentangaben) Nicht gemeldete gemeldete Psychopath. Anlagen, Reaktionen, Einstellungen und Entwicklungen
Gesamt
12 (6,1)
134 (20,1)
146
19 (9,7) 138 (70,4)
26 (3,9) 100 (15,0)
45 238
Neurologische Erkrankungen im engeren Sinne Vegetative vasomotorische Störungen
9 (4,6) 3 (1,5)
270 (40,4) 25 (3,7)
279 28
Endokrine Störungen Sex. Störungen
0 (0,0) 1 (0,5)
20 (3,0) 0 (0,0)
20 1
Nicht psychische-neurologische Fälle Andere jugendpsychiatrische Diagnosen
2 (1,0) 8 (4,1)
30 (4,5) 51 (7,6)
32 59
nicht bekannt nicht verschlüsselt
3 (1,5) 1 (0,5)
3 (0,4) 9 (1,3)
6 10
196 (100)
668 (100)
864
Endogene Psychosen Organisch-psychische Krankheitszustände
Gesamt
Im Fazit lässt sich feststellen, dass 22,7 % aller im Zeitraum von 1934–1945 aufgenommenen kinder- und jugendpsychiatrischen Patientinnen und Patienten nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses den Gesundheitsämtern gemeldet wurden. Unter ihnen befanden sich 14 (7,1 %), die jünger als 12 Jahre waren. Aus den vorhandenen Krankengeschichten geht allerdings nicht hervor, welche Maßnahme der Meldung folgte und ab welchem Alter Sterilisationen durchgeführt wurden. Dieser Frage sind wir in einem eigenen Projekt nachgegangen. Ferner zeigt die Tabelle, dass nicht alle Patienten, die eine meldepflichtige Diagnose erhielten, auch tatsächlich gemeldet wurden.
2.1.3 Überprüfung der eingeleiteten Maßnahmen (Sterilisation oder deren Unterbleiben) nach den Akten der Erbgesundheitsgerichte Von den 196 den Gesundheitsämtern gemeldeten Patienten, die für eine Sterilisation vorgesehen waren, konnten 68 (34,7 %) in verschiedenen Unterlagen des Staatsarchivs Marburg aufgefunden und identifiziert werden. Aufgrund der erhaltenen Unterlagen der jeweiligen Erbgesundheitsgerichte bzw. Erbgesund-
84
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
heitsobergerichte ergab sich die Möglichkeit, das Schicksal dieser 68 Patienten weiter zu verfolgen.
Abb. 2.5: Übersicht über die 68 Fälle, deren Akten im Staatsarchiv Marburg aufgefunden werden konnten
Wie aus Abb. 2.5 hervorgeht, wurden 43 Patienten einer Sterilisation zugeführt, während in 25 Fällen eine Sterilisation nicht stattfand. Die Abbildung zeigt ferner, dass in zehn von 43 Fällen, die definitiv einer Sterilisation unterzogen wurden, Einspruch erhoben wurde (in der Regel von den Eltern), wobei nur in einem Fall dem Einspruch stattgegeben wurde. In der Gruppe der nicht sterilisierten Patienten (n=25) wurde ebenfalls in zehn Fällen Einspruch erhoben, dem in sieben Fällen stattgegeben wurde. Die Gründe, weshalb in den 25 Fällen eine Sterilisation nicht durchgeführt wurde, waren vielfältig: In der Mehrzahl der Fälle entschied sich das Erbgesundheitsgericht gegen eine Sterilisation, weil die gemeldeten Fälle im Hinblick auf ihre Diagnose einen erblichen Hintergrund vermissen ließen. Dies bezog sich z. B. auf Patienten mit einer traumatischen Epilepsie, auf »Schwachsinn« infolge eines Geburtstraumas, auf Fälle mit einer kongenitalen Lues, auf Patienten mit Zustand nach einer Enzephalitis oder auf asoziale und schwer erziehbare Kinder. Bei den beiden Fällen in der Gruppe der nicht Sterilisierten (n=25), bei denen der Einspruch gegen eine Sterilisation abgelehnt wurde, handelte es sich einmal um einen 17-jährigen Jugendlichen mit der Diagnose »angeborene Psychopathie« und der Zusatzdiagnose »Dämmerzustand«. Im zweiten Fall ging es um ein 17-jähriges Mädchen mit der Diagnose »moralischer und intellektueller Schwachsinn«. Warum in diesen beiden Fällen,
85
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
trotz Ablehnung des Einspruchs, eine Sterilisation nicht durchgeführt wurde, ließ sich aus den Akten nicht ersehen. Die Akten eines dritten Falles waren infolge Kriegseinwirkung vernichtet, so dass ein Einblick nicht möglich war. Eine Übersicht über die Diagnosen der 43 sterilisierten und der 25 nicht sterilisierten Patienten gibt Tab. 2.3. Tab. 2.3: Übersicht über die Diagnosen der 43 sterilisierten bzw. 25 nicht sterilisierten Patienten
Ja Psychopath. Anlagen, Reaktionen, Einstellungen und Entwicklungen
Sterilisation Nein
Gesamt
2
2
4
Endogene Psychosen Organisch-psychische Krankheitszustände
5 32
1 18
6 50
Neurologische Erkrankungen im engeren Sinne Erziehungsschwierigkeiten
1
3
4
1
1
2
Pubertätskrise Entwicklungshemmung
1 1
0 0
1 1
Gesamt
43
25
68
Im Hinblick auf die Tabelle sind folgende Gesichtspunkte bemerkenswert: Zum einen wurden teilweise Patienten ausgeklammert, deren Erkrankung auf eine exogene Ursache zurückgeführt werden konnte. Dies trifft z. B. auf die Fälle zu, in denen exogener Schwachsinn, eine traumatische Epilepsie, ein Zustand nach Meningitis bzw. eine sonstige zerebrale Erkrankung vorlagen, zum anderen ist auffällig, dass auch in einigen Fällen, in denen nach damaliger Auffassung Erblichkeit vorlag (z. B. erbliche Epilepsie, endogener Schwachsinn) nicht sterilisiert wurde.
2.1.4 Kasuistiken Was das Alter der definitiv sterilisierten Patienten betrifft, so waren sechs 14 Jahre und jünger, 15 im Alter von 15 bzw. 16 Jahren und 22 älter als 17 Jahre. Die jüngste Patientin wurde bereits im Alter von 11 Jahren sterilisiert (s. Abb. 2.6).
86
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Abb. 2.6: Pat. E.G. (Aufn.-Nr. 796/34), die im Alter von 11 Jahren sterilisiert wurde
In der Krankengeschichte der Univ.-Nervenklinik Marburg (Aufnahme-Nr. 796/ 34) ist über die Patientin Folgendes vermerkt: Vorgeschichte: »Das Kind war eine normale Geburt, vom zweiten Jahr an auffällig, mit dem dritten Jahr laufen gelernt, sprechen nie gelernt, immer unruhig, bleibt nicht sitzen. Ist noch nicht sauber, schläft sehr unruhig, keine Anfälle. Im Wesen folgsam, nicht zornig, kein Schulbesuch. Seit zwei Jahren ist sie ganz besonders aufgeregt, überstreckt die Finger, zieht Fratzen. Außer einem Armbruch nie krank gewesen. Die Patientin ist das einzige Kind.« Sterilisation im Sommer 1934. Befund: »Patientin spricht nicht, bringt nur unartikulierte Laute, führt nur ganz einfache Befehle aus, Wortschatz fehlt. Finger in Kontrakturstellung gehalten, choreiforme Bewegungen der Finger und Hände, Stereotypien in den Bewegungen, geifert, wühlt mit den Fingern im Mund, Gang unsicher, breitspurig«. Das Krankenblatt enthält einen ausführlichen neurologischen Befund und ein detailliert ausgefülltes körperliches Konstitutionsschema nach Ernst Kretschmer mit der Diagnose »dysplastisch«.
(1)
Unterbliebene Sterilisationen
Von besonderem Interesse sind jene Fälle, bei denen die Sterilisation entweder aufgrund ärztlicher Befunde oder aufgrund eines Einspruchs unterblieben ist. Im Folgenden werden drei derartige Fälle dargestellt. Fall-Nr. 121 (K.A. *08. 10. 1920): Bei dem 16-jährigen A.K. wurde in der Anstalt Hephata in Treysa die Diagnose eines angeborenen Schwachsinns mittleren Grades gestellt. Am 12. 03. 1936 wurde ein Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt und der Jugendliche wurde vom leitenden Arzt der Anstalt Hephata wie folgt beschrieben:
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
87
»K. ist ein geistiger und körperlicher Krüppel, der zu Hause starke antisoziale Züge zeigte, so dass er unter Fürsorgeerziehung gestellt wurde. Die Familie erscheint minderwertig, da dauernd Zank und Streit im Hause. Da der Herr Oberpräsident auf Entlassung drängt, ist die vorherige Sterilisation notwendig, da später mit der Erzeugung erbkranken Nachwuchses gerechnet werden muss. Die Stellung eines Pflegers ist erforderlich«64. In einem Gutachten der Psychiatrischen und Nervenklinik (Direktor : Prof. Dr. E. Kretschmer) vom 26. 08. 1936 kamen die Ärzte zu dem Schluss, dass bei K. die Symptome einer exogenen Gehirnerkrankung vorliegen, wodurch es wahrscheinlich sei, dass »der Schwachsinn als Folgeerscheinung dieser Gehirnerkrankung erworbener Natur ist. D. h., dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um einen erblichen Schwachsinn handelt«. Demgemäß beschloss das EGG Marburg am 29. 03. 1936: »Der Antrag auf Unfruchtbarmachung des A.K. wird abgelehnt«. In der Begründung des EGG-Urteils wird die Argumentation des Gutachtens aufgegriffen und darüber hinaus auch darauf hingewiesen, dass die Familienanamnese »keinen Anhaltspunkt für belastende Erbkrankheiten oder krankhafte Anlagen ergebe«. Letzteres war durch das Gesundheitsamt Rotenburg an der Fulda zuvor bereits überprüft worden. Kommentar : Auch nach dem damaligen Wissensstand war aufgrund des klinischen Bildes mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass es sich in diesem Fall nicht um einen angeborenen Schwachsinn handeln kann, so dass sich die Frage stellte, ob der ärztliche Antragsteller auf Unfruchtbarmachung sich nicht durch den Minderwertigkeitsgedanken leiten ließ, der in seinem Antrag, aber nicht im Gutachten der Univ.-Nervenklinik zutage tritt. Fall-Nr. 246 (W. L)65 Bei der damals 17-jährigen Jugendlichen wurde seitens der Heimeinrichtung Elisabethenhof am 22. 01. 1935 an das Erbgesundheitsgericht Marburg ein Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt unter Einsendung folgender Unterlagen: (1) Antrag auf Unfruchtbarmachung, (2) ärztliches Gutachten von Prof. Ruete (Dermatologe, Heimarzt), (3) Intelligenzprüfbogen. Unterschrieben war der Antrag von der Diakonisse E. W. Vom Heimarzt wurde die Diagnose »moralischer Schwachsinn« gestellt, die er wie folgt kommentiert: »Ich halte einen angeborenen Schwachsinn für gegeben. Eine klare Diagnose lässt sich bei kurzer Untersuchung nicht stellen. Ich würde eine Untersuchung in der Univ.Nervenklinik empfehlen«. Im Gutachten der Univ.-Nervenklinik Marburg vom 13. 04. 1935, unterzeichnet von Oberarzt Mauz, lehnt dieser (zögerlich) die Unfruchtbarmachung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab und führt aus: »Obwohl die W. unter erbbiologischen Gesichtspunkten keineswegs vollwertig zu nennen ist, ergibt doch der gegenwärtige Befund keine hinreichenden Gesichtspunkte für eine Erbkrankheit i. S. des Gesetzes«. Das EGG Marburg folgte dieser Empfehlung und kommt am 09. 05. 1935 zu dem Beschluss: »Der Antrag auf Unfruchtbarmachung der L.W., * 29. 11. 1917, wird abgelehnt, da das Vorliegen einer Erbkrankheit i. S. des Gesetzes bei der Genannten nicht festgestellt werden kann.« Das Urteil ist unterzeichnet von Richter Kuhl, Kreisarzt Dr. Bräuler und Prof. Enke (Oberarzt der Univ.-Nervenklinik). 64 EGG, AG MR, HStAM 279, 64. 65 HStAM 279, 234.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Fall-Nr. 240 (W., M. *18. 12. 1919)66 Der Antrag auf Unfruchtbarmachung wurde durch den Amtsarzt des Gesundheitsamts Marburg, Dr. Bräuler, am 28. 05. 1936 gestellt. Im amtsärztlichen Gutachten vom 15. 06. 1936 wird Folgendes ausgeführt: Diagnose: angeborener Schwachsinn »Sie zeigt geringe intellektuelle Ausfälle, desto stärker tritt der moralische Schwachsinn hervor. Das Gutachten der Univ.-Nervenklinik schildert sie als lügenhaft und haltlos. Sie zeigt grobe Defekte in ihrem psychischen Aufbau, die vor allem in einer erheblichen Schamlosigkeit bestehen. Ob eine Schwangerschaft besteht, ist nicht sicher. Jedenfalls ist mit einer Schwangerschaft sofort nach der Entlassung zu rechnen. Die Sterilisation erscheint deshalb dringendst notwendig. Auf die Fürsorgeakten beim Herrn Oberpräsidenten sowie auf die Krankengeschichte der Nervenklinik wird besonders verwiesen«. Der Vater der Heranwachsenden legte Einspruch ein und führte vor dem EGG Frankfurt am 20. 08. 1936 Folgendes aus: »Ich halte meine Tochter nicht für schwachsinnig und widerspreche dem Antrag auf deren Unfruchtbarmachung. Die Geburt meiner Tochter war normal. Sie hat rechtzeitig laufen und sprechen gelernt. Sie hat die Volksschule in Niederursel besucht und ist niemals sitzengeblieben. Sie ist nach ihrer Entlassung aus der Schule im Haushalt tätig gewesen, und zwar war sie bei Verwandten in einer Wirtschaft in der Nähe des hiesigen Zoologischen Gartens tätig. Sie hat uns nie Schwierigkeiten in der Erziehung gemacht. Allerdings hatte sie einen schlechten Umgang. Meines Wissens ist sie nur einmal nicht rechtzeitig heimgekommen und dann gleich von der Polizei aufgegriffen worden. Ihre Schwester Maria Auguste ist vor der Ehe geboren. Ich bin nicht ihr Vater. Mir ist von irgendwelchen Geisteskrankheiten oder geistiger Minderwertigkeit kein Fall – weder in meiner Familie noch in derjenigen meiner Frau – bekannt«. Das EGG Marburg beschloss am 30. 05. 1936: »Der Antrag des AG Marburg auf Unfruchtbarmachung der M.W. wird abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens hat der Staat zu tragen«. In der Begründung wird ausgeführt: »Das EGG hat sich von dem Vorliegen eines angeborenen Schwachsinns aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung nicht überzeugen können. Die W. ist zwar vom 07. 05. 1936 bis zum 22. 05. 1936 in der Univ.-Nervenklinik beobachtet worden. Der Befund der Klinik lautet: »moralischer und intellektueller Schwachsinn«. Das Schulentlassungszeugnis ist durchweg mangelhaft. Die W. ist außerdem durch Beschluss des AG Frankfurt vom 26. 10. 1935 der vorläufigen Fürsorgeerziehung überwiesen. In der mündlichen Verhandlung sind zwar geringe Intelligenzmängel hervorgetreten, jedoch sind diese Mängel nicht so erheblich, dass sie schwachsinnig ist. Der Antrag ist deshalb abzulehnen«.
Kommentar: Alle drei Fälle konvergieren dahingehend, dass die Meldung an das Gesundheitsamt voreilig und nicht nach gründlicher Untersuchung und Befassung mit dem jeweiligen Fall erfolgte. In allen drei Fällen wurde ohne hinreichende Untersuchung die Diagnose eines angeborenen Schwachsinns gestellt. In allen drei Fällen führte eine gründliche Untersuchung in der Univ.-Nervenklinik zur Verhinderung der vorgeschlagenen Unfruchtbarmachung. 66 HStAM, 279, 239.
Kinder- und jugendpsychiatrische Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie
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In den 68 Fällen, die wir rekonstruieren konnten, waren folgende Erbgesundheitsgerichte beteiligt: Das EGG Marburg in 28 Fällen, gefolgt vom EGG Hanau in 18 Fällen, dem EGG Kassel in 16 Fällen, dem EGG Darmstadt in zwei Fällen sowie den Erbgesundheitsobergerichten in Kassel und Siegen in je einem Fall. Lediglich in zwei Fällen konnte das zuständige EGG nicht festgestellt werden.
(2)
Ablehnung von Einsprüchen gegen die Sterilisierung
Wie aus Abb. 2.5 hervorgeht, wurden in insgesamt 11 Fällen Einsprüche gegen die Unfruchtbarmachung abgelehnt. Exemplarisch hierfür sei der Fall H.D. (Aufnahme-Nr. 6182/40) angeführt. Bei dem 18-Jährigen wurde vom Amtsarzt in Kassel wegen angeborenen Schwachsinns die Unfruchtbarmachung beantragt. Er befand sich im März 1940 zur Anfertigung eines nervenärztlichen Gutachtens in der Univ.-Nervenklinik Marburg. Dort wurde nach dreiwöchigem stationären Aufenthalt die Diagnose eines angeborenen Schwachsinns bestätigt (Dozent Dr. Conrad67), und am 12. 06. 1940 ordnete das EGG Kassel die Unfruchtbarmachung mit folgender Begründung an: »H.D. hat in der Schule völlig versagt. Einen Beruf hat er nicht erlernt, er hilft seinem Bruder in der Landwirtschaft. Er darf nur einfache Arbeiten unter Aufsicht und Anleitung ausführen. Die mit ihm vom Anstaltsarzt vorgenommene Intelligenzprüfung hat ein sehr schlechtes Schul- und allgemeines Lebenswissen ergeben. Der Denkprozess ist verlangsamt, die Auffassungsgabe herabgesetzt, die Urteilsfähigkeit stark geschwächt. Der Schwachsinn muss auch als angeboren gelten. Er zeigte sich bereits in früher Jugend. Eine äußere Entstehungsursache für den Schwachsinn ist nicht gegeben«. Im Einklang mit dem psychiatrischen Gutachten sei die Unfruchtbarmachung durchzuführen, da er sich im fortpflanzungsfähigen Alter befinde. Gegen diesen Beschluss erhob die Mutter Einspruch und der Fall wurde in der Folge vor dem Erbgesundheitsobergericht in Kassel am 15. 10. 1940 erneut verhandelt, wobei die Beschwerde der Mutter gegen den Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Kassel vom 12. 06. 1940 zurückgewiesen wurde. Die Mutter hatte u. a. ausgeführt, dass ihr Sohn gute praktische Leistungen im landwirtschaftlichen Betrieb erbringe und dass der »landwirtschaftliche Beruf in seiner Vielgestaltigkeit keineswegs einfach sei und erhebliche Anforderungen auch in geistiger Hinsicht stelle«. Mangels einer nicht nachweisbaren äußeren Ursache könne es sich nur um einen angeborenen Schwachsinn handeln. Dem stehe auch nicht entgegen, dass in der näheren Verwandtschaft keine weiteren Schwachsinnsfälle bekannt geworden seien: »Denn bei der Eigenart des Erbganges des angeborenen Schwachsinns besteht sehr wohl 67 Klaus Conrad (1905–1961) war Mitarbeiter Ernst Kretschmers (1888–1964) in Marburg. Er veröffentlichte 1939 im »Handbuch der Erbbiologie« einen Artikel zum »Erbkreis der Epilepsie«, neurologische und neuropsychologische Arbeiten zu Hirnverletzungen und eine vielbeachtete Monografie mit dem Titel »Die beginnende Schizophrenie« (1958). Im selben Jahr wurde er auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie in Göttingen als Nachfolger von Gottfried Ewald (1888–1963) berufen. Er war Mitglied des NS-Ärztebundes und seit 1940 Mitglied der NSDAP (Aumüller et al, 2001; Klee, 2003).
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die Möglichkeit, dass die Krankheit eine oder mehrere Geschlechterfolgen überspringt, ohne in Erscheinung zu treten. Gleichwohl kann die krankhafte Erbanlage auch in den äußerlich gesunden Familienmitgliedern vorhanden sein und durch diese auf die Nachkommen übertragen werden. Im Übrigen spricht aber auch die epileptische Erkrankung eines nahen Verwandten väterlicherseits i. S. einer vorhandenen Keimschädigung«. Nach diesem ablehnenden Beschluss wurde die Sterilisation sodann durchgeführt.
Kommentar: Sowohl aus der Argumentation des Gutachtens als auch der des Erbgesundheitsobergerichts geht hervor, dass die Diagnose eines erblichen Schwachsinns sehr leichtfertig gestellt wurde, obwohl in der Familie bislang keine geistigen Behinderungen bekannt seien, der Betroffene aber von Kindheit an eine Intelligenzminderung aufwies. Hintergrund: Die ersten Krankengeschichten, Kinder und Jugendliche betreffend, die wir auswerten konnten, wurden in der Amtszeit von Georg Stertz (1878–1959) angefertigt. Er war von 1921–1926 Direktor der Marburger Universitätsnervenklinik und wurde 1926 nach Kiel berufen. Dort wurde er 1937 aus dem Amt gedrängt, als er sich weigerte, einen Antrag auf Entpflichtung zu stellen, was ihm nahegelegt wurde, weil er mit der Tochter von Alois Alzheimer verheiratet war, dessen Familie einen jüdischen Hintergrund hatte. Schließlich gab er dem Druck nach und ließ sich emeritieren. Nach dem Krieg wurde er auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Nervenheilkunde der Universität München berufen. Wissenschaftlich befasste sich Georg Stertz u. a. mit periodischen Schwankungen der Hirnfunktion, Aphasien, Tumoren des Zentralnervensystems und dem Residualwahn bei Alkoholikern (Schäfer, 2004; Wikipedia, 01. 07. 2017). Im Zeitraum von 1926–1946 war Ernst Kretschmer (1888–1964) Direktor der Universitätsnervenklinik Marburg. Er kam als Schüler von Robert Gaupp (1870– 1953) nach Marburg und wurde 1946, seinem langjährigen Wunsch entsprechend, auch wieder nach Tübingen berufen. Er hatte sich 1918 mit einer Schrift über den »sensitiven Beziehungswahn« habilitiert und hatte, neben seinen konstitutionstypologischen Untersuchungen, ein besonderes Interesse für die Psychotherapie. In der Zeit des Nationalsozialismus war er förderndes Mitglied der SS, jedoch kein Mitglied der NSDAP, gehörte aber 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Universitätsprofessoren zu Adolf Hitler. Er war Richter am Erbgesundheitsgericht Marburg und am Erbgesundheitsobergericht Kassel68,69,70,71. Kretschmer war ein Befürworter der Eugenik und der Sterilisa68 Heimann, 1998. 69 Lauer HH und Aumüller G (2001). Die Marburger Medizinische Fakultät in der Weimarer Republik bis zum Machtantritt Hitlers. In: Aumüller G, Grundmann K, Krähwinkel E, Lauer
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tion Schwachsinniger. Die in diesem Kapitel beschriebenen Sterilisationsgutachten wurden von Mitarbeitern der Marburger Universitätsnervenklinik verfasst und von Ernst Kretschmer oder seinen Oberärzten gegengezeichnet. Kretschmer war ferner Militärpsychiater des Wehrkreises IX in Marburg.
2.2
Gründung einer eigenen Kinderstation in der Nervenklinik 1947
2.2.1 Tübingen als Vorläufer Am 1. Juli 1920 wurde an der Tübinger Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten eine der ersten universitären psychiatrisch-neurologischen Kinderabteilungen in Deutschland eröffnet. Sie zählt auch europaweit zu den ersten vier kinderpsychiatrischen Abteilungen an einer Universität (Köhnlein, 2001)72. Vorläuferinstitutionen waren einerseits die »Schwachsinnigen-Anstalten« und solche für »Epileptiker und Geisteskranke« im 19. Jahrhundert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zur Gründung von Universitätsabteilungen für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik, so 1911 in Wien, 1921 in Berlin und, nach Tübingen, jeweils 1926 in Leipzig und Heidelberg. Parallele Entwicklungen fanden in Moskau (1917), in Prag (1920) und in Paris (1925) statt. Diese Entwicklungen wurden bereits in Kap. 1 ausführlich beschrieben (vgl. auch Stutte, 1966). Die Tübinger Abteilung verdankt ihre Entstehung dem Tübinger Ordinarius (berufen 1906) für Psychiatrie, Robert Gaupp (1870–1953), der ein besonderes Interesse an der Entwicklung von Kindern hatte. Dies fand u. a. in seiner Monographie »Psychologie des Kindes« Ausdruck, die bereits 1908 erschienen war und bis 1928 sechs Auflagen erlebte. In diesem Buch beschrieb er die Entwicklung von Kindern und Säuglingen bis zum Jugendalter, wobei er nicht bei der Schilderung psychologischer Vorgänge stehenblieb, sondern auch neuroanatomische und physiologische Erkenntnisse einbezog73. Dieser Ansatz, den er zunehmend durch die Einbeziehung weiterer theoretischer Konzepte und praktischer Erfahrungen ausbaute, führte zu einer Denkrichtung und Anwendungspraxis, die unter der Bezeichnung »Tübinger
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HH, Remschmidt H (Hrsg). Die Marburger Medizinische Fakultät im »Dritten Reich«, 21–65. K.G. Saur, München. Remschmidt H, Aumüller G, Wehmeier P (2001). Die Rolle der Universitätsnervenklinik und der Landesheilanstalt in den Kriegsjahren, 592–614, ebda. Kretschmer E (1963). Gestalten und Gedanken. Thieme, Stuttgart. Köhnlein F (2001): Zwischen therapeutischer Innovation und sozialer Selektion. Die Entstehung der »Kinderabteilung der Nervenklinik« in Tübingen unter Robert Gaupp und ihre Entwicklung bis 1930. Deutsche Hochschuledition Ars una, Neuwied. Gaupp R (1908): Psychologie des Kindes. Teubner, Leipzig.
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Schule« Eingang in die Literatur gefunden hat. Ihr Kennzeichen war die Einsicht, dass nicht nur ein Erklärungsansatz oder eine Fachdisziplin in der Lage ist, die Genese psychiatrisch-neurologischer Erkrankungen zu erklären, sondern dass hierzu in Forschung, Diagnostik und Therapie alles herangezogen werden muss, was zum Verständnis beiträgt und in der Behandlung hilfreich sein kann. Das Stichwort dieses Ansatzes ist die Mehrdimensionalität. So war Gaupp einer der ersten Psychiater, der den biographischen Ansatz, psychodynamische Gesichtspunkte, Umfeldfaktoren und Lebensereignisse mit neuroanatomischen und physiologischen Erkenntnisse zu verbinden suchte. Es war in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts natürlich nicht zu erwarten, dass die Gründung einer neuen Abteilung, die auch eine neue Fachlichkeit verkörperte, ohne Schwierigkeiten verlief. Die Bleibeverhandlungen (1917) angesichts eines Rufes an die Universität Heidelberg kamen ihm zu Hilfe und so konnte er am 1. Juli 1920 ein Privathaus, die Mehl’sche Villa, für den Zweck der Kinderabteilung anmieten. Sie bot Platz für 30 bis maximal 36 Kinder und wurde von ein bis zwei Ärzten und fünf Diakonissen betreut. Das Mehl’sche Haus, das zeitweise die Bezeichnung »Klinisches Jugendheim« führte, wurde 1977 zugunsten eines Neubaus abgerissen, der allerdings in der räumlichen Struktur eine gewisse Ähnlichkeit mit dem klinischen Jugendheim (Gruppierung der Patientenzimmer um eine zentrale Diele) aufwies. Diese Struktur hatte sich offenbar bewährt und vermied die übliche Klinikbauweise mit einer wenig kindgemäßen Krankenhausatmosphäre. Die bekanntesten leitenden Ärzte der Abteilung waren: – Werner Villinger (1919–1925), der von Anfang an wissenschaftlich rege war und eine Schwerpunktverlagerung von »neurologischen zu psychiatrischen und schließlich psycho- und bevölkerungshygienischen Fragestellungen mit einer wachsenden Verschärfung in Diktion und Konzeption« herbeiführte (Köhnlein, 2001)74. – Max Eyrich (1926–1929), der eine Differenzierung von heilbaren bzw. verbesserungsfähigen »Fällen« von solchen herbeizuführen versuchte, die als unverbesserlich galten und die in besonderen Einrichtungen untergebracht werden sollten. – Robert Ritter (1901–1951), der die Abteilung von 1932–1936 leitete und der mit seiner Habilitationsschrift »Ein Menschenschlag« (1936) die rassenbiologische Grundlage für seine spätere Karriere in Berlin als Leiter der »Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Dienststelle« am Reichsgesundheitsamt legte. – Hermann Stutte (1909–1982), der vor dem gemeinsamen Wechsel mit seinem Chef Villinger nach Marburg im Jahr 1946 die Kinderstation ab 1938 geleitet hatte. Auf ihn wird an späterer Stelle ausführlich eingegangen. 74 Köhnlein (2001), S. 571.
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2.2.2 Marburg als Fortsetzung Tübinger Initiativen Es nimmt nicht wunder, dass Villinger mit der Annahme des Rufes nach Marburg die Chance sah, die in Tübingen begonnene Arbeit mit Kindern hier fortzusetzen. Er hatte übrigens auch in Breslau den Versuch unternommen, eine Kinderabteilung an der Nervenklinik einzurichten. Da Villinger selbst den Lehrstuhl für Erwachsenenpsychiatrie in Marburg übernahm, hielt er nach einer Person Ausschau, die den Aufbau einer Kinderstation zu einer eigenen Abteilung und letztlich zu einem Lehrstuhl mit ihm gemeinsam voranbringen konnte. Diese Person war Hermann Stutte, der das »Klinische Jugendheim« in Tübingen bereits zuvor geleitet hatte und insofern für diese Aufgabe bestens vorgebildet war. Villinger selbst zog sich aber keineswegs aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie zurück, sondern versuchte, seinen Plan gemeinsam mit Stutte zu realisieren, wobei er, auch aufgrund seiner Stellung als Ordinarius, die führende Rolle einnahm. Obwohl die Kinderstation der Nervenklinik die erste Einrichtung für psychisch kranke Kinder in Marburg war, war ihre Existenz nicht allein ausschlaggebend für den Bau einer eigenständigen Klinik und die Einrichtung eines Lehrstuhls. Vielmehr war hierfür die erziehungsberaterische Tätigkeit der medizinisch-pädagogischen Jugendhilfe verantwortlich, die zunächst ebenfalls in der Nervenklinik untergebracht war, aber bald, ebenfalls energisch vorangetrieben von Villinger und mit Unterstützung durch eine Spende aus dem McCloy-Fund im Jahr 1952 ein eigenes Gebäude erhielt (vgl. Kap. 3). Der Antrag Villingers durfte sich allerdings nicht auf den Bau einer Erziehungsberatungsstelle beziehen. Gemäß einem Schreiben des Hessischen Ministers der Finanzen vom 16. 5. 1951 an den Hessischen Minister des Inneren (Abt. Öffentliches Gesundheitswesen) heißt es: »Bei Ihren Planungen bitte ich Sie davon auszugehen, dass es sich nicht um die Einrichtung einer Erziehungsberatungsstelle, sondern um eine Erweiterung der Nervenklinik durch den Anbau einer Kinderstation handelt. Deshalb bitte ich Sie, die Bezeichnung »Erziehungsberatungsstelle« tunlichst zu vermeiden»75. Dieser Hinweis erfolgte, da die erziehungsberaterische Tätigkeit eine kommunale Aufgabe und nicht eine Aufgabe der Universität ist. Folglich durfte man die neu zu gründende Einrichtung auch nicht Erziehungsberatungsstelle, sondern »Institut für medizinisch-pädagogische Jugendhilfe« nennen. Es handelte sich auch nicht um einen Anbau an die Nervenklinik, sondern um ein eigenständiges Gebäude, zu dem sich später auch die Erziehungsberatungsstelle in kommunaler Trägerschaft hinzugesellte. Im genannten Schreiben war auch vermerkt, dass der Bau erst in Angriff genommen
75 UAMR 310 Nr. 410.
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werden könne, wenn von amerikanischer Seite der zugehörende Betrag von 50.000 DM verfügbar sei. So waren es also zunächst die ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und die Kinderstation, die zum Schrittmacher für den Bau einer eigenständigen Klinik wurden. In der Folgezeit stellte Villinger, nachdem der Neubau für die ärztlich-pädagogische Jugendhilfe (alias Erziehungsberatungsstelle) bereits genehmigt war, zahlreiche Anträge, um den Neubau einer eigenständigen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu erreichen. Als wesentliche Argumentationshilfe diente hierfür eine von Hermann Stutte verfasste Denkschrift mit dem Titel »Die Jugendpsychiatrie als medizinische Sonderdisziplin«76, die den Entscheidungsträgern im zuständigen Ministerium zugesandt wurde. Der Antrag auf Schaffung eines Extraordinariats und den Neubau einer Klinik als Ersatz für die Kinderstation wurde von Ministerialdirektor Willy Viehweg vom Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung nachdrücklich unterstützt77.
Abb. 2.7: Kinderstation der Universitätsnervenklinik Marburg im Querbau (1947), Fotografie aus Privatbesitz
76 HHStAW X_422_620. 77 UAMR 307e Nr. 5251.
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Wie die Abbildung 2.7 zeigt, war die Kinderstation sehr beengt im Querbau der Universitätsnervenklinik untergebracht. Hinzu kam, dass auch noch in zwei Räumen der Station Erziehungsberatung durchgeführt wurde. Eine der ersten ärztlichen Mitarbeiterinnen war Doris Weber (1916–2017), die 1948 ihre Tätigkeit auf der Kinderstation aufnahm und die später die Leitung der ärztlich-pädagogischen Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle übernehmen sollte. Sie hat sich um den Aufbau und die Arbeit auf der Kinderstation nicht nur bleibende Verdienste erworben, sondern hat auch zahlreiche Anekdoten über die manchmal heiter-komische Arbeit mit den Kindern auf der Station überliefert. Was den Neubau der geplanten Klinik betraf, so war von vornherein die Einrichtung einer Klinikschule vorgesehen. Am 09. 07. 1956 stellte Hermann Stutte einen Antrag diesbezüglich an das Hessische Ministerium für Erziehung und Volksbildung. Es handelte sich um die Einrichtung einer »Heimsonderschule« mit zwei Lehrkräften78. Zur Begründung führte er aus, dass von den in Aussicht genommenen 60 Betten voraussichtlich 40 mit schulpflichtigen Kindern belegt sein würden. Zur fachlichen Argumentation schreibt er : »Die ständige Zusammenarbeit mit den Pädagogen, insbesondere den Sonderpädagogen – das zeigt die allgemeine Entwicklung des Faches – ist heute ein integrierender Bestandteil der kinderpsychiatrischen Diagnostik und Therapie. Deshalb wurde auch (nach dem Vorbild analoger Institutionen im In- und Ausland) im Rahmenprogramm der neuen Jugendpsychiatrischen Klinik von vornherein eine Heim- bzw. Klinikschule mit vorgesehen«79. Bereits einige Jahre zuvor (am 12. 02. 1053) hatte Stutte eine »Denkschrift über die Zweckmäßigkeit eines Zentrums der Hilfsschullehrerausbildung in der Universitätsstadt Marburg« verfasst und diese an das Ministerium für Erziehung und Volksbildung geschickt80. In diesem Dokument begründet er eingehend die Notwendigkeit eines derartigen Zentrums unter Hinweis auf die in Marburg bereits vorhandenen Kooperationsmöglichkeiten in Gestalt des Pädagogischen Instituts (Frau Prof. Blochmann), der HNO-Klinik (Prof. Mittermaier), der Orthopädischen Klinik (Prof. Zenker), der Blindenstudienanstalt (Prof. Strehl), der bereits existierenden Hilfsschulen und des pädagogischen Instituts in Weilburg (Frau Prof. Hetzer).
78 Akte Nervenklinik 423/74, UAM 310/10591. 79 ebenda. 80 UAMR 310, Nr. 16497.
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2.3
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
2.3.1 Werner Villinger (1887–1961) Die Berufung Werner Villingers als Nachfolger von Ernst Kretschmer auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie81 Ernst Kretschmer82 war von 1926–1946 Lehrstuhlinhaber für Neurologie und Psychiatrie an der Philipps-Universität Marburg. Er hatte zweimal versucht, nach Tübingen, von wo er kam, zurückzukehren, wurde aber von der Partei abgelehnt. Erst nach dem Krieg ergab sich nun die Möglichkeit, seinen Wunsch zu realisieren. Der Tübinger Lehrstuhlinhaber Hermann Hoffmann war am 13. Juni 1944 verstorben, sodass dessen Nachfolge anstand. Auch Werner Villinger hatte sich darum beworben und erhielt vor Kriegsende von der Medizinischen Fakultät den zweiten Listenplatz. Die Fakultät hatte Kretschmer in der Berufungsliste an die erste Stelle gesetzt83. Dagegen erhob der Dozentenführer, Prof. Usadel, mit Schreiben vom 06. 01. 1945 Einspruch: »Vom nationalsozialistischen Standpunkt aus gesehen, dürfte eine Berufung Kretschmers von Seiten des NSD-Dozentenbundes niemals gebilligt werden, weil man aufgrund positiver Unterlagen der Ansicht ist, dass er nationalsozialistische Ideen nicht in sich aufgenommen hat.«84 Nach Kriegsende wurden die Karten neu gemischt, und Ernst Kretschmer, der zum Zeitpunkt der geplanten Besetzung seines eigenen Lehrstuhls Dekan in Marburg war und bereits einen Ruf auf den Lehrstuhl in Tübingen erhalten hatte, war für seine eigene Nachfolge mitverantwortlich, was durchaus ungewöhnlich ist. Mit Schreiben vom 5. 3. 194685 übersandte er dem Hessischen Kultusministerium über den Rektor die Berufungsliste für seine Nachfolge. Sie lautete: (1) Werner Villinger, (2) Friedrich Mauz86 und (3) Werner 81 P-Akte Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt.504 Nr. 10.039–10.040. 82 Ernst Kretschmer (1888–1964), studierte Medizin und Philosophie in Tübingen, München und Hamburg, habilitierte sich 1918 bei Robert Gaupp inTübingen, war Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie in Marburg von 1926–1946 und übernahm den Tübinger Lehrstuhl 1946. Er war einer der bedeutendsten Psychiater Deutschlands. Näheres s. Kap. 17. 83 Bundesarchiv R 4901/25896, Schreiben des Dekans an den Rektor vom 15. 12. 1944. 84 ebenda. 85 UAMR 307c, 5228. 86 Friedrich Mauz (1900–1979) war nach dem Studium der Medizin an der Universität Tübingen Mitarbeiter des dortigen Lehrstuhlinhabers Robert Gaupp, folgte Ernst Kretschmer 1926 von Tübingen nach Marburg, wo er sich 1928 habilitierte. Er trat 1937 der NSDAP bei und war Richter am Erbgesundheitsobergericht in Kassel. Er war zeitweise T4-Gutachter, ein Verfahren diesbezüglich wurde 1951 eingestellt. Von 1953–1968 war er Direktor der Universitätsnervenklinik Münster (Wikipedia, 11. 06. 2017; Klee, 1983); vgl. auch SilberzahnJandt u. a. (2012):Friedrich Mauz, T4-Gutachter und Militärpsychiater, Der Nervenarzt 83, 321–328.
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Wagner87. Alle drei Bewerber waren Mitglieder der NSDAP (Eintritt jeweils 1937). Im Schreiben an den Minister führte der Dekan aus: »Die politischen Akten von Professor Villinger wurden vom Dekan Herrn Dr. Hartshorne88 direkt übergeben und von diesem positiv beurteilt. Die politischen Akten von Professor Mauz liegen bei«. Im besagten Schreiben an das Ministerium wurde Werner Villinger als zweiter Vorsitzender der »Deutschen Gesellschaft für Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik« bezeichnet. Am 9. September 1945 wandte sich der Rektor der Universität Heidelberg, Professor K. H. Bauer89, in einem Schreiben90 an den Rektor der Philipps-Universität Marburg, nahm Bezug auf die Berufung Villingers nach Breslau, die er seinerzeit, als ebenfalls in Breslau tätiger Professor, begrüßt hatte und fuhr dann fort: »Villinger hat sich sofort durchgesetzt, die Klinik straff geführt und sich in der Fakultät, beim Militär, mit Vorträgen vor Gericht vorzüglich bewährt. Wissenschaftlich können sie ihn ja selbst genauer beurteilen. Menschlich und charakterlich kann ich ihm das beste Zeugnis ausstellen. Ich kenne seine politischen Schicksalsdaten nicht im Einzelnen, kann mich aber verbürgen, dass er eine klare Anti-Nazi-Einstellung hatte, solange ich ihn kenne. Es wäre tragisch, wenn dieser bewährte Mann an den Zweifelhaftigkeiten eines Datums scheitern sollte«. Die Besetzung des Marburger Lehrstuhls war für den 1. April 1946 vorgesehen. Am 18. 3. 1946 übernahm Werner Villinger dessen Vertretung, erhielt am 25. 7. 1946 seine Ernennungsurkunde zum ordentlichen Professor und wurde am 1. 10. 1950 in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen91. Bereits am 14. 5. 1946 hatte Werner Villinger einen Ruf auf das Ordinariat für Psychiatrie an der Universität Hamburg erhalten. Diesen Ruf nutzte er, um die Einstellung seiner aus Tübingen mitgebrachten Mitarbeiter Dozent Dr. Stutte und Dr. Dr. Brobeil zu realisieren, aber auch, um den von ihm geplanten weiteren Ausbau der Marburger Klinik voranzutreiben. Hierzu gehörte, neben einer Er87 Werner Wagner (1904–1956) studierte Medizin an den Universitäten Münster, Oxford, Dorpat und Heidelberg, wo er auch 1929 promovierte. 1933 ging er an die Universitätsnervenklinik zu Johannes Lange nach Breslau, die er nach dessen Tod als Privatdozent vorübergehend leitete. Während des 2. Weltkrieges war er als beratender Psychiater im Wehrkreis IV eingesetzt. Er gehörte seit 1937 der NSDAP an. Nach verschiedenen Zwischenstationen wurde er Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (seit 1954 Max-Planck-Institut für Psychiatrie). Er starb 1956 (Klee, 2007; Wikipedia, 13. 06. 2017). 88 Dr. Edward Y. Hartshorne (1912–1946)war der für die Philipps-Universität Marburg zuständige Offizier der amerikanischen Besatzungsmacht. Er sprach gut Deutsch und hat sich um den Wiederaufbau der Philipps-Universität Marburg verdient gemacht. 89 Karl-Heinrich Bauer (1890–1978), Anhänger der Eugenik, o. Professor für Chirurgie an der Univ. Breslau (1932–1943), erster Nachkriegsrektor der Univ. Heidelberg, Gründer des Deutschen Krebsforschungsinstituts in Heidelberg (1964). 90 ebenda. 91 HHStAW 504,10.039–10.040.
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weiterung des Erwachsenenbereichs der Psychiatrischen Klinik, in erster Linie die Schaffung einer eigenen Kinderabteilung. Im Hinblick auf seine nationalsozialistische Vergangenheit wurde Villinger durch den Spruchkammerbescheid I und II der Spruchkammer Marburg vom 11. 4. 1947 in die Gruppe V (Entlastete) eingereiht92. Jedoch waren im Berufungsverfahren Zweifel an seinem politischen Vorleben aufgetaucht. So wurde ihm die Mitwirkung an Zwangssterilisationen während seiner Tätigkeit als Chefarzt in der Anstalt Bethel und auch an der T4-Aktion vorgeworfen93. Da er diese Anschuldigungen durch Gutachten entkräften konnte, blieb die Fakultät bei ihrem Entschluss und berief ihn auf das Ordinariat94. Ein Vermerk vom 19. 04. 1946 von Brigitte von Kaehne, die sich aufgrund ihrer Verwandtschaft mit Oberst Graf Stauffenberg (er war ihr Vetter) nach eigenen Angaben sieben Monate in Sippenhaft befunden hatte, könnte von der Spruchkammer bei der Entnazifizierung als entlastend gewertet worden sein. Darin berichtet sie, dass Prof. Villinger sie vor einem Abtransport in das KZ Buchenwald dadurch bewahrt habe, dass er sie »unter dem Motto eines Nervenzusammenbruchs« in die geschlossene Station der Klinik aufnahm. Im Übrigen habe er sich sehr scharf gegen das nationalsozialistische System geäußert95. Während seiner aktiven Zeit in Marburg erhielt er zahlreiche Ehrungen, war über viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie e.V., Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater, erhielt im Jahre 1951 die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg und wurde für das Amtsjahr 1955/56 zum Rektor der Philipps-Universität Marburg gewählt. Seine Emeritierung erfolgte am 1. April 1956. Da seine Nachfolge bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht geregelt war, erhielt er eine Verlängerung der Lehrstuhlvertretung bis einschließlich Sommersemester 1958. Zum 1. Januar 1959 wurde sein Nachfolger Professor Hans Jacob aus Hamburg berufen.
2.3.1.1 Biographische Daten Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die umfangreiche Biographie über Werner Villinger (Holtkamp, 200296) und auf eigene Recherchen in verschie92 Holtkamp M (2002). Werner Villinger (1887–1961): Die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Matthiesen Verlag, Husum. 93 HStAM 307c, Acc. 1969/33 Nr. 364. 94 Kornelia Grundmann in Aumüller et al. (2001), S. 656. 95 Personalakte UAMR 310 Nr. 6480. 96 ebenda.
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denen Archiven97, auf Schriftwechsel im Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 und auf Berichte von Zeitzeugen. Werner Villinger wurde am 09. 10. 1887 in Besigheim als Sohn von Hermann Villinger und seiner Ehefrau Selma, geb. Raithelhuber, geboren. Er entstammte einer alteingesessenen Arzt- und Apothekerfamilie, die christlich, national und sozial eingestellt war (Holtkamp, 2002). Nach Besuch der Volks- und Lateinschule in Besigheim legte er 1906 am Königlichen Gymnasium in Ludwigsburg das Abitur ab, hielt sich dann vier Monate in London auf, um seine englischen Sprachkenntnisse zu erweitern, absolvierte seinen Militärdienst, den er 1909 als Leutnant verließ und wurde dann Reserveoffizier. Im WS 1909/10 nahm er das Medizinstudium in München auf, wechselte nach zwei Semestern an die Universität Straßburg, wo er auch nach einem kurzen Aufenthalt an der Universität Kiel 1912 das Staatsexamen ablegte. Er nahm als Soldat am I. Weltkrieg teil und erlangte 1917 den Rang eines Hauptmanns. Nach zwei Kriegsverletzungen verließ er, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse, am 31. 12. 1918 den Heeresdienst. Die folgenden Etappen seiner Karriere hat Holtkamp (2002) wie folgt zusammengefasst – wir folgen hier seiner Darstellung98 : Assistenzarzt bei Gaupp in Tübingen (1919–1925) In dieser Zeit promovierte Villinger bei Gaupp mit dem Thema »Gibt es psychogene, nicht-hysterische Psychosen auf normalpsychologischer Grundlage? Ein Beitrag zur Psychogenielehre«. Die Dissertation wurde mit der Gesamtnote »gut« bewertet. Im Jahre 1924 erhielt er die Anerkennung als Facharzt für Nerven- und Geisteskrankheiten. Am 18. 09. 1920 heiratete Villinger Louise Bösch (1896–1992). Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor: Ulrich (geb. 1921), Antje (geb. 1924), Frauke (geb. 1930), Christian (geb. 1934), Adelheid (geb. 1937) und Klaus-Hinrich (geb. 1941). Der älteste Sohn Ulrich fiel als Soldat in Finnland. Oberarzt beim Landesjugendamt in Hamburg (1926–1933) In seiner Hamburger Zeit hat Villinger sich auch kirchenpolitisch betätigt und die Wahl Friedrich von Bodelschwinghs zum Reichsbischof unterstützt99. In 97 Univ.-Archiv Tübingen, Univ.-Archiv Marburg, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. 98 Holtkamp, a. a. O. 99 Der evangelische Theologe Friedrich von Bodelschwingh (1877–1946) hatte 1920 die Leitung der von Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel übernommen und war durch verschiedene Gremien der evangelischen Kirche zum ersten Reichsbischof vorgeschlagen worden. Er trat auf Druck der Nationalsozialisten zurück und wurde durch den Wehrkreispfarrer Ludwig Müller (1883–1945) ersetzt, der dieses Amt bis 1945 innehatte. Bodelschwingh war Mitglied der Bekennenden Kirche. Dem Nationalsozialismus stand er zunächst positiv gegenüber. Er
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Hamburg habilitiert er sich 1927 bei Wilhelm Weygandt100 und am 01. 01. 1932 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurden die führenden Personen der Jugendbehörde in Hamburg entlassen, Villinger konnte jedoch bleiben. Er wurde 1933 Mitglied des »Stahlhelm«. Nach Holtkamp hat ihm dies ermöglicht, im Gegensatz zu den anderen Führungspersönlichkeiten der Hamburger Jugendbehörde, im Staatsdienst zu bleiben, ohne in die NSDAP eintreten zu müssen. Chefarzt der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel (1934–1939) Am 01. 04. 1934 wurde Villinger Chefarzt der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel bei Bielefeld und löste dort Carl Schneider101 ab, der Ende 1933 als Ordinarius an die Universität Heidelberg ging. Am 01. 05. 1937 trat Villinger in die NSDAP ein. Nach der Darstellung von Holtkamp sei dies auf Druck von verschiedener Seite geschehen. Es dürfte ihm aber für seine weitere Karriere außerordentlich nützlich gewesen sein. In die Betheler Zeit fiel auch die Beteiligung Villingers und seiner Mitarbeiter an Sterilisationen von in der Anstalt untergebrachten Patienten, worauf an späterer Stelle eingegangen wird. Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie in Breslau (1940–1945) Der Wechsel Villingers nach Breslau dürfte durch das Bestreben begründet gewesen sein, von der »Anstalt« an die Universität zu gelangen, was einen Karbefürwortete auch die Sterilisation geistig Behinderter. Er ging aber auf Distanz zum NSRegime, als die Krankenmorde (T4-Aktion) begannen (vgl. auch Ernst Klee (2005). Personenlexikon zum Dritten Reich, 2. Aufl. Fischer, Frankfurt, S. 57. 100 Wilhelm Weygandt (1870–1939) studierte zunächst Philosophie, Theologie und Pädagogik an den Universitäten Straßburg und Leipzig und nahm 1892 das Medizinstudium auf, das er in Freiburg, Berlin und Heidelberg fortsetzte. Er promovierte 1896 bei Konrad Rieger in Würzburg, wurde Assistent bei Emil Kraepelin in Heidelberg und wurde 1919 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Hamburg berufen. Sein Aufnahmeantrag in die NSDAP wurde 1934 abgelehnt. Er gehörte aber 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren zu Adolf Hitler. Sein Hauptforschungsgebiet waren Intelligenzminderungen im Kindes- und Jugendalter, er war ein Befürworter der Rassenhygiene und der Zwangssterilisationen (Wikipedia 30. 06. 2017; Weber-Jasper, 1996). 101 Carl Schneider (1891–1946) studierte Medizin in Würzburg und wurde nach Abschluss des Studiums wissenschaftlicher Assistent an der Nervenklinik der Universität Leipzig unter Paul Flechsig. 1926 ging er im Rahmen eines Stipendiums an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Er trat bereits 1932 in die NSDAP ein und wurde gemeinsam mit Paul Nitsche zu einem Verfechter der Euthanasie. Er war für kurze Zeit Chefarzt der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel und wurde 1933 auf den Heidelberger Lehrstuhl für Psychiatrie berufen. Ab dem 20. 04. 1940 war er als T4-Gutachter tätig und an der Tötung von »idiotischen Kindern« in der Anstalt Eichberg beteiligt, deren Gehirne untersucht werden sollten. Er beging am 11. Dezember 1946 Suizid (Klee, 2003).
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rieresprung bedeutete und auch die Möglichkeit eröffnete, wissenschaftlich zu arbeiten sowie in die Kreise der führenden deutschen Psychiater Eingang zu finden. In Breslau wurde er Nachfolger des bekannten Psychiaters und Neurologen Johannes Lange (1891–1938)102 und trat den Dienst dort am 01. 02. 1940 an. Den Ruf auf diesen Lehrstuhl hatten die zunächst vorgeschlagenen Professoren Gottfried Ewald (Göttingen), Kurt Beringer (Freiburg) und Kurt Schneider (München) abgelehnt. In Breslau bestand, neben dem Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie, den Villinger übernahm, noch ein eigenes Ordinariat für Neurologie, auf den 1941 Viktor von Weizsäcker (1886–1957)103 berufen wurde. In Breslau wurde Villinger 1940 »beratender Psychiater« für den Wehrkreis VIII. In die Breslauer Zeit fiel auch seine Benennung (ab 1941) als Gutachter für die »Euthanasie-Aktion«. Was seine militärische Laufbahn betrifft, so wurde er 1942 zum Oberfeldarzt und 1944 zum Oberstarzt befördert. Nachdem Breslau am 13./14. 2. 1945 einem schweren Bombenangriff ausgesetzt war, den Villinger unverletzt überstand, brach er nach Tübingen auf, wo seine Familie sich bereits seit Herbst 1944 aufhielt. Dort übernahm er umgehend die stellvertretende Leitung der Univ.-Nervenklinik. Kommissarischer Leiter der Univ.-Nervenklinik in Tübingen (1945–1946) Nachdem der Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde an der Universität Tübingen, Hermann Hoffmann, am 13. 06. 1944 plötzlich verstorben war, wurde Werner Villinger (nicht ohne Komplikationen) die kommissarische Leitung der Klinik übertragen. Die Komplikation bestand darin, dass er gegen Ende des Krieges als Nachfolger von Hoffmann bereits berufen werden sollte, die Fakultät aber andererseits Ernst Kretschmer (Marburg) favorisierte. Dieser nahm schließlich den Ruf nach Tübingen zum 01. 04. 1946 an und Werner Villinger wurde, nach erfolgter Entnazifizierung, zum 01. 04. 1946 mit der vertretungsweisen Übernahme des Marburger Lehrstuhls, ebenfalls zum 01. 04. 1946, betraut.
102 Johannes Lange war Mitarbeiter von E. Kraepelin (1856–1926) und wurde 1930 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie der Universität Breslau berufen. Er starb 1938. Sein Nachfolger war Werner Villinger. Lange war Richter am Erbgesundheitsgericht in Breslau. 103 Viktor v. Weizsäcker zählt zu den Gründern der Psychosomatischen Medizin und der medizinischen Anthropologie. Begründer der Psychosomatischen Abteilung an der KrehlKlinik in Heidelberg. Er war Mitglied im NS-Lehrerbund, Leiter der Neurol. Forschungsstelle in Breslau, in der Gehirne getöteter Kinder untersucht wurden (Wikipedia, 8. 07. 2017, Klee, 2003, S. 666).
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Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde in Marburg (1946–1956) und weiterhin Leiter der Klinik als Emeritus (1956–1958) Die Aktivitäten Villingers im genannten Zeitraum sind bei Holtkamp (2002) sehr detailliert und durch zahlreiche Quellenangaben belegt dargestellt. Dies soll hier nicht wiederholt werden. Zusammenfassend lässt sich danach Folgendes feststellen: – Die Entnazifizierung überstand Villinger nach zwischenzeitlicher Einstufung in die Gruppe IV (Mitläufer) im Endergebnis im Jahre 1947 als Entlasteter (Gruppe V). Dies ist erstaunlich angesichts seiner Involvierung in verschiedene Aktivitäten im Sinne der NS-Ideologie. – Bereits vor seiner offiziellen Ernennung zum ordentlichen Professor (am 25. 07. 1946) erhielt er einen Ruf nach Hamburg, den er ablehnte, nachdem ihm eine Erweiterung der Klinik und der Neubau einer Kinderabteilung in Aussicht gestellt worden waren. – Im Berichtszeitraum engagierte er sich an der Medizinischen Fakultät als Prodekan und Dekan (1948/49), ferner als Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie (1950–1961), in der Union Europäischer Pädopsychiater, in der er einige Jahre Vizepräsident war, als Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater (1951–1953), als Gründungsmitglied der »Lebenshilfe« (1958) und zeitweiliger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats dieser Organisation. – Im April 1956 wurde er emeritiert, vertrat aber das Ordinariat weiterhin bis 1958, weil die Nachfolge nicht rechtzeitig geregelt werden konnte. – Im letzten Jahrzehnt seines Lebens erfuhr er zahlreiche Ehrungen. Er erhielt u. a. im Jahre 1952 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und anlässlich seines 70. Geburtstages als erster Empfänger die »Heinrich-Hoffmann-Medaille« der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie. Die Krönung seiner akademischen Karriere war die Wahl zum Rektor der Philipps-Universität Marburg für das Amtsjahr 1955/ 56. Schließlich wurde er von der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg im Jahre 1959 durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde geehrt. Die Dr. Heinrich Hoffmann-Medaille104 wurde 1957 von der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie e.V. aus Anlass des 70. Geburtstages von Prof. Werner Villinger gestiftet und sollte satzungsgemäß alle vier Jahre für hervorragende Leistungen zur Erforschung »geistig-seelischer und körperlicher Re104 Heinrich Hoffmann (1809–1894) ist nicht nur als Verfasser des »Struwwelpeter« bekannt, sondern auch als Gründer einer Kinderabteilung an der »Anstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt, deren Leitung er 1851 übernahm. Sein Nachfolger war Emil Sioli (1852–1922), der auch maßgebliche Verdienste um die Weiterentwicklung der Kinderabteilung hat.
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gelwidrigkeiten und Krankheiten im Kindes- und Jugendalter wie auch besondere Verdienste um die ärztliche und pädagogische Betreuung behinderter Kinder« vergeben werden. Die Medaille trägt die Inschrift: »Für Verdienste um das hilfsbedürftige Kind«. 2.3.1.2 Involvierung im Nationalsozialismus Hierzu existieren, neben der ausführlichen Monographie von Holtkamp (2002), zahlreiche Veröffentlichungen und auch ein umfangreiches Quellenmaterial, das wir zum großen Teil sichten konnten. Es handelt sich im Wesentlichen um fünf Aktivitäten, die ihm zum Vorwurf gemacht wurden: (1) Die Mitwirkung bei Zwangssterilisationen, (2) die Erstellung von Gutachten im Rahmen der T4Aktion, (3) die Zustimmung zur Einbeziehung psychiatrischer Patienten in eine experimentelle Studie zur Hepatitisforschung, (4) Veröffentlichungen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie und (5) Stellungnahmen in der Nachkriegszeit gegen die Gewährung von Entschädigungen für zwangssterilisierte Patienten. (1) Mitwirkung bei Zwangssterilisationen Hintergrund105 : Als Folge der Eugenikbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern und auch in den USA weit verbreitet war, wurden Sterilisationsgesetze eingeführt, mit dem Ziel, die Fortpflanzung bestimmter Personen und Bevölkerungsgruppen zu verhindern. Auf diese Weise sollte der Volkskörper gesund erhalten werden. Betroffen waren Träger von erblichen Erkrankungen und Behinderungen, aber auch Menschen mit psychischen Störungen wie Alkoholismus, Dissozialität, Verwahrlosung, Delinquenz, die man mit Erblichkeit in Verbindung brachte. Vorreiter waren die USA, wo im Staat Indiana 1907 das erste Sterilisationsgesetz eingeführt wurde. Im Jahr 1933 gab es bereits in 41 von 48 US-Staaten gesetzliche Eheverbote für »Geisteskranke« und in 30 Staaten eugenische Sterilisationsgesetze. Noch 1964 wurden in den USA insgesamt 64.000 Menschen unfruchtbar gemacht. In Europa wurde das erste Sterilisationsgesetz 1929 in Dänemark eingeführt und in der Folge auch in anderen skandinavischen Ländern wie Schweden und Norwegen (1934) und Finnland (1935). In Uppsala wurde im Jahr 1922 das weltweit erste staatlich finanzierte »Institut für Rassenbiologie« gegründet, dessen Aufgabe es war, die schwedische Bevölkerung nach rassischen Gesichtspunkten zu 105 Dieser Abschnitt stützt sich auf Ausführungen in Wikipedia (Sterilisationsgesetze, Mai 2016, und Staatliches Institut für Rassenbiologie, Juni 2016), auf Berichte über die Sterilisationspraxis in Schweden: Clees, Dt. Ärzteblatt 1997, 4, A-2551–2552) und der Schweiz, wo ein Gesetz zur Zwangssterilisation im Kanton Waadt erst im Jahr 1985 aufgehoben wurde (vgl. NZZ vom 01. 10. 2006).
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untersuchen. Der Zwangssterilisierung zugeführt wurden u. a. »gemischtrassige alleinstehende Mütter mit unstetem Lebenswandel, Arbeitslose, Zigeuner und sonstige Andersartige«106. 1958 wurde das Institut umbenannt in »Institut für medizinische Genetik«. Bei den aus genetischer Motivation in Kraft gesetzten Sterilisationsgesetzen handelte es sich nicht immer um solche, die die Unfruchtbarmachung durch Zwang durchsetzten, es wurde aber Druck auf den vorgesehenen Personenkreis ausgeübt. Dies trifft auch auf die Schweiz zu, wo sich die Behörden das zur Durchführung der Sterilisation erforderliche Einverständnis durch Überredung oder Erpressung verschafften, z. B. durch die Drohung mit dem Verlust der Unterstützung oder mit Anstaltsverwahrung. Abtreibungen seien oft nur bewilligt worden, wenn die Frau gleichzeitig ihre Zustimmung zur Sterilisation gab. Erst im Jahr 2000 erklärte der Nationalrat diese Sterilisationen für rechtswidrig und erkannte das Recht der Opfer auf Entschädigung an. In Schweden sollen zwischen 1934 und 1976 62.000 Personen sterilisiert worden sein, davon 20.000–30.000 unter Zwang. Die Sterilisationspolitik in Deutschland ist also keineswegs eine nationalsozialistische Erfindung. Allerdings wurden die Sterilisationsgesetzgebung und ihre Ausführung in Deutschland landesweit in radikalster Form und unter Zwang durchgeführt. Nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurden bis Mai 1945 mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Das Gesetz wurde nach 1945 von den Alliierten nicht aufgehoben, sondern in der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone lediglich außer Kraft gesetzt. Erst 1968 wurde es von der Bundesregierung für ungültig erklärt107. Den Opfern wurde bis 1980 eine Entschädigung nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung für nationalsozialistische Opfer (BEG) versagt. Erst seit 1980 konnten Zwangssterilisierte als Entschädigung eine Einmalzahlung von 5.000,– DM beantragen und seit 1988 eine geringe monatliche Rente. Eine ausführliche Darstellung der langen frustranen Bemühungen, eine Entschädigung für die Opfer der Zwangssterilisation zu erreichen, hat Henning Tümmers (2011)108 unter dem Titel »Anerkennungskämpfe« vorgelegt. Die Mitwirkung Werner Villingers an Zwangssterilisationen ist vielfach belegt. Es ist allerdings Castell et al. (2003) zuzustimmen, dass diese »nicht immer
106 Clees, 1997. 107 Marion Lilienthal (2014). Erbbiologische Selektion in Korbach (1933–1945). Rassenhygiene, Zwangssterilisierung und NS-»Euthanasie« – Der Wahn vom gesunden Volkskörper und seine Folgen. Beiträge aus Archiv und Museum der Kreisstadt Korbach und Archiv der Alten Landesschule, Bd. 3, S. 397ff. 108 Tümmers H (2011). Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen.
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mit der gebotenen Vollständigkeit«109 beschrieben wurden. Castell et al. haben die vollständigste Analyse dieses Sachverhaltes vorgenommen und ausführlich dargestellt. Danach bestehen keinerlei Zweifel, dass Villinger während seiner Zeit als ärztlicher Direktor der Anstalt Bethel eine Vielzahl von Patienten zur Anzeige gebracht hat. Belegt wird dies durch eine Äußerung Villingers vom 13. 07. 1934, wonach von den 3.000 Pfleglingen in Bethel etwa 1.700 zur Anzeige gebracht wurden. Er habe aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass nicht ebenso viele Anträge auf Sterilisation gestellt wurden, da viele Dauerpatienten auch in der Anstalt verblieben seien. Nach Castell et al. (2003) habe er, um der Anzeigepflicht zu genügen, den Versuch unternommen, Anträge so zu formulieren, dass sie voraussichtlich vom Erbgesundheitsgericht abgelehnt würden. Castell et al. zitieren hierzu eine Quelle aus dem Archiv des Diakonischen Werkes in Berlin, die auf eine differenzierte Haltung Villingers zur Sterilisationsfrage hinweist, wenngleich er den Grundgedanken der Unfruchtbarmachung i. S. des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses akzeptierte: »Es gibt sehr langsam sich entwickelnde Intelligenzen, die um die Pubertät herum den Eindruck von leicht Schwachsinnigen machen, aber um das 20. Jahr herum nicht schlechter als Normale sind. Hier muss man dem Erbgesundheitsgericht klarmachen, dass es abwarten soll. In einigen Fällen ist es gelungen, dass eine Nachuntersuchung nach drei Jahren angesetzt wurde«. Ferner habe Villinger sich bemüht, die Betroffenen zu überzeugen, dass sie selbst den Antrag stellen. Dies sei etwa bei 60 % der Anträge gelungen110. Wie viele Patienten in der Zeit, als Villinger die Anstalt Bethel leitete, sterilisiert wurden, sei nicht mehr festzustellen. Er wird von Castell et al. (2003) mit folgender Äußerung zitiert: »Bei 750 durchgeführten Sterilisationen haben wir keine nachteiligen Folgen körperlicher oder psychischer Art beobachtet. Bei FE-Erziehungszöglingen besitzen wir die Erfahrung über einige hundert Fälle (nur männlich) und haben nie gesehen, dass ernsthafte Folgen aufgetreten sind« (S. 467)111. Über seine Beteiligung an Sterilisationsmaßnahmen in der von ihm geleiteten Anstalt hinaus war Villinger ferner Beisitzer beim Erbgesundheitsobergericht in Hamm und später auch in Breslau112. (2) Erstellung von Gutachten im Rahmen der T4-Aktion Hintergrund: Die Euthanasie (griechisch: »gutes Sterben«), ursprünglich als Sterbehilfe definiert, wurde während der Zeit des Nationalsozialismus i. S. der damals herrschenden Ideologie umgedeutet und als euphemistischer Terminus 109 110 111 112
Castell et al. (2003). S. 465. Castell et al. (2003). S. 466. ebenda. H.W. Schmuhl (2016), S. 321.
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für die Ermordung von Menschen benutzt, deren Leben als minderwertig betrachtet wurde. Zu den Opfern gehörten psychiatrische Patienten im Rahmen der T4-Aktion, Kinder im Rahmen der Kindereuthanasie (ermordet in sog. Kinderfachabteilungen), aber auch KZ-Häftlinge und jüdische Mitbürger. Auch die Euthanasie hat eine lange Vorgeschichte, was hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann113. Für die Psychiatrie relevant war die Schrift von Binding und Hoche »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«114, die während der Weimarer Republik eine intensive Diskussion (sog. EuthanasieDebatte) auslöste und den Nährboden für die Ermordung zahlreicher Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus bereitete. Die Erwachsenen-Euthanasie begann am 21. September 1939 mit einem Erlass zur Erfassung sämtlicher psychiatrischer Anstalten und der Einrichtung der Euthanasiezentrale in der Tiergartenstr. 4 (T4) in Berlin 1940. Nach Protesten aus der katholischen und evangelischen Kirche wurde die Aktion im August 1941 abgebrochen. Aber auch danach fanden weitere Tötungen statt, insbesondere die Kindereuthanasie wurde weitergeführt. Insgesamt kam es im Rahmen der T4-Aktion zur Ermordung von mindestens 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen und psychischen Erkrankungen115. Auch nach dem II. Weltkrieg vertraten führende Ärzte die Meinung, dass die Tötung schwerstbehinderter Menschen unter ganz bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt werden könnte. Dies zeigte sich im Verfahren gegen den Kinderarzt Prof. Werner Catel vor dem Landgericht Hamburg116. In der Anklageschrift vom 7. 2. 1949 sind 114 Angeklagte angeführt, darunter Prof. Catel, zahlreiche andere Ärzte, aber auch Krankenschwestern. In diesem Verfahren wurden Gutachten von vier hochan113 Hingewiesen sei auf die Darstellung von Michael Stolberg (2013). Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. 2. Aufl., Marbuse, Frankfurt. Unter religiösen, ethischen, rechtlichen und medizinischen Aspekten wird die Thematik in dem Sammelband »Euthanasia« behandelt, herausgegeben von G.C. Oosthuizen, H.A. Shapiro und S.A. Strauss (1978), Oxford University Press, Cape Town; vgl. auch H.-D. Hiersche (1975). Euthanasie. Probleme der Sterbehilfe. Eine interdisziplinäre Stellungnahme. Piper, München. 114 Binding, K., Hoche, A. (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Verlag Felix Meiner, Leipzig. 115 Ein differenziertes Bild über die Haltung der deutschen Ärzteschaft zur Zwangssterilisation und vor allem zur Euthanasie zeichnet Michael H. Kater (2000) in seiner Monographie »Ärzte als Hitlers Helfer«, Europa Verlag, Hamburg und Wien. Von einer einheitlichen Haltung der deutschen Ärzteschaft könne man nicht sprechen. Es gab auch Widerstand, was er an einer Reihe von Biographien darlegt. Allerdings sei der Widerstand insgesamt deutlich geringer gewesen als im besetzten Holland, »wo einheimische Ärzte den medizinischen Praxisvorgaben der neuen Machthaber nicht folgen mochten, sich geschlossen widersetzten und in reichsdeutsche Konzentrationslager deportiert wurden« (S. 20). 116 Akte Catel, UAM 307c, Nr. 5244.
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gesehenen Wissenschaftlern und Klinikern eingeholt. Es handelte sich um Prof. Günther von Stockert117, Kinder- und Jugendpsychiater (Frankfurt) (GA vom 4. 10. 1949), Prof. Fritz Goebel118, Kinderarzt (Düsseldorf) (GA vom 4. 10. 1949), Prof. Franz Volhard119, Internist (Frankfurt) (GA vom 7. 10. 1949) und Prof. Max Nonne120, Neurologe (Hamburg) (GA vom 15. 10. 1949). Diesen klinisch tätigen Wissenschaftlern wurden folgende vier Fragen gestellt: (1) Halten Sie die Vernichtung unwerten Lebens mit dem Berufsethos der Ärzteschaft eines Kulturvolkes für vereinbar, insbesondere bei dem Stand der medizinischen Wissenschaft 1937–1945? (2) Ist es mit der medizinischen Wissenschaft und dem ärztlichen Berufsethos vereinbar, unheilbar missgebildete idiotische Kinder der Anstaltstötung zuzuführen? 117 Franz-Günther von Stockert (1899–1967) war zuletzt Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Frankfurt (Näheres s. Kap.2.3.2.4). 118 Fritz Goebel (1888–1950) studierte Medizin an den Universitäten Freiburg und München und wurde nach Abschluss des Studiums 1914 zum Militärdienst eingezogen. Nach Kriegsende durchlief er eine Weiterbildung zum Kinderarzt an den Universitätskliniken in Jena und Halle. 1937 wurde er als Nachfolger von Adalbert Czerny ordentlicher Professor für Pädiatrie an der Medizinischen Akademie Düsseldorf und war in dieser Position bis zu seinem Tode tätig. Von 1945–1947 war er Rektor der Akademie. Er war während der Zeit des Nationalsozialismus Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und setzte sich dafür ein, dass diese Gesellschaft »judenfrei« wurde. Wissenschaftlich beschäftigte er sich mit Infektionskrankheiten (das Goebel’sche Masernphänomen ist nach ihm benannt). Besondere Verdienste erwarb er sich um die Streptomycintherapie der Tuberkulose. Seit 1928 war er Mitglied der Leopoldina (Wikipedia, 10. 8. 2017). 119 Franz Volhard (1872–1950) ist als Internist und Nephrologe hervorgetreten. Die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard ist eine seiner Enkelinnen. Volhard studierte Medizin in Bonn und Straßburg und übernahm nach Habilitation (1901) in Gießen und einer Zwischenstation in Dortmund 1908 die Krankenanstalten in Mannheim. 1918 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Innere Medizin in Halle und 1927 auf den gleichnamigen Lehrstuhl in Frankfurt am Main. In der NS-Zeit wurde er Mitglied verschiedener Parteiorganisationen, wurde aber in der NSDAP abgelehnt, da er einer Freimaurerloge angehörte. Ab 1933 setzte er sich als Dekan für jüdische Fakultätsmitglieder ein. 1938 wurde er zwangsemeritiert, 1945 aber wieder in sein Amt als Direktor der Medizinischen Klinik eingesetzt, das er bis zu seinem Unfalltod im Jahr 1950 innehatte. Volhard war ein äußerst produktiver Arzt und Wissenschaftler und ein international anerkannter Nierenspezialist. Er war Mitglied der Leopoldina, zahlreicher anderer wissenschaftlicher Organisationen und Ehrendoktor der Sorbonne (Wikipedia, 12. 8. 2017). 120 Max Nonne (1861–1959) studierte Medizin in Heidelberg, Freiburg und Berlin, verbrachte Assistentenjahre am Krankenhaus in Hamburg-Eppendorf und wurde dort 1890 Chefarzt der Inneren Abteilung, die später in eine Neurologische Klinik umgewandelt wurde. 1933 wurde er emeritiert. Seine Zeit im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit wird unterschiedlich beurteilt. Nonne soll eine Tötung behinderter Kinder unter bestimmten Bedingungen befürwortet haben. Wissenschaftlich befasste er sich mit der ganzen Breite der Neurologie. Eine erbliche Form einer Kleinhirnerkrankung (Nonne-Marie-Krankheit) ist nach ihm benannt. 1940 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt (Wikipedia, 13. 8. 2017).
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(3) Entspricht nach Ihrer Auffassung die Tätigkeit des Prof. Catel als Gutachter des Reichsausschusses der Stellung der Gutachter, die Binding und Hoche in ihrer Schrift vorschlagen? (4) Halten Sie nach Ihrer ärztlichen Auffassung ein Gremium von Gutachtern (Facharzt für Kinderpsychiatrie, Facharzt für praktische Kinderheilkunde und Facharzt für wissenschaftliche Kinderheilkunde) für ausreichend, um über missgebildete idiotische Kinder unter Zugrundelegung und Prüfung der bereits von anderer Seite gestellten Diagnosen ein ärztliches Gutachten zu erstatten? Die Antworten der vier Kliniker sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben. Tab. 2.4 : Stellungnahme führender klinisch tätiger deutscher Wissenschaftler zur Frage der Kindereuthanasie v. Stockert
Goebel
Volhard
Nonne
Frage 1 Frage ist nicht wiss. keine wiss. Frage, zu beantworten, nur sondern Frage d. religiös Weltanschauung
Ja
Ja
Frage 2 bedingt ja (b. Idiotie) Antwort nicht eindeutig
Ja, unter bestimmten Bedingungen Ja pos. Beurteilung v. Catel
Ja
Ja
Ja
Frage 3 Antwort unklar
Ja
Frage 4 Ja Ja schwerste Idiotie ist um Fehldiagnosen eindeutig feststellbar auszuschließen
keine Aussage, kennt Catel nicht
Diese gutachterlichen Aussagen führender Medizinprofessoren aus dem Jahre 1949 machen deutlich, dass sie unter bestimmten Bedingungen einer Tötung von Kindern mit schwersten geistigen Behinderungen zustimmen, sich also vom Gedanken der in der Weimarer Republik aufgekommenen und im Nationalsozialismus gerechtfertigten Tötung unwerten Lebens nicht distanziert hatten. Über die Beteiligung Villingers als Gutachter im Rahmen der T4-Aktion äußern sich Castell et al. (2003) dahingehend, dass darüber viel spekuliert worden, aber faktisch wenig bekannt sei121. Festgehalten werden muss allerdings, dass Villinger auf den zwei existierenden Gutachterlisten mit dem Eintrittsdatum 28. 03. 1941 geführt wurde. Der einzige und immer wieder zitierte Hinweis auf eine aktive Beteiligung an der T4-Aktion stammt von dem Registrator Kurt 121 Ebenda, S. 468.
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Meumann, der von 1939–1943 in der T4-Zentrale tätig war122. Da praktisch alle Veröffentlichungen zur Beteiligung Villingers an der T4-Aktion auf dieser Aussage von Kurt Meumann beruhen, haben wir alle erreichbaren Quellen überprüft und auch versucht, über das Universitätsarchiv in Breslau, wo Villinger in der Zeit vom 01. 02. 1940-Januar 1945 tätig war, Quellenmaterial aufzufinden. Das dortige Univ.-Archiv teilte jedoch mit, dass dort keinerlei Unterlagen diesbezüglich vorhanden seien123. Ein weiterer Hinweis auf eine Beteiligung Werner Villingers an der T4-Aktion ergibt sich aus einer Anordnung von Paul Nitsche (damals Leiter der »Euthanasie-Zentrale«), in der es heißt: »Besonders betonen möchte ich nochmals, dass Herr Prof. Dr. Villinger keine Gutachtensendung erhält, und wenn, dann in besonderen Fällen nur von mir ausgesuchte Fotokopien«124. Die Aussagen des Zeugen Meumann sind in in der folgenden Tabelle wiedergegeben. Tab. 2.5 : Die Aussagen des Zeugen Meumann im Verfahren gegen Villinger 1) 25. 1. 1961125 Villinger u. Faltlhauser zeichneten sich dadurch aus, »daß sie viele StA Hannover blaue Zeichen auf den Fragebögen machten« 2) 3. 7. 1961126 GStA Delmenhorst
V. wird als Gutachter genannt. »Ich kann mit Sicherheit sagen, daß ich ihn im Zusammenhang mit der Versendung der Meldebögen an die einzelnen Gutachter kennengelernt habe. Ich habe auch noch in Erinnerung, daß von ihm die beurteilten Meldebögen nur mit größeren Verspätungen an uns zurückgelangten. Außerdem waren seine Vermerke fast ausschließlich in blauer Farbe gehalten, was also bedeutet, die Kranken seien nicht der Vernichtung zuzuführen. Ich habe auch deshalb an seine Tätigkeit eine sichere Erinnerung, weil es immer wieder Schwierigkeiten gab, wenn er als Gutachter eingeschaltet war. Die Weiterbearbeitung durch den Obergutachter konnte nämlich erst dann erfolgen, wenn die Beurteilung aller drei Gutachter vorlag. Da seine Gutachten mit Verzögerung zurückgelangten, hat es bei uns in der Weiterbearbeitung der Meldebögen Schwierigkeiten gegeben, die m.W. auch zu Beanstandungen durch Prof. Nitsche führten. Ich glaube, daß er nicht allzu lange vor dem »Stopp« (August 1941, erg. Re) der Aktion als Gutachter tätig geworden ist.
122 Ebenda, S. 470. 123 Univ.-Archiv Breslau (Wroclaw), Brief v. 23. 1. 2017. 124 Brief von Paul Nitsche an J. Becker vom 20. 08. 1943, BArch. R96I/1, zit. nach H.-W. Schmuhl, a. a. O., S. 323. 125 HHStAW 631a Nr. 301. 126 ebenda.
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((Fortsetzung)) 3) 16. 2. 1962127 GStA Delmenhorst
Villinger wird als einer von 16 Gutachtern benannt, ohne weitere Ausführungen.
Beurteilt man die Aussagen des Zeugen Meumann im Lichte der Aussagepsychologie, mit deren Methoden es möglich ist, die Glaubhaftigkeit von Aussagen anhand sogenannter Realkennzeichen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, so sind einige Aussagendetails i. S. von Realkennzeichen zu bewerten, z. B., dass die Meldebögen verspätet eintrafen, dass die Vermerke Villingers fast ausschließlich in blauer Farbe gehalten waren, dass es Schwierigkeiten bei der Weiterbearbeitung der Meldebögen gab und dass es auch zu Beanstandungen kam. Realkennzeichen sind Aussagedetails (z. B. ungewöhnliche Inhalte, überflüssige Angaben, Detailreichtum), die es erlauben, eine erlebnisfundierte Aussage von einer erfundenen, letztlich unwahren, Aussage zu unterscheiden128 Villinger selbst hat in mehreren Aussagen seine Beteiligung an der T4-Aktion bestritten129. Seine Aussagen sind in Tab. 2.6 enthalten. Tab. 2.6 : Aussagen von Werner Villinger im Verfahren gegen ihn 1) 25. 8. 1960130 Werner Villinger GStA Frankfurt, Js 17/59
– Hinweis auf einen Fall in der eigenen Familie (ein Cousin) – Unterredung mit Dr. Linden im Reichsinnenministerium (Frühjahr 1940) (Hinweis auf Binding und Hoche, 1920, Gnadentod) – Die Univ.-Nervenklinik sei nie aufgefordert worden, Meldebögen auszufüllen. – »Ich war selbst nie als Gutachter tätig«, der Zeuge Meumann müsse sich irren. Er (V) sei ein absoluter Gegner der Euthanasieaktion gewesen.
127 ebenda. 128 R. Volbert (2010). Aussagepsychologische Begutachtung. In: Volbert R, Dahle, KP (Hrsg). Forensisch-psychologische Diagnostik, Hogrefe, Göttingen, 18–66. 129 Castell et al. (2003). 130 HHStAW 631a Nr. 1727.
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((Fortsetzung)) 2) 26. 7. 1961131 Werner Villinger und Helmut Ehrhardt AG Marburg 15 Gs 365/61
– V. wiederholt, kein Gutachten in der Euthanasieangelegenheit erstattet zu haben. – Er habe solche »Vordrucke« (Meldebögen, Re) nie gesehen. – Mitarbeiter Prof. Ehrhardt (v. 1941 bis 1945 Mitarbeiter V.’s in Breslau): V. habe seines Wissens keine Gutachten in der Euthanasieangelegenheit verfasst. Die Vorauslese sei in den »Anstalten« erfolgt.
3) 4. 12. 1961132 Aussage v. Friedrich Mauz (1900–1979) vor dem LG Frankfurt
– »Nach meiner festen Auffassung hat er (V.) nie etwas mit der Euthanasie zu tun gehabt«.
Die Gerichtsbeschlüsse zur etwaigen T4-Gutachtertätigkeit von Werner Villinger lauten wie folgt: 1. »Das Verfahren gegen Prof. Villinger wird mit Verfügung vom 25. 4. 1961 eingestellt. Der Nachweis, dass der Beschuldigte als Gutachter für die T4Aktion tätig war, ist nicht mit der gebotenen Sicherheit zu führen.133 2. Die Richtigkeit dieser Einstellungsverfügung134 wird durch eine neuerliche Vernehmung des […] Kurt Meumann vom 3. 7. 1961 bei dem LG Limburg bestätigt«. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf zwei Sachverhalte: – V. sei fast ausschließlich zu dem Ergebnis gelangt, »die Kranken seien nicht der Vernichtung zuzuführen«. – Die Aussage Meumanns zu Villingers Tätigkeit (Herbst 1942, »vielleicht sogar noch später«) beziehe sich auf einen Zeitpunkt, zu dem die T4-Aktion bereits gestoppt war. Allerdings muss hier die Frage nach der Unabhängigkeit der Justiz aufgeworfen werden. Spätestens seit dem Buch von Ingo Müller »Furchtbare Juristen«135 hat eine Diskussion eingesetzt, die erhebliche Zweifel aufkommen ließ, ob die z. T. aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommenen Richter jenes Maß an Objektivität und Unabhängigkeit verkörpern konnten, das die Voraussetzung 131 ebenda. 132 HHStAW 6312, Nr. 301, Bl. 160, Friedrich Manz ist auch auf der T4-Gutachterliste verzeichnet. 133 HHStAW 631a, Nr. 1240 (Hauptakte Bd. II Bl. 232f.). 134 HHStAW 631a, Nr. 1241. 135 Ingo Müller (1987, 20047). Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Kindler, Reinbek.
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für eine solide Rechtssprechung ist. Das Buch erregte großes Aufsehen in der Öffentlichkeit und behandelt u. a. auch die ideologische und personelle Kontinuität der NS-Justiz. Als im »SPIEGEL« Nr. 19 vom 3. Mai 1961 der Artikel »Euthanasie, die Kreuzelschreiber« erschien, in dem Villinger schwer belastet wurde, sah er sich mehrfach genötigt, zu den dort gemachten Ausführungen Stellung zu nehmen. Dies geschah u. a. auf Anfrage des Hessischen Ministeriums für Erziehung und Volksbildung136. In einem Schriftsatz an den Rektor der Philipps-Universität Marburg, Prof. Bock137, nimmt Villinger wie folgt Stellung: Zu Beginn des Schreibens hält er fest: »Bei der Euthanasie-Aktion bin ich nie als Gutachter oder sonst wie tätig gewesen«. Er sei erstmals 1940 auf die Euthanasie-Aktion aufmerksam geworden, als ein Fall in der Familie Opfer geworden sei138. Er sei auf Wunsch von Pastor Bodelschwingh und auf eigenen Wunsch bei Dr. Linden vom Reichsinnenministerium vorstellig geworden (zwischen den Zeilen klingt dies so, als habe er das Gesetz verhindern wollen, der Verf.), der selbst dem »Gesetz« ablehnend gegenübergestanden habe. Er habe ihm den Gesetzentwurf gezeigt. Sie hätten auch über das Erbverhütungsgesetz gesprochen, das er (Villinger) in Grenzen bejahte. Alles, was er sonst zur Sache in Erinnerung habe, habe er im September 1960 bei einer Vernehmung vor dem Landgericht Marburg ausgesagt. In einem weiteren Schreiben an den Rektor der Philipps-Universität Marburg, Prof. Bock139, geht Villinger detaillierter auf die Vorwürfe im SPIEGEL-Artikel ein und erwähnt die drei folgenden Gesichtspunkte: – Bei den Listen der T4-Gutachter handele es sich um Listen derjenigen Psychiater, die zu den T4-Sitzungen eingeladen worden waren. Er selbst habe an keiner derartigen Sitzung teilgenommen. – Ein Nachweis darüber, wer in diesen Sitzungen anwesend war, lasse sich nach 20 Jahren nicht mehr erbringen. – Eine Klage gegen den »SPIEGEL« sei nicht empfehlenswert und auch deshalb wenig aussichtsreich, weil der SPIEGEL seine Prozesse durch alle Instanzen treibe und man mit einer Prozessdauer von mindestens zwei Jahren rechnen müsse.
136 Schreiben vom 2. 6. 1961 an Prof. Villinger, HHStAW 504_10040_01. 137 Schreiben vom 31. 5. 1961, ebda. 138 Auf diesen Fall nimmt Villinger in einem Brief an Rudolf Sieverts vom 9. 8. 1940, also während seiner Breslauer Zeit, Bezug. Es handelt sich um den behinderten Sohn eines Onkels (Dr. Eberhard Villinger), der der Euthanasie zum Opfer fiel; ebda. 139 Schreiben vom 25. 6. 1961, ebda.
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(3)
Zustimmung zur Einbeziehung psychiatrischer Patienten in eine experimentelle Studie zur Hepatitisforschung Angesichts einer Gelbsuchtepidemie 1940, die auch Wehrmachtsangehörige ergriffen hatte, entstand ein gesteigertes Interesse an der Hepatitisforschung, deren epidemiologischer Hintergrund noch nicht hinreichend bekannt war. Im Rahmen einer Studie zu dieser Problematik, die an der Univ.-Klinik für Innere Medizin in Breslau (Direktor : Kurt Gutzeit) durchgeführt wurde, gab Villinger 1941 dem Assistenzarzt Voegt die Erlaubnis, fünf Patienten der Psychiatrischen Klinik mit einer von Hepatitiskranken gewonnenen Duodenalflüssigkeit zu infizieren. Die Ergebnisse dieser Studie wurden von Voegt in der »Münchner Medizinischen Wochenschrift« 1942 veröffentlicht140. Hans Voegt hatte sich selbst, gemeinsam mit drei Studenten, als Versuchsteilnehmer einbezogen. Es ist nicht bekannt, ob die Patienten für diese Versuche ihre Zustimmung gaben; wahrscheinlich war dies nicht der Fall. (4) Veröffentlichungen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie Auf diese wird im folgenden Abschnitt eingegangen. (5)
Stellungnahmen in der Nachkriegszeit gegen die Gewährung von Entschädigungen für Zwangssterilisierte Auf der 34. Sitzung des Ausschusses des Deutschen Bundestages für Wiedergutmachung im April 1961 war Werner Villinger als Sachverständiger tätig und nahm zur Frage der Entschädigung von Zwangssterilisierten Stellung. Er lehnte eine solche mit folgender Begründung ab: »Entschädigen wir, so läuft man natürlich Gefahr, daß eine gewisse Neurotisierung dieser Sterilisierten stattfindet. Bespricht man die Dinge in der Öffentlichkeit sehr eingehend, so läuft man Gefahr, daß wiederum eine Welle von Neurosen erzeugt wird, besonders heute, wo die Rechtsansprüche gegenüber Staat und Gesellschaft beim einzelnen in einer sehr starken Weise zugenommen haben.« (Aus dem Protokoll des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung, zitiert nach Schneider, Lutz et al. 2014)
Über den Kampf der Zwangssterilisierten um die Anerkennung ihres Leids informiert umfassend Henning Tümmers (2011).
140 Hans Voegt (1942). Zur Ätiologie der Hepatitis epidemica. Münchner Medizin. Wochenschrift 89, 76–79.
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2.3.1.3 Veröffentlichungen Bibliometrische Analysen: Das Schriftenverzeichnis von Werner Villinger141 umfasst insgesamt 156 Veröffentlichungen, die sich nach ihrem Inhalt wie folgt klassifizieren lassen: N: Neurologie P: Psychiatrie NP: Neuropsychiatrie: Unter dieser Rubrik wurden Arbeiten eingeordnet, die sowohl einen neurologischen als auch einen psychiatrischen Anteil haben SP: Sozialpsychiatrie: Diesbezüglich wurden auch Arbeiten eingeordnet, die sich mit Erziehungsfragen, Erziehungsberatung, Psychohygiene, Heilpädagogik und Heimunterbringungsfragen beschäftigen FP: Forensische Psychiatrie und Gesetzgebung PH: Psychiatriegeschichte H: Geschichte allgemein Ps: Psychologie Per : Personalia K: Kongressberichte. Gemäß dieser Klassifikation standen bei Villinger mit insgesamt 74 Publikationen (46,8 %) die sozialpsychiatrischen Arbeiten an erster Stelle, gefolgt von 42 Arbeiten (26,9 %), die sich unter dem psychiatrischen und neuropsychiatrischen Schwerpunkt zusammenfassen lassen, 24 (15,4 %) Publikationen zur forensischen Psychiatrie und acht Publikationen (5,1 %), die zur Neurologie gerechnet werden können. Die übrigen verteilen sich auf psychiatriehistorische bzw. historische Arbeiten, Kongressberichte und Personalia. Projiziert man die Anzahl der Publikationen auf den Zeitrahmen der wissenschaftlichen Laufbahn Villingers, gleichsam als formales Maß für die wissenschaftliche Produktivität, so lassen sich, bezogen auf alle Publikationen, zwei Häufigkeitsgipfel unterscheiden: Der erste bezieht sich auf den Zeitraum von 1930–1939, also auf das Lebensalter vom 43.–52. Lebensjahr. In dieser Zeit veröffentlichte er 42 Arbeiten. Der zweite Häufigkeitsgipfel umfasst die Dekade von 1950–1959 (also im Lebensalter zwischen 63 und 72 Jahren), in der er 66 Arbeiten publizierte. Eine Publikationspause ergab sich im Zeitraum von 1942– 1947. Für diesen Zeitraum sind keine Veröffentlichungen bekannt. Die Anzahl der sozialpsychiatrischen Arbeiten folgt exakt dem gleichen Muster mit 19 Arbeiten im Zeitraum zwischen 1930 und 1939 und 26 Arbeiten im Zeitraum zwischen 1950 und 1959. 141 Im Anhang ist das Schriftenverzeichnis wiedergegeben. Das in der Monographie von Holtkamp (2002), S. 181–194, abgedruckte Schriftenverzeichnis wurde überprüft und um fünf zusätzlich aufgefundene Beiträge ergänzt.
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In Abb. 2.8. sind die Veröffentlichungen Werner Villingers (Gesamtzahl und sozialpsychiatrische Arbeiten) im Vergleich zu denjenigen Hermann Stuttes wiedergegeben.
Abb. 2.8: Vergleich der Publikationen von Werner Villinger und Hermann Stutte (SP steht für sozialpsychiatrische Arbeiten)
Somit lässt sich sagen, dass bei Werner Villinger der sozialpsychiatrische Schwerpunkt in seiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn dominierte und er die größte Produktivitätsphase in der letzten Dekade seiner akademischen Laufbahn erreichte. Dieser Schwerpunkt wurde auch in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag aufgegriffen, die den Titel trägt »Psychiatrie und Gesellschaft«142. Inhaltliche Analyse: Werner Villinger war als Psychiater, wie nahezu alle seine Kollegen, ein Kind seiner Zeit und bewegte sich weltanschaulich und wissenschaftlich im Hauptstrom der damals gültigen Orientierungen und Konzepte. Zu ihnen gehörten: – Die eugenische Bewegung, die lange vor der Herrschaft des Nationalsozialismus in ganz Europa verbreitet war. Auch der akademische Lehrer Villingers, der damals hochangesehene Tübinger Psychiater Robert Gaupp (1870– 1953) war ein glühender Anhänger dieser Bewegung. Ihr Ziel war es, den Volkskörper reinzuhalten und von minderwertigen und entarteten Existen142 Ehrhard H, Ploog D, Stutte H (Hrsg) (1958). Psychiatrie und Gesellschaft. Ergebnisse und Probleme in der Sozialpsychiatrie. Huber, Bern.
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zen zu befreien, deren Vermehrung durch Unfruchtbarmachung unterbunden werden sollte. Diesem Ziel diente die Zwangssterilisation, die durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das zum 01. 10. 1934 in Kraft trat, verpflichtend eingeführt wurde. – Die Entartungs- bzw. Degenerationshypothese, die auf sogenannte abnorme (abartige) Kinder und Jugendliche angewandt wurde, vor denen die Gesellschaft zu schützen sei und deren leichtere Fälle zu seelisch gesunden und brauchbaren Menschen erzogen werden sollten. Bereits 1925 war Villinger als »Jugendpsychiater« beim Landesjugendamt in Stuttgart nebenamtlich tätig. Seine Aufgabe bestand in der Untersuchung und Beobachtung von Fürsorgezöglingen, insbesondere solcher, die in Heimeinrichtungen untergebracht waren. Diese Tätigkeit dürfte seine spätere Anstellung beim Jugendamt in Hamburg vorgebahnt haben. – Die Psychohygienebewegung formierte sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1908 formulierten die Initiatoren dieser Bewegung, Clifford W. Beers143 und Adolf Meyer144, die wichtigsten Aufgaben der Psychohygiene: (1) Für die Erhaltung der seelischen Gesundheit zu sorgen und Geistes- und Nervenkrankheiten zu verhüten, (2) die Behandlung und Pflege psychisch Kranker zu vervollkommnen und (3) über die Bedeutsamkeit psychischer Anomalien und Krankheitszustände für die Gesellschaft umfassend zu informieren. Es handelte sich um eine weltweite Initiative, die in der einen oder anderen Weise bis heute bestehen geblieben ist. In Kap. 3 wird ausführlicher über die Psychohygienebewegung und ihre Bedeutung für die Erziehung von Familie und Gesellschaft informiert. Sozialpsychiatrische und programmatische Thesen in den Schriften Werner Villingers – Anhängerschaft der eugenischen Bewegung und Befürwortung der Unfruchtbarmachung »geistig Minderwertiger« bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus, aber Ablehnung von »zu weit gehenden gesetzlichen Maß143 Clifford Beers (1876–1943) gilt als einer der Begründer der Psychohygiene-Bewegung. Aufgrund einer eigenen Erkrankung an einer bipolaren Störung, die er in einer Autobiographie beschrieb (»The mind that found itself«) erkannte er die Bedeutung präventiver ambulanter Behandlungsmaßnahmen, gründete 1918 mit Clarence Hincks eine Mental Health-Organisation, aus der 1948 die World Federation for Mental Health (WFMH) hervorging (Wikipedia, 01. 07. 2017). 144 Adolf Meyer (1866–1950) war ein schweizerisch-US-amerikanischer Psychiater. Er studierte in Zürich Medizin, emigrierte 1892 in die USA, führte dort das Kraepelin’sche Klassifikationssystem ein und wirkte zunächst als Professor für Psychiatrie an der Cornell University in New York und von 1910–1941 an der Johns Hopkins University in Baltimore. Er war, ursprünglich aus der Neuropathologie kommend, ein Vertreter der Psychobiologie und prägte den Begriff der »mental hygiene« (Wikipedia, 01. 07. 2017).
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nahmen« (Villinger, 1926). Diese abwägende und zögerliche Haltung hat er später nach Übernahme der Chefarztstelle der Anstalt Bethel (1933) und nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) am 01. 04. 1934 zugunsten einer sehr vehementen Vorgehensweise revidiert und sogar eine Erweiterung der Indikation zur Sterilisation gefordert, in die auch »abweichende Minderheiten« wie Asoziale, Judenmischlinge und Zigeuner einbezogen werden sollten. Betrachtung »abnormer« Kinder und Jugendlicher unter dem Gesichtspunkt der sozialen Brauchbarkeit und ihrer künftigen Schädlichkeit für das Volksganze (Villinger, 1930). Vertretung der These der »praktischen Unerziehbarkeit« und der Unterbringung »Schwersterziehbarer« in »kolonieartigen Bewahrungsanstalten« (Villinger, 1930) oder auch (in Fällen von Kriminalität) in polizeilichen Jugendschutzlagern (Villlinger, 1939). Diese Konzepte vertrat Villinger im Rahmen der Bewahrungsdebatte, die gegen Ende der Weimarer Republik intensiv geführt wurde. Verfechtung einer erbbiologisch begründeten Erfassung und Auslese von Fürsorgezöglingen und Aussonderung »biologischer Unwertiger«, deren Fortpflanzung zu verhindern sei. Kontinuität sozialpsychiatrischer Vorstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, gemeinsam mit Stutte (1948) als zeitgemäße Aufgaben der Jugendfürsorge. Junge Menschen in Fürsorgeerziehung werden weiterhin als sozialbiologisch unterwertig betrachtet und es wird die »Schaffung eines Arbeitsdienstes« für diese Klientel gefordert.
Betrachtet man die Einstellungen Villingers während seiner akademischen Karriere, so lassen sich etliche signifikante Wandlungen nachweisen: – Von der abwägenden und kritischen Haltung zur Sterilisation (1926) zum vehementen Vertreter derselben und einem Vorkämpfer für eine Indikationserweiterung; – von der mehrdimensionalen Perspektive zum Anlage-Umwelt-Problem unter Hinweis auf Psychoanalyse und Pädagogik (1930) zum Verfechter einer einseitigen erbbiologischen Betrachtungsweise, auch von Charaktereigenschaften (Villinger, 1941); – von einem erklärten Gegner der sogenannten Euthanasie (1940) zum fraglichen (oder wahrscheinlichen) Beteiligten an der T4-Aktion; – vom überzeugten Vertreter nationalsozialistischen Gedankenguts zu dessen Gegner, der die Tötung »der Seele junger Menschen« im Nationalsozialismus mit einem »tieferblickenden Auge« bereits damals erkannt haben will (Villinger, 1950b);
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– vom Exponenten einer repressiven Erziehung während der NS-Zeit zu einem Vorkämpfer moderner Konzepte der Erziehungsberatung, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit das im angelsächsischen Raum verbreitete Konzept der Child Guidance Clinics aufgriff und 1952 eine nach diesem Konzept arbeitende Erziehungsberatungsstelle gründete. In der Gesamtbeurteilung können wir nach ausführlichen eigenen Quellenstudien den Ausführungen von Holtkamp (2002) und Schmuhl (2016) folgen, wonach eine Beteiligung Villingers an der T4-Aktion, wenn auch zögerlich, doch wahrscheinlich ist. Die Zulassung von Experimenten mit dem Hepatitis-Virus an einigen Patienten ist nachgewiesen, ebenso seine Beteiligung an zahlreichen Zwangssterilisationen.
2.3.2 Hermann Stutte (1909–1982) 2.3.2.1 Biographische Daten Hermann Stutte wurde am 1. August 1909 in Weidenau/Sieg als Sohn des Kaufmanns Friedrich Stutte und seiner Ehefrau Wilhelmine, geb. Vitt, geboren. Er besuchte in seinem Geburtsort die Grundschule und die Oberrealschule und legte im Jahr 1928 an dieser Schule das Abitur ab. Studium und Assistentenzeit in Gießen (1928–1935) Das Medizinstudium (1928–1933) führte ihn an die Universitäten Freiburg i. Breisgau, Bonn, Königsberg, Paris, Frankfurt und München. Das Physikum legte er 1930 an der Universität Königsberg ab, das Staatsexamen im Jahr 1933 an der Universität Gießen, wo er anschließend als Medizinalpraktikant in der Inneren Medizin und in der Nervenklinik bis Dezember 1934 tätig war. Im Dezember 1934 erlangte er die Approbation. Vom 1. Januar bis 31. Oktober 1935 war er als Volontärassistent an der Univ.-Nervenklinik (Direktor : Prof. Dr. Hermann F. Hoffmann145) tätig146. Im selben Jahr erhielt er ein Stipendium der Kerckhoff145 Hermann Hoffmann (1891–1944) war Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an den Universitäten in Gießen und als Nachfolger von Robert Gaupp in Tübingen; seit 1933 Mitglied der NSDAP, Rektor von 1937–1939, ließ sich in SA-Uniform porträtieren (Klee, 2003), überzeugter Vertreter der Rassenhygiene. 146 Über die Gießener Psychiatrische Universitätsklinik im Nationalsozialismus informiert S. Oehler-Klein (2003) »…als gesunder Mensch kam ich nach Gießen, krank kam ich wieder nach Hause…«. Die Durchsetzung des eugenischen Programms der Nationalsozialisten in Gießen – Psychiatrische Universitätsklinik und das Institut für Erb- und Rassenpflege 1933–1945. In: Psychiatrie in Gießen – Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung. Begleitband zur Ausstellung »Vom Wert des Men-
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Stiftung in Bad Nauheim. Die Promotion zum Thema »Experimentelle Untersuchungen über Simulation von Zittern der Finger«, die mit »summa cum laude« bewertet wurde, erfolgte 1935. In der Zeit vom 1. November 1935 bis 30. April 1936 war er als wissenschaftlicher Assistent an der Univ.-Nervenklinik in Gießen tätig. Tübinger Zeit und Wehrdienst (1936–1946) Dann folgte er 1936 seinem Chef Prof. Hoffmann an die Universität Tübingen147, wo er in verschiedenen Funktionen bis 1946 tätig war. 1938 wurde ihm die Leitung der Kinderstation der Univ.-Nervenklinik Tübingen übertragen, die die Bezeichnung »Klinisches Jugendheim« führte. Im August 1939 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und versah dort Dienst als Truppenarzt, dem eine Beobachtungsabteilung für Nervenkranke in einem Kriegslazarett übertragen wurde. Nach einer vorübergehenden Lazarettbehandlung im Jahr 1940 wurde er an die Tübinger Klinik beurlaubt und am 17. August 1942 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Heeresdienst entlassen. Er war in der Folgezeit weiterhin an der Univ.-Nervenklinik in Tübingen tätig, zuletzt als stellvertretender Oberarzt. Am 27. Januar 1944 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit zum Thema »Über Schicksal, Persönlichkeit und Sippe148 ehemaliger Fürsorgezöglinge. Beitrag zum Problem der sozialen Prognose«. Die Venia legendi für Neurologie und Psychiatrie erhielt er am 25. Mai 1944. Assistent und Oberarzt in Marburg (1946–1953) Im Jahr 1946 folgte er seinem Chef Prof. Villinger an die Universität Marburg, wurde im selben Jahr nach Marburg umhabilitiert und bekleidete zunächst die Stelle eines Assistenten und dann eines stellvertretenden Oberarztes an der Marburger Klinik, wo Prof. Villinger zunächst die Funktion eines kommissarischen Direktors innehatte. Im Jahr 1947 wurde ihm die Leitung der neu eingerichteten Kinderstation an der Univ.-Nervenklinik übertragen. Im Zeitraum von 1949 bis 1954 war Hermann Stutte Oberarzt der Univ.-Nervenklinik. schen«. Zentrum für soziale Psychiatrie, Gießen (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien, Bd. 9), 199–249. 147 Über den Weg der Tübinger Psychiatrie in den Nationalsozialismus unter Hermann Hoffmann (1891–1944) informiert die Monographie von Martin Leonhardt (1996), Thorbecke Verlag, Sigmaringen. 148 Der Begriff »Sippe«, ursprünglich eine Bezeichnung für Blutsverwandtschaft, wurde im Nationalsozialismus synonym für Familie im weiteren Sinne verwendet. Unter Sippenhaftung, die als Terrormittel verwendet wurde, verstand man das Einstehenmüssen von Familienangehörigen für Handlungen von einzelnen Familienmitgliedern (Kollektivhaftung) (Wikipedia, 24. 10. 2017).
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Extraordinarius und Ordinarius in Marburg (1954–1977) Im August 1950 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt und 1954 auf das Extraordinariat für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der PhilippsUniversität Marburg berufen. Gleichzeitig wurde ihm die Leitung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe übertragen, das im Jahr 1952 gegründet worden war. Unterstützt von Werner Villinger und von Ministerialdirektor Willy Viehweg betrieb er den Aufbau einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die 1956 Richtfest feierte und am 29. und 30. Juli 1958 feierlich eröffnet wurde. Im selben Jahr erfolgte die Gründung der »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.« in der Bibliothek der neu gegründeten Klinik. An der Gründung dieser Vereinigung, die Stutte später als die »wichtigste psychohygienische Errungenschaft der Nachkriegszeit« bezeichnete, war er führend beteiligt. Einzelheiten hierzu werden in Kap. 6 berichtet. Am 28. August 1963 wurde Hermann Stutte zum ordentlichen Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie ernannt unter Berufung auf den ersten ordentlichen Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Westdeutschland. In der DDR gab es eine parallele Entwicklung: Dort wurde Prof. Gerhard Göllnitz (1920–2003) im Jahre 1959 zum Lehrstuhlinhaber für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters ernannt. Zugleich leitete er dort in der Nachfolge von Prof. Franz Günther von Stockert (1899–1967) die Universitäts-Nervenklinik. Nach dem Tod des Präsidenten der Union Europäischer Pädopsychiater, Prof. von Stockert (Frankfurt), wurde Stutte Präsident dieser wissenschaftlichen Gesellschaft und leitete vom 4. -9. Mai 1967 den dritten europäischen Kongress für Pädopsychiatrie in Wiesbaden. Im Jahr 1971 wurde Hermann Stutte mit der Dr. Heinrich Hoffmann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie geehrt. 1975 wurde er Ehrenpräsident der Union Europäischer Pädopsychiater und in den Jahren 1976 und 1977 wurden ihm zwei Ehrendoktorate verliehen: Am 3. Dezember 1976 die Ehrendoktorwürde des FB Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg und im Jahr 1977 die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen (vgl. Kap. 2.3.2.9). Im September 1977 wurde er von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden. Kommissarische Leitung der Klinik und letzte Jahre (1977–1982) Er leitete jedoch in der Zeit vom 1. Oktober 1977 bis zum 31. März 1979 kommissarisch die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität weiter. 1979 erhielt er die Ehrennadel der Stadt Marburg an der Lahn. Am 22. April 1982 verstarb Hermann Stutte in Marburg.
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2.3.2.2 Involvierung im Nationalsozialismus Da sich in den 1980er und 1990er Jahren eine Debatte um seine Involvierung im Nationalsozialismus ergab, soll auf diesen Aspekt hier gesondert eingegangen werden. Ausweislich der Personalakte an der Universität Tübingen149 trat Hermann Stutte am 1. November 1933 der SA bei, 1934 wurde er Scharführer im Sanitätssturm150. Im Jahr 1935 trat er dem Nationalsozialistischen Studentenbund und dem Nationalsozialistischen Ärztebund bei. Im Jahr 1937 erfolgte der Eintritt in die NSDAP und in die Reichsdozentenschaft. Im Rahmen der Entnazifizierung wurde er zunächst in die Gruppe der Entlasteten (Gruppe V) eingestuft. Hiergegen legten die Behörden jedoch Widerspruch ein, da er nach eigenen Angaben sowohl Mitglied der SA war als auch des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes und der NSDAP. In einer erneuten Verhandlung vor der Spruchkammer vom 25. 9. 1948 wurde er dann schließlich in die Gruppe IV (Mitläufer) eingeordnet. Hiergegen legte er Widerspruch ein, der jedoch zurückgewiesen wurde. Im Zusammenhang mit diesem Widerspruch dürfte die Intervention Villingers stehen, der sich mit Schreiben vom 06. 10. 1948 an den Rektor der Universität Tübingen wendet mit der Bitte, Stutte in seiner Spruchkammerangelegenheit zu unterstützen151. Er bittet den Rektor um die Bestätigung folgender Tatbestände: (1) Stutte sei vom damaligen Leiter der Dozentenschaft als »politisch unzuverlässig« bezeichnet worden, (2) die anfängliche Verweigerung der Zuerkennung der Lehrbefugnis habe ebenfalls mit politischen Bedenken zu tun gehabt und (3) die später doch noch erfolgte Verleihung der Venia legendi sei (nur) durch die Protektion seines Chefs Hoffmann möglich gewesen. Am 18. 11. 1948 antwortet der Rektor mit dem Hinweis: »Die Personalakten der Universität über den Dozenten Stutte enthalten keine Anhaltspunkte für die gewünschten Bestätigungen. Das in den Akten befindliche Gutachten lautet für Herrn Stutte sehr günstig«. Der letzte Satz wurde vom Rektor handschriftlich hinzugefügt152. Diese Äußerung steht im Einklang mit zwei Schreiben der Dozentenschaft Tübingen. Im Schreiben vom 06. 05. 1936 des Stellvertretenden Leiters (Schwenk) der Dozentenschaft Tübingen an den Rektor heißt es. »Dr. Stutte gilt als wissenschaftlich sehr befähigt. In charakterlicher Hinsicht ist nichts Nachteiliges bekannt, er macht den Eindruck eines offenen, ehrlichen Menschen. Er gehört seit dem 01. 11. 1933 der SA an«153. In einem weiteren Schriftsatz vom 08. 02. 1938 spricht sich der inzwischen
149 150 151 152 153
UAT 126/680. HHStW, Abt. 527, Liste II, Nr. 23203. UAT 126/680, Personalakte Stutte. ebenda. UAT 155/5518, Personalakte Stutte.
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zum Leiter der Dozentenschaft avancierte Herr Schwenk für die Verlängerung der Dienstzeit Stuttes um zwölf weitere Monate aus154. Im Endergebnis wurde Hermann Stutte in die Gruppe IV (Mitläufer) eingeordnet. Als Fazit lässt sich feststellen, dass er bereits früh (am 1. 11. 1933) in die SA eintrat und in den Jahren 1934/35 in weitere nationalsozialistische Organisationen, im Mai 1937 schließlich auch in die NSDAP. Aus den Unterlagen geht aber nicht hervor, dass er in diesen Organisationen eine führende oder leitende Funktion hatte. Hinweise darauf haben wir in den Archiven und in der Literatur nicht gefunden. Der frühe Eintritt in nationalsozialistische Organisationen dürfte auf den Einfluss seines Giessener und später auch Tübinger Chefs Hermann Hoffmann zurückgehen. So berichtete die Kon-Assistentin und spätere Ehefrau Dr. MarieLuise Stutte, geb. Thraum, Folgendes: Eines Morgens sei Prof. Hoffmann in die Konferenz gekommen, habe an die versammelte Ärzteschaft Formulare verteilt und gesagt: »Heute treten wir alle in die Partei ein«. Es habe niemand gewagt, die Beitrittserklärung nicht zu unterzeichnen. Es bleibt hierbei zweifelhaft, ob es sich wirklich um die NSDAP gehandelt haben kann, denn laut Wikipedia bestand seit dem 19. April 1933 eine Aufnahmesperre für die NSDAP, die in den folgenden Jahren gelockert und erst am 10. Mai 1939 vollständig aufgehoben wurde. Über die Eintrittszahlen der Ärzte in die NSDAP im Zeitraum vom 1933– 1945 sowie über zeitweilige Aufnahmesperren informiert Kater (2000, S. 103ff.) anhand statistischer Angaben. Somit ist anzunehmen, dass die bei der Konferenz ausgeteilten Eintrittsformulare sich nicht auf die NSDAP bezogen, sondern möglicherweise auf den Nationalsozialistischen Ärztebund. Diesem trat Hermann Stutte im Jahr 1935 bei, also noch in der Giessener Zeit155. Der Eintritt Hermann Stuttes in die NSDAP erfolgte am 1. Mai 1937, also bereits während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Universität Tübingen. Hier stellt sich die Frage, wieso es möglich war, trotz bestehender Aufnahmesperre in die NSDAP einzutreten. Dies dürfte jedoch aufgrund einer Ausnahmeregelung möglich gewesen sein, die Folgendes besagte: »Angehörige der Hitler-Jugend, welche das 18. Lebensjahr vollenden, Angehörige des NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation) und alle jene, welche Dienste in der SA oder SS leisten«. Hermann Stutte war bereits am 1. November 1933 der SA beigetreten156 und konnte folglich von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen157. 154 155 156 157
ebenda. Eintritt Nationalsozialistischer Ärztebund UAT 126/680: Lebenslauf von H. Stutte. ebenda. Über die Eintrittsmodalitäten in die verschiedenen Parteiorganisationen ist im Spruchkammerbescheid vom 29. 07. 1947 (AZ Mst. 66/318/46), der sich in der Personalakte Hermann Stuttes (UAM 305a/Nr. 4428) befindet, Folgendes festgehalten: Der Eintritt in die SA sei lediglich aufgrund einer angestrebten Hochschullehrerlaufbahn erfolgt, »wofür die
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2.3.2.3 Hermann Stutte und die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie Als erstem Lehrstuhlinhaber in der Bundesrepublik Deutschland kam Hermann Stutte eine führende Position für die Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als Facharztdisziplin und als wissenschaftliches Fach zu. Bereits vor seiner Ernennung zum ordentlichen Professor im Jahr 1963 hat er sich klinisch, wissenschaftlich und organisatorisch um die Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige Facharztdisziplin bemüht. Dabei spielte zunächst die örtliche Situation in Marburg eine große Rolle. Hier war bereits 1952 durch Werner Villinger die Erziehungsberatungsstelle (Institut für ÄrztlichPädagogische Jugendhilfe) nach dem Modell der im angelsächsischen Sprachraum bereits etablierten Child Guidance Clinics errichtet worden (vgl. Kap. 3). Hermann Stutte übernahm den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft der hessischen Erziehungsberatungsstellen in den Jahren 1955–58. Im Jahr 1958 war die Lebenshilfe in der neu errichteten kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Marburg gegründet worden, die mit dem Schwerpunkt »Geistige Behinderungen im Kindesalter« die Betreuung und Versorgung dieses Personenkreises erschloss und nicht zuletzt die Elternschaft einbezog (vgl. Kap. 6). Dies war für die damalige Zeit ein Novum. Die Gründung der Lebenshilfe erwuchs einerseits aus der Zusammenarbeit zwischen Tom Mutters (1917–2016) und Hermann Stutte und andererseits aus dem Engagement der Eltern geistig behinderter Kinder, die in dieser Neugründung ein kooperatives Versorgungsmodell für geistig behinderte Kinder sahen. Hinzu kam eine weitere konstruktive Entwicklung: die Einrichtung der Lehrgänge zur Ausbildung von Sonderschullehrern (1955)158, die ohne eine Unterrichtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht möglich Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation Voraussetzung war«. Die Beförderung zum SA-Scharführer sei im Rahmen eines Sanitätssturms aufgrund seiner ärztlichen Funktion erfolgt. Im August 1939 erfolgte seine Einberufung zum Kriegsdienst und nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht im Jahr 1942 habe er die Beziehung zur SA nicht wieder aufgenommen. Zur Mitgliedschaft in der NSDAP ist vermerkt: »Am 01. 05. 1937 wurde der Betroffene durch die korporative Überführung der SA in die NSDAP Mitglied derselben«. Es habe sich lediglich um eine formale Mitgliedschaft gehandelt. Er habe in der NSDAP »weder eine fördernde noch führende oder propagandistische Tätigkeit entfaltet oder irgendwelche Ämter bekleidet«. »Sein Eintritt in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) erfolgte im Rahmen der Aufnahme nahezu aller Klinikangestellten«. Der Eintritt in den Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) sei auf Druck der vorgesetzten Dienststelle geschehen. Von der Reichsdozentenschaft seien die Hochschulassistenten korporativ erfasst worden. Diese Angaben beziehen sich offensichtlich auf Aussagen von Hermann Stutte. 158 UAMR 308/1, Nr. 99. Nach Inge Holler-Zittlau wurden bereits seit 1955 Hilfsschullehrer an der Philipps-Universität ausgebildet. Die Prüfungen des ersten Normaljahrgangs für Hilfsschullehrer fanden im September 1957 statt /UAM 308/1, Nr. 1). 1963 wurden unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Helmut von Bracken die Studiengänge Lern- und Sehbehindertenpädagogik, Sprachheilpädagogik sowie Pädagogik der Entwicklungsgestörten und Schwachsinnigen eingerichtet (UAMR 308/1, Nr. 99).
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gewesen wäre. Nimmt man die 1962 erfolgte Gründung des Kerstin-Heims (Heim und Internat für geistig behinderte und autistische Kinder) hinzu und die bereits seit 1916 existierende Deutsche Blindenstudienanstalt, so hatte sich in Marburg bereits bis Anfang der 1960er Jahre ein umfassendes Netzwerk zur Versorgung psychisch kranker und behinderter Kinder und Jugendlicher gebildet, das später durch weitere Initiativen und Einrichtungen bedeutsam erweitert werden konnte. Diese Erweiterung gelang seinem Nachfolger Helmut Remschmidt, der – wesentlich unterstützt durch das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung – ein nahezu komplettes Versorgungssystem für psychisch kranke Kinder und Jugendliche und ihre Familien in der Region etablieren konnte (vgl. Kap. 10). Für die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie war Hermann Stutte Jahrzehnte hindurch die prägende Gestalt.
2.3.2.4 Hermann Stutte und die europäische Kinder- und Jugendpsychiatrie Nach dem 2. Weltkrieg war es für die deutschen Kinder- und Jugendpsychiater nicht einfach, wieder Kontakte zur europäischen und internationalen Kinderund Jugendpsychiatrie zu knüpfen. Diese waren in der Vorkriegszeit durchaus vorhanden, was die Teilnahme deutscher Kinder- und Jugendpsychiater am ersten Weltkongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahre 1937 in Paris belegt. Durch den Krieg waren diese Kontakte jedoch mehr oder weniger vollständig abgeschnitten, letztlich auch durch das nationalsozialistische Regime nicht gestattet. Der Zusammenschluss europäischer Kinder- und Jugendpsychiater begann mit dem ersten Symposium der Union Europäischer Pädopsychiater (UEP) 1954 in Magglingen/Schweiz (vgl. Kap. 1). An diesem denkwürdigen Symposium nahmen 26 Teilnehmer aus neun europäischen Ländern teil, unter denen sieben Deutsche waren (vgl. Kap. 1.3), zu denen auch Werner Villinger und Hermann Stutte gehörten. Inhaltlich ging es auf dem ersten Magglinger Symposium159 um folgende Themen: – Die Stellung der Kinderpsychiatrie bzw. der kinderpsychiatrischen Ausbildung in den einzelnen Ländern Europas. Über die Situation in Deutschland berichtete Villinger unter Hinweis darauf, dass kürzlich (1954) der erste Lehrstuhl mit der Berufung von Hermann Stutte gegründet wurde (als Extraordinariat). Inhaltlich seien für die Ausbildung »praktische und theoretische Kenntnisse auf dem Gebiete der Psychiatrie, der Sozialpädagogik und 159 Bericht von A. Friedemann in französischer Sprache, übersetzt von H. Stutte. Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
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Sozialfürsorge, des Jugendrechts und Jugendstrafvollzugs und der Psychohygiene«160 erforderlich. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendrichtern und Jugendpsychiatern. Hierzu referierte für Deutschland der Jurist Prof. Rudolf Sieverts (Hamburg)161. Diese Zusammenarbeit solle durch gemeinsame Vorlesungen für Psychiater und Strafrechtler über forensische Probleme gefördert werden. Die Gründung einer europäischen Vereinigung von Kinderpsychiatern. Die Mitgliedschaft sollte ausschließlich auf Ärzte begrenzt werden und die Organisation sollte den Namen tragen »Union Europ8enne de P8dopsychiatrie« (UEP). Einrichtungen für schwierige Kinder. Der Begriff des »schwierigen Kindes« wurde problematisiert. Diskutiert wurde über die stationäre Aufnahme derartiger Kinder und die Bezeichnung der dafür vorgesehenen Einrichtungen. Die Notwendigkeit der Schaffung eines Facharztes für Kinderpsychiatrie und die Einrichtung entsprechender Lehrstühle an den Universitäten. Als obligate Weiterbildungszeiten wurden vorgeschlagen: ein Jahr Pädiatrie, ein Jahr Psychiatrie und zwei Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Auf dem Symposium fanden auch Wahlen der neu gegründeten Organisation statt, wobei der Vorstand aus drei schweizerischen Kollegen bestand: Moritz Tramer (1882–1963)162 (Präsident), Jakob Lutz (1909–1998)163 (stellvertr. Präsident) und Adolf Friedemann (1902–1981)164 (Generalsekretär). Unter den sechs 160 ebenda. 161 Rudolf Sieverts (1903–1980) war Professor für Strafrecht, Kriminologie und Jugendstrafrecht an der Universität Hamburg. Er war seit 1940 NSDAP-Mitglied und gehörte der Kolonialärztlichen Akademie der NSDAP an. In der Nachkriegszeit war er Mitglied des Fachausschusses für die Reform des Jugendgerichtsgesetzes und 1953 Vorsitzender des Jugendgerichtstages in München. Von 1961–1963 war er Rektor der Universität Hamburg und von 1962–1967 Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (Wikipedia, 13. 05. 2017). Er war, gemeinsam mit Hermann Stutte, langjähriger Herausgeber der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. 162 Moritz Tramer (1882–1963) war Mathematiker und Kinder- und Jugendpsychiater. Er leitete von 1924–1945 die Psychiatrische Anstalt »Rosegg« und eröffnete dort eine kinderpsychiatrische Abteilung. 1934 gründete er die Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und 1942 veröffentlichte er das Lehrbuch der »Allgemeinen Kinderpsychiatrie, einschließlich der allgemeinen Psychiatrie der Adoleszenz«. Er gehört, gemeinsam mit Georges Heuyer, zu den Gründern der Union Europäischer Pädopsychiater (UEP) (Wikipedia, 16. 05. 2017). 163 Jakob Lutz (1903–1998) gehört zu den Begründern der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und war außerordentlicher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich (vgl. auch Kap. 16). 164 Adolf Friedemann (1902–1981) begründete 1949 in Biel das Psychohygienische Institut, war Honorarprofessor an der Universität Freiburg i. Br. und gehört zu den Gründern der
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Vizepräsidenten war Werner Villinger als Vertreter Deutschlands ausgewählt worden. In den folgenden Jahren fanden im Zeitraum von 1956–1961 fünf weitere Symposien der UEP statt, allerdings nicht immer in Magglingen. Das zweite Symposium (1956) wurde wieder in Magglingen abgehalten, das dritte in Zürich (1957) in Verbindung mit dem zweiten Weltkongress für Psychiatrie, das vierte in Lissabon im Zusammenhang mit dem vierten internationalen Kongress für Kinderpsychiatrie (1958), das fünfte (1959) und das sechste (1961) fanden wieder in Magglingen statt. Der I. UEP-Kongress in Paris (1960) Erst im Jahr 1960 wurde der I. Kongress der UEP in Paris durchgeführt mit 500 Teilnehmern aus 24 Ländern und einer bemerkenswerten deutschen Delegation, in der auch Hermann Stutte vertreten war. Werner Villinger war durch Krankheit verhindert. An diesem ersten Kongress der Union Europäischer Pädopsychiater war Hermann Stutte, sowohl, was die Vorbereitung betrifft, als auch, was den Kongress selbst betrifft, nicht zuletzt durch die Berichterstattung in führender Weise beteiligt. Bereits in den vorangehenden UEP-Symposien war das dringende Bedürfnis nach einem organisatorischen Zusammenschluss der europäischen Kinderpsychiater immer lauter geworden. Ein derartiger Zusammenschluss erforderte naturgemäß auch eine Satzung. Am 30. 7. 1960 wandte sich der Generalsekretär der UEP, Adolf Friedemann, an Hermann Stutte mit der Frage, ob er bereit wäre, einen Satzungsentwurf zu erstellen: »Wäre es möglich, dass Sie einen Statutenentwurf vorbereiten könnten, der etwa der Deutschen Gesellschaft für Jugendpsychiatrie entspricht? Jene Vereinigung erscheint mir unter den verschiedenen europäischen Gruppen, die ich kenne, die am besten strukturierte zu sein, zumal wenn man ihre Verbindungen mit dem AFET165 betrachtet. Die Statuten könnten dann als Basis für die europäische Vereinigung gelten«.166 In diesem Schreiben ging es noch um zwei weitere wichtige Initiativen innerhalb der UEP, nämlich um die Gründung einer Zeitschrift und um die Erarbeitung eines jugendpsychiatrischen Diagnose-Schemas. Im Hinblick auf die Zeitschrift hatte Friedemann bereits mit Moritz Tramer Kontakt aufgenommen, der Gründer und Herausgeber der Zeitschrift für Kinderpsychiatrie war. Tramer
Union Europäischer Pädopsychiater (UEP), deren Generalsekretär er lange Zeit war (Wikipedia, 16. 05. 2017). 165 AFET (Allgemeiner Fürsorge- und Erziehungstag, heute Bundesverband für Erziehungshilfe) ist ein Fachverband der Jugendhilfe mit interdisziplinärem Ansatz und engen Verbindungen zu angrenzenden Fachgebieten. 166 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 UEP – I. Kongress, Paris 1960.
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hatte sich bereit erklärt, in seiner Zeitschrift Arbeiten aus dem Kreise der UEP aufzunehmen. Der Bitte Friedemanns, einen Satzungsentwurf zu erstellen, kam Hermann Stutte nach. In einem Schreiben vom 13. 8. 1960 wirft er allerdings die Frage nach der Benennung der europäischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf. Auf einer Vorstandssitzung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiater sei der Vorschlag gekommen, diese als »Societas Europaeica Paedopsychiatrica« zu bezeichnen. Diese Bezeichnung enthebe sie auch der Notwendigkeit, den Titel in mehrere Sprachen übersetzen zu müssen. Im Hinblick auf die Neugründung einer Zeitschrift sei man in der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie zurückhaltend unter Hinweis auf Band 2 des Jahrbuches für Jugendpsychiatrie», das soeben erschienen sei und auch auf die von Tramer herausgegebene Zeitschrift für Kinderpsychiatrie, wiewohl an der Redaktionstätigkeit Tramers (vertraulich) Kritik geübt wurde.167 Der von Hermann Stutte erarbeitete Satzungsentwurf trug den Titel »Statuten der Europäischen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie (Soci8t8 oder Association Europ8enne de P8dopsychiatrie)«168. Die Satzung enthielt 21 Paragraphen und legte in §1 die Aufgaben der Fachgesellschaft fest: a) Die europäische Tradition auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu pflegen. b) Die Beziehungen zwischen kinderpsychiatrisch tätigen Ärzte in den europäischen Ländern zu fördern und auszubauen. c) Kinderpsychiatrische Erfahrungen und Forschungsergebnisse durch Publikationen und durch die Veranstaltung von Kongressen zu verbreiten. d) Die Erkenntnisse des Fachgebiets für Wissenschaft und Praxis nutzbar zu machen. e) Mit anderen internationalen Organisationen und Gesellschaften, die eine der Kinderpsychiatrie verwandte Zielsetzung haben, zusammenzuarbeiten. In §6 war die Mitgliedschaft geregelt, wonach ordentliche Mitglieder Ärzte werden können, die auf dem Gebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie praktisch oder wissenschaftlich tätig sind und ihren Wohnsitz in Europa haben. In §13 fanden sich die Bestimmungen für den Vorstand, der sich aus folgenden ordentlichen Mitgliedern zusammensetzen sollte: (a) dem Präsidenten, (b) den (maximal zehn) Beisitzern (Vizepräsidenten), (c) dem Generalsekretär, (d) dem Kassenwart und dem Kongresssekretär. 167 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 UEP – I. Kongress, Paris 1960. 168 ebenda. Der Satzungsentwurf war angelehnt an die »Statuten der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie«, Stutte an Friedemann, Schreiben vom 05. 08. 1960.
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Am 26. 8. 1960 schreibt Friedemann an Stutte, dass er dessen Vorschläge für die Satzung weitgehend übernommen habe169 und erwähnt, dass er von van Krevelens170 Diagnosen-Schema noch nichts gehört habe. Dieser hatte sich zur Erarbeitung eines Entwurfs bereit erklärt. Im Hinblick auf die Satzung ergaben sich im Schriftwechsel zwischen Stutte und Friedemann noch verschiedene kleinere Veränderungen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Auf dem Kongress selbst spielte Hermann Stutte eine aktive Rolle als Diskutant und durch eine Stellungnahme zu 700 Fällen von Pubertas praecox und deren weitere Entwicklung. Danach hatten sich im Langzeitverlauf ein Drittel der Patienten normalisiert, ein Drittel als seelisch frühreif erwiesen, während ein weiteres Drittel körperlich und psychisch unterentwickelt war. Über den Kongress hat Stutte mehrfach ausführlich berichtet171. In einem Schreiben an den Ehrenpräsidenten der UEP, Prof. Heuyer, vom 11. 10. 1960172 äußert er sich begeistert über diesen ersten europäischen Kongress der Kinderpsychiater : »Es drängt mich, Sie wissen zu lassen, dass ich überaus sympathische Erinnerungen an den kürzlichen Pariser Kongress der UEP konserviere. Es war eine eindrucksvolle Demonstration der wissenschaftlichen Eigenständigkeit der Kinderpsychiatrie, die wir nicht zuletzt Ihrem pionierhaften Wirken verdanken. Ich hoffe, dass es auch Sie mit Freude und Genugtuung erfüllt hat, dass jene medizinische Sonderdisziplin, der Sie zur ersten Anerkennung als selbständiges Fach im Rahmen der Universität verholfen haben, mittlerweile zu einer mächtigen Bewegung angewachsen ist. Auch für die eklektisch-empirisch-medizinische Tradition der europäischen Kinderpsychiatrie, wie sie gleichermaßen auch von Tramer und Villinger vertreten worden ist, war die Pariser Tagung ein eindrucksvolles Zeugnis. Mögen Sie aus dem Verlauf dieses ersten Kongresses der UEP auch entnommen haben, dass wir, die wir auf Ihren Schultern stehen (ich meine insbesondere die Herren Michaux, Bollea, van Krevelen, Hart de Ruyter, Lutz, Friedemann, Frau Annell u. a.) in Ihrem und der übrigen Ehrenpräsidenten Sinne die Geschichte der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie weiterzuführen uns bemühen, das heißt, in einem Gebiet undogmatischer, sauberer Forschung und innerer Verpflichtung gegenüber dem psychisch abartigen und hilfsbedürftigen Kind. Der enge persönliche Rapport unter uns und die gegenseitige Achtung voreinander erscheinen mir als gute Garantie für die Zukunft der europäischen Kinderpsychiatrie«.
Nach diesem ersten Kongress der UEP fand ein letztes Magglinger Symposium im Jahr 1961 unter dem Vorsitz von Jakob Lutz statt, das sich u. a. mit der Terminologie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigte. Es wurde eine 169 ebenda. 170 ebenda. 171 Stutte, H. (1961). Nervenarzt 32, 128–129; Stutte, H. (1962). Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete III, 275. 172 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, I. Kongress 1960.
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Nomenklatur-Kommission gebildet, die für die Entwicklung eines Klassifikationssystems psychischer Krankheiten im Kindes- und Jugendalter bedeutsam war. An allen Magglinger Symposien nahmen Hermann Stutte und Werner Villinger teil und spielten dabei als Repräsentanten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie eine wichtige Rolle. Der II. UEP-Kongress in Rom (31. Mai–4. Juni 1963) Der Kongress stand unter der Leitung von Prof. Giovanni Bollea (1913–2011) (Rom). An dieser Tagung nahm Hermann Stutte mit einem Vortrag teil zum Thema »Phasische Störungen psychotischen Charakters im Kindes- und Jugendalter«. Dabei ging es um die klinische Abgrenzung phasischer psychotischer Zustandsbilder, die seiner Meinung nach auch (entgegen der Meinung mancher Kinderpsychiater) bereits vor der Pubertät als manisch-depressive Psychosen vorkommen können. Ferner weist er auf die nosologische Eigenständigkeit des Pubertätsoneiroids hin (phasenhafte Umdämmerungszustände) sowie auf episodische Verstimmungen im Rahmen der Epilepsie. Die deutsche Fachgesellschaft für Kinderpsychiatrie war auf der Tagung in Rom durch den damaligen Vorsitzenden der Vereinigung für Jugendpsychiatrie, Prof. F. G. von Stockert (Frankfurt) vertreten. Dieser fragte mit Schreiben vom 24. April 1963 bei Stutte an173, ob man nicht die nächste Tagung der UEP in der Bundesrepublik Deutschland abhalten sollte, wobei er entweder an Wiesbaden oder an Frankfurt denke. In seinem Antwortschreiben vom 3. 5. 1963 weist Stutte darauf hin, dass es bislang immer üblich gewesen sei, dass die UEP-Kongresse im Lande des jeweils amtierenden Präsidenten stattgefunden hätten. Über diese Tradition würde man sich nicht ohne Weiteres hinwegsetzen können. Er fährt dann fort: »Überdies besteht nach meinem Eindruck noch immer eine gewisse Zurückhaltung gegen die Abhaltung internationaler Kongresse in Deutschland«. Auf alle Fälle solle man erst die Präsidentenwahl abwarten. Diese erfolgte allerdings nicht während des Kongresses, sondern erst anlässlich einer Vorstandssitzung der UEP am 20. 3. 1964 in Ascona. Dort wurde von Stockert zum Präsidenten der UEP gewählt, was nicht nur für ihn, sondern auch für die deutsche Kinderpsychiatrie eine ganz besondere Anerkennung bedeutete. Rückblickend fragt man sich, ob er dies bereits rund ein Jahr vorher geahnt hatte oder ob es gewisse Vorabsprachen gab, als er in dem o. a. Schreiben vom 23. April 1963 an Hermann Stutte anfragte, ob dieser einverstanden sei, die nächste Tagung der UEP in der Bundesrepublik zu veranstalten.174 Offensichtlich dürfte aber der Vorschlag, den dritten UEP-Kongress in Deutschland abzuhalten, im Vorstand der UEP durchaus erörtert worden sein, 173 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 UEP, Rom 1963. 174 ebenda.
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denn Stutte schreibt am 10. 6. 1963 an den Generalsekretär Friedemann175 : »Ihnen möchte ich jedoch nochmals mit aller Eindringlichkeit sagen, dass – falls Deutschland den nächsten Kongress veranstalten soll – nur Herr von Stockert Präsident sein kann. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese aus dem Verlauf der SEP-Sitzung176 in Rom und unseren gesellschaftsinternen Verhältnissen nunmehr einzig mögliche Lösung als solche anerkennen und sich selbst dafür einsetzen würden«. Mit der Wahl von Franz Günther von Stockert zum Präsidenten der UEP war zugleich der von ihm vorgeschlagene Kongressort Wiesbaden vorgesehen. Die Vorbereitungen für den Kongress liefen planmäßig an, es waren bereits verschiedene Ausschüsse gegründet worden, als Franz Günther von Stockert am 25. Februar 1967 plötzlich verstarb und Hermann Stutte unmittelbar nach dessen Tod zu seinem Nachfolger als Präsident der UEP gewählt wurde. Dies geht aus einem Schreiben des Generalsekretärs der UEP, Friedemann vom 31. März 1967 an Hermann Stutte hervor, das wie folgt beginnt: »Wir hatten bereits die Freude, Ihnen mitzuteilen, dass das Kongresskomitee Sie einstimmig und herzlich bittet, das durch den unerwarteten Hinschied von Herrn von Stockert verwaiste Präsidium des dritten europäischen Kongresses für Pädopsychiatrie zu übernehmen. Sie waren ja bereits in Rom am zweiten europäischen Kongress für Psychiatrie zusammen mit Herrn von Stockert als Vizepräsident bestätigt worden. Damals war vorgesehen, dass Sie oder Herr von Stockert das Präsidium übernehmen würden, das statutengemäß einem Vertreter des Landes zufällt, das den neuen Kongress organisiert. Ihre Wahl zum Präsidenten ist unmittelbar nach dem Tode von Prof. von Stockert erfolgt. Diese Wahl ist den Mitgliedern in Europa zur Kenntnis gebracht worden. Eine Einsprache ist nicht erfolgt, wohl aber sind uns eine ganze Reihe von Stimmen zugegangen, die es dankbar begrüßen, dass Sie als der maßgebende Vertreter der deutschen Kinderpsychiatrie das Präsidium auf dem Wiesbadener Kongress übernehmen und weiterführen«.177 Franz Günther von Stockert hatte sich, unterstützt durch mehrere Gremien, beginnend unmittelbar nach seiner Wahl, für die Gestaltung des III. UEP-Kongresses in Wiesbaden eingesetzt. Es ging dabei um eine Vielzahl von Fragen: – die Repräsentation der verschiedenen nationalen Gesellschaften für Kinderpsychiatrie mit ihren z. T. unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf das Fach,
175 ebenda. 176 SEP, Symposium Europaeicum Paedopsychiatricum, Zusammenschluss europäischer Kinderpsychiater als Vorstufe der Union Europäischer Pädopsychiater (UEP). 177 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, III. UEP-Kongress, Wiesbaden 1967.
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– die Einbeziehung von Vertretern der Anrainerdisziplinen wie Sonderpädagogen, Psychologen, Sozialpädagogen, – die Einbeziehung der Lebenshilfe, deren Bezeichnung als »allzu sehr nationalbezogen« empfunden wurde, – die Unterstützung von Kollegen aus dem Ausland in der Leitung der Sitzungen durch einen deutschen Co-Vorsitzenden, – die Gewinnung hochqualifizierter Referenten und das Finden von Ersatzlösungen nach der einen oder anderen Absage. Alle diese Aufgaben, die Franz Günther von Stockert bereits mit großer Energie in Angriff genommen hatte, mussten nun von Hermann Stutte, unterstützt durch ein Organisationskomitee des Kongresses, aufgegriffen und weitergeführt werden. Diesem gehörte als Generalsekretär Heinrich Albrecht (Hamburg), Hubert Harbauer (Marburg) und J. Wenzel (Bad Homburg) an. Nach dem Tod von Franz Günther von Stockert ergab sich im Hinblick auf den Kongress ein sehr umfangreicher Schriftwechsel, der zeigt, wie freundschaftlich und kollegial man miteinander umging und wie groß allenthalben die Hilfsbereitschaft war, um die von Franz Günther von Stockert begonnenen Maßnahmen zur Planung des Kongresses zu einem guten Ende zu führen. In diesem Sinne wandte sich auch die Witwe von Franz Günther von Stockert mit Schreiben vom 11. 4. 1967 an Hermann Stutte, bedankte sich bei ihm, dass er die Aufgaben ihres verstorbenen Mannes übernommen habe und brachte zum Ausdruck, dass er nicht nur »einen guten Präsidenten, sondern auch einen vertrauenswürdigen Deutschen« hinstellen werde178. Sie schließt ihren Brief mit den Worten: »Aber ich fühle mich Ihnen noch so vertraut aus den Zeiten der Not, wo ich mich einmischen musste und Sie mir manche Hilfe geleistet haben«. Dies ist offenbar ein Hinweis auf die schwierige Zeit, als F.G. von Stockert aufgrund unbedachter regimekritischer Äußerungen in der DDR inhaftiert war179. 178 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, III. UEP-Kongress, Wiesbaden 1967. 179 Franz Günther Ritter von Stockert wurde 1954 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Rostock berufen. Die Klinik stand nach dem Weggang von Prof. Hans Heyster (1905–1961) unter der kommissarischen Leitung von Gerhard Göllnitz (1920–2003). Von Stockert pendelte von 1954 bis 1958 von Frankfurt, wo seine Familie wohnte, nach Rostock, wo er lehrte. Von Stockert war eine geradlinige Persönlichkeit, die kein Blatt vor den Mund nahm, was in der DDR rasch zu Konflikten führte, u. a. auch mit Göllnitz, der in der DDR sozialisiert war. Jedenfalls wurde von Stockert am 31. 3. 1958 verhaftet und vom Bezirksgericht Rostock wegen »Staatsverleumdung« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt; im Berufungsverfahren wurde die Gefängnisstrafe für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Am 25. 7. 1958 verließ von Stockert die DDR, kehrte nach Frankfurt zurück und wurde an der Universität Frankfurt zunächst zum wiss. Rat (1960) und 1964 zum ao Professor ernannt. Gerhard Göllnitz wurde 1963 erster Ordinarius für Kinderneuropsychiatrie der DDR. Von Stockert starb während seiner Präsidentschaft der UEP, sein Nachfolger in diesem Amt wurde Hermann Stutte. Das Urteil der DDR wurde in der BRD nicht anerkannt und nach der
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Dass Hermann Stutte auf den Vorbereitungen von Franz Günther von Stockert überaus gut aufbauen konnte, geht aus seiner Antwort an Frau von Stockert (ohne Datum) hervor. Er wisse aus verschiedenen Konferenzen mit Herrn Albrecht und Herrn Harbauer sowie aus dem vorausgegangenen Schriftverkehr, »mit welcher Hingabe, welchem Geschick und welcher Anteilnahme« Franz Günther von Stockert sich der Vorbereitung dieser Tagung gewidmet habe. Er fährt fort: »Mir ist eigentlich jetzt nur noch verblieben, diese oder jene in der jetzigen Vorbereitungsphase entstandenen Hürden hinwegzuräumen bzw. zu erniedrigen«180. Am grundsätzlichen Programm habe er gar nichts geändert. Die Gedächtnisrede auf Franz Günther von Stockert werde Herr BennholdtThomsen (1903–1971) halten und anschließend sei der Vortrag von Herrn Harbauer geplant, der von Stockert auf den Lehrstuhl bereits gefolgt war. Der III. Kongress der UEP in Wiesbaden vom 4.–9. 5. 1967 Der Kongress selbst fand im Großen Kurhaus in Wiesbaden statt und wurde mit einem Festvortrag von dem international renommierten Entwicklungsbiologen Prof. Adolf Portmann (Basel) zum Thema »Anthropologische Deutung der menschlichen Entwicklungsperiode« am Do., 4. Mai 1967 eröffnet. Die Thematik dieses Kongresses wird ausführlich dargestellt, da es sich um den ersten europäischen Kongress der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland handelt, der verdeutlicht, dass die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie rund 22 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur wieder in Europa Fuß fassen konnte und in freundschaftlicher Kollegialität angenommen wurde. Die Themen vermitteln zugleich ein Panorama interdisziplinärer Vielfalt, das für die Kinder- und Jugendpsychiatrie typisch ist. Es sollte 32 Jahre dauern, bis ein weiterer europäischer Kongress auf deutschem Boden stattfinden konnte (in Hamburg 1999), wiederum unter Marburger Leitung. Am Fr., 5. Mai 1967, begannen die wissenschaftlichen Sitzungen.
Wiedervereinigung am 2. 10. 1995 vom Landgericht Rostock unter voller Rehabilitation aufgehoben (Bussiek D (2003), Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 9, 25–31). 180 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, III. UEP-Kongress, Wiesbaden 1967.
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Vorträge zum ersten Hauptthema: »Zeitfaktor und Anfälligkeit« Vormittagssitzung 5. 5. 1967 Vorsitz: Fontes/ Lissabon; Bürger-Prinz / Hamburg Referenten: Bleuler, M. (Zürich): Innere Sekretion; Weber, A. (Zürich): Geschlechtshormone und Psyche in verschiedenen Altersstufen; Gastaut, H., Pinsarf, N. und Roger, J. (Marseille): Die Evolution des Elektroenzephalogramms bei Kindern in Verhältnis zum Alter und in Beziehung zur Entwicklung der Epilepsie; Gros, C. (Montpellier): Die Symptomatologie und die Rehabilitation der Hirntraumen in verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes; Strömgren, E. (Risskov): Endogene Psychosen und degenerative Erkrankungen; Koupernik, C., Houzel, D. und Seligman, F. (Paris): Schädeltraumen im Kindesalter. Nachmittagssitzung: Bennholdt-Thomsen, C. (Köln): Zeitfaktor und Anfälligkeit in der ersten Lebenszeit; Asperger, H. (Wien): Anfälligkeiten des Vorschulkindes; Caspari, I. E. (London): Die Anfälligkeit des Kindes bei Eintritt in die Schule; Harbauer, H. (Marburg): Anfälligkeiten des Kindes im Schulalter bis zur Pubertät. Podiumsgespräch unter Vorsitz von Friedemann, Biel-Bienne
Vorträge zum zweiten Hauptthema: »Heilpädagogik und Psychotherapie« Vormittagssitzung 6. 5. 1967 Vorsitz: Bollea / Rom; Spiel / Wien Referenten: Lutz, J. (Zürich): Therapie im Überblick; Jadot-Decroly, J. (Brüssel): Über Heilpädagogik; Ripoche, J. (Paris): Die Motivationen für das Erlernen einer Fremdsprache in einer europäischen Schule; Dührssen, A. (Berlin): Psychotherapie bei Kindern; Lebovici, S. (Paris): Familien-Psychotherapie; Dellaert, R. (Antwerpen): Praxis der Psychohygiene in einer Versuchsschule Nachmittagssitzung: Vorsitz: Kamp / Utrecht; Duch8 / Paris Referenten: Kamp, L.N.J. (Utrecht): Orthopädagogische und pharmacotherapeutische Faktoren in der Psychotherapie eines psychotischen Mädchens (Film des 4. Therapiejahres); Strotzka, H. (Wien): Die psychische Behandlung des kindlichen Epileptikers; Winnicott, D.W. (London): Die Behandlung von Psychosen im Kindesalter ohne Verwendung von Pharmaka; Rümke, C. (Groningen): Probleme in der Behandlung und Erziehung schwachsinniger blinder Kinder ; Zonneveldt, A. und van der Sman (Oegstgeest): Die Musiktherapie in der jugendpsychiatrischen Klinik Podiumsgespräch unter Vorsitz von van Krevelen, Leiden
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Sitzungen am Sonntag, den 7. 5. 1967 Vormittags: Gruppendiskussionen über folgende Themen: Jugendstrafanstalt Wiesbaden, Holzstraße Psychotherapie und Strafvollzug Vorsitz: Hart de Ruyter/ Groningen Psychohygiene und »Lebenshilfe« Kurhaus, Großer Saal Vorsitz: Bosch / Süchteln; Dellaert / Brüssel »Lichtspiele am Markt« Psychohygiene und Massenmedien Vorsitz: Wasem / München Nachmittags: Gemeinsamer Ausflug mit Dampferfahrt durch das Rheintal
Montag, 8. 5. 1967 Drittes Hauptthema: Somatische Therapien Vormittags: Vorsitz: Fischer / Prag; Rossi / Bern Referenten: Landtman, B. (Helsinki): Psychosomatische Reaktionen bei Kindern vor und nach Herzoperationen; Schlange, H. (Göttingen): Das psychische Bild der angeborenen Angiocardiopathien vor und nach der Herzoperation; Bickel, H. (Heidelberg): Stoffwechselanomalien und Schwachsinn; Degkwitz, R. (Frankfurt): Zur Anwendung von Psycholeptika in der Pädopsychiatrie; Corboz, R.J. (Zürich): Die Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen – klinische Erfahrungen Podiumsgespräch unter Vorsitz von Corboz, Zürich Nachmittags: Parallel-Sitzungen mit Kurzvorträgen zu verschiedenen Themen ohne Simultanübersetzung
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Dienstag, 9. 5. 1967 Viertes Hauptthema: Psychosen bei Oligophrenen Vormittags: Vorsitz: Michaux / Paris; Szymanska / Warschau Referenten: Michaux, L. (Paris): Die Psychosen bei Oligophrenen – Einführung; Duch8, D. (Paris): Die klinischen Merkmale der Psychosen bei den Oligophrenen und die der Oligophrenie bei psychotischen Kindern; Moor, L. (Paris): Die psychologische Kriterien der Psychosen bei den Oligophrenen; Widlocher, D. (Paris): Psychoanalytische Deutungsmöglichkeiten von Zwangsinhalten und Wahnvorstellungen bei Pfropfpsychosen; Flavigny, H. und Caro, G. (Paris): Ärztlich-fürsorgerische Maßnahmen bei Psychosen Schwachsinniger ; Hoejenbos, E. (Assen): Psychotische Züge bei Schwachsinn; Bollea, G. (Rom): Die psychotische und die oligophrene Struktur Nachmittags: Schlussansprachen von Fiedemann, A. (Biel-Bienne), Stutte, H. (Marburg) und Michaux, L. (Paris).
Im Anschluss an das Kongressprogramm fand am 9. 5. 1967 eine Mitgliederversammlung der UEP statt, in der folgende Beschlüsse gefasst wurden (Stutte und Harbauer, 1968)181: 1. Als Ort des nächsten UEP-Kongresses, der nach §17 der Satzung alle drei bis vier Jahre stattfinden soll, wurde (unter Berücksichtigung einer Einladung auch nach Polen) Schweden gewählt. 2. Da nach Darlegung der UEP-Vizepräsidentin Frau Prof. A.L. Annell (Uppsala) ein UEP-Kongress in Schweden nur in Stockholm durchgeführt werden kann, wurde Prof. Sven Ahnsjö, Inhaber des Lehrstuhls für Pädopsychiatrie an der Universität Stockholm, zum Präsidenten der UEP gewählt. Gleichzeitig wurde Frau Prof. A.L. Annell zur ersten Vizepräsidentin der UEP für die nächste Amtsperiode (bis zum IV. UEP-Kongress) gewählt. 3. Auf Antrag von Herrn Dr. van Krevelen (Leiden), der für eine Ausdehnung der Amtszeit des gewählten UEP-Präsidenten bis zum nächsten Kongress plädiert hatte, ergeht der Beschluss, die Amtszeit auf die Dauer von einem Jahr nach dem von ihm organisierten und geleiteten Kongress auszudehnen. Es soll ihm damit Gelegenheit gegeben werden, die durch den Kongress angefallenen Geschäfte noch als Präsident zu Ende zu führen und gleichzeitig den neugewählten UEP-Präsidenten mit seinen speziellen Aufgaben vertraut zu machen. 4. Dem Gesuch um Aufnahme der kinderpsychiatrischen Gesellschaft von Israel in die UEP konnte satzungsgemäß nicht nachgegeben werden, weil nach § 2 nur Kinderpsychiater bzw. kinderpsychiatrische Gesellschaften aus euro181 Stutte, H., Harbauer, H. (1968) (Hrsg.). Concilium Paedopsychiatricum. Verhandlungen des 3. Europäischen Kongresses der Pädopsychiatrie. Karger, Basel-New York, S. 554.
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päischen Ländern Mitglied der UEP sein können. Um dem lebhaften Interesse der Kinderpsychiatrie Israels an einem engeren Kontakt zur UEP entgegenzukommen, wurde Herr Dr. Joseph Marcus (Jerusalem) zum Verbindungsmann (korrespondierendes Mitglied) zur UEP gewählt. 5. Die WPA (World Psychiatric Association)182 plant die Gründung einer Sektion für Kinderpsychiatrie. In der UEP-Vorstandssitzung wurden die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die IACAP und die UEP näher diskutiert. In der Mitgliederversammlung wurde das Pro et Contra dieses Vorhabens in Bezug auf die UEP-Belange gleichfalls erörtert. Es bestand Einmütigkeit darüber, dass man die weitere Entwicklung in der WPA abwarten solle unter Beachtung der auch von der UEP betonten Autonomie der Pädopsychiatrie als einer eigenen medizinischen Disziplin. Der Wiesbadener Kongress hatte für den Kongresspräsidenten Stutte, wie er selbst an Prof. Lukas Kamp am 22. 5. 1967 schreibt, »ein etwas apokalyptisches Ende: Während der Rheinfahrt (die am Nachmittag des 7. 5. 1967 stattfand, der Verf.) überfielen mich die mir bekannten Symptome eines Ileus-Zustandes. Ich ließ mich sogleich nach Marburg fahren, wo die Occlusion gottlob ohne Operation behoben worden ist. Es hat mir leid getan, dass wir selbst so wenig Zeit zu einem persönlichen Gespräch hatten«183. Der IV. Kongress der Union Europäischer Kinderpsychiater in Stockholm vom 30.8. – 3. 9. 1971 Das Rahmenthema des Kongresses lautete »Depressionszustände bei Kindern und Jugendlichen«. Präsident war der Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität von Stockholm, Prof. Sven Ahnsjö, Kongresssekretärin war Frau Prof. Anna-Lisa Annell (Uppsala). Sie gab auch den Kongressbericht heraus, der 1972 erschien. In ihrer Einführung zum Kongress (Kongressbericht S. 15) hebt Annell hervor, dass depressive Störungen in den letzten Jahrzehnten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Hintergrund geraten seien, weil sich das Interesse vorwiegend auf psychodynamische Entwicklungsmechanismen, schizophrene Erkrankungen sowie verschiedene Formen der mentalen Retardierung fokussiert habe. Deshalb konzentriere sich der Kongress auf depressive Störungen, die eine wichtige und verhältnismäßig große Gruppe unter den psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter darstellen, deren Diagnose oft schwierig sei, bei denen es aber inzwischen Behand182 Die Section of Child and Adolescent Psychiatry wurde 1971 auf der Generalversammlung der World Psychiatric Association anlässlich ihres 5. Weltkongresses in Mexico City gegründet. Sie war die erste Sektion der WPA und diente als Modell für die Etablierung weiterer Sektionen. 183 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, III. UEP-Kongress, Wiesbaden 1967.
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lungsmethoden gebe, die es ermöglichten, den Verlauf und die Prognose günstig zu beeinflussen. Annell zitiert Stutte, der in seinem Beitrag hervorhebe, »dass die ältere kinderpsychiatrische Literatur fast ausnahmslos Beschreibungen depressiver Zustände bei Kindern enthielt, mit wertvollen und teilweise noch heute zutreffenden Gesichtspunkten für ihre Ursachen. Die Zeitschrift The Nervous Child brachte 1952 eine Sondernummer über manisch-depressive Krankheiten in der Kindheit heraus. Seitdem sei jedoch keine Sammelarbeit über Depressionen bei Kindern erschienen, sondern nur eine unverhältnismäßig unbedeutende Anzahl von Artikeln in verschiedenen Zeitschriften« (Kongressbericht S. 16). Annell gab in ihrem Einleitungsreferat einen umfassenden Überblick über Epidemiologie, Ätiologie und Klassifikation, Symptomatologie, komplizierende Reaktionen (Schulversagen, Suizid, Drogen- und Alkoholmissbrauch) sowie Therapie und Prognose. Das erste Hauptreferat zum Thema hielt Hermann Stutte, der depressive Störungen unter acht verschiedenen Gesichtspunkten analysierte. Zunächst könne man feststellen, dass sich die Betrachtungsweise dieser Zustände innerhalb der letzten 80 Jahre verändert habe von einer vorwiegend phänomenologischen zu einer mehr pathogenetischen Sichtweise. 1. Depressive Zustände seien heute weit eher verständlich in ihrer psychoreaktiven, phasischen Determinierung. Durch die Wandlung bzw. Differenzierung der diagnostischen und nosologischen Kriterien seien widersprüchliche Angaben im Hinblick auf die Depressionshäufigkeit zu erklären. Im Übrigen habe sich auch ein epochaler Wandel depressiver Störungen ergeben. Kaum werde der Kinderpsychiater heute noch mit Angstmelancholien oder mit stuporösen Depressionen im Gefolge infektiöser Erkrankungen konfrontiert. Auch die früher unter den Depressionen subsumierten Hypochondrien des Pubertätsalters würden heute mehr erlebnisreaktiv oder entwicklungsphasisch verstanden. 2. Kindliche Depressionszustände würden heute nach Einbeziehung der Untersuchungen von Bowlby und Spitz in die kinderpsychiatrische Diagnostik weitaus verständlicher in ihrer psychoreaktiven, phasentypischen Determinierung. Darüber hinaus weist Stutte auf die apathisch-depressiven Vitalitätseinbußen im Gefolge emotionaler Frustrierungen hin (z. B. im Rahmen des Hospitalisationssyndroms), ferner auf die depressiven Reaktionen von Kindern auf Krankenhausaufenthalte sowie auf Leistungsanforderungen in Kindergarten und Schule, aber auch auf phasentypische Konflikte (Geschwisterrivalität, Selbstwertprobleme). Erkenntnisse dieser Art hätten dazu geführt, dass das Syndrom »kindliche Depression« facettenreicher wurde, was gleichzeitig höhere Anforderungen an die Differentialdiagnostik stellt.
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3. Zu einer subtileren Eruierung der Determinanten kindlicher Depressionszustände habe das vertiefte Wissen um episodische Depressionszustände organischer Natur geführt, z. B. im Rahmen der Chorea Huntington oder im Rahmen chronischer Infektionen. Längst bekannt sei, dass depressive Verstimmungen auch häufig Bestandteil eines organischen Psychosyndroms bei kindlichen Enzephalopathien seien. 4. Unter Berücksichtigung differenzialdiagnostischer Aspekte bestehe heute kein Zweifel mehr an der Existenz mono- oder bipolarer Depressionszustände bereits vor der Pubertät. In diesem Zusammenhang weist Stutte auf Untersuchungen aus dem eigenen Arbeitskreis hin sowie auf die bahnbrechende Arbeit von Anthony und Scott (1960). 5. Besonders problematisch im Hinblick auf Ätiologie und Prognose erscheinen die hypochondrischen Varianten endogen-depressiver Verstimmungen des Pubertätsalters. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Pubertätshypochondrien sowie Zustandsbilder, die an schizophrene Prozesse heranreichen. 6. Im Hinblick auf die Ätiologie stelle sich die Frage, ob nicht durch spezifische völkische Dispositionen oder durch »Selektionsvorgänge« regionale Häufigkeitsunterschiede zustande kämen. Diese äußerten sich z. T. auch in unterschiedlichen psychopathologischen Manifestationen. Er glaubt auch, Unterschiede des manisch-depressiven Irreseins bei Patienten aus Württemberg im Vergleich zu jenen in Hessen festgestellt zu haben. 7. Hinter schulischen Leistungseinbußen, aber auch in kompensatorischen dissozialen Entgleisungen versteckten sich nicht selten endogen-depressive Verstimmungen. 8. Nach seinem Eindruck hätten die endogen-depressiven (mono- und bipolaren) Psychosen in den letzten Jahrzehnten an Häufigkeit zugenommen. Er weist in diesem Zusammenhang auf Suizide und Suizidversuche im Kindesund Jugendalter hin. Weitere Hauptreferate in der ersten Sitzung des Kongresses, die sich mit den Basiskonzepten depressiver Störungen beschäftigten, hielten Felix Brown (London)184, der den Zusammenhang zwischen Depression und Verlusterlebnissen in den Vordergrund stellte, Serge Lebovici (Paris), der das psychoanalytische Konzept depressiver Störungen darstellte, D’Elia und Perris (Ume,), die auf den Zusammenhang zwischen Wirkungen der Umwelt auf bipolare und unipolare Depressionen eingingen, und schließlich Paul Kielholz (Basel), der 184 Felix Warden Brown (1908–1972) war ein prominenter britischer Psychiater, der nach Abschluss seines Studiums in London am Johns Hopkins Hospital in Baltimore unter Adolf Meyer tätig war. Er spezialisierte sich später in England in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Familienpsychiatrie und vertrat diese Fachgebiete zuletzt am Royal Free Hospital in London.
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den Kenntnisstand zur Ätiologie depressiver Störungen referierte, basierend auf dem von ihm entwickelten Klassifikationsschema, das somatogene und psychogene Depressionszustände unterscheidet und diese in ein Schema einzuordnen erlaubt. Das Kongressprogramm umfasste zwölf Sitzungen, in denen depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten für das damalige Wissen weitgehend vollständig erörtert wurden. Diese Gesichtspunkte (in englischer, deutscher und französischer Sprache angeführt) waren: (I) Grundbegriffe, (II) Ätiologie und Hintergrundfaktoren, (III) Depressionen in der Kindheit, (IV) Somatische Symptome und Depressionen, (V) Hirnschädigung und Depression, (VI) Depression und Schulleistungen, (VII) Depressionen und Jugendalter, (VIII) Selbstmordversuche, (IX) Depression und Schizophrenie bzw. Zwangsneurose, (X) Psychotherapie, (XI) Psychopharmakotherapie, (XII) Verlauf und Prognose von kindlichen Depressionen. Soweit wir sehen, ist dies der erste und einzige Kongress der europäischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, der sich einem einzigen Störungsmuster gewidmet und dieses unter einer Vielzahl von Perspektiven betrachtet hat. Unter den insgesamt 75 im Kongressbericht abgedruckten Vorträgen waren 22 in deutscher Sprache verfasst, wobei die meisten Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kamen, einige auch aus den damaligen Ostblockstaaten, in denen die deutsche Sprache im wissenschaftlichen Bereich noch eine wichtige Rolle spielte. Auf der Generalversammlung der UEP in Stockholm wurde Walter Spiel (Wien) zum Präsidenten der UEP gewählt und damit Wien als nächster Kongressort festgelegt. Zu Kongresssekretären wurden Fritz Poustka und Max Friedrich (beide Wien) ernannt. Der V. europäische Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie fand 1975 in Wien statt. Rahmenthema des Kongresses war »Psychotherapy in the Field of Child Psychiatry«. An diesem und an den folgenden europäischen Kongressen nahm Hermann Stutte nicht mehr teil.
2.3.2.5 Hermann Stutte und die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie In organisatorischer Hinsicht eilte die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie der europäischen insofern voraus, als bereits im Jahr 1937 in Paris der erste Kongress der International Association for Child Psychiatry (IACP) stattfand, der zweite Kongress 1948 in London, der dritte Kongress 1954 in Toronto und der vierte 1958 in Lissabon. Erst danach, nämlich 1960, kam es zur Zusammenkunft einer größeren Gruppe europäischer Kinder- und Jugendpsychiater auf dem ersten UEP-Kongress in Paris. Vorausgegangen waren al-
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lerdings fünf Symposien in Magglingen, bis es zum formellen Zusammenschluss mit der Verabschiedung einer UEP-Satzung am 17. 9. 1960 kam (vgl. Kap. 1). Zugang zur International Association for Child Psychiatry erhielt Hermann Stutte über Arn van Krevelen (Niederlande), der auf dem vierten internationalen Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lissabon zum Präsidenten gewählt worden war. Zwischen van Krevelen und Stutte hatte sich in den Jahren zuvor bereits ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt; beide standen in regem wissenschaftlichen, aber auch persönlichen Austausch. In einem Schreiben, abgefasst in Lissabon, vom 23. Juni 1958 teilt van Krevelen Hermann Stutte mit, dass er zum Präsidenten der International Association for Child Psychiatry and Allied Professions gewählt worden sei185. In diesem Schreiben führt van Krevelen ferner aus: »Vertraulich will ich Ihnen sagen, dass eine meiner ersten Verrichtungen die sein wird, die Möglichkeit zu eröffnen, den deutschen Kinderpsychiatern den ihnen gebührenden Platz in der internationalen Gesellschaft zu verschaffen. Ich war schon zu voreilig, indem ich den Vorschlag gemacht habe, in unserem Executive Committee Sie als Vizepräsidenten zu kooptieren. Voreilig, indem sich gezeigt hat, dass dies unmöglich war, weil Deutschland noch kein Mitglied der internationalen Gesellschaft ist. Mein Vorschlag ist jedoch insofern angenommen worden, dass Deutschland eine ehrenvolle Vertretung am nächsten Kongress bekommen wird«. Am IV. Kongress der International Association for Child Psychiatry and Allied Professions (IACAP), wie die Gesellschaft inzwischen hieß, hatte Villinger aus Krankheitsgründen nicht teilgenommen und auch Hermann Stutte fehlte. Beides wurde bedauert»186.
Mit Schreiben vom 28. 6. 1958187 gratuliert Hermann Stutte Arn van Krevelen zu seiner Wahl und teilt ihm mit, dass die deutsche Fachgesellschaft schon vor Jahren vorhatte, die Verbindung zur internationalen Gesellschaft zu suchen, dass dies aber damals »wohl nicht ganz zweckmäßig gewesen« sei, man jetzt aber einen offiziellen Antrag stellen werde. Er wolle dies der Ende Juli in Marburg tagenden Mitgliederversammlung vorschlagen. In besagtem Schreiben Stuttes an van Krevelen wird ferner auch auf eine mögliche Umgestaltung der Zeitschrift »Acta Paedopsychiatrica« eingegangen, deren Gründer und Herausgeber Moritz Tramer war. Es ging dabei um die stärkere Berücksichtigung medizinischer Aspekte in dieser Zeitschrift und eine Erweiterung der Herausgeberschaft. In einem Brief vom 30. 7. 1958188 beantragt Werner Villinger als Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Aufnahme dieser Fachgesellschaft in die internationale Gesellschaft für Kinder- und Ju185 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP I. 186 Schreiben v. van Krevelen an Stutte vom 23. 6. 1958 und Schreiben des Kongresspräsidenten Fontes an Villinger vom 21. 7. 1958 (ebenda). 187 ebenda. 188 ebenda.
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gendpsychiatrie und verwandte Berufe. Mit Schreiben vom 1. 09. 1958 an Werner Villinger189 bestätigt Präsident van Krevelen die Aufnahme der Deutschen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in die internationale Fachgesellschaft. In einem sehr ausführlichen Schreiben vom 17. 1. 1959 berichtet van Krevelen an Stutte über die Vorbereitung des für das Jahr 1962 geplanten fünften Weltkongresses in den Niederlanden und lädt Hermann Stutte ein, an der »International Preparatory Commission« (I.P.C.) teilzunehmen, was Stutte dankbar annimmt190. Der V. Kongress der IACP (1962) in Scheveningen Innerhalb der I.P.C. ergab sich eine inhaltlich interessante Diskussion zu den Themen des V. Internationalen Kongresses, der für 1962 in Scheveningen/ Niederlande geplant war und auch dort stattfand. Es ging dabei um folgende Themen: – Prävention und Prädiktion – Beratung und Erziehung von Eltern (Parent Education), in die auch Psychologen und Sozialarbeiter einbezogen werden sollten – Abgrenzung der Aufgaben der Kinderpsychiatrie von anderen Disziplinen. Im Hinblick auf das geplante Kongressprogramm führte Hermann Stutte einen umfangreichen Schriftwechsel, um Studien zum Thema Prävention zu eruieren und Referenten für die Thematik zu gewinnen. Inhaltlich ergab sich eine interessante Diskussion, die für das Fach Kinderpsychiatrie wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung hier ausführlich wiedergegeben wird. Aus Diskussionsvorschlägen des Präsidenten van Krevelen für die Sitzung des I.P.C. sollten folgende Themen auf dem Kongress im Vordergrund stehen191: I. Verhütung: Damit war die eingedeutschte Formulierung des Wortes »Prävention« gemeint. Im Zusammenhang damit standen Fragen wie: Soll von Prävention gesprochen werden, wenn noch keine Schwierigkeiten seitens der Eltern bemerkt worden sind? Wo ist die Trennungslinie zwischen vorbeugender und heilender Behandlung zu ziehen? Über die Bedeutung, was unter »Verhütung« zu verstehen sei, war man sich nicht einig. II. Elternerziehung: Auch diesbezüglich entstanden terminologische Unsicherheiten, wenn von »Führung der Eltern«, »Beratung und Elternerzie189 ebenda. 190 Schreiben Stutte an van Krevelen vom 23. 1. 1959, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, IACAP I. 191 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP I.
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hung« gesprochen wurde. Es wurde in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert, inwieweit der Kinderpsychiater auch Elternerzieher sein soll. III. Geistige Störungen: Hiermit dürfte in inadäquater Übersetzung die englische Bezeichnung »Mental Disorders« gemeint sein. IV. Altersgrenzen: In einem Diskussionsvorschlag wird die Frage aufgeworfen, ab welchem Alter »Verhütung« angebracht sei. V. Wodurch Verhütung? Unter dieser Rubrik wird die Rolle des Kinderpsychiaters diskutiert, aber auch die Einbeziehung verwandter Berufe, z. B. auch der Orthopädagogen. VI. Die Notwendigkeit der Begrenzung unseres Betätigungsfeldes: Es sei ein Nachteil vieler internationaler Kongresse, dass der behandelte Stoff mehr oberflächlich erörtert werde und nicht genügend in die Tiefe gehe. Sollte man sich deshalb nicht besser auf ein umschriebenes Gebiet konzentrieren? VII. Kurse für Verlobte: »Eine ganz andere Art der Verhütung ist die »Elternerziehung« für verlobte Paare, mit der Absicht, sie auf das Eheleben, insbesondere auf ihre gegenseitigen sexuellen Beziehungen, vorzubereiten»192. Auch diesbezüglich wird die Frage aufgeworfen, ob dies eine Aufgabe des Kinderpsychiaters sein könne. Auf Veranlassung von Hermann Stutte, der diese Diskussionsvorschläge unter den Mitgliedern der DVJ verbreitete, ergab sich eine vielseitige und z. T. kontroverse Diskussion mit den Stellungnahmen verschiedener DVJ-Mitglieder. Eine der differenziertesten Stellungnahmen stammte von Carola Hannappel (1911–1989)193, die zu den sieben Gesichtspunkten Folgendes ausführte: Ad I: Verhütung. Schwierigkeiten seien bei Kindern von so differenten Faktoren abhängig, »dass auf jeden Fall bis zur Diagnose der Patient als nicht gestört zu betrachten ist. Schon aus diesem Grund ist eine Diagnose unbedingt erforderlich. Selbstverständlich haben wir zu unterscheiden zwischen Störungen, die geistigen Erkrankungen vorausgehen und solchen, die als Varianten der normalen Entwicklung in der Folge von sozialen, erzieherischen oder entwicklungsbiologischen Missständen auftreten«194. Eine scharfe Trennungslinie zwischen Behandlung und Vorbeugung könne man nicht ziehen. Ad II: Elternerziehung Der Kinderpsychiater habe in der erwähnten Aufgabe nur die Funktion eines Beraters. Dies ergebe sich bereits aus der Art seiner Tätigkeit, die im Mittelpunkt, trotz aller neuen 192 ebenda. 193 Langjährige Leiterin der Erziehungsberatungsstelle der Stadt Frankfurt und Gründungsmitglied der DVJ 1950 in Marburg, mit zahlreichen Auslandskontakten. Sie nahm auch an der für die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie wichtigen Tagung in Hiddesen 1951 teil und am 1. UEP-Kongress 1960 in Paris. 194 ebenda.
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Erkenntnisse, immer noch das Kind sehe. Durch die multiprofessionelle Sicht würden zwar neue Gesichtspunkte in das Gespräch gebracht, »aber nur in der Verteilung der Schwerpunkte auf die Teammitglieder kann der Kinderpsychiater seine Aufgabe sehen. Als Elternerzieher eignen sich Pädagogen, Fürsorgerinnen, auch Psychologen und Pfarrer wesentlich besser«. Ad III: Geistige Störungen Immer wieder und auch diesbezüglich erscheine ein Diagnosenschema unerlässlich. Dabei sei es erforderlich, dieses für die Kinderpsychiatrie streng nach den medizinischen Erkenntnissen auszurichten. Welches Chaos bei der Vermischung von psychologischen und soziologischen Begriffen mit denen der Kinderpsychiatrie entstehe, habe sich immer wieder gezeigt. Eine Trennung der Standpunkte sage durchaus nicht aus, dass keine gemeinsame Basis für die Therapie oder Hilfe gefunden werden könne. »Jedenfalls sollten wir unseren ärztlichen Standpunkt vertreten und für die anderen Gesichtspunkte aufgeschlossen sein«. Geistige Störungen müssten streng nach den Begriffen der Erwachsenenpsychiatrie definiert werden. Es sei jedenfalls nicht vertretbar, dass unter Außerachtlassung der organischen Befunde von psychologischer Seite eine angeblich schwere Neurose diagnostiziert werde. Ad IV: Altersgrenzen Die Frage, ab welchem Alter »Verhütung« möglich und sinnvoll sei, hänge vom jeweiligen Standpunkt ab. So seien Tiefenpsychologen der Meinung, dass man innerhalb des ersten Lebensjahres alle neurotischen Fehlentwicklungen verhüten könne. »Wir hingegen stehen auf dem Standpunkt, dass das schädliche Agens in jedem Alter seine entsprechende Auswirkung haben kann«. Es treffe zu, dass katamnestische Erhebungen in dieser Richtung fehlten. Die Verfasserin regt an, dass auf dem geplanten Kongress Katamnesen in verschiedenen Sparten angeregt würden, entsprechend der Schwerpunkte verschiedener Länder. Ad V: Verhütung wodurch? Immerhin enthalte die Bezeichnung der internationalen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Namen auch die »benachbarten Berufe«. Diese sollten selbstverständlich auch auf dem Kongress zu Worte kommen, aber aufgrund der multiprofessionellen Ausbildung der Kinder- und Jugendpsychiater dürften diese sich die Führung nicht aus der Hand nehmen lassen. »Orthopädagogik sollte aus dem sowieso breiten Rahmen des Kongresses m. E. ausgeklammert werden«. Ad VI: Notwendigkeit der Begrenzung unseres Betätigungsfeldes Diesbezüglich verweist die Referentin auf die »unerträgliche Verflachung«, die sich auf dem III. Kongress der IACP in Toronto (1954) gezeigt habe. Was dies betreffe, habe sich auch Prof. Heuyer und andere Kollegen kritisch geäußert. Es könne auf der geplanten Vorbesprechung doch sicher ein gemeinsames europäisches Thema von der Kinderpsychiatrie aus gefunden werden. Nach Meinung der Referentin sei es nicht die Aufgabe des Kinder- und Jugendpsychiaters, Diskussionsgruppen von Eltern zu leiten. Seine Domäne sei das Einzelgespräch, da jeder Fall seine ganz eigene Problematik habe. »Wir haben nach Erfahrungen in Volkshochschulen usw. diese Art der Diskussionen in den letzten Jahren als Referenten abgelehnt, dagegen uns im Gruppengespräch von Eltern in unserer heilpädagogischen Tagesstätte eingeschaltet. Die Eltern waren gleichsam eine homogene
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Gruppe, die durch Einzelgespräche bereits bekannt waren. Noch viel mehr ist die Homogenität bei Eltern autistischer Kinder bewahrt«. Ad VII: Kurse für Verlobte Diese Art der Aufklärung müsse als Aufgabe der Kinderpsychiatrie entschieden abgelehnt werden, da weltanschauliche Stellungnahmen zum Ressort von Pfarrern und Politikern gehörten. »Unsere Aufgabe bestimmt die alte medizinische Trilogie: Befund, Diagnose und Therapie. Dadurch können wir den benachbarten Berufen als relativ objektive Berater dienen«.
Diese Stellungnahme wurde hier ausführlich referiert, weil sie in gewisser Weise repräsentativ ist für die Denkweise innerhalb der damaligen deutschen Kinderpsychiatrie und weil sie zugleich zeigt, in welcher Weise um das Aufgabengebiet und um Zuständigkeitsfragen der Kinderpsychiatrie international gerungen wurde. In einem ausführlichen Bericht (ohne Datum, vermutlich Juli 1959) fasst Stutte die eingegangenen Stellungnahmen unter folgenden Gesichtspunkten zusammen195 : I. »Verhütung umschließe per definitionem alle Maßnahmen, die den Eintritt einer Schädigung verhindern bzw. das Ausmaß der Schädigung zu limitieren sich bemühen«. Er sei mit Emmanuel Miller196 der Ansicht, dass Prävention auch die Fähigkeit zur Prognose impliziere. Deshalb sollten die Kinderpsychiater als Vertreter einer naturwissenschaftlich-psychologischsoziologisch fundierten Erfahrungswissenschaft sich bemühen, auf dem nächsten Kongress auch die Erfahrungsgrundlagen »unseres präventiven Handelns zu erörtern, d. h., auch unser prognostisches Wissen darzulegen«. Prävention i. S. des zweiten Teils der obigen Definition umschließe »natürlich immer auch die Behandlung in sich (zur Verhinderung von Verschlimmerungen bzw. Spät- und Dauerschäden)«. II. Elternerziehung gehöre natürlich mit zum präventiven Handeln des Kinderpsychiaters, vor allem aber in der Form der unmittelbaren Elternberatung und -erziehung in Bezug auf den konkreten Einzelfall. Die Durchführung der Elternerziehung im Breiten solle als kollektive Prophylaxe den benachbarten Berufen überlassen werden. Letzteren solle der Kinderpsychiater aber sekundieren durch die Übermittlung von empirisch gesicherten Grundlagen über die Determinierung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. III. Er sei ebenfalls mit Emmanuel Miller der Ansicht, »dass man im Kongressprogramm die Psychosen außer Acht lassen und sich mehr auf die Neurosen, abnormen Charakterentwicklungen, aber doch auch auf die 195 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP I. 196 Einflussreicher britischer Kinderpsychiater, zeitweise Mitglied im Vorstand der IACP.
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enzephalopathischen bzw. endokrinopathischen psychischen Störungen beschränken sollte«. Darauf dürfte ja wohl die Mehrzahl der europäischen Kinderpsychiater Wert legen. IV. Prävention im hier verstandenen Sinne solle alle Altersstufen bis zur Adoleszenz umfassen. Das Betätigungsfeld der Kinderpsychiater reiche ja jedenfalls bei uns bis zum 18. Lebensjahr. V. »Kinderpsychiatrie ist jener Zweig der Heilkunde, der sich mit der Erkennung, Behandlung und Vorbeugung geistig-seelischer Regelwidrigkeiten im Kindesalter befasst«. Bei der Diskussion präventiver Möglichkeiten könne schlechterdings auch die Mitwirkung des Genetikers, des Klinikers, des Neuropathologen, des Soziologen, des Psychologen, aber auch die des Heilpädagogen nicht ausgeklammert werden. Bestimmend bleiben müsse aber »unsere ärztlich-kinderpsychiatrische Perspektive«. Den Erkenntnissen und Möglichkeiten der benachbarten Disziplinen sollte man sich aber nicht verschließen. Die Orthopädagogik sei ein bedeutendes Terrain der Prävention, sie müsse sich auf kinderpsychiatrische Erkenntnisse stützen, sie sei gewissermaßen pädagogisch angewandte Kinderpsychiatrie. VI. Stutte empfiehlt dringend (nach Rücksprache mit den Teilnehmern des vorletzten Kongresses in Toronto) »eine ganz strenge Limitierung des Verhandlungsgegenstandes auf unserem nächsten internationalen Kongress«. Eine in die Tiefe dringende Diskussion, konzentriert auf einen umgrenzten Sektor, diene sicherlich der Wissenschaft und vor allem auch den Kindern mehr als eine »Breitwandschau«. Die Methodik der gruppenpädagogischen Behandlung von Müttern schwieriger Kinder könne allenfalls im Rahmen von Arbeitsgruppen, die sich mit praktischen und methodologischen Aufgaben befassen, erörtert werden. Die von Miller vorgeschlagene Einteilung der Präventionsproblematik nach kindlichen Entwicklungsphasen und soziologischen Bereichen (Familie, Schule, Beruf, Gesellschaft) halte er für zweckmäßig. Die Phasenaufteilung gebe auch Gelegenheit, entwicklungsbiologischen Gesichtspunkten genügend Beachtung zu schenken. VII. Die Kurse für Verlobte als Präventivmaßnahme seien sicherlich eine überaus wichtige Aufgabe, denn erfahrungsgemäß würden doch alle Eltern ziemlich unvorbereitet mit ihren Erziehungsaufgaben konfrontiert. »Die Verlobtenaufklärung und -beratung sollte aber doch in erster Linie Heilpädagogen, Pfarrern, Soziologen, Familienberatungsstellen und dergleichen überlassen bleiben. Der Kinderpsychiater hat hierbei auch letztlich die Aufgabe, die Ausbilder zu schulen und ihnen seine Ansichten und Erfahrungen zu übermitteln«.
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Die verunglückte Amerikareise Hermann Stuttes Am 04. 01. 1960 beantragt Hermann Stutte beim Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung eine Beurlaubung für eine Dienstreise in die USA. Für die Mitglieder des Organisationsausschusses der International Association for Child Psychiatry (I.P.C.) finde in Vorbereitung auf den internationalen Kongress, der 1962 in Holland stattfinden solle, in Boston/USA eine Sitzung in der Zeit vom 06.–12. 02. 1960 statt. Er bittet um Beurlaubung für die Zeit vom 03. 02.–15. 03. 1960, da er den Amerikaaufenthalt auch dazu benutzen wolle, »einige Modelleinrichtungen auf dem Gebiete der Kinderpsychiatrie, der Erziehungsberatung, Sonderpädagogik, Schwachsinnigenbetreuung und dgl. kennenzulernen, gleichzeitig auch den Erfahrungsaustausch mit mehreren, mir seit längerem bekannten amerikanischen Kinderpsychiatern zu intensivieren«197. Die Reise wurde gemeinsam mit dem Präsidenten der IACP, van Krevelen, geplant und wurde vom Schatzmeister der IACP, Gerald Caplan, organisiert. Die Kosten wurden von der International Association for Child Psychiatry getragen. Vorgesehen war der Besuch von kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen in Boston, Philadelphia, Baltimore, Washington, Detroit, Dayton, Chicago, Omaha, Minneapolis und New York198. Der Flug auf der Hinreise war gemeinsam mit van Krevelen geplant und auch durchgeführt. Nach einigen gemeinsamen Aktivitäten hatte Stutte vor, nach Washington zu fahren, um dort Doz. Dr. Detlev Ploog199, Oberarzt Villingers, und in New York Dr. Hilde Mosse200 zu besuchen. Die Reise endete, nachdem die Sitzung der International Preparatory Commission (I.P.C.) abgeschlossen war, für Hermann Stutte jedoch sehr unglücklich: Während des geplanten Aufent197 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, IACP, Boston. 198 ebenda. 199 Detlev Ploog (1920–2005) studierte in Halle und Marburg Medizin, war Mitarbeiter von Werner Villinger in Marburg, von 1958–1960 Visiting Scientist am National Institute in den USA und von 1966–1989 Direktor des klinischen Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in München (s. auch Kap. 15). 200 Hilde Mosse (1892–1982) stammte aus einer angesehenen jüdischen Verlegerfamilie aus Berlin. Sie studierte in Basel Medizin und emigrierte 1938 nach New York, wo sie als Kinderund Jugendpsychiaterin arbeitete. Sie spezialisierte sich auf die Behandlung von Kindern mit Lernstörungen und war Mitbegründerin der ersten kinderpsychiatrischen Ambulanz an der Ostküste der USA (La Farge Clinic).1964 war sie vorübergehend als Fulbright Professorin an der Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Diese Beziehung hielt sie über viele Jahre aufrecht. Auf der gemeinsamen Tagung der DVJ und der Dt. Ges. für Kinderheilkunde 1954 in Essen hielt sie einen beeindruckenden Vortrag über den Einfluss der Massenmedien auf Kinder. Am 23. 02. 1976 sprach sie in der Abteilung für Psychiatrie und Neurologie des Kindes- und Jugendalters der FU Berlin auf Einladung des Verfassers dieser Chronik über »Entwicklungstendenzen der amerikanischen Kinderpsychiatrie«.
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haltes in Buffalo erkrankte er schwer an einer akuten Viruspneumonie, wurde bewusstlos in seinem Hotel aufgefunden und verbrachte dann drei Wochen im General Hospital in Buffalo, davon acht Tage in einem schweren Delir201. Die amerikanischen Kollegen, allen voran Gerald Caplan und Leo Kanner, bemühten sich rührend um seine Versorgung; auch Doz. Dr. Detlev Ploog aus Marburg, der zu dieser Zeit im National Institute of Mental Health tätig war, setzte alle Hebel in Bewegung, um weiterzuhelfen. Nachdem Hermann Stutte wieder genesen und vorzeitig aus den USA zurückgekehrt war, schreibt er am 15. 03. 1960 an Leo Kanner202 : »Es war ein etwas unvorhergesehener Verlauf meiner Studienreise durch die USA. Wie Ihnen Herr Kollege van Krevelen wohl berichtet hat, bin ich auf dem Weg zu Ihnen in Buffalo an einer zunächst harmlos erscheinenden Grippe erkrankt, die sich dann verdichtete zu einer Viruspneumonie mit einwöchigem Delir, völligem Bewusstseinsverlust und Temperaturen bis 418 bei einer Leukopenie von 3000. In bewusstlosem Zustand bin ich – vier Tage nach dem Weggang von Dr. van Krevelen – in meinem Hotel aufgefunden und dann ins General Hospital eingewiesen worden. Gottlob habe ich dort sehr fähige und verständnisvolle Ärzte gefunden, deren Behandlung mich innerhalb von 20 Tagen doch wieder leidlich reisefähig gemacht hat. Es tut mir überaus leid, dass der geplante Besuch bei Ihnen nun durch diesen Einbruch höherer Gewalt zunichte gemacht wurde, zumal mir Herr van Krevelen noch von San Francisco aus geschrieben hat, wie sehr bereichernd er den Besuch bei Ihnen empfunden hat«203. Am 05. 07. 1960 berichtet Hermann Stutte der zuständigen Ministerialrätin im Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung über seine verunglückte Amerika-Reise und darüber, welche Teile seines ursprünglichen Reiseplanes verwirklicht werden konnten204 : »Unglücklicherweise bin ich während meines Aufenthaltes in den USA an einer schweren Viruspneumonie erkrankt, so dass ich vom 21.02. bis zum 12. 03. 1960 im General Hospital in Buffalo/N.J. stationär behandelt werden musste. Dadurch ist natürlich mein ursprüngliches Studien-Programm in erheblichem Maße beschnitten worden. Die Teilnahme an der Sitzung der Preparatory Commission der International Association for Child Psychiatry vom 06.–14. 02. 1960 in Boston/Cambridge (Mass.) war mir noch möglich. Im Übrigen habe ich lediglich am 05./06. 02. 1960 (MontrealCanada) und vom 15.02. bis zum Beginn meiner Erkrankung (in Boston, Waverly, 201 Schreiben von Stutte an Prof. Thun vom 19. 03. 1960, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/ 54 IACP, Boston. 202 Brief Stutte an Kanner v. 15. 03. 1960, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP, Boston. Leo Kanner (1894–1981) war der Erstbeschreiber des frühkindlichen Autismus (auch Kanner-Syndrom genannt) und der Begründer der amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiatrie (s. auch Kap. 17). 203 ebenda. 204 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP, Boston.
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Rochester, Buffalo) kinderpsychiatrische Einrichtungen besichtigen und an Besprechungen zwecks gemeinsamen Erfahrungsaustausches mit amerikanischen Kollegen teilnehmen können«.
Der VI. Kongress der IACP 1966 in Edinburgh (Rahmenthema: »Puberty and Adolescence«) Für diesen Kongress wurde Hermann Stutte in das Vorbereitungskomitee eingeladen, einerseits vom Generalsekretär der Gesellschaft, Fred Stone205, und von der Vizepräsidentin der internationalen Fachgesellschaft, Frau Prof. Anna-Lisa Annell206. Mit Anna-Lisa Annell hatte sich bereits Jahre zuvor ein wissenschaftlicher und freundschaftlicher Austausch ergeben. Sie war gebeten worden, in Vorbereitung auf den Kongress das Subkomitee »Kurze Vorträge und Mitteilungen« zu übernehmen und bat Hermann Stutte, diesem Komitee beizutreten, was er auch zusagte. In ihrem Schreiben an ihn vom 05. 07. 1963 monierte sie die unausgewogene Zusammensetzung des Vorbereitungskomitees, z. B. drei Teilnehmer aus Frankreich und keiner aus Deutschland. Umso wichtiger wäre es, dass Hermann Stutte mitwirke. Dieser sagte auch zu, war dann allerdings aus Krankheitsgründen nicht in der Lage, an den entscheidenden Sitzungen des Subkomitees teilzunehmen. Auch war es ihm deshalb nicht möglich, die Leitung einer Arbeitsgruppe auf dem bevorstehenden Kongress in Edinburgh und den Vorsitz eines Symposiums zum Thema »Sex problems« zu übernehmen. An seiner Stelle schlug er den Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Heinrich Albrecht vor, der auf diesem Gebiet besonders ausgewiesen sei. Im Hinblick auf den VI. Kongress in Edinburgh ergab sich ein inhaltlicher und organisatorischer Schriftwechsel mit den Mitgliedern des Vorstandes der IACP, Frederic Stone (UK) und Serge Lebovici (Frankreich) und ganz besonders ausführlich mit Anna-Lisa Annell. Der VII. Kongress 1970 in Jerusalem (Rahmenthema: »The Child and His Family«) An den Vorbereitungen zu diesem Kongress, der unter der Präsidentschaft von Serge Lebovici (Paris)207 stattfand, hat sich Hermann Stutte durch schriftliche 205 Schreiben vom 19. 06. 1963, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP, VI. Kongress. Fred Stone (1921–2009) war Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Glasgow. Er gehörte zu den Pionieren der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie, hatte eine psychoanalytische Ausbildung durchlaufen und erhielt den ersten Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schottland. Er war von 1962–1966 Generalsekretär der International Association for Child Psychiatry (IACP). 206 Schreiben vom 05. 07. 1963, ebenda. 207 Serge Lebovici (1915–2000) stammte aus einer jüdischen Familie in Rumänien. Sein Vater wurde in Auschwitz ermordet. Er studierte in Paris Medizin, wurde Mitarbeiter bei Heuyer, durchlief eine psychoanalytische Ausbildung, war Professor für Kinderpsychiatrie und lange Zeit der einflussreichste Kinderpsychiater Frankreichs (s. auch Kap. 15).
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Vorschläge nur am Rande beteiligt und hat den Kongress auch nicht besucht. Im Newsletter vom Februar 1970, der vor dem Kongress (welcher in der Zeit vom 02.–07. 08. 1970 stattfand208) wird auf zwei deutschsprachige Periodika hingewiesen: die Zeitschrift »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie« und auf das »Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete«, ferner auf die Tagung der DVJ im Juni 1969 anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens und auch auf den 60. Geburtstag von Hermann Stutte im Jahre 1969 unter Hinweis auf seine Publikationsliste im Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und in den Acta Paedopsychiatrica. Auch zum VIII. Kongress der IACP in Philadelphia mit dem Rahmenthema »Children at Risk« war Hermann Stutte durch den Generalsekretär Albert Solnit (New Haven) zum Co-Vorsitzenden einer Sitzung, gemeinsam mit Michael Rutter eingeladen209. Er hat aber unter Hinweis auf Ereignisse in der Familie abgesagt und auch am VIII. Kongress der IACP nicht teilgenommen. Dies trifft auch auf die folgenden Kongresse der internationalen Fachgesellschaft zu. Maßgeblich für den Rückzug Hermann Stuttes aus dem internationalen Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren zunehmende gesundheitliche Probleme. Er hatte sich bereits in jungen Jahren, offenbar wegen eines Morbus Crohn, einer aufwändigen Darmoperation unterziehen müssen und sprach immer wieder von seinem »Stacheldrahtgeflecht« im Bauch als Operationsfolge. Er litt Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – hindurch immer wieder an Ileus- bzw. Subileus-Zuständen, die ohne Ankündigung plötzlich auftreten konnten und eine stationäre Aufnahme in der Chirurgischen Klinik erforderten. Ein derartiger Subileus-Zustand ereignete sich auch auf dem von ihm geleiteten III. Kongress der UEP, als die Kongressgesellschaft sich anschickte, eine Schiffsfahrt auf dem Rhein zu unternehmen. Er befand sich bereits auf dem Schiff und musste von dort notfallmäßig mit dem Krankenwagen in die Chirurgische Universitätsklinik nach Marburg gebracht werden, wo man diese Zustände kannte und zu beheben wusste. In späteren Jahren traten Hüftarthrosen und auch Kreislaufprobleme hinzu, so dass er auch seine Reisetätigkeit weitgehend einstellen musste. Seine schriftlichen nationalen und internationalen Kontakte litten allerdings nicht unter seinen häufigen Erkrankungen. Sobald er wieder dazu in der Lage war, schrieb er mit seiner großen, ausdrucksvollen, aber schwer leserlichen Schrift Anweisungen und vor allem Briefe, die seiner Sekretärin zur Umsetzung in Maschinenschrift überbracht wurden. Zum Diktieren auf Tonband konnte man ihn nicht bewegen. Mehrere diesbezügliche Versuche des Verfassers dieser Chronik blieben erfolglos.
208 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 IACP II, Kongress Jerusalem 1970. 209 Schreiben von A. Solnit vom 04. 02. 1974. ebenda.
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2.3.2.6 Analyse der Schriften von Hermann Stutte Gemäß dem weitgehend vollständigen Literaturverzeichnis von Rexrodt et al. (2003) hat Hermann Stutte im Zeitraum von 1934–1982 insgesamt 270 Beiträge in Zeitschriften, Sammelwerken und Handbüchern verfasst. Hinzu kommen 13 Tagungs- und Kongressberichte, 19 Laudationes und Nekrologe und eine Vielzahl von Buchbesprechungen in verschiedenen Zeitschriften. Diese Veröffentlichungen sind Zeugnis seiner starken Identifikation mit dem noch jungen Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Anteilnahme an Personen, auch aus anderen Disziplinen, die für dieses Fach bedeutsam waren. Zu vielen von ihnen bestanden jahrzehntelange freundschaftliche Beziehungen. 2.3.2.6.1 Bibliographische Analyse Projiziert man die Anzahl der Veröffentlichungen auf seine Lebensspanne und unterteilt diese in 3 Abschnitte, so ergibt sich die in Abb. 2.9 gezeigte Verteilung.
Abb. 2.9: Klassifikation der Veröffentlichungen Hermann Stuttes nach thematischen Schwerpunkten und bezogen auf drei Zeitetappen (SP=Sozialpsychiatrische Arbeiten, SPJ=Sozialpsychiatrische Arbeiten, das Jugendalter betreffend)
Danach war seine produktivste Phase im Zeitraum zwischen 1946 und 1966, was einem Lebensalter von 37–57 Jahren entspricht. Nach der thematischen Ausrichtung der Publikationen haben wir sie in zehn Kategorien eingeteilt, gemäß der Fachgebiete Neurologie (N), Psychiatrie (P), Neuropsychiatrie (NP), Sozialpsychiatrie (SP), Forensische Psychiatrie (FP), Historie (H), Psychiatrie-Historie (PH), Psychologie (Ps), Personalia (Per) und Kongressberichte (K). Dem sozialpsychiatrischen Schwerpunkt, der im Folgenden eine zentrale
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Stellung einnimmt, wurden Beiträge zugerechnet, die sich auf folgende Themenbereiche erstrecken: Erziehungsfragen/Erziehungsberatung, Psychohygiene, Heime/Heimunterbringung und Heilpädagogik sowie Dissozialität und Delinquenz. Tab. 2.7 zeigt die Häufigkeit der Publikationen, wobei nur drei fachbezogene Kategorien gebildet wurden: neurologische Arbeiten (N) (n= 26), psychiatrische, neuropsychiatrische und forensisch psychiatrische Beiträge (N + NP+ FP) (n= 124) und, zusammengefasst, sozialpsychiatrische Publikationen im Allgemeinen (SP) sowie sozialpsychiatrische Publikationen, die sich speziell auf Jugendliche beziehen (SPJ) (n= 91). Tab. 2.7: Klassifikation Publikationen von Hermann Stutte in den Jahren 1934–1982 N
P+ +NP+ +FP
SP+ +SPJ
gesamt
1934–1945
3
4
2
9
1946–1966 1967–1982
20 3
67 53
58 31
145 87
Gesamt
26
124
91
241
Wie aus der Tabelle hervorgeht, machen die sozialpsychiatrischen Arbeiten rund ein Drittel aller Publikationen aus, mit einem Häufigkeitsgipfel zwischen 1946 und 1966. 2.3.2.6.2 Inhaltliche Analyse der sozialpsychiatrischen Arbeiten Wie bereits der zuvor beschriebene Klassifikationsversuch der Arbeiten von Hermann Stutte verdeutlicht, beziehen sich seine Publikationen auf ein breites Spektrum von Themen, die sich praktisch auf das gesamte Gebiet der Kinderund Jugendpsychiatrie erstrecken, einschließlich verschiedener Nachbardisziplinen. Bemerkenswert sind auch seine historischen und fachhistorischen Arbeiten, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Vielmehr bezieht sich unsere Analyse zunächst auf die sozialpsychiatrisch ausgerichteten Publikationen, die wiederholt Gegenstand kontroverser Diskussionen waren. Die wichtigsten sind im Anhang A4 tabellarisch in Kurzform zusammengestellt und auf das jeweilige Erscheinungsjahr bezogen. Die unter der Jahreszahl vermerkte Ziffer bezieht sich auf die Nummerierung im vollständigen Literaturverzeichnis, das im Anhang wiedergegeben ist. Wenn man von der Habilitationsschrift und den daraus resultierenden Publikationen absieht, worauf später noch eingegangen wird, überwiegen zu Beginn seiner Publikationstätigkeit neurologische Themen. Unter den bis Ende 1948 veröffentlichten 16 Arbeiten befassen sich sieben mit neurologischen
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Themen, gefolgt von sozialpsychiatrischen Arbeiten (fünf von 16) und rein psychiatrischen bzw. forensisch- psychiatrischen Arbeiten (vier von 16). Die erste Arbeit, die sich in den sozialpsychiatrischen Themenkreis einordnen lässt, ist die Veröffentlichung »Verwahrlosung durch Krankheit« (1941/42). Auch diese Arbeit hat noch einen stark neurologischen Akzent, wenn man die geschilderten Krankheitsbilder in Betracht zieht. Fußend auf Vorarbeiten von Schröder (1931)210, Gregor (1939)211 und Villinger (1927), diskutiert der Verfasser anhand verschiedener Krankheitsbilder den im Titel der Arbeit ausgedrückten Zusammenhang. Als Verwahrlosung werden dabei »gewohnheitsmäßige, sozial abwegige Verhaltensweisen im Jugendalter verstanden, die sowohl durch eine abnorme Charakterentwicklung bedingt, als auch auf dem Boden ungünstiger Umweltverhältnisse gewachsen sein können« (S. 178). Was die Häufigkeit krankheitsbedingter Verwahrlosungserscheinungen betrifft, zitiert Stutte eine Studie von Gregor-Voigtländer (1918)212 an 100 männlichen und 100 weiblichen Anstalts- Fürsorgezöglingen, in der bei 13 % der männlichen und 5 % der weiblichen Probanden ein Zusammenhang zwischen einem psychischen oder körperlichen Geschehen und Verwahrlosungserscheinungen hergestellt werden konnte. Als Krankheitsbilder, die eine Verwahrlosung determinieren können, werden genannt: schizophrene Erkrankungen, die Manie, postenzephalitische Wesensänderungen, die juvenile Paralyse als mögliche Folge einer angeborenen Lues, Wesensveränderungen im Rahmen einer Epilepsie, angeborene oder erworbene Dauerschädigungen des Gehirns und hormonelle Dysfunktionen. Einschränkend weist der Verfasser darauf hin, dass eine »reinliche Scheidung 210 Paul Schröder (1873–1941) studierte in Berlin und Graz Medizin, habilitierte sich 1905 in Breslau, war von 1912–1925 o. Professor für Psychiatrie in Greifswald und von 1925–1938 Ordinarius in Leipzig. In der NS-Zeit war er Richter am Erbgesundheitsgericht, gehörte der DNVP und dem Stahlhelm an. Er war der erste Vorsitzende der im Jahr 1940 in Wien gegründeten Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Heilpädagogik. 211 Adalbert Gregor (1878–1971) studierte in Innsbruck und Wien Medizin und wurde, nach einigen Zwischenstationen, 1922 Leiter der Badischen Fürsorgeerziehungsanstalt Schloß Flehingen. Er war ein Anhänger der Eugenik und vertrat die Ansicht, dass Verwahrlosung überwiegend genetisch verursacht sei. Erziehungsunfähige sollten seiner Ansicht nach in Verwahranstalten untergebracht werden. 1930 wurde er Vorstandsmitglied des AFET. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er von 1948 bis zu seiner Pensionierung Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch (Wikipedia, 10. 07. 2017). 212 Else Voigtländer (1882–1946) studierte ab 1905 in München bei Theodor Lipps (1851–1944) und Alexander Pfänder (1870–1941) Psychologie und Philosophie, promovierte 1910 zum Dr. phil. und wurde 1912 außerordentliches Mitglied der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (BPV). Es war ihr ein besonderes Anliegen, psychoanalytische Konzepte in der Fürsorgeerziehung anzuwenden. Als Mitarbeiterin des Psychiaters Albert Gregor untersuchte sie mit ihm gemeinsam Charakter- und Temperamentseigenschaften verwahrloster Mädchen. Während der NS-Zeit war sie Direktorin des Frauenzuchthauses Waldheim in Sachsen (Psychoanalytikerinnen, Biografisches, www.psychoanalytikerinnen.de).
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der Kausalitätsverhältnisse«(S. 204) oft unmöglich ist. Stutte vermerkt im Hinblick auf die begrenzte erzieherische Beeinflussung der geschilderten und kasuistisch belegten Zustandsbilder auch, »dass eine Krankheit als Ursache der Verwahrlosung die erzieherische Betreuung durch die Einrichtungen der Jugendhilfe keineswegs auszuschließen braucht » (S. 205), was durch manche der geschilderten Fälle bewiesen sei. Auch sollten die beruflichen Möglichkeiten solcher Jugendlicher »möglichst bald von ärztlicher Seite erwogen werden« (S. 205). Beurteilung: Die kasuistisch unterfütterten Thesen zum Zusammenhang zwischen Verwahrlosung und Krankheit bewegen sich im Horizont der damaligen Zeitströmung, was auch durch die bis in das Jahr 1918 zurückgehende Literatur belegt wird. Etliche der beschriebenen Krankheitsbilder sind heute nicht mehr zu beobachten. Auf die Begrenztheit erzieherischer Maßnahmen wird hingewiesen, sie werden andererseits aber, einschließlich beruflicher Förderung, gutgeheißen. (1) Unerziehbarkeit, sogenannte Unerziehbarkeit, Schwererziehbarkeit Hintergrund: Seit den 1920er Jahren beschäftigten sich Ärzte, Pädagogen und Psychologen, eigentlich alle Berufsgruppen, die mit Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu tun hatten, nicht nur mit den Möglichkeiten der Erziehung, sondern auch mit deren Grenzen. Die äußerste Grenze war die Unerziehbarkeit. Diese in der Weimarer Republik heftig geführte Diskussion wurde nicht nur während der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch nach dem Kriege bis in die 1950er Jahre in verschiedenen Fachgremien, z. B. auch im AFET, fortgeführt213. In der 1951 veröffentlichten Arbeit »Unerziehbarkeit und sogenannte Unerziehbarkeit« (41) beschäftigt sich Stutte mit dieser Problematik und formuliert dort auch eine Definition der Unerziehbarkeit, im Vergleich zu der sogenannten Unerziehbarkeit. Zwischen beiden bestehe jedoch kein kategorialer, sondern ein 213 In der AFET-Sonderveröffentlichung (2010) »Zeitgenössische Positionen des AFET – Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag e.V. (bis 1971) und seiner Nachfolger«, die sich mit der Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre beschäftigt, führen Mangold und Schrapper u. a. Folgendes aus: »Da die Verwahrlosung der vagabundierenden Jugendlichen in der Nachkriegszeit ein solches Ausmaß angenommen hatte, dass sie mit den Mitteln der Fürsorgeerziehung pädagogisch nicht mehr erfassbar war, suchte man nach Möglichkeiten, diese Jugendlichen und Heranwachsenden anderweitig zu bewahren und mittels Arbeitserziehung wieder in die gesellschaftliche Ordnung zu integrieren. Fraglich war nur, auf welcher Grundlage die Bewahrung und Arbeitserziehung der Jugendlichen erfolgen sollte. Daher entstand – auch beim AFET – die Forderung nach Verabschiedung eines Bewahrungs- und Arbeitserziehungsgesetzes, dessen Grundlage bereits auf Bemühungen für ein Bewahrungsgesetz 1920–1933 zurückging«. Zur Vorgeschichte wird in diesem Zusammenhang verwiesen auf eine Veröffentlichung von Willing (2003) über »Das Bewahrungsgesetz (1918–1967)«, Verlag Mohr und Siebeck, Tübingen.
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quantitativer Unterschied. Dabei reduziert er die Erziehungsunfähigkeit auf das Fehlen eines Zustandes »hinlänglicher sozialer Brauchbarkeit« (S. 1). Die sogenannte Unerziehbarkeit wird im Wesentlichen auf eine Reihe von Krankheiten zurückgeführt, die die erzieherische Beeinflussbarkeit einschränken. Andererseits verweist er aber auch auf verschiedene Behandlungsmaßnahmen bei der sogenannten Unerziehbarkeit und fordert eine vermehrte Durchdringung der Sozialpädagogik mit modernen soziologischen und psychologischen Erkenntnissen. In der 1956 veröffentlichten Arbeit über eine Nachuntersuchung »sogenannter unerziehbare Fürsorgezöglinge« (62) weist er darauf hin, dass die pädagogische Unbeeinflussbarkeit mehrdimensionale Ursachen habe und dass nur selten genetische Faktoren am Zustandekommen der Schwererziehbarkeit beteiligt seien. Die Diskussion dieser Thematik wird fortgesetzt in der 1958 erschienen Schrift über die »Grenzen der Sozialpädagogik« (76) mit Horst Pfeiffer. In dieser 176 Probanden umfassenden Studie wird für die schwersterziehbaren Jugendlichen, wegen der überwiegend konstitutionellen Veranlagung ihres Verhaltens, eine »vorwiegend bewahrende Betreuung« in noch zu schaffenden pädagogisch orientierten Sondereinrichtungen gefordert. Dieser Gedanke wird fortgeführt in einem Beitrag zum 70. Geburtstag von Professor Villinger (82). Ab den 1960er Jahren treten in den Schriften Stuttes andere Gesichtspunkte und Themen in den Vordergrund, die Unerziehbarkeit und sogenannte Unerziehbarkeit werden nur noch am Rande thematisiert, was aber nicht auf die Schwererziehbarkeit zutrifft. Zu dieser Thematik fanden auch mehrere jugendpsychiatrische Tagungen, gemeinsam mit dem Landschaftsverband Rheinland, statt. Im Jahr 1965 betont Stutte in einem Beitrag über »Soziale Aufgaben der Kinder- und Jugendpsychiatrie« (152) die Notwendigkeit der Mitarbeit des Kinder- und Jugendpsychiaters bei behinderten, erziehungsschwierigen, verwahrlosten und kriminellen Jugendlichen, wobei er die zentrale Stellung der Erziehungsberatung heraushebt. Schließlich führt er in einem Beitrag zum »Anachronismus der heutigen Jugendhilfe« 1969 (190) aus : »Die statische, konstitutionstypologische, erbbiologisch-charakterologische Betrachtungsweise von ehedem ist abgelöst worden von einer mehrdimensional-kausalen Sicht, die die anlagemäßigen und konstitutionellen Dispositionen ebenso berücksichtigt wie die erlebnismäßig biografisch verstehbaren Determinanten der psychischen Entwicklung« (S. 6). Fazit: Bis in die 1960er Jahre finden sich in den Schriften Stuttes die Begriffe Unerziehbarkeit, sogenannte Unerziehbarkeit und zuletzt Schwererziehbarkeit. Diese Terminologie ist Ausdruck von Zeitströmungen, die von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit reichten und kein Spezifikum der Kinder- und Jugendpsychiater waren, sondern
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ebenso von Pädagogen, Psychologen und Mitarbeitern der Jugendhilfe vertreten wurden. Von den während der Zeit des Nationalsozialismus eingerichteten Jugendschutzlagern hatte Stutte sich schon 1948 (13) distanziert, wenn er ausführt, die im Dritten Reich gefürchteten Jugendschutzlager können »vor allem wegen ihrer inhumanen Behandlungsmethoden nicht infrage kommen« (S. 414). (2) Geistige und körperliche Behinderungen Arbeiten zu diesem Themenbereich nehmen in den Schriften Hermann Stuttes einen großen Raum ein. Hier spielt seine maßgebliche Mitwirkung bei der Gründung der »Lebenshilfe« eine herausragende Rolle (vgl. Kap. 6). Seine Arbeiten zu diesem Themenkreis setzen aber bereits deutlich vor der Gründung der Lebenshilfe (1958) ein. Im Zusammenhang mit Intelligenzminderungen beschäftigte ihn sowohl die Prävention als auch die Beschulungsfrage. Es ging zum Beispiel um die Beurteilung der »Hilfsschulbedürftigkeit« (1954) (45 und 46), die als gemeinsame Aufgabe von Pädagogen, Psychologen und Ärzten gesehen wurde. Stutte plädiert in diesem Zusammenhang für die Einrichtung von Sonderklassen, in denen man allerdings den »Makel der Abartigkeit« vermeiden müsse. Auf keinen Fall dürfe man diese Klassen »Psychopathen-Klassen«214 nennen. Das Engagement für geistig behinderte Kinder und ihre Familien zeigt sich nicht nur in seinen Publikationen, sondern auch in seiner aktiven Mitwirkung in der Lebenshilfe und vor allem auch in seiner Sprechstunde (vgl. Kap. 2.3.2.8). Für die Lebenshilfe hat er, gemeinsam mit Tom Mutters, die erste Satzung entworfen und die Aufgaben des wissenschaftlichen Beirats formuliert (1960) (91). (3) Erbbiologische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen Die von Hermann Stutte im Jahr 1943 in Tübingen eingereichte und in Gießen begonnene Habilitationsschrift hatte den Titel: »Über Schicksal, Persönlichkeit 214 Unter der Bezeichnung »Psychopathie« wurden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Kinder und Jugendliche zusammengefasst, die als geistig, psychisch und/oder in ihrem Sozialverhalten abnorm angesehen wurden. »In Berlin bestand ein sehr dichtes Netz spezifischer Institutionen für psychopathische Kinder und Jugendliche. Das Spektrum der Hilfs- und Betreuungsmöglichkeiten reichte von eher sehr offenen Einrichtungen und Angeboten für Psychopathen, etwa die Abhaltung von Sonderhortstunden seitens des ›Deutschen Vereins zur Fürsorge jugendlicher Psychopathen e.V.‹ über das Betreuungsangebot durch Fürsorger und Fürsorgerinnen sowie Psychiater der Bezirksjugendämter bis hin zu einer stationären Aufnahme in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charit8«. […] Die Jugendämter der Bezirke hatten bereits 1923 Beratungsstellen eingerichtet, die für die Fürsorge auffälliger Kinder und Jugendlicher zuständig waren. Diese Stellen nannten sich Psychopathenfürsorgestellen oder Abteilungen für Heilerziehung« (Kölch, 2002, S. 172). Vielfach wurden diese psychisch auffälligen, intelligenzgeminderten und verhaltensgestörten Kinder und Jugendlichen in sog. Psychopathenklassen zusammengefasst und beschult.
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und Sippe ehemaliger Fürsorgezöglinge. Beitrag zum Problem der sozialen Prognose«. Die Habilitationsschrift wurde nicht gedruckt und gilt als verschollen215. Stutte hat aber später in mehreren Arbeiten deren Inhalt dargestellt. Entsprechend der damals weit verbreiteten eugenischen Bewegung ging es in der Habilitationsschrift um die Frage nach dem »sozialen Ausgang einer auslesefrei gewonnenen Gruppe verwahrloster Minderjähriger«. Der Verfasser unternahm den Versuch, »objektive Kriterien« für die Beurteilung des Lebenserfolges dieser Klientel zu entwickeln. Methodisch gesehen fußte seine Studie auf persönlichen Untersuchungen der Probanden und ihrer Angehörigen, auf Aktenerhebungen, Strafregisterauszügen sowie anderen schriftlichen Aufzeichnungen, derer er habhaft werden konnte. In seiner Autobiografie (S. 406) betont Stutte, dass ihn das Thema seiner Habilitationsschrift, »die Lebenslängsschnittuntersuchung an verwahrlosten und dissozialen Jugendlichen zeitlebens« nicht losgelassen habe. Zu den wesentlichen Ergebnissen äußert er sich in seiner Autobiografie wie folgt: »Abgesehen von der Korrigierung mancher Vorurteile über den« Erfolg« der Fürsorgeerziehung (56 % der Probanden hatten nach im Mittel von 36,5 Jahren eine sozial positive oder befriedigende Entwicklung eingeschlagen und nur bei 20 % war der« Lebenserfolg« eindeutig negativ), war es mein Anliegen, möglichst den ganzen Lebensraum der Probanden und ihrer Familien zu erfassen und objektive Kriterien zu entwickeln für die Beurteilung der sozialen Entwicklung dissozialer Minderjähriger überhaupt« (S. 400).
Über den Inhalt der Habilitationsschrift, die ja verschollen ist, ist folglich nur aus den vorhandenen Gutachten etwas zu erfahren. Über die Begutachtung durch den Habilitations-Vater und Direktor der Tübinger Nervenklinik, Professor Hermann Hoffmann sowie durch den Korreferenten, Professor Wilhelm Gieseler, haben Castell et al. (2003) ausführlich berichtet, worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll. Nur so viel sei festgestellt: Beide Referenten betonen die »anlagemäßige, ererbte Persönlichkeitsstruktur« (Hoffmann, zitiert nach Castell et al. 2003) und die weitgehende Identität zwischen Erbprognose und Sozialprognose. Hoffmann wies in seinem Gutachten auf die positive Bewertung der Arbeit durch Ernst Rüdin (1874–1952) hin, der damals der führende Eugeniker und Rassenhygieniker sowie Mitbegründer der Gesellschaft für Rassenhygiene war. Die Ergebnisse der zahlreichen Publikationen Stuttes zu Fragen der Erb-
215 Der Arbeitskreis von Rolf Castell (Rexroth et al, 2003) hat sich erfolglos bemüht, ein Exemplar der Habilitationsschrift aufzufinden, ist allen nur denkbaren Spuren (Gutachten, Archivmaterialien, Schriftwechsel etc.) nachgegangen und hat die Recherchen hierzu ausführlich dokumentiert.
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lichkeit, die von seiner Habilitationsschrift ausgingen, aber auch spätere Untersuchungen berücksichtigten, lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Noch im Jahr 1948 vertritt er die These, wonach Verwahranstalten für nicht förderungsfähige oder antisoziale Jugendliche eingerichtet werden sollen (16). Die Sozialprognose enthalte weitgehend auch die Erbprognose. – 1949 referiert er erneut die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift unter Beschreibung der erbbiologisch orientierten Erfolgskriterien (21). – 1950 (26) betont er den Beratungsbedarf ehemaliger Fürsorgezöglinge im Hinblick auf die Wahl der Ehepartner. Auch hier stehen noch erbbiologische Gesichtspunkte im Hintergrund. – 1956 (62) weist er in einer weiteren Nachuntersuchung der »sogenannten unerziehbaren Fürsorgezöglinge« darauf hin, dass nur selten genetische Faktoren am Zustandekommen der Schwererziehbarkeit beteiligt seien. Ab 1958 wendet sich Stutte unter dem Einfluss der Lebenshilfegründung vermehrt der Diagnostik, Therapie und Versorgung geistig Behinderter zu und distanziert sich von einer Überbetonung der Erblichkeit (1962; 118). Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch die Tötung behinderter Kinder im Nationalsozialismus und verweist auf eine dadurch begründete Misstrauenshaltung in der Bevölkerung gegenüber behördlichen Erfassungsmaßnahmen. Ab den 1960er Jahren dominieren die »zeitgemäßen sozialen Aufgaben der Kinder- und Jugendpsychiatrie« (1965,152) und der interdisziplinäre Ansatz unter Berücksichtigung der Pädiatrie, der Heilpädagogik und der Psychologie (1963,122), ohne jedoch die Kompetenzkonflikte zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und den genannten Disziplinen außer Acht zu lassen (1967,169; 1967,173). 2.3.2.6.3 Inhaltliche Analyse der Arbeiten zu anderen Themenbereichen Die sozialpsychiatrischen Arbeiten Hermann Stuttes wurden hier vor allem deshalb so ausführlich referiert, weil sie wiederholt Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen waren. Seine Veröffentlichungen zu anderen Themenbereichen haben vermutlich mehr Gewicht und erstrecken sich auf das gesamte Spektrum des zur Amtszeit von Hermann Stutte noch sehr jungen Fachgebietes der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dem erst 1968 der Status einer eigenen Facharztdisziplin zuerkannt wurde (vgl. Kap 8). In diesen Bereich gehört auch die Dissertation Hermann Stuttes (1934) zum Thema »Experimentelle Untersuchungen über Simulation von Zittern der Finger« (Med. Fakultät Gießen), die er unter Anleitung von Geheimrat Prof. Som-
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mer216 anfertigte. Dabei wandte er einen von Sommer entwickelten Apparat an, der eine dreidimensionale Erfassung von Fingerbewegungen ermöglichte. Eine zentrale Rolle unter den nicht sozialpsychiatrischen Arbeiten spielt dabei der 1960 erschienene und 135 Seiten umfassende Handbuchartikel, in dem Stutte das gesamte Gebiet der Kinder und Jugendpsychiatrie nach Maßgabe des damals existierenden Kenntnisstandes abhandelt217. Nach einem geschichtlichen Abriss und einigen Ausführungen zur Nosologie teilt Hermann Stutte die kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbilder in vier Gruppen ein: (1) Reaktive psychische Störungen, zu denen er organneurotische Störungen und psychoneurotische Verhaltensstörungen rechnet. (2) Reifungspathologisch bedingte psychische Störungen. Zu ihnen gehören Hemmungen der Reifung, Verfrühungen der Reifung, aber auch Sprachentwicklungsstörungen und Schulreifeprobleme. (3) Konstitutionell bedingte psychische Störungen, die vier Störungsgruppen umfassen: die Neuropathie, die Psychopathie, die kindliche Hysterie und die endogenen Psychosen. (4) Somatogene psychische Störungen, die eine Vielzahl von psychischen Störungen beinhalten, welche auf eine somatische Ursache zurückzuführen sind. Das Spektrum reicht dabei von angeborenen Fehlbildungen über heredodegenerative Erkrankungen (z. B. Tuberöse Sklerose, Chorea Huntington), idiopathische Demenzprozesse, entzündliche Erkrankungen des ZNS bis zu Hirntumoren und traumatischen Schädigungen des Gehirns. Diese Einteilung der psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters wurde im ersten umfassenden Lehrbuch der Nachkriegszeit von Harbauer, Lempp, Nissen und Strunk (1970) in Teilen übernommen. In einem fünften Kapitel werden die Aufgaben der forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie abgehandelt und das abschließende sechste Kapitel konzentriert sich auf therapeutische Maßnahmen, wobei, neben der Prävention sowie heilpädagogischen und psychotherapeutischen Maßnahmen, auch die Pharmakotherapie sowie die Elektrokrampf- und Insulinbehandlung abgehandelt werden. Neuere chirurgische Behandlungsmethoden, Bewegungs-, Übungsund Beschäftigungstherapie werden nicht genauer beschrieben, sondern lediglich erwähnt. Der umfassende Handbuchartikel vertritt eine ausgeprägte somatisch-neurologische Sichtweise und stellt gleichsam ein Kontrastprogramm zu den weitgehend parallel erschienenen sozialpsychiatrisch orientierten Publikationen 216 Robert Sommer (1864–1937) war Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Gießen. Er prägte den Begriff Psychohygiene und begründete den Deutschen Verband für Psychohygiene und die Gesellschaft für experimentelle Psychologie (s. auch Kap. 17) (Wikipedia, 01. 07. 2017). 217 Stutte H (1960). Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Gruhle HW, Jung R, Mayer-Gross W, Müller M (Hrsg). Psychiatrie der Gegenwart, Bd. II, 952–1087, Springer, Berlin-Heidelberg.
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dar. Letztere werden nur im Kapitel 5 über die forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie am Rande erwähnt im Hinblick auf das Problem der sozialen Prognose, das nicht nur für die forensische Jugendpsychiatrie und Sozialpädagogik von Bedeutung sei, sondern für die Anthropologie überhaupt (S. 1072)218. Die originären Leistungen und Publikationen Hermann Stuttes und seiner Mitarbeiter, die nicht in den engeren sozialpsychiatrischen Bereich gehören, sind originell und vielfältig. Nach der Darstellung in seiner Autobiografie (vgl.Stutte,1977) erstrecken sich diese auf folgende Schwerpunkte: (1) Geschichtliche Recherchen zu den Ursprüngen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kontext der Nachbarfächer Physiologie, Entwicklungspsychologie, Pädagogik, insbesondere Heil- und Sozialpädagogik (30, 34, 71, 76, 85, 121, 173, 244, 249, 253, 267) (2) Reifungsbiologische Untersuchungen zu Wachstum und Entwicklung von Schulkindern und Heranwachsenden (20, 25, 32, 39, 43, 52, 116, 120). In der Nachkriegszeit war die Akzeleration ein vieldiskutiertes Phänomen, das auch für die Entstehung von sogenannten Reifungskrisen verantwortlich gemacht wurde. Dabei ging es nicht nur um somatischen Reifungsabläufe, sondern auch um das Problem der psychischen und sozialen Reife219. Stutte erwähnt in diesem Zusammenhang auch eine eigene Studie zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters, in der es u. a. um die psychische Reife ging220. Diese Untersuchung im Auftrag des AFET ging der Frage nach, ob die von der damaligen Bundesregierung geplante und später auch durchgeführte Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von 21 auf 18 Jahre im Reifezustand der betreffenden Heranwachsenden eine Entsprechung findet. In ersten Stellungnahmen hatten sich der AFET und der Bundesrat im Jahr 1973 dagegen ausgesprochen. Befragt wurden 919 Jugendliche mit einem Instrument, das u. a. Fragen zur Geschäftsfähigkeit und zur Straf- und Ehemündigkeit enthielt. Neben der zusätzlichen Erfassung persönlicher Daten wurde auch das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) angewandt. Als Resultat ergab sich bei den 17- bis 18-Jährigen ein gemischtes Bild, das sich als Mixtur von Emanzipationsbestreben und Insuffizienzgefühlen kennzeichnen ließ, wobei die Ergebnisse des Persönlichkeitstests zeigten, dass jene Jugendlichen, die am meisten zu Unsi218 Eine besondere Bewertung erfuhr Stuttes Handbuchartikel durch Jakob Lutz, der im Vorwort zur 1. Auflage seines Lehrbuches (1961) ausführt: »Ich halte H. Stuttes Abschnitt über Kinder- und Jugendpsychiatrie in »Psychiatrie der Gegenwart« Bd. II für die z. Z. vollständigste Darstellung, wenn sie noch ergänzt wird in Bezug auf Schwachsinn und Krampfleiden« (Lutz J (1961). Kinderpsychiatrie. Rotapfel, Zürich, S. 11). 219 Vgl. Thomae H (1973). Das Problem der »sozialen Reife« von 14- bis 20-jährigen. Eine kritische Literaturanalyse. Wiss. Informationsschriften des AFET, Hannover, H. 6, hrsg. von H. Stutte. 220 Stutte H, Remschmidt H (1973). Die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters im Urteil der Betroffenen. AFET, Hannover.
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cherheit, Irritierbarkeit, Depressionszuständen und Gehemmtheit neigten, die stärksten Befürworter der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters waren. Dies wurde von den Autoren dahingehend interpretiert, dass sich diese Jugendlichen durch die Maßnahme mehr Stabilität, Selbstbewusstsein und persönliche Aufwertung erhofften. (3) Katamnestische Untersuchungen an einer Vielzahl von Störungsmustern, deren Verlauf weitgehend unerforscht war, zum Beispiel Geburtsasphyxie, Erythroblastose, Chorea Huntington, Verbrennungsschäden etc. (113, 177, 206, 211, 246). (4) Objektivierung frühkindlicher Enzephalopathien im Zusammenhang mit der in den 1960er und 1970er Jahren international geführten Diskussion um die frühkindliche Hirnschädigung, ein Syndrom, das unter verschiedenen Bezeichnungen (MCD, MBD, hirnorganisches Achsensyndrom etc.) firmierte und sich heute in abgewandelter Form als ADHS wieder findet (vgl. Kap.8). Im Kontext mit der MCD-Diskussion stellte sich auch die Frage nach »Charakteropathien« (101, 114, 208, 209), deren Ursache in einer Hirnschädigung gesucht wurde. Auch über die motorischen Auswirkungen von Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen wurde intensiv im Rahmen von DFG-Projekten geforscht. In diesen Zusammenhang gehören insbesondere die Untersuchungen von K.-H. Wewetzer (1959)221 und die Studien zur Motologie von F. Schilling222 sowie die umfangreichen Untersuchungen im Rahmen des SFB 122 der DFG »Adaptation und Rehabilitation«, deren wesentliche Ergebnisse in einer Monographie zusammengefasst sind223. Aus diesen Untersuchungen gingen nicht nur eine Reihe von Testverfahren hervor, sondern auch ein eigener Studiengang »Motologie«, dessen Initiator Friedhelm Schilling224 im Institut für Ärztlichpädagogische Jugendhilfe seine entscheidende Prägung erfuhr. (5) Ein weiterer Schwerpunkt der Klinik, der unter maßgeblicher Beteiligung 221 Wewetzer KH (1959). Das hirngeschädigte Kind. Psychologie und Diagnostik. Thieme, Stuttgart. 222 Schilling F (1973). Motodiagnostik des Kindesalters. Marhold, Berlin; Kiphard EJ, Schilling F (1974). Der Körperkoordinationstest für Kinder (KTK), Beltz, Weinheim; Schilling F (1977). Diagnose und Therapie motorischer Störungen bei Kindern mit minimaler cerebraler Dysfunktion. Psychomotorik 2, 47–56. 223 Remschmidt H, Stutte H (1980). Neuropsychiatrische Folgen von Schädel-Hirn-Traumen bei Kindern und Jugendlichen. Huber, Bern und Stuttgart. 224 Friedhelm Schilling (geb. 1936) war zwischen 1964 und 1976 unter Leitung von Hermann Stutte wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe der Philipps-Universität Marburg und dort in verschiedenen Forschungsprojekten tätig, die sich mit der Entstehung der Händigkeit und der Entwicklung der Motorik beschäftigten. 1977 wurde er auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie des Sports und Bewegungstherapie berufen. 1983 begründete er den Diplom-Aufbaustudiengang Motologie an der PhilippsUniversität. Die Studierenden der Motologie besuchten regelmäßig die kinder- und jugendpsychiatrischen Lehrveranstaltungen.
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von Hermann Stutte zustandekam, waren Untersuchungen zu sogenannten Teilleistungsstörungen oder, in der Terminologie der ICD, »umschriebenen Entwicklungsstörungen«. Auf diesem Sektor hat sich insbesondere Curt Weinschenk225 mit seinen Publikationen zur kongenitalen Legasthenie und zu den Rechenstörungen hervorgetan. Er hatte frühzeitig erkannt, dass die Legasthenie einen ausgeprägten genetischen Hintergrund hat und wurde zeitweise nicht ernstgenommen, da in der Kollegenschaft überwiegend die Meinung herrschte, die Legasthenie sei durch Umwelteinflüsse hervorgerufen. Spätere Untersuchungen haben seine These eindrucksvoll bestätigt. (6) Einen besonderen Stellenwert in den Schriften Hermann Stuttes nehmen die Psychosen des Kindesalters ein. Dies gilt sowohl für die schizophrenen Psychosen als auch für die zirkulären Psychosen und nicht zuletzt auch für die symptomatischen Psychosen. Über die Prognose der Schizophrenie im Kindesund Jugendalter hatte er auf dem II. Internationalen Kongress für Psychiatrie 1957 ausführlich berichtet und später auch mehrere Arbeiten verfasst. Unter ihnen kommt dem Beitrag »Psychosen im Kindesalter« im Handbuch der Kinderheilkunde eine besondere Bedeutung zu. Er unterscheidet dabei endogene (überwiegend anlage- bzw. erbbedingte Psychosen) von exogenen (somatisch begründeten) Psychosen und psychogenen Psychosen (die auf psychische Traumata zurückzuführen sind). Schließlich erwähnt er aber auch noch entwicklungsphasisch determinierte und konstitutionelle Abartigkeiten der kindlichen Persönlichkeit, die phänomenologisch den Psychosen zwar ähneln, aber nicht Psychosen im eigentlichen Sinne darstellen. Sie sind vor allem differenzialdiagnostisch von Bedeutung. Zu den endogenen Psychosen rechnete er einerseits die Schizophrenie, zum anderen die endogen-phasischen Psychosen. Unter psychogenen (erlebnisreaktiv entstandenen) Psychosen versteht er hysterisch-abulische Zustände sowie kindliche Phobien und gelegentlich Zwangsphänomene mit besonderer Ausprägung (Stutte 1969,195). (7) Sehr ausführlich widmete sich Stutte der klinischen, psychischen und sozialen Entwicklung von Kindern, die aufgrund eines fokalen, nicht beherrschbaren Anfallsleidens oder einer angeborenen Zerebralparese hemisphärektomiert worden waren (124, 155, 206). Diesbezüglich ergab sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Gießener Neurochirurgen Hans-Werner Pia 225 Curt Weinschenk (1905–1990), studierter Philosoph und Psychologe, war viele Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität tätig. Er ist als origineller Wissenschaftler hervorgetreten, der sich besondere Verdienste um die Erforschung der Legasthenie und der Rechenstörungen erworben hat. Die Titel seiner wichtigsten Bücher zu diesem Themenkreis lauten: »Die erbliche Lese-Rechtschreibschwäche und ihre sozialpsychiatrischen Auswirkungen« (19652), Huber, Bern-Stuttgart und »Rechenstörungen. Ihre Diagnostik und Therapie« (1970), Huber, Bern-Stuttgart.
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(1921–1986)226. Voraussetzung für die Operation war, dass die andere Hemisphäre nicht geschädigt war. Nach Durchführung der Hemisphärektomie zwischen dem vierten und achten Lebensjahr (noch vorhandene Plastizität des Gehirns) wiesen die Kinder, trotz der Hemiparese, beachtliche kognitive Leistungen auf und konnten sich relativ gut weiterentwickeln. Für die postoperative Rehabilitation sei eine heilpädagogische Behandlung von großer Bedeutung. Sie könne im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu erstaunlichen Fortschritten führen, die man vor 30 Jahren nicht für möglich gehalten hätte. (8) Einen großen Raum im Werk von Hermann Stutte nehmen Arbeiten zur forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie ein. Die Tätigkeit auf diesem Gebiet beruhte zunächst auf einem originären Interesse Hermann Stuttes für dissoziales und delinquentes Verhalten (vgl. sozialpsychiatrische Arbeiten), wurde aber in besonderer Weise gefördert, als er nach dem Tod von Hans Walter Gruhle (1880–1958)227 Mitherausgeber der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform wurde. Er hatte diese Funktion bis 1992 inne. Sein Nachfolger (ab 1983) wurde auch hier Helmut Remschmidt. Auf diesem Sektor hat er zahlreiche kasuistische und programmatische Arbeiten veröffentlicht. Die kasuistischen erstreckten sich u. a. auf folgende Themen.: »Brandstiftung als Zwangsphänomen (6), Delikte in Blutzuckermangelzuständen (7), pubertäre Gewaltverbrechen (53), körperliche Selbstwertkonflikte als Verbrechensursache bei Jugendlichen (69), psychopathologische Bedingungen jugendlicher Delikte, insbesondere jugendlicher Gewalt- und Sexualverbrechen« (Stutte, 1977, Autobiografie). Die programmatischen Arbeiten bezogen sich auf Beiträge zu gesetzlichen Bestimmungen bzw. zu Gesetzesreformen. Unter ihnen zu erwähnen sind Beiträge zur Deliktfähigkeit i. S. des § 828 BGB (33), zur Verantwortungsreife Minderjähriger gemäß § 3 und § 105 JGG (43) und zu den Indikationen und Möglichkeiten einer heilerzieherischen Behandlung gemäß §10/ II JGG (55). Im Hinblick auf die Reifebeurteilung nach § 105 JGG spielen bis heute die »Marburger Richtlinien«, die mehrfach evaluiert wurden, als Orientierungsmaßstab eine 226 Hans-Werner Pia war Direktor der Neurochirurgischen Universitätsklinik in Gießen. Er war Schüler des renommierten Neurochirurgen Wilhelm Tönnis (1898–1978) in Köln. Er leitete die 1953 eingerichtete Abteilung zunächst als a.o. Professor und ab 1962 als ordentlicher Professor die nunmehr selbständig gewordene Klinik. Zwischen Hermann Stutte und Hans-Werner Pia entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit im Hinblick auf neurologische Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Bis etwa 1980 hatte die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Station mit 20 Betten, auf der bis zur Hälfte Patienten mit neurologischen Erkrankungen aufgenommen wurden. 227 Hans-Werner Gruhle studierte in Leipzig Medizin und Psychologie und erhielt 1904 seine Approbation. Er wurde 1905 Mitarbeiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Der nationalsozialistischen Einflussnahme an der Heidelberger Klinik wich er durch die Übernahme der Leitung psychiatrischer Anstalten aus, zuletzt der Anstalt Weißenau 1940. 1946 wurde er auf den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Bonn berufen. Er war langjähriger Herausgeber der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform.
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besondere Rolle. In den Bereich der forensischen Psychiatrie gehören auch die Arbeiten Hermann Stuttes zu Kindesmisshandlung. Diesbezüglich hat er ganz besonders den Tatbestand der »seelischen Kindesmisshandlung« herausgearbeitet, der in den 1960er und 1970er Jahren noch wenig beachtet wurde (189, 214). (9) Eine originäre Leistung Hermann Stuttes ist die Beschreibung einer besonderen Konfliktstruktur, der er den Namen »Thersites-Komplex« gab. Thersites ist eine missgebildete und verachtete Gestalt aus der Ilias. Beim ThersitesKomplex handelt sich um Selbstwertkonflikte aufgrund wirklicher oder vermeintlicher körperlicher Entstellungen. Die Störung ist auch unter dem Namen Quasimodo-Komplex (benannt nach dem missgestalteten Glöckner von NotreDame in Paris) bekannt. In der ICD-10 wird sie als Dysmorphophobie beschrieben und definiert als eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers. 2.3.2.6.4 Zur Nomenklatur Die Terminologie in der Psychiatrie hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts (und auch davor) zahlreiche Metamorphosen durchlaufen. Viele Termini, die während der Zeit des Nationalsozialismus gebraucht wurden, datieren zurück in die Anfangszeiten der Weimarer Republik oder in frühere Epochen. Eine Durchsicht der Sachregister des damals führenden Publikationsorgans, der Zeitschrift für Kinderforschung (letzter Herausgeber Werner Villinger), deren Erscheinen im Jahre 1944 eingestellt werden musste, ergibt zahlreiche Hinweise auf eine Terminologie, die unter heutigen Gesichtspunkten nicht nur veraltet, sondern wegen ihres abwertenden Duktus als absolut unangebracht erscheint. Einige wenige Beispiele mögen dies belegen: Bildungsunfähigkeit, Psychopathenfürsorge, Minderwertige, Idioten, Idiotenanstalten, Irrenanstalten, Rassenanlagen und Rassenpsychologie, charakterologisch abnorme Menschen, Sonderanstalten etc. Jeder Wissenschaftler ist aber auch ein Kind seiner Zeit und kann auch in seinen sprachlichen Formulierungen aus dieser Zeit kaum aussteigen. Nur wenigen ist es vergönnt, die eigene Zeitepoche durch zukunftsweisende Begriffe zu bereichern. So hat auch Hermann Stutte Formulierungen gebraucht wie »asozial«, »antisozial«228, »sozialbiologisch unterwertig« und typologische Bezeichnungen für Psychopathen (heute Persönlichkeitsstörungen) wie die »Nervösen«, die »Willensschwachen und Haltlosen«, die »Gemütlosen und Gemütsarmen«, 228 Die Bezeichnung »antisozial« findet sich bis heute im amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5, z. B. als »antisoziale Persönlichkeitsstörung« (s. Falkai P, Wittchen HU (2015). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5, dt. Ausgabe. Hogrefe, Göttingen).
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alles Bezeichnungen, die sich auch in den berühmten »Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters« (1926) des jüdischen Kinderpsychiaters August Homburger finden. Eine ähnliche Terminologie benutzte auch der Schweizer Kinderpsychiater Moritz Tramer in seinem 1945 erschienenen Lehrbuch. Auch die Bezeichnungen »Menschenmaterial« und »Krankengut« waren damals gang und gäbe. Auf besondere, durchaus gerechtfertigte Kritik stieß die Formulierung Stuttes, dass sich der Intelligenzdefekt oft »hinter einer Fassade gerissener Schläue und Verschlagenheit verberge« (getarnter Schwachsinn nach Robert Ritter). Auch die Termini Unerziehbarkeit und sogenannte Unerziehbarkeit, die Stutte bis etwa zum Jahr 1960 gebrauchte, stießen auf Kritik und Unverständnis. In den folgenden Jahren hat er aber diesbezüglich einen Meinungswandel vollzogen, wenn er 1969 im Zusammenhang mit Initiativen der Lebenshilfe ausführt: »Nach der jahrelangen Diffamierung der Oligophrenen unter ideologisch pervertiertem, eugenischem Aspekt in unserem Land bedeutete die Organisation der Habilitationsmöglichkeiten für geistig (erheblich) Behinderte eine Verbesserung des Loses dieser Kinder, eine Entlastung der Familie vom Makel vermeintlicher ›Erbminderwertigkeit‹, eine Dezimierung der Soziallasten für vermeintlich pflegebedürftige Schwachsinnige und eine erstaunliche Wirkung bürgerlicher Mitverantwortung für den hilfsbedürftigen Menschen« (Stutte, 1969). Schließlich wurden die in seiner Habilitationsschrift beschriebenen und später mehrfach publizierten vier Erfolgsgruppen im Hinblick auf den sozialen Lebenserfolg im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie interpretiert und verurteilt. Die vier Erfolgsgruppen setzen sich wie folgt zusammen: (1) Gruppe V. (voller Erfolg): 39,5 %, (2) Gruppe B. (befriedigender Erfolg): 16,7 %, (3) Gruppe S. (schwacher Erfolg): 23,7 %, (4) Gruppe M. (Misserfolg): 20,1 %. Die ersten beiden Gruppen fasste Stutte unter der Bezeichnung SozialBrauchbare (56,2 %) zusammen, während die beiden letzten Gruppen als SozialMinderwertige (43,8 %) bezeichnet wurden. Der Begriff der sozialen Brauchbarkeit gehört zweifellos in den Bereich der nationalsozialistischen Ideologie, in der nur Menschen einen Wert hatten, die für die Gesellschaft nützlich waren. Ob die Habilitationsschrift Stuttes allerdings, wie Schäfer (1992)229 vermutet, von vornherein darauf ausgerichtet war, dem faschistischen Staat die Grundlagen für die »praktische Rassenhygiene« an Fürsorgezöglingen zu liefern, muss bezweifelt werden. Auch gibt es keinen Anhaltspunkt für die Vermutung Schäfers, dass sich auf diesem Hintergrund »das Verschwinden der Habil.-Schrift« erklären lässt. 229 Schäfer W (1992). Spuren einer »verschwundenen« Habilitationsschrift. Marburger Universitätszeitung Nr. 229.
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In heutiger Terminologie geht es in der psychiatrischen Beurteilung der Möglichkeiten einer sozialen Teilhabe psychisch kranker Kinder und Jugendlicher natürlich nicht um den utilitaristischen Begriff der sozialen Brauchbarkeit, vielmehr spricht man heute im Hinblick auf die Integrationsmöglichkeiten psychisch Kranker von der psychosozialen Anpassung. Diese Kategorie findet sich sowohl in der ICD-Klassifikation der WHO als auch im amerikanischen Klassifikationssystem DSM. 2.3.2.7 Die Sterilisationsgutachten Hermann Stuttes Hintergrund: Das am 14. Juli 1933 von der Reichsregierung beschlossene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trat am 01. Januar 1934 in Kraft. Es sah in § 1 die Sterilisierung Erbkranker durch einen chirurgischen Eingriff vor, »wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass ihre Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden«. In § 1, Abs. 2 waren Personen als erbkrank definiert, die an folgenden Krankheiten leiden: (1) angeborener Schwachsinn, (2) Schizophrenie, (3) zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, (4) erblicher Fallsucht, (5) erblichem Veitstanz (Huntington’sche Chorea), (6) erblicher Blindheit, (7) erblicher Taubheit, (8) schwerer körperlicher Missbildung. Darüber hinaus heißt es im dritten Absatz des § 1: »Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet«. Zu dem Gesetz verfassten Gütt, Rüdin und Ruttke (1934) einen Kommentar, der detaillierte Erläuterungen des Gesetzes und Ausführungsbestimmungen enthält. In der zwei Jahre später erschienenen zweiten Auflage fanden sich Ergänzungen, die sich durch zwischenzeitlich erfolgte Gesetzesänderungen ergaben, und auch konkrete Anleitungen zur Durchführung der chirurgischen Sterilisation. Dieser Kommentar war die verbindliche Handlungsanleitung für die Ärzteschaft in allen Fragen, die mit der Sterilisationspraxis zusammenhingen. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) durchlief nach seinem Inkrafttreten mehrere Ergänzungen. Die wichtigsten waren folgende: – Das Gesetz zur Änderung des GzVeN vom 26. Januar 1935 In diesem Gesetz ging es um die Erweiterung der Indikation zur Sterilisation bei bestehender Schwangerschaft. Es wurde ein neuer § 10a eingefügt, der bei festgestellter Indikation zur Unfruchtbarmachung auch die Schwangerschaftsunterbrechung mit Einwilligung der Schwangeren vorsah, »es sei denn, dass die Frucht schon lebensfähig ist«. »Als nicht lebensfähig ist die Frucht dann anzusehen, wenn die Unterbrechung vor Ablauf des sechsten Schwangerschaftsmonats erfolgt.« (§ 10a, Abs. 2 GzVeN) Damit wurde von der bis dahin gültigen Unterbrechung der Schwangerschaft nur aus medizi-
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nischer Indikation abgewichen. Dies begründeten Gütt et al. (1936) wie folgt: »Eine Abweichung von dem Grundsatz, dass die Schwangerschaftsunterbrechung nur aus gesundheitlichen Gründen gerechtfertigt ist, erschien hinsichtlich der Schwangerschaftsunterbrechungen in solchen Fällen notwendig, in denen infolge der Erbkrankheit der Mutter mit einer erbkranken Nachkommenschaft zu rechnen ist«230. Zweites Gesetz zur Änderung des GzVeN vom 04. Februar 1936 In diesem Gesetz wurde die Unfruchtbarmachung »durch chirurgischen Eingriff« dahingehend geändert, dass »auch andere Verfahren zur Unfruchtbarmachung angewendet werden können« (§ 11, Abs. 1). Damit war die Möglichkeit eröffnet, z. B. bei Frauen, die älter als 38 Jahre waren, den chirurgischen Eingriff durch eine Röntgen- oder Radiumbestrahlung zu ersetzen. Allerdings war hierzu die Einwilligung der Frauen erforderlich. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 Dieses sogenannte »Blutschutzgesetz« verbot u. a. die Eheschließung und den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen »deutschen Blutes«. Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 Es enthält ausführliche Bestimmungen darüber, welche Personen unter welchen Bedingungen von einer Eheschließung auszunehmen sind (fehlende Ehetauglichkeit). Im Hinblick auf die Ehetauglichkeit wurden häufig ärztliche Gutachten erstellt. Verordnung zur Durchführung des GzVeN und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939 Diese Verordnung sah unter Kriegsbedingungen verschiedene einschränkende Modifikationen vor. So sollten Sterilisationen nur noch dann durchgeführt werden, wenn mit besonders großer Fortpflanzungsgefahr zu rechnen ist. Sterilisationsverfahren konnten leichter eingestellt oder verschoben werden. Da viele Ärzte zum Kriegsdienst eingezogen waren, fehlte vielfach auch das Personal zur Durchführung von Sterilisationen.
Im Hinblick auf die »Fortpflanzungsgefahr« spielte der Begriff der »individuellen Fortpflanzungswahrscheinlichkeit«231 auch in den Gutachten eine wichtige Rolle. Zur Abschätzung derselben wurden als Kriterien angewandt: Art und Sicherheit der Diagnose, Schweregrad der Erkrankung und Lebensalter. Im Hinblick auf letzteres ist bei Gütt et al. (1936) zu lesen: »Als nicht fortpflan230 Gütt et al (1936), S. 81. 231 Ley A (2004), S. 53.
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zungsfähig sind anzusehen Kinder im Allgemeinen unter 12 Jahren und Erwachsene im hohen Alter. Bei Frauen wird dies in der Regel anzunehmen sein, wenn sie das 45.–50. Lebensjahr überschritten haben und die Monatsblutung […] ausgeblieben ist«.232 Für die Beurteilung ärztlicher Vorgehensweisen bei der Sterilisation in psychiatrischen Kliniken sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: – Bereits bei geringstem Verdacht auf das Vorliegen einer Krankheit i. S. des GzVeN mussten die betreffenden Patientinnen bzw. Patienten dem Gesundheitsamt gemeldet (angezeigt) werden. Es bestand für Ärzte eine Anzeigepflicht, deren Unterlassen strafbedroht war. – Die Anzeigepflicht bedeutete sowohl für die Ärzteschaft als auch für andere im Gesundheitswesen tätige Berufsgruppen einen staatlich verordneten Verstoß gegen die Schweigepflicht. – Zudem sah der § 15 des GzVeN vor, dass alle Personen, die am Sterilisationsverfahren beteiligt sind, der Schweigepflicht unterliegen. Eine Verletzung der so verhängten Schweigepflicht war mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr strafbedroht. – Da Anzeigen praktisch von jeder Person erstattet werden konnten, war für Denunziationen, Verleumdungen und Rachefeldzüge Tür und Tor geöffnet233. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob es im Hinblick auf die strikte Befolgung des GzVeN auch Spielräume gab oder gar die Möglichkeit, ärztlicherseits die Mitarbeit zu verweigern. Gewisse Spielräume gab es zweifellos, auch in Tübingen234. Diese waren u. a. aber auch stark abhängig vom jeweiligen Arbeitsfeld der Ärzte. Die immer wieder zitierte hohe Verweigerungsrate im Raum Schwabach, die von Ley235 beschrieben wurde, bezieht sich auf niedergelassene Ärzte, die einer weitaus geringeren sozialen bzw. politischen Kontrolle unterlagen als Klinikärzte. Sie ließe sich aber nicht auf eine politisch abweichende Haltung dieser Ärzte zurückführen, denn sie hatten einen hohen parteipolitischen Organisationsgrad (75 % gehörten einer NS-Gruppierung an). Vielmehr spielten wirtschaftliche Erwägungen und persönliche Kontakte zu den Patienten eine entscheidende Rolle, vielfach auch ein gemeinsames Lebensumfeld (Nachbarschaft, sozialer Nahraum). Laut Ley stellte die Schwabach-Ärzteschaft im Hinblick auf die Anzeigebereitschaft keineswegs eine Ausnahme dar. 232 233 234 235
Gütt et al. (1936), S. 180. Bock (1986), S. 265; Form (1997), S. 90. Vgl. Martin Leonhardt (1996), S. 87. Astrid Ley (2017). Die NS-Zwangssterilisation nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und das Verhalten der Ärzte. In: Hedwig A, Petter D: Auslese der Starken – »Ausmerzung« der Schwachen. Eugenik und NS-»Euthanasie« im 20. Jahrhundert. Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Bd. 35, Marburg, 47–63.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Vielmehr wurde im Zeitraum von 1935–1939 in der Presse den Ärzten der Vorwurf gemacht, sie zeigten ein fehlendes Engagement im Hinblick auf die Erfassung Erbkranker : »Die nur geringe Bereitschaft freier Praktiker, der Anzeigepflicht Folge zu leisten, lässt vermuten, dass diesen Ärzten der Erhalt des Vertrauensverhältnisses mit den Patienten sowie die Sicherung ihres Einkommens wichtiger war als die Durchsetzung des GzVeN, und zwar ungeachtet der breiten Zustimmung, derer sich eugenische Maßnahmen wohl auch unter den niedergelassenen Ärzten erfreuten«236. Ganz anders war, wie an verschiedenen Stellen dieser Monographie dargelegt, die Situation in Psychiatrischen Kliniken, Anstalten und staatlichen Einrichtungen, die einer ausgeprägten Kontrolle (intern und extern) unterlagen237. Im Hinblick auf die Beteiligung Hermann Stuttes am Sterilisationsgeschehen in den Jahren 1936–1945 an der Tübinger Nervenklinik wurden alle nahezu 2.000 im Staatsarchiv Sigmaringen vorhandenen Akten diesbezüglich durchgesehen. Dort befinden sich die Sterilisationsakten der Nervenklinik Tübingen, für die das Erbgesundheitsgericht Tübingen zuständig war. Da die Akten nicht nach Jahren, sondern alphabetisch geordnet sind, mussten alle Akten durchgesehen werden. Der umfangreiche Aktenbestand gibt auch einen Einblick die Art und Weise, wie in der Universitätsnervenklinik Tübingen mit den Erfordernissen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses umgegangen wurde. Es bestand die Sequenz: Anzeige ! Antrag auf Unfruchtbarmachung ! Gutachten (nicht in jedem Fall) ! Beschluss des Erbgesundheitsgerichts ! Durchführung oder Ablehnung der Unfruchtbarmachung. Im Falle eines Einspruchs ging das Verfahren an das Erbgesundheitsobergericht in Stuttgart. Dort wurde über den Einspruch entschieden. Hatte er Erfolg, unterblieb die Sterilisation, wurde der Einspruch abgewiesen, so erfolgte sie alsbald. Die meisten Anzeigen der psychiatrischen Patienten wurden vom Chef der Klinik, Professor Hermann Hoffmann, und von den beiden damals tätigen Oberärzten Ederle und Ernst ausgeführt. Häufig findet sich in den Akten der Vermerk: »Der Antrag und das Gutachten wurden gleichzeitig an das Erbgesundheitsgericht geschickt«. In den Akten befinden sich durchweg die Anzeigen, häufig auch die Anträge, aber keineswegs immer die Gutachten. Die Assistenzärzte waren z. T. damit betraut, den Text für die Anzeige zu entwerfen und in das dafür vorgesehene Formular einzutragen, was man an den Diktatzeichen erkennen kann. Es ist nach der damals üblichen Klinikhierarchie davon auszu236 ebda, S. 57–59. 237 Über »Handlungsspielräume und Zwänge in der Medizin des Nationalsozialismus« informiert die Dissertation von Anna Plezko (2011) anhand einer Biographie über den Psychiater Hans Roemer (1878–1947), der einerseits die Zwangssterilisation aus Überzeugung unterstützte, sich aber der Mitwirkung an der Euthanasie widersetzte.
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
169
gehen, dass der Chefarzt und die Oberärzte bei der Visite die Patienten auswählten, die für die Sterilisation vorgesehen waren. Dem Assistenzarzt fiel dann die Aufgabe zu, die entsprechenden Formulare auszufüllen. Die Anzeigen wurden aber ausschließlich vom Direktor der Klinik oder den Oberärzten unterzeichnet. Auch Assistenzärzte wurden mit der Begutachtung betraut, wobei deren Gutachten jeweils vom Direktor der Klinik oder einem der Oberärzte gegengezeichnet werden mussten. Bei der Gegenzeichnung war jeweils vermerkt »einverstanden aufgrund eigener Untersuchung und persönlicher Urteilsbildung«. Über die Sterilisationspraxis in der Tübinger Nervenklinik finden sich detaillierte Ausführungen bei Leonhardt (1996)238. In diesen wird der Klinikdirektor Hermann Hoffmann zu den Wegbereitern »des rassenhygienischen Denkens und der Sterilisationsideologie in Deutschland gezählt« (S. 85), der in seiner Klinik auch praktisch mit den Fragen der Sterilisation befasst war. Man verhielt sich regelkonform: »Jeder Arzt musste bei Verdacht auf eine der im Gesetz genannten Erbkrankheiten Anzeige erstatten, andernfalls machte er sich strafbar. Die ärztliche Schweigepflicht war für diesen Fall aufgehoben« (S. 85). Bei der Begutachtung in Sterilisationsfragen habe Hoffmann seinen Oberärzten Edele und Ernst freie Hand gelassen. Nach Aussagen von namentlich genannten Zeugen sei an der Tübinger Klinik allerdings zurückhaltend begutachtet worden, was das Verdienst der beiden Oberärzte gewesen sei. Auch habe es bei der Abfassung von Gutachten einen »gewissen Interpretationsspielraum gegeben«239. Mit den Zwangssterilisierungen an der Universität Tübingen in der NS-Zeit hat sich ein eigener Arbeitskreis auseinandergesetzt und eine Stellungnahme erarbeitet, die auch über das Internet zugänglich ist240. Nach einer historischen Herleitung der eugenischen Bewegung, die in Deutschland seit 1895 »Rassenhygiene« genannt wurde, wird auf einige Protagonisten eingegangen, die vor der Zeit des Nationalsozialismus die Sterilisation und auch die Zwangssterilisation propagierten. Unter ihnen genannt wird der schweizerische Psychiater August Forel (1848–1931), der als erster Arzt seit 1886, ohne gesetzliche Grundlage, Sterilisationen veranlasst haben soll. Hingewiesen wird ferner auf das weltweit erste Sterilisationsgesetz (1907) im amerikanischen Bundesstaat Indiana und auf die Sterilisationsgesetze, teilweise mit Zwangsandrohung, z. B. in der Schweiz und in den skandinavischen Ländern. Die Begutachtungs- und Sterilisations-
238 Leonhardt (1996), a. a. O. 239 ebda. 240 www.uni-tuebingen.de, Bericht des Arbeitskreises ›Universität Tübingen im Nationalsozialismus‹ zu Zwangssterilisationen an der Universität Tübingen (2008), www.uni-tuebin gen_08-07-14_Bericht_Zwangssterilisationen.pdf.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
praxis an der Universitätsnervenklinik und anderen Universitätskliniken wird detailliert beschrieben. Im Rahmen unserer Untersuchung wurden sämtliche im Staatsarchiv befindlichen Sterilisationsakten der Nervenklinik Tübingen ausgewertet. Dabei fanden sich 12 Gutachten, die von Hermann Stutte persönlich angefertigt worden waren und 13, bei denen er Vorarbeiten durch das Ausfüllen von Meldebögen für den Klinikdirektor Hermann Hoffmann sowie für die beiden Oberärzte Wilhelm Ederle241 und Konrad Ernst242 geleistet hatte. In Tab. 2.8 ist eine Übersicht über die von Stutte verfassten Gutachten wiedergegeben. Die in den Akten enthaltenen Gutachten zeigten, dass, insbesondere in Zweifelsfällen, recht differenziert vorgegangen wurde. Beispielsweise wurde bei der Diagnose »Fallsucht« aufgrund der Anamnese und einer umfangreichen neurologischen Untersuchung (einschließlich apparativer Techniken und Laboranalysen) jeweils zu entscheiden versucht, ob exogene Einflüsse oder zerebrale Schädigungen (zum Beispiel Missbildungen, Infektionen, Tumoren) für die Anfälle verantwortlich waren. Die Tabelle zeigt, dass das Alter der zu sterilisierenden Patienten zwischen 15 und 43 Jahren variierte. Bei den zahlenmäßig überwiegenden Patienten mit einem Anfallsleiden wurde der Versuch unternommen, die Genese genauer zu eruieren. In mehreren Fällen, in denen sich eine organische Genese feststellen ließ (z. B. durch einen Unfall), wurde die Indikation zur Sterilisation verneint. Dies traf z. B. auf die Fälle 1, 7, 9 und 10 zu. Im Hinblick auf die zu ergreifenden Maßnahmen wurde auch zu eruieren versucht, wie hoch die »Fortpflanzungs241 Wilhelm Ederle (1901–1966) studierte in Berlin und Tübingen Medizin, war nach Studienabschluss und Promotion an der Psychiatrischen Universitätsklinik tätig, zuletzt als Oberarzt. Er wechselte zusammen mit Ernst und Hoffmann nach Gießen und kehrte ebenso wie Ernst nach Tübingen zurück. Er habilitierte sich mit einer Arbeit zum Thema »Somatische Störungen bei schizophrenen Erkrankungen«. Nach dem Tod Hoffmanns im Jahr 1944 leitete er vorübergehend die Nervenklinik, wurde noch 1945 zur Wehrmacht einberufen und nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wieder Oberarzt in Tübingen unter Werner Villinger. 242 Konrad Ernst (1903–1997) studierte Medizin in Tübingen und Kiel. Er schloss das Studium 1926 in Tübingen ab, arbeitete zunächst als Hilfsassistent bei Robert Gaupp in Tübingen. 1933 wechselte er mit Hermann Hoffmann, der einen Ruf auf den Gießener Lehrstuhl für Psychiatrie angenommen hatte, nach Gießen und nach zwei Jahren wiederum zurück nach Tübingen. Er habilitierte sich 1938 mit einer Arbeit über »Gewalttätigkeitsverbrecher und ihre Nachkommen«. Er war seit dem 01. 05. 1937 Mitglied der NSDAP. Kurz nach Kriegsbeginn wurde er eingezogen und hatte die Funktion eines beratenden Psychiaters inne. Von 1947– 1969 war er Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses Weinsberg (UAT 308/3289; Leonhard M (1996). In der Laudatio aus Anlass seines 70. Geburtstages erwähnt sein Nachfolger Fritz Reimer (1975) einen Beitrag von Ernst aus dem Jahr 1939 in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, der sich mit den Psychiatrischen Anstalten beschäftigt und die Passage enthält: »Der Kranke, oft sowieso voller Misstrauen und Ängste, braucht bei seiner Verbringung dorthin nicht zu fürchten, wie es etwaige Heißsporne tun möchten, als unbrauchbar getötet zu werden« (Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde 4 (1), 1975, 24).
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Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
Tab. 2.8: Sterilisationsgutachten von Hermann Stutte im Zeitraum von 1936–1945 in Tübingen nach den Akten im Staatsarchiv Sigmaringen Nr., AZ
Name
GAGeb.Datum/ Datum Alter
(1) WÜ 30/23 Nr. 12
R. F. ?
14. 11. 1911 / 26 J.
(2) WÜ 30/23 Nr. 24
Diagnose
Befund/ Besonderheiten
Maßnahmen
1937
Epilepsie
Anfälle nicht erblich bedingt
§1 GzVeN nicht erfüllt Keine Sterilisation
Sch. J. 25. 04. ? 1899 / 43 J.
18. 02. 1943
Schwachsinn mittleren Grades, exogene Genese
§1 GzVeN nicht erfüllt Keine Sterilisation
(3) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 63
B. B. ?
12. 04. 1920 / 17;4 J.
23. 09. 1937
Exogener Schwachsinn, vermutl. Nachreifung
Die v. Hausarzt diagnostizierte Dysostosis ist nicht nachweisbar Diagost. Abklärung, Sterilisation?
(4) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 64 (5) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 64
C. D. ?
15. 06. 1902 / 35 J.
18. 08. 1937
Paranoide Psychose
Frage d. Entlassung
Entlassung empfohlen (Kurz-GA)
B. L. !
30. 05. 1906 / 31 J.
16. 01. 1937
Manischdepressives Irresein
Vorübergehende Entlassung z. Konfirmation d. Tochter
Entlassung empfohlen, Verpflichtungserklärung unterzeichnet, Pat. verstarb am 6. 7. 1939 an einem Tumor
(6) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 74
H. E. ?
22. 11. 1910 / 26 J.
24. 10. 1936
Erbliche Fallsucht
§1 GzVeN erfüllt Sterilisation empfohlen
(7) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 87
P. F. ?
23. 02. 1893 / 43 J.
08. 06. 1936
Anfallsleiden
Erblichkeit d. Anfälle wird bejaht, Minderbegabung kein Grund f. Sterilisation Erbliche Fallsucht? Kein Anhalt f. erbliche Bedingtheit d. Anfälle
(8) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 89
R. M. 16. 12. ! 1917 / 20 J.
05. 05. 1938
Angeborener Schwachsinn
Diagnose zutreffend
§1 GzVeN erfüllt Sterilisation empfohlen
§1 GzVeN nicht erfüllt Sterilisation zurückgestellt
§1 GzVeN nicht erfüllt Keine Sterilisation
172
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
((Fortsetzung)) Nr., AZ
Name
(9) WÜ 66/16 Bd. 2, Nr. 92
Sch. G. !
(10) WÜ Sch. G. ! 66/16 Bd. 2, Nr. 92
GADiagnose Geb.Datum/ Datum Alter 22. 12. Epilepsie 20. 02. 1942 1923 / 19 J.
Befund/ Besonderheiten Keine erbliche Fallsucht, organische Genese d. Anfälle
19. 04. 1923 / 15 J.
21. 07. 1938
(11) WÜ W. R. 24. 02. 66/16 ! 1925 / Bd. 2, 19. J. Nr. 99
25. 05. 1944
Keine Erblichkeit, organische Natur d. Anfälle Erworbene GA an EGMinderbega- Obergericht bung, positive im Nachgang Wesenszüge, zu verschiedenen Nachreifung möglich amtsärztlichen Gutachten
(12) WÜ Z. R. 66/16 ! Bd. 2, Nr. 100
12. 12. 1940
Erbliche Fallsucht
23. 09. 1908 / 32 J.
Epilepsie
Erblichkeit d. Anfälle bejaht, genuine Epilepsie, Fam. Belastung; zusätzl. angeborener Schwachsinn
Maßnahmen §1 GzVeN nicht erfüllt Keine Sterilisation §1 GzVeN nicht erfüllt Keine Sterilisation »Von Unfruchtbarmachung sollte Abstand genommen werden«. Diesem Vorschlag folgte das EGObergericht am 27. 06. 1944 §1 GzVeN erfüllt Sterilisation empfohlen u. durchgeführt
gefahr« einzuschätzen war. So findet sich im Hinblick auf Fall 4 (C. D.) folgendes Schreiben an das Gesundheitsamt in der Akte: »Es handelt sich bei C. um eine paranoide Psychose nach Artung der Paraphrenie, die im Anschluss an die durchgeführte Insulinbehandlung ziemlich peripher gelagert worden ist. Da C. Erbbauer ist und auf seinem Hof dringend benötigt wird, drängen die Angehörigen sehr auf Entlassung. Die Frau hat am 3. Juni letztmalig geboren und ist z. Z. noch amenorrhoisch. Wir glauben – obwohl eine Fortpflanzungsgefahr im vorliegenden Falle praktisch besteht – diese durch vernünftige Belehrung des Ehepaars einschränken zu können und würden zur gleichen Zeit auch aus ärztlichen Gründen eine Entlassungsmöglichkeit begrüßen. Die Entscheidung hierüber möchten wir Ihnen überlassen«.
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
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Die Entscheidung lag, wie in allen derartigen Fällen, beim Gesundheitsamt. In diesem Fall war auch die soziale Situation für die Empfehlung maßgeblich. Bei jugendlichen Patienten versuchte man, vorsichtig vorzugehen. Dies zeigt der in der Tab. aufgeführte Fall 3 (B.B.). Bei dem Patienten war im Gutachten darauf hingewiesen worden, dass es sich vermutlich um einen exogenen Schwachsinn mit der Möglichkeit einer Nachreifung handelte. Deshalb seien die Voraussetzungen des §1 GzVeN nicht erfüllt. Es gab in diesem Fall also zwei Gegenargumente gegen eine Sterilisation: zum einen der »vermutlich exogen bedingte Schwachsinn« und zum anderen die Erwartung einer Nachreifung. Ein weiterer Fall, in dem bei einem zerebralen Anfallsleiden eine Erblichkeit verneint wurde, ist Fall 7 (P.F.). Hier heißt es im von Hermann Stutte angefertigten Gutachten vom 08. 06. 1936: »Jedenfalls glauben wir, dass ein Vorgehen i. S. des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im vorliegenden Fall ungerechtfertigt ist, da die epileptische Natur der bis zum 20. Lj. aufgetretenen zwei Anfälle nicht feststeht, er seitdem auch anfallsfrei ist und zweitens bei der Untersuchung Symptome einer fraglichen zerebralen Läsion festzustellen sind. Somit sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Gesetzes nicht erfüllt«.
Wie die meisten Gutachten wurde auch dieses Gutachten von Hermann Stutte vom Direktor der Klinik, Prof. Hoffmann, gegengezeichnet. Es kam allerdings auch vor, dass die beiden Oberärzte Ederle und Ernst Gutachten von Assistenzärzten gegengezeichnet haben. Außer den zwölf im Staatsarchiv aufgefundenen Gutachten von Hermann Stutte war er in weiteren Fällen insofern beteiligt, als er Vorarbeiten für Gutachten leistete, indem er für Prof. Hoffmann oder die Oberärzte die sogenannten Anzeigen vorbereitete. Es handelte sich dabei um Formulare, in denen die Krankheit der Probanden bzw. Patienten geschildert und dargelegt wurde, um welche Diagnose es sich handelt. Derartige Vorarbeiten haben wir in insgesamt 13 Fällen gefunden. Die Anzeigen waren jeweils vom Direktor der Klinik, Prof. Hoffmann, oder den beiden Oberärzten Ederle und Ernst unterzeichnet. Am Diktatzeichen »St« konnte man aber erkennen, dass das Formular jeweils von Hermann Stutte ausgefüllt worden war. In allen hier genannten Fällen hatte er aber nicht selbst das Gutachten angefertigt. Es ist davon auszugehen, dass Hermann Stutte weitaus mehr Sterilisationsgutachten angefertigt hat, als in der Tabelle aufgelistet sind. Dies geht aus einigen Dissertationen hervor, die über die Gutachten und die Gutachtenpraxis der psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen angefertigt worden sind. Es handelt sich um insgesamt elf Dissertationen, die sich auf Gutachten beziehen, welche in den Jahren 1933/1934 bis 1942–1945 fertiggestellt wurden. In den einzelnen Dissertationen wurden jeweils ein oder zwei Gutachtenjahrgänge erfasst. Nur vier Dissertationen geben allerdings über die beteiligten Assistenz-
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
ärzte Auskunft, während der Klinikdirektor und die Oberärzte in allen Dissertationen genannt werden. In der Dissertation von Schneider (2014), die sich auf die im Jahr 1939 angefertigten Sterilisationsgutachten bezieht, werden die Gutachter, einschließlich der Assistenzärzte, namentlich und unter Hinweis auf die Anzahl der erstatteten Gutachten genannt. Hermann Stutte ist in dieser Auflistung mit 17 Gutachten vertreten, wobei er in sieben Fällen eine Erbkrankheit diagnostizierte, in fünf Fällen eine solche verneinte und in fünf Fällen zu der Einschätzung kam, dass eine Erbkrankheit nicht mit der vom Gesetz erforderlichen Sicherheit festgestellt werden konnte. Die meisten Gutachten (88 von 111) wurden von Assistenzärzten in Weiterbildung angefertigt und vom Direktor der Klinik oder den Oberärzten gegengezeichnet. In einer zweiten Dissertation, die sich auf die begutachteten Männer im Jahr 1936 bezog (Kießling, 2005), werden die mit der Begutachtung betrauten Assistenzärzte nicht namentlich genannt, sondern unter den Bezeichnungen G1-G5 verklausuliert geführt. Aus den geschilderten Kurzlebensläufen lässt sich jedoch unschwer erschließen, dass der Gutachter G1 Hermann Stutte war und die Gutachterin G2 seine spätere Ehefrau, Marie-Luise Thraum, die im Mai 1938 ihre Stelle kündigte. Von den insgesamt 97 angefertigten Sterilisationsgutachten im Jahr 1936 wurden acht von Hermann Stutte verfasst. Es wird aber nicht darüber berichtet, zu welchen Empfehlungen er bei den verschiedenen Diagnosen kam. In der Dissertation von Kaasch (2006), die sich auf denselben »Gutachtenjahrgang« (1936) bezieht wie die Dissertation von Kießling, werden die Gutachter mit Namenskürzeln genannt. Unter dem Kürzel »St« für Stutte werden insgesamt neun Gutachten angeführt, von denen sich vier auf die Begutachtung im Rahmen des GzVeN beziehen. Das Ergebnis der Begutachtung wird aber nicht mitgeteilt. Schließlich wird in der Dissertation von Owen (2012) auf den Weiterbildungsstand der mit der Sterilisationsbegutachtung beauftragten Ärzte Bezug genommen (S. 136) mit dem Hinweis, dass die Assistenzärzte den größten Teil der Gutachten (55 von 60=91,6 %) angefertigt hatten, die stets entweder vom Klinikdirektor Hoffmann (23,3 %) oder von Oberarzt Ederle (68,3 %) gegengezeichnet waren. Eine Identifikation der einzelnen Gutachter war in dieser Dissertation nicht möglich. Tab. 2.9 gibt eine Übersicht über die aktenkundigen Sterilisationsgutachten der Universitätsnervenklinik Tübingen im Zeitraum von 1936–1945.
175
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
Tab. 2.9: Aktenkundige Sterilisationsgutachten der Universitätsnervenklinik Tübingen im Zeitraum von 1936–1945 Quelle
Jahr
Ges.Zahl
Gutachten v. Hermann Stutte Klinikarchiv
StA Sigmaringen
Kaasch (2009) (nur Frauen)
1936
83
4
2
Kießling (2005) (nur Männer)
1936
97 180
Hundt (1996) (Frauen u. Männer)
1937
171
8 12 (6,6 %) ?
4
Held (1995) Schneider (2014) (Frauen u. Männer)
1938 1939
214 111
? 17 (21,9 %)
2 –
Neugebauer (1994) (Frauen u. Männer) Owen (2012) (Frauen u. Männer)
1940
38
?
1
1941
24
?
–
von Seidlitz (1999) (Frauen u. Männer)
1942–1945
30
?
3
668
29
12
Die in der Tabelle angeführten Zahlen können nur mit größter Vorsicht interpretiert werden. Zum einen wird in nahezu allen Dissertationen darauf hingewiesen, dass der aufgefundene Aktenbestand nicht vollständig ist, zum anderen waren die Namen der Gutachter nur in drei Dissertationen (Kießling, 2005; Kaasch, 2009; Schneider, 2014) identifizierbar. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine erhebliche Diskrepanz im Hinblick auf die Anzahl der Gutachten besteht zwischen den im Klinikarchiv der Universitätsnervenklinik aufgefundenen Gutachten und den Akten im Staatsarchiv Sigmaringen. Diese Diskrepanz ist schwer zu erklären, zumal nach Auskunft des StA Sigmaringen alle erhaltenen Akten des Erbgesundheitsgerichts Tübingen in das StA Sigmaringen verbracht worden sein sollen. Geht man davon aus, dass die zwölf im StA Sigmaringen aufgefundenen Gutachten Stuttes in den 29 im Universitätsarchiv aufgefundenen aktenkundigen enthalten sind, so ergibt sich eine Zahl von 17 Gutachten, die von Hermann Stutte verfasst wurden. Nimmt man weiter an, dass Hermann Stutte etwa 10 % der Gutachten pro Jahrgang verfasst hat (was sich aus der Mittelung der Prozentwerte seiner Gutachten für den Jahrgang 1936 und 1939 ergibt), so ist eine Hochrechnung dahingehend nicht unrealistisch, dass er 66 Sterilisationsgutachten im ge-
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
nannten Zeitraum verfasst haben könnte. Subtrahiert man die zwölf Gutachten, die im StA Sigmaringen aufgefunden wurden, unter der Annahme, dass diese auch im Klinikarchiv vorhanden sein müssten, so kommt man auf eine Anzahl von 54 Sterilisationsgutachten, die er im Zeitraum von 1936–1945 angefertigt haben könnte. Diese Anzahl erscheint plausibel. Was die Gesamtzahl der Sterilisationsgutachten in der Tübinger Universitätsnervenklinik über die Jahre hinweg betrifft, so waren diese in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des GzVeN bis zum Jahr 1938 sehr hoch, um danach deutlich abzufallen (vgl. Kap. 2). Im Zeitraum von 1942–1945 wurden nur noch 30 derartige Gutachten angefertigt. Dies mag damit zusammenhängen, dass die meisten Patienten, die unter die Bestimmungen des GzVeN fielen, bereits sterilisiert waren. Zum anderen könnte dies auch daran liegen, »dass mit zunehmender Vorhersehbarkeit des nationalsozialistischen Untergangs immer weniger Gutachten in Auftrag gegeben wurden« (v. Seidlitz243, S. 49). Die Rolle der Gesundheitsämter Im Rahmen der Sterilisationspraxis hatten die Gesundheitsämter eine ausgesprochene Kontroll- und Machtposition244,245. Selbst für kurzfristige, vorübergehende Beurlaubungen von psychiatrischen Patienten, deren Krankheit unter die Bestimmung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fielen, mussten die Mitarbeiter der Nervenklinik die Erlaubnis des Gesundheitsamtes einholen und begründen, warum die Gefahr einer Zeugung oder Schwangerschaft als gering einzustufen sei. Sogar bei der Beurlaubung oder Entlassung von Patientinnen mit einschlägigen Erkrankungen mussten sie bzw. der Ehemann versichern, dass sie im Falle einer Schwangerschaft einer Abrasio mit gleichzeitig durchzuführender Unfruchtbarmachung zustimmen würden. In den EGGAkten finden sich zahlreiche Schriftstücke dieser Art. Es gab auch Gutachten, in denen eine Unfruchtbarmachung seitens der Nervenklinik abgelehnt wurde. Diese lassen sich vier verschiedenen Kategorien zuordnen: (1) Die nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vorgesehene Diagnose ließ sich nicht mit der notwendigen Sicherheit feststellen. (2) Die Patienten waren zu jung für eine Unfruchtbarmachung. Dies betraf 243 K von Seidlitz (1999). Untersuchung der psychiatrischen Gutachtenpraxis an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen in den Jahren 1942–1945. Diss. Tübingen. 244 Nach Form (1997) hatte der Amtsarzt eine »quasi staatsanwaltliche Funktion«: »Er konnte nunmehr die Stellung eines Gutachters in Gerichtsangelegenheiten oder eines Richters am Erbgesundheitsgericht oder eines Antragstellers und in allen Fällen die des Beschwerdeberechtigten ausüben« (Form 1997, S. 92). 245 Am Beispiel von Nordhessen mit dem Schwerpunkt Korbach hat Marion Lilienthal diesen Sachverhalt eingehend dargelegt (Lilienthal M (2014). Erbbiologische Selektion in Korbach (1933–1945): Rassenhygiene, Zwangssterilisierung und NS-»Euthanasie«: Der Wahn vom gesunden Volkskörper und seine Folgen. Wolfgang Bonhage-Museum, Korbach.
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hauptsächlich Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 16/17 Jahren. In derartigen Fällen wurde eine Wiedereinbestellung in einem angemessenen Zeitraum vereinbart. (3) Auch bei Patienten, die das 18. Lebensjahr bereits erreicht hatten und die von den Psychiatern noch als entwicklungsretardiert eingestuft wurden, sprach man sich für die Wiedervorstellung in ein bis drei Jahren aus. Reifungsbiologische Gesichtspunkte spielten in den 1940er Jahren und auch später noch eine große Rolle. (4) Schließlich wurde, besonders bei der sogenannten erblichen Fallsucht, geprüft, ob exogene Faktoren (zum Beispiel Hirntraumata), aber auch infektiöse Erkrankungen des Gehirns ursächlich für das jeweilige Krankheitsbild verantwortlich sein konnten. Fazit: Trotz der gleichsam fließbandmäßigen Sterilisationspraxis fanden in unklaren Fällen sorgfältige Untersuchungen, vor allem auf dem neurologischen Sektor, statt. Dennoch muss aus heutiger Sicht angemerkt werden, dass das Unglück, das mit der Unfruchtbarmachung über zahlreiche Patienten und deren Familien hereinbrach, unter den damals vorherrschenden eugenischen Gesichtspunkten von der Ärzteschaft nicht zur Kenntnis genommen wurde. Über die möglichen psychischen Folgen der Sterilisation, von der Rehabilitation und Wiedergutmachung ganz abgesehen, finden sich in den ärztlichen Akten praktisch keine Angaben, wohl aber in den zahlreichen Einsprüchen der Familienangehörigen der Sterilisationsopfer. Mit der Gutachtentätigkeit Hermann Stuttes im Rahmen des GzVeN hat sich Wolfram Schäfer (1993) auseinandergesetzt246. – Er wirft Hermann Stutte vor, an der Tübinger Universitätsnervenklinik Patienten zur Sterilisation beim Amtsarzt angezeigt zu haben und darüber hinaus auch Patienten für das Erbgesundheitsgericht begutachtet zu haben. Hermann Stutte war damals Assistenzarzt und als solcher nicht befugt, selbständig Anzeigen und Gutachten zu verfassen. Er tat dies jeweils im Auftrag seiner Vorgesetzten. Die Mitwirkung an der Sterilisationspraxis war verpflichtende Aufgabe aller in der psychiatrischen Klinik tätigen Ärzte. Die Nicht-Anzeige von Patienten, die die im GzVeN kodifizierten Bedingungen erfüllten, war strafbedroht. Die Anfertigung von Gutachten gehörte zu den Aufgaben der Ärzte247.
246 Schäfer W (1993). H. Stutte und das NS-»Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, Marburger Universitätszeitung Nr. 231 vom 04. Februar 1993. 247 Über die Sterilisationspraxis an der Tübinger Universitätsnervenklinik sind mehrere Dissertationen angefertigt worden, die wir alle gesichtet und ausgewertet haben (s. Tab.2.9).
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– Wolfram Schäfer behauptet, »eine Auswertung der Akten des Erbgesundheitsamtes Tübingen vorgenommen« zu haben. Realiter hat er nur einen kleinen Teil der im Württembergischen Staatsarchiv Sigmaringen befindlichen Akten durchgesehen und daraus weitreichende Schlüsse gezogen. Er hat, nach eigenen Angaben, nur 300 Akten von ca. 1.500 Einzelakten ausgewertet248. – Bei den von ihm beschriebenen fünf Fällen handelt es sich in vier Fällen um Anzeigen und nur in einem Fall (Fall 3) um ein Gutachten Hermann Stuttes, auf das Schäfer hinweist, das sich aber nicht unter der von ihm angegebenen Signatur auffinden lässt249. Zu den von Schäfer dargestellten Fällen sind folgende Anmerkungen zu machen: – Bei Fall 1 (Wü66/16, Bd. 2, Nr. 68) handelt es sich um einen 16-jährigen Jugendlichen mit der Diagnose Schizophrenie, bei dem Stutte »Mitanzeiger« war. Das Formular war vom Klinikdirektor Prof. Hoffmann unterschrieben, die Paraphe »St« weist aus, dass Stutte das Formular für seinen Chef ausgefüllt und zur Unterschrift vorbereitet hat. Der Jugendliche wurde sterilisiert und nach der Operation in die Nervenklinik zurückverlegt. Zu diesem Fall gibt Schäfer eine falsche Signatur an. – Auch bei Fall 2 (Wü66/16, Bd. 2, Nr. 61), einem 14-jährigen Jungen mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn« hatte Stutte das Anzeigeformular, das von Oberarzt Ederle unterzeichnet war, vorbereitet. – Im Fall 3 soll Stutte als Gutachter tätig gewesen sein. Die Akte ist, wie bereits erwähnt, nicht an der von Schäfer angegebenen Stelle zu finden. Es handelte sich laut Schäfer um einen Patienten mit der Diagnose »erbliche Fallsucht«, bei dem Stutte die Sterilisation befürwortete, die am 16. 11. 1937 durchgeführt wurde. – Bei Fall 4 (Wü66/16, Bd. 2, Nr. 64), einer 31-jährigen Frau mit der Diagnose »manisch-depressives Irresein« hatte Stutte das Anzeigeformular für Prof. Hoffmann vorbereitet. Es ging in diesem Fall um die Beurlaubung der Patienten, um ihr die Teilnahme an der Konfirmation ihrer Tochter am 14. 03. 1937 zu ermöglichen. Stutte befürwortete die Beurlaubung und verfasste hier mit Datum vom 03. 03. 1937 folgenden handschriftlichen Vermerk: »Bei Frau L.B. wurde am 16.01. Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt. Frau B. ist im Anschluss an die Insulinkur gut remittiert. Der Ehemann wünscht die Entlassung seiner Frau, da am 14.03. die Tochter konfirmiert wird. Frau B. hat 1931 zum letzten Mal geboren, letzte Menstruation am 17.–0. 01. 1937. An248 Die Gesamtzahl der Akten beträgt nach unseren eigenen Untersuchungen über 1.800, somit hat er weniger als ein Sechstel der vorhandenen Akten durchgesehen. 249 Er gibt folgende Fundstelle an: Wü66/16, Bd. 2, Nr. 70.
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gesichts ihres Zustandes bestehen kaum Bedenken gegen eine Entlassung. Die Fortpflanzungsgefahr erscheint uns nicht erheblich. Eventuell könnte man einer kurzen Entlassung zu dem Festtag nachkommen oder auch vom Ehemann einen Revers unterschreiben lassen, dass er, im Falle seine Frau wieder konzipieren sollte, mit der Interruptio plus Sterilisation einverstanden ist«. Gegen die Sterilisation legte der Ehemann der Patientin Einspruch ein und wandte sich in der Angelegenheit an den Stellvertreter des Führers. Aufgrund dieser Intervention wurde die Unfruchtbarmachung mit Schreiben des Staatlichen Gesundheitsamtes Tübingen vom 19. 01. 1938 zurückgestellt. Ob die Sterilisation letztlich durchgeführt wurde, geht aus den Akten nicht hervor; die Angelegenheit nahm aber insofern ein tragisches Ende, als die Patientin am 06. 07. 1939 an einem Karzinom verstarb.250 Laut Bericht des Arbeitskreises »Universität Tübingen im Nationalsozialismus« zur Zwangssterilisation an der Universität Tübingen wurden bereits vor Inkrafttreten des GzVeN »mindestens 25 Sterilisationen aus eugenischer Indikation durchgeführt, neun davon in Kombination mit einem Schwangerschaftsabbruch«. – Schließlich zitiert Schäfer als fünften Fall (Wü66/16, Bd. 2, Nr. 61251) einen Patienten mit einer schizophrenen Psychose, bei dem Stutte eine Anzeige mit »Antrag zur Unfruchtbarmachung« für seinen Chef vorbereitete. Das Schriftstück vom 10. 03. 1937 ist von Prof. Hoffmann unterschrieben und am Schluss mit der handschriftlichen Paraphe »St« gekennzeichnet.
250 Der von Schäfer heftig kritisierte Revers, wonach bei bestehender Schwangerschaft mit der Sterilisation gleichzeitig auch eine Interruptio erfolgen sollte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit als Hilfestellung für die Genehmigung der Beurlaubung durch das Gesundheitsamt Tübingen gemeint, da der Amtsarzt Alfred Brasser (1898–1964), ein überzeugter Nationalsozialist (Mitglied der SS im Rang eines Sanitätsuntersturmführers), äußerst restriktiv war. So berichtet Sannwald (2015) von einer Frau aus Ofterdingen, bei der Brasser 1937 auf einer Zwangssterilisierung mit Schwangerschaftsunterbrechung im 5. Monat bestand. Ihr Mann habe bei Brasser im Gesundheitsamt vorgesprochen, als sie sich bereits in der Frauenklinik zur Sterilisation befand. Brasser habe sodann in Gegenwart ihres Mannes mit der Klinik telefoniert und gefragt, ob die Sterilisation schon durchgeführt worden sei. Nach der Antwort aus der Klinik habe Brasser sinngemäß und aufgebracht gesagt, wenn die Sache jetzt nicht gemacht werde, werde er selbst hinaufkommen und den Eingriff vornehmen. Amtsarzt Brasser war den Mitarbeitern der Klinik wohlbekannt; er war nach Aussage der langjährigen Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes Else Bohnet (1989) ein Mensch, der alle Möglichkeiten, die er durch seine Position hatte, »mit brutaler Rücksichtslosigkeit ausnützte«. Dadurch sei der Ruf des Gesundheitsamtes derartig schlecht gewesen, dass sich jedermann gescheut habe, irgendwie mit dem Amt zu tun zu haben. 251 Unter dieser Signatur sind mehrere Fälle verzeichnet, deren Name jeweils mit dem Buchstaben B beginnt; dies trifft auch auf die Fälle 3 und 5 zu.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Fazit: Unter Ausblendung der hierarchischen Strukturen in den Universitätskliniken der Vorkriegszeit und der Aufgabenverteilung in der Klinik bewertet Wolfram Schäfer die von Hermann Stutte im Auftrag angefertigten Anzeigen (es bestand strikte Anzeigepflicht) zur Sterilisation als Beitrag zur »praktischen Rassenhygiene« und erhebt schwerwiegende Schuldvorwürfe. Im Falle einer Schwangerschaft war eine Sterilisation mit gleichzeitiger Schwangerschaftsunterbrechung mit Zustimmung der Schwangeren möglich (vgl. Hintergrund) und die Ärzte waren gehalten, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen. Schäfer hat die im Staatsarchiv Sigmaringen vorhandenen Akten des Erbgesundheitsgerichts Tübingen höchst lückenhaft und selektiv durchgesehen. Seine Ausführungen beziehen sich mit Ausnahme eines Falles ausschließlich auf vier sogenannte Anzeigen (einseitige Formulare, auf denen in wenigen Zeilen die Diagnose und der Befund vermerkt waren). Die von Hermann Stutte darüber hinaus angefertigten Sterilisationsgutachten (vgl. Tab. 2.8), die sich im Staatsarchiv Sigmaringen befinden, hat er nicht zur Kenntnis genommen oder auch nicht gefunden. Der ganze Beitrag Schäfers ist im Tenor schwerwiegender Vorwürfe gegenüber der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Person Hermann Stuttes geschrieben. Er vermittelt keinerlei Einsicht in die fachlichen und menschlichen Zwänge in der nationalsozialistischen Diktatur und erweckt durch die in nahezu gehässiger Form vorgebrachten Verurteilungen den Eindruck einer moralischen Überheblichkeit. Gleichzeitig entwertet er Hermann Stutte als Person, indem er die Irrwege, die Stutte, wie die meisten anderen Zeitgenossen im Nationalsozialismus, auch gegangen ist, zum alleinigen Maßstab für die Beurteilung seines Lebenswerkes macht. Die bemerkenswerten Verdienste Hermann Stuttes um die deutsche, die europäische und die internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie werden an keiner Stelle erwähnt. 2.3.2.8 Analyse der Krankengeschichten von Patienten Hermann Stuttes (1958–1961) Hermann Stutte hat während seiner gesamten Zeit als Direktor der Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zahlreiche Patienten persönlich behandelt. Der Schwerpunkt dieser Tätigkeit war seine Sprechstunde, die in der Regel an zwei bis vier Nachmittagen pro Woche stattfand. Erhalten sind die von ihm angefertigten Krankengeschichten aus seiner Sprechstunde in den Jahren 1958–1961. Es handelt sich um insgesamt 312 Patientinnen und Patienten mit einem breiten Altersspektrum, das von unter drei Jahren bis ins Erwachsenenalter reichte. Die Altersverteilung geht aus Abb. 2.10 hervor.
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Abb. 2.10: Altersverteilung der 312 Patientinnen und Patienten
Die Abb. verdeutlicht, dass die meisten Patienten (n=117) im Schulalter, also zwischen sechs und 13;9 Jahre alt, waren. Die nächsthäufigere Gruppe waren Jugendliche (n=61), gefolgt von Heranwachsenden (18–29;9 Jahre) (n=53). Immerhin 21 Patienten waren jünger als drei Jahre und 16 älter als 30 Jahre. Es handelte sich überwiegend um ambulante Patienten, nur in 12 Fällen erfolgte eine stationäre Aufnahme. Mit 186 Fällen (59,6 %) überwogen die männlichen Patienten gegenüber den weiblichen (n=126; 40,4 %). Was die regionale Herkunft der Patienten betrifft, so stand das Bundesland Hessen mit 210 Patienten an der Spitze, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 76, Baden-Württemberg mit sechs, Bayern mit fünf, Schleswig-Holstein mit zwei und Bremen mit einem Patienten. Sechs Patienten kamen aus dem Ausland (Frankreich, Spanien, Italien, Iran und Brasilien). Diagnosen Im dem Zeitraum, über den hier berichtet wird, existierte noch kein einheitliches Diagnosenschema, so dass für die einzelnen Patienten eine Beschreibung ihrer Symptomatik konstituierend für die jeweilige Diagnose war. Dennoch konnten einige Diagnosengruppen gebildet werden, denen sich die einzelnen Symptombeschreibungen zuordnen ließen. Dies ist in Tab. 2.10 dargestellt.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Tab. 2.10: Erstdiagnosen der 312 Patientinnen und Patienten* Diagnose 1
Häufigkeit
Prozent
Reaktive / neurotische Störungen
94
30,1
Frühkindliche Hirnschädigung / hirnorganische Schädigung Epilepsie
41 24
13,1 7,7
Sprech- und Sprachstörung Sprachentwicklungsstörungen, Stottern) Affektive Störungen
24 19
7,7 6,1
Intelligenzminderung (Debilität, Imbezillität, Idiotie) Reifungsstörung / Retardierung / Entwicklungsrückstand
19 17
6,1 5,4
Mongolismus / Down-Syndrom Persönlichkeitsstörung
13 10
4,2 3,2
Interne Erkrankungen Tics
9 7
2,9 2,2
Gutachten: einzeln mit Fragestellung vermerkt Dissozialität / Delinquenz
6 6
1,9 1,9
Schizophrenie Störung des Sexualverhaltens
5 5
1,6 1,6
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Autismus
5 3
1,6 1,0
keine Diagnose Anorexia nervosa
3 2
1,0 0,6
Gesamt 312 100 * In 39 Fällen (12,5 %) wurde auch eine zweite Diagnose gestellt, die hier nicht weiter berücksichtigt wird
Die umfangreichste Diagnosengruppe umfasste reaktive und neurotische Störungen (n=94), der beispielhaft folgende Termini zugeordnet wurden: Erziehungsschwierigkeiten in der Adoleszenz, bei Familienkonflikten, anankastisches Syndrom, reaktiver Angstzustand, reaktiver Versagenszustand, präpubertäre Trotzhaltung, suizidale Reaktion auf berufliches Versagen, allgemeine Adynamie, Konfliktreaktionen bei Alkoholabusus, Individuationsschwierigkeiten eines differenzierten Adoleszenten, Zwangsneurose etc. Die zweithäufigste Kategorie waren frühkindliche Hirnschädigungen (n=41), für die jeweils anamnestische bzw. feststellbare Hinweise auf zerebrale Schäden (neurologische Befunde, EEG-Befunde) konstituierend waren. Die Diagnose Epilepsien (n=24) umfasste verschiedene Anfallstypen (z. B. Grand-Mal-Anfälle, Absencen, Dämmerattacken). Unter der diagnostischen Bezeichnung Sprech- und Sprachstörungen (n=24) wurden Sprachentwicklungsstörungen
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
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sowie Stottern und Poltern subsumiert. Die internen Erkrankungen (n=9) umfassten diagnostische Termini wie Adynamie bei Hypotonie, Hypothyreose, Verdacht auf Phäochromozytom, allergische Diathese, vegetative Dystonie. Unter der Diagnose affektive Störungen (n=19) wurden depressive Verstimmungen, manisch-depressives Irresein, episodische Verstimmungen zusammengefasst; die Kategorie Intelligenzminderungen umfasste die Diagnosen Debilität, Imbezillität und Idiotie (n=19), die Diagnose »Mongolismus« wurde in der Tabelle bewusst als eigene diagnostische Kategorie angeführt, um zu zeigen, wie häufig diese Diagnose (heute: Down-Syndrom) im Berichtszeitraum war252. In 39 von 312 Fällen (12,5 %) wurde eine zweite Diagnose gestellt, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Um die in der Literatur mehrfach geäußerte Hypothese zu überprüfen, wonach Hermann Stutte auch in der Nachkriegszeit noch eine Nomenklatur benutzt hat, die sich aus der Zeit des Nationalsozialismus herleiten lässt, wurde mit Hilfe eines Zufallsgenerators eine Zufallsstichprobe von zehn Krankengeschichten gezogen und die darin enthaltenen Befunde und Arztbriefe im Detail analysiert. Wenn man einen Arzt nicht direkt im Umgang mit seinen Patienten beobachten kann, so sind seine schriftlichen Aufzeichnungen über die Patienten und insbesondere die Arztbriefe die besten Zeugnisse seiner ärztlichen Tätigkeit. Sie enthalten in konzentrierter Form das aus allen diagnostischen Maßnahmen abgeleitete Wissen, Hinweise zur Persönlichkeit und zum Umfeld der Patienten und auch therapeutische Empfehlungen. Gleichzeitig ist der Arztbrief die entscheidende Botschaft an den Hausarzt, in vielen Fällen auch an den Patienten selbst und seine Familie. Hermann Stuttes Arztbriefe enthalten z. T. sehr originelle Formulierungen und waren stets so verfasst, dass sie auch von den Eltern der Patienten oder den Patienten selbst, wenn sie bereits Jugendliche oder Heranwachsende waren, verstanden werden konnten. In vielen Fällen waren sie auch direkt an die Eltern der Patienten adressiert. In Tab. 2.11 sind die wichtigsten Kenndaten der zehn zufällig ausgewählten Patienten und Exzerpte aus den jeweiligen Arztbriefen wiedergegeben.
252 Heute sind Kinder mit Down-Syndrom in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und auch in der Öffentlichkeit selten geworden, weil viele Eltern durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik in derartigen Fällen eine Abrasio vornehmen lassen.
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Tab. 2.11: Kenndaten der zehn zufällig ausgewählten Patientinnen und Patienten Name Jahr Alter
Diagnose
Formulierungen im Arztbrief
v.G. P-F. (1)
1959 18;11 Circuläre Verstimmung ? manischer Prägung
Latente Gereiztheit, megalomane Kraftgefühle, sprunghafte Denktätigkeit, paranoide Gedankengänge, Gefahr depressiver Nachschwankungen. Medik. Behandlg.: Covitax (Tranquilizer)
W.E. (2)
1959 23;6 !
Endogen-depressive Schwankungen
L.L. (3)
1960 13;1 ?
Neurotisches Schulversagen, Schulphobie, durchschnittliche Intelligenz
Depressive Stimmung, Selbstvorwürfe, Entschlusslosigkeit, Gefühlverarmung, Misstrauenszeichen, Examensangst, überprotektive häusliche Kulisse. Therapie: Ataractikum, z. B. Covitax Insuffizienzgefühle, seelische Misshandlung i.d. Schule? Schulische Überforderung? Ressentimentbehaftete Einstellung des Vaters, richtige schulische Lenkung erforderlich. Keine medik. Therapie
M. K-E. (4)
1960 12;8 ?
Episodisches Stottern, Sigmatismus
Sch. H. (5)
1960 16;0 ?
Persistierende Enkopresis (geheimgehalten) von neurotischer Valenz
W.L. (6)
1960 10;11 Psychosomatische ? Retardierung
Stottern in emotionalen Engpasssituationen, angedeutete Legasthenie, Insuffizienzgefühle. Th.: Sigmatismus-Behandlung, Entspannungsübungen (autogenes Training), Psychotherapie Mutter verstorben, Vater blind, foudroyant verlaufende Reifungskrise nach Tod der Mutter, Schläge durch Vater. Th.: Psychotherapie, stat. Aufnahme. Medikation: Uzaril, Tanalbin i.V. Dr. Weber : Kontaktfreudig, reifungsverzögert, unselbständig, gute intellektuelle Begabung im praktischen Bereich, Mittelschule (trotz Nichtbestehens der Aufnahmeprüfung) zuzumuten.
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
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((Fortsetzung)) Name Jahr Alter
Diagnose
Formulierungen im Arztbrief
H. A-B. (7)
1961 4;0 !
Mongolismus (den Eltern Beschreibung d. Symptomatik, bislang noch nicht bekannt) lehrbuchhafter Fall, Hinweis auf begrenzte therapeutische Möglichkeiten. Th.: Reifungsfördernder Vitamincocktail, Beratung, Empfehlung einer LebenshilfeEinrichtung
J.I. (8)
1961 27;0 !
Subakuter Depressionszustand
K.R. (9)
1961 20;7 ?
Früher Grand-MalEpilepsie, jetzt Dämmerattacken?
K.D. (10)
1960 12;2 ?
Noctambulismus, allgem. Nervosität
Stimmungstief, vegetative Störungen, Schlaflosigkeit, Vitalitätsverlust, psychische Leistungsschwäche, Arbeitsunfähigkeit. Th.: stat. Behandlung, evtl. in nervenärztl. geleitetem Sanatorium Fachgerechte Beschreibung früherer GM-Anfälle, subvisköse Temperamentsstruktur, weitere Abklärung im Hinblick auf temporale Epilepsie empfohlen. Frage: Freistellung v. Wehrdienst? Schlafwandelanfälle, kommt dabei mit Schulranzen, sensitives, asthenisches und ängstliches Kind. Noctambulismus i.d. Familie. Schulangst/Phobie, zwangsneurotisch. Th.: sedierende Behandlung abends; Sedaraupin, Contergan253
Therapeutische Interventionen Wie aus Tab. 2.11 hervorgeht, konzentrierten sich die therapeutischen Interventionen auf ausführliche Beratungen, psychotherapeutische Maßnahmen einschl. Entspannungsübungen (z. B. autogenes Training), Empfehlungen im Hinblick auf Fördermaßnahmen in besonderen Einrichtungen (z. B. der Lebenshilfe) oder Einleitung von stationären Behandlungsmaßnahmen. Die psychotherapeutischen Interventionen waren zur damaligen Zeit noch nicht sehr weit entwickelt. Sie beruhten z. T. auf tiefenpsychologisch orientierten Vorge253 Contergan (Thalidomid) war vor der Entdeckung der Nebenwirkungen (Organfehlbildungen, Fehlen von Gliedmaßen u. Organen b. Neugeborenen) ein häufig angewandtes Beruhigungs- und Schlafmittel. Die verheerenden Auswirkungen der Contergan-Einnahme wurden erst in den Jahren 1961/62 entdeckt (Contergan-Skandal).
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
hensweisen und Vorstufen von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die mehr korrektiven Charakter hatten und hinsichtlich der methodischen Ausformung mit heutigen Behandlungsmethoden nicht zu vergleichen sind. Einen nicht geringen Stellenwert nahm die medikamentöse Behandlung ein. Auch diesbezüglich ist zu sagen, dass die Psychopharmakotherapie noch in ihren Anfängen steckte. Immerhin wandte Hermann Stutte, entsprechend dem damaligen Wissensstand, indikationsgeleitet folgende Medikamente an: – Neuroleptika: Unter ihnen standen hauptsächlich Präparate aus der Rauwolfia-Gruppe wie Reserpin, Sedaraupin, Serpasil im Vordergrund, ebenso Phenothiazin-Derivate wie Melleril, Megafen, Neurocil, Atosil, Decentan und Taxilan, ferner Thioxanthen-Präparate wie Truxal. – Antiepileptika: In den Krankengeschichten finden sich Hinweise auf die Anwendung von Barbituraten (z. B. Mylepsin), Phenitoin-Präparate wie Centropil, Oxcarbazin-Präparate (z. B. Abidan) sowie Phenobarbital (Luminal). – Anxiolytica-Tranquilizer : Hier verordnete Stutte Präparate aus der Benzodiazepin-Gruppe, z. B. das Chloadiazepoxid Librium, allerdings sparsam. – Antidepressiva: Diesbezüglich fällt auf, dass bei Erkrankungen aus dem affektiven Krankheitsspektrum die Antidepressiva weitgehend fehlen. Dies hängt damit zusammen, dass das erste trizyklische Antidepressivum (Imipramin) erst 1957 durch den schweizerischen Psychiater Roland Kuhn entdeckt wurde und 1958 erst auf den Markt kam. Bis dahin behalf man sich mit sedierend wirkenden Antihistaminika (z. B. Covatix), die Stutte, neben gelegentlich veordneten Tranquilizern, anwandte. – Stimulanzien: Auch Stimulanzien wie Ritalin, Präludin oder Tradon wurden in seltenen Fällen angewandt. Darüber hinaus umfasste das Verordnungsspektrum auch unspezifische Medikamente wie Vitaminpräparate oder, bei entsprechender Indikation, auch Kreislaufmittel wie Prolintan (z. B. Katovit), damals häufig bei Hypotonie angewandt. Erst später stellte sich heraus, dass dieses Präparat auch abhängig macht. Zur exemplarischen Veranschaulichung der ärztlichen Berichterstattung sind zwei Arztbriefe wiedergegeben. Der erste Brief an den Hausarzt bezieht sich auf den in Tab. 2.11 angeführten ersten Patienten (v.G., P-F.) und veranschaulicht, neben der Beschreibung des Krankheitsbildes, die typische Diktion seiner Berichterstattung. »Lieber Herr Kollege B., bei P-F. v.G., den ich heute (zusammen mit den Eltern) gesprochen und untersucht habe, möchte ich eher an eine leichte cirkuläre Verstimmung manischer Färbung (als an einen schizophrenen Prozeß) denken. Die Verstimmung ist unter der sedierenden Behandlung und wohl auch aus innerer Bedingung heraus aber bereits im Abklingen.
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Sie hat offenbar begonnen zwischen Weihnachten und Neujahr, führte dann zu jenen megalomanen Kraftgefühlen, latenter Gereiztheit mit permanenter Abwehrhaltung gegenüber allen realen oder vermeintlichen Einengungen von außen her, zu einer hartnäckigen Schlaflosigkeit und auch allerlei sonstigen vegetativen Störungen (übermäßiges Hungergefühl, extreme Neigung zum Schwitzen) und schließlich auch zu einem Nikotinabusus, der für sich dann wieder die Symptomatik pointierte. Jetzt fällt bei dem Jungen noch eine etwas sprunghafte Denktätigkeit neben der allgemeinen Zappeligkeit, inneren Unrast und Nervosität (in Mienenspiel und Gestik) auf. Bei der körperlichen Untersuchung fand ich lediglich eine Blutdruckerhöhung von 155/75 mmHg, die wohl gelegentlich nochmals der Kontrolle und auch internistischen Beobachtung bedarf. Mittlerweile hat er sich aber doch von den paranoiden Gedankengängen distanziert, empfindet wohl auch selbst seine Reaktionslage nach Neujahr als abnorm und scheint sich mehr und mehr doch wieder innerlich in die Gewalt zu bekommen. Ich habe trotzdem den Eltern angeraten, den Jungen bei seiner jetzigen Reizempfänglichkeit noch nicht wieder arbeiten zu lassen. Der Vater beabsichtigt, mit ihm 14 Tage in den Schwarzwald zu fahren, was ich sehr befürworte. Medikamentös habe ich Covatix verordnet (2–3 x tgl. 1 Tbl.). Ggf. kann man aber im Falle der Unverträglichkeit auch auf einen anderen Tranquilizer übergehen. Gleichzeitig habe ich die Eltern aufmerksam gemacht auf die Möglichkeit einer depressiven Nachschwankung. Es bestehen einige Anhalte dafür, daß der Junge früher schon einmal eine leichte depressive Verstimmung mit passagerer schulischer Leistungsbehinderung durchgemacht hat. Mit bestem Dank für die Überweisung und kollegialen Grüßen Ihr H. St.«
Der zweite, nur ausschnittsweise wiedergegebene Arztbrief vom 30. 07. 1957 verdeutlicht die Einstellung Hermann Stuttes zur Homosexualität, deren Ausübung zum damaligen Zeitpunkt gemäß §175 StGB noch strafbar war. Der § 175 wurde erst 1994 gestrichen. Es handelt sich um einen 20-jährigen Heranwachsenden, der ihm von einer Fachärztin für Psychiatrie überwiesen worden war : »Ich möchte doch mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich um eine genuine Homosexualität handelt. Die individuelle Anamnese des jungen Mannes lässt bis in die frühe Kindheit homosexuelle Regungen zurückverfolgen. […] Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich bei seinen Angaben um eine retrospektive Verfälschung der Vorgeschichte aus der Sicht des jetzigen Liebeserlebnisses handelt. Vielmehr berichtet H. über diese Dinge ganz nüchtern, sachlich und ohne Scheu, so dass ich eigentlich von der Echtheit der homosexuellen Regungen überzeugt war. Dazu kommt, dass ja auch die beiden Mädchenbekanntschaften, die er nach der Pubertät hatte, ihm gar nichts bedeutet haben, es sich vielmehr um reine Tanzpartnerinnen handelte, mit denen es auch niemals zu irgendwelchen intimen Berührungen gekommen ist. Das jetzige Verhältnis zu R. wird natürlich etwas emphatisch dargestellt und ganz unter dem »Alles oder nichts-Prinzip« gesehen. Ich zweifele allerdings nicht, dass H. bei weiterem Widerstand der Familie in den »Untergrund« getrieben und doch bald
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letzte Konsequenzen ziehen, d. h., sich von der Familie endgültig lösen wird. Ich habe deshalb dem Stiefvater geraten, kein Geld für weitere psychotherapeutische Behandlungen auszugeben, die Familie dahin zu bringen, dass sie »ja« zu dieser konstitutionell verankerten Abartigkeit des Sohnes sagt, ihn aber andererseits nicht verstößt und endgültig abschreibt. Ich habe den Eindruck, dass dieser Einstellungswandel der Familie, die doch wohl die ganze Sache sehr stark moralisierend betrachtet, nicht leicht fallen wird. Des Übrigen habe ich aus meiner Sicht der Dinge ja »ja« gesagt zur Lösung der jetzigen Stelle und zur etwaigen Auswanderung beider in die Schweiz, wo angeblich die Unzucht zwischen erwachsenen Männern nicht unter Strafe steht. […] Hinsichtlich der Wirksamkeit äußert sich Stutte skeptisch und fährt fort: »Ich habe ihm sinngemäß auch gesagt, dass er sich nicht schon als sexuell endgültig geprägt ansehen solle, sich vielmehr geöffnet halten solle für Begegnungen auch mit dem anderen Geschlecht. So sehr man zunächst auch meinen könne, es handele sich im vorliegenden Fall um ein homosexuelles Abgleiten eines ursprünglich heterosexuell angelegten Menschen in der Irritationsphase der Pubertät, so glaube ich doch aufgrund des Gesamteindruckes und des vordergründigen Stellenwertes, den homosexuelle Regungen in der Psyche dieses Mannes haben, dass es sich um eine echte genuine Homosexualität handelt«.
Der Bericht zeigt, dass Stutte, obwohl er eine mögliche Umorientierung der Sexualität nicht ganz ausschließt, von einer relativ fest gefügten Haltung ausgeht, diese nicht für veränderbar hält und den jungen Mann vor einer möglichen Verurteilung bewahren will, indem er die Auswanderungspläne des jungen Mannes mit seinem Partner in die Schweiz akzeptiert. Diese Haltung stimmt weitgehend mit der Beurteilung der Homosexualität heute überein. 2.3.2.9 Das Kommunikationsnetzwerk Hermann Stuttes und seine Beurteilung durch die Fachwelt Hermann Stutte hat, beginnend mit seiner Teilnahme am Gründungskongress der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik 1940 in Wien, ein reges Interesse entwickelt, mit Fachkollegen im In- und Ausland in Kontakt zu kommen, von ihnen zu lernen und mit ihnen Erfahrungen auszutauschen. Aus Tübingen kommend, war ihm im Hinblick auf das Verständnis psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter der von Robert Gaupp (1870–1953) vertretene mehrdimensionale Ansatz vertraut, der zwangsläufig auch das interdisziplinäre Denken nach sich zog. Psychische Störungen mehrdimensional zu betrachten, setzt voraus, dass man auch anderen Disziplinen, jenseits des eigenen Faches, die Möglichkeit einräumt, zur Verursachung, Diagnostik und Therapie wesentliche Erkenntnisse beizutragen. Dementsprechend umfasste das Kommunikationsnetzwerk Hermann Stuttes neben den Vertretern ärztlicher Disziplinen (Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater, Neurologen, Pädiater, Neuropädiater) auch Exponenten der Psychologie, der Pädagogik und Sonderpädagogik, der Jurisprudenz und der Sozialwissenschaften. Dass dieser
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Informationsaustausch international sein musste, resultierte nicht nur aus einem autochthonen Erkenntnisinteresse, sondern auch aus der Tatsache, dass der Kontakt deutscher Wissenschaftler und Kliniker mit Fachvertretern im Ausland während der Zeit des Nationalsozialismus extrem eingeschränkt war. Es ist nahe liegend, dass aus der engen fachlichen Kommunikation und Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem Ausland auch Freundschaften entstanden sind, die viele Jahre überdauerten. Abgesehen vom regen Informationsaustausch mit seinen Schülern und ehemaligen Mitarbeitern, waren die Kontakte mit ausländischen Kollegen Hermann Stutte ein besonderes Anliegen. Mit am Anfang standen hierbei die Magglinger Tagungen, die zugleich die ersten Treffen waren, die den deutschen Kollegen nach dem Krieg eine Wiederaufnahme in die europäische Fachwelt ermöglichten. Es folgten Kontakte zu Kollegen in den USA, Kanada und Japan. Inhaltlich ging es dabei um so grundsätzliche Fragen wie: – Die Entwicklung eines einheitlichen Klassifikationssystems, – die Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigene Facharztdisziplin, – die Gründung von Lehrstühlen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Universitäten, – die Zusammenarbeit mit Vertretern von Anrainerdisziplinen im Hinblick auf drängende gesellschaftliche Probleme der Jugenddissozialität und -delinquenz, Kindesmisshandlung und Familienfragen, – die Mitarbeit an der Entwicklung eines effektiven Sonderschulwesens und nicht zuletzt – die Beteiligung an Gesetzesinitiativen. Deutschland Innerhalb Deutschlands standen naturgemäß die Kontakte zu den Fachkollegen im Vordergrund. Hier überwog der Informationsaustausch mit den Fachvertretern in der BRD. Der Kontakt zu den Kinder- und Jugendpsychiatern in der DDR war aufgrund der politischen Situation notgedrungen spärlicher. Als erster Lehrstuhlinhaber in der BRD für das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie fiel Hermann Stutte dabei die Aufgabe zu, für die Verbreitung des Faches zu sorgen, nicht nur an den Universitäten, sondern auch im nicht-universitären Bereich. Er fehlte in der Nachkriegszeit bis Ende der 1970-er Jahre kaum auf einer Tagung, sofern er nicht wegen gesundheitlicher Probleme absagen musste. Er litt nach einer Darmoperation in jungen Jahren relativ häufig an plötzlich auftretenden Subileuszuständen, die nicht selten eine stationäre Aufnahme in der chirurgischen Klinik erforderlich machten. Auch vom Krankenbett aus entwarf er handschriftlich Briefe zu aktuellen Fragen der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft, die seine Sekretärin abschrieb und wegschickte. Inner-
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halb der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte Hermann Stutte eine unangefochtene Rolle als Initiator fortschrittlicher Entwicklungen. Er setzte sich vehement für die Förderung der »extramuralen Kinder- und Jugendpsychiatrie« ein, beteiligte sich insbesondere an Gesetzesinitiativen und förderte, wo er konnte, die Aktivitäten der Lebenshilfe, die er mitbegründet hatte. Zum Initiator und Gründer der Lebenshilfe, Tom Mutters, pflegte er eine enge freundschaftliche Beziehung. Um dessen Verdienste zu würdigen, verfasste er für die DGKJ den Entwurf eines Antrages zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes254,255,256. In diesem Schriftsatz führte er u. a. aus: »Die DGKJ identifiziert sich voll auch mit den Zielsetzungen und sozialpädagogischen Initiativen der Lebenshilfe und sieht in der Tätigkeit dieser Organisation einen der wesentlichen Beiträge, die in der BRD nach dem Kriege für behinderte Mitbürger geleistet worden sind«.
Es ist nicht möglich, den intensiven Informationsaustausch innerhalb der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie, der sich über Jahrzehnte erstreckte, im Einzelnen zu referieren. Es sollen aber einige wenige Gesichtspunkte herausgearbeitet werden, die für die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie bedeutsam und für Hermann Stutte ein besonderes Anliegen waren: (1) An erster Stelle zu nennen ist natürlich die Kommunikation im eigenen Arbeitskreis und auf örtlicher Ebene. In der Klinik herrschte eine liberale Atmosphäre und absolute Offenheit gegenüber unterschiedlichen Fragestellungen und theoretischen Konzepten. Das Credo war die Mehrdimensionalität und das interdisziplinäre Denken. Projektdiskussionen und Lehrveranstaltungen (unter ihnen besonders das interdisziplinäre sozialpädagogische Seminar, vgl. Kap. 2.3.4) waren kommunikative Ereignisse von hohem Stellenwert. (2) Der Informationsaustausch mit früheren Mitarbeitern, die aus seiner Schule hervorgegangen und an anderen Orten tätig waren, insbesondere mit Hubert Harbauer, Peter Strunk, Eckart Förster und Helmut Remschmidt, setzte sich bruchlos fort. Als prominentes Beispiel sei der mit Hubert Harbauer genannt, der inzwischen den Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Frankfurt übernommen hatte, und die Organisation des III.
254 Schreiben vom 01. 06. 1978 an die damalige Vorsitzende der DGKJP, Hedwig Wallis, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte DGKJ VII. 255 Die DGKJP hatte bereits in ihrer Vorstandssitzung am 19. 05. 1978 in Hannover einen einstimmigen Beschluss diesbezüglich herbeigeführt und Hermann Stutte gebeten, den Antrag an das Bundespräsidialamt zu entwerfen. 256 Im Jahr 1979 erhielt Tom Mutters das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, s. Becker/ Kächler (2016).
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UEP-Kongresses in Wiesbaden im Jahr 1967, über den sie einen umfangreichen Kongressbericht herausgegeben haben257. (3) Die enge Zusammenarbeit mit dem Juristen Rudolf Sieverts (1903–1980) als gemeinsame Herausgeber der traditionsreichen Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform war von immenser Bedeutung für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Recht. Diesen Titel trägt auch eine Festschrift zum 70. Geburtstag von Hermann Stutte258. Auch aus dieser Kooperation erwuchs eine lang währende freundschaftliche Beziehung. (4) Auch die Zusammenarbeit innerhalb der Redaktion der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Hermann Stutte und Hubert Harbauer im Jahre 1973 gegründet hatten, war von prägender Bedeutung für das Fach und für Hermann Stutte ein besonderes Anliegen. Eingehende Manuskripte beurteilte er stets am selben Tag, wobei er das Motto ausgab: »Über der Beurteilung eines Manuskripts darf die Sonne nicht untergehen!« (5) Der schriftliche und mündliche Informationsaustausch innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jahrzehnte hindurch, war ein zentrales Anliegen Hermann Stuttes. Er hat zu nahezu allen wichtigen Fragen des Faches aus eigener Initiative oder auf Anfrage Stellung genommen. Seine Kommunikationspartner waren aber nicht nur die Lehrstuhlinhaber, sondern auch die Leiter außeruniversitärer Institutionen. Gleichwohl stand die Kommunikation mit den Lehrstuhlinhabern im Vordergrund. In seiner Amtszeit waren dies u. a. Heinrich Albrecht, Hubert Harbauer, Ingeborg Jochmus, Reinhart Lempp, Manfred Müller-Küppers, Thea Schönfelder, Friedrich Specht, Peter Strunk und Hedwig Wallis. Mit welcher Genauigkeit er die Entwicklung der Fachgesellschaft verfolgte und mit welchen Details er sich befasste, geht beispielhaft aus einem Schreiben hervor, das er am 25. 09. 1979, also etwa 1 12 Jahre vor seinem Tod, an den damaligen Schriftführer der DGKJ, Gerhardt Nissen (1923–2014), nach Durchsicht des Mitgliederverzeichnisses der DGKJ richtete: Er weist zunächst darauf hin, dass zwei bereits verstorbene Mitglieder noch im Mitgliederverzeichnis enthalten sind und dass die Neuzusammensetzung des Vorstandes dem Vereinsregister beim Amtsgericht mitgeteilt werden müsse und fährt dann fort: »Bemerkenswert, dass von 352 ordentlichen Mitgliedern (nur) 145 Frauen sind. Ich hatte mit einem höheren Prozentsatz gerechnet«. Er schließt den Brief mit dem Satz:
257 Stutte H, Harbauer H (1968) (Hrsg). Concilium paedopsychiatricum, Karger, Basel und New York. 258 Remschmidt/Schüler-Springorum (1979), Heymanns Verlag, Köln.
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»Für einen Oldtimer mobilisieren das Namensregister, der historische Abriss und die Ehrenmitgliederliste doch manche sympathische Erinnerungen«259.
An den Erfolgen der Kollegenschaft nahm er auch lange nach seiner Emeritierung regen Anteil. Seine Gratulationen, Glückwunschschreiben und Laudationes sind legendär. Mitteleuropa Im mitteleuropäischen Raum konzentrierte sich das Kommunikationsnetzwerk Hermann Stuttes auf die Kollegen in nahezu allen westeuropäischen Ländern und, naturgemäß, weniger ausgeprägt auf Osteuropa. Besondere Schwerpunkte nahmen dabei Fachkollegen aus der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden ein, aber auch die Kollegenschaft aus den skandinavischen Ländern. Die Kontakte zu kinder- und jugendpsychiatrischen Kollegen aus der Schweiz begannen mit dem Magglinger Symposium im Jahre 1954, an dem 26 Kinderpsychiater aus neun europäischen Ländern teilnahmen260. Im Gefolge dieses ersten Symposiums entwickelte sich ein intensiver Gedankenaustausch mit den schweizerischen Kollegen Adolf Friedemann (Biel), Jakob Lutz (Zürich) und, in geringerem Umfang, auch mit Moritz Tramer (Bern). Auf dem ersten Magglinger Symposium wurde zugleich die Union Europäischer Paedopsychiater (UEP) gegründet. Zum Gründungssekretär wurde Friedemann gewählt, mit dem sich ein reger Schriftverkehr entwickelte und auch eine enge freundschaftliche Beziehung, in die auch die Familien einbezogen waren. Die fachbezogenen Kontakte erstreckten sich auf Satzungsfragen (was ein besonderes Steckenpferd von Hermann Stutte war), auf die Themen für die künftigen Magglinger Symposien (vgl.Kap.1.3) und auf organisatorische Fragen. In einem Schreiben vom 02. 11. 1955 an Friedemann schlug Stutte vor, die deutschen Kollegen BennholdtThomsen (Pädiater, Köln), von Stockert (Kinder- und Jugendpsychiater, Frankfurt) und Schmitz (Kinder- und Jugendpsychiater, Bonn) einzuladen261. Mit diesem Vorschlag versuchte Stutte, eine Brücke zur Pädiatrie zu schlagen, die sich, wie Bennholdt-Thomsen in einem Schreiben an Friedemann im Hinblick auf Ausbildungsfragen und pädiatrische Themen erwähnte, zu wenig berücksichtigt fühlte262. Diesem Wunsch wurde Rechnung getragen, indem er eingeladen wurde, auf dem zweiten Magglinger Symposium einen Vortrag zu
259 260 261 262
Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Dt. Ges. f. KJP, VII. Castell et al, 2003, 161. Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP. Schreiben von B-Th. vom 08. 12. 1955 an Friedemann, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/ 54, Akte UEP.
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halten zum Thema: »Die Bedeutung der mütterlichen Fürsorge in der frühen Kindheit«263. In Fortsetzung der Korrespondenz bezüglich der Magglinger Symposien ging es um die Entwicklung eines Diagnosenschemas (vorgeschlagen von Villinger), um die Frage der Gründung einer eigenen Zeitschrift der UEP264 und den Ort des III. UEP-Kongresses. Der intensivste Informationsaustausch und zugleich eine tiefe freundschaftliche Beziehung entwickelte sich zu Jakob Lutz, dem Extraordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich. Die Korrespondenz mit Lutz bezieht sich in den Jahren der Magglinger Symposien (1954–1961) überwiegend auf fachliche Fragen, die an anderer Stelle (vgl. Kap. 1 ) bezüglich der Thematik angeführt sind. In den letzten Lebensjahren Stuttes überwiegen die persönlichen Themen und machen eine tief empfundene Freundschaft sichtbar. Die Briefe kreisen um Krankheit, um die Familie, um den Rückzug aus Fachverbänden, Zeitschriftenredaktionen und auch um verstorbene Kollegen. So schreibt Stutte an Lutz, dass er auf Umwegen vom Ableben Heuyers (er wurde 93 Jahre alt) erfahren habe, den er sehr verehrte. Duch8 (1916–2010) habe ihm mitgeteilt, dass er nach Heuyers Tod einen Brief aus dessen Hand erhalten habe, »in dem sich dieser Nestor der europäischen Kinderpsychiatrie jede öffentliche Trauerfeier und auch einen Nekrolog in der von ihm ja gegründeten Zeitschrift »Revue de Neuropsychiatrie Infantile« verbat. Kannst du dir darauf einen Vers machen?«265. Hermann Stutte schrieb an Lutz, dass er dennoch einen Nachruf verfassen werde, was Lutz auch guthieß266. Die Briefe der beiden Freunde zeugen von großer Zuneigung und Herzlichkeit, aber auch vom Bewusstsein, dass die verbleibende Lebensspanne endlich ist. Zugleich betonen beide, wie viel ihnen diese Freundschaft bedeute. In einem Gratulationsschreiben vom 17. 02. 1978 zum 75. Geburtstag von Jakob Lutz schreibt Stutte: »Es sei aber auch bei dieser Gelegenheit nochmals angefügt, wie sehr ich unser (eigentlich so spät gewachsenes) Freundschaftsverhältnis immer wieder als bereichernd und beglückend erlebe, selbst wenn der unmittelbare persönliche Kontakt sich leider auf intervalläre Begegnungen beschränkt. Ich wünsche Dir weiterhin jene weise Gelassenheit und intensive Anteilnahme, mit denen Du die Dich bewegenden anthropologischen, kinderpsychiatrischen und entwicklungspsychologischen Probleme angegangen bist. Ich wünschte auch, dass wir uns öfters sprechen könnten. Selbst muss ich allerdings mehr und mehr haushalten mit meinen Kräften, wenn ich das Schiff
263 ebenda. 264 Rundbrief von Friedemann vom 17. 07. 1956, ebenda. 265 Brief Stuttes an Lutz vom 31. 01. 1978, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54. Dt. Ges. KJP, VII. 266 Brief von Lutz an Stutte vom 19. 02. 1978, ebenda.
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noch durch den Strudel der unerfreulichen Universitäts- und Fachbereichssituationen (bis zum Lotsenwechsel) steuern will«267.
Der schriftliche und mündliche Austausch mit Moritz Tramer war seltener und distanzierter und bezog sich hauptsächlich auf die von Tramer herausgegebene Zeitschrift Acta Paedopsychiatrica und auf berufspolitische Fragen. In den 1970-er Jahren war auch Walter Bettschart (Lausanne) ein wichtiger Kommunikationspartner. Er war, mehrfach auch in Marburg, ein geschätzter Dolmetscher, wenn französische Kollegen die Marburger Klinik besuchten, war Präsident der UEP und organisierte den VII.Kongress der UEP in Lausanne. Die intensiven Kontakte Hermann Stuttes zur französischen Kinder- und Jugendpsychiatrie resultierten ebenfalls aus den Magglinger Symposien, bei denen diese stets in größerer Zahl vertreten waren. Die wichtigsten Kommunikationspartner waren Georges Heuyer, L8on Michaux und später auch Didier Duch8, Serge Lebovici, seltener auch Widlöcher, Flavigny und Schachter. Engere Kontakte bestanden zu Georges Heuyer, bei dem sich Hermann Stutte im Hinblick auf den Neubau der Marburger Klinik, aber auch im Hinblick auf fachliche Fragen, Rat holte. Für den wesentlich älteren Heuyer war allerdings Werner Villinger die Hauptkontaktperson. Im Hinblick auf den geplanten Neubau der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Marburg hatte Stutte Heuyer um die Baupläne der Klinik in Paris gebeten. In einem Schreiben an Heuyer vom 24. 02. 1955 bedankt er sich dafür und betont, dass er aus den Pariser Bauplänen manche Anregungen gewonnen habe. Gleichzeitig beschreibt er das Konzept der geplanten Marburger Klinik268. Bemerkenswert ist ein Dankesbrief nach dem UEP-Kongress in Paris von Hermann Stutte an Heuyer, weil er nicht nur den damaligen Stand, sondern auch die Zukunftsperspektiven der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie hervorhebt: Nach einer emphatischen Danksagung an Heuyer fährt Stutte wie folgt fort: »Auch für die eklektisch-empirisch-medizinische Tradition der europäischen Kinderpsychiatrie, wie sie gleichermaßen auch von Tramer und Villinger vertreten worden ist, war die Pariser Tagung ein eindrucksvolles Zeugnis.« Dieser Brief ist bereits ausführlicher im Abschnitt über den I. UEP-Kongress in Paris (1960) abgedruckt.
Die Korrespondenz mit L8on Michaux, dem Nachfolger Heuyers auf dem Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Sorbonne, konzentriert sich auf fachliche und organisatorische Fragen, ebenso der Schriftwechsel mit D.J. Duch8, mit dem die Kontakte enger waren als mit Michaux. Bemerkenswert ist die Kommunikation mit Duch8 im Hinblick auf Referate zum Thema »Cha267 Schreiben Hermann Stuttes an Lutz vom 17. 02. 1978, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/ 54. Dt. Ges. KJP, VII. 268 Schreiben von Stutte an Heuyer vom 24. 02. 1955, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
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rakterstörungen« auf dem sechsten Magglinger Symposium im Jahr 1961. Zur Vorbereitung der Sitzung über Charakterstörungen erläutert Hermann Stutte in einem ausführlichen Schreiben an Duch8 das Konzept seines Vortrages. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung seien hier die entscheidenden Passagen im Hinblick auf die Thematik wiedergegeben269 : »Der Ausdruck ›Charakterstörung‹ ist in unserer deutschen Terminologie ein phänomenologischer und nicht ein ätiologischer Begriff. Ich werde deshalb darlegen, was darunter verstanden worden ist und heute verstanden wird, also kurz auch auf nosographische Grundansichten auf dem Gebiet kindlicher Charakterstörungen eingehen. Dann werde ich versuchen, eine terminologische Abgrenzung vorzunehmen – etwa zwischen Psychopathie, Neurose, Neuropathie, Neurasthenie, Charakterneurose, encephalopathischen bzw. endokrinopathischen Charakterstörungen etc. Kurz streifen werde ich die Frage, ob und inwieweit es anlagemäßige Charakterabartigkeiten gibt bzw. wie die Einstellung in unserer Kinderpsychiatrie-Geschichte zu diesen anlagemäßigen Charakterabartigkeiten sich gewandelt hat. Kurz aufzeigen werde ich auch die Beziehung zwischen Charakterstörungen und Reifungsphasen, die Entwicklungslinie umschriebener Charakteropathien und schließlich auch die diagnostisch-therapeutischen Fragen, die dieser Problemkreis aufwirft. Ich habe mich gerade auch in die ausländische Literatur über diese Fragen in letzter Zeit etwas hineingelesen, werde diese aber, insbesondere die französischen Auffassungen, nicht näher darlegen, zumal ich annehme, dass dies in Ihrem Referat erfolgt«270.
Der Begriff des Charakters spielte in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts zur Kennzeichnung der Eigenarten von Kindern eine wichtige Rolle. Man ging davon aus, dass der Charakter eines Kindes durch Erziehungsmaßnahmen »geformt« werden kann. Dies spiegelt sich in einem frühen Werk des Psychiaters Jean Paul Friedrich Scholz (1831–1907) wieder, das den Titel trägt: »Die Charakterfehler des Kindes«271 und als »Erziehungslehre für Haus und Schule« diente. Auch Paul Schröder veröffentlichte 1931 sein Buch »Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit«. Der Begriff des Charakters wurde später abgelöst von dem der Persönlichkeit und im Falle von Auffälligkeiten von dem der Persönlichkeitsstörung bzw. Psychopathie. Der Terminus Psychopathie wiederum diente Anfang des 20. Jahrhunderts zur Beschreibung dissozialer und delinquenter Kinder und Jugendlicher, die z. T. in eigenen »Psychopathen-Sprechstunden« untersucht, in entsprechenden Einrichtungen untergebracht und z. T. in sogenannten »Psychopathen-Klassen« beschult wurden272. Hauptkontaktperson der italienischen Kinder- und Jugendpsychiatrie war 269 Schreiben von Stutte an Duch8 vom 15. 03. 1961, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP. 270 Der Vortrag Hermann Stuttes findet sich in den Acta Paedopsychiatrica 28, 273–295, 1961. 271 Scholz F (1891). Die Charakterfehler des Kindes. Mayer, Leipzig. 272 Zur Entwicklung des Psychopathie-Begriffs in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vgl. Remschmidt (1978), ZS Kinder- und Jugendpsychiatrie, 6. S. 280–301.
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Giovanni Bollea (1913–2011), der als Präsident der UEP den II. Europäischen Kongress für Jugendpsychiatrie in Rom im Jahre 1963 organisierte. Die Kommunikation zwischen Stutte und Bollea erfolgte überwiegend in französischer, z. T. auch in deutscher Sprache. Auf Anfrage von Bollea teilt Stutte am 27. 09. 1962 mit, dass er auf dem UEP-Kongress 1963 einen Vortrag zum Thema halten möchte: »Phasische Störungen psychotischen Charakters im Kindes- und Jugendalter«. Die Korrespondenz zum II. UEP-Kongress schließt Stutte ab mit einem Dankesschreiben an Bollea in deutscher Sprache vom 10. 06. 1963273. In den Dank schließt er Bolleas Gattin und die ganze Familie ein und führt dann aus: »Ich meine, Sie dürfen zufrieden sein mit dem allseits positiven Echo, das dieser römische Kongress gefunden hat. Dass er der Sache der Kinderpsychiatrie sehr genützt hat, davon bin ich fest überzeugt und ich hoffe, dass er Ihnen bald auch die offizielle Anerkennung durch die Umwandlung Ihrer Stelle in einen Lehrstuhl bringen möge«.
Skandinavien Kommunikationspartner von Hermann Stutte im skandinavischen Raum waren Sven Ahnsjö (Stockholm), Anna-Lisa Annell (Uppsala) und Sven E. Donner (Helsinki). Alle drei hatten am Pariser UEP-Kongress teilgenommen, waren aber bereits vorher mit Hermann Stutte in Kontakt gewesen. Die Intensivierung der Kommunikation mit den skandinavischen Kollegen ergab sich in der Planungsphase des IV. UEP-Kongresses in Stockholm. Hermann Stutte hatte nach dem von ihm verantworteten III. UEP-Kongress 1967 in Wiesbaden seine Erfahrungen als eine Art von Leitlinien unter dem Titel »Erfahrungen III. UEPKongress 1967 in Wiesbaden«274 auf fünf Seiten zusammengefasst. Diese Leitlinien sollten die Planung des IV. UEP-Kongresses und auch künftiger Kongresse erleichtern. Die Kommunikation mit den skandinavischen Kollegen erfolgte jeweils in deutscher Sprache. In seinem Antwortschreiben vom 19. 05. 1967 auf einen Dankesbrief von Frau Annell vom 04. 05. 1967 bedauert Stutte das für ihn dramatische Ende des IV. UEP-Kongresses: »Ich musste mit einem erneut aufgetretenen Subileus-Zustand in die hiesige chirurgische Klinik eingewiesen werden, bin aber dann doch trotz des anfangs bedrohlich aussehenden Befundes um eine Operation herumgekommen«275. Bereits im März hatte Frau Annell mit Stutte über den IV. UEP-Kongress, der in Stockholm stattfinden sollte, korrespondiert, wobei sie darauf hinwies, dass, da der Kongress in Stockholm statt273 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP-Kongress Rom (31. 05.–04. 06. 1963). 274 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte III. UEP-Kongress Wiesbaden (04.–09. 05. 1967). Der Leitfaden enthielt detaillierte Angaben zur Vorbereitung des Kongresses, zur Durchführung und zu den Nach-Kongress-Verpflichtungen. 275 ebenda.
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finde, auch Ahnsjö Präsident sein sollte. Es bestehe keinerlei Konkurrenz zwischen ihr und ihm276. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen Hermann Stutte und Anna-Lisa Annell in den Jahren 1969–1971 befasst sich überwiegend mit Vorbereitungen für den IV. UEP-Kongress in Stockholm, der in der Zeit vom 30. 08.–02. 09. 1971 stattfand. Der Stockholmer Kongress war, wie zuvor kein anderer, einer einzigen Störungsgruppe gewidmet, nämlich den »Depressionszuständen bei Kindern und Jugendlichen«. Hermann Stutte machte hierzu umfangreiche Vorschläge zu den Unterthemen und nannte auch in Frage kommende Referenten. An Unterthemen benannte er : (1) Angstzustände, (2) Depressionen und Schulversagen, (3) Suizidversuche im Kindes- und Jugendalter, (4) Kind und Tod, (5) Kinder von zirkulären Eltern, (6) Identifikationskrisen Jugendlicher mit phasischen Verstimmungen, (7) Psychotherapie und (8) Pharmakotherapie. In die Diskussion um den Kongress war auch der Duzfreund Hermann Stuttes, Sven Ahnsjö, einbezogen. Stutte hatte ihn zu einem Tagungsaufenthalt nach Königswinter eingeladen und dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob der V. UEP-Kongress in Polen stattfinden sollte277. Interessant ist die Diskussion sowohl im Hinblick auf die thematischen Überlegungen zum Kongressprogramm als auch im Hinblick auf die einzuladenden Personen, was hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann. Was Stutte betrifft, so weist er immer wieder darauf hin, dass er wegen seines fragilen Gesundheitszustandes nicht garantieren kann, dass er eingegangene Verpflichtungen wahrnehmen kann. Durch einen intensiven Schriftwechsel und enge freundschaftliche Beziehungen waren Hermann Stutte und Arn van Krevelen verbunden. Die Initiative hierzu ging von van Krevelen aus, der in den Niederlanden eine pädagogisch-pädologische Klinik leitete und später Präsident der International Association for Child and Adolescent Psychiatry (IACAP) wurde. Van Krevelen animierte Hermann Stutte, in der Fachgesellschaft mitzuarbeiten. Daraus entwickelten sich viele persönliche Kontakte, gegenseitige Besuche und eine lang währende Freundschaft. Im Jahr 1960 unternahmen sie eine gemeinsame Studienreise in die USA, auf der Hermann Stutte schwer erkrankte, stationär behandelt werden musste und vorzeitig nach Deutschland zurückflog. Auf dieser Reise hatte Stutte vor, Gerald Caplan und Leo Kanner zu besuchen, mit denen er bereits über längere Zeit korrespondiert hatte. In einem Schreiben vom 10. 03. 1960 an Frau Stutte entschuldigte sich Kanner dafür, dass er sie nicht über den Krankheitszustand ihres Mannes informiert hatte. Er hatte sich, gemeinsam mit van Krevelen, mit 276 ebenda. 277 Korrespondenz zwischen Ahnsjö und Stutte, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte IV. UEP-Kongress Stockholm.
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dem Krankenhaus in Buffalo, wo Stutte stationär aufgenommen war, in Verbindung gesetzt, aber nicht Frau Stutte verständigt. Dieser Brief ist in Abb. 2.11 im Faksimile wiedergegeben.
Abb. 2.11: Brief von Leo Kanner an Frau Dr. Stutte
Er drückt gleichzeitig aus, welche Wertschätzung Hermann Stutte bei Leo Kanner, dem Gründungsvater der amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, genoss. Die Kommunikation mit dem angelsächsischen Sprachraum war insgesamt nicht sehr rege, was auch daran lag, dass Hermann Stutte die englische Sprache nur unvollkommen beherrschte. Er kommunizierte mit einigen amerikanischen
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Kollegen, z. B. Leo Kanner und dem Psychiatriehistoriker Ernest Harms (1895– 1974) in deutscher Sprache, da beide ja aus dem deutschen Sprachraum kamen. Gleiches galt für die Fachkollegen aus Osteuropa und Japan, die z. T. die deutsche Sprache mehr oder weniger gut beherrschten. Was die Beziehungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in den angelsächsischen Ländern betrifft, äußert er sich in seiner Autobiografie wie folgt: »Trotz intensiver Bemühungen entzogen sich die Engländer – bis auf K. Cameron, dessen früher Tod gerade in diesem Kreis sehr bedauert wurde – den Bestrebungen des Magglinger Kreises um Zusammenschluss der europäischen Kinderpsychiatrie. Leider ist mir bisher auch eine persönliche Begegnung mit R. Spitz, A. Bowlby und E. Erikson, die neue Perspektiven für die Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters eröffneten, versagt geblieben278« (S. 418). Hermann Stutte genoss in der gesamten Fachwelt (der deutschen, der europäischen und der internationalen) ein hohes Ansehen. Dies geht aus dem bislang referierten Schriftwechsel auch zweifelsfrei hervor. Bereits an anderer Stelle wurde Reinhard Lempp (2008) zitiert mit der Aussage: »Für uns ›Nachkriegspsychiater‹ war er unangefochten unser Boss« (S. 156). Bei Gerhardt Nissen (2005) lesen wir : »Der Marburger Ordinarius Stutte hat wie kein anderer deutscher Kinder- und Jugendpsychiater des 20. Jahrhunderts die europäischen und internationale Entwicklung des Faches geprägt« (S. 489). Weder Reinhard Lempp noch Gerhardt Nissen waren Schüler von Hermann Stutte, beide wussten um seine Involvierung im Nationalsozialismus und kannten seine wissenschaftlichen Arbeiten aus der Nachkriegszeit. Gleiches kann vorausgesetzt werden bei den Kommissionen, die die Vorarbeit zur Verleihung der Ehrendoktorwürden zum Dr. phil. h.c. in Marburg und zum Dr. jur. h.c. in Göttingen geleistet haben. So führte der Dekan des FB Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität, Fachrichtung Heil- und Sonderpädagogik, Prof. Dr. Karl Bönner (1932–2017), in seiner Begründung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde vom 09. 12. 1975 nach Würdigung der Schriften und der Lehrtätigkeit Stuttes Folgendes aus: »Für die einzelnen Fachrichtungen der Heil- und Sonderpädagogik sind Herrn Prof. Stutte wesentliche Impulse und Pionierleistungen zu verdanken. So ist er Mitbegründer der Bundesvereinigung Lebenshilfe, deren wissenschaftlichem Beirat er noch angehört. Zahlreiche Veröffentlichungen (die sich mit geistig behinderten Kindern befassen) haben sowohl präventive Maßnahmen, nosologische Abgrenzungen als auch sonderpädagogische Gesichtspunkte zum Inhalt. In Arbeiten zu Neurosen und Verhaltensstörungen ist die Thematik über die Schulproblematik dieser Kinder, die therapeutischen Möglichkeiten bis hin zu spezifischen Problemen wie Selbstmord oder 278 Stutte H (1977). Autobiografie, in: Pongratz LJ (Hrsg). Psychiatrie in Selbstdarstellungen, S. 399–421. Huber, Bern-Stuttgart-Wien.
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Thersiteskomplex weit gefächert. Wesentliche Arbeiten beschäftigen sich mit dem Schicksal von Fürsorgezöglingen. Dabei wendet sich Herr Prof. Stutte immer wieder gegen den Begriff der sogenannten ›Unerziehbarkeit‹. Reifestörungen werden in engem Zusammenhang mit der Schulreife behandelt. Besondere Beachtung finden Ursachen und Verlauf von Frühreifezuständen und psychischen Vorentwicklungen im Kindesalter. […] Herr Prof. Stutte ist eine außergewöhnliche Forscherpersönlichkeit, die aufgrund eines hervorragenden fachlichen Überblicks in der Lage ist, Probleme multidimensional umfassend anzugehen und darzustellen. Seine Veröffentlichungen bestechen durch einen hohen Grad an Prägnanz, Ausdrucksreichtum, Originalität und Fundiertheit. Für das Fachgebiet der Heil- und Sonderpädagogik bedeuten seine Arbeiten und sein Wirken nicht nur Aufbau und Pionierleistungen, sondern auch eine wesentliche Erweiterung und Bereicherung der Aufgaben dieser Fachdisziplin. In Würdigung seiner Verdienste um das behinderte Kind, um die Erforschung sonder- und sozialpädagogischer Problemstellung und um die Autonomie der Sonderpädagogik als Erziehungswissenschaft verleiht der FB Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität zu Marburg Herrn Prof. Dr. Hermann Stutte die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber«.279
Ganz ähnlich äußert sich die Juristische Fakultät der Universität Göttingen. Die beiden Fakultätsgutachter Prof. Hans-Ludwig Schreiber und Prof. Heinz Schöch befürworten mit großem Nachdruck die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Hermann Stutte. Hans-Ludwig Schreiber280 führt hierzu Folgendes aus: »Stutte hat sich in keiner Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit allein auf die klinische Psychiatrie beschränkt. Vielmehr hat er sich ständig mit den Fragen der Heilund Sonderpädagogik und den Problemen des Jugendrechts beschäftigt. So finden sich Abhandlungen über Erziehungsberatung in kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht, Richtlinien für heilpädagogische Heime, Stellungnahmen zur Jugendhilfepraxis, Vorschläge für schulische Sondereinrichtungen für schwierige Kinder und viele ähnliche Beiträge. Aus dem der Fakultät vorliegenden Schriftenverzeichnis geht die große Zahl der Abhandlungen zu jugendrechtlichen, insbesondere jugendstrafrechtlichen Themen hervor. Wie kaum ein anderer Psychiater hat es Stutte verstanden, seine Forschungen für Rechtsprechung und Gesetzgebung fruchtbar zu machen. Dabei kam ihm seine umfangreiche Tätigkeit als gerichtlicher Sachverständiger zugute. […] Bei aller Aufgeschlossenheit für neuere Entwicklungen hat Stutte sich doch stets von modischen Strömungen ferngehalten. Seine Publikationen zeichnen sich durch große Erfahrung, Umsicht und wissenschaftliche Sorgfalt aus. Auf die Entwicklung des Jugendstrafrechts nach dem Kriege hat Stutte maßgeblichen Einfluss genommen. […] Ich kann daher 279 UAM 307, Nr. 21, Ehrenpromotionen. 280 Hans-Ludwig Schreiber war Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Göttingen und von 1992–1998 deren Präsident. Er ist Ehrendoktor mehrerer Universitäten und war von 1987–1990 Staatssekretär im niedersächsischen Wissenschaftsministerium. Er hat fünf Jahre das Kuratorium der Volkswagenstiftung geleitet und war mehrere Jahre Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer.
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ebenfalls ohne Einschränkung empfehlen, Herrn Prof. Dr. Stutte den Doktor ehrenhalber zu verleihen«281.
Dem Gutachten von Heinz Schöch282 vom 28. 06. 1976 ist Folgendes zu entnehmen: »Allein das jugendpsychiatrische Opus enthält so viele grundlegende Beiträge für die Entwicklung des Jugendrechts, des Jugendstrafrechts, des allgemeinen Strafrechts und der forensischen Psychiatrie, dass der Name Stutte aus den einschlägigen juristischen Kommentaren und Lehrbüchern nicht mehr wegzudenken wäre. Das wissenschaftliche Werk Stuttes zeichnet sich aber zusätzlich dadurch aus, dass wie bei kaum einem anderen deutschen Psychiater auch die Transformation medizinischer und psychologischer Erkenntnisse für die Anwendung bei juristischen Entscheidungen oder Maßnahmen des Gesetzgebers versucht wird. […] Besonders eindrucksvoll ist aber die noch nicht veröffentlichte mehrjährige Längsschnittuntersuchung über die Delinquenz von Kindern, die ich aus verschiedenen Zwischenberichten bei der DFG kenne. Hier werden mit interdisziplinären Methoden Ursachen und Verlaufsformen polizeilich auffälliger sechs- bis 14-jähriger Kinder untersucht. Dieses in seiner Art einmalige Großprojekt führt Stutte zusammen mit seinem Schüler Remschmidt durch. Man kann schon jetzt sagen, dass diese Untersuchung in die Geschichte der Kriminologie eingehen wird. Nahezu alle, die dieses Projekt kennen, sind von der gekonnten Anwendung empirischer Forschungsmethoden und statistischer Auswertungsverfahren beeindruckt283. […] Stutte ist ein großer, verantwortungsbewusster Gelehrter mit außergewöhnlich breiter Ausstrahlungskraft. Er hat sich vielfach als Vorbild für kritische Objektivität des Wissenschaftlers bewährt. Strafrecht und Strafprozessrecht, Jugendstrafrecht, Jugendrecht und Kriminologie verdanken ihm viele originelle und praktisch relevante Beiträge. Ich kenne keinen anderen Wissenschaftler aus den Grenzgebieten des Strafrechts, der es in solch reichem Maße wie Hermann Stutte verdient hätte, für seine Verdienste um die gesamte Strafrechtswissenschaft den Ehrendoktor einer Juristischen Fakultät zu erhalten«284.
Aus diesen und zahlreichen anderen Äußerungen über Hermann Stutte, die hier nicht weiter referiert werden, geht hervor, dass er als erster Lehrstuhlinhaber für das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland 281 Gutachten vom 24. 11. 1976, Unterlagen des Dekanats der Jur. Fakultät Göttingen, eingesehen am 03. 07. 2017. 282 Heinz Schöch ist emeritierter Professor für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war von 1974–1994 ordentl. Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen und lehrte von 1994–2008 als Nachfolger von Horst Schüler-Springorum an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2001–2003 war er Präsident der Kriminologischen Gesellschaft. 283 Die Studie wurde von Helmut Remschmidt und Reinhard Walter nach dem Tod von Hermann Stutte fortgeführt und 2009 veröffentlicht (Remschmidt H, Walter R (2009). Kinderdelinquenz: Gesetzesverstöße Strafunmündiger und ihre Folgen. Springer, Heidelberg). 284 Unterlagen des Dekanats der Jur. Fakultät der Universität Göttingen, eingegangen am 03. 07. 2017.
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und Begründer der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nachkriegszeit uneingeschränkte Anerkennung genoss. Unzweifelhaft war er aber auch, wie viele seiner Zeitgenossen, in nationalsozialistische Aktivitäten involviert (vgl. Kap. 2.3.2.2). Bei der Betrachtung des gesamten Lebenswerks Hermann Stuttes, seiner Persönlichkeit, seiner Bedeutung für die Etablierung des Fachs Kinderund Jugendpsychiatrie in Deutschland und seiner Zuwendung und Hingabe bei der Behandlung seiner jungen Patienten dürfen die von ihm als junger Klinikarzt während der Nazi-Herrschaft verfassten Gutachten nicht zur Entwertung seiner Person und seines Lebenswerks herangezogen werden. 2.3.2.10 Abschließende Bemerkungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit Hermann Stuttes Als Kinder- und Jugendpsychiater sind wir gewohnt, in der Entwicklungsperspektive zu denken und einen verstehenden Zugang zu Personen, ihrem Denken und Handeln zu wählen. Unser heutiges Bild von Hermann Stutte wird z. T. überschattet von seiner unzweifelhaften Verstrickung im nationalsozialistischen Denken und Handeln. Es entspricht aber gerade dem verstehenden Zugang, nicht in Gut und Böse einzuteilen, sondern darüber nachzudenken, wie eine Persönlichkeit, die zeitlebens in höchstem Ansehen stand und die Erhebliches für psychisch kranke Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien geleistet hat, zeitweise einer Ideologie dienen konnte, deren Ziel es war, psychisches Kranksein durch Zwangssterilisation auszumerzen und durch Selektion psychisch kranke und behinderte Menschen aller Altersstufen zu töten. An Tötungsaktionen (T4-Aktionen, Kindereuthanasie) war Hermann Stutte nachweislich nicht beteiligt. Gutachten zur Zwangssterilisation hat er allerdings in seiner Tübinger Zeit, wie jeder in der Klinik tätige Arzt, angefertigt (vgl. Kap. 2.3.2.7). Über seine Involvierung im Nationalsozialismus (vgl. Kap. 2.3.2.2) wurde in großer Ausführlichkeit berichtet, was hier nicht wiederholt werden soll. Stattdessen soll im Hinblick auf die Beurteilung der Aktivitäten Hermann Stuttes als unverdächtiger Zeuge Reinhard Lempp285 zitiert werden, dem nicht (wie dem Verfasser dieser Chronik, was mehrfach geschehen ist) Befangenheit vorgeworfen werden kann. Reinhard Lempp hat sich mit der späten Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen befasst und zum 75. Geburtstag von Friedrich Specht286 im August 2000 seinen 285 Reinhard Lempp (1923–2012) war Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Tübingen und Verfasser zahlreicher Publikationen zu nahezu allen Fragen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sein besonderes Interesse galt der forensischen Begutachtung und der Begutachtung von Verfolgungsschäden. 286 Friedrich Specht (1924–2010) war Direktor der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück. Er war
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Ausführungen ein Zitat von Graf Krockow vorangestellt: »Wir verstehen Geschichte erst, wenn wir nicht die eigenen Maßstäbe, sondern die des Zeitalters anlegen, das uns beschäftigt.« Er fährt sodann fort: »Das heißt natürlich nicht, dass wir aus dieser Sicht nachträglich alles gutheißen und entschuldigen, aber es heißt, dass wir eine Wiederholung solcher Verbrechen nur dann verhindern können, wenn wir verstehen, wie es damals dazu gekommen ist und wenn wir uns nicht damit beruhigen, dass wir heute eben doch die besseren Menschen seien. Wir sollten deshalb auch mit unserem Vorurteil gegenüber Menschen und anderen Zeiten zurückhaltend sein. Es sind eben immer nur wenige, die im entscheidenden Augenblick die Weitsicht und den Mut von Prof. Ewald aufbringen, der als einziger die von der NS-Partei einberufene Zusammenkunft zur Einleitung der T4-Aktion verließ«. Im Hinblick auf Hermann Stutte führt er Folgendes aus: »Ich habe gegenüber den Kritikern aus der Sicherheit gnädiger Spätgeburt den Vorteil, dass ich manchen dieser Generation, z. B. den in den vergangenen Jahren auch angegriffenen Hermann Stutte, persönlich gekannt und auch die Zeit des Nationalsozialismus selbst erlebt habe. Ich war zwar nie Assistent oder Mitarbeiter bei Hermann Stutte, aber gerade deswegen stehe ich nicht an, Vorwürfen, denen er ausgesetzt ist, entgegenzutreten. Ich wünsche seinen Kritikern, die ihr Verhalten in einem totalitären Regime nicht unter Beweis stellen müssen, dass sie am Ende ihres Lebens uneingeschränkt voll Stolz auf das zurückblicken können, was sie einmal geschrieben haben – wenn sie etwas geschrieben haben. Vielleicht verstehen mich dabei die Kolleginnen und Kollegen aus den ostdeutschen Ländern etwas besser«. »Es wurde unserer Generation vorgeworfen, dass wir Villinger und Stutte nicht gefragt haben. Nein, ich habe sie nicht gefragt, und dazu stehe ich auch. Nicht weil ich inzwischen das Büchlein meines Freundes Aaron Bodenheimer287 »Von der Obszönität des Fragens« gelesen und beherzigt habe, sondern weil uns damals alles, das nun glücklicherweise Vergangenheit geworden ist, mit einem optimistischen Blick in eine bessere Zukunft nicht interessierte. Ich hätte bei dem einen – Villinger – als kleiner Assistent überhaupt nicht zu fragen gewagt – so war ich damals noch – und ich hatte auch keine Veranlassung, den anderen – Stutte – zu verletzen, gerade, weil ich selbst noch miterlebt habe, in welche Konflikte man im Widerstreit zwischen anfangs idealistisch-naivem Glauben, Staatstreue – auch die galt damals als hoher moralischer Wert – und konkreter oder vermeintlicher eigener Gefährdung geraten konnte, ohne deshalb gleich ein Schuft oder gar ein Verbrecher zu sein. Dass vielen später dann das BeMitglied der Sachverständigenkommission der Psychiatrie-EnquÞte und der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. 287 Aron Ronald Bodenheimer (1923–2011) studierte Medizin in der Schweiz, wurde Psychiater und Psychotherapeut und erhielt 1971 eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie in Tel Aviv. Er war von 1971 bis 1975 Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik TelHashomer bei Tel Aviv. Sein 1984 bei Reclam in Stuttgart erschienenes Buch »Warum? Von der Obszönität des Fragens« wurde in Fachkreise viel diskutiert und erlebte 2011 eine Neuauflage (Wikipedia, 10. 12. 2017).
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wusstsein kam, in dieser Situation menschlich und moralisch versagt zu haben, das wussten diese durchaus selbst, danach musste man sie nicht fragen; und dass sie es selbst nicht laut verkündeten, ist auch ein Zeichen der Schwäche, aber menschlich verständlich. Ich habe jedenfalls keine Veranlassung, mich über sie zu erheben. Dass man sich auf die Dauer so nicht um die Vergangenheit drücken konnte, wurde erst später klar. Insofern ist es gut und richtig, dass heute die Enkel fragen, was die Söhne früher nicht zu fragen wagten«.288
Diesen Ausführungen von Reinhard Lempp kann sich der Verfasser dieser Chronik vollinhaltlich anschließen.
2.3.3 Kontinuität und Wandel von Einstellungen: Einmal Nazi, immer Nazi? Wie an verschiedenen Stellen dieser Monographie dargelegt wird, war ein Großteil der Hochschullehrerschaft, aber auch der Studentenschaft, in nationalsozialistischen Organisationen verankert. In besonderem Maße gilt dies für Personen, die Leitungsfunktionen innehatten. Dies zeigt eine Übersicht zur NSBelastung der Dekane der medizinischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg in der unmittelbaren Nachkriegszeit (vgl. Tab. 2.10). Alle Dekane, die im Zeitraum von 1947 bis 1959 tätig waren, waren Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen. Wie viele dieser Personen den NS-Organisationen aus Überzeugung angehörten und wie viele aus opportunistischen Gründen, lässt sich retrospektiv nicht feststellen. Die Entnazifizierungsdaten können hierzu jedenfalls keine zuverlässige Aussage machen. Einstellungen weisen bei Personen, die von einer Theorie oder Weltanschauung überzeugt sind, eine hohe Stabilität auf. Insofern entspricht es weder dem Erkenntnisstand der Sozialpsychologie noch der Lebenserfahrung, einen abrupten Einstellungswechsel nach dem Zusammenbruch des dritten Reiches von jenen Personen zu erwarten, die ganz oder in Teilen von der damaligen Ideologie überzeugt waren. Daher ist es keineswegs überraschend, wenn Ärzte oder auch andere Personen, die in der NS-Zeit systemkonform gewirkt haben, in der ersten Nachkriegszeit in Wort und Schrift noch Ansichten vertreten haben, die in der NS-Zeit an der Tagesordnung waren. Manche dieser Überzeugungen resultierten aus weiter zurückliegenden Zeitepochen, wurden aber im Nationalsozialismus in oft verbrecherischer Weise instrumentalisiert. 288 Zit, nach Manfred Müller-Küppers (2001). Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus, Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, H. 2, o.S.
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Selbst der Massenmord der T4-Aktion hat in der Weimarer Republik289 (eigentlich ja schon viel früher, wenn man auf den Ursprung des Minderwertigkeitsgedankens zurückblickt) gedankliche Vorläufer (vgl. Kap. 1). Und sogar im Jahr 1949 (vgl. Kap. 2.3.1) hielten führende Medizinprofessoren die Tötung schwer behinderter und »extrem schwachsinniger Kinder« unter bestimmten Bedingungen für gerechtfertigt und sie vertraten dies aus Überzeugung. Es ist kaum vorstellbar, dass sie diese Ansichten zehn Jahre später noch vertreten hätten. Daraus wird ersichtlich, dass Einstellungen und Überzeugungen ein großes Beharrungsvermögen aufweisen und sich nur allmählich ändern. Und wodurch ändern sie sich? Durch einen gesellschaftlichen Wandel, der andere ethische Maßstäbe mit sich bringt und durch den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Ein gutes Beispiel für den allmählichen Wandel von Einstellungen durch ein Zusammenwirken von gesellschaftlichen Veränderungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Einstellung zur Homosexualität, deren Pathologisierung und Kriminalisierung erst in einem langen Prozess und unter maßgeblicher Mitwirkung der Betroffenen überwunden werden konnten. Der gesellschaftliche Wandel nach der Befreiung vom Nationalsozialismus (der lange Zeit nur »Zusammenbruch« hieß) brachte mit der Einführung demokratischer Prinzipien und mit der Möglichkeit, mit dem Ausland in Kontakt zu treten, neue Impulse auch für die Psychiatrie und deren Personal. Auf gemeinsamen Tagungen mit Fachvertretern der Alliierten wurden neue Konzepte für die Versorgung und die langfristige Betreuung psychisch kranker Kinder, Erwachsener und Familien erarbeitet. Die Alliierten betrachteten diese Veranstaltungen anfangs als »Umerziehungsmaßnahme«. Für die deutsche Kinderund Jugendpsychiatrie war die Tagung in Hiddesen im August 1951 ein Katalysator für einen Gesinnungswandel, der sich in Marburg in einer Reihe von Initiativen fortsetzte, so in der Gründung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe (1952) nach dem angelsächsischen Modell der Child Guidance Clinics, in der Gründung der Lebenshilfe (1958) und des Kerstin-Heims (1962), in der Einrichtung von Sonderschulklassen sowie des interdisziplinären sozialpädagogischen Seminars für Studierende verschiedener Fachrichtungen, das im WS 1959/60 von Hermann Stutte initiiert wurde. Und schließlich waren derartige Tagungen, wie diejenige in Hiddesen290, auch Schrittmacher für die Wiederaufnahme der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie in die europäische und internationale Fachwelt. Dies war auch von den amerikanischen und britischen Teilnehmern inten289 vgl. Binding K, Hoche A (1920). Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Felix Meiner Verlag, Leipzig. 290 von Eckardt M, Villinger W (1953) (Hrsg). Gesundheit und mitmenschliche Beziehungen. Bericht über die internationale Tagung in Hiddesen bei Detmold, 2.–7. August 1951. Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel.
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diert. So schrieb Dr. Frank Fremert-Smith, Medical Director der Josiah Macy Jr. Foundation (die Co-Sponsor der Tagung war) in einem Rundbrief vom 5. Dezember 1951 an die Tagungsteilnehmer : »We have great hope, therefore, that the mental health movement proposed at Hiddesen will develop under the guidance of the committee elected by the Conference and in good time, through the formation of a multiprofessional national non-governmental organization, will be in a position to seek membership in the World Federation for Mental Health. […] It is good to hear, in letters that reach us from Germany, how ideas and friendship begun at Hiddesen are taking root and spreading. Both Dr. Rees and I will be very glad to have word of ways in which you may be using insights from the Conference in your own work« (Schreiben in Privatbesitz). Dr. John R. Rees (UK) war Präsident der World Federation for Mental Health und hat gemeinsam mit Prof. W. Villinger die Tagung geleitet. Neben international bekannten Experten wie Erik H. Erikson (USA), John R. Rees (UK) und H.C. Ruemke (Niederlande) nahmen zahlreiche deutsche Ärztinnen und Ärzte an der Tagung teil, die später für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie bedeutsam waren, unter ihnen Annemarie Dührssen, Eckart Förster, Carola Hannappel und Ingeborg Jochmus. Villinger selbst beschrieb auf der Tagung seine Erkenntnisse, die er auf Reisen nach England, Schweden und in die USA gewonnen hatte, wie folgt: »Nach wertvollen Einblicken, die ich 1948 in England in die dortige Sozial- und Kinderpsychiatrie tun durfte, und nach einer ebenso ertragreichen Reise nach Schweden im letzten Frühjahr und einem Ausflug nach Amerika, wo ich die White House Conference und die »Williamsburg Conference« besuchte und mit der Jugendpsychologie und Child Guidance im weitesten Sinne des Wortes sowie mit den Fragen von »Health and Human Relations« vertraut wurde, konnte ich in Marburg mit Hilfe großzügig gewährter amerikanischer Mittel eine Child Guidance Clinic nach angelsächsischem Muster einrichten. Diese Marburger Child Guidance Clinic möchte eine Art »Center« darstellen, von dem aus kräftige Wirkungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und in das Fürsorgewesen Hessens und darüber hinaus ausstrahlen sollen»291.
Im Hinblick auf die Weiterentwicklung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen uns folgende Gesichtspunkte bedeutsam: (1) An der Existenz von Nachkriegsäußerungen, die auch in der NS-Zeit an der Tagesordnung waren, kann heute nicht mehr gezweifelt werden. Es stellt sich aber die Frage, was dies besagt, wenn die weitere Entwicklung der Protagonisten, die derartige Äußerungen getan haben, in den Blick genommen 291 Bericht über die Tagung in Hiddesen: Eckhardt M von, Villinger W (1953) (Hrsg). Gesundheit und mitmenschliche Beziehungen, S. 200, Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel.
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wird. Es ist jedenfalls nicht angemessen, das Lebenswerk dieser Personen ausschließlich aus ihrem Verhalten in einer Zeitspanne von zwölf Jahren zu erklären und zu beurteilen. Natürlich ist bei jeder einzelnen Person zu fragen, welche Ansichten hat sie vertreten hat, was sie geschrieben und vor allem, was hat sie getan hat. (2) »Einmal Nazi, immer Nazi geht nicht« (Conze, 2017). Die Involvierung in NS-Gedankengut und die daraus resultierenden Handlungen sind personenspezifisch differenziert zu betrachten, wobei es auch rote Linien gibt, deren Überschreitung damals wie heute als verwerflich anzusehen ist und nicht entschuldigt werden kann. Zu ihnen gehören die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion und die Kinder-Euthanasie. Es ist aber Menschen, die in NS-Aktivitäten verstrickt waren, auch zuzugestehen, dass sie einen allmählichen Gesinnungswandel vollzogen haben, wenn dies anhand ihrer Schriften und vor allem ihrer Handlungen aufgezeigt werden kann. Derartiges lässt sich sowohl bei Werner Villinger als auch – noch deutlicher – bei Hermann Stutte nachweisen. Dies wird sogar von kritischen Medizinhistorikern wie Volker Roelcke (2017) anerkannt, der sowohl Werner Villinger als auch Hermann Stutte einen, aus seiner Sicht verspätet eingetretenen, Gesinnungswandel in der Nachkriegszeit attestiert, bei Villinger ab den 1950-er Jahren, bei Stutte erst im Laufe der 1960-er Jahre (S. 465). Dennoch scheint bei Roelcke das »Einmal Nazi, immer Nazi«-Paradigma immer wieder durch, wenn er den beiden Gründungsvätern der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie die Übernahme moderner Betrachtungsweisen abspricht und sie mit der Bezeichnung »Internationalisierung« und »Verwestlichung« relativiert und entindividualisiert. So wird Villinger anhand eines Vergleiches seiner beiden Publikationen aus den Jahren 1948 und 1952 die Gewinnung neuer Einsichten nach einer längeren Amerikareise abgesprochen und seinen Ausführungen eher ein »rhetorischer Charakter« zugeschrieben. Dies exemplifiziert Roelcke anhand der Fallschilderung eines 17-jährigen mutistischen Mädchens, in der sowohl soziologische, psychoanalytische und somatisch-neuropathologische »Deutungsoptionen« zur Sprache kamen, am Ende aber »Folgezustände nach organischer Hirnschädigung« als Ursache vermutet werden. Derartige differentialdiagnostische Diskussionen werden auch heute regelmäßig in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken geführt. Auch kann nach heutigen Erkenntnissen die Ätiologie des Mutismus bei Kindern keineswegs ausschließlich psychoreaktiv erklärt werden, was Roelcke offenbar annimmt. Vielmehr existieren familiäre und prämorbide Dispositionen und Komorbiditäten mit neurobiologischen Entwicklungsstörungen und Angststörungen (z. B. soziale Phobie) (Kristensen, 2000; Steinhausen und Juzi, 1996). Nach aktuellem Forschungsstand sind Umwelteinflüsse nur eines von vier Ur-
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sachenbündeln. Die anderen umfassen genetische Einflüsse, Temperamentseigenschaften und entwicklungsneurologische Faktoren (Oerbeck et al., 2016). Im Übrigen ist für eine Teilsymptomatik eine vergleichsweise hohe Persistenz beschrieben. In einer katamnestischen Untersuchung nach durchschnittlich 12 Jahren wiesen nur 39 % der Patienten eine komplette Remission auf, während alle übrigen, auch wenn sie wieder sprechen konnten, durch eine ausgeprägte Schüchternheit, soziale Ängste (z. B. Angst zu telefonieren), mangelndes Selbstvertrauen und eingeschränkte Leistungsfähigkeit gekennzeichnet waren (Remschmidt et al., 2001). Damals wie heute erforderte bzw. erfordert mutistisches Verhalten, vor allem, wenn es sich nicht um einen elektiven, sondern um einen totalen Mutismus handelt, eine sorgfältige differentialdiagnostische Abklärung, die folgende Störungsmuster umfasst (Remschmidt, 2008292): (1) Sprachverlustsyndrome, z. B. Aphasien oder Sprachverluste nach verschiedenen anderen organischen Schädigungen (Entzündung, Trauma, Tumor), (2) Hörstummheit (Audimutitas). Diese auch als Entwicklungsaphasie bezeichnete Störung ist kennzeichnend für Kinder, die vor dem »Verstummen« noch nie richtig gesprochen haben. (3) Schizophrene Erkrankungen, worauf Kanner besonders hinweist293, und (4) mutistisches Verhalten auf der Grundlage einer eingeschränkten Hörfähigkeit. Bei den Störungen (1), (2) und (4) sind neuropsychologische Auffälligkeiten, also organische Funktionsstörungen, feststellbar. Wenn man die Ausführungen Roelckes zum Artikel von Villinger (1952) »Moderne Probleme der Jugendpsychiatrie« zur Kenntnis nimmt, so gewinnt man den Eindruck, er habe eine andere Veröffentlichung gelesen. Dies beginnt schon mit Ungenauigkeiten bezüglich der kritisierten Falldarstellung eines 15jährigen mutistischen Mädchens (Villinger, S. 203/204): Roelcke schreibt, Villinger habe »nach einer Wiedergabe klinischer Symptome, Verhaltensbeobachtungen, Labor- und Röntgenuntersuchungen […] abermals seine Kenntnisse soziologischer, psychoanalytischer und somato-neuropathologischer Deutungsoptionen auch für diesen Fall« vorgeführt. (1) Dazu ist zunächst zu sagen, dass Labor- und Röntgenuntersuchungen in der Fallschilderung Villingers gar nicht vorkommen. Sie wurden von Roelcke hinzugefügt. (2) Die sogenannten Deutungsoptionen beziehen sich auf differentialdiagnostische Erwägungen, die im Konjunktiv geäußert werden: … »hätte man, was gar nicht ausgeschlossen erscheint, bei einer Encephalographie eine Ver292 Remschmidt H (2008). Mutismus, in: Esser G (Hrsg) (20083). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen, S. 313–320. Thieme, Stuttgart. 293 Kanner L (1948). Child Psychiatry : Mutism, S. 496–499. Charles C. Thomas Publisher, Springfield, Illinois.
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änderung der Hirnventrikel oder einen etwas veränderten Liquor gefunden (Punktion und Encephalographie wurden verweigert), so hätte man mit Recht an eine körperliche Verursachung als das Primäre gedacht« (S. 204). Gleichzeitig erwähnt Villinger allerdings, dass auch eine »Insolationsschädigung« durch starke Sonneneinstrahlung als mögliche Ursache in Frage käme. Schließlich müsse man auch bei der erblichen Belastung eine beginnende Schizophrenie differentialdiagnostisch in Erwägung ziehen. An letzteres wird jeder Kinder- und Jugendpsychiater denken, wenn er im Befund liest: »Legt sich unters Bett oder kniet unbeweglich davor« (S. 203). (3) Roelcke berücksichtigt ferner nicht das damalige Spektrum psychiatrischer Erkrankungen, das durch das häufige Vorkommen von Enzephalitiden (z. B. im Rahmen von Kinderkrankheiten) und verschiedenen anderen organischen Erkrankungen gekennzeichnet war, die wir heute z. T. gar nicht mehr sehen. Dadurch richtete sich die Differentialdiagnostik stark auf hirnorganische Hintergründe, zumal sich auch seit den 1940-er Jahren (vgl. Strauss und Lehtinen, 1947) und in der Nachkriegszeit die Begriffe der minimalen Hirnschädigung bzw. der minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) herausbildeten, die auch als Risikofaktoren für neurotische Fehlentwicklungen angesehen wurden. Dieses Konzept ist später von Reinhard Lempp (1964) bekannt gemacht worden (vgl. hierzu auch Kap. 8). (4) Eine »rhetorisch-argumentative Abwertung psychogener und soziogener Krankheitsinterpretationen« (Roelcke, S. 459) kann ein neutraler Leser hier nicht erkennen. Was die Bezeichnung »Verwestlichung« hier zu suchen hat, bleibt schleierhaft. Vielmehr beschreibt Villinger folgende Sachverhalte: – Er ist sich mit Viktor Frankl einig, dass ein guter Diagnostiker und Forscher auf dem Neurosengebiet nur der sein kann, der die »Neurologie und Psychiatrie« beherrscht (S. 206). – Er stimmt Karen Horney, Erik Erikson, Erich Fromm, Franz Alexander und Abram Kardiner dahingehend zu, dass »soziologische Gesichtspunkte für die Neurosenlehre gerade auch in der Kinderpsychiatrie unerlässlich sind und dass die Psychoanalyse aller Richtungen mit der Soziologie […] eng zusammenarbeiten muss« (S. 206). – Er teilt die Ansicht Leo Kanners, »wonach die Psychopathologie des Kindesalters weithin die Psychopathologie der zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt« (S. 207). – Er schreibt, unter Hinweis auf die Psychoanalytikerin Annemarie Dührssen (1952), dass die Psychoanalyse »keinen Ersatz für die Erziehung darstelle« (S. 207) und dass man laut Freud und Aichhorn beim verwahrlosten Ju-
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gendlichen […] etwas anderes machen müsse als Psychoanalyse, nämlich eine »tiefenpsychologisch fundierte Erziehung« (S. 207). – Er vertritt die Meinung, dass sich viele Neurosen »nur durch entsprechende Veränderungen des Sozialraums, also durch Milieugestaltung, durch Besserung der für ein Kind oder wenigstens für ein bestimmtes Kind untragbaren Umwelt und Lebensbedingungen bessern bzw. beseitigen [lassen] oder durch die Verpflanzung des Kindes in eine ihm zuträgliche Umwelt« (S. 207). – Als Fazit aus seinen Besprechungen mit ausländischen Kollegen könne es »für die gesamte deutsche Jugendpsychiatrie nichts Dienlicheres geben als einen lebhaften gegenseitigen Austausch über Ländergrenzen und Meere hinweg« (S. 209). Schließlich diskutiert Villinger noch zwei für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wesentliche Themenkreise: 1) Das Verhältnis von Psychopathie und Neurose Bei den Psychopathien sieht er einen zweifachen »Abbröckelungsprozess«, der dazu führe, dass nur eine »Kerngruppe von Psychopathien« bestehen bleibe. – Denn zum einen wandere ein Teil der bislang als Psychopathie angesehenen Störungen in die Gruppe der »cerebral-organisch (oder endokrinologisch) entstandenen exogenen Psychopathien« ab. Für diese fehle noch eine zusammenfassende Bezeichnung (S. 208). – Zum anderen seien eine Reihe von bisher als Psychopathien diagnostizierten Störungen »unter die Neurosen einzureihen« (S. 208). Gleichzeitig warnt er in diesem Zusammenhang vor einer »Überdehnung der Diagnose Neurose« (S. 208). Im Lichte des damaligen Wissensstandes ist dies nach der inflationären Verwendung des Neurosenbegriffs in den Jahren 1920–1940 eine absolut angemessene Feststellung.
2) Das Verwahrlosungsproblem und Fragen der Begutachtung Auf das Verwahrlosungsproblem wird im Folgenden ausführlicher eingegangen, so dass hier nur darauf hingewiesen werden soll, dass die Häufung von Verwahrlosung, Dissozialität und Delinquenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die sozialen Umbrüche und die katastrophalen gesellschaftlichen Verhältnisse und nicht durch Psychotraumata zu erklären ist. Es gab aber in der Nachkriegszeit ein weiteres vielfach diskutiertes Problem, nämlich die Frage der Acceleration und der sozialen Reife. In den damaligen Diskussionen wurde ein Zusammenhang zwischen der somatischen Acceleration und psychischen Fehlentwicklungen verschiedenster Art angenommen, vor allem auch eine Retardierung trotz körperlicher Acceleration. Diese Sicht spielte
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eine große Rolle in den Erörterungen um die Jugendkriminalität. Hierzu bemerkt Villinger, dass von verschiedenen Seiten eine Revision der Jugendgesetzgebung gefordert werde und, »dass ein großer Teil der jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren, der zwischen 30 und 50 % liegen mag, noch nicht die charakterliche Reife, d. h. die notwendige Integration der Gesamtpersönlichkeit, erreicht hat, die sie als voll zurechnungsfähig i. S. des Erwachsenenstrafrechts erscheinen lässt« (S. 208). Einsichten dieser Art, die von »Jugendpsychiatern, Jugendpsychologen und Jugendrechtlern« (S. 208) geteilt wurden, haben dazu geführt, dass ab 1953 Heranwachsende (18- bis 21-Jährige) teilweise in das Jugendstrafrecht einbezogen werden konnten. Dies führte dazu, dass unter wesentlicher Beteiligung Villingers die sogenannten Marburger Richtlinien294,295entwickelt wurden, die dem Sachverständigen eine wichtige Hilfestellung zur Klärung der Frage geben konnten, ob ein heranwachsender Straftäter im Hinblick auf seine Persönlichkeitsentwicklung und Reife noch einem Jugendlichen gleichzusetzen war oder bereits einem Erwachsenen entsprach. Von dieser Beurteilung (i. S. des § 105 JGG) hing damals wie heute das Strafmaß ab, das nach dem Jugendgerichtsgesetz maximal 10 Jahre beträgt, bei Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht (z. B. bei Mord) kann auch auf lebenslänglich erkannt werden. Bei Stutte staunt Roelcke darüber, dass dieser in einem 1964 publizierten Aufsatz zu dem Schluss kommt, dass bei 70–80 % jugendlicher Krimineller »reifungsbiologische, entwicklungspsychologische und soziologische Faktoren« für das Zustandekommen der Delinquenz verantwortlich gemacht werden. Diese soziogenetische Betrachtung stehe »fast diametral entgegengesetzt zu seinen wissenschaftlichen Positionen der 1940-er und 1950-er Jahre« (S. 461). Diese Äußerung Roelckes bedarf eigentlich keines Kommentars. Wenn Hermann Stutte »nach dem Zugeständnis an die Bedeutung soziogenetischer Ätiologie vor deren Überschätzung« warnt (S. 461), so wird dies als Rückfall in »sozialdarwinistisches Denken« gedeutet. Wenn er vom »Tatbestand der Unerziehbarkeit« spricht, so wird der Jugendliche zum »Täter« und der »Psychiater macht sich damit einerseits zum Richter, andererseits zum Vollstrecker NSstaatlicher Ordnungsvorstellungen« (S. 457). Wohlgemerkt, diese Äußerungen beziehen sich auf einen Aufsatz von Hermann Stutte aus dem Jahr 1948. Eine ungeklärte und vielleicht auch retrospektiv gar nicht beantwortbare Frage ist ein möglicher Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstruktur und der Neigung zur Übernahme systemkonformer Ideologien. Es gibt Persönlichkeiten von hoher Durchsetzungskraft, die in jedem System führende Positionen 294 Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 38 (1955), S. 58–62. 295 Villinger W (1955). Das neue Jugendgerichtsgesetz aus jugendpsychiatrischer Sicht. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 4, 1–5.
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erreichen. Diesbezüglich sind genügend Beispiele nach dem Zusammenbruch der DDR bekannt. Aus eigener Kenntnis kann behauptet werden, dass Hermann Stutte sicher nicht zu ihnen gehörte. Bei Werner Villinger könnte dies eher der Fall gewesen sein. (3) In der Beurteilung von wissenschaftlichen Untersuchungen, die in der NSZeit stattfanden, muss man vom damaligen Erkenntnisstand und vom Zeitgeist ausgehen, in dem der Minderwertigkeitsgedanke, die Erbbiologie und die Eugenik-Bewegung fest verankert waren. Die vielfach zitierten Untersuchungen von Hermann Stutte über die Lebensbewährung von Fürsorgezöglingen gehören in diesen Zusammenhang. Ob man allerdings, wie Volker Roelcke (2017a, b) dies tut, eine Polarisierung mit dem Gegensatz »Erbbiologie versus Trauma« herstellen kann, muss stark bezweifelt werden, es sei denn, man überdehnt den Traumabegriff und subsumiert unter ihm jedes widrige Lebensereignis. Diese Polarisierung ist ein Rückfall in die alte Anlage-Umwelt-Debatte, die längst einer Interaktionstheorie zwischen genetischen und Umweltfaktoren gewichen ist. Dissozialität und Delinquenz sind (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht durch Traumata bedingt, sondern durch desolate soziale Verhältnisse und deren Kumulierung in Interaktion mit genetischen Faktoren. Mehrere Metaanalysen haben gezeigt, dass Dissozialität/Verwahrlosung zu rund 50 % der Varianz jeweils auf genetische und Umweltfaktoren bzw. deren Interaktion zurückzuführen ist (vgl. Rutter, 2006296). Natürlich ist zu konstatieren, dass bei dem in der NSZeit dominierenden Erblichkeitsparadigma dissoziales und delinquentes Verhalten ganz überwiegend als genetisch determiniert angesehen wurde. Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass Psycho-Traumata (seien es solche durch Verfolgung, seien es solche durch andere belastende Lebensereignisse) sich nicht in extraversiven Verhaltensweisen wie Dissozialität und Delinquenz äußern, sondern in introversiven Störungen wie Angstzuständen, Depressionen und psychosomatischen Symptomen. Dies haben auch die Untersuchungen an Verfolgten des Naziregimes überzeugend und einheitlich nachgewiesen. Die bemerkenswerte Studie zur sequentiellen Traumatisierung von Kindern von Keilson (1979)297 hat dies klar herausgearbeitet: Es verfestigt »sich der Eindruck, dass bei den jüngeren Altersgruppen charakterneurotische Entwicklungen mit Kontaktschwierigkeiten, persönlicher und sozialer Verunsicherung vorherrschen, während in den höheren Altersgruppen chronisch-reaktive Depressionen überwiegen. Bei der präpuberalen fünften Altersgruppe fällt der hohe Anteil angstneurotischer Entwicklungen auf, denen ebenfalls eine altersspezifische Bedeutung zuerkannt wird« (Keilson, S. 269). 296 M. Rutter (2006). Genes and behaviour. Blackwell, London, S. 70ff. 297 H. Keilson (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Enke, Stuttgart.
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In die gleiche Richtung deuten die Befunde, die Lempp (1990298) bei der Nachuntersuchung von ihm Nationalsozialismus verfolgen Kindern und Jugendlichen (jüdischen Kindern und Kindern von Sinti und Roma) erhoben hat. Seine Ergebnisse erstrecken sich auf folgende vier Sachverhalte: (1) auf die Bestätigung früherer Befunde, wonach sich Folgen und Spätfolgen auf introversive Störungen wie chronische Depressionen, Angstzustände, anhaltende Schlafstörungen und Albträume konzentrieren, (2) auf einen Symptomwandel im Längsschnittverlauf in Richtung psychosomatischer Störungen (vegetative Dystonie, charakteristische Beschwerden des Magen-Darm-Traktes in Verbindung mit chronischer Depression), der eine erkennbare Abhängigkeit von den äußeren Lebensbedingungen aufweist, (3) auf eine existentielle Verunsicherung, die über die Dauer der Verfolgung weit hinausreichte, und (4) auf eine späte Dekompensation im Alter aufgrund nachlassender Stabilisierungsmöglichkeiten. In keiner der großen empirischen Untersuchungen (Glueck & Glueck, 1957; Robins, 1974; Hartmann, 19772) ist der Zusammenhang zwischen psychischen Traumata und Verwahrlosung bzw. Dissozialität und Delinquenz beschrieben. Eine Zusammenfassung der Zwillingsstudien von Yoshimasu (1961) zu den genetischen Hintergründen von Kriminalität (ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Dissozialität) ergab Konkordanzraten von 66,7 % bei eineiigen und 30,4 % bei zweieiigen Zwillingen. In der umfangreichsten deutschen Studie der Nachkriegszeit zum Thema Verwahrlosung (Hartmann, 1970), in der 1.059 männliche Probanden im Alter von 12–20 Jahren untersucht wurden, die sich in den Jahren 1962–1965 in öffentlicher Erziehung befanden (freiwillige Erziehungshilfe, Fürsorgeerziehung) und die als repräsentative Stichprobe für schulentlassene Berliner Jungen in öffentlicher Erziehung angesehen werden kann, ergab sich Folgendes: (1) Die familiären Verhältnisse der Jungen waren schwer gestört, die Familienverbände waren größtenteils dissoziiert, die Familienangehörigen waren häufig ebenfalls verwahrlost oder kriminell. (2) Die schulischen und intellektuellen Leistungen waren schlechter als die der Kontrollgruppen. (3) Die meisten Probanden waren auch straffällig geworden, häufig als Mehrfachtäter. (4) Die auffälligsten Verlaufsmerkmale waren: Schulschwänzen bzw. Arbeitsversagen, häufige Arbeitsplatzwechsel und Alkoholkonsum. Ein Zusammenhang zwischen psychischen Traumata und Verwahrlosung bzw. Delinquenz wurde auch in dieser umfassenden Studie nicht gefunden. 298 R.Lempp (1990). Die Spätfolgen bei Sinti und Roma nach nationalsozialistischer Verfolgung im Kindes- und Jugendalter, Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde 1, 2–4; R. Lempp (1990). Neue Erfahrungen über Spätfolgen nationalsozialistischer Verfolgung im frühen Kindes- und Jugendalter, Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde 1, 4–7.
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Auch im umfangreichen »Handbuch der Psychotraumatologie«299 ist dieser Zusammenhang nicht beschrieben. Die Termini »Verwahrlosung« und »Dissozialität« kommen im Stichwortverzeichnis gar nicht vor und »Kriminalität« wird an zwei Stellen randständig erwähnt im Zusammenhang mit Kriminalstatistiken und der Kriminalprognose. »Delinquenz« wird im Zusammenhang mit dem Reproduktionstheorem gestreift, wonach etwa 25 % misshandelter Kinder und Jugendlicher später selbst Misshandler werden. Dissoziales und delinquentes Verhalten ist nach heutigen Erkenntnissen (vgl. Remschmidt, 2012) multifaktoriell bedingt, wobei sowohl biologische Faktoren (neben einer genetischen Belastung auch Auffälligkeiten der autonomen vegetativen Reaktionen, perinatale Risikofaktoren etc.) eine Rolle spielen. Zu den psychosozialen Risikofaktoren zählen ein ungünstiges soziales Milieu, Eltern mit unzureichender Erziehungskompetenz, Ablehnung des Kindes, körperliche und sexuelle Misshandlung, Alkohol- und Nikotinkonsum der Mutter während der Schwangerschaft sowie psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile. Die meisten dieser Risikofaktoren haben einen alters- bzw. entwicklungsbezogenen Wirkungsschwerpunkt und eine zeitlich unterschiedliche Reichweite. Biologische und psychosoziale Faktoren wirken im Hinblick auf die Verursachung dissozialen und delinquenten Verhaltens zusammen, wobei dieses Zusammenwirken in der Regel nicht additiv, sondern interaktiv ist. Im Übrigen spielen neben den Risikofaktoren auch protektive Faktoren eine große Rolle. Dies zeigt sich z. B. bei Kindern, die trotz schwerster Belastungen eine günstige Entwicklung durchlaufen haben. Natürlich waren diese differenzierten Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Nationalsozialismus nicht bekannt und die genetische Determination wurde, auch unter rassenpsychologischen Gesichtspunkten, in grotesker Weise überbewertet. Ebenso klar ist aber, und das wusste man auch bereits in der NS-Zeit, dass Dissozialität nicht ausschließlich durch psychosoziale Faktoren erklärt werden kann und schon gar nicht durch Psychotraumata. Dissozialität und Delinquenz von jungen Menschen manifestieren sich regelmäßig und gehäuft in sozialen Umbruchszeiten, seien sie kriegerischer Natur, seien sie durch einen Zusammenbruch sozialer Strukturen in anderen Zusammenhängen hervorgerufen. Orientierungslosigkeit, Entwurzelung, Verlust von Bindungen und Beziehungen, Perspektivlosigkeit, gepaart mit materieller Not und Nahrungsmangel sowie negative Gruppeneinflüsse sind der Nährboden, auf dem diese Störungsmuster gedeihen (Bondy und Eyferth 1952; Heilfurth 1951; Kaiser 1959). Im Hinblick auf die Verhältnisse im Marburger Raum führt Hafeneger aus: 299 Seidler GH, Freiberger JH, Maercker A (2015) (Hrsg). Handbuch der Psychotraumatologie, 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart.
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
215
»Zentral ist die Dimension »Verwahrlosung«; so ist wiederholt die Rede von herumtreibenden, arbeitslosen, streunenden, triebhaften Jugendlichen, von Vandalismus, Jugendlichen auf Wanderschaft, jugendlichen Banden und Rädelsführern, völlig entwurzelten Jugendlichen, ungünstigen familiären/häuslichen Verhältnissen, fehlenden Vätern, Alleinerziehenden« etc. (Hafeneger, 2006). Was den ätiologischen Hintergrund für das Nachkriegsverhalten der Jugend betrifft, so lassen sich zwei Entwicklungen aufzeigen: einerseits psychotraumatische Schädigungen nach nationalsozialistischer Verfolgung oder auch nach schwerwiegenden persönlichen Beeinträchtigungen (z. B. Tod eines Elternteils), die sich in Form introversiver Störungen zeigen, und zum anderen dissoziale und delinquente Entwicklungen, die durch die chaotischen gesellschaftlichen Zustände in der Nachkriegszeit ganz wesentlich bestimmt wurden. Die polare Gegenüberstellung »Vererbung statt Trauma« war damals und ist auch heute unrichtig. Auch der Terminus Trauma-Blindheit ist in der Beurteilung von psychischen Störungen, die sich in den Jahren von 1920 bis zur beginnenden Nachkriegszeit manifestiert haben, aus dem Gesichtspunkt des damaligen Kenntnisstandes ebenfalls nicht angebracht, zumindest nicht im Hinblick auf Dissozialität und Delinquenz. Denn mit Ausnahme des Werkes von Oppenheim (1857–1919) (1889) über die traumatische Neurose kommt der Traumabegriff in den zeitgenössischen deutschen psychiatrischen Lehrbüchern gar nicht oder nur marginal vor. Dies, obwohl französische Psychiater (u. a. Charcot 1887 und Janet 1889) die Folgen psychischer Traumata bereits beschrieben hatten, allerdings in Form der Hysterie und nie in Form von Dissozialität und Delinquenz. Die vergleichsweise späte Rezeption von Traumafolgen mag auch darin begründet sein, dass die damaligen Vertreter der deutschen Psychiatrie das Konzept der traumatisch bedingten Störungen, insbesondere solcher im Zusammenhang mit Kriegsereignissen, ablehnten, worauf Lerner (2003) in einer historischen Analyse des Trauma-Konzeptes seit den 1890er Jahren hingewiesen hat: »In their steadfest rejection of traumatic pathology, psychiatrists implicitly denied the traumatizing impact of war as a whole and in many cases embraced it as a positive influence on the minds of individuals and the spirit of the nation« (S. 10).300 In die zeitgenössischen Klassifikationssysteme fand die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung, nach den Ergebnissen von psychiatrischen Untersuchungen an Vietnamveteranen, erst 1987 (in das DSM-III-R) Eingang. Interessant und bemerkenswert ist, dass die psychischen Folgen von 300 Lerner P (2003). Hysterical Men, War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany 1890–1930. Cornell University Press, Ithaca and London.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Kriegserlebnissen nach dem ersten Weltkrieg und zum Teil auch nach dem zweiten hauptsächlich in Form von nach außen sichtbaren Symptomen (z. B. Kriegszittern, Lähmungen, Abasie, unspezifischen Anfällen) in der zeitgenössischen Literatur beschrieben wurden, während introversive Krankheitserscheinungen (Depressionen, psychosomatische Störungen bzw. der Äquivalente) weitgehend fehlten. Dies führte zur Wiederbelebung der Diagnose »Hysterie«, insbesondere der »männlichen Kriegshysterie« (Lerner, 2003), die mit protreptischen Behandlungsmaßnahmen rein symptomorientiert geheilt werden sollte. Auch diese Patienten sind nicht durch dissoziales Verhalten und Delinquenz hervorgetreten. Was die Nomenklatur Hermann Stuttes im Vergleich zu anderen Autoren vor der Zeit des Nationalsozialismus betrifft, so sollen hier nur wenige Bemerkungen genügen. Es ist durchaus zutreffend, dass er bis in die 1960er Jahre z. T. eine Terminologie gebraucht hat, die in die NS-Zeit zurückreicht. Diese Terminologie hat größtenteils ihre Wurzeln in der Weimarer Republik. Dies lässt sich nicht nur bei August Homburger zeigen, sondern ebenso bei Heinrich Többen (1880– 1951), Hans Walter Gruhle ( 1880–1958), Adalbert Gregor (1878–1971), Else Voigtländer ( 1882–1946) sowie Ruth von der Leyen (1888–1935). Diese Terminologie hat Eingang in den Wortschatz der Psychiatrie im Nationalsozialismus gefunden. Aus heutiger Sicht ist eine derartige Terminologie natürlich völlig unangebracht, abwertend und nicht akzeptabel. Damals waren diese Termini aber gang und gäbe. Vor allem ist nachweisbar, dass diese Terminologie aus der Weimarer Republik in die Nazizeit übernommen wurde und teilweise auch noch die Nachkriegszeit erreicht hat. Dies untermauert unsere These der Nachhaltigkeit von Einstellungen und Überzeugungen. Auch wenn Roelcke dies abstreitet, finden sich bei August Homburger abwertende Bezeichnungen wie »ethisch Defekte«, »aktiv Antisoziale«, »schwere Psychopathen«, »angeborene Charaktermängel«, »moralisch Minderwertige«, »primäre Psychopathen«. Über den Vater eines 15-jährigen verwahrlosten Jungen schreibt er z. B.: »Er ist ein sogenannter durchtriebener Schwachkopf und als solcher im Ort seit Jahren bekannt. Er ist ein erethisch reizbarer, charakterlich tiefstehender, beschränkter Mensch, der mit seiner Frau eine unfriedliche Ehe führt und sie oft misshandelt hat« (Homburger, 1926, S. 609).
Obwohl August Homburger einem dem heilpädagogischen Behandlungsansatz verpflichtet war, benutzte er doch auch eine Sprache, die aus heutiger Sicht eindeutig abwertend ist. Aber nicht nur dies, auch im Hinblick auf verwahrloste Jugendliche, die einem heilpädagogischen Ansatz nicht mehr zugänglich sind, postuliert er drastische Maßnahmen:
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
217
»Die schwerst Abnormen und Unverbesserlichen müssen, da sie nicht mehr Gegenstand der Erziehung sind, in besonderen Anstalten oder Abteilungen von Pflegeanstalten verwahrt werden. Diese Sichtung kann selbstverständlich nicht ohne die Mithilfe psychiatrischer Sachverständiger erfolgen. Sie erfolgt am zweckmäßigsten in der Weise, dass alle zur Anstaltserziehung bestimmten Zöglinge zuerst durch eine selbständige oder an eine Erziehungsanstalt angeschlossene psychiatrische Beobachtungsstation hindurchgehen« (S. 623).
Hier deuten sich bei einem humanen, heilpädagogisch ausgerichteten und höchst verdienstvollen Vorläufer der kinderpsychiatrischen Profession Begriffe wie Erziehungsunfähigkeit, Verwahranstalt und Sichtung (Selektion) bereits Mitte der 1920er Jahre an, die von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden. Diese Entwicklung von Begrifflichkeiten und ihre Zielrichtung auf konkrete Handlungen wird von Roelcke völlig ausgeklammert, der die Maßnahmen des Nationalsozialismus nicht einem verstehenden Zugang aus der Sicht der damaligen Zeit unterzieht, sondern nach heutigen Maßstäben beurteilt. Diese Sicht der Dinge ist allerdings gar nicht so selten, worauf Hanfried Helmchen (2007) anhand eindrucksvoller Beispiele hingewiesen hat: »Historiker blicken aus ihrer Zeit, d. h. aus ihrer Kenntnis des aktuellen Wissens und der herrschenden Moral auf zurückliegende Zeiten […]. Risiken der Perspektive von Historikern werden in dem Eindruck deutlich, dass ihre ethische Bewertung früherer Fakten zu sehr von der gegenwärtig herrschenden Moral (z. B. absolutes Primat der Menschenrechte und insbesondere des Selbstbestimmungsrechtes) bestimmt wird, die von nun an für die Dauer als richtig angesehen werden. Dies verwundert, da gerade Historiker wissen können, dass sich der soziokulturelle Kontext, der »Zeitgeist« und somit auch ihr derzeitiges Bezugssystem wandelt« (S. 187).
Darüber hinaus bedarf noch eine weitere Behauptung Roelckes der Korrektur, wenn er ausführt, dass Hermann Stutte Anzeigen von psychisch Kranken im Hinblick auf Sterilisationsmaßnahmen hätte verweigern können. Vielleicht hätte er es tun können unter Verlust seiner Stelle und weiterer möglicherweise strafrechtlicher Konsequenzen. Hierzu ist zu bemerken, dass Anzeigepflicht bestand, bei deren Unterlassung Strafe drohte, dass die Erstattung von Anzeigen nach den Vorschriften des GzVeN in der Klinik angeordnet und nicht in das Belieben eines kleinen Assistenzarztes gestellt war. Dies lässt sich schon dadurch belegen, dass alle Assistenzärzte an der Erstellung derartiger Anzeigen beteiligt waren301,302. Die Anzeigen wurden im Übrigen auch nicht von den Assistenzärzten in eigener Verantwortung erstellt, sondern für den Direktor der Klinik 301 Vgl. Kap. 2.3.2.7. 302 Vgl. Martin Leonhardt (1996) Zur Sterilisationspraxis in der Tübinger Universitätsklinik: »Jeder Arzt musste bei Verdacht auf eine der im Gesetz genannten Erbkrankheiten Anzeige erstatten, andernfalls machte er sich strafbar. Die ärztliche Schweigepflicht war für diesen Fall aufgehoben« (S. 85).
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
bzw. die beiden Oberärzte vorbereitet. Alle Anzeigen waren daher vom Klinikdirektor bzw. den Oberärzten unterzeichnet. Bei der Durchsicht von nahezu 2.000 Akten fanden wir keine einzige Anzeige und kein einziges Gutachten, bei denen dies nicht der Fall war. Die von Roelcke immer wieder auf die Untersuchung von Astrid Ley (2004) gestützte These, wonach Stutte, aber auch andere, »hierzu keineswegs gezwungen waren« (S. 456), geht von falschen Voraussetzungen aus. In der Studie von Ley im Raum Schwabach ging es um niedergelassene Ärzte, die selbständig waren und nicht einer sozialen bzw. dirigistischen Kontrolle unterlagen wie Klinikärzte. Sie hatten im Übrigen auch eigennützige Motive und wollten durch eine Anzeige ihre Patienten nicht verlieren, zu denen sie oft jahrelange Beziehungen hatten. Ganz anders war dies bei den abhängig beschäftigten und weisungsgebundenen Assistenzärzten303, noch dazu bei einem Chef wie Hermann Hoffmann, der ein glühender Eugeniker und Nationalsozialist war und sich sogar in SA-Uniform porträtieren ließ. Die Verallgemeinerungen Roelckes, die sich auf die Ergebnisse der Studie von Astrid Ley beziehen, sind jedenfalls nicht angebracht. Die Möglichkeiten der Verweigerung und der Nutzung von Handlungsspielräumen war jeweils abhängig vom professionellen und sozialen Umfeld, in dem sich die Ärzte oder auch andere Personen befanden. Allerdings ist auch festzuhalten, dass ein großer Teil der Ärzteschaft eugenische Maßnahmen befürwortete, so dass für diese Ärzte eine Verweigerung ohnehin nicht in Frage kam. Es gab aber auch Ausnahmen. So ist bei Schönhagen (1991) der Arzt Viktor Zipperlen304 erwähnt, der aus Gewissensgründen die Mitwirkung an Zwangssterilisationen ablehnte und deshalb auf seine Zulassung als Amtsarzt verzichten musste305. Er war jedoch nie in einer psychiatrischen Klinik tätig. Auch andere Fälle sind bekannt (vgl. Bock, 1986; Helmchen, 2017; Roelcke, 2013). Allerdings muss bei diesen Fällen stets unterschieden werden, worauf sich die Verweigerung bezog. Viele Psychiater der damaligen Zeit waren überzeugte »Eugeniker« und insofern Befürworter der Zwangssterilisation, manche unter ihnen lehnten 303 Diese Einschätzung wird auch von Astrid Ley geteilt, wie sie in einem ausführlichen Telefongespräch mit dem Verfasser am 26. 01. 2018 versicherte. 304 Der Arzt Dr. Viktor Zipperlen, geb. am 03. 09. 1902, war Mitglied der SA von 1938–1939, Mitglied des NSKK (Nationalsozialistisches Kraftsportkorps) von 1936–1937 und des NSDÄrztebundes sowie des DRK. Er war im Zeitraum von 1927 bis Kriegsende immer wieder in verschiedenen Kliniken in Tübingen und Berlin tätig (allerdings in keiner psychiatrischen Klinik). Ab August 1939 war er als Sanitätsarzt bei der Wehrmacht im Rang eines Stabsarztes der Reserve beschäftigt. Im Spruchkammerbescheid des Staatskommissariats für politische Säuberung des Landes Württemberg-Hohenzollern vom 06. 08. 1948 wurde er als Mitläufer eingestuft. Nach dem Krieg führte er die Allgemeinpraxis seines Vaters in Tübingen (Wü 13 T2 Nr. 2625/195). 305 Schönhagen B (1991). Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Theiss, Stuttgart, S, 149 und Anmerkung 333 auf S. 408.
Die Gründungsväter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg
219
aber die Tötung von Kranken entschieden ab. Zu ihnen gehören u. a. Gottfried Ewald306, Karsten Jaspersen307, Ewald Meltzer308 und Hans Roemer309. Fazit: Menschliches Verhalten muss stets im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen gesehen werden und unter dem Aspekt der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung zur gegebenen Zeit. Legt man diesen Maßstab an zur Beurteilung von Personen, die im Nationalsozialismus involviert waren, so sind auch deren Aktivitäten einzubeziehen, die sich nicht aus der NS-Ideologie ableiten lassen, während der NS-Zeit und auch danach. Der verengte Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus und das Außerachtlassen dieser Aktivitäten wird dem Lebenswerk dieser Personen nicht gerecht. Der Mensch ist eben nicht eindimensional: Verwerfliches und Anerkennenswertes liegen oft nah beieinander und unterliegen zeitgeschichtlichen und individuellen Wandlungen, deren Negierung Wissenschaftlichkeit nicht beanspruchen kann. Diese Sicht darf nicht als Verteidigung involvierter Personen angesehen werden, sondern als ein Versuch, jeweils deren ganzen Lebenslauf und die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen.
306 Gottfried Ewald (1888–1963) studierte Medizin an den Universitäten Heidelberg und Erlangen und war nach Abschluss des Studiums und der Promotion an den Universitätskliniken in Rostock, Erlangen und an der Charit8 in Berlin tätig. 1934 wurde er auf den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Göttingen berufen, 1958 wurde er emeritiert. Er war Mitglied mehrerer NS-Organisationen. Er befürwortete die Zwangssterilisation, war aber ein Gegner der Euthanasie und konnte eine größere Zahl von Patienten vor der Deportation in Vernichtungsanstalten retten (Klee, 2003; Wikipedia, 11. 2. 2018). 307 Karsten Jaspersen (1896–1968) studierte Medizin in München und Kiel, wo er 1926 promovierte. Er absolvierte seine psychiatrische Facharztweiterbildung an der Universitätsnervenklinik in München und war von 1931 bis zu seiner Pensionierung 1960 als Chefarzt der psychiatrisch-neurologischen Abteilung der Bodelschwingh’schen Anstalten Bethel in Bielefeld tätig. Er war NSDAP-Mitglied, Richter am Erbgesundheitsgericht, aber ein entschiedener Gegner der Euthanasie (Helmchen, 2017; Wikipedia, 11. 2. 2018). 308 Ewald Meltzer (1869–1940) studierte Medizin in Jena. Er leitete fast 30 Jahre lang den Katharinenhof in Großhennersdorf bei Löbau, eine Erziehungsanstalt für etwa 250 Kinder, von denen nur 25 die T4-Aktion überlebten. Er war ein Befürworter der Sterilisation, aber ein Gegner der Euthanasie (Helmchen, 2017; Wikipedia, 11. 2. 2018). 309 Hans Roemer (1878–1947) studierte in Tübingen und Kiel Medizin. Er promovierte 1904 in Tübingen. Nach Militärdienst und Tätigkeit in verschiedenen Kliniken übernahm er 1929 die Leitung der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern/Baden. Er war NSDAP-Mitglied. Im Jahr 1940 ließ er sich krankheitsbedingt in den Ruhestand versetzen. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er als Mitläufer eingestuft. Er war ein Befürworter der Eugenik, aber ein Gegner der Krankentötungen (Plezko A, Med. Dissertation Gießen, 2011).
220
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
2.4
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
2.4.1 Hintergrund: Studentenschaft und Hochschullehrerschaft im Nationalsozialismus Der Beginn der Lehrveranstaltungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit stand unter den Zeichen der nationalsozialistischen Belastung von Studierenden und Hochschullehrern. Bei einer Gleichschaltung und Durchsetzung der Bevölkerung mit nationalsozialistischem Gedankengut und einer Mitgliedschaft von nahezu zwei Dritteln der Bevölkerung in der NSDAP und anderen Parteiorganisationen310 konnte nicht ausbleiben, dass Studentenschaft und Hochschullehrerschaft ebenfalls involviert waren. 2.4.1.1 Die Marburger Studentenschaft im Nationalsozialismus Bereits vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 gab es in der Studentenschaft eine nationalsozialistische Parteiorganisation. So ging aus den Wahlen zur Kammer der Marburger Studentenschaft im Juli 1931 bei einer Wahlbeteiligung von 72 % der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) als stärkste Fraktion hervor311: »Auf personeller Ebene machte sich die Dominanz des N.S.D.St.B. dadurch bemerkbar, dass er bis zur Machtübernahme immer den Vorsitzenden der Allgemeinen Marburger Studentenschaft (A.M.St.) stellte und zusätzlich ca. 50 % aller Vertreter in den Ämtern und Referaten312. Die Auswirkungen ließen nicht auf sich warten: – Der Vorstand des A.M.St. stellte den Antrag, politisch links stehende Zeitungen aus der Lesehalle der Universität zu entfernen. – Die A.M.St. beteiligte sich regelmäßig und überregional an den Entrüstungsstürmen gegen andersdenkende Dozenten und Studenten. Opfer in Marburg waren Prof. Dehn, der (aus Halle kommend) sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesprochen hatte, und PD Emil Gumbel, der als Jude, Sozialist und Pazifist in Heidelberg studentischen Angriffen ausgesetzt war313. – Es kam zu massiven Protesten gegen den Versailler Vertrag und zu der Forderung auf Beseitigung der »Kriegsschuldlüge«.
310 311 312 313
Ulrich Herbert (2016), S. 108. Holger Zinn (2002). Zwischen Republik und Diktatur, S. 248–250. ebenda. ebenda.
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
221
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten setzte sich der Trend zur umfassenden Politisierung der Studentenschaft fort. Es kam zu Großveranstaltungen, die gemeinsam mit nationalsozialistischen Organisationen durchgeführt wurden, zu Aktionen »wider den undeutschen Geist« mit Bücherverbrennungen, die reichsweit am 10. Mai 1933 erfolgten: »Auch in Marburg bewegte sich gegen 10 Uhr abends ein riesiger Fackelzug durch die Straßen der Stadt nach dem Kämpfrasen, wo bereits auf den Straßen eine unzählbare Menschenmenge sich eingefunden hatte. Auf der Mitte des Kämpfrasens war ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem die undeutschen Schriften den Flammen übergeben wurden« (Oberhessische Zeitung am 11. Mai 1933). In der Folgezeit kam es wiederholt zu Schlägereien zwischen Mitgliedern nationalsozialistischer Studentenorganisationen und Korporationsangehörigen und zu Kontroversen über das traditionelle Maisingen am 1. Mai, das auf Druck des N.S.D.St.B. vom Rektor verboten wurde. Es kam immer wieder zu tätlichen Angriffen nationalsozialistisch gesinnter Studenten auf Korporationsangehörige314 : Sie wurden verhöhnt, der Couleur beraubt und ihre Fahnen wurden gestohlen. Schließlich verbot der Rektor den Korporationen bis auf Weiteres das Tragen ihrer Farben. Nach und nach gaben die meisten Korporationen ihren aktiven Betrieb auf. Am 14. Mai 1936 verbot sodann Rudolf Heß »sämtlichen Mitgliedern der Partei und allen Mitgliedern der Parteigliederungen die Mitgliedschaft in studentischen Verbindungen«315. Die weitere Entwicklung kann schlagwortartig wie folgt gekennzeichnet werden316 : – Ab 1937 wurden Juden deutscher Staatsbürgerschaft von der Promotion ausgeschlossen. – Ab 1938 wurde die Immatrikulation von einem Ariernachweis abhängig gemacht. – Ende 1938 wurde Volljuden verboten, die Hochschule zu betreten. – Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 wurden alle Hochschulen geschlossen, so auch die Philipps-Universität Marburg, die dann schrittweise Ende 1939/Anfang 1940 wieder eröffnet wurde. – Während des Krieges nahm der Frauenanteil unter den Studierenden erheblich zu, da die meisten männlichen Studierenden eingezogen worden waren. – Darüber hinaus wurde während des Krieges die Studiendauer für Soldaten in den meisten Studiengängen verkürzt. 314 Wie sich die Bilder gleichen – heute werden die Angehörigen der studentischen Korporationen von linksgerichteten Studenten angegriffen. An vielen Universitätsgebäuden ist die Parole zu lesen: »Burschen schlagen«. 315 ebenda. 316 Die folgenden Ausführungen zur Studentenschaft sind alle bei Zinn (2002) nachzulesen.
222
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
– Es gab aber auch studentischen Widerstand gegen das NS-Regime. Diesbezüglich ist die Theologische Fakultät hervorzuheben, die eine Hochburg der Bekennenden Kirche (verboten seit dem 3. Dezember 1937) war. Zeitweise waren 90 % der Studierenden der Theologie Mitglieder der Bekennenden Kirche oder standen ihr nahe. Ganz ähnlich waren die Verhältnisse an der Universität Tübingen: »Studenten profilierten sich als Vorhut des nationalsozialistischen Rassissmus. Gerade eine Woche nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – » das Ermächtigungsgesetz« war noch nicht erlassen – beschloß der Allgemeine Studentenausschuß der Universität mit nur einer Gegenstimme, dem Professor für Privatwirtschaft, Wilhelm Rieger, die Entlassung seines jüdischen Assistenten nahezulegen. Der AStA erklärte, nicht dulden zu wollen, daß Juden auf deutschen Hochschulen lehren, während deutsche Akademiker arbeitslos sind.« (Schönhagen,1991, S.120).
2.4.1.2 Die politische Belastung der Marburger Hochschullehrer Bei den Hochschullehrern gab es zahlreiche Einschränkungen hinsichtlich ihrer Lehrtätigkeit. Für die Zulassung bzw. Wiederzulassung war der Spruchkammerbescheid maßgebend. In Abb. 2.1 ist die NS-Belastung der Dozenten der Philipps-Universität für den Zeitraum vom SS 1945-SS 1955 wiedergegeben. AfVG DAF HJ NSÄB NSDAP NSDDB NSFK NSKK NSLB NSV OMGUS RAD SS SA VDA
Amt für Volksgesundheit Deutsche Arbeitsfront Hitlerjugend Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund Nationalsozialistisches Fliegerkorps Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Office of Military Government for Germany, US Reichsarbeitsdienst Schutzstaffel Sturmabteilung Verband für das Deutschtum im Ausland
223
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
140 119
120 100 80
75
74
60
32
NSV
NSLB
NSKK
NSFK
NSDDB
NSDAP
NSÄB
HJ
DAF
AfVG
0
1
1
VDA
7
22
17
SA
3
13
SS
15
RAD
20
45
41
40
OMGUS
Anzahl
87
Abb. 2.12: NS-Belastung von Dozenten der Philipps-Universität Marburg (SoSe 1945 – SoSe 1955) aus: Archiv der Philipps-Universität Marburg, August 2014, Carsten Lind (n=325)
Von den 325 im Zeitraum von SS 1945 bis SS 1955 an der Philipps-Universität tätig gewesenen Hochschullehrern waren 173 ( 53 % ) Mitglied in einer NSOrganisation, 31 in einer, 41 in zwei und 101 sogar in drei NS-Organisationen. Von den 119 NSDAP-Mitgliedern waren 27 bereits 1933 oder früher (die meisten 1933)in die Partei eingetreten, 68 ( 57 % ) im Jahr 1937, die restlichen später. 10 Professoren hatten das Bekenntnis zu Adolf Hitler unterschrieben317. Während die in Abb. 2.12 wiedergegebene NS-Belastung sich auf den Lehrkörper der gesamten Universität bezieht, ist in Tab. 2.12 die NS-Mitgliedschaft der Dekane der Medizinischen Fakultät Marburg für den Zeitraum von 1947– 1959 wiedergegeben. Es wird deutlich, dass alle Dekane in der NSDAP und in weiteren NS-Organisationen Mitglied waren. Unter ihnen befinden sich bedeutende Forscher und Kliniker wie der Anatom Alfred Benninghoff (1890– 1963), der Pathologe Herwig Hamperl (1899–1976) und der Chirurg Rudolf Zenker (1903–1984), der in Marburg im Jahr 1958 die erste Operation am offenen Herzen durchgeführt hat.
317 Das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten wurde am 11. November 1933 zur Feier der »nationalsozialistischen Revolution« in Leipzig als Gelöbnis deutscher Gelehrter vorgetragen (Wikipedia).
224
Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
Tab. 2.12: NS-Mitgliedschaften der Dekane der Medizinischen Fakultät Marburg im Zeitraum von 1947 bis 1959 Zeitraum
Fach
Name
Anatomie
WS 1949– WS 1951 SS 1951
Psychiatrie u. Prof. Dr. Werner Villinger Neurologie (1887–1961) Gerichtsmedizin Prof. Dr. Augustin Förster (1895–1963)
NSDAP (1937), NSV u. a. NSDAP (1933), SA u. a.
WS 1951– SS 1952 WS 1952– SS 1953
Pathologie
NSDAP (1937), SA NSDAP (1939), SA
WS 1953– SS 1954 WS 1954– SS 1955
Innere Medizin
Prof. Dr. Hans Erhard Bock (1903–2004) HNO-Heilkunde Prof. Dr. Richard Mittermaier (1897–1983)
NSDAP (1937), NS-Ärztebund SA (1933), NSDAP (1937)
WS 1955– SS 1956
Chirurgie
WS 1956– SS 1957
Augenheilkunde Prof. Dr. Werner Kyrieleis (1898–1961)
SA (1934), NSDAP (1937), NS-Ärztebund u. a. Stahlhelm (1924), SS (1937), NSDAP (1937) u. a.
WS 1957– SS 1958
Anatomie
Prof. Dr. Klaus Niessing (1904–1962)
WS1958– SS 1959
Radiologie
Prof. Dr. Ren8 du Mesnil de Rochemont (1901–1984)
Pharmakologie
Prof. Dr. Alfred Benninghoff (1890–1953)
NS-Mitgliedschaft
WS 1947– SS 1949
Prof. Dr. Herwig Hamperl (1899–1976) Prof. Dr. Manfred Kiese (1910–1983)
Prof. Dr. Rudolf Zenker (1903–1984)
NSDAP (1941), Gaudozentenführer
SA, NSDAP (1937), NSV u. a. SA (1933), NSDAP (1937)
2.4.2 Politische Bedingungen für die Zulassung von Studierenden Aus dem Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1946318 gehen die Regularien für die Zulassung zum Universitätsstudium hervor. Ein besonderer Schwerpunkt bezieht sich auf Personen, die nicht zum Studium zugelassen wurden. Grundsätzlich nicht zugelassen wurden: (1) Ehemalige Mitglieder der NSDAP mit Eintritt vor dem 1. 5. 1937 (2) Ehemalige Angehörige der SS mit Eintritt vor dem 1. 1. 1944 (3) Ehemalige Angehörige der SA mit Eintritt vor dem 1. 4. 1933 318 Univ. Arch. 312/06, Nr. 96.
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
225
(4) Angehörige der SS-Gliederungen in führenden Ämtern und Dienststellen oder mit hohen Dienstgraden nach Maßgabe der allgemeinen Verordnungen der Militärregierung (5) Ehemalige NS-Führungsoffiziere (6) Ehemalige Angehörige von Ordensburgen und nationalpolitischen Erziehungsanstalten; Ausnahmen waren auf Antrag möglich. Es finden sich auch Hinweise über die Reihenfolge der Berücksichtigung. So sollte hervorragend Begabten »vor allen anderen« der Vorrang eingeräumt werden. Darüber hinaus wurden bevorzugt zugelassen: (1) Studierende, die seit 1933 aus rassischen oder politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen waren, (2) Kriegsversehrte, (3) Studierende kurz vor dem Abschluss des Studiums, (4) Studierende, die infolge Kriegseinsatz mehr als drei Jahre am Studium gehindert wurden, und (5) Studierende, die in Großhessen beheimatet sind. Ab Wintersemester 1946/47 wurden diese Bedingungen weiter spezifiziert und in vier Gruppen eingeteilt, wobei die Gruppe IV nicht zugelassen wurde: Diese Gruppe umfasste Personen, »die von der Spruchkammer als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden sind und die von den Strafen einer dauernden Unverwendbarkeit für öffentliche Ämter auf die Dauer von fünf Jahren nicht befreit worden sind«. Im Vorlesungsverzeichnis für das WS 1946/47 findet sich der Hinweis auf eine Anordnung der Militärregierung, wonach frühere Mitglieder der NSDAP »nur zugelassen werden, soweit tatsächliche Plätze frei sind und ihre Zahl 10 % der eingeschriebenen Studierenden nicht übersteigt«. Ab SS 1948 wurden die politischen Bedingungen gelockert, blieben aber im Grundsatz noch weiterhin gültig. Einschränkungen gab es auch für die Lehrenden. Hierfür waren die Spruchkammerbescheide maßgebend. Für den Personenkreis der Professoren und Dozenten galten entsprechende Regelungen. Ab WS 1951/52 finden sich im Vorlesungsverzeichnis keine Hinweise mehr auf politische Bedingungen für die Immatrikulation319.
2.4.3 Psychiatrische und kinder- und jugendpsychiatrische Lehrveranstaltungen ab 1946 Die ersten Lehrveranstaltungen der Psychiatrie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgten im SS 1946. Die zweistündige Hauptvorlesung »Psychia319 Univ. Arch. 312/6, Nr. 13.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
trische und Nervenklinik« wurde noch mit NN aufgelistet, vermutlich aber von Prof. Villinger gehalten. Darüber hinaus war Prof. Klaus Conrad mit zwei einstündigen Lehrveranstaltungen vertreten: einer psychiatrisch-neurologischen Propädeutik und einer Vorlesung über Neurosenlehre. Mit dem WS 1946/47320 begann eine weitere Differenzierung der Lehrveranstaltungen. Zentrale Veranstaltung war eine zweieinhalbstündige Hauptvorlesung »Psychiatrische und Nervenklinik«, gehalten von Werner Villinger, ferner eine Vorlesung über forensische Psychiatrie, ebenfalls von Villinger, und ein psychiatrisch-neurologischer Untersuchungskurs, veranstaltet von Hermann Stutte. Bemerkenswert ist, dass die Lehrveranstaltungen nicht nur auch an Samstagen, sondern immer wieder auch an Sonntagen abgehalten wurden. So fand die von Villinger abgehaltene Hauptvorlesung im SS 1947 und im WS 1947/48 jeweils am Dienstag und am Sonntag von 8 Uhr bis 9.30 Uhr statt. Die erste spezifisch kinderpsychiatrische Vorlesung wurde im SS 1947 unter dem Titel »Psychopathologie des Kindesalters« von Villinger gehalten. Villinger hatte ja in Tübingen die dortige kinderpsychiatrische Abteilung »Klinisches Jugendheim« geleitet. Ab dem WS 1947/48 widmete sich Hermann Stutte immer mehr den kinder- und jugendpsychiatrischen Lehrveranstaltungen, die sich auf verschiedene Themenbereiche erstreckten: – Chronische Nervenkrankheiten des Kindesalters (WS 1947/48) – Besprechung sozialpädagogischer und jugendpsychiatrisch-forensischer Fälle (WS 1948/49) – Besprechung sonderpädagogischer Einzelfälle für Mediziner, Pädagogen und Juristen. Aus dieser Veranstaltung ist das interdisziplinäre sozialpädagogische Seminar hervorgegangen, auf das an späterer Stelle noch eingegangen wird. – Forensische Psychiatrie und Kriminalbiologie (WS 1949/50) – Psychische und nervöse Erkrankungen des Kindesalters (WS 1950/51) – Kinder- und Jugendpsychiatrie (Vorlesung) (WS 1951/52) – Probleme der Erziehungsberatung und Psychotherapie im Kindesalter (Stutte und Förster) (SS 1952). Ein repräsentatives Bild über die Lehrveranstaltungen in den Fächern Psychiatrie, Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie im WS 1952/53 gibt Tab. 2.13.
320 Univ. Arch. 312/6, Nr. 97.
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Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
Tab. 2.13: Lehrveranstaltungen in der Psychiatrie, Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie im WS 1952/53321 – Psychiatrisch-neurologische Klinik – Sozialpsychiatrie – Kinder- und Jugendpsychiatrie
Di, Do Villinger 8.00–9.30 Uhr einstündig, n. Vereinb. einstündig
Villinger Stutte
– Untersuchung und Besprechung chronischer Nervenkrankheiten bei Kindern (nur für Medizi- einstündig ner)
Stutte
– Praktikum der Erziehungsberatung
Stutte, Förster322
– Medizinische Psychologie – Ausgewählte Kapitel aus der forensischen Psychiatrie und Kriminalbiologie für Juristen und Mediziner
einstündig
Ehrhardt323
Sa, einstündig Ehrhardt
– Seminar über Probleme der Psychosomatik für Psychologen und Mediziner – Einführung in die Neurologie I einstündig – Gerichtliche Psychiatrie für Juristen und Medizieinstündig ner mit Demonstrationen – Krankheitsvorstellungen in der Landesheilanstalt mit besonderer Berücksichtigung rechtlicher Probleme für Mediziner, Psychologen und Juristen
Ehrhardt, Ploog324 Brobeil325 Langelüddeke326 Langelüddeke
Sie zeigt, dass neben den obligaten Lehrveranstaltungen in den Fächern Psychiatrie, Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie auch eine Reihe zusätzlicher Lehrangebote vorhanden waren, die interdisziplinären Charakter hatten. Diese Interdisziplinarität, die sich bereits in der unmittelbaren Nach-
321 Univ. Arch. 312/6, Nr. 14. 322 Eckart Förster (1920–1999), langjähriger Mitarbeiter von Hermann Stutte. Er wurde 1957 Leiter der Städtischen Erziehungsberatungsstelle der Stadt Essen und begründete eine jugendpsychiatrische Abteilung am Krankenhaus Essen-Werden (vgl. auch Kap. 17). 323 Helmut Ehrhardt (1914–1997) war Mitarbeiter von Villinger in Breslau und Marburg und wurde 1964 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Forensische und Soziale Psychiatrie der Philipps-Universität Marburg berufen. 324 Detlev Ploog (1920–2005) war Mitarbeiter Villingers in Marburg und wurde 1952 an das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München berufen, wo er das Klinische Institut leitete. 325 Alfred Brobeil (1915–1955) war Oberarzt bei Villinger in Marburg und spezialisiert auf neurologische Erkrankungen, insbesondere auf solche der Gefäße. 326 Albrecht Langelüddeke (1889–1977) ist als forensischer Psychiater hervorgetreten und war zeitweise Leiter des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Marburg.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
kriegszeit entwickelte, war stets ein Markenzeichen der Marburger Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Mit dem Eintritt neuer Mitarbeiter in die Nervenklinik erweiterte sich auch das Spektrum der Lehrveranstaltungen, ab dem WS 1955/56327. Die neu eingeführten Lehrveranstaltungen berührten folgende Themenbereiche: Tab. 2.14: Die neu eingeführten Lehrveranstaltungen – Allgemeine Psychopathologie für Mediziner und WS 1955/ Ploog Psychologen 56 – Psychotherapeutische Übungen – Spezielle Kinderpsychiatrie – Praxis der Erziehungsberatung: Kinder aus geschiedenen Ehen – Schwierige Kinder und Jugendliche – Kolloquium: Erziehungsnotstand und Jugendhilfe
WS 1956/ Ploog, Leuner328 57. SS 1959 Stutte WS 1959/ Stutte, Lücken329 60 WS 1959/ Stutte 60 SS 1959
Stutte, Blochmann, Lücken
Die zuletzt genannte Lehrveranstaltung stellt den Beginn des interdisziplinären sozialpädagogischen Seminars dar, das vom SS 1959 bis zum WS 1972/73 existierte und einen integrativen Schwerpunkt für die Fachgebiete Sozialpädagogik, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe, Jugendrecht, Familienrecht und Jugendkriminologie verkörperte. Ab dem WS 1963/64330 erfuhren die spezifischen Lehrveranstaltungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine enorme Ausweitung, sowohl, was die Inhalte, als auch, was die Anzahl betrifft. So wurden im WS 1973/74 zwölf kinderund jugendpsychiatrische Lehrveranstaltungen abgehalten und in den folgenden beiden Semestern jeweils zehn Veranstaltungen. Neu hinzugekommene Veranstaltungen, beginnend bereits im WS 1971/72, waren:
327 Univ. Arch. 312/6, Nr. 99. 328 Hanscarl Leuner (1919–1996), Psychiater und Psychotherapeut, war an der Universitätsklinik Marburg und von 1955–1958 an der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg tätig, wo er auch mit psychodelischen Drogen experimentierte. Er ist der Begründer des Katathymen Bilderlebens (1970). 329 Kurt Lücken (1900–1972) war Honorarprofessor für Bürgerliches Recht an der PhilippsUniversität Marburg, Mitbegründer der Lebenshilfe und des Sozialpädagogischen Seminars. 330 UAMR 312/6, Nr. 32.
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
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Tab. 2.15: Neu hinzugekommene Veranstaltungen, beginnend bereits im WS 1971/72 – Medizinische Psychologie für Vorkliniker
zweistündig Remschmidt
– Medizinische Psychologie II für Kliniker – Explorationsseminar
einstündig einstündig
– Krankheit als Kommunikationsstörung, Seminar für Mediziner und Psychologen
zweistündig Remschmidt
Remschmidt Remschmidt
Ab dem WS 1975/76331 erfolgte eine Aufteilung des nervenheilkundlichen Stoffgebietes aufgrund der geänderten Approbationsordnung. Im Zuge dieser Neuerungen wurden die Vorlesungen weitgehend durch Praktika abgelöst und das nervenheilkundliche Stoffgebiet wurde überwiegend dem 5. Klinischen Semester zugeordnet. Daraus resultierten als Kernbestandteil des Unterrichts: – Das dreistündige Praktikum der Neurologie, in das die Kinder- und Jugendpsychiatrie einbezogen war, und – das dreistündige Praktikum der Psychiatrie, ebenfalls unter maßgeblicher Beteiligung der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Neuaufteilung hatte zur Folge, dass die weiter existierenden Vorlesungen freiwillig waren; sie waren aber dennoch gut besucht. Insgesamt wurden die Lehrveranstaltungen inhaltlich und auch im Vorlesungsverzeichnis den drei etablierten Studiengängen zugeordnet: (1) Humanmedizin, (2) Zahnmedizin und (3) Humanbiologie.
2.4.4 Das interdisziplinäre sozialpädagogische Seminar Das interdisziplinäre Denken und den mehrdimensionalen Forschungs- und Behandlungsansatz hatten Villinger und Stutte aus Tübingen mitgebracht. Es war das Kennzeichen der »Tübinger Schule«, deren zentrale Person Robert Gaupp (1870–1953) war. Er hat in der von ihm geleiteten Tübinger Klinik die Mehrdimensionalität in Forschung, Diagnostik und Therapie eingeführt und auch der psychodynamischen Betrachtungsweise sowie dem biographischen Ansatz einen entscheidenden Stellenwert beigemessen (Köhnlein, 2001). Gaupp gehörte allerdings auch zu jenen Psychiatern, die der eugenischen Bewegung anhingen, welche das Ziel verfolgte, den »Volkskörper« von »Minderwertigen« zu reinigen, was durch das Erbgesundheitsprogramm der Nationalsozialisten propagiert und durchgeführt wurde. Gleichzeitig hatte Gaupp aber auch ein besonderes Interesse an der Entwicklungspsychologie, was seine Monographie 331 UAMR 312/6, Nr. 34.
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
»Psychologie des Kindes« zeigt, in der er die Entwicklung des Kindes vom Säuglings- bis zum Jugendalter beschrieben hatte und die 1928 bereits in der 6. Auflage erschienen war. Am Beispiel von Robert Gaupp lässt sich zeigen, wie nahe ethisch höchst problematische Einstellungen mit einem genuinen Interesse für die normale Entwicklung des Kindes verquickt sein können. Jedenfalls haben Werner Villinger und Hermann Stutte den Gedanken der Mehrdimensionalität und Interdisziplinarität aus der Tübinger Schule mit nach Marburg gebracht. Ausgangspunkt für die Gründung des sozialpädagogischen Seminars war bereits eine im SS 1949 von Hermann Stutte abgehaltene Lehrveranstaltung mit dem Thema »Besprechung sonderpädagogischer Einzelfälle für Mediziner, Pädagogen und Juristen«332. Diese Lehrveranstaltung fand eine Fortsetzung im heilpädagogischen Seminar, welches Stutte im WS 1951/52 abhielt333, und in den ab SS 1952 etablierten Veranstaltungen zur Erziehungsberatung334. Im WS 1959/60 wurde auf Initiative von Hermann Stutte ein Kolloquium durchgeführt mit dem Thema »Erziehungsnotstand und Jugendhilfe«. Dieses Kolloquium kann als Beginn des sozialpädagogischen Seminars gelten. Veranstalter waren, neben Hermann Stutte, die Pädagogikprofessorin Elisabeth Blochmann (1892–1972) und der Jurist Kurt Lücken (1900–1972). Elisabeth Blochmann war die erste Pädagogikprofessorin an der PhilippsUniversität Marburg. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung musste sie im Nationalsozialismus nach England emigrieren, kehrte aber ab 1952 nach Deutschland zurück und erhielt den ersten Lehrstuhl für Pädagogik an der Philipps-Universität Marburg335. Kurt Lücken war Jurist und Nationalökonom und hatte seit 1947 einen Lehrauftrag für Zivilrecht an der juristischen Fakultät der Philipps-Universität336. In der Folgezeit waren am sozialpädagogischen Seminar zeitweise beteiligt: der Psychologe und Mediziner Helmut von Bracken (1899–1984), der Pädagoge Karl Seidelmann(1899–1979), seit SS 1968/69 der Pädagoge Gerd Iben 332 333 334 335
UAMR 312/6, Nr. 12. UAMR 312/6, Nr. 14. UAMR 312/6, Nr. 14. UAMR 310, Nr. 6124, Bd. 1. Elisabeth Blochmann war bereits 60 Jahre, als sie nach Marburg berufen wurde. Sie hat in wenigen Jahren das Fach Pädagogik in Marburg etabliert und weiterentwickelt. Sie hat sich insbesondere mit dem zur damaligen Zeit vernachlässigten Gebiet der Mädchenpädagogik beschäftigt. Ihr letztes Buch »Hermann Nohl in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit« (1969) »spiegelt die Intensität und Souveränität ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in ihrer letzten Schaffensperiode« Univ. Präsident Rudolf Zingel) (s. auch Kap. 17). 336 Kurt Lücken gehörte zu den Mitbegründern der Lebenshilfe im Jahr 1958 und war ein enger Kooperationspartner von Hermann Stutte (s. auch Kap. 17).
Entwicklung der Lehre von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1979
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(geb. 1932) sowie in den Jahren 1970–1973 die Kinder- und Jugendpsychiater Peter Strunk (geb.1929) , Curt Weinschenk (1905–1990), Doris Weber (1916– 2017) und Helmut Remschmidt. Das interdisziplinäre sozialpädagogische Seminar kann im Hinblick auf seine Breitenwirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es war stets gut besucht (80–100 Teilnehmer), versammelte Studierende und auch Fachleute aus verschiedenen Disziplinen und war stets aktuellen Themen gewidmet, von denen einige im Folgenden angeführt werden: – Das neue jugendkundliche Schrifttum in sozialpädagogischer Sicht (SS 1960) – Annahme des Kindes aus rechtlicher und kinderpsychologischer Sicht (WS 1960/61) – Das Kind in der Gesellschaft (WS 1961/62) – Aufgaben und Probleme der Erziehungsbeistandschaft (WS 1962/63) – Filme und Jugend unter dem Aspekt des Jugendschutzes (SS 1963) – Das uneheliche Kind in Familie, Schule, Gesellschaft und Rechtssprechung (WS 1963/64) – Das Problem der Frühehe (SS 1964) – Die Massenmedien und ihre sozialpädagogische Bedeutung (WS 1964/65) – Das Problem der Kindesmisshandlung (WS 1965/66) – Sozialpädagogische Probleme in der Adoleszenz (WS 1966) – Probleme sozial unangepasster Kinder (SS 1967) – Behinderte Kinder (WS 1967/68) – Probleme der nachgehenden Fürsorge für jugendliche Strafgefangene (SS 1968) – Probleme der Erziehung und Sozialisierung in Notunterkünften (WS 1968/ 69) – Maturitäts- und Mündigkeitsprobleme im Jugendalter (SS 1969) – Sozialpädagogische Probleme im Bereich der Schule in pädagogischer, rechtlicher und ärztlicher Sicht (WS 1969/70) – Hilfen für gefährdete Kinder und Jugendliche (WS 1970/71) – Offene Hilfen für gefährdete Kinder und Jugendliche (SS 1971) – Problemfälle der sozialpädagogischen Praxis – Analyse und Lösungsstrategien (WS 1971/72) Am Ende des WS 1972/73 wurde das sozialpädagogische Seminar eingestellt. Wie diese Themenübersicht zeigt, wurden damals jeweils aktuelle Probleme der Kindheit und Jugend aufgegriffen, von denen viele auch heute noch von Bedeutung sind. Die Veranstalter gehörten unterschiedlichen Wissenschaftsund Fachgebieten an, was zu stets sehr gelungenen, gelegentlich auch kontroversen Dialogen führte und der interdisziplinären Hörerschaft eine mehrdimensionale Sichtweise vermittelte, die geeignet war, einseitige Standpunkte zu
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Anfänge der Kinderpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
relativieren und vielfach auch mehrere Lösungswege für ein bestimmtes Problem aufzuzeigen. Nach den Seminarsitzungen versammelten sich die Veranstalter in einem italienischen Lokal, von dem später das Gerücht ging, dass auf den Pizzen das Hundefutter »Chappi« verwendet worden sei. Dies wurde jedenfalls kolportiert und führte dazu, dass die Veranstalter des Seminars als »Chappi-Klub« tituliert wurden.
2.5
Zusammenfassung
Die Etablierung einer eigenständigen Kinder- und Jugendpsychiatrie begann an der Philipps-Universität Marburg im Jahr 1946, als Werner Villinger und Hermann Stutte aus Tübingen nach Marburg kamen. Dort bestand bereits seit 1920 eine von Robert Gaupp (1870–1953) begründete kinderpsychiatrische Einrichtung, die zunächst von Werner Villinger und später u. a. auch von Hermann Stutte geleitet worden war. Die in Tübingen praktizierte mehrdimensionale Betrachtungsweise kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen wurde in Marburg fortgesetzt und weiter ausgebaut. Aber auch vor der Einrichtung einer eigenen kinderpsychiatrischen Station wurden in der Marburger Nervenklinik, die in den Jahren von 1926–1946 unter der Leitung von Ernst Kretschmer (1888– 1964) stand, Kinder und Jugendliche behandelt. Im Zeitraum von 1934–1946 wurden 196 Kinder und Jugendliche nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses den Erbgesundheitsgerichten gemeldet. In 68 Fällen konnte anhand von archivierten Krankengeschichten und erhaltenen Akten der Erbgesundheitsgerichte deren weiteres Schicksal im Hinblick auf die Sterilisierung bzw. deren Unterbleiben nachgezeichnet werden. Die nationalsozialistische Vergangenheit der beiden Gründungsväter (Stutte und Villinger) wird auf der Grundlage von Archivalien und anderen Quellen dargestellt. Beide waren Mitglied verschiedener NS-Organisationen und hatten während der NS-Zeit an Sterilisationsgutachten mitgewirkt. Werner Villinger wird darüber hinaus vorgeworfen, dass er auch Gutachter im Rahmen der T4Aktion gewesen sein soll, was er vor Gericht bestritten hat. Ferner ist belegt, dass er Versuche mit Hepatitis-Viren in seiner Zeit als Ordinarius an der Universität Breslau an einigen Patienten zugelassen hat. Beiden wird ferner angelastet, dass sie auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus eine Nomenklatur gebraucht haben, die nationalsozialistisches Gedankengut widerspiegelt. Dieser Vorwurf bezieht sich in besonderer Weise auf Verhaltensweisen, die unter dem Begriff der »Verwahrlosung« oder der Dissozialität subsumiert werden können. Diesbezüglich steht die verschollene Habilitationsschrift von Hermann Stutte mit dem Titel »Über Schicksal, Persönlichkeit und Sippe ehemaliger Fürsorge-
Zusammenfassung
233
zöglinge. Ein Beitrag zum Problem der sozialen Prognose« im Mittelpunkt der Kritik. Andererseits muss aber festgestellt werden, dass sowohl Werner Villinger als auch Hermann Stutte die Entwicklung der deutschen und z. T. auch der europäischen und internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie durch ihre Aktivitäten in der unmittelbaren Nachkriegszeit und auch danach maßgeblich beeinflusst haben. In diesem Zusammenhang spielt die Gründung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg (1952) eine zentrale Rolle, die von Werner Villinger nach dem angelsächsischen Konzept der Child Guidance Clinics mit Hilfe einer Spende aus dem McCloy-Fund etabliert werden konnte (vgl. Kap. 3). Diese Initiative hatte eine Schrittmacherfunktion für die Konzeption und den Bau einer eigenständigen kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik, der ersten ihrer Art in Deutschland, deren Realisierung schwerpunktmäßig von Hermann Stutte betrieben wurde. Beide Professoren waren ferner an der Gründung der Lebenshilfe beteiligt, deren Gründungsversammlung 1958 in der Bibliothek der neu errichteten Universitätsklinik stattfand. Am Schluss des Kapitels wird die Frage aufgeworfen, inwieweit diese fortschrittlichen Aktivitäten der beiden Gründungsväter durch ihre (unterschiedliche) Involvierung im Nationalsozialismus in Frage gestellt werden können.
3.
3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5
Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle337
Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle (1952) Gründungsgeschichte der Erziehungsberatungsstelle (1950–1959) Erste Anfänge in der Nachkriegszeit Von der staatlichen Einrichtung zur Vereinslösung Aufgaben und Struktur der neuen Einrichtung Administrative Trennung von »Institut« und Erziehungsberatungsstelle (1959) Ausbau und Weiterentwicklung der Erziehungsberatungsstelle (1960–1979) Ausbau nach innen und Wirkung nach außen Erweiterung der therapeutischen Arbeit und Lehrangebote Intensive Forschungstätigkeit Finanzierungsschwierigkeiten Neue Aufgaben und Herausforderungen (1980–2000) Das Ringen um das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe Beteiligung am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Abspaltungsversuche und Hearing zur Erziehungsberatung im Landkreis und in der Stadt 50-jähriges Jubiläum (2000) Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel in der Zusammensetzung des Vorstands Erneute Vorstöße der Grünen Satzungsänderung und Streit um eine neue Geschäftsordnung Das Ende eines erfolgreichen Kooperationsmodells Zusammenfassung
337 Gekürzte und stellenweise ergänzte Fassung aus Remschmidt H (2006): 56 Jahre Erziehungsberatung in Marburg. Chronik der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg und der Ärztlich-pädagogischen Jugendhilfe der Philipps-Universität Marburg, Görich und Weiershäuser, Marburg.
236
3.1
Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
Gründungsgeschichte der Erziehungsberatungsstelle (1950–1959)
3.1.1 Erste Anfänge in der Nachkriegszeit Nachdem in der Zeit des Nationalsozialismus zahlreiche, bereits vor dem Krieg bestehende, Erziehungsberatungsstellen geschlossen oder parteipolitisch gleichgeschaltet worden waren, ergab sich nach 1945 die Notwendigkeit, neue Formen der Jugendhilfe und der Beratung von Eltern und Familien zu entwickeln. Anknüpfend an Beratungsinstitutionen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegründet worden waren und an Entwicklungen in den Vereinigten Staaten (z. B. Child Guidance-Bewegung), entstanden in den ersten Nachkriegsjahren in der Bundesrepublik Deutschland die ersten Erziehungsberatungsstellen. Nach Stutte stellten sie sich die Aufgabe, kindliche Verhaltensstörungen, schulische Leistungsbehinderungen, Erziehungsschwierigkeiten, dissoziale Neigungen aus ärztlicher, psychologischer und soziologischer Sicht in ihren Bedingungen abzuklären, den Eltern und Mitträgern der Erziehung (Schule, Jugendamt, Vormundschaftsgerichte, Heime etc.) fundierte Ratschläge zu geben und wo nötig und möglich, die entwicklungsgefährdeten Kinder und Jugendlichen in ambulante Betreuung und Therapie zu nehmen. Die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg verdankt ihre Entstehung dem Zusammenwirken mehrerer Initiativen: (1) Einer Initiative von Prof. Werner Villinger, dem damaligen Direktor der Universitäts-Nervenklinik, der in seiner Klinik für die Zwecke der Erziehungsberatung drei Zimmer zur Verfügung stellte und der aufgrund seiner in amerikanischen und englischen »Child Guidance-Clinics« gesammelten Erfahrungen ein Konzept für die Zielsetzung und Arbeitsweise der Erziehungsberatung in Marburg entwickelte. Die Institution hieß damals allerdings »Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe« und war sowohl räumlich als auch organisatorisch der Universität angegliedert. (2) Der amerikanischen Besatzungsmacht, die über eine Spende aus dem McCloy-Fund zunächst den Betrieb des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe sicherstellte und mit einer weiteren Spende den Neubau eines Gebäudes für die Erziehungsberatung ermöglichte, das 1952 eingeweiht wurde. Seitens der Amerikaner wurden auch in den fünfziger Jahren regelmäßige Zusammenkünfte zum Erfahrungsaustausch der hessischen Erziehungsberatungsstellen unterstützt, an der auch amerikanische Experten teilnahmen. (3) Der hessischen Landesregierung, die durch einen Zuschuss in gleicher Höhe, wie er von der amerikanischen Besatzungsmacht zur Verfügung gestellt
Gründungsgeschichte der Erziehungsberatungsstelle (1950–1959)
237
worden war, nicht nur den Neubau ermöglichte, sondern auch die Erziehungsberatungsstellen als solche als zweckmäßige Form der Jugendhilfe, sozialpädagogischer Jugendrechtspflege und Elternberatung förderte. Am 30. 12. 1951 konnte das Richtfest für die neue Erziehungsberatungsstelle gefeiert werden. Aus diesem Anlass hielt Prof. Villinger eine Rede, in der er »die geistigen Wurzeln« für die Errichtung der Erziehungsberatungsstelle auf große Kinderärzte (Czerny, von Pfaundler) und auf den kinderpsychologisch und kinderpsychiatrisch interessierten Tübinger Psychiater Robert Gaupp zurückführte sowie auf den in Heidelberg tätig gewesenen Kinder- und Jugendpsychiater August Homburger. Er erwähnte in diesem Zusammenhang auch seine im Jahre 1948 stattgehabte Reise nach England, wo er Child Guidance-Kliniken besuchen konnte, die ihn dazu anregten, sich für »Child Guidance-ähnliche Einrichtungen« auch in Deutschland einzusetzen. Die feierliche Einweihung der Erziehungsberatungsstelle fand am 27. 11. 1952 statt. Auf der Einladungskarte ist sie als »Erziehungsberatungsstelle der Universität« benannt. Auf der Einweihungsveranstaltung sprachen Prof. Villinger, Prof. Stutte, Prof. Busemann und Frau Dr. Landwehr. Prof. Villinger erhielt, überreicht durch Ministerialdirektor Viehweg, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik. Die Einweihungsfeier war verbunden mit Kurzberichten aus der Arbeit der Erziehungsberatungsstelle. Es referierten Frau Dr. Landwehr (Sozialarbeiterin) zum Thema: »Aus der praktischen Arbeit der Erziehungsberatungsstelle«, Prof. Stutte zum Thema: »Zweieinhalb Jahre Erziehungsberatung – Rückblick und Ausblick« und Prof. Busemann über »Psychologisch-pädagogische Prinzipien der Erziehungsberatungsarbeit«. Interessant ist, mit welchen Themen sich Erziehungsberatung Anfang der fünfziger Jahre beschäftigte. Aus einem Protokoll des hessischen Ministeriums des Inneren, verfasst von Dr. Englert vom 17. 09. 1951, gehen zahlreiche Themenvorschläge für eine Tagung am 12. und 13. November 1951 in Jugenheim/ Bergstraße hervor, die für die weitere Entwicklung der Erziehungsberatungsstellen in Hessen bedeutsam werden sollte. Auf ihr wurde nämlich die Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung in Hessen gegründet. Einige Themenvorschläge sollen im Folgenden aufgelistet werden: – Die gegenwärtigen Formen der Erziehungsschwierigkeiten und Wege und Möglichkeiten der Abhilfe für die Erziehungsberatungsstellen. – Problematik und Anwendung der Testmethoden. – Intensivierung und Zusammenarbeit zwischen Erziehungsberatungsstellen und Jugendbehörden. – Die Beobachtungsstationen in ihrer Beziehung zur Erziehungsberatungsstelle und zu den Erziehungsheimen.
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Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
– Erfahrungen über kindliche Neurosen. – Ursachen der Reifestörungen. – Formen der Erziehungsschwierigkeiten bei konstitutionell und charakterlich gestörten Kindern und Jugendlichen. – Wie kann die Zusammenarbeit innerhalb der Erziehungsberatungsstelle gewährleistet werden, ohne dass der Ratsuchende veranlasst wird, sich mehr als einem Menschen zu öffnen? – Sollen Beratungsstellen nachgehende Fürsorge treiben? – Beratungen über ein gemeinsames Diagnosenschema. – Praktische therapeutische Fragen der Erziehungsberatung. – Fortbildung von für Erziehungsberatungsstellen geeigneten Fachkräften. – Finanzierung der Erziehungsberatung, einschließlich Beiträge der Eltern oder Erziehungsberechtigter, Krankenkassen etc. – Auswahl von qualifizierten Erziehungsheimen in Fortsetzung der Therapie der Erziehungsberatungsstellen. – Gründung einer Zeitschrift. Viele dieser Themen sind auch heute noch aktuell, auch wenn manche dem damaligen Zeitgeist entsprechende Formulierungen heute nicht mehr akzeptabel erscheinen. Die Entwicklungstendenzen der Erziehungsberatungsstellen in Hessen im Jahrzehnt zwischen 1950 und 1960 lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es erfolgte ein weiterer Ausbau der bereits im Jahre 1951 gebildeten Fachgruppen, wobei die Fachgruppe der Psychiater nunmehr in »Fachgruppe der Ärzte« umbenannt wird. Dies geht z. B. aus der Tagesordnung für die Arbeitstagung der Erziehungsberatungsstelle in Bad Schwalbach, die vom 07.–09. 03. 1957 stattfand, hervor. In dieser Veränderung zeigt sich auch ein gewisses Abrücken von der Fachdisziplin der Psychiatrie zugunsten allgemeinärztlicher bzw. kinderärztlicher Kompetenz. Betrachtet man die inhaltliche Arbeit zwischen 1950 bis 1960, so lassen sich folgende Tendenzen ausmachen: – Es kommt zu einer Verlagerung des Beratungsschwerpunktes von allgemeinen Erziehungsfragen auf Problemlagen, die mit der Schule zusammenhängen. Prototypisch hierfür war eine Arbeitstagung der hessischen Erziehungsberatungsstellen zum Thema: »Schülerauslese und Erziehungsberatung«, die im Oktober 1957 stattfand. Eine weitere Tagung in der Zeit vom 20.–22. 02. 1958 in Königstein im Taunus beschäftigte sich mit dem Thema »Das verhaltensauffällige (aber normal begabte) Kind in der Schule«. Auch wird die Bedeutung der Schulpsychologie für die Erziehungsberatungsstellen zu einem wichtigen Thema.
Gründungsgeschichte der Erziehungsberatungsstelle (1950–1959)
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– Neben den mit der Schule zusammenhängenden Problemen gewinnt auch die Zusammenarbeit mit Heimen eine zunehmende Bedeutung338. – Als weiterer Schwerpunkt kristallisiert sich die Zusammenarbeit mit der im Jahr 1958 gegründeten Lebenshilfe heraus. Kinder mit geistigen Behinderungen oder mit umschriebenen kognitiven Ausfällen werden zunehmend zum Beratungsgegenstand. – Neben diesem inhaltlichen Schwerpunkt der Beratungstätigkeit, bleiben organisatorische Fragen und die Diskussion über die Arbeitsweise der Erziehungsberatungsstellen zentrale Themen. Die Diskussionen über den Zusammenschluss der Landesarbeitsgemeinschaften zu einem Bundesverband führen am 13. 12. 1960 zur Gründung einer »Ständigen Konferenz der Erziehungsberatung«, in der allerdings die Landesarbeitsgemeinschaft hessischer Erziehungsberatungsstellen zunächst nicht Mitglied wird. Für die hessische Landesarbeitsgemeinschaft der Erziehungsberatungsstellen (LAG) wird auf der Mitgliederversammlung am 03. 11. 1960 in Königstein im Taunus eine Ordnung verabschiedet. In dieser Ordnung ist von fünf Fachschaften die Rede, die folgende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfasst: Ärztliche Mitarbeiter, psychologische Mitarbeiter, sozialpädagogische Mitarbeiter, Spieltherapeutinnen und Geschäftsführer. Diese Ordnung wurde 1973 überarbeitet. Zunehmend gewinnen auch Fortbildungsveranstaltungen an Bedeutung. Dabei ist interessant, dass bereits im Jahre 1961 über eine Fortbildungsveranstaltung berichtet wird, die sich mit dem »Legasthenieproblem« beschäftigte.339 Schließlich ist zu erwähnen, dass unter den Interventionsmethoden im Jahre 1960 zunehmend auch die Psychotherapie auftaucht sowie präventive Gesichtspunkte, die 1964 Thema einer Tagung in Marburg waren.340
3.1.2 Von der staatlichen Einrichtung zur Vereinslösung In einem Erlass vom 11. 01. 1952 genehmigt der hessische Minister für Erziehung und Volksbildung die Einrichtung einer Erziehungsberatungsstelle in der Universitäts-Nervenklinik, die der Leitung von Herrn Prof. Dr. Villinger in seiner Eigenschaft als Direktor der Universitätsklinik unterstellt wurde. Bis zum Beginn des Rechnungsjahres 1952, für das der Minister einen eigenen Haushaltstitel für die EB in Aussicht stellte, sollte die Erziehungsberatungsarbeit durch die 338 Ordner LAG, S. 33. 339 Ordner LAG, S. 34. 340 ebenda, S. 41.
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vom Ministerium des Inneren zur Verfügung gestellten Mittel finanziert werden341. In einer Stellungnahme vom 11. 04. 1953 begründet Prof. Villinger die »Sonderstellung der Erziehungsberatungsstelle an der Philipps-Universität im Rahmen des Haushaltsvoranschlages für das Rechnungsjahr 1953«342. Er betont dabei, dass diese Sonderstellung darin bestehe, dass die Marburger Erziehungsberatungsstelle, neben der originären Erziehungsberatungsarbeit, auch Verpflichtungen in der Forschung und Lehre habe und forderte deshalb eine umfangreichere personelle und materielle Ausstattung dieser EB. Im Jahre 1955 kam es zu einer regelrechten Krise hinsichtlich der Finanzierung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe (Erziehungsberatungsstelle). So richtete Prof. Stutte in Vertretung von Prof. Villinger am 17. 03. 1955 ein Schreiben an das hessische Ministerium für Erziehung und Volksbildung mit der Frage, »ob den Mitarbeitern des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe sofort gekündigt werden soll«343. Hintergrund für diese Krise war erneut eine gewisse Zwitterstellung des Institutes (EB): Die kommunalen Gebietskörperschaften sahen sich nicht in der Pflicht, da bislang das Institut ja durch die Ministerien staatlich subventioniert wurde. Andererseits sah das hessische Ministerium für Erziehung und Volksbildung keine Veranlassung, seine Unterstützung fortzusetzen, da Erziehungsberatung ja nach § 4 des RJWG eine Pflichtaufgabe der Kommunen sei. Im Jahr 1957 kam es dann, trotz des Widerstandes von Prof. Villinger, zur Erarbeitung einer Satzung für den geplanten Verein »Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe e.V.«, die vom hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung initiiert wurde und in deren § 11 Folgendes ausgeführt wurde: (1) »Das Land Hessen stellt dem Verein das Grundstück Hans-Sachs-Str. 8, Flur 53, Par. 2, eingetragen im Grundbuch von Marburg/L., Bd. 62, B. 2480 einschließlich Inventar unentgeltlich für die Dauer des Bestehens des Vereins zur Verfügung. (2) Der Verein übernimmt sämtliche Kosten, die durch die Haltung des Gebäudes und Inventars entstehen. Insbesondere trägt er die Kosten der Erhaltung des Gebäudes in Dach und Fach und auch die auf dem Grundstück ruhenden öffentlichen Lasten.«344
Schließlich wurde dann, nach vielem Hin und Her, am Samstag, 18. 04. 1959, der »Verein für Erziehungshilfe e.V. Marburg« gegründet. Die ursprünglich geplante Bezeichnung des Vereins »Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe« wurde 341 342 343 344
EB-Ordner 9. ebenda. EB-Ordner 9. ebenda.
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fallengelassen. Sie blieb aber als Name des »Instituts« bestehen, das bei der Universität verblieb, während die EB dem »Verein für Erziehungshilfe« zugeordnet wurde. An der Gründungsversammlung nahmen teil: die bevollmächtigten Vertreter der Stadt, des Landkreises Marburg, des Landkreises Ziegenhain und des Landkreises Frankenberg sowie verschiedene Einzelpersonen, die ihren Beitritt zum Verein erklärt hatten. In derselben Sitzung wurde auch die Satzung abschließend beraten. In den Vorstand gewählt wurden: – Prof. Dr. Hermann Stutte als Vorsitzender, – Oberbürgermeister Gassmann, Marburg, als Stellvertretender Vorsitzender und – Kreismedizinalrat Dr. Nittner, Marburg, als Schatzmeister. Gleichzeitig wurde an das hessische Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheit ein Antrag auf Anerkennung der Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V. gestellt. Im Schreiben des Vorsitzenden des neu gegründeten Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg (Prof. Stutte) an die Mitarbeiterinnen der Ärztlichpädagogischen Jugendhilfe wird die Trennung »Institut« und Erziehungsberatungsstelle wie folgt bekannt gegeben: »Aus den Ihnen bekannten Gründen ist eine Umorganisation des bisherigen Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe hinsichtlich der Erziehungsberatungsstelle notwendig geworden. Die Tätigkeit der Erziehungsberatungsstelle wird nunmehr fortgeführt von dem »Verein für Erziehungshilfe e.V.« in Marburg. Der »Verein für Erziehungshilfe« übernimmt Sie in Ihrer bisherigen Tätigkeit und unter den bisherigen Bedingungen in sein Angestelltenverhältnis« (Brief vom 21. 04. 1959).
Der Vereinsgründung waren umfangreiche Diskussionen vorangegangen. Um die Lösung der institutionellen Problematik hat sich insbesondere Herr Dr. Englert vom Hessischen Ministerium des Inneren verdient gemacht, in dessen Bereich damals die »Jugendwohlfahrt« gehörte. In einem Schreiben vom 06. 01. 1959 an den Hessischen Minister für Erziehungs- und Volksbildung schlug Herr Englert die Aufteilung der Aufgaben und der Mitarbeiterschaft in zwei Einrichtungen vor : (1) Das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe »mit den Aufgaben der Lehre und Forschung für die Wissenschaftsgebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Psychopathologie, der forensischen Jugendpsychiatrie, der Heilpädagogik, Psychotherapie und Psychagogik, somit für die Wissenschaften, die das erziehungsschwierige Kind und Jugendlichen mit den dazugehörigen diagnostischen und therapeutischen Mitteln und Methoden
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betreffen, bestehen zu lassen und so auszubauen, dass das Institut Aus- und Fortbildungsaufgaben auf diesem Gebiet erfüllen kann.« (2) Als Träger der praktischen Erziehungsberatung, somit für die praktischen Zwecke der Jugendhilfe, soll eine »Vereinigung für Erziehungshilfe« geschaffen werden. Diese Vereinigung hätte den Zweck, die Erziehungsberatungsstelle beim Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe zu unterhalten. Die Vereinigung soll sich zusammensetzen aus: der Stadt Marburg, dem Landkreis Marburg und den Landkreisen Frankenberg, Ziegenhain und Biedenkopf, einem Vertreter der Universität Marburg und dem Leiter des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe«. Für die Gründungsversammlung des Vereins für Erziehungshilfe e.V. hatte Prof. Stutte die Besonderheiten der Marburger Erziehungsberatungsstelle auf einer Seite prägnant zusammengefasst, wobei zum damaligen Zeitpunkt bis zur Gründung des Vereins und der Trennung der beiden Institutionen nur das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe bestand. Als Besonderheiten wurden herausgestellt: (1) Mehrdimensionale Arbeitsweise durch Gleichgewichtigkeit der Ausbildung der einzelnen Teammitglieder. (2) Durch Verbundenheit mit der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung der Universität, Möglichkeiten zur Anwendung differenzierter psychiatrisch-neurologischer Untersuchungen (EEG, Röntgen etc.) und zur stationären Beobachtung. (3) Laufende Weiterbildung der Teammitglieder durch enge Verbindung mit der Universität (Information durch modernste Fachliteratur des In- und Auslandes), Teilnahme an Vorlesungen. (4) Anpassung des so aufgenommenen Wissens und der Methoden an die praktische Erziehungsberatungsarbeit, Ausweitung der dabei gewonnenen Erfahrungen und Weitergabe an alle an der Kinder- und Jugenderziehung Beteiligten: Pädagogen, Ärzte, Sozialarbeiter, Richter. Im Rahmen von: Vorlesungen, Vorträgen, Gruppengesprächen, Ausbildung von Fachkräften, fachlichen Einzelberatungen, wissenschaftlichen Arbeiten.
3.1.3 Aufgaben und Struktur der neuen Einrichtung Die Personalausstattung der neu gegründeten Erziehungsberatungsstelle setzte sich ab 01. 06. 1959 wie folgt zusammen: Die Leitung hatte Prof. Stutte (damals außerordentlicher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie), psychologische Mitarbeiterin war Frau Dr. phil. Krämer, Sozialberaterin Frau Dr. phil. Neumayer und als Spieltherapeutin war
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die Jugendleiterin Frau A. Meyer tätig. In der Aufstellung vom 01. 06. 1959 ist ferner vermerkt, dass ein Pädagoge in der Eigenschaft als Schulpsychologe mitwirkte. Als Aufgabengebiet wurde Folgendes festgelegt: a) Untersuchung und Behandlung, Beratung von Eltern und Ämtern, Gutachten, b) Spieltherapie in geschlossenen Spielgruppen unter therapeutischen Aspekten, c) Beratung in Fragen der Umschulung in weiterführende Schulen und Sonderschulen, d) Arbeitskreise mit Eltern, Lehrern von Volks- und höheren Schulen, Fürsorger(innen), Heimerzieher(innen) etc. Als örtlicher Arbeitsbezirk wurde die Stadt Marburg sowie die Landkreise Marburg, Frankenberg und Ziegenhain festgelegt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erziehungsberatungsstelle unterlagen begreiflicherweise von Anfang an der Schweigepflicht. Jedoch ergab sich in den Anfangsjahren diesbezüglich ein Disput zwischen dem Magistrat der Universitätsstadt Marburg und dem Leiter der Erziehungsberatungsstelle Prof. Stutte. So verlangte der zuständige Stadtrat der Stadt Marburg mit Schreiben vom 03. 02. 1960 eine Liste mit den Namen der untersuchten Kinder. Er argumentierte dahingehend, dass sich die Schweigepflicht lediglich auf die Diagnose beziehe und nicht auf die Tatsache der Inanspruchnahme der Erziehungsberatungsstelle, denn die Stadt könne die Berechtigung des Zuschusses an die EB nur dann überprüfen, wenn sie auch die Namen der Kinder bzw. Familien kenne. In dieser Angelegenheit forderte Prof. Stutte Rechtsauskunft vom hessischen Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheit ein und erhielt am 04. 03. 1960 eine Nachricht, die seine Ansicht bestätigte. Zum einen unterliege das gesamte Personal der Erziehungsberatungsstelle der ärztlichen Schweigepflicht und auch die bloße Tatsache der Inanspruchnahme allein unterliege bereits dem Schweigegebot. Dies liege im Interesse aller, die die Erziehungsberatungsstelle in Anspruch nähmen. Wenn die Stadt Interesse habe, den Tätigkeitsumfang der EB kennen zu lernen, so gäbe es hierfür auch andere Möglichkeiten. Diese Sachverhalte erläuterte Prof. Stutte am 30. 01. 1960 auch der Mitgliederversammlung. Im Sommer 1960 erfolgte eine Überprüfung der hessischen Erziehungsberatungsstellen durch eine Mitarbeiterin des hessischen Ministeriums für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheit. Das Ministerium teilte den Erziehungsberatungsstellen mit Schreiben vom 23. 05. 1960 Folgendes mit: »Organisation, Arbeitsweise und personelle Besetzung der anerkannten und geförderten Erziehungsberatungsstellen bedürfen einer genauen Prüfung, um insbesondere
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feststellen zu können, ob die Aufgaben der Familien- und Erziehungshilfe im Sinne der Ziele der öffentlichen Jugendhilfe und der erlassenen Richtlinien erfüllt werden und um einen Einblick und eine Übersicht hinsichtlich der Vertretbarkeit von Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln zu erlangen.«
Diese Überprüfung fand in der Erziehungsberatungsstelle am 18. und 19. 08. 1960 erfolgreich statt. Am 26. 09. 1961 beantragte der Landrat des Landkreises Biedenkopf, Dr. Sorge, die Mitgliedschaft im Verein für Erziehungshilfe e.V. Marburg. Der Landkreis Biedenkopf gehörte seit 1952 der Arbeitsgemeinschaft der Erziehungsberatungsstellen Wetzlar-Dillenburg an. Nachdem diese Arbeitsgemeinschaft in einen Zweckverband umgewandelt werden sollte, stellte er den Antrag der Mitgliedschaft im Verein für Erziehungshilfe e.V., der vom Vorsitzenden ausdrücklich begrüßt wurde. Wie modern das Konzept der EB bereits Anfang der sechziger Jahre war, geht aus einem Antrag des Vereinsvorsitzenden Prof. Stutte vom 11. 12. 1961 hervor, in dem dieser beim Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheit die Einstellung einer »Außenfürsorgerin« beantragte. Diese sollte, in Ergänzung zu dem vor Ort arbeitenden Team, Besuche in den Familien, Schulen und Arbeitsstätten der vorgestellten Kinder durchführen und so die ortsgebundene Tätigkeit der EB in sinnvoller Weise ergänzen. Als spezielle Aufgaben der Außenfürsorgerin wurde formuliert: – »Vermittlung eines vertieften und anschaulichen Wissens von der pädagogischen, wirtschaftlichen und sozialen etc. Kulisse, vor der das Kind aufgewachsen ist.« – »Herstellung eines engeren und persönlicheren Kontaktes zur Familie oder zu den sonstigen einweisenden Stellen.« – »Herstellung persönlicher Beziehungen zu Schulen, Jugendbehörden und Arbeitsstellen.« – »Kontrolle über die erfolgte Realisierung unserer Erziehungsvorschläge«345. Dieser früh beantragte »aufsuchende Dienst« sollte später eine Fortsetzung finden im Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung durch die beiden mobilen Teams (bestehend aus einem Arzt, einem Psychologen und einem Sozialpädagogen) für die Landkreise Marburg-Biedenkopf und Schwalm-Eder. Sie bestanden, zuletzt nur noch für den Landkreis Marburg-Biedenkopf, von 1980 bis 1991.
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3.1.4 Administrative Trennung von »Institut« und Erziehungsberatungsstelle (1959) Angesichts der Tatsache, dass die Marburger Erziehungsberatungsstelle zunächst die Bezeichnung »Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe« trug und in der Universität beheimatet war, wurde sie auch, zumindest teilweise, aus Mitteln des Kultusministeriums, aber auch des Innenministeriums, finanziert und später durch Zuschüsse des Landeswohlfahrtverbandes und der Bezirkskörperschaften unterstützt. Aus etatrechtlichen Gründen erfolgte 1959 eine Trennung des in der Universität verbleibenden Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und der nunmehr von einem neu gegründeten »Verein für Erziehungshilfe« getragenen Erziehungsberatungsstelle. Beide Institutionen waren im selben Gebäude untergebracht und arbeiteten als ein einheitliches Team zusammen, wiewohl das »Institut« auch weitergehende Aufgaben in Forschung und Lehre hatte, die über den Aufgabenkreis der Erziehungsberatung hinausgingen. Der Trägerverein (e.V.) erhielt die Betriebsmittel für die Unterhaltung der Erziehungsberatungsstelle vom Hessischen Sozialministerium, vom Landeswohlfahrtsverband und von den Bezirkskörperschaften, die die Stadt Marburg, den Landkreis Marburg und den Schwalm-Eder-Kreis umfassten. Vor der Gebietsreform waren auch die Landkreise Biedenkopf und Frankenberg selbstständige Mitglieder des Vereins. Die Kooperation zwischen »Institut« und Erziehungsberatungsstelle war von Anfang an, trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte, sehr eng und interdisziplinär ausgerichtet. Während die Mitarbeiter des Instituts zusätzlich zur erziehungsberaterischen Tätigkeit auch noch Aufgaben in der Lehre (für Mediziner, Psychologen und Sonderpädagogen) und der Forschung wahrnahmen, lag die Tätigkeit der Mitarbeiter der Erziehungsberatungsstelle schwerpunktmäßig auf der Untersuchung, Beratung und Behandlung von Kindern mit Erziehungs-, Schul- und Verhaltensproblemen sowie der Beratung ihrer Eltern. Dem Trägerverein gehören bis zum heutigen Tage, neben einer Reihe von Privatpersonen, als juristische Personen die lokalen Gebietskörperschaften (Landkreis Marburg-Biedenkopf und Stadt Marburg) an.
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Ausbau und Weiterentwicklung der Erziehungsberatungsstelle (1960–1979)
3.2.1 Ausbau nach innen und Wirkung nach außen Das Jahr 1959 stellt insofern eine gewisse Zäsur dar, als in diesem Jahr eine Trennung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe (in der Trägerschaft der Universität) und der Erziehungsberatungsstelle (in der Trägerschaft des Vereins für Erziehungshilfe Marburg e.V.) vorgenommen wurde. Dennoch blieben beide Institutionen im selben Gebäude oder arbeiteten – freilich mit etwas unterschiedlichen Aufgaben – weiter eng zusammen. Der Zeitraum von 1960–1979 kann als Phase der Konsolidierung bezeichnet werden. Die begonnene Arbeit wurde, dem Konzept der Child Guidance-Kliniken folgend, fortgesetzt und auch weiter ausgebaut. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1978 war die EB allerdings für ein großes Einzugsgebiet zuständig, welches Stadt und Landkreis Marburg umfasste sowie die Landkreise Frankenberg, Ziegenhain und Biedenkopf. Erst ab dem Jahr 1979 wurde das Einzugsgebiet eingeschränkt auf die Stadt und den Landkreis Marburg-Biedenkopf sowie den Schwalm-Eder-Kreis und seit 1984 war die EB nur noch für die Stadt Marburg und den Landkreis Marburg-Biedenkopf zuständig. Im Zeitraum zwischen 1960 und 1979 konnte auf den bis dahin geleisteten Vorarbeiten weiter aufgebaut werden, die eine erhebliche diagnostische und therapeutische Intensität der beiden nunmehr administrativ getrennten, aber weiterhin kooperierenden Einrichtungen (»Institut« und Erziehungsberatungsstelle) erkennen lassen. Im 10-Jahres Bericht vom 01. 05. 1950–31. 12. 1960 wurde über insgesamt 3.833 Kinder berichtet, die kinder- und jugendpsychiatrisch und psychologisch untersucht wurden und von denen 431 wiederholt in die Beratungsstelle kamen. Von der Gesamtzahl der Kinder wurden 732 (19 %) gruppentherapeutisch und 382 (10 %) einzeltherapeutisch behandelt. Die Gesamtzahl der Therapiefälle belief sich auf 1.115 Kinder, was 29 % des Gesamtklientels ausmacht. Einen weiteren Schwerpunkt stellte auch die Elternarbeit dar. Die sozialpädagogische Arbeit mit Eltern und Familien wurde in 1.726 Familien durchgeführt. Darüber hinaus wurden, bereits traditionsgemäß, zahlreiche Veranstaltungen für Mitarbeiter anderer Institutionen durchgeführt, darunter solche für Heimerzieher und Heimleiter (20 Veranstaltungen mit insgesamt 433 Teilnehmern), Veranstaltungen für Amtsärzte und Jugendpsychiater (18 Veranstaltungen mit 306 Teilnehmern), Veranstaltungen für Bewährungshelfer (16 Veranstaltungen mit 84 Teilnehmern), Veranstaltungen für Lehrer (38 Veranstaltungen mit ins-
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gesamt 851 Teilnehmern) sowie Fortbildungsarbeit (Gruppenarbeit) an 163 Abenden für insgesamt 3.915 Fachkräfte. Was das Einzugsgebiet betrifft, so kamen 51 % der Kinder bzw. Familien aus der Stadt Marburg, 27 % aus dem Landkreis Marburg, 10 % aus dem Landkreis Frankenberg, 2 % aus dem Landkreis Ziegenhain und 10 % aus sonstigen Landkreisen. Ferner beteiligte sich die Erziehungsberatungsstelle auch an der Erstattung von Gerichtsgutachten. Im Berichtszeitraum von 1950–1960 wurden insgesamt 154 Gutachten erstattet. Die Mitarbeiter des Instituts waren an der Ausbildung von Sonderschullehrern beteiligt und waren auch wissenschaftlich tätig. Im Berichtszeitraum wurden über hundert wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Im gleichen Sinne wurde die Arbeit in den nächsten Jahren fortgesetzt. Im Tätigkeitsbericht über das Jahr 1962 wird erstmalig die »aufsuchende Tätigkeit« von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der EB und des Instituts herausgestellt. Anlass der Besuche externer Institutionen waren: ärztlich-pädagogische Betreuung, Fortbildungsveranstaltungen, Einzelfallbesprechungen sowie Gruppen- und Einzeltherapien. Im Jahr 1962 fanden insgesamt 42 derartige »aufsuchende Betreuungen« statt, wobei das »Sonderschulheim für geistig behinderte Kinder« (Kerstinheim) und das Kinder- und Waisenhaus Friedenshütten in Wehrshausen mit 16 bzw. 10 Besuchen den Löwenanteil einnahmen. Dieser Trend setzte sich auch in den folgenden Jahren fort, wobei noch eine Reihe anderer Einrichtungen hinzukamen. Gleichzeitig wurden auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Institutionen zu Informationsbesuchen in die EB eingeladen. Mit steigender Tendenz nahmen auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EB und des Instituts als Referenten an überregionalen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen teil sowie an speziellen Fachtagungen, die die Weiterentwicklung der Erziehungsberatungsstelle in Hessen und darüber hinaus betrafen. Über die Aktivitäten wurde jeweils im Halbjahres- bzw. Jahresbericht regelmäßig Rechenschaft abgelegt. Bemerkenswert ist, welche Themenbereiche im Zeitraum zwischen 1960 und 1970 auf Fortbildungsveranstaltungen im Vordergrund standen. Derartige Themen waren: – Das uneheliche Kind. – Der Einfluss von Massenmedien auf Kinder. – Sexualität im Kindes- und Jugendalter. – Frühkindliche Schäden und ihre Folgezustände. – Umgang mit Kindern und Erziehungsfragen. – Erziehungsbeistandschaft. – Kriminell stark gefährdete Minderjährige.
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Das Problem der Kindesmisshandlung. Erziehungsschwierigkeiten bei hirngeschädigten Kindern. Die Schwererziehbaren in der Sonderschule für Lernbehinderte. Das autistische Syndrom im Kindesalter (Weber). Zum Problem der Legasthenie (Weber). Aufgaben und Gefährdungen der Ehe (Weber).
Interessant ist, dass es im Zeitraum zwischen 1960 und 1970 zuweilen zu Problemen bzw. Unklarheiten bezüglich der Finanzierung der Leistungen des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe kam. Als die Eltern eines Jungen aus Frankenberg, der im Institut untersucht worden war, bei ihrer Krankenkasse die Rückerstattung der Fahrtkosten beantragten, wandte sich diese an die kassenärztliche Vereinigung in Marburg und von dort kam an das Institut die Anfrage »inwieweit die von Ihrem Institut erbrachte Behandlung ärztlicher und inwieweit sie pädagogischer Natur ist. Wie ist die pädagogische Behandlung von der rein ärztlichen Behandlung abgegrenzt?« In dem Brief der kassenärztlichen Vereinigung Marburg vom 20. 01. 1964 heißt es weiter : »Ich darf ergänzend dazu bemerken, dass Krankheit im Sinne der RVO ( Reichsversicherungsordnung d.Verf. ) ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand ist, der Heilbehandlung erfordert oder aber Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Schwachsinn wird im Allgemeinen nicht als Krankheit im Sinne der RVO angesehen, sofern der Patient noch einfache körperliche Arbeit verrichten kann«. Und weiter heißt es: »Auch Neurosen können nicht unbedingt als Krankheit im Sinne der RVO angesehen werden«. Im Antwortschreiben der Erziehungsberatungsstelle vom 20. 03. 1964 wurde eindringlich auf die Regelungsnotwendigkeit bei derartigen Fällen, auch in finanzieller Hinsicht, hingewiesen.
3.2.2 Erweiterung der therapeutischen Arbeit und Lehrangebote Ab 1966 tauchte in den jährlichen Tätigkeitsberichten eine neue Rubrik »therapeutische Arbeit« auf. Dies war Ausdruck einer Intensivierung therapeutischer Angebote, die sich auf folgende Interventionen erstreckten: – Spiel- und Bastelgruppen, – Einzeltherapie bei Sprachgestörten (Stotterer, Agrammatiker), – Legastheniebehandlung, – vermehrt Einzeltherapie, besonders bei männlichen Jugendlichen, – regelmäßige Casework-Gespräche mit Eltern, – regelmäßige Elterngruppen (14-tägig), – ständige ärztliche und psychologische Betreuung von folgenden Heimen und Einrichtungen: Kerstinheim, heilpädagogischer Kindergarten der Lebens-
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hilfe in Marburg, Internat der Lebenshilfe in Marburg, Landesjugendheim »Haus Lahneck« in Buchenau, St.-Elisabeth-Haus, Kinderheim Friedenshütten in Wehrshausen. Unterricht an den Schulen des Klinikums: Seit dem Wintersemester 1968/69 erteilten die Mitarbeiter des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe an der Krankenpflegeschule des Klinikums Schwesternunterricht. Es handelte sich dabei um die Krankenpflegeschule am Klinikum sowie um die Krankenpflegeschule an der Universitäts-Kinderklinik. Führend beteiligt an diesem Unterricht war Herr Dr. Klar, der in diesen Schulen folgende Themen behandelte: Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie, Testpsychologie und Psychopathologie. Eine weitere wichtige Ausbildungstätigkeit der Mitarbeiter des Instituts und der Erziehungsberatungsstelle war die Betreuung von Praktikanten der Psychologie (jeweils 6 Wochen) und der Sozialpädagogik (jeweils 4 Wochen) im gesamten Zeitraum von 1959 bis zum Jahr 2006.
3.2.3 Intensive Forschungstätigkeit Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wurden durch die Mitarbeiter des »Instituts« zunehmend auch Examensarbeiten von Sonderschulpädagogen und Psychologen sowie medizinische Dissertationen angeleitet und es begann eine rege Forschungstätigkeit zur Differenzierung von frühkindlichen Hirnschäden (auch in Zusammenarbeit von Prof. Stutte mit Prof. Wewetzer, der inzwischen einen Lehrstuhl für Psychologie in Gießen übernommen hatte). Eine weitere Thematik war die Erforschung der kindlichen Motorik unter der Leitung von Prof. Stutte und Dr. Schilling. Diese Projekte wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Ausweislich des Tätigkeitsberichtes 1971 wurden zum damaligen Zeitpunkt folgende Projekte (überwiegend durch DFG-Mittel gefördert) durchgeführt: – Differenzierung des organischen Psychosyndroms nach kindlichen Hirnschäden (Prof. Stutte, Prof. Wewetzer) – Weiterentwicklung von Verfahren zur Analyse der kindlichen Motorik (Dr. Schilling) – Entwicklung von Rating-Scales zur Erfassung von motorischen Verhaltensweisen im Kindesalter (Dr. Schilling) – Untersuchung zur Lateralität (Dr. Schilling) – Entwicklung neuer Testverfahren zur Prüfung der Handkoordination im Kindesalter (Dr. Schilling)
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Diese Forschungsprojekte haben nicht nur den Ruf des »Instituts« als wissenschaftlich tätige Einrichtung gefördert und gefestigt, sondern auch in bedeutsamer Weise zur Weiter- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Institutionen (EB und Institut) beigetragen. Im Übrigen führten die durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekte auch zu einer Aufstockung des Mitarbeiterstabes, die sich auch in der beraterischen Arbeit bemerkbar machte, denn alle von der DFG finanzierten Mitarbeiter beteiligten sich auch (freilich in gewissen Grenzen) an der Beratungstätigkeit von Institut und EB. Der Tätigkeitsbericht des Jahres 1973 weist aus, dass zu diesem Zeitpunkt zwei Diplom-Psychologinnen und zwei Mitarbeiterinnen im Sekretariat durch die DFG finanziert waren. Die wissenschaftliche Tätigkeit des Instituts führte auch dazu, dass vermehrt externe Referenten zu Gastvorlesungen ins Haus kamen. Im Tätigkeitsbericht von 1975 ist ferner erwähnt, dass zwei Projekte des Instituts auch im Sonderforschungsbereich 122 der DFG »Adaptation und Rehabilitation« beteiligt waren. Es handelt sich um die Projekte: – Die Entwicklung der Lateralität unter dem Aspekt der Umweltadaptation und – motorische Adaptationsleistungen. In den Tätigkeitsberichten 1976/1977 finden sich Hinweise auf Erweiterungen des therapeutischen Angebotes um Gruppentherapie, Familientherapie sowie die Anleitung zur psychomotorischen Übungsbehandlung für Kinder mit leichter motorischer Behinderung. Dieser Ansatz war die Folge der Forschungsprojektes auf dem Gebiete der motorischen Entwicklung. Ferner wurden eine Betreuung von Linkshändern und ein feinmotorisches Training durchgeführt. Die zuletzt genannten therapeutischen Ansätze sind gute Beispiele dafür, wie aus Forschungsprojekten unmittelbare Anwendungen für die Praxis abgeleitet werden können. Im Jahr 1968 erreichten Institut und Erziehungsberatungsstelle eine regelrechte Blütezeit. Zu diesem Zeitpunkt waren in der Erziehungsberatungsstelle nicht weniger als dreizehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig, darunter fünf Psychologinnen, und eine Ärztin (halbtags). Im Institut waren zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls dreizehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig, von denen sieben durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereiches »Adaptation und Rehabilitation« finanziert wurden. Diese hervorragende personelle und interdisziplinäre Ausstattung schlug sich nicht nur in entsprechenden Fallzahlen nieder (501 untersuchte Kinder und 2.501 Therapiestunden und Elterngespräche), sondern auch in einer regen Vortragstätigkeit und in zahlreichen Publikationen.
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3.2.4 Finanzierungsschwierigkeiten Im Zeitraum zwischen 1960 und 1979 kam es immer wieder zu Finanzierungsschwierigkeiten. Aus dem Protokoll der Vorstandssitzung vom 11. 09. 1972 geht hervor, dass im Hinblick auf die Finanzierung der Erziehungsberatungsstelle ein Fehlbetrag von rd. 18.000 DM bestand, so dass überlegt wurde, ob ein Kredit seitens des Vereins aufgenommen werden kann. Im Protokoll vom 15. 09. 1972 heißt es: »Trotz Bedenken der anwesenden Herren, wegen der bestehenden Haftungsverpflichtungen als Vorstand, erklären sich Prof. Dr. Stutte und Dr. Nittner, vorbehaltlich der Zustimmung des Herrn Dr. Kochheim, bereit, grundsätzlich der Aufnahme eines Überbrückungskredites zuzustimmen mit der Maßgabe, dass nach Beratung des Voranschlages 1973 durch die Mitgliederversammlung (08. 01. 1973) die Zuschussträger gebeten werden, noch im Januar 1973 angemessene Abschlagszahlungen zu überweisen und gleichermaßen baldmöglich über die Höhe der Zuschüsse zu entscheiden und das Ergebnis mitzuteilen.«
3.3. Neue Aufgaben und Herausforderungen (1980–2000) 3.3.1 Das Ringen um das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe Am 01. 09. 1980 nahm Prof. Remschmidt als Nachfolger von Prof. Stutte seine Tätigkeit an der Philipps-Universität auf Die Existenz des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe spielte im Berufungsverfahren Nachfolge Prof. Stutte eine wichtige Rolle. Prof. Remschmidt (Berlin), der den Ruf auf die Nachfolge von Prof. Stutte erhalten hatte, hatte es zur Bedingung gemacht, dass das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe nach dem Ausscheiden von Frau Prof. Weber als Einrichtung erhalten bleibt, aber in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie reintegriert wird. Hintergrund für diesen Wunsch von Prof. Remschmidt waren Bestrebungen, das »Institut« aus dem Verbund der Klinik herauszulösen. Die damalige Leiterin des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und der Erziehungsberatungsstelle, Frau Prof. Doris Weber, hatte Prof. Remschmidt darüber informiert, dass bei dem geschäftsführenden Direktor des Zentrums für Nervenheilkunde ein Schreiben der Herren Prof. Rehbein (FB 21, Pädagogik) und Prof. Pohlen (FB 20, Humanmedizin) eingegangen sei, welches auf der Direktoriumssitzung am 04. 02. 1980 verlesen werden solle. Dieses Schreiben sei auch vom damaligen
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Dekan des Fachbereichs (FB) Pädagogik Prof. Auernheimer346 unterzeichnet worden und befasse sich mit Angelegenheiten des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe. In den Aufzeichnungen von Frau Prof. Weber über diesen Sachverhalt heißt es sodann: »In der Direktoriumssitzung am Nachmittag brachte Herr Prof. Erhardt folgendes in die Diskussion ein: Er habe gehört, dass sich schon andere Fachbereiche für das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe interessierten, es sei da ja vom Fachbereich 21 ein Brief bezüglich des Instituts an Herrn Solcher (damaliger geschäftsführender Direktor des Zentrums für Nervenheilkunde) geschrieben worden. Daraus werde deutlich, dass Herr Remschmidt ganz berechtigterweise Befürchtungen im Hinblick auf das Institut haben müsse. Daraufhin warf ich ein, ich hätte über den FB 21 erfahren, dass diesen Brief Herr Prof. Pohlen, und zwar zusammen mit Herrn Prof. Rehbein, geschrieben habe. Ich empfände diese Angelegenheit als äußerst befremdlich. Mich habe man nicht informiert, andere, dem Institut ferner stehende Personen seien dagegen über das Institut befragt worden. Herr Prof. Pohlen antwortete darauf, dass er mit Herrn Prof. Rehbein zusammen ein Institut gründen wolle und dass man im Rahmen einer Zusammenarbeit natürlich über vieles spräche. Daraus habe sich für Herrn Prof. Rehbein das Schreiben über das Institut ergeben.«
Das Direktorium des Zentrums für Nervenheilkunde stimmte dem Antrag von Prof. Remschmidt am 05. 10. 1980 zu, ebenso wie der Fachbereich Humanmedizin der Philipps-Universität am 06. 02. 1980. Der Wortlaut des Antrages in der Direktoriumssitzung des Zentrums für Nervenheilkunde lautete347: »Das Direktorium stimmt dem Antrag von Prof. Dr. Dr. Remschmidt auf Re-Integration des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe in die Abteilung für Kinderund Jugendpsychiatrie zu. Das Direktorium ist weiterhin der Meinung, dass das Institut wegen der besonderen Aufgaben, die es wahrzunehmen hat, als Einheit erhalten bleiben muss. Es wäre mit Prof. Remschmidt zu diskutieren, ob die Bildung eines Funktionsbereiches gemäß § 36, Abs. 3, HUG angemessen und zweckmäßig ist.«
Der Klinikumsvorstand schloss sich diesem Antrag am 14. 02. 1980 an, nicht ohne den Versuch des damaligen Dekans Prof. Neurath, dem »Institut« den Status eines »selbstständigen Funktionsbereiches« zu verleihen, was einer Reintegration in die Klinik widersprochen hätte. Erst auf Intervention von Frau Prof. Weber, die auf der Fachbereichssitzung des Fachbereichs Humanmedizin am 06. 02. 1980 anwesend war, wurde der Beschluss im selben Wortlaut wie in der Direktoriumssitzung des Zentrums für Nervenheilkunde herbeigeführt. 346 Auf Anfrage des Verfassers teilte Prof. Auernheimer in einer E-Mail vom 01. 11. 2017 mit, dass er sich an den Vorgang nicht mehr erinnern könnte. 347 Ordner : Protokolle der Direktoriumssitzung des Zentrums für Nervenheilkunde (bis Feb 1994), Sekretariat Psychiatrie.
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3.3.2 Beteiligung am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Im Jahre 1980 wurde das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung etabliert. Im Rahmen dieses Programms, das durch die Psychiatrie-Enquete (1970–1975) angestoßen worden war, sollte in 14 Regionen der damaligen Bundesrepublik Deutschland die Situation der psychisch Kranken untersucht werden und es sollten Schritte zur Verbesserung ihrer Situation herbeigeführt werden. Was Letzteres betrifft, so waren auch neue Konzepte und Dienste gefragt, die bis dahin nicht existiert hatten. Die Region Marburg-Biedenkopf und umliegende Landkreise war als einzige unter den 14 Regionen ausgewählt worden, um die Situation psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie ihrer Familien zu evaluieren und zu verbessern. Die Teilnahme am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung hat nicht nur der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie wesentliche Impulse für die Krankenversorgung, die Lehre und die Forschung sowie die Ausund Weiterbildung verliehen, sondern auch die gesamte Region, insbesondere die Landkreise Marburg-Biedenkopf, Waldeck-Frankenberg und Schwalm-Eder, in vielfältiger Weise auf die Bedürfnisse psychisch kranker und behinderter Kinder sowie deren Familien aufmerksam gemacht. Hierüber wurde in zahlreichen Publikationen berichtet. Die umfangreichsten Darstellungen sind in den beiden Monografien über »Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in drei hessischen Landkreisen« (Remschmidt und Walter 1989) und »Psychische Auffälligkeiten bei Schulkindern« (Remschmidt und Walter 1990) zusammengefasst. Für die zuletzt genannte Arbeit erhielten die Autoren den HermannSimon-Preis für das Jahr 1990. Bezüglich der zuletzt genannten Studie, die in der Fachwelt hohe Anerkennung gefunden hat, wurde vor der Veröffentlichung von »fortschrittlichen alternativen Kreisen« eine Kampagne inszeniert, mit deren Hilfe versucht wurde, die Ergebnisse in Frage zu stellen und den Projektleitern (Prof. Remschmidt und Dr. Walter) unlautere Vorgehensweisen unterzuschieben. Im Einzelnen wurde den Projektleitern unterstellt, angesichts bevorstehender Geburtenrückgänge, Gelder für neue Stellen in der Klinik zu besorgen, zu hohe Prävalenzraten festgestellt zu haben, die Datenschutzbestimmungen nicht eingehalten zu haben, mit Geldprämien die Teilnahme »gekauft« zu haben, Eltern und Schulämter unzureichend informiert zu haben und einen »fragwürdigen Massentest« angewandt zu haben. Bei diesem handelte es sich um die Child Behaviour Checklist von Achenbach, die weltweit anerkannt ist und in mindestens 45 verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Durch ähnliche Unkenntnisse waren auch die anderen Vorwürfe unterfüttert. Diese Kampagne führte zu einer Panorama-Sendung, die am 15. 03. 1988 ausgestrahlt wurde, sowie zu zwei vom Hessischen Rundfunk am 16. 03. 1988
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ausgestrahlten Sendungen. Alle drei Sendungen enthielten inhaltlich und auch datenschutzrechtlich falsche Behauptungen, die wir in einer Pressekonferenz, in Anwesenheit des Autors der weltweit verbreiteten Child Behaviour Checklist (Prof. Tom Achenbach, Vermont, USA), am 19. 03. 1988 entkräftet und zurückgewiesen haben. Diese Kampagne war eine unschöne Begleiterscheinung des überaus erfolgreichen Modellprogramms Psychiatrie in der einzigen von vierzehn Regionen, in der die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung umfassend evaluiert und verbessert werden konnte. Das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und die Erziehungsberatungsstelle waren in die Aktivitäten des Modellprogramms eingebunden, ohne ihre spezifischen Aufgaben verändern zu müssen. Im Rahmen der Förderung des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung entstanden an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität folgende Einrichtungen: – Der Neubau einer Tagesklinik für psychisch kranke Kinder und Jugendliche auf dem Klinikgelände, eröffnet 1984, – die Einrichtung eines mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes mit zwei Teams, die die Landkreise Marburg-Biedenkopf und WaldeckFrankenberg versorgten, – eine Arbeitsgemeinschaft kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung als Kooperations- und Informationsgremium für alle, die mit psychisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen zu tun haben und – eine Arbeitsgruppe Evaluation, welche die Aufgabe hatte, neu geschaffene Einrichtungen und die Versorgung insgesamt wissenschaftlich zu begleiten. Institut und Erziehungsberatungsstelle hatten dabei den engsten Kontakt zum mobilen Dienst, der ja u. a. auch für den Landkreis Marburg-Biedenkopf zuständig war und drei Aufgaben wahrnahm: Ambulante Nachsorge für ehemals stationär erkrankte Patienten, Abhalten von Sprechstunden in verschiedenen Orten des Landkreises und Supervision und Beratung aller Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut wurden, sofern die jeweilige Einrichtung den Wunsch hatte. Dem Konzept des »mobilen Dienstes« folgend wurden auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Juli 1983 Außensprechstunden in Heskem und Dautphetal abgehalten. Ferner wurde die konsiliarische Betreuung des Kerstinheims und Kinderheims Friedenshütten fortgeführt. Am 30. 09. 1991 musste der mobile kinder- und jugendpsychiatrische Dienst seine erfolgreiche Tätigkeit, die von der Bevölkerung sehr gut angenommen wurde, aus finanziellen Gründen einstellen. Er wurde zunächst nur vom Bund, dann von Bund und Land, dann vom Land und Kreis und zuletzt nur noch vom Landkreis unterstützt. Nicht zufällig ergaben sich, nachdem der »mobile Dienst« nicht mehr ver-
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fügbar war, im Landkreis Diskussionen im Hinblick auf die Ausweitung der erziehungsberaterischen Tätigkeit.
3.3.3 Abspaltungsversuche und Hearing zur Erziehungsberatung im Landkreis und in der Stadt Seitens der Partei der Grünen wurde der Versuch unternommen, in Biedenkopf eine eigene von der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg unabhängige EB zu etablieren. Zu diesem Zwecke wurde der »Verein für interdisziplinäre Erziehungsberatung und Therapie« am 18. 08. 1990 mit Sitz in Biedenkopf gegründet. Ähnliche Bestrebungen gab es auch im Ostteil des Landkreises in Stadtallendorf. Seitens der Leitung der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg war dem Landkreis angeboten worden, die Erweiterung der Versorgungsleistung im Raum Biedenkopf und im Raum Stadtallendorf vorzunehmen, was allerdings eine Stellenerweiterung zur Voraussetzung hätte. Mit einem derartigen Angebot war der Leiter der Erziehungsberatungsstelle, Prof. Remschmidt, bereits in den Jahren 1990 und 1991 an den Kreis herangetreten (Schreiben vom 04. 09. 1990 und vom 07. 05. 1991)348. In diesem Vorschlag wurde dem Kreis angeboten, den damals noch vorhandenen mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst der Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V. anzuschließen und damit eine mobile Sprechstunde im Landkreis einzurichten. In einem Schreiben des Leiters der EB am Ortenberg vom 04. 09. 1990 an den Ersten Kreisbeigeordneten Thomas Naumann wurden folgende Argumente für diese Lösung angeführt: (1) Der mobile kinder- und jugendpsychiatrische Dienst habe sich in seiner Form als »mobile Sprechstunde« inzwischen über neun Jahre bewährt und seine Leistungsfähigkeit sei durch Jahresberichte und Dokumentationen dokumentiert. (2) Die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg, die den Versorgungsauftrag der Stadt und des Landkreises innehabe, erhielte mit der Übernahme des »mobilen Dienstes« eine ambulante Versorgungseinrichtung, durch die die Mitarbeiter der interdisziplinär besetzten Beratungsstelle am Ortenberg in die Lage versetzt würden, sowohl in stärker familiennahen regionalisierten Außensprechstunden wie auch in Hausbesuchen Hilfe anzubieten. Dies würde auch in vieler Hinsicht die Kooperation mit den Jugendämtern, den Gesundheitsämtern, Schul- und Kindergärten und anderen relevanten Einrichtungen verbessern.
348 EB-Ordner 1, Klinik-Archiv.
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(3) Mit der vorgeschlagenen Lösung würde überdies die finanziell ungesicherte Versorgungsleistung des mobilen Dienstes stabilisiert und es bliebe auch seine Qualität und personelle Besetzung erhalten. Bürgermeister Dr. Gerhard Pätzold wurde als Vorstandsmitglied des Trägervereins für Erziehungsberatungsstellen mit Schreiben vom 31. 08. 1990 über diese Initiative informiert und hatte am selben Tag fernmündlich seine grundsätzliche Zustimmung zu diesem Vorschlag gegeben. Im Frühjahr 1993 wurde von den Grünen im Landkreis eine breite öffentliche Diskussion über die Aufgaben und die Konzeption der Erziehungsberatung herbeigeführt und es wurde zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung am 23. März ins KFZ mit einem Plakat eingeladen, das mit folgender Überschrift versehen war : »Erziehungsberatung: Ambulanter Vorposten der Psychiatrie?« In diesem Flugblatt wurde das Angebot der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg als völlig unbefriedigend bezeichnet und es hieß dort u. a.: »Nicht nur die weiten Wege, sondern auch die enge und personelle Koppelung dieser Einrichtung an die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik erschweren den ratsuchenden Kindern und Familien aus dem Kreis das tatsächliche Angebot wahrzunehmen.« Ferner wurde darauf hingewiesen, dass es sowohl in Biedenkopf als auch in Stadtallendorf freie Träger gäbe, die bereits Beratungsdienste für Kinder, Jugendliche und Eltern anböten und vor Ort fest verankert seien. Diese Vereine seien an einer Trägerschaft der Erziehungsberatung in ihrer Region interessiert und, nach Ansicht der Grünen, auch hervorragend geeignet, diese Aufgaben im Sinne des neuen KJHG zu erfüllen. Hingegen planten nun Stadt und Landkreis Marburg-Biedenkopf eine personelle Aufstockung der Erziehungsberatungsstelle an der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Abgesehen von den antipsychiatrischen Tendenzen wurde hier bewusst eine Fehlinformation gestreut, denn den Verfassern des Flugblattes musste bekannt gewesen sein, dass die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg eine selbstständige und von einem Verein getragene Einrichtung ist, die von der Stadt und vom Landkreis finanziert wird, wobei die Kooperation zur Universität und zum Klinikum lediglich dadurch hergestellt wird, dass hinsichtlich der Leitung Personalunion herrscht. Nach ausführlichen Erörterungen zwischen Landkreis und Stadt teilte schließlich der damalige Kreisbeigeordnete Herr Thomas Naumann mit Schreiben vom 17. 03. 1993349 der Leitung der Erziehungsberatungsstelle folgendes mit:
349 EB-Ordner 1, Klinik-Archiv.
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»Es ist unbestritten, dass die Erziehungsberatungsstelle Ortenberg nicht über ausreichende personelle Kapazitäten verfügt, um im gesamten Kreisgebiet eine den Bedürfnissen entsprechende Erziehungsberatung anbieten zu können. Der Kreisausschuss des Landkreises Marburg-Biedenkopf hat deshalb nach längeren Verhandlungen mit dem Magistrat der Universitätsstadt Marburg Einvernehmen über eine (zeitlich befristete) Erweiterung des Personals der Erziehungsberatungsstelle erreichen können. Ziel dieser personellen Erweiterung ihrer Möglichkeiten ist eine deutliche Verbesserung des Angebotes ortnah im Ostkreis (Stadtallendorf, Kirchhain, Neustadt) und im Westkreis (Biedenkopf). Einzelheiten können Sie im Rahmen der geltenden Satzung eigenständig festlegen. Ich bitte Sie, mich von den getroffenen Maßnahmen zu unterrichten, damit ich in der Lage bin, die Kreisgremien und andere, die sich an das Jugendamt des Kreisausschusses wenden, zu informieren«.
In diesem Schreiben wurden für das Jahr 1993 rd. 65.000 DM und für das Jahr 1994 220.000 DM zur Verfügung gestellt und es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Vereinssatzung in jeder Hinsicht unverändert bleibt. Darüber hinaus wurde in dem Schreiben mitgeteilt, dass der Beigeordnete im Hinblick auf die öffentlich geführte Diskussion dem Sozialausschuss des Kreistages den Vorschlag zu einem Hearing über Fragen der Erziehungsberatung zu machen gedenkt. Bereits vor dem geplanten Hearing hatten Bündnis 90/ Die Grünen mit Datum vom 02. 08. 1993 folgenden Antrag in den Kreistag eingebracht: (1) »Der Kreisausschuss wird beauftragt, die Mitgliedschaft im Verein für Erziehungshilfe e.V. fristgerecht bis zum 30. 09. 1993 zum Jahresende 1993 zu kündigen. (2) Der Kreisausschuss wird beauftragt, möglichst umgehend ein Hearing zu dem Thema »Zukünftige Konzeption der Erziehungsberatung im Landkreis Marburg-Biedenkopf« zu veranstalten. (3) Gleichzeitig soll eine Arbeitsgruppe aus Fachleuten der Verwaltung und den potentiellen Anbietern von Erziehungsberatung eingerichtet werden mit dem Ziel, die Erziehungsberatung im Kreis neu zu gestalten. (4) Der Kreisausschuss wird beauftragt, die Kostenaufteilung mit der Stadt Marburg im Bereich Erziehungsberatung neu zu regeln. Dabei soll insbesondere darauf geachtet werden, dass in Zukunft nicht mehr nach Fallzahlen, sondern nach dem tatsächlichen Zeitaufwand der Beratung abgerechnet wird.« Zur Begründung für den Antrag wurde wiederum der »Exklusiv-Vertrag mit dem Verein für Erziehungshilfe e.V. Marburg« moniert, ferner die organisatorische Anbindung an die kinder- und jugendpsychiatrische Universitätsklinik (was insofern unrichtig ist, als der Zusammenhang mit der Klinik lediglich durch die gemeinsame Leitung beider Institutionen verkörpert wurde, die im
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Übrigen unabhängig voneinander arbeiteten). Schließlich wurde auch die schlechte Verkehrsanbindung der EB am Ortenberg moniert, was dazu geführt habe, dass Marburger Beratungsfälle die EB häufiger aufsuchten als Beratungsfälle des Kreises. Dies war eine schlicht falsche Behauptung, denn in den Jahren 1990 bis 1994 betrug die Inanspruchnahmerate von Familien aus dem Landkreis 53 %, diejenige aus der Stadt Marburg 40 % und diejenige anderer Landkreise 7 %. Das Hearing fand schließlich am 03. Mai 1994 im Landratsamt in Marburg statt und führte zu heftigen Diskussionen und Auseinandersetzungen, die sich um folgende Fragen rankten: – Auf welche Weise könnte die Versorgung am besten sichergestellt werden? – Ist es günstiger einen zentralen Träger zu haben (z. B. EB am Ortenberg) mit Nebenstellen im Landkreis oder wären Kleinsteinheiten vor Ort mit z. B. nur zwei Mitarbeitern auch den Aufgaben gewachsen? – Sollen etwaige Nebenstellen im Landkreis ortständig sein oder können sie auch von einem mobilen Team betrieben werden? – Wie kann die Interdisziplinarität auch bei kleinen Einrichtungen sichergestellt werden? – Welche Bedeutung hat die ärztliche Komponente im interdisziplinären Team? – Ist die »Psychiatrienähe« als ein Nachteil für die EB am Ortenberg zu betrachten? Als Referenten waren zu dem Hearing eingeladen: Frau Dr. Charlotte Köttgen (Leiterin des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes des Amtes für Jugend in Hamburg), Herr Christoph Schmidt (Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung in Hessen), Herr Prof. Dr. Hans Thiersch (Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen) und Herr Prof. Dr. Andreas Warnke (Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg). Ferner waren folgende Institutionen eingeladen, ein Statement abzugeben: Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg, Jugend- und Drogenberatungsstelle Stadtallendorf (LOK 2), Deutscher Kinderschutzbund Marburg-Biedenkopf, Verein für interdisziplinäre Erziehungsberatung und Therapie Biedenkopf und Erziehungsberatungsstelle des Kirchenkreises Marburg (EB Philippshaus). Darüber hinaus wurde für den »Verein für interdisziplinäre Erziehungsberatung und Therapie« in Biedenkopf eine gutachterliche Stellungnahme von Herrn Prof. Klaus Rehbein (Institut für Erziehungswissenschaft der PhilippsUniversität) verfasst350, in dem dieser der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg aufgrund der engen Kooperation mit der Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität die freie Trägerschaft durch den 350 EB-Ordner 3, Klinik-Archiv.
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Verein abspricht und sie als integrierten Teil der Universitätsklinik auffasst. Damit sollte eine Abspaltung der Erziehungsberatungsstelle aus dem von der Universitätsklinik gestalteten und mit einem breiten Versorgungsangebot versehenen Versorgungsmodell das Wort geredet werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der von Frau Prof. Weber festgehaltene Sachverhalt, wonach die Herren Prof. Pohlen und Prof. Rehbein ein Institut gründen wollten. Wohlgemerkt: Es war in diesem sogenannten Gutachten an keiner Stelle von Inhalten oder der fachlichen Qualifikation der Arbeit die Rede, sondern lediglich von formalen Gesichtspunkten. Letztlich ging es in diesem Hearing in zahlreichen Statements der an der Diskussion beteiligten Einrichtungen und der von ihnen bestellten Referenten um das Bestreben, der EB am Ortenberg die finanzielle Unterstützung von Kreis und Stadt streitig zu machen. Dementsprechend war von der Notwendigkeit einer »Neustrukturierung im Bereich der Erziehungsberatung« von »Komplementärangeboten« und von »zu weiten Wegen« die Rede, obwohl zum Zeitpunkt des Hearings die Nebenstellen in Biedenkopf und Stadtallendorf bereits ihre Tätigkeit aufgenommen hatten. Zum Teil äußerten Vertreter konkurrierender Einrichtungen ganz unverhohlen, dass sie die Aufgaben der EB am Ortenberg in ihrer Region, z. B. in Stadtallendorf, übernehmen möchten. Dies veranlasste den Leiter der EB am Ortenberg, Prof. Remschmidt, zu der Aussage: »Der Grundkonflikt dieser Diskussion ist ja letzten Endes ein Problem der Verteilung knapper Ressourcen. Das muss man offen benennen.« (S. 144). Dabei muss berücksichtigt werden, dass verschiedene Institutionen, die an den von Stadt und Landkreis der EB am Ortenberg aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung zugestandenen Mittel partizipieren wollten, viel später gegründet und von anderen Trägern unterstützt wurden. Es gab und gibt auch Einrichtungen, die aus eigener Initiative ohne Bedarfsprüfung gegründet wurden und nun auf politischem Wege ihre Existenz abzusichern bestrebt waren, wobei der »Neidfaktor« gegenüber einer etablierten und fachlich hoch qualifizierten Institution nicht unterschätzt werden darf. Am 12. 05. 1993 wurde von der Fraktion der Grünen eine große Anfrage an den Magistrat der Stadt Marburg gerichtet, in der u. a. darauf hingewiesen wurde, dass die beiden in Marburg bestehenden Erziehungsberatungsstellen (EB am Ortenberg und Philippshaus, von einem kirchlichen Träger 1975 gegründet) in unterschiedlicher Weise von der Stadt bezuschusst werden. Es wurde nach den Gründen hierfür gefragt. Ferner wurde die Frage aufgeworfen, wodurch sich die Konzeption der beiden Träger unterscheidet, wie viel Prozent der Ratsuchenden der beiden Träger in eine klinische Einrichtung weiter verwiesen würden und ob es zutreffe, dass die Konzeption der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung als »äußerst problematisch« eingeschätzt würde.
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Diese Anfrage351 (unterzeichnet von Frau Dr. Christa Perabo und der späteren Stadträtin Ulrike Kober) ist ganz im Sinne der Bestrebungen der Grünen verfasst, die Arbeit der Erziehungsberatungsstelle in Frage zu stellen mit dem Ziel, sie entweder aus dem Kooperationsverbund mit der Universitätsklinik herauszulösen oder sie ganz aufzulösen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderen, dezentralen Einrichtungen zuzuordnen, die einem anderen Träger unterstehen, z. B. dem Verein für interdisziplinäre Erziehungsberatung und Therapie in Biedenkopf. Derartige Bestrebungen warfen natürlich die Frage auf, inwieweit sie der Arbeitsplatzbeschaffung grüner Parteigenossen dienen sollten. Eine ähnliche Anfrage wurde auch durch die Fraktion der Grünen im Landkreis mit Datum vom 21. 05. 1993 gestellt352 und vom Kreisbeigeordneten Herrn Thomas Naumann am 03. 06. 1993 im Hinblick auf die Verbesserung der Angebote der Erziehungsberatung abschließend wie folgt beantwortet: »Insbesondere in den Regionen des Westkreises (Biedenkopf) und des Ostkreises (Stadtallendorf, Kirchhain, Neustadt, Wohratal) wird das Bedürfnis nach Erziehungsberatung nicht in ausreichendem Maße gedeckt. Der Kreisausschuss hat sich daher entschlossen, dem Verein für Erziehungshilfe e.V., dessen Mitglied der Landkreis ist, im Rahmen der Haushaltsvorgaben des Kreistages Finanzmittel zur personellen Erweiterung zur Verfügung zu stellen mit der Maßgabe, durch befristete Arbeitsverträge in Biedenkopf und Stadtallendorf ortnah Erziehungsberatung anzubieten«.
Damit war, nach z. T. heftigen Auseinandersetzungen und Angriffen seitens der Grünen, die mit zahlreichen Unterstellungen unterfüttert waren, der Weg freigemacht für ein erweitertes Angebot der Erziehungsberatung im Landkreis nach den bewährten und qualitativ nie in Frage gestellten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, deren Niveau nicht zuletzt durch die enge Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik garantiert war. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EB wie auch der Klinik haben eigentlich nie verstanden, wieso die enge Verbindung mit einer universitären Einrichtung seitens der Grünen über Jahre hindurch und kontinuierlich als Mangel oder gar Makel angesehen wird. Schließlich profitierte die Erziehungsberatungsstelle erheblich aus der Verbindung zur Universität. Sie war in Zusammenarbeit mit dem Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe an der Ausbildung von Studierenden beteiligt und dieser Austausch war ungeheuer wertvoll. Es gibt nur ganz wenige Universitäten, an denen für Studierende der Medizin und Psychologie Erziehungsberatung gelehrt wird. Letztendlich haben aber die Kontroversen und Auseinandersetzungen zu einem Erfolg für die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg geführt, denn am 15. 09. 1993 wurden die beiden Nebenstellen in Biedenkopf und Stadtallendorf 351 EB-Ordner 3, Klinik-Archiv. 352 EB-Ordner 3, Klinik-Archiv.
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eröffnet, die von der Bevölkerung sehr gut angenommen wurden, hervorragend im Sinne der gemeinsamen bewährten und ständig weiterentwickelten Konzeption arbeiten und die September 2003 mit einer öffentlichen Festveranstaltung ihr 10-jähriges Jubiläum begehen konnten. Aber auch nach der Inbetriebnahme der beiden Nebenstellen der EB in Biedenkopf und Stadtallendorf kam es zu weiteren Vorstößen seitens der Grünen. Am 17. 07. 1994 richtete die Fraktion »Bündnis 90 / Die Grünen« eine große Anfrage an den Landkreis zum Ergebnis des Hearings vom 03. 05. 1994353. Diese Anfrage wurde durch den Kreisbeigeordneten Herrn Thomas Naumann am 13. 07. 1994 beantwortet. In der Anfrage ging es erneut um das Angebot an Erziehungsberatung in Stadt und Landkreis und insbesondere um das Verhältnis EB Ortenberg zur EB im Philippshaus. Es ging wieder um die Einrichtung selbstständiger Erziehungsberatungsstellen im Ost- und Westkreis und um die Infragestellung der EB am Ortenberg als Trägerin der Nebenstellen in Stadtallendorf und Biedenkopf, ferner um das sogenannte Gutachten von Prof. Rehbein, das vom Verein für interdisziplinäre Erziehungsberatung und Therapie in Biedenkopf in Auftrag gegeben worden war, wobei der Gutachter bei dem Hearing gar nicht zu Worte kam. Dieses Gutachten wurde aber interessanterweise einen Tag nach der Anfrage der Grünen, nämlich am 08. 07. 1994 in Auszügen in der Oberhessischen Presse veröffentlicht. Die Anfrage der Grünen wurde vom Kreisbeigeordneten Thomas Naumann unter kommentarloser Beifügung des Gutachtens dahingehend beantwortet, dass die ebenfalls angefragten »politischen Konsequenzen« vom Kreisausschuss nicht zweifelsfrei zu erfassen seien. Im Übrigen halte sich der Kreisausschuss so lange zurück, solange das Hearing noch nicht endgültig ausgewertet sei. Die Anfrage der Grünen-Fraktion der Stadt Marburg vom 12. 03. 1993 enthielt u. a. die Frage: »Trifft es zu, dass die Konzeption der Erziehungsberatungsstelle Ortenberg von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V., weil von psychiatrischen Ansätzen dominiert, als äußerst problematisch eingeschätzt wird?« Hierzu hat der Leiter der EB in einem Schreiben vom 23. 06. 1993 an den Leiter des Jugendamtes der Stadt Marburg, Herrn Backes, wie folgt geantwortet: »Die Frage ist inhaltlich falsch. So hat die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung noch nie zur Erziehungsberatungsstelle Ortenberg Stellung genommen. Vielmehr handelt es sich um eine Stellungnahme der Bundeskonferenz für Erzie353 Über dieses Hearing ist ein Bericht erschienen, der recht deutlich zeigt, dass es nicht um Konzepte und Versorgungsfragen ging, sondern um Verteilungskämpfe angesichts knapper Resourcen (S. 144) Landkreis Marburg-Biedenkopf (Hrsg.) (1994): Hearing: Erziehungsberatung im Landkreis Marburg-Biedenkopf, Landratsamt Marburg.
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hungsberatung zum Expertenbericht »Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung«. Die Bundeskonferenz warf dem Expertenbericht vor, er betreibe Standespolitik und beanspruche einen Vorrang der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Auseinandersetzung fand demnach auf einer höheren Ebene zwischen der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung und der bundesdeutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie statt und hatte mit unserer Einrichtung überhaupt nichts zu tun. Dies wird in der Anfrage der Grünen-Fraktion der Stadt nicht erwähnt, man fragt sich, aus welchen Motiven354.
3.3.4 50-jähriges Jubiläum (2000) Nachdem die Auseinandersetzungen um die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg Ende 1994 zur Ruhe gekommen waren und die beiden Nebenstellen in Stadtallendorf und Biedenkopf ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, ergab sich eine Phase der Konsolidierung, in der die Arbeit in allen Feldern stetig und erfolgreich fortgesetzt werden konnte. Jedes Jahr wurde ein ausführlicher Tätigkeitsbericht erstellt, der sowohl dem Vorstand als auch der Mitgliederversammlung vorgelegt wurde. Dabei wurden in jedem Jahr andere inhaltliche Schwerpunkte der Arbeit zugrunde gelegt, um die ganze Breite der Aufgaben abzudecken und den Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenzukommen. Das Jahr 2000 markierte für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erziehungsberatungsstelle und der Ärztlich-pädagogischen Jugendhilfe nicht nur den Jahrtausendwechsel, sondern auch das 50-jährige Bestehen der Erziehungsberatungsstelle als eine der ersten, die im Nachkriegsdeutschland nach dem Konzept der Child Guidance-Clinics eingerichtet worden war. Die Jubiläumsveranstaltung umfasste drei voneinander abgegrenzte Teile: Zum einen eine ganztägige Festveranstaltung in der Alten Aula der PhilippsUniversität, sodann einen Tag der offenen Tür, am Freitag, dem 25. August, unterbrochen von einem Gesellschaftsabend, der am 24. 08. 2000 im Fürstensaal des Schlosses stattfand und der, neben einem Rückblick auf 50 Jahre EB sowie kulinarischen Genüssen, auch reichlich Gelegenheit für Gespräche bot, insbesondere mit den früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zu diesem Fest eingeladen und in großer Zahl erschienen waren. Der Eklat, den sich die der grünen Partei angehörige Stadträtin der Stadt Marburg, Ulrike Kober, leistete, indem sie sich bemüßigt fühlte, antipsychiatrische Äußerungen (Nähe der EB zur Kinder- und Jugendpsychiatrie) und die nationalsozialistische Vergangenheit des Gründers der EB, Prof. Villinger, erneut in den Mittelpunkt ihrer Ansprache zu stellen, sorgte für Unverständnis 354 Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 39, Seite 68–72 und 145–146, 1990.
Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel im Vorstand
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und Empörung bei den Teilnehmern, konnte aber im Übrigen die Festfreude nicht trüben. An dieser Stelle sei angemerkt, dass bereits auf der Veranstaltung zum 40-jährigen Jubiläum der EB und auch auf jener zum 50-jährigen Jubiläum, der Leiter der Erziehungsberatungsstelle, Prof. Remschmidt, auf die nationalsozialistische Vergangenheit Prof. Villingers hingewiesen und diese dunkle Vorgeschichte der Erziehungsberatungsstelle keineswegs ausgelassen hatte. Von daher kann davon ausgegangen werden, dass diese Äußerungen der Stadträtin als bewusste Provokation geplant und auf das Ziel ausgerichtet waren, die Erziehungsberatungsstelle aus dem Verbund mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität herauszulösen, was in der Folgezeit versucht wurde, aber misslang355.
3.4
Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel in der Zusammensetzung des Vorstands
Seit Beginn der erziehungsberaterischen Tätigkeit, zunächst im Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und später in der Erziehungsberatungsstelle, lag die Leitung in Händen von Ärzten. Prof. Villinger, der Initiator des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und der EB, leitete die damals noch nicht getrennten Einrichtungen von Beginn ihrer Tätigkeit (1946) bis 1959, als es zur Gründung des Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg kam, der am 18. 04. 1959 seine Tätigkeit aufnahm und nunmehr für die Erziehungsberatungsstelle zuständig war. In der Satzung des Vereins war verankert, dass der Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Mitglied des Vorstandes des »Vereins« sein soll. Ab dem 18. 04. 1959 war Prof. Stutte Vorsitzender des Vereins und zugleich Direktor des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe. Sein Stellvertreter war Oberbürgermeister Gassmann (SPD), Schatzmeister war Herr Kreismedizinaldirektor Dr. K. R. Nittner. In dieser Zusammensetzung blieb der Vorstand bis Dezember 1970 tätig. In der Vorstandswahl am 15. 12. 1970 wurde dann anstelle von Herrn Oberbürgermeister Gassmann Herr Bürgermeister Dr. HansJochen Kochheim (FDP) in den Vorstand gewählt und blieb dies bis 1976. Am 29. 11. 1976 wurde Stadtrat Dr. Gerhard Pätzold (SPD) zum Stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, die übrigen Vorstandsmitglieder blieben konstant, bis zur Vorstandswahl 1979, nachdem Prof. Stutte den Vorsitz im gleichen Jahr niedergelegt hatte und am 24. 10. 1979 Frau Prof. Doris Weber Vorsitzende des 355 Eine frühere Mitarbeiterin der EB, die sich über die unqualifizierten Äußerungen der Stadträtin Kober empört hatte, schickte ihr eine Taschenausgabe des Neuen Testamentes, um sie zur Besinnung zu bringen.
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Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
Vereins wurde, wobei Dr. Pätzold Stellvertretender Vorsitzender und Dr. Nittner weiterhin Schatzmeister blieben. Am 03. 12. 1985 wurde Prof. Remschmidt zum Vorsitzenden des Vereins gewählt. Bürgermeister Dr. Gerhard Pätzold und der Leiter des Gesundheitsamtes Dr. Nittner blieben weiterhin im Vorstand. Die Vorstandsbesetzung blieb konstant bis zum November 1997, als Herr Dr. Pätzold aus dem Vorstand ausschied und an seiner Stelle Stadträtin Frau Ulrike Kober (Grüne), ebenfalls als Vertreterin der Stadt Marburg, in den Vorstand berufen wurde. In der Vorstandswahl am 31. 03. 1998 wurde der Erste Beigeordnete des Kreises, Herr Thomas Naumann (SPD), in den Vorstand gewählt, während die anderen beiden Vorstandsmitglieder konstant blieben. Bis November 1997 verlief die Vorstandsarbeit einvernehmlich und reibungslos. Erst als die der Fraktion der Grünen angehörige Stadträtin, Frau Ulrike Kober, in den Vorstand kam, begannen sich zunehmend Schwierigkeiten abzuzeichnen.
3.4.1 Erneute Vorstöße der Grünen Auf der Vorstandssitzung vom 19. 05. 1998 kam es erneut zu einem Vorstoß seitens der der grünen Partei angehörenden Stadträtin Frau Kober. Sie warf, wie bereits von anderen Personen auf dem Hearing vom 03. Mai 1994 geschehen, die Frage auf, ob nicht die Erziehungsberatungsstelle im Philippshaus stärker am laufenden Haushalt partizipieren könne. Aufgrund ihrer Informationsgespräche in beiden Erziehungsberatungsstellen habe sie den Eindruck gewonnen, dass beide Beratungsstellen sich in ihren Angeboten und ihren Arbeitsweisen unterscheiden und es den Ratsuchenden ermöglicht werden müsse, zwischen den Einrichtungen zu wählen. Der Erste Beigeordnete des Landkreises Marburg-Biedenkopf, Herr Thomas Naumann, erläuterte in diesem Zusammenhang, dass sowohl die Stadt Marburg als auch der Landkreis Marburg-Biedenkopf (seinerzeit zusammen mit zwei weiteren angrenzenden Kreisen) die Aufgaben der Erziehungsberatung nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz vertraglich der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg übertragen hätten. Eine weitere Einrichtung, die diesen Auftrag übernehmen konnte, habe es seinerzeit nicht gegeben. Durch den Wegfall des kinder- und jugendpsychiatrischen mobilen Dienstes sei speziell vom Landkreis die Fortsetzung der gemeindenahen Angebote gewünscht worden, was zur Einrichtung der beiden Nebenstellen der EB in Biedenkopf und Stadtallendorf geführt habe. Die Arbeit sei gut angenommen worden, so dass durch die Arbeit der Hauptstelle in Marburg und der beiden Nebenstellen der Arbeitsauftrag erfüllt worden sei. Um diesen Auftrag bewerbe sich nun die Erziehungsberatungsstelle im Philippshaus. Wenn man über die weitere Arbeit der Erzie-
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hungsberatung im Kreis nachdenke, würde dies für die Stadt und den Landkreis eine grundlegende Änderung der bisherigen vertraglichen Verhältnisse bedeuten. Daher sei die Frage an die EB des Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg zu stellen, ob sie diese erweiterte Aufgabenstellung an einen anderen Anbieter abgeben möchte oder ihren vertraglichen Auftrag in vollem Umfang beibehalten wolle. Als Vorsitzender des Vereins betonte Prof. Remschmidt, dass der Verein keine Veranlassung sehe, die ihm übertragenen Aufgaben ganz oder in Teilen abzugeben. Die Auslastung der Nebenstellen zeige, dass sowohl die Vernetzung als auch die Arbeit mit den Ratsuchenden gelungen sei und alle Aufträge mit Tatkraft und Flexibilität aufgegriffen wurden. Die Kontinuität der Bestrebungen seitens der Grünen, die EB am Ortenberg aus der engen Kooperation mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität herauszulösen, fand sodann im Jahre 2000 eine weitere bemerkenswerte Fortsetzung. In diesem Jahr konnte die Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg mit einer Feier in der alten Aula der Universität ihr 50jähriges Jubiläum begehen. Auf den Eklat, den sich die der Partei der Grünen angehörende Stadträtin Ulrike Kober auf dieser Jubiläumsfeier leistete, wurde bereits hingewiesen. Frau Stadträtin Kober fiel allerdings wenig später in Ungnade bei ihren Parteigenossen und wurde dann vom Stadtrat Dr. Franz Kahle, ebenfalls von den Grünen abgelöst. Auch Dr. Kahle wurde nach den Kommunalwahlen 2017 als Bürgermeister abgewählt und durch das CDU-Mitglied Wieland Stötzel ersetzt.
3.4.2 Satzungsänderung und Streit um eine neue Geschäftsordnung Der nunmehr veränderte Dreiervorstand arbeitete in dieser Zusammensetzung (Prof. Remschmidt, Dr. Kahle, Dr. Nittner) weiter, bis auf Betreiben der Herren Dr. Kahle und Dr. McGovern, die durch eine Veränderung der Koalitionen in Stadt und Kreis in die jeweiligen Ämter der Jugend- und Sozialdezernenten gelangt waren, eine Änderung der Satzung angestrebt wurde. Am 18. 02. 2003 fand im Vorstand des Trägervereins der EB eine Diskussion über den neuen Satzungsentwurf statt, der von den beiden Politikern erarbeitet worden war. Nach ihren Motiven für die Satzungsänderung befragt, führten sie aus, dass die Arbeit der EB neuen Erfordernissen angepasst werden solle, dazu gehöre u. a. ein vermehrtes Angebot von aufsuchenden Maßnahmen sowie die Entwicklung von Konzepten für Familien mit Mehrfachstörungen. Im Kontext nannte Herr Dr. McGovern, dass z. Zt. im Kreis geplant sei, die vorhandenen Ressourcen zu bündeln und eine Schwerpunktsetzung vorzunehmen. Als zweiter wesentlicher Punkt wurde ein stärkerer Einfluss der Sozialde-
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Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
zernenten auf die Geschäftspolitik des Vereins gefordert. Diesbezüglich wurde betont, dass der Verein zukünftig anders angebunden werden solle, z. B. an mehrere Fachbereich der Philipps-Universität, was in Form eines Fachbeirates geschehen könne. Im weiteren Verlauf des Gesprächs machte Herr Dr. Kahle deutlich, dass die Pläne für die Kündigung des Vertrages mit dem Verein für Erziehungshilfe e.V. ziemlich weit gediehen seien. Er berichtete, dass die Mitarbeiter des städtischen Jugendamtes nicht abgeneigt seien, eine städtische Erziehungsberatungsstelle einzurichten und zu führen. In diesem Zusammenhang wies Herr Dr. Kahle auch darauf hin, dass bis Ende März die Kündigung des Vertrages zum Jahresende erfolgen werde, sofern eine Einigung bezüglich der Satzung nicht erzielt würde. Dies würde bedeuten, dass ab 2004 die Finanzierung der Erziehungsberatungsstelle seitens der Stadt nicht mehr gewährleistet wäre. In der neuen Satzung war nicht mehr vorgesehen, dass der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität im Vorstand sein soll. Der Vorstand wurde von drei auf vier Mitglieder erweitert, wobei die Dezernenten des Kreises und der Stadt »geborene« Mitglieder sein sollten. Ferner war in der neuen Satzung verankert worden, dass ein Fachbeirat gebildet werden sollte. In der Mitgliederversammlung vom 12. Mai 2004 wurde diese neue Satzung schließlich, trotz Bedenken des Vorsitzenden, angenommen. In derselben Sitzung wurde dann ein neuer Vorstand gewählt mit Prof. Remschmidt als Vorsitzendem, mit Herrn Dr. Kahle als Stellvertretenden Vorsitzenden, der sich mit Herrn Dr. McGovern in Rotation abwechseln wollte, Herrn Naumann als Schatzmeister und Herrn Dr. McGovern, der ohnehin kraft Amtes dem Vorstand angehörte. Auf dieser denkwürdigen Mitgliederversammlung wurde nach langjähriger Tätigkeit der bisherige Schatzmeister, Herr Dr. Nittner, aus seinem Amt verabschiedet. Er gehörte sei 1959 dem Vorstand an und hat die lange Vereinsgeschichte ganz wesentlich mitgestaltet. Der Vorsitzende Prof. Remschmidt erinnerte an die Anfänge des Vereins, betonte das ungewöhnliche Engagement des Schatzmeisters über vier Jahrzehnte hinweg und dankte Herrn Dr. Nittner im Namen des Vorstandes und der gesamten Mitarbeiterschaft sehr herzlich. Auf der Mitgliederversammlung am 15. 03. 2005 wurde schließlich ein Fachbeirat berufen, der die Arbeit der Erziehungsberatungsstelle in Zukunft begleiten sollte. In der Folgezeit gab es unterschiedliche Ansichten im Vorstand über eine neue Geschäftsordnung. Eine vom stellvertretenden Leiter der EB, Herrn HD Dr. Schulte-Körne, ausgearbeitete Geschäftsordnung wurde seitens der beiden Vertreter der Stadt und des Landkreises nicht akzeptiert, die selbst einen neuen Geschäftsordnungsentwurf vorlegten. In der Vorstandssitzung des Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg am 10. 03. 2005 machten Herr Dr. McGovern und Herr Dr. Kahle im Zusammenhang
Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel im Vorstand
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mit der von ihnen ausgearbeitete Geschäftsordnung folgende Ausführungen: Die neue Geschäftsordnung solle über anstehende Veränderungen der nächsten Zeit hinaus für längere Zeit gültig und praktikabel sein. Dabei gehe es um Überlegungen, wie Erziehungsberatung in Zukunft aufgestellt sein müsse, ob beispielsweise eine deutlichere Trennung zwischen medizinischen und erziehungsberaterischen Kompetenzen notwendig sei oder ob eine konzeptionelle Nähe zu anderen Diensten (z. B. der Frühförderstelle) stärker hervorgehoben werden solle. In der neuen Geschäftsordnung sollte u. a. die Geschäftsführung der Erziehungsberatungsstelle durch eine »hauptamtliche Fachkraft des Teams wahrgenommen werden, die über eine für die Beratungsstelle geeignete Berufserfahrung von mindestens zwei Jahren verfügt und zur Leitung einer Arbeitsgruppe befähigt« sein sollte. Es wurde also bewusst die ehrenamtliche Leitung durch den Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. des stellvertretenden Leiters in Person eines qualifizierten und habilitierten Oberarztes abgelehnt, wie dies seit vielen Jahren erfolgreich praktiziert worden war. Dadurch wurden zwangsläufig auch höhere Kosten in Kauf genommen, denn ein aus dem Team ernannter hauptamtlicher Leiter müsste mindestens halbtags mit Leitungsaufgaben befasst sein und fällt dadurch für die erziehungsberaterische Tätigkeit, zumindest in gleichem Umfang, aus. Ferner schrieb die Geschäftsordnung vor, dass seitens der EB »vorrangig Anfragen der öffentlichen Jugendhilfeträger« beantwortet werden sollten. Es war also eine stärkere Anbindung an die Jugendämter geplant, die die Unabhängigkeit der Erziehungsberatungsstelle von Behörden deutlich einschränken sollte. Die Beschlussfassung über die neue Geschäftsordnung war für die Vorstandssitzung am 10. 01. 2006 vorgesehen. Um eine Kampfabstimmung auf der Vorstandssitzung zu vermeiden, denn die Geschäftsordnung konnte vom Vorsitzenden und vom Schatzmeister des Vereins nicht akzeptiert werden, wurde die Beratung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. In der Zwischenzeit war zum 01. 07. 2005 das Klinikum der Philipps-Universität Marburg mit dem Klinikum der Universität Gießen zum Klinikum Gießen-Marburg vereinigt worden. Darüber hinaus wurde das nunmehr vereinigte Klinikum zum 01. 01. 2006 privatisiert und von der Rhön-Klinikum AG übernommen. Damit verbunden war auch eine Zuständigkeit der Rhön-Klinikum AG für das Gebäude der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg. Nunmehr arbeiteten die beiden der grünen Partei angehörigen Sozialdezernenten aus Kreis und Stadt, Dr. McGovern und Dr. Kahle, darauf hin, für die Erziehungsberatungsstelle dieselben günstigen Bedingungen aufrecht zu erhalten, die ihr bislang seitens des Klinikums und des Landes gewährt worden waren, nämlich eine kostenfreie Nutzung des Hauses. Dieses Entgegenkommen
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Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
des Universitätsklinikums war aber von Anfang an an die Bedingung einer engen Kooperation zwischen dem Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe als universitäre Institution und der Erziehungsberatungsstelle als vereinsgetragene Einrichtung gebunden und darüber hinaus auch daran, dass der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zugleich auch im Vorstand der Erziehungsberatungsstelle vertreten war. Seitens der Vertreter der Partei der Grünen war über anderthalb Jahrzehnte kontinuierlich versucht worden, diese Verbindung zu lösen, weil schon die räumliche Nähe der EB zur kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Philipps-Universität als ein Makel empfunden wurde. Auch wurde die schlechte Verkehrsanbindung der EB moniert. Mit Schreiben vom 10. 02. 2006 wandten sich Herr Dr. Kahle und Herr Dr. McGovern an den Vorsitzenden des Vereins, Prof. Remschmidt, mit der Bitte, einen Brief an das hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst zu unterzeichnen, in dem darum gebeten wurde, die bisherigen Bedingungen für die Erziehungsberatungsstelle aufrecht zu erhalten. Dies war dem Vereinsvorsitzendem, und allen, die die Vereinsgeschichte kennen, umso unverständlicher, als die beiden Dezernenten mehrfach gedroht hatten, den Vertrag der Stadt und des Kreises mit der Erziehungsberatungsstelle zu kündigen, die EB mit der Frühforderstelle an anderem Ort in der Stadt zusammenzuführen und schließlich auch den Verein aufzulösen. Eingedenk dieser, seitens des Vereins gut dokumentierten Tendenzen, lehnte der Vorsitzende mit Schreiben vom 22. 02. 2006 ab, ein derartiges Ersuchen zu unterstützen. Auf Antrag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EB fand am 08. 06. 2006 ein Gespräch zwischen drei Delegierten der Mitarbeiterschaft und dem Vorstand der EB statt. In diesem Gespräch wurde seitens der Dezernenten von Stadt und Kreis, Herr Dr. Kahle und Herrn Dr. McGovern, der Wunsch geäußert, dass die Erziehungsberatungsstelle unter den gleichen Bedingungen in dem vorhandenen Gebäude bleiben möge, dass keine Entlassungen vorgesehen seien und dass die Struktur der EB in folgender Weise verändert werden solle: – Es soll eine stärkere Annäherung an den allgemeinen Sozialdienst der Jugendämter erfolgen. – Die EB solle von Aufgaben entlastet werden, die nicht originäre Erziehungsberatungsaufgaben sind. – Es solle eine stärkere Regionalisierung erfolgen und – es sei eine Leitung der EB aus dem Team vorgesehen. Auf der Vorstandssitzung und der am selben Tage stattgehabten Mitgliederversammlung am 13. 06. 2006 teilte der Vereinsvorsitzende und Leiter der Erziehungsberatungsstelle Prof. Remschmidt mit, dass er mit seiner Emeritierung am 01. 10. 2006 den Vorsitz des Vereins und die Leitung der Erziehungsberatungsstelle niederlegen werde. Man war sich darüber einig, dass alle anstehen-
Leitung der Erziehungsberatungsstelle und Wechsel im Vorstand
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den Veränderungen erst nach diesem Zeitpunkt stattfinden sollten, wobei seitens der Dezernenten von Stadt und Kreis für Anfang Oktober ein Treffen der Mitarbeiter der verschiedenen an der Jugendhilfe beteiligten Institutionen organisiert werden sollte, auf der die künftige Ausrichtung der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg zur Sprache kommen solle.
3.4.3 Das Ende eines erfolgreichen Kooperationsmodells Diese Entwicklung ist hoffentlich nicht das Ende der EB am Ortenberg, aber ganz sicher das Ende eines in Deutschland einmaligen und höchst erfolgreichen Kooperationsmodells zwischen einer von den Gebietskörperschaften (Stadt und Landkreis) finanzierten Institution und einer Universität, das nahezu 60 Jahre bestanden hat. Die nicht sachlich, sondern partei- und machtpolitisch motivierte Aufkündigung dieses Arbeitsbündnisses, wird zu nicht ersetzbaren qualitativen und finanziellen Verlusten führen. Der Beitrag der Universität bzw. des Klinikums war immens und lässt sich finanziell kaum aufwiegen. Er bestand aus – der kostenlosen Überlassung des Gebäudes, einschließlich der Energieversorgung und der Übernahme aller Sanierungen, die bei einem im Jahre 1950 errichteten Bau nicht unerheblich waren, – der ehrenamtlichen Leitung der EB durch den jeweiligen Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, – der ehrenamtlichen stellvertretenden Leitung durch jeweils habilitierte Oberärzte der Klinik, die inzwischen alle Berufungen auf Lehrstühle für Kinder- und Jugendpsychiatrie an anderen Universitäten erhalten haben, – der jahrzehntelangen Mitarbeit mehrerer Fachkräfte des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe in allen Aufgaben der Erziehungsberatung, – der Bereicherung des multidisziplinären Teams der EB durch fachärztliche und wissenschaftliche Kompetenzen, z. B. im Rahmen der regelmäßigen, wöchentlichen internen Fallreflektionen, – der Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EB in alle Weiterund Fortbildungsaktivitäten der Klinik, – der Möglichkeit, am Weiterbildungsseminar für Kinder-, Jugendliche und Familientherapie und seit 1999 am der Klinik ebenfalls angeschlossenen »Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin der Philipps-Universität« eine qualifizierte Psychotherapieausbildung zu absolvieren, – der Beteiligung an Lehr- und Forschungsaufgaben, – der kostenlosen Nutzung diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten der Klinik, – der kostenlosen Nutzung von Serviceleistungen der Klinik in der Dokumentation und Datenverarbeitung.
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Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle
Nicht zuletzt aber war der kontinuierliche und interdisziplinäre fachliche Austausch zwischen der Mitarbeiterschaft der EB und der Klinik ein wertvolles Gut, das sowohl der Versorgung der Ratsuchenden zugute kam als auch der persönlichen Qualifikation der Berater. Dem Verfasser dieser Chronik ist kein vergleichbares Beispiel im deutschsprachigen Raum bekannt. Es ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Zerschlagung dieses bewährten Kooperationsmodells aus rein partei- und machtpolitischen Motiven erfolgte, denn an der inhaltlichen Arbeit der EB oder der Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nie Kritik geübt worden. Die in ehrenamtlicher Tätigkeit wahrgenommene stellvertretende Leitung der EB durch habilitierte Oberärzte der Klinik, die alle fundierte psychotherapeutische Weiterbildungen absolviert hatten und alle auf Lehrstühle berufen wurden, ist ebenfalls ein Qualifikationsmerkmal, welches keine andere EB in Deutschland aufzuweisen hatte.
3.5
Zusammenfassung
Die eng miteinander verknüpften Institutionen Ärztlich-pädagogische Jugendhilfe und Erziehungsberatungsstelle verdanken ihre Entstehung der Initiative von Werner Villinger, der aufgrund seiner in amerikanischen und englischen Child Guidance Clinics gesammelten Erfahrungen ein Konzept für die Zielsetzung und Arbeitsweise dieser Institutionen entwickelte. Das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe war von Anfang an der Universität angegliedert, während die Erziehungsberatungsstelle, nach verschiedenen Schwierigkeiten, ab 1959 vom eigens für diesen Zweck gegründeten »Verein für Erziehungshilfe e.V. Marburg« geführt wurde. Hermann Stutte wurde Vorsitzender des Vereins und löste in dieser Funktion auch Werner Villinger als Leiter der Erziehungsberatungsstelle ab. Für die beiden unter einem Dach befindlichen Institutionen wurde eine Aufgabentrennung vorgenommen: Während das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe, entsprechend der Zugehörigkeit zur Universität, mit Aufgaben in Lehre und Forschung betraut war, war die von dem Verein getragene Erziehungsberatungsstelle für Aufgaben der praktischen Erziehungsberatung und für die vielfältigen Aufgaben der Jugendhilfe zuständig. Beide Institutionen arbeiteten viele Jahre konstruktiv und reibungslos zusammen. In der Vereinssatzung war vorgesehen, dass der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie jeweils dem Vorstand des Vereins für Erziehungshilfe angehören sollte, in der Praxis war er jeweils der Vorsitzende. Bereits der Zehnjahresbericht der beiden Institutionen wies eine beeindruckende Bilanz auf: Im Zeitraum von 1950–1960 wird insgesamt über 3.833 Kinder berichtet, die kinder- und jugendpsychiatrisch und psychologisch untersucht und entsprechend behandelt worden waren. Das »Institut« ging einer regen Forschungstä-
Zusammenfassung
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tigkeit nach und war an verschiedenen DFG-geförderten Forschungsprojekten beteiligt, die sich u. a. auf die Differenzierung des hirnorganischen Psychosyndroms, die Entwicklung der kindlichen Motorik und die Entwicklung neuer Testverfahren bezogen. Das »Institut« spielte im Zusammenhang mit der Berufung von Helmut Remschmidt als Nachfolger von Hermann Stutte insofern eine wesentliche Rolle, als er darauf bestand, dass es in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität reintegriert werden sollte. Es war ihm nämlich zu Ohren gekommen, dass zwei Professoren (einer aus der Pädagogik und einer aus der Psychiatrie) das Institut aus dem Verbund der Klinik herauslösen wollten. Dies konnte verhindert werden. Anfang der 1990-er Jahre kam es zu Abspaltungsversuchen der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg von der Klinik, was insbesondere von Vertretern der Grünen im Landkreis und in der Stadt betrieben wurde. Auch diese Versuche scheiterten, da der zuständige Kreisbeigeordnete, Thomas Naumann, dem Vorschlag des Leiters der Erziehungsberatungsstelle folgte, zwei Nebenstellen, eine in Biedenkopf und eine in Stadtallendorf, zu gründen und der EB am Ortenberg anzuschließen. Mit seiner Emeritierung am 1. 10. 2006 legte Helmut Remschmidt die Leitung der Erziehungsberatungsstelle nieder und es kam zur Beendigung eines höchst erfolgreichen Kooperationsmodells zwischen einer von den Gebietskörperschaften (Stadt und Landkreis) finanzierten Institution und einer Universitäseinrichtung, das nahezu 60 Jahre bestanden hatte.
Nachwort: Dieser Beitrag stützt sich auf folgende Quellen: (1) Auf 9 Ordner zur Geschichte des Instituts für Ärztlich-Pädagogische Jugendhilfe der Philipps-Universität und der Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg: EBOrdner 1–9 und Ordner Landesarbeitsgemeinschaft (LAG). Diese Ordner befanden sich zum Zeitpunkt der Fertigstellung der EB-Chronik356 in der Erziehungsbratungsstelle am Ortenberg. (2) Auf 5 Ordner die sich in der Universitätsklink für Kinder- und Jugendpsychiatrie befinden. Sie sind mit der Kennzeichnung »EBOrdner, Klinik-Archiv« versehen. (3) Auf Archivalien im Universitätsarchiv Marburg (u. a. UAM 310, Nr. 410 und UAM 310, Nr. 16 497). (4)Auf persönliche Erfahrungen des Verfassers, der die EB und das Institut über zwanzig Jahre geleitet hat.
356 Helmut Remschmidt (2006): 56-Jahre Erziehungsberatung in Marburg. Chronik der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg und der Ärztlich-Pädogogischen Jugendhilfe der Philipps-Universität Marburg, Görich und Weiershäuser, Marburg.
4.
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2 4.3
4.1
Einrichtung des Lehrstuhls und Bau einer eigenständigen Klinik
Einrichtung eines Extraordinariates für Kinder- und Jugendpsychiatrie Vorgeschichte und Diskussionen innerhalb der Fakultät Bildung einer Berufungskommission und Einholung von Voten Voten aus Österreich und der Schweiz Voten der deutschen Fachvertreter Die Kandidaten Fakultätsbeschluss: Hermann Stutte: primo et unico loco Fertigstellung des Klinikneubaus (1958) Zusammenfassung
Einrichtung eines Extraordinariates für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg357
4.1.1 Vorgeschichte und Diskussionen innerhalb der Fakultät Mit Datum vom 25. 11. 1952 erreichte ein Brief des Ministerialdirektors im Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung, Willi Viehweg358, den Dekan der Medizinischen Fakultät mit der Anregung zur Schaffung eines »außerordentlichen Lehrstuhls für Jugendpsychiatrie«. In dem Schreiben heißt es: »Ein solcher Lehrstuhl wäre in der BRD zur Zeit ohne Parallele; seine Schaffung, gerade an der Medizinischen Fakultät in Marburg, erscheint mir durch die dortige Erziehungsberatungsstelle besonders gegeben«. (Az. IX-416–74–52). Mit Schreiben vom 20. 12. 1952 bedankt sich der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Manfred Kiese, und teilt über den Rektor der Universität Herrn Ministerialdirektor Viehweg mit, dass die Medizinische Fakultät sich für die Anregung bedanke. Gegenwärtig werde dieses Gebiet vom Ordinarius für 357 Akte Stutte, Extraordinariat für Kinder- und Jugendpsychiatrie, UAMR 307e, Nr. 5251 (angefangen 1952, beendet 1954). 358 Siehe Kap. 15.
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Einrichtung des Lehrstuhls und Bau einer eigenständigen Klinik
Psychiatrie Prof. Villinger vertreten. Die Fakultät habe aber bereits »notwendige Maßnahmen erwogen, welche erforderlich wären, um den Fortbestand der wissenschaftlichen Forschung und praktischen Arbeit auf dem Gebiete der Jugendpsychiatrie nach einem Ausscheiden von Prof. Villinger sicherzustellen«. Und schließlich: In der Sitzung vom 12. 12. 1952 habe die Fakultät beschlossen, einen außerordentlichen Lehrstuhl für Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Klinik zu beantragen. Am 7. 7. 1953 stellt der Dekan Prof. Kiese in einem Brief an das Ministerium erneut den Antrag zur Schaffung dieses außerordentlichen Lehrstuhls. Mit Datum vom 18. 8. 1954 geht ein Schreiben von Prof. Villinger an den Dekan (inzwischen Prof. Hans Erhard Bock, 1903–2004) ein unter Beifügung eines Entwurfs für den geplanten Lehrstuhl mit der Bitte, »die geeigneten Schritte einleiten zu wollen«. Dieser Vorgang legt nahe, dass zuvor eine Absprache zwischen Prof. Villinger und Prof. Bock im Hinblick auf die Einrichtung des genannten außerordentlichen Lehrstuhls stattgefunden haben muss. Der diesem Schreiben beigelegte Entwurf richtete sich an den Minister für Erziehung und Volksbildung und enthielt den Vorschlag, Prof. Stutte auf die außerordentliche Professur zu berufen. Der »Entwurf« enthielt biographische Daten und Angaben zum wissenschaftlichen Werk von Hermann Stutte. Seit der Entstehung und Einrichtung des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe (Erziehungsberatungsstelle) an der Universität Marburg habe Prof. Stutte sich als ständiger Vertreter des Leiters »mit Eifer und Erfolg« der Arbeit gewidmet. Villinger teilte in dem Schreiben an den Dekan ferner mit, dass nach telefonischen Gesprächen mit Frau Ministerialrätin von Bila359 die Fakultät »schon im Vorwege ihren Vorschlag für die Besetzung« vorlegen könne, und zwar in Gestalt des außerplanmäßigen Professors Hermann Stutte, der »primo et unico loco« vorzuschlagen sei. Aus diesem Vorgang ist zu entnehmen, dass Villinger den Versuch unternahm, die außerordentliche Professur für Kinder- und Jugendpsychiatrie, unter Umgehung des damals üblichen Weges der Einholung von Voten, besetzen zu lassen. Offenbar war dem Dekan Prof. Bock die Angelegenheit doch zu heiß, denn er bat in einem zusätzlichen Schreiben an die Herren Fakultätsmitglieder um deren Stellungnahme. In einem Schreiben vom 24. 8. 1954 bittet der Dekan Prof. Bock unter Hinweis auf den »soeben herausgegebenen Haushaltsplan« die Fakultätsmitglieder um eine Stellungnahme zum beigefügten Entwurf, das Extraordinariat Prof. Stutte zu übertragen. Das Ergebnis der durch einen eiligen Umlauf in Gang gesetzten Umfrage war, dass vier Fakultätsmitglieder Einspruch ein359 Helene von Bila (1904–1985) war eine einflussreiche hessische Hochschulpolitikerin und von 1952 bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1969 Leiterin der Hochschulabteilung im Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung.
Einrichtung eines Extraordinariates für Kinder- und Jugendpsychiatrie
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legten. Es handelte sich um den Pädiater Friedrich Linneweh (1908–1992), den Gynäkologen Carl Kaufmann (1900–1980), den Internisten Herbert Schwiegk (1906–1988) und den Ophthalmologen Werner Kyrieleis (1898–1961). Am 27. 8. 1954 nahm der Pädiater Friedrich Linneweh zum Ernennungsvorschlag für das Extraordinariat »Kinderpsychiatrie« wie folgt Stellung: »Die Handhabung des ›primo et unico loco‹-Vorschlags halte ich nicht für die beste Lösung; sie behält immer das Odium einer Lokalregelung, weil sich der Vorgeschlagene am Ort befindet und diese Funktion schon innehat. Man sollte andere Fakultäten hören, deren Vorschläge mitberücksichtigen und einen regelrechten Dreiervorschlag machen. Wenn dann die Wahl auf Herrn Stutte fällt, ist ihm und der Vertretung des Faches in Marburg mehr gedient. Meines Erachtens ist es auch wichtig, dass die Fakultätskollegen auf diesem Wege erfahren, wie die Fachwelt über Herrn Stutte urteilt«.
Der Gynäkologe Kaufmann äußerte sich am 28. 8. 1954 wie folgt: »Im Interesse von Herrn Kollegen Stutte halte ich den Inhalt des Umlaufes nicht für eilig. Ich würde den Briefentwurf nicht abschicken, seinen Inhalt in einer Fakultätssitzung beschließen lassen oder diskutieren«.
Der Internist Schwiegk reagierte am 4. 9. 1954 wie folgt: »Die Ausführungen der Kollegen Kaufmann und Linneweh scheinen mir sehr beachtenswert. Ich schätze Herrn Stutte sehr und würde ihn als Fakultätsmitglied sehr begrüßen, glaube aber gerade in seinem Interesse, dass eine Kommission wie bisher üblich schon jetzt vorbereiten sollte, damit sie vielleicht nach dem Semester von der Fakultät entschieden werden kann«.
Am 4. 9. 1954 äußerte sich in ähnlicher Weise der Ophthalmologe Kyrieleis: »In den Ausführungen der Kollegen Kaufmann, Linneweh und Schwiegk sind bereits alle Gründe erörtert, die auch mich zu dem Vorschlag veranlassen, für das Extraordinariat der Kinderpsychiatrie eine regelrechte Dreierliste, möglichst noch während der Ferien, aufzustellen. Unabhängig davon könnte m. E. dem Ministerium der Vorschlag gemacht werden, die Stelle sofort kommissarisch mit Herrn Stutte zu besetzen. Wenn dann auch noch, wie wohl zu erwarten, Herr Stutte auf der Liste an hervorragender Stelle erscheinen würde, würde die Angelegenheit bestimmt in der von der Fakultät gewünschten Weise geregelt«.
4.1.2 Bildung einer Berufungskommision und Einholung von Voten Unter Hinweis auf den Sachverhalt, dass einige Fakultätsmitglieder nicht damit einverstanden sind, »dass wir den Antrag ohne Berufungskommission und ohne Fakultätssitzung weitergeben«, schlägt der Dekan Prof. Bock die Bildung einer Kommission vor mit den Herren Villinger als Fachvertreter, dem Dekan, dem künftigen Dekan, Herrn Prof. Linneweh als Pädiater und Prof. Kiese.
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Einrichtung des Lehrstuhls und Bau einer eigenständigen Klinik
Mit Schreiben vom 7. 9. 1954 wendet sich Dekan Bock an die Medizinischen Fakultäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Bitte, Voten im Hinblick auf das neu einzurichtende Extraordinariat zu senden. Stichtag für den Eingang der Voten war der 18. 10. 1954. 18 Voten gingen zeitgerecht ein, sieben Universitäten reagierten nicht oder sahen sich nicht in der Lage, ein Votum abzugeben (z. B. Düsseldorf), vier Voten gingen verspätet ein. Die Voten bezogen sich auf insgesamt 18 vorgeschlagene Kandidatinnen und Kandidaten, von denen vier nicht habilitiert waren. Nicht reagiert haben die Fakultäten Erlangen, Göttingen, Köln, Mainz, Münster und Würzburg. Aus jeweils zwei Universitätsstandorten gingen zwei Voten ein. Dies betraf die Universität Gießen und die beiden Universitäten in Berlin. Aus Gießen nahm der Direktor der Psychiatrischen Klinik (Prof. Boening) und der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung (Prof. Spatz) Stellung. Beide votierten für Prof. Stutte an erster Stelle. Was die Berliner Voten betrifft, so gaben der Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Freien Universität Berlin (Prof. Selbach) und der Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Humboldt-Universität (Prof. Thiele) ein Votum ab. Selbach unterstützte sehr deutlich die Berufung von Prof. Stutte, den er aus der Zusammenarbeit in Marburg kannte, als einzigen Kandidaten, während der Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Charit8 seinen Oberarzt Prof. Ziese als einzigen Kandidaten vorschlug unter Hinweis darauf, dass ihm die Verhältnisse auf dem Gebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Westdeutschland, insbesondere in personeller Hinsicht, gegenwärtig leider nur sehr mangelhaft bekannt seien (Votum an den Dekan vom 20. 9. 1954).
4.1.3 Voten aus Österreich und der Schweiz Eine Analyse der Voten aus Österreich und der Schweiz ergibt, dass die Votanten jeweils nur Kandidaten aus ihrem eigenen Land vorschlugen.
Österreich: Der Direktor der Psychiatrisch-neurologischen Klinik in Wien (Prof. Hoff) kam zu der Reihung: von Stockert, Asperger und Spiel und wies darauf hin, dass von Stockert »ursprünglich ein Wiener ist, der derzeit in Frankfurt am Main tätig ist« (Schreiben an den Dekan vom 18. 9. 1954). Anmerkung: Ihm war offensichtlich nicht bekannt, dass von Stockert bereits zu diesem Zeitpunkt Direktor der Univ.-Nervenklinik in Rostock war. Zu Asperger merkte Hoff an: »Er ist aber eigentlich kein Psychiater, und es scheint mir zweifelhaft, ob man Kinderpsychiatrie ohne klinische Psychiatrie betreiben kann«. Zum Drittplatzierten Dr. Walter Spiel bemerkte er, dass er ausgezeichnete
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Arbeiten geschrieben habe, aber noch nicht habilitiert sei und dass »der Abgang Dr. Spiels« für die Klinik ein großer Verlust wäre. Aus Graz gingen zwei Voten zeitgerecht ein. Der Direktor der Univ.-Kinderklinik Prof. Lorenz empfahl von Stockert als einzigen Kandidaten, und auch der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Lieb, votierte für von Stockert als einzigen Kandidaten unter Hinweis darauf, dass dieser für die Besetzung der Neurologisch-psychiatrischen Klinik in Graz in Erwägung gezogen worden war (Schreiben an den Dekan in Marburg vom 28. 9. 1954). Der stellvertretende Direktor der Psychiatrisch-neurologischen Klinik der Universität Graz, Doz. Dr. Bertha, schlug als einzigen Kandidaten Doz. Dr. E. Pakesch vor unter Beifügung von dessen Schriftenverzeichnis, das 26 Titel umfasst, unter denen sich allerdings, auch bei großzügiger Auslegung, kaum eine kinderpsychiatrische Arbeit fand (Schreiben vom 18. 9. 1954). Der Dekan der Medizinischen Fakultät Innsbruck (Prof. Hörbst) empfahl als einzigen Kandidaten Priv. Doz. Dr. Stumpfl, »welcher während des Krieges an der hiesigen Universität das Institut für Erb- und Rassenhygiene geleitet hat« und ergänzte: »Eine Beurteilung ist mir nicht möglich«. Anmerkung: Es ist erstaunlich, dass im Jahre 1954 ein Kollege für einen kinderpsychiatrischen Lehrstuhl vorgeschlagen wird, der in der Kriegszeit ein Institut für Erb- und Rassenhygiene geleitet hat. Schweiz: Auch die schweizerischen Sachverständigen schlugen nur ihre eigenen Landsleute vor. Inwieweit dies in Unkenntnis der Situation in Deutschland geschah, ist nicht ersichtlich. Angesichts der Tatsache, dass nach dem 2. Weltkrieg sich sehr rasch enge Beziehungen zwischen deutschen und schweizerischen Kinderpsychiatern entwickelt haben, ist dies nicht ohne Weiteres einsichtig. Der Direktor der Psychiatrischen Univ.-Klinik Zürich, Prof. Manfred Bleuler, schlug eine Dreierliste vor mit Prof. Jakob Lutz (Jahrgang 1903) an erster Stelle. Prof. Lutz war damals bereits (seit 1948) Direktor des kinderpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich. Bleuler führte aus, dass Lutz die Kinderpsychiatrie in Zürich selbständig aufgebaut habe und ärztlich wie organisatorisch bereits auf eine glänzende Laufbahn zurückblicken könne. An zweiter Stelle nannte Bleuler PD Dr. E. Haffter aus Basel, seit 1942 Oberarzt an der Psychiatrischen Univ.Klinik in Basel und fachlich glänzend ausgewiesen, und an dritter Stelle Dr. Robert Corboz, der vielversprechend, allerdings noch nicht habilitiert, sei (Schreiben vom 14. 9. 1954). Der Direktor der Psychiatrischen Univ.-Klinik Basel, Prof. Staehelin, erwähnte zu Beginn seines Schreibens, dass der Dekan bzw. die Medizinische Fakultät sich am besten an Herrn Prof. Tramer wenden solle, da dieser alle in Betracht kommenden Kollegen persönlich kenne. Was die deutschen Anwärter betreffe, so möge man sich an Prof. Villinger wenden. Sodann schlug Staehelin ohne Reihung, aber unter Hinweis auf deren Publika-
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Einrichtung des Lehrstuhls und Bau einer eigenständigen Klinik
tionen, die Herren PD Dr. van Krevelen (Niederlande), PD Dr. A. Weber (Bern) und PD Dr. Haffter (Basel) vor (Schreiben vom 25. 9. 1954). Der einzige schweizerische Votant, der auch einen deutschen Kollegenvorschlag brachte, war der Dekan der Medizinischen Fakultät in Bern, Prof. Walthard. Er gab die Stellungnahme des Berner Direktors der Psychiatrischen Klinik, Prof. Max Müller, wieder : »Meines Erachtens kommt in erster Linie natürlich der derzeitige Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg, Herr Prof. Stutte, in Frage; er kann bestens empfohlen werden, von den schweizerischen Anwärtern kann ich vor allem Herrn PD Dr. A. Weber (Waldau) empfehlen. In zweiter Linie käme PD Dr. Haffter (Basel) in Frage. Herr Prof. Lutz (Zürich) ist wohl der fähigste Kinder- und Jugendlichenpsychiater in der Schweiz, wird aber seine gute Position kaum mit derjenigen in Marburg tauschen wollen« (Schreiben vom 29. 9. 1954).
4.1.4 Voten der deutschen Fachvertreter Von den 13 zeitgerecht (Stichtag 15. 10. 1954) eingegangenen Voten wurde Hermann Stutte neunmal an erster Stelle genannt, davon viermal »primo et unico loco«. Von Stockert wurde einmal an erster Stelle (vom Fachvertreter in Halle), viermal an zweiter Stelle (Polisch, Bonn; Ruffin, Freiburg; Boening, Gießen; Spatz, Gießen) genannt. Bezieht man die vier verspätet eingegangenen Voten ein, so wird Hermann Stutte von allen vier Votanten an die erste Stelle gesetzt. Es handelt sich um die Voten von Kurt Schneider (Heidelberg) vom 15.10., Jörg Zutt (Frankfurt) vom 15.10., Dietfried Müller-Hegemann (Leipzig) vom 19.10. und Rudolf Lemke (Jena) vom 9. 11. 1954. Fasst man alle Voten der deutschen Fachvertreter für Psychiatrie zusammen, so wird Hermann Stutte von 17 (zeitgerecht und verspätet) eingegangenen Voten 13 Mal an erster Stelle genannt. In nur vier Voten ist dies nicht der Fall; dabei handelt es sich um das Votum der Humboldt-Universität Berlin (Prof. Thiele), der Universität Greifswald (Prof. Schwarz: kein definitives Votum, Verweis auf Prof. Villinger), der Universität Halle (Prof. Pönitz), der an erster Stelle von Stockert vorschlug, und Jena (Prof. Lemke). Prof. Lemke ergänzte allerdings sein ursprüngliches Votum am 9. 11. 1954 noch dahingehend, dass Stutte am besten geeignet sei. Wenn man dieses verspätet eingegangene Votum auch noch berücksichtigt, so erhöht sich die Zahl der Nennungen von Hermann Stutte auf 14.
Einrichtung eines Extraordinariates für Kinder- und Jugendpsychiatrie
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4.1.5 Die Kandidaten Die Voten bezogen sich auf 19 potentielle Kandidaten. Von diesen waren vier noch nicht habilitiert (Corboz, Zürich; Frau Geissler, Halle; Leferenz, Heidelberg; Spiel, Wien). Zum damaligen Zeitpunkt war es so gut wie ausgeschlossen, dass ein nicht habilitierter Wissenschaftler bzw. eine nicht habilitierte Wissenschaftlerin auf einen Lehrstuhl berufen werden konnte. Dies hat sich erst durch später in Kraft getretene Hochschulgesetze geändert, die einer Habilitation »gleichwertige Leistungen« als Qualifikationsvoraussetzungen anerkannten. Durch die fehlende Möglichkeit, nicht habilitierte Kandidatinnen und Kandidaten zu berücksichtigen, reduzierte sich die Anzahl der Vorgeschlagenen auf 16. Unter diesen wurde in den 13 zeitgerecht (d. h. rechtzeitig vor der Fakultätssitzung vom 18. 10. 1954) eingegangenen Voten deutscher Ordinarien Hermann Stutte neunmal an erster Stelle genannt, von Stockert einmal an erster Stelle (Pönitz, Halle) und fünfmal an zweiter Stelle (Polisch, Bonn; Ruffin, Freiburg; Boening, Gießen; Spatz, Gießen; Bürger-Prinz, Hamburg). Von Stockert war zum Zeitpunkt der Umfrage durch den Marburger Dekan bereits bestallter Direktor der Univ.-Nervenklinik in Rostock und schlug seinerseits Stutte als einzigen Kandidaten vor. Daraus kann man schließen, dass er sich eigentlich nicht als Kandidat ansah, wodurch sich die Zahl der Kandidaten auf 15 reduzierte. Zu den verbleibenden deutschen, österreichischen und schweizerischen Kandidaten lassen sich folgende Anmerkungen machen: (1) Hermann Stutte (Marburg): Sowohl seitens der Nennungen als auch seitens seiner klinischen und organisatorischen Erfahrung und seiner Publikationen war er mit Abstand als qualifiziertester Bewerber einzustufen. (2) Heinrich Albrecht (1921–1961) (Hamburg): Erhielt nur eine Nennung durch seinen Chef, Prof. Bürger-Prinz, an zweiter Stelle. Seine Vorleistungen, Erfahrungen und sein Schriftenverzeichnis konnten in keiner Weise mit demjenigen von Hermann Stutte konkurrieren. Er wurde später in Hamburg selbst Ordinarius und war ein Hoffnungsträger der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Leider verstarb er früh. (3) Hans Asperger (1906–1980) (Wien): Hans Asperger war Pädiater und ist der Erstbeschreiber der »autistischen Psychopathie« (so der Titel seiner Habilitationsschrift), die später nach ihm als »Asperger-Syndrom« benannt wurde. Er wurde einmal an zweiter Stelle vom Wiener Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie, Prof. Hoff, genannt, allerdings mit dem Hinweis, dass er Pädiater sei und wohl aufgrund der Tatsache, dass er nie psychiatrisch tätig war, für einen derartigen Lehrstuhl nicht geeignet sei. Im Übrigen wäre auch kaum zu erwarten gewesen, dass Hans Asperger Österreich verlässt.
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(4) Carl Haffter (1909–1996) (Bern): Er wurde in den Voten dreimal genannt, ausschließlich durch schweizerische Ordinarien. Zum Zeitpunkt der Stellenausschreibung war er 46 Jahre alt und hatte sich mit einer Schrift über »Kinder aus geschiedenen Ehen« habilitiert. Er war ab 1945 Leitender Arzt der Psychiatrischen Poliklinik und hatte sich ab 1955 ausschließlich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gewidmet, deren Ambulanz er leitete. Er wäre für die Professur in Marburg im Prinzip qualifiziert gewesen und hätte vielleicht auch einen Listenplatz verdient. Seine Leistungen bis zum damaligen Zeitpunkt waren aber keineswegs mit denjenigen von Hermann Stutte zu vergleichen. Er wurde im Jahr 1973 zum außerordentlichen Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Basel ernannt und verstarb im Jahre 1996. (5) D. Arnold van Krevelen (1909–1979) (Niederlande): Van Krevelen erhielt in der Umfrage nur ein Votum vom schweizerischen Ordinarius Staehelin (Basel). Er war zum damaligen Zeitpunkt der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie so gut wie unbekannt, was sich auch darin ausdrückte, dass kein deutscher Lehrstuhlinhaber ihn für die Position genannt hat. Er ist später als Leiter einer nicht-universitären Klinik hervorgetreten, hat den ersten englischsprachigen Artikel zur Differenzierung von Kanner- und Asperger-Syndrom im Jahre 1963 veröffentlicht und war später Präsident der internationalen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zum Zeitpunkt der Besetzung des Marburger Extraordinariats konnte er mit den Vorleistungen von Hermann Stutte nicht konkurrieren, er wurde später dessen enger Freund. (6) Jakob Lutz (1903–1998) (Zürich): Jakob Lutz wurde in den Voten dreimal genannt, einmal an erster Stelle von dem Züricher Psychiater Manfred Bleuler. Er war zum Zeitpunkt des Besetzungsverfahrens bereits ein längst etablierter Fachvertreter und hatte die Leitung des kinderpsychiatrischen Dienstes des gesamten Kantons Zürich inne. Er wäre nie nach Marburg gekommen, und es wäre auch nicht angemessen gewesen, ihm einen nachrangigen Listenplatz zu geben. Er gilt als einer der Pioniere in der Beschreibung der Schizophrenie im Kindesalter, hatte später mit Hermann Stutte und dessen Nachfolger enge freundschaftliche Beziehungen und hielt im Jahre (1983) die erste Hermann-Stutte-Gedächtnisvorlesung in Marburg. (7) Hart de Ruyter (Groningen): Auch Hart de Ruyter erhielt eine Nennung vom schweizerischen Psychiater Staehelin in Basel. Er war in den 1950-er Jahren in Deutschland unbekannt, was auch daraus hervorgeht, dass er von keinem deutschen Lehrstuhlinhaber für die ausgeschriebene Position benannt wurde, sondern von einem schweizerischen Lehrstuhlinhaber. Auch für ihn lässt sich sagen, dass er zum damaligen Zeitpunkt, was seine
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Qualifikation und Vorleistungen betrifft, nicht mit Hermann Stutte zu vergleichen war. (8) Aloys Schmitz (1899–1973) (Bonn): Er war zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens 55 Jahre alt, was in der damaligen Zeit keineswegs ein Gegenargument gegen eine Berufung war. Er war erheblich aus dem Nationalsozialismus belastet; er wurde auf der Liste als Gutachter der Euthanasie-Aktion T4 genannt. Dieser Sachverhalt war aber zum Zeitpunkt der Besetzung des Marburger Extraordinariats nicht bekannt (oder es wurde nicht darüber gesprochen). Jedenfalls wurde Schmitz nicht in die engere Wahl gezogen. (9) Friedrich Stumpfl (1902–1997) (Innsbruck): Er war ab 1930 Mitarbeiter der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und Assistent des Rassenhygienikers Ernst Rüdin. Er hatte während des Krieges den Lehrstuhl für Erb- und Rassenbiologie an der Universität Innsbruck inne. Zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens in Marburg hatte er wissenschaftlich auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie kaum gearbeitet und kam insofern auch für die Besetzung der Position gar nicht in Frage. Er hatte im Übrigen auch nur eine Nennung durch den damaligen Medizindekan in Innsbruck, Prof. Hörbst. (10) Arnold Weber (1894–1976) (Bern): Er wurde im Hinblick auf das Marburger Berufungsverfahren zweimal genannt, vom Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie Prof. Staehelin in Basel und vom Dekan der Medizinischen Fakultät in Bern, Prof. Walthard. Er war zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens in Marburg bereits 60 Jahre alt und seit 1938 Priv.-Dozent für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 1955 wurde er zum außerordentlichen Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Bern berufen. Er war zum Zeitpunkt der Marburger Ausschreibung bereits in Bern fest etabliert, ein erfahrener Kliniker, aber sein wissenschaftliches Werk war damals schmal und blieb es auch weiterhin. (11) Ziese (Berlin): Er wurde in den Voten zweimal genannt, einmal von dem Bonner Ordinarius für Psychiatrie Prof. Pohlisch und einmal von seinem Chef an der Humboldt-Universität, Prof. Thiele. Er war von seiner Ausbildung und von seiner Berufserfahrung eigentlich gar kein Kinder- und Jugendpsychiater und kam daher von vornherein für die ausgeschriebene Stelle nicht in Frage. (12) Hertha Lange (1907–2005) (Berlin): Hertha Lange (Jahrgang 1907) war die zweite Ehefrau des bekannten Psychiaters Johannes Lange (1891–1938), der von 1930 bis zu seinem Tod Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Breslau war. Sie war vorwiegend neurologisch orientiert und verfügte zum Zeitpunkt der Besetzung des Marburger Extraordinariats über keine breite kinder- und jugendpsychiatrische Erfahrung. Sie hat sich später mit
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Schädel-Hirn-Traumata beschäftigt, war Chefärztin einer kinderneurologischen Abteilung in Berlin und hat eine wichtige Monographie über Schädel-Hirn-Traumata im Kindes- und Jugendalter herausgegeben. Im Jahr 1954 war sie für das Marburger Extraordinariat nicht hinreichend qualifiziert. (13) Erich Pakesch (1917–1979) (Graz): Doz. Dr. Pakesch erhielt nur eine Nennung vom damaligen stellvertretenden Direktor der Psychiatrisch-neurologischen Klinik in Graz. Dessen Schriftenverzeichnis umfasste 28 Titel, unter denen sich keine spezifischen kinder- und jugendpsychiatrischen Publikationen befanden. Er kam somit als Bewerber nicht in Frage. (14) Heinz Leferenz (1913–2015) (Heidelberg): Er hatte ein Jura- und ein Medizinstudium absolviert und war in beiden Fachdisziplinen promoviert. Er war Mitarbeiter von Kurt Schneider und leitete von 1952–1960 die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Erziehungsberatungsstelle an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg. Seine Habilitation an der Juristischen Fakultät erfolgte 1956. 1959 wurde er als außerplanmäßiger Professor auf den ersten ausschließlich kriminologischen Lehrstuhl der Bundesrepublik Deutschland berufen. Er erhielt im Rahmen der Umfrage nach Voten zwei Nennungen, einmal an dritter Stelle durch den Freiburger Ordinarius für Psychiatrie Ruffin und einmal von seinem damaligen Chef, dem Ordinarius für Psychiatrie in Heidelberg, Kurt Schneider, der insbesondere auf seine menschlichen Qualitäten hinwies. Zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens in Marburg war er allerdings noch nicht habilitiert. Seine bis 1954 vorliegenden Publikationen lagen, wie Kurt Schneider schreibt, auf dem Gebiet der gerichtlichen Psychiatrie. Er wird als »ein Mann von außerordentlicher Gediegenheit und unbegrenzter Zuverlässigkeit« geschildert. Möglicherweise wurde er nicht berücksichtigt, weil die Habilitation noch ausstand. Von seinen fachlichen Qualitäten her hätte er einen Listenplatz verdient, sofern man davon hätte absehen können, dass er noch nicht habilitiert war. Die positive Einschätzung seines Chefs hat sich in seiner Biographie bestätigt. Er war später jahrzehntelang Direktor des Kriminologischen Institutes Heidelberg und starb hochbetagt im Alter 101 Jahren. (15) Gerhard Göllnitz (1920–2003) (Rostock): Der damals 34-jährige Kandidat wurde von dem Lehrstuhlinhaber in Halle, Prof. Pönitz, einmal an zweiter Stelle vorgeschlagen. Er habe über ein Dutzend Arbeiten geschrieben und werde in Zukunft »ernstlich in Betracht gezogen werden müssen«. Auch Gerhard Göllnitz, habilitiert 1952, konnte allerdings zum damaligen Zeitpunkt mit den Leistungen Stuttes (klinisch wie wissenschaftlich) nicht konkurrieren. Er hat später Karriere gemacht und wurde erster Lehr-
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stuhlinhaber für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters in der DDR im Jahre 1958, zunächst kommissarisch und 1963 vollgültig. Mit der Einrichtung des Extraordinariats sollte auch eine Abgrenzung des Fachgebietes Jugendpsychiatrie von der Erwachsenenpsychiatrie erfolgen. Dies hatte Stutte in einer Denkschrift unter dem Titel »Die Jugendpsychiatrie als medizinische Sonderdisziplin« dargestellt und auch dem Ministerium unterbreitet. In diesem Beitrag hatte Hermann Stutte zunächst die Aufgaben des Psychiaters in der Schwachsinnigen- und Psychopathenfürsorge dargestellt, auch die organisatorische Entwicklung der Kinderpsychiatrie und schließlich die Stellung der Jugendpsychiatrie an den Universitäten im In- und Ausland. Er beschreibt sodann die bisherige Arbeit in der Kinderstation der Psychiatrischen Klinik und verweist auf die Aufgaben der Jugendpsychiatrie in der Krankenversorgung, Forschung und Lehre. Hermann Stutte hebt ferner hervor, dass dem ursprünglichen Pionierland der Jugendpsychiatrie (Deutschland) einige Länder insofern voraus seien, als bei ihnen die Jugendpsychiatrie bereits als Sonderdisziplin im Rahmen der Hochschule anerkannt worden sei. Dies treffe z. B. auf Frankreich zu, wo 1949 in Paris ein ordentlicher Lehrstuhl für Kinderpsychiatrie geschaffen wurde, ebenso auf die USA, wo in Baltimore ein entsprechender Lehrstuhl eingerichtet wurde, und schließlich auf die Schweiz, in der seit längerem ein Ordinariat und ein Extraordinariat für Heilpädagogik bestünden.
4.1.6 Fakultätsbeschluss: Hermann Stutte: primo et unico loco Am 18. Oktober 1954 beschloss die Med. Fakultät, zur Besetzung des außerordentlichen Lehrstuhls für Jugendpsychiatrie Herrn Prof. Hermann Stutte vorzuschlagen. Für die Besetzung des Lehrstuhls sei auch Herr Prof. von Stockert genannt worden. Dieser habe aber erst vor kurzem einen Ruf an die Universität Rostock angenommen und von den ausländischen Bewerbern (deren Zahl allerdings nicht genannt wurde) sei nicht zu erwarten, dass sie nach Marburg kommen würden. Der Beschluss der Fakultät für Prof. Stutte war einstimmig. Das entsprechende Schreiben an das Ministerium für Erziehung und Volksbildung war unterzeichnet vom damaligen Dekan Prof. Mittermaier, der später eines der Gründungsmitglieder der Lebenshilfe werden sollte. Am 2. November 1954 erhielt Prof. Stutte, unterzeichnet von Minister Arno Hennig, den Ruf auf das Extraordinariat, den er mit Schreiben vom 6. November 1954 annahm. Im Ernennungsschreiben vom 20. November 1954 an Prof. Stutte findet sich die Passage: »Die einschränkenden Bestimmungen des Gesetzes zu Art. 131 GG in der Fassung vom 1. September 1953 (BGBl. S. 1287) stehen der Ernennung nicht
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entgegen, da die Voraussetzungen des § 13 aaO im Land Hessen erfüllt sind«. In dem sogenannten 131-er Gesetz wird ausgeführt, dass alle öffentlich Bediensteten, die beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft wurden, wieder in den Staatsdienst eingestellt werden dürfen. In seiner Autobiographie360 schreibt Hermann Stutte, dass »die Anhebung des Lehrstuhls zu einem Ordinariat gegen manche Wiederstände« erfolgt sei (S. 403). Es ist unklar, ob es sich dabei noch um Nachwirkungen von Fakultätsvorgängen handelt, die seiner Berufung zum Extraordniarius vorausgingen. Jedenfalls ist auffällig das sich Stutte wenig in Fakultätsangelegenheiten einbrachte, sondern seinen Wirkungskreis überwiegend außerhalb der medizinischen Fakultät sah. Fazit: Unter Berücksichtigung der verschiedenen Nennungen und der Qualifikation der einzelnen Bewerber wären als einzige Konkurrenten um einen Listenplatz gegenüber Hermann Stutte Doz. Dr. Carl Haffter (Basel) und Doz. Dr. Gerhard Göllnitz (Rostock) in Frage gekommen und, sofern es zulässig und man dazu auch bereit gewesen wäre, der noch nicht habilitierte Heidelberger Kinderpsychiater und Kriminologe Heinz Leferenz. Was Carl Haffter betrifft, so konnte ein Wechsel aus der sicheren Schweiz ins Nachkriegsdeutschland als sehr unwahrscheinlich angesehen werden. Gerhard Göllnitz galt zum damaligen Zeitpunkt als noch nicht hinreichend erfahren und auch seine wissenschaftlichen Leistungen konnten sich nicht mit denjenigen von Hermann Stutte messen. Der einzige ernsthafte Mitbewerber wäre Ritter von Stockert gewesen, der einmal an erster Stelle und siebenmal insgesamt genannt wurde, der aber inzwischen den Lehrstuhl für Psychiatrie in Rostock übernommen und selbst als geeigneten Bewerber für das Extraordinariat Hermann Stutte vorgeschlagen hatte. Unter diesen Umständen einigten sich Kommission und Fakultät auf einen Berufungsvorschlag, der primo et unico loco Hermann Stutte vorsah.
4.2
Fertigstellung des Klinikneubaus (1958)
Der Neubau der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität ist aus einer 1947 der Universitäts-Nervenklinik von Prof. Villinger eingerichteten Kinderstation mit 30 Betten hervorgegangen. Prof. Villinger kam im Jahr 1946 von der Universität Tübingen nach Marburg und brachte von dort das Konzept für die Etablierung einer eigenen Abteilung für Kinder- und Ju360 Hermann Stutte (1977), in: Pongratz, L.J. (1977) (Hrsg.): Psychiatrie in Selbstdarstellungen, S. 394–421, Huber, Bern, Stuttgart, Wien.
Fertigstellung des Klinikneubaus (1958)
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gendpsychiatrie mit. In Tübingen bestand nämlich bereits seit 1920 eine von Robert Gaupp eingerichtete Kinderabteilung, deren Leitung Villinger anvertraut wurde. Dadurch, und durch seine Tätigkeit beim Landesjugendamt Hamburg (1926–1933) sowie als Chefarzt der von Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel (1934–1939), hatte er ein besonderes Interesse für die Belange psychisch kranker Kinder und Jugendlicher entwickelt. Mit Werner Villinger kam auch Hermann Stutte 1946 von Tübingen nach Marburg. Ihm wurde die Leitung der neu eingerichteten Kinderabteilung übertragen. Diese im Gebäude der Nervenklinik untergebrachte Kinderstation erwies sich rasch als zu eng und langfristig ungeeignet für die Behandlung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher, so dass der Plan entstand, ein eigenes Gebäude für die Belange psychisch kranker Kinder und Jugendlicher einzurichten. Einen eigenen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie gab es damals noch nicht. Die ärztlichen Mitarbeiter kamen entweder aus der Pädiatrie oder der Psychiatrie und arbeiteten sich unter der Anleitung von Pädiatern und Psychiatern in das neue Fachgebiet ein. Die Durchsetzung dieses Planes und die Planungsphase erwiesen sich allerdings als durchaus schwierig. Zunächst ging es darum, eine Professur zu schaffen, deren Inhaber geeignet sein sollte sein sollte, die zu errichtende Klinik zu leiten und das Fach Kinder und Jugendpsychiatrie, dass es damals als eigene Facharztdisziplin ja noch gar nicht gab, in Krankenversorgung Forschung und Lehre zu vertreten. Nachdem das Extraordinariat durchgesetzt war, konnte, nach zahlreichen Eingaben von Prof. Villinger an das Kultusministerium, mit der Planung eines Klinikneubaus begonnen werden. Villinger und Stutte bemühten sich diesbezüglich um Konzepte und Planungsunterlagen bereits existierender universitärer Einrichtungen. Diese gab es damals allerdings nur im Ausland, und auch dort nur spärlich. Die beste Adresse war hierfür Prof. Georges Heuyer in Paris, erster Lehrstuhlinhaber für Kinderpsychiatrie in Europa und Direktor der dortigen kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik. Villinger hatte Heuyer um die Übersendung der Baupläne der Pariser Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gebeten, die die Marburger Baupläne maßgeblich beeinflusst haben. In diesem Sinne schreibt Stutte am 24. 2. 1955, nachdem er sich für die Zusendung der Baupläne bedankt hat, an Heuyer361: »Aus Ihrem Bauplan haben wir mancherlei Anregungen gewonnen für unsere eigenen Neubaupläne. Unsere kinderpsychiatrische Klinik […] wird allerdings bescheidener ausfallen. Sie wird nur 50 Betten umfassen, wird aber gleichzeitig auch baulich zu berücksichtigen haben, dass unsere Klinik auch eine Art Beobachtungsstation für 361 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Akte UEP.
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dissoziale Jugendliche (Fürsorgezöglinge der Jugendämter362) ist und dass sie gleichzeitig auch der Ausbildung von Sonderpädagogen (Hilfsschullehrer) dient. Dementsprechend haben wir besonderen Wert gelegt auf die Schaffung zahlreicher kleiner Spiel-, Schul- und Beobachtungsräume. Hinsichtlich der organisatorischen Gliederung des Baues, insbesondere der Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für die ärztlichen, psychologischen, heilpädagogischen und psychotherapeutischen Mitarbeiter, sind wir von analogen Prinzipien ausgegangen, wie sie offenbar richtungweisend waren für Ihren Bau«.
Diese Bauplanung macht sowohl den interdisziplinären Ansatz der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich als auch die Involvierung in die Ausbildung von Sonderpädagogen und eine gewisse Schwerpunktbildung im Bereich der Dissozialität. In einem Schrieben an das Hessische Ministerium für Erziehung und Volkbildung beantragte Stutte für die bereits im Bau befindliche Klinik die Einrichtung einer Heimsonderschule mit zwei Lehrkräften. Er begründete dies damit, dass von der in Aussicht genommenen Zahl von 60 Betten, mindesten 40 mit schulpflichtigen Kindern belegt sein würden. Er betont ferner die notwenige Zusammenarbeit mit Pädagogen und Sonderpädagogen als unabdingbar für die neue Klinik: »Die ständige Zusammenarbeit mit dem Pädagogen, insbesondere dem Sonderpädagogen – das zeigt die allgemeine Entwicklung des Faches ist heute integrierender Bestandteil kinderpsychiatrischer Diagnostik und Therapie. Deshalb wurde auch, nach dem Vorbild analoger Institutionen im In- und Ausland, im Raumprogramm [ ] von vornherein eine Heim- bzw. Klinikschule mit vorgesehen«.363
Schließlich wurde noch im Jahr 1955 mit dem Bau begonnen. Am 10. Januar 1956 wurde das Richtfest gefeiert und am 21. April 1958 wurde der Neubau in Anwesenheit des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung, Dr. Arno Hennig, seiner Bestimmung übergeben. Prof. Villinger hielt die Festansprache, in der er einen Überblick gab über die kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen in Deutschland und über die Entstehungsgeschichte des Neubaus. Seine Ansprache begann er mit folgenden Worten: »Ein Traum eines Lebens ist in Erfüllung gegangen, nicht nur meines Lebens, denn ich weiß, dass es Herrn Stutte und seinen Mitarbeitern ganz ähnlich geht. Eine großräumige, 362 Schreiben von Ernst Kretschmer vom 10. 04. 1942 an der Kurator der Universität zur Weiterleitung an das Reichsjustizministerium, Akte Nervenklinik 423/74, UAM 310/10591. In diesem Antwortschreiben auf einen Anfrage des Reichsministeriums der Justiz vom 11. 3. 1942, in dem es um § 4 der Verordnung über die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher vom 6. 1. 1942 (RGB,I,S.13) ging,äußerte sich Ernst Kretschmer im Hinblick auf eine jugendpsychiatrische Beobachtungsstation wie folgt: » An der hiesigen Universitätsnervenklinik werden Jugendliche fortlaufend behandelt und beurteilt. Die Klinik ist für die kriminalbiologische Untersuchung Jugendlicher wissenschaftlich und praktisch eingerichtet«. 363 Akte Nervenklinik 423/74, UAM 310/10591.
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zauberhaft gelegene, in jeder Hinsicht ideale klinische Abteilung ist geschaffen, die mit ihren Räumen und Einrichtungen allen heutigen Anforderungen entspricht« (Oberhessische Presse vom 22. 4. 1958). In seiner Dankesrede erwähnte Professor Villinger, neben dem Minister, insbesondere Herrn Ministerialdirektor i.R. Willy Viehweg, Staatssekretär Dr. Rosenthal-Feldram sowie die Vertreter der Stadt und des Landkreises. Einen besonderen Dank richtete Professor Villinger an die Vertreter des Staatsbauamtes unter Leitung von Regierungsbaurat Küllmer sowie an die Bauunternehmer, die in zuverlässiger Weise den Neubau fertiggestellt haben. Über die räumliche und personelle Ausstattung sowie über das Behandlungskonzept hat Stutte (1960)364 ausführlich berichtet. Dieser Darstellung folgen wir hier.
Raumprogramm Von vornherein war die Klinik räumlich für die Aufnahme von 52 Kindern und Jugendlichen geplant, die in zwei Obergeschossen untergebracht werden konnten. Der erste Stock umfasste die Jungenstation, für die 20 Betten vorgesehen waren, und im Nebenflügel die gemischte Wachabteilung (geschlossene Station). Im zweiten Stock befand sich die Mädchenstation mit einer integrierten Kleinkinderabteilung mit 21 Betten. Im Erdgeschoss, das man durch eine großzügige Eingangshalle betrat, waren die Funktionsräume vorgesehen (u. a. Räume für die Psychodiagnostik, Werkräume, Toiletten und Duschräume, Laborräume, Behandlungsräume, Kasino etc.). In einem Nebengebäude befanden sich im Kellergeschoss Wohnräume für Krankenschwestern und im Erdgeschoss des Nebengebäudes lagen das Chefarztzimmer mit einem Sekretariat sowie die Poliklinik, das Archiv, die Bibliothek und die EEG-Abteilung. Die Unterbringung dieser Räume im Hauptgebäude war wegen der örtlichen Bauvorschriften nicht möglich. Es war nämlich nicht gestattet, den Klinikneubau mit einem dritten Obergeschoss zu versehen, da die Klinik sich mitten in einem Wohnbereich befand. Zum Konzept gehörte von Anfang an auch die Einrichtung einer geschlossenen Station. Bereits damals gab es, wie auch heute, Bedenken gegen eine geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Jeder erfahrene 364 Stutte H (1960). Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung an der Philipps-Universität zu Marburg an der Lahn. Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete, 94– 202, Huber, Bern.
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Kinder- und Jugendpsychiater weiß aber, dass es hierfür Indikationen gibt und dass manchem Patienten auf andere Weise nicht zu helfen ist. In diesem Sinne schreibt Stutte bereits 1960: »Der Einbau einer geschlossenen Abteilung in eine moderne kinder- und jugendpsychiatrische Klinik wurde von manchen Besuchern als anachronistisch, ja sogar als bedenklich beurteilt. Wir halten im Hinblick auf die uns gestellten Aufgaben eine solche Station jedoch für unentbehrlich. Den besonderen therapeutischen und pädagogischen Bedürfnissen der erethischen und psychotischen Kinder, jener mit Fluchttendenz und Drangzuständen, sowie der besonderen rechtlichen Situation von Jugendlichen, die wegen kriminellen Vergehen inhaftiert sind und zur forensischen Begutachtung überwiesen werden, kann unter den gegebenen personellen Verhältnissen nur im Rahmen einer Wachabteilung Rechnung getragen werden« (Jahrbuch für Jugendpsychiatrie Band II, S 201,1960).
Abb. 4.1: Neubau der Klinik kurz nach ihrer Fertigstellung
Die personelle Ausstattung war von vornherein interdisziplinär angelegt und umfasste Ärzte, Psychologen, Krankenschwestern, Krankenpfleger, Erzieher, Sonderschulpädagogen und andere pädagogische Kräfte. Von Anfang an waren auch im Raumkonzept Schulräume vorgesehen, bereits damals gehörte eine Klinikschule zum festen Bestand einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Im Rahmen des in Marburg abgehaltenen 5. Kongresses der Deutschen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Zeit vom 28. bis 30. Juni 1958 wurde die Klinik einem Kreis von Fachkollegen vorgestellt, die sich sehr positiv
Zusammenfassung
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geäußert haben und bestrebt waren, das Konzept andernorts zu übernehmen. Die erste Beschreibung der neuen Klinik schließt Hermann Stutte mit den Worten: »Ob die der neuen Klinik gegebene architektonische und organisatorische äußere Form unseren praktischen Aufgaben angemessen ist und als Modell dienen kann, wird sich erst in einigen Jahren abschätzen lassen« (Jahrbuch für Jugendpsychiatrie Band II, S. 202, 1960). Für einen gewissen Zeitraum kann dies durchaus bestätigt werden, es zeigte sich aber bereits ab den 1980-er Jahren, dass die baulichen Gegebenheiten einem modernen Konzept der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung nicht mehr entsprechen. Verschiedene Versuche, kleinere bauliche Veränderungen und räumliche Umstrukturierungen vorzunehmen, waren nicht hinreichend. Als größere Baumaßnahme erfolgte eine Aufstockung und der weitere Ausbau der geschlossenen Adoleszentenstation mit der Einrichtung zweier MutterKind-Einheiten und eines neuen Konferenzraumes für Besprechungen und für die Lehre. Dies war ein wichtiger Fortschritt, aber die großen Stationen mit jeweils 20 bzw. 21 Betten und geringen Möglichkeiten zur Differenzierung erwiesen sich als nicht mehr hinreichend, so dass die Planung eines Neubaus unausweichlich war. Mit der Berufung von Frau Prof. Dr. Katja Becker im Jahr 2008 als Nachfolgerin von Helmut Remschmidt begann eine intensive Planungsphase für einen Neubau, die ein Architekturbüro und zahlreiche Mitarbeiter der Klinik beschäftigt hat. Der Baubeginn ist für das Jahr 2018 vorgesehen. Als Übergangslösung wurden 2014 zwei Stationen der Klinik in renovierten Räumen der Psychiatrischen Klinik untergebracht.
4.3
Zusammenfassung
Nachdem seitens des Hessischen Ministeriums für Erziehung und Volksbildung die Schaffung eines »außerordentlichen Lehrstuhls für Jugendpsychiatrie« angeregt worden war, traf die Medizinische Fakultät die notwendigen Maßnahmen zu dessen Einrichtung. Im August 1954 richtete Prof. Villinger ein Schreiben an den Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Hans Erhard Bock, in dem er den Vorschlag unterbreitete, Hermann Stutte auf die außerordentliche Professur zu berufen. Nachdem der Dekan die Fakultätsmitglieder um eine Stellungnahme gebeten hatte, protestierten vier Fakultätsmitglieder gegen dieses Vorgehen, worauf er im September 1954 im Rahmen einer Umfrage an den Medizinischen Fakultäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz Voten im Hinblick auf das neu einzurichtende Extraordinariat erbat. Die Voten bezogen sich auf insgesamt 18 vorgeschlagene Kandidatinnen und Kandidaten, von denen vier nicht habilitiert waren. Interessant war dabei, dass die Votanten aus Österreich und der Schweiz jeweils nur Kandidaten aus ihrem eigenen Land vorschlugen. Unter
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Berücksichtigung der verschiedenen Nennungen und der Qualifikation der einzelnen Bewerber kam die Medizinische Fakultät am 18. 10. 1954 zu dem Beschluss, Hermann Stutte, der die meisten Voten auf sich vereinigen konnte, primo et unico loco für die Besetzung des Extraordinariats vorzuschlagen. Dem folgte auch das Ministerium. Nachdem der Lehrstuhl also genehmigt worden war, war als nächster Schritt eine Klinik für die Zwecke der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu bauen. Der Baubeginn erfolgte noch 1955 und 1958 konnte die Klinik als erste Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik in Anwesenheit des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung eröffnet werden. Zum Konzept gehörte sowohl die Einrichtung einer geschlossenen Station als auch einer Klinikschule, die in der Folge schrittweise zu einer Schule für Kranke am Klinikum ausgebaut wurde.
5.
Die Klinikschule: Von den Sonderschulklassen zur Schule für Kranke am Klinikum Edgar Sachse
5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5 5.6
Die Gründungsphase Die Entstehung der Schule (Original v. H. Metzker) Die Entwicklung der Unterrichtsstrukturen in den frühen Jahren Die wichtigsten Ereignisse von 1954 bis 1987 in der Übersicht Die Ausgestaltungsphase Wichtige Entwicklungen von 1987 bis 2008 (Vom pädagogischen Einzelkämpfertum hin zur strukturierten Schule) Die Entwicklung der Raumsituation Chronologische Übersicht 1987 bis 2008 Entwicklung der Schülerzahlen 1959 bis 1987 Entwicklung der Schülerzahlen von 1986 bis 2007 Lehrkräfte der Schule Die Schulleiter Zusammenfassung
Vorbemerkung – Chronik 1958 bis 2008 Der eigentlichen Chronik als Auflistung von herausragenden Ereignissen sollen Beschreibungen der wichtigsten Entwicklungslinien von Unterricht und Schule an dieser Klinik vorangehen. Der erste Schulleiter der Schule, Herr Helmut Metzker, verfasste nach seiner Pensionierung im Jahr 1987 eine sehr ausführliche, umfangreiche und persönliche Schulchronik, von der Entstehung der Schule bis zum Jahr 1987, deren erster Teil ungekürzt im Original wiedergegeben wird. Im Anschluss hieran wird aus den weiteren Teilen der Darstellungen von Herrn Metzker sowie aus Unterlagen der Klinikleitung die Entwicklung der Unterrichtsstrukturen der Schule extrahiert und kurz dargestellt. Die wichtigsten Entwicklungslinien der Jahre 1987 bis 2008, werden sodann im Zusammenhang kurz geschildert. Diese Grundlage soll helfen, die Fakten und Ereignisse, die in der chronologischen Übersicht dargestellt werden, besser einzuordnen. Es folgen sodann einige interessante statistische Daten, wie die Entwicklung der Schülerzahlen, die Entwicklung des Lehrerkollegiums und die Vorstellung der Schulleiterin und der Schulleiter.
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5.1
Die Klinikschule
Die Gründungsphase
5.1.1 Die Entstehung der Schule (Original v. H. Metzker) Die ersten Anfänge Im Jahr 1954 erhielt Herr Professor Stutte den ersten Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik als Extraordinariat aufgrund seiner wegweisenden Veröffentlichungen auf diesem Gebiet. Als sein Wirken durch die Errichtung eines eigenen Gebäudes für die damalige Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsnervenklinik im April 1958 honoriert wurde, war es für Hermann Stutte selbstverständlich, dass in diesem Hause auch Schulunterricht stattfinden müsse, und es wurden entsprechende Räume dafür vorgesehen. Das geschah nicht nur, weil die Patienten dieses Hauses in der Regel schulpflichtig waren, sondern auch, weil Hermann Stutte ein ganzheitliches diagnostisch-therapeutisches Konzept im Auge hatte, bei dem die Schule eine wesentliche Rolle spielt, weil sie Aussagen machen kann über das Verhalten der Patienten bei schulischen Anforderungen in der Lern- und Leistungssituation. Darüber hinaus waren ihm die Beobachtungen und Ratschläge jedes Mitarbeiters wichtig – ob er Arzt oder Krankenschwester, Lehrer oder Psychologe, Pfleger oder Krankengymnastin, Heilpädagoge oder Praktikant einer dieser Sparten war. Durch dieses vom »Chef« vorgelebte Füreinander-Offensein entstand ein Arbeitsklima, in dem sich alle wohl fühlten: die Mitarbeiter und die Patienten – und das kam natürlich auch der Schularbeit zugute. Selbstverständlich waren alle Mitarbeiter auch in den therapeutischen Prozess eingebunden. Die Lehrer wussten ebenso wie die Erzieher auf den Stationen, bei welchen Patienten Anfälle psychogener Natur waren und unbeachtet bleiben sollten, bei wem sofort ein Arzt verständigt werden musste, wer weglaufgefährdet war, welche Schüler bis zu ihrer Leistungsgrenze belastet werden konnten, und wo man schulischen Ehrgeiz eher bremsen sollte. Als verhaltenstherapeutische Konzepte zunehmend in den Vordergrund traten, wurden natürlich auch die Lehrer über alle Einzelheiten informiert – denn gerade bei dieser Therapie ist eine konsequente Beachtung der oft mit den Patienten gemeinsam erarbeiteten Regelungen und Ziele unverzichtbar. Wir haben in späteren Jahren bei Fortbildungsveranstaltungen der Lehrer an Schulen für Kranke immer wieder erfahren, dass ein solcher Teamgeist leider nicht überall herrscht, und dass wir von manchen Kollegen wegen dieses Arbeitsklimas beneidet wurden. Die ersten beiden Lehrer, Herr Mohr und Herr Schultheis, konnten nach Abschluss ihres Studiums und Teilnahme an den Lehrgängen zur Ausbildung
Die Gründungsphase
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von Sonderschullehrern in Marburg im Herbst 1958 ihre Tätigkeit in der Klinikschule aufnehmen. Die Bezeichnung lautete damals »Sonderschulklassen an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung der Universität Marburg«.
Der Kampf um Schulstatus und weitere Lehrkräfte Die »Schule«, wie sie klinikintern genannt wurde, hatte zwar keinen offiziellen Schulleiter, musste aber den gesamten amtlichen »Papierkrieg« – in der Amtssprache »Schriftwechsel« – selbständig führen; also Anfragen des Schulamts beantworten, Erlasse und Verordnungen des Kultusministers und des Regierungspräsidenten lesen, abheften und beachten, statistische Erhebungen durchführen, Schulbücher im Rahmen der Lehrmittelfreiheit bestellen und Anschauungs- und Arbeitsmaterial, sowie Geräte für den Unterricht aus Mitteln des Schuletats beschaffen. Dabei mussten wir zwei Herren dienen: einerseits der Schulaufsichtsbehörde mit ihren drei Verwaltungsebenen und andererseits dem Klinikdirektor und der Klinikverwaltung – letztere war für den Schuletat zuständig und führte sich zuweilen als dritter Herr auf, wenn sie unsere mit dem »Chef« abgesprochenen Wünsche ignorierte oder rundweg ablehnte. Diese »beiden Herren« hatten anfangs vorwiegend auf der höchsten Ebene Kontakt, als bei der Einrichtung der Schule die Bemühungen Professor Stuttes durch Ministerialdirektor Viehweg im Hessischen Kultusministerium voll unterstützt wurden. Der jeweils die Schulleiterarbeit leistende Kollege — anfangs war es Herr Mohr, nach seinem Fortgang der Chronist – erhielt dafür zwar Stundenermäßigung, aber keine der Stellung entsprechende Vergütung, auch dann nicht, als 1967 mit der Zuweisung einer dritten Lehrerstelle die »Sonderschulklassen« in eine eigenständige »Schule für Kranke« hätten umgewandelt werden können. Der erste Antrag für die Einrichtung dieser dritten Stelle wurde im Februar 1965 gestellt. Eine ausführliche Erinnerung folgte im Januar 1966. Darin wurde ein Erhebungsbogen des HKM zur »Ermittlung der Schulstellen nach dem Unterrichtsbedarf« kritisiert, da er »in keiner Weise den besonderen Aufgaben und Arbeitsbedingungen in Sonderschulklassen an einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik gerecht« werde. U. a. wies der Chronist auf folgende Erschwernisse hin: – den ständigen Schülerwechsel, der kleine Klassen fordere, da der Lehrer oft in kurzer Zeit ein verbindliches Urteil über Verhalten, Fähigkeiten und die weitere Schullaufbahn der Schüler abgeben müsse … – die vielfältigen körperlichen und geistig-seelischen Störungen der Schüler, unter denen sich Flucht- und Suizidgefährdete befänden …
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Die Klinikschule
Im Jahr 1968 hatte das Kultusministerium durch Ergänzung des Erlasses über die Schulträgerschaft die Möglichkeit dafür geschaffen, dass Sonderschulklassen an Universitätskliniken Schulstatus erhalten konnten. Bis dahin war das nicht möglich, weil kein Schulträger vorhanden war : eine Instanz, welche die Mittel für die laufenden sachlichen Kosten bereitstellte. Das ist bei anderen Schulen in der Regel die Gemeinde, in der die Schule liegt, oder der Verband, der sie eingerichtet hat. Das Land Hessen, das die Universitäten und die ihnen angeschlossenen Kliniken finanziell »trägt«, konnte bis dahin nicht Schulträger sein. Das wurde durch die o. a. Ergänzung geändert. Es dauerte noch viele Jahre und bedurfte zäher Verhandlungen, bis wir das Ziel erreichten: 1976 wurden die Sonderschulklassen »Schule für Kranke (Sonderschule) des Landes Hessen an der Klinik für Kinder u. Jugendpsychiatrie der Universität Marburg«. Es wurde dieser Schule die »Klinikstelle beim Schulamt«, die Herr Stein innehatte, zugeschlagen. Dadurch wurde die Verwaltung der Klinikstelle einfacher und effizienter, und die Schülerzahl der »Schule für Kranke an den Kliniken der Philipps-Universität« (wie sie nun in Kurzfassung hieß) erhöhte und stabilisierte sich. Bevor der Schule aber weitere Lehrkräfte zugestanden wurden – das geschah in den Jahren 1979, 1982 und 1983 – entwickelte sich eine Art »Kleinkrieg« zwischen der Schulleitung und dem Schulamt. Dieses akzeptierte die alljährlichen Meldungen über die Schülerzahlen nur im Hinblick auf die Zuteilung von Geldern aus dem Topf der Lernmittelfreiheit – bei der Zuteilung von Lehrerstellen war man wesentlich zurückhaltender, wohl vor allem deshalb, weil der Schulrat einmal bei einem Besuch anlässlich einer Lehrprobe relativ wenige Schüler angetroffen hatte, wie das zuweilen in einer Schule für Kranke aus mancherlei Gründen vorkommen kann. Erst als wir über längere Zeit Namenslisten anwesender Schüler zusammengestellt hatten, um sie »auf dem Dienstweg« dem Kultusminister vorzulegen, hatte das Schulamt in Person des zuständigen Schulamtsdirektors Eßbach ein Einsehen, und nun orientierte man sich endlich an der seit 1976 gültigen Schüler-Lehrer-Relation von 6,7:1. Ja, in der Folgezeit ermunterte man uns sogar, bei der Angabe der voraus-sichtlichen Schülerzahl »eher etwas mehr« anzugeben – die Zahlen im Grundschulbereich bei den allgemeinen Schulen waren nämlich rückläufig. Als der Schulstatus erreicht war, wollten wir natürlich auch eine eigene Rektorenstelle haben. Sie wurde 1973 beantragt und 1976 im Dezember-Amtsblatt ausgeschrieben. Am 7. 7. 1977 fand das Auswahlverfahren statt, zu dem zwei Bewerber erschienen – ein dritter hatte seine Bewerbung zurückgezogen — und am 1. 10. 1978 wurde der Chronist zum Rektor ernannt – ja, Gottes und der Behörden Mühlen mahlen langsam!
Die Gründungsphase
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Zum Glück musste sein Nachfolger im Amt, Herr Schneider, nicht so lange warten, und der ihm zugesellte Konrektor, Herr Sachse, erhielt seine Ernennung schon fast im D-Zug-Tempo.
5.1.2 Die Entwicklung der Unterrichtsstrukturen in den frühen Jahren In der Chronik von Herrn Metzker finden sich keine genauen Darstellungen des Unterrichtsgeschehens während der ersten Jahre. Er führt lediglich dazu aus, dass es sich »in den ersten Jahren mit zwei und mit drei Lehrkräften um eine wenig gegliederte Schule mit zu großen Lerngruppen« gehandelt habe, und dass »aus diesem Grund Unterricht im üblichen Sinn mit deutlich feststellbarem Lernzuwachs oft nicht möglich war.« Tatsächlich war die Unterrichtssituation aus schulischer Sicht anfangs äußerst unbefriedigend. Es mussten täglich an die 40 Schülerpatienten von zwei Lehrkräften in zunächst einem, später zwei Unterrichtsräumen mit einer Unterrichtszeit von ca. zwei Zeitstunden versorgt werden. So gab es Lerngruppen mit 20 Schülern und mehr, die sich aus verschiedenen Schulen, Schulformen und Altersjahrgängen zusammensetzten. Differenzierende Lehr- und Lernmittel gab es damals noch nicht, üblich in den Schulen war der Frontalunterricht mit Schulbüchern und der Schultafel. Also begannen die ersten Lehrkräfte liebevoll gestaltete Lernmaterialien selbst zu erstellen, was mit den technischen Mitteln der damaligen Zeit, als es noch keine Kopiergeräte gab, sehr mühsam und aufwendig war. Einige Ordner mit gesammelten Materialien aus dieser Zeit sind im Schularchiv erhalten. Sehr anschaulich beschrieb Herr Foitzik bei einer Krankenhauslehrertagung in Bremen, wie der Unterricht seinerzeit organisiert war : »Um neun Uhr versammelten sich an die 20 Schülerinnen und Schüler im Hörsaal, der auch als Unterrichtsraum genutzt wurde. Der Lehrer ging durch die Reihen und teilte verschiedene Arbeitsmaterialien aus. Während alle Schüler leise ihre Aufgaben bearbeiteten, ging der Lehrer von einem zum anderen Schüler, gab Erklärungen und Hilfestellungen. Wenn um elf Uhr die Vorlesung begann, war der Unterricht zu Ende.« Die von der Klinik gewünschte pädagogische Diagnostik wurde im Einzelunterricht am Nachmittag erhoben. Bereits die ersten Lehrkräfte empfanden die vorgegebenen personellen und räumlichen Strukturen als völlig unzureichend, um den individuellen Bedürfnissen der sehr heterogen zusammengesetzten Schülerschaft gerecht werden zu können. Sie befanden sich mit Herrn Prof. Stutte im ständigen Dialog um Verbesserungen. 18 Jahre lang dauerte der Status quo, in dem die beiden, ab 1967 drei, Lehr-
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Die Klinikschule
kräfte vom Schulamt an die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie abgeordnet waren, sich aber eher als Mitarbeiter der Klinik verstanden und den Weisungen des Klinikchefs verpflichtet fühlten. Erst im Jahr 1973 wurden die Weichen eindeutig gestellt durch einen Antrag von Herrn Prof. Stutte über den Fachbereichsrat und den Präsidenten der Universität beim Kultusministerium auf Errichtung einer eigenen Krankenhaussonderschule. Es wurde beantragt, die verschiedenen Schulstellen, die innerhalb des Universitätsklinikums unabhängig voneinander arbeiteten, zu einer »gegliederten Sonderschule« zusammen zu fassen (Antrag vom 01. 02. 1973). Mitte der siebziger Jahre entstanden an den meisten Kliniken in Hessen die ersten »Schulen für Kranke«. Als zum Schuljahr 1976/1977 per Erlass die eigenständige Schule für Kranke errichtet wurde, nahmen sich die Schulaufsicht und das Kultusministerium auch sogleich der inneren und äußeren Ausgestaltung dieser neuen Schulform an. Dabei wurden neben vielerlei schulrechtlichen Klärungen, z. B. bezüglich des Status der zu unterrichtenden Schüler, der Unterrichtsgestaltung, der Ausstattung, auch die Stellung der Schule innerhalb der Klinik geregelt: »Für innerschulische Angelegenheiten haben weder die Klinik noch der Schulträger Weisungsmöglichkeiten. … Deshalb müssen Schule und Klinik zu einer engen partnerschaftlichen Zusammenarbeit finden.« (Protokoll der gemeinsamen Besichtigungs- und Überprüfungsfahrt der Schulaufsicht …, vom 11. 03. 1976). Hier wurden die Grundlagen für die Arbeit der Schulen für Kranke festgelegt, wie sie dann später in den ersten Richtlinien dieser Schulform 1983 formuliert wurden. Somit hatte die Schule 1976 eine Stellung im öffentlichen Bildungswesen als eine eigene Sonderschule gefunden, deren Auftrag durch die Schulbehörden inhaltlich festgelegt wurde und die Rahmenbedingungen zur Erfüllung des Auftrages benannt waren. Das hieß aber noch lange nicht, dass die festgelegten Kriterien auch erfüllt waren: – Ein Lehrer- Schüler Verhältnis von 1 : 6,7 – Lerngruppengröße von 4 bis 8 Schülern – Eine hierfür erforderliche und ausreichende Ausstattung mit Lehrkräften, Klassenräumen, Mobiliar, Lernmitteln und Verwaltungsstrukturen – Partnerschaftliche Kooperation mit der Klinik Es sollte noch bis ca. 1987 dauern, bis die meisten dieser Bedingungen erfüllt waren. Zum Teil kämpft die Schule auch heute noch, bzw. wieder, um die erforderlichen Ressourcen. Die erste Maßnahme, um dem neuen Schulstatus Rechnung zu tragen, war, Herrn Metzker endlich zum Schulleiter zu ernennen. Dies geschah 1978, und in
Die Gründungsphase
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den Jahren 1979 bis 1985 wurden der Schule durch die Schulbehörden vier weitere Lehrerstellen zugestanden. So konnten nach und nach neue Lerngruppen, am Alter der Schüler orientiert, eingerichtet werden, und auch der Fachunterricht wurde erweitert, indem auch die erste Gymnasiallehrerin mit Englisch und Biologie an die Schule abgeordnet wurde.
5.1.3 Die wichtigsten Ereignisse von 1954 bis 1987 in der Übersicht: 1954
1956
1958
1958
1963 1967 1973 1976
1978 1979 bis 1985 1984 1985 1986
Herr Prof. Exner und Herr Prof. Linneweh setzen die Einrichtung der Klinikstelle beim Schulamt durch. Eine Lehrerin, Frau Kruse, unterrichtet in der orthopädischen und chirurgischen Abteilung des Klinikums (Bettunterricht, vorwiegend Nachhilfecharakter). Herr Prof. Stutte meldet den Bedarf von zwei Sonderschulklassen an der geplanten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bei den Schulbehörden an. Bei Eröffnung der neuen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen die Schulbehörden zwei Sonderschullehrer an die Klinik ab, die Sachkosten für Unterrichts- Erziehungs- und Bildungskosten werden im Rahmen der Unterhaltung der Kliniken vom Land Hessen getragen. (Erlass vom 15. 08. 1958). und folgende Jahre: Nicht geklärte Fragen nach dem Status der Lehrkräfte beschäftigen den Klinikdirektor : Sollen die Lehrer besser Angestellte der Klinik werden wegen der Arbeit in den Schulferien und der Weisungsbefugnis des Klinikdirektors, oder weiterhin dem öffentlichen Schulwesen unterstehen? Herr Helmut Metzker, später erster Schulleiter, kommt an die Schule. Eine dritte Lehrerstelle kommt hinzu. Zunächst Herr Foitzik, später Herr Schneider. Antrag der Klinik auf Errichtung einer eigenständigen Krankenhausschule an das Kultusministerium. Erlass über die Einrichtung einer Schule für Kranke vom 20. 07. 1976. Zusammenlegung der Klinikstelle und der Sonderschulklassen zu einer eigenständigen Schule mit dem Namen »Schule für Kranke des Landes Hessen (Sonderschule) am Klinikum der Philipps-Universität Marburg«. Herr Helmut Metzker wird zum ersten Sonderschulrektor der Schule ernannt. 4 weitere Lehrerstellen werden eingerichtet Eröffnung der Tagesklinik, die tägliche Schülerzahl steigt um 12. Die Schule erhält auf Antrag des Kollegiums den Namen »Hermann Stutte-Schule«. Herr Sonderschulrektor Metzker wird pensioniert. Herr Schneider wird Schulleiter, zwei weitere Lehrkräfte kommen dazu.
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Die Klinikschule
1987
Herr Sachse erhält die Stelle des ständigen Vertreters des Schulleiters (Konrektor). Die Schule verfügt nun über den gesetzlich vorgeschriebenen Stellenumfang von 9,5 Planstellen, bei durchschnittlich 60 bis 70 Schülern.
5.2
Die Ausgestaltungsphase
5.2.1 Wichtige Entwicklungen von 1987 bis 2008 (Vom pädagogischen Einzelkämpfertum hin zur strukturierten Schule) Die Schulaufsichtsbehörden richteten 1986 an der Schule eine Konrektorenstelle ein. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die Schule in zwei Abteilungen, verteilt in drei Standorten, arbeitete, und mittlerweile eine durchschnittliche tägliche Schülerzahl von mehr als sechzig Schülern zu unterrichten war. In der Abteilung am Ortenberg, an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, waren inzwischen 6 feste Lerngruppen für bestimmte Altersbereiche eingerichtet. Sie wurden jeweils von einem »Klassenlehrer« geführt, und es gab in ersten Ansätzen zusätzlichen Fachunterricht (Englisch und Biologie) sowie zeitlich geringeren Kleingruppenunterricht und Einzelunterricht auf den Stationen. Die Klassenlehrer regelten die Zusammenarbeit mit den Stationen weitgehend in eigener Regie und nahmen selbst auch bei den Nachbesprechungen der Chefvisiten teil. Regelmäßig (einmal wöchentlich) fanden Besprechungen mit allen Therapeuten aller Stationen statt. Die Lehrkräfte in der Kinderklinik und in den Kinderstationen im Klinikum waren es ebenfalls gewöhnt, ihren Unterricht und die Zusammenarbeit mit dem medizinischen Bereich selbständig und unabhängig zu regeln. Die neu konstituierte Schulleitung, Herr Schneider und Herr Sachse, hatte daher die Aufgabe die Weiterentwicklung der Schule auf verschiedenen Ebenen anzugehen: – Schulintern: Die inhaltlich-konzeptionelle Weiterentwicklung, Fortbildung, Konferenzarbeit, Unterrichtsorganisation – Schulaufsicht: Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Schulaufsichtsbehörden zur Personalentwicklung – Klinikumsverwaltung: Die Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen, wie Mobiliar, Lehrmittel, Sekretärin, Verbesserung der räumlichen Bedingungen. Die schulinterne Entwicklung hing zunächst stark von den beteiligten Personen und deren besonderen Interessen ab. Es existierten zwar schon die ersten
Die Ausgestaltungsphase
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Richtlinien für die Arbeit der Schulen für Kranke. Sie waren aber bewusst so weit und allgemein gefasst, dass für die sehr unterschiedlichen Schulen für Kranke ein großer Spielraum zur Ausgestaltung verblieb. Die Schulleitung führte in dieser Zeit die verbindlich vorgeschriebenen Formalia ein: – Die Heimatschulen werden nun generell immer angeschrieben und Informationen zur Vorgeschichte der Schüler angefordert. – Die individuell unterschiedlich praktizierten Lehrberichte werden durch einheitliche Klassenbücher ersetzt, die den erteilten Unterricht dokumentieren. – Die Abfassung eines Schulberichtes bei Abschluss der Beschulung für jeden Schüler wird verbindlich geregelt. Die Schulberichte werden von da ab an die aufnehmende Schule adressiert und nicht allein den behandelnden Therapeuten der Klinik übergeben. – Die Erteilung von Zeugnissen zu den Zeugnisterminen wird eingeführt. – Die Kollegen nehmen nicht mehr alle an den Visitenbesprechungen nach den Chefvisiten teil, sondern der Schulleiter vertritt hierbei die Schule als Ganzes. Die Konzeptbildung in der Konferenzarbeit lief auch deshalb nur sehr zögerlich an, weil durch die große Vielfalt der Schülerschaft jede Lehrkraft einen eigenen pädagogischen Bereich für sich alleine repräsentierte. Im Jahr 1991 erfolgte erneut ein Wechsel in der Schulleitung, nachdem Herr Schneider in Pension gegangen war. Die neue Schulleiterin, Frau Wacker, machte nach 1992 die schulinternen Fortbildungen zum Schwerpunkt der Schulentwicklung. Erste gruppenübergreifende Konzeptbildungen entstanden in der Grundstufe, als nach 1996 Frau Lüders und Frau Schäfers-Ungruhe das Konzept des Entwicklungspädagogischen Unterrichts (EPU, nach M. Bergssohn, Essen) auf die Verhältnisse in unserer Schulform abwandelten und adaptierten. Die Grundlagen dieses Konzeptes, die auf verhaltenstherapeutische Prinzipien zurückgehen und daher gut mit den vorgefundenen Störungsbildern korrespondieren, bilden auch heute noch die Basis für die Unterrichtsstrukturen in der Grundstufe. Gegenwärtig wird es im Rahmen der Schulprogrammarbeit in allen Schulstufen erprobt und weiter ausgebaut. Das Unterrichtsangebot, das die Schule den Patienten der Klinik machen konnte, differenzierte sich nach 1987 immer mehr aus. Zwei weitere Lerngruppen wurden gebildet. Auch Fachunterricht konnte für die Schüler der höheren Klassenstufen zunehmend durch Fachlehrer, auch aus dem Gymnasium, kompetent angeboten werden, indem z. B. Fächer wie Latein, Französisch, Mathematik der Oberstufe von Lehrkräften benachbarter Gymnasien in stundenweiser Abordnung erteilt wurden.
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Die Klinikschule
Der kreativ-musische Bereich wurde stärker berücksichtigt, die Klassenräume und Flure durch Schülerarbeiten verschönert und gestaltet. All das erforderte die Ausweitung der Unterrichtszeiten, einen komplexen Stundenplan und viel Flexibilität in der Unterrichtsorganisation, sowie eine zunehmende Verzahnung mit der Planung der Stationsabläufe. Es wurde versucht, wenigstens so weit wie möglich ein »Schulleben« zu gestalten durch jahreszeitliche Feiern und Veranstaltungen, Projektwochen, altersübergreifende Arbeitsgemeinschaften. Die Kooperation der Lehrkräfte untereinander nahm ständig zu und es entwickelten sich immer mehr inhaltlich-pädagogische Diskussionen in der Konferenzarbeit und bei den internen Fortbildungen des gesamten Kollegiums, die nun regelmäßig ein- bis zweimal jährlich stattfanden. In den Jahren 1999 bis 2003 erfolgten gravierende äußerliche Veränderungen: 1999 wird die räumliche Erweiterung der Schule durch einen Neubau beschlossen. 2000 tritt Frau Wacker aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig ihren Ruhestand an und Herr Sachse leitet die Schule wieder stellvertretend, bis er selbst nach dem Auswahlverfahren 2002 zum Schulleiter ernannt wird. Ebenfalls 2002 erfolgt der Umzug in die neuen Räumlichkeiten. Die frei gewordene Konrektorenstelle wird 2003 durch Herrn Benthin neu besetzt. Im Kollegium herrscht eine recht große Fluktuation durch Pensionierungen und Ausversetzungen. Die inzwischen etablierten Strukturen der pädagogischen Arbeit, sowohl nach innen wie auch in der Einbettung in der Klinik, als auch nach außen mit den Heimatschulen, stellten die Kontinuität der schulischen Arbeit in dieser Zeit des Umbruchs sicher. In den Jahren 2002 bis 2008 steht die innerschulische Weiterentwicklung durch Schulprogrammarbeit und die allgemeine Schulgesetzgebung und Schulreform im Vordergrund. Schlüsselbegriffe hierbei sind: Entwicklungspädagogischer Unterricht, Methodentraining, Leseförderung, zentrale Schulabschlüsse, Bildungsstandards, Personalentwicklung, Fortbildungsplanung u.v.m. 2004 fand die erste Katamnese (Fremdevaluation) statt, bei der die Heimatschulen aller Schüler eines Jahres nach dem Erfolg des Unterrichts in der Klinik befragt wurden. Seit Beginn des Schuljahres 2007/2008 sind altersstufenbezogene Lehrerteams gebildet, die ihren Unterricht gemeinsam evaluieren und methodisch und didaktisch weiterentwickeln. Die Schulaufsicht nahm sich des Problems, geeignete und an der speziellen Arbeit der Schule für Kranke interessierte Lehrkräfte zu finden, nach 1987 intensiver an. Aufgrund vorangegangener leidiger Erfahrungen wurde mit der damals neu für uns zuständigen Schulamtsdirektorin, Frau U. Tänzler, verein-
Die Ausgestaltungsphase
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bart, neue Lehrkräfte zunächst an die Schule abzuordnen und erst nach einer gewissen Frist (Probezeit) fest an die Schule zu versetzen. In den folgenden Jahren entwickelte sich eine vertrauensvolle und enge Kooperation mit dem Schulamt bei der Stellenbesetzung und auch, wenn es um Schullaufbahnentscheidungen bezüglich erkrankter Schüler ging. Hier arbeitete die Schule für Kranke zunehmend dem Staatlichen Schulamt zu, wenn es galt, zwischen Eltern und Klinik einerseits und den Heimatschulen und Schulbehörden auf der anderen Seite zu vermitteln. Es wurden Verfahrensweisen entwickelt, die bei schwierigen Schulfragen zu raschen und nachhaltigen Entscheidungen führen. Weiterhin unterstützte das Schulamt die neue Schulleitung auch gegenüber der Klinikverwaltung durch Teilnahme an gemeinsamen Gesprächen mit den Klinikleitungen und dem Verwaltungsdirektor, denn hier lagen anfangs die größten Probleme der neu entstandenen Schule. Nachdem die Schule in den achtziger Jahren bei einer durchschnittlichen Schülerzahl von ca. 60 bis 70 Schülern mit ca. 10 Lehrerstellen personell angemessen ausgestattet worden war, entsprach die räumliche Ausstattung 1990 in keiner Weise den Anforderungen. Die Schulaufsichtsbehörden und das Kultusministerium steckten zwar in Erlassen und Verordnungen den Rahmen der Arbeit ab, die Bereitstellung der Ressourcen hierfür oblag aber dem Schulträger. Die Klinikverwaltung sah sich ihrerseits aber nicht als Schulträger, obgleich sie die Sachmittel für die Schule bereit stellte und verwaltete. Sie lehnte die Verantwortung für die räumliche Erweiterung der Schule ab. Als Kompromiss wurden die bestehenden Schulräume in den 90er Jahren neu ausgestattet und mit modernem Schulmobiliar, technischen Geräten und Lehrmitteln versehen. Ebenso erschwerte die Tatsache, dass die Schule keine Schulsekretärin hatte, die Arbeit der Schulleitung zunehmend. Der täglich zu erledigende Verwaltungsaufwand war bei der gestiegenen Schülerzahl und der ständigen Fluktuation stark angewachsen und band einen erheblichen Teil der Arbeitskraft der Schulleitung. Auch dieses Problem erwies sich über die gesamten neunziger Jahre hinweg als Dauerbrenner in der Diskussion der Schulleitung mit der Klinikumsverwaltung. Erst ein Erlass des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst an das Klinikum schaffte hier den Durchbruch für die Schule, und im Jahr 2000 nahm die erste Schulsekretärin, Frau Schneider, ihren Dienst in der Schule auf. Zum Januar 2006 wurde das Klinikum vom Land Hessen an die Rhön-Klinikum AG verkauft, mit ihm auch alle Schulräume und alles Inventar. Der neue private Eigentümer konnte nicht Schulträger werden. Das Land Hessen suchte seitdem einen neuen Schulträger für die Schule, der LWV kam ins Gespräch und nahm mit dem Land Verhandlungen auf.
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Die Klinikschule
Die Rhön-Klinikum AG verwaltete zwischenzeitlich die Mittel der Schule weiter, lehnte aber kategorisch weitere notwendige Investitionen ab. Im April 2008 wurde in einem Grundsatzgespräch vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst die Schulträgerschaft des Landes Hessen bestätigt. Das Land, vertreten durch das Ministerium, soll Schulträger bleiben, die Mittel sollen durch das private Rhön-Klinikum bewirtschaftet werden.
5.2.2 Die Entwicklung der Raumsituation Bei der Gründung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1958 waren zwei Räume für die Schule vorgesehen. Als die dritte Lehrkraft ihren Dienst antrat, durfte die Schule vor Beginn der Vorlesungen auch den damaligen Hörsaal nutzen. Schon zu Beginn der sechziger Jahre wies Herr Metzker auf die Raumnot der Schule hin und forderte eine grundlegende Regelung. Mit jeder weiteren Lehrkraft, die hinzukam, verschärfte sich das Problem. Es wurden jeweils provisorische Lösungen gefunden, die Klinik trat aus ihrem Bestand zusätzliche Räume an die Schule ab, es wurden Räume doppelt genutzt. Diese Räumlichkeiten waren weder für Schulunterricht konzipiert, noch für individualisierten und binnendifferenzierten Unterricht geeignet, da zu klein, zu dunkel und in der ganzen Klinik verteilt. Als Anfang der achtziger Jahre die Tagesklinik geplant und gebaut wurde, geschah dies nicht unter Einbeziehung der Schule. So wurde zwar ein heller und ansprechender Schulraum für die Versorgung der Patienten mit Schulunterricht vorgesehen, aber bei der Anzahl von 12 Plätzen und der Altersstruktur von sieben bis 18 Jahren war von vornherein abzusehen, dass bei den damals schon geltenden Richtwerten ein einziger Schulraum nicht ausreichen konnte! Ebenso geschah es bei der Planung und Realisierung des Klinikneubaues auf den Lahnbergen Anfang der 80er Jahre. Über die weitere räumliche Entwicklung im Klinikum Lahnberge wird hier aus Platzgründen nicht berichtet, es sei nur erwähnt, dass sie ebenfalls sehr unbefriedigend verlief. In den achtziger Jahren explodierte die Schule, was die Anzahl der Lehrkräfte und daraus resultierend das Unterrichtsangebot anbelangte. Geeignete Schulräume standen nicht annähernd ausreichend zur Verfügung, wie es eine Fotodokumentation der Schule im Juni1991 belegte. Hatten die Schulleitungen bis dahin versucht, klinikinterne Lösungen in Verhandlungen mit den Klinikleitern, Herrn Prof. Dr. Stutte und Herrn Prof. Dr. Dr. Remschmidt und der Klinikumsverwaltung zu finden, so schaltete die neue Schulleitung nach 1989 die Schulbehörde ein. Ab 1992 machte die neue Schulleiterin, Frau Wacker, u. a. die Raumfrage zu ihrem Arbeitsschwerpunkt. 1994
Die Ausgestaltungsphase
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reagierte das Kultusministerium. Nach einer Begehung der Schule und einer anschließenden Konferenz mit Klinikleitung und Klinikumsverwaltung wurde der Raumbedarf der Schule mit einer Mindestnutzfläche von 580 qm (Abt. Ortenberg) in einem detaillierten Raumplan schulfachlich festgelegt. Allein das Klinikum seinerseits erklärte sich nach wie vor nicht für zuständig und ignorierte die Forderungen der Schule und der Schulaufsicht nach räumlicher Erweiterung hartnäckig. In dieser Situation gründete sich 1996 der Förderverein der Schule, um an die Öffentlichkeit zu gehen und gleichzeitig alle heimischen Parlamentsabgeordneten in verantwortlicher Position einzubeziehen. 1997 feierte die Schule ihr 20-jähriges Jubiläum mit einer großen Schulfeier und einem wissenschaftlichen Symposium. Auch dieser Anlass wurde genutzt, um öffentlich auf das Raumproblem aufmerksam zu machen, unterstützt durch die persönliche Anwesenheit von Herrn Kultusminister Holzapfel. Diese Anstrengungen führten dazu, dass 1999 das Landesparlament einen eigenen Haushaltstitel zur räumlichen Erweiterung der Schule für Kranke im Landeshaushalt 2000 und 2001 verabschiedete, begrenzt auf 1,2 Mio DM. Auf dem ungenutzten Flachdach der ehemaligen Küche des Zentrums für Nervenheilkunde entstanden somit, durch Aufstockung in Leichtbauweise, Schul- und Verwaltungsräume, die zusammen mit den bereits von der Schule genutzten Räumen in der Klinik annähernd dem schulfachlich festgestellten Raumbedarf entsprachen. Zum Umzugstermin meldete Herr Prof. Dr. Dr. Remschmidt dann aber einige Schulräume in der Klinik wieder als dringenden Bedarf der Klinik an und die Schule musste drei Unterrichtsräume an die Klinik abtreten. So bezog die Schule im Jahr 2002 einen Schulneubau mit drei Klassen-, zwei Funktions- und zwei Verwaltungsräumen, verlor aber gleichzeitig wieder drei Klassenräume und verfügt, trotz weiter gestiegener Schülerzahl, nur über ca. 480 qm Nutzfläche. 2006 übernimmt die Rhön-Klinikum AG als neuer privater Träger des Universitätsklinikums auch die Schulräume. Der bestehende Status wird festgeschrieben. Bei weiter steigenden Schülerzahlen fehlen 2007 wieder mindestens zwei Räume, und 2008 besteht weiterhin eine Raumnot an der Schule.
5.2.3 Chronologische Übersicht 1987 bis 2008 1991 1992
Herr Schneider geht in Pension und wird mit einem Festakt von Lehrern und Schülern verabschiedet. Herr Sachse leitet die Schule kommissarisch. Frau Wacker wird zur Sonderschulrektorin ernannt und mit einem großen Schulfest begrüßt.
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Die Klinikschule
1994
In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Wirken Hermann Stuttes im Dritten Reich wird auch erwähnt, dass die Schule nach ihm benannt ist. Um sie aus der »Schusslinie« zu nehmen, entzieht seine Witwe der Schule den Namen. Sie heißt seitdem wieder : »Schule für Kranke des Landes Hessen am Klinikum der Philipps-Universität«. Verabschiedung des Raumplanes für die Schule durch das Kultusministerium. Gründung des »Förder- und Freundeskreises der Schule für Kranke«. Die Schule feiert ihr 20jähriges Bestehen mit einem Festakt und einem wissenschaftlichen Symposium, unter Teilnahme des Kultusministers Herrn Holzapfel. Eigener Titel im Landeshaushalt zur Errichtung eines Schulneubaues. Die Schulleiterin, Frau Wacker, wird aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Herr Sachse leitet die Schule kommissarisch als stellvertretender Schulleiter. Im November erhält die Schule eine halbe Stelle für eine Schulsekretärin. Frau Schneider tritt als erste Schulsekretärin ihren Dienst an. Im Dezember verabschiedet die Schule Frau Wacker/Rüffer mit einem Festakt und einer Schülerdarbietung Beginn der konkreten Bauphase der Schulerweiterung. Nach größerer Fluktuation im Kollegium in den vergangenen Jahren wegen Erkrankungen und Versetzungen werden zum Schuljahresbeginn 2001/2002 drei Kolleginnen/Kollegen neu eingestellt (zwei Stellen) damit wächst das Kollegium auf 14 Lehrkräfte an. Januar; Umzug der Schule in die neuen Räumlichkeiten. Drei bisherige Klassenräume werden an die Klinik zurückgegeben. März; Einweihungsfeier der neuen (Teil) Schule. Herr Sachse wird zum Schulleiter ernannt. Herr Benthin wird Konrektor. Das Universitätsklinikum wird privatisiert. Damit wird unklar, wie die Schulträgerschaft des Landes Hessen umgesetzt werden kann. Es wird ein neuer Schulträger gesucht, der LWV bekundet sein Interesse. Die erste Schulsekretärin, Frau Schneider, geht in den vorzeitigen Ruhestand, Frau Striepecke wird einversetzt. Die Sekretärin, Frau Striepecke, wird kurzfristig durch die Klinikleitung abgezogen. Erst nach scharfem Protest durch Herrn Sachse stellt das Klinikum eine neue Sekretärin im Mai ein, durch Umsetzung von Frau Teichmann aus der Erziehungsberatungsstelle. Die Rhön-Klinikum AG verweigert in einem Gespräch durch den kaufmännischen Direktor, Herrn Dr. Mein, weitere Investitionen für die Schule. Die Schulträgerschaft bleibt beim Land Hessen, wahrgenommen durch das Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Die Mittel sollen durch das Rhön-Klinikum bewirtschaftet werden.
1994 1996 1997 1999 2000
2001
2002
2003 2006
2007
2008
Entwicklung der Schülerzahlen
5.3
Entwicklung der Schülerzahlen
5.3.1 1959 bis 1987
Abb. 5.1: Aus der Chronik von Herrn Metzker, 1986
305
306
Die Klinikschule
5.3.2 Entwicklung der Schülerzahlen von 1986 bis 2007 85 80 75 70 65
20 06
20 04
20 02
20 00
19 98
19 96
19 94
19 92
19 90
19 88
19 86
60
Abb. 5.2: Schülerzahlen im Zeitraum von 1986 und 2017
Lagen die Zahlen vor 1987 zwischen 60 und 70 Schülern, die durchschnittlich täglich unterrichtet wurden, so sind deutlich zwei Anstiege zu erkennen: nach 1988 bis etwa 1999 auf 75 und nach 2004 auf 80. Die Trendlinie zeigt deutlich eine Zunahme. Dargestellt sind die Zahlen der jährlichen amtlichen Schulstatistik für die gesamte Schule, also inklusive aller Nebenstellen. Es sind Stichtagswerte jeweils im Oktober erhoben. Die Zahlen nur für die Abteilung KJP-Ortenberg wurden nicht mehr getrennt erfasst. Wegen der Verkürzung der Liegezeiten in den somatischen Kinderstationen ist die Schülerzahl in dieser Abteilung eher rückläufig. Demgegenüber beobachten wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen deutlichen Anstieg der Schülerzahlen, trotz gleich gebliebener Bettenzahl. Wir führen das auf eine Verschiebung bei den Anteilen der Krankheitsbilder zurück. Offenbar wird der Anteil der Patienten weniger, die wegen der Art und Schwere ihrer Störung die Schule nicht besuchen können, während für immer mehr Patienten der Schulbesuch eine immer wichtigere Rolle spielt. Entsprechend erhöhte sich der Umfang der Planstellen wie folgt: Jahr Stellen
1986 9,5
1990 10,5
1994 11,3
1998 12,8
2000 13,4
2003 13,9
2007 13,4
307
Lehrkräfte der Schule
5.4
Lehrkräfte der Schule
Tab. 5.1: Ehemalige Lehrkräfte mit fester Planstelle (nach Einstellungsdatum) Name
Vorname
Lehramt
von
bis
1. 2.
Mohr Schultheis
Heinz Josef
Sonderschule Sonderschule
1958 1958
1964 1963
3. 4.
Metzker Trautz
Helmut Reinhild
Sonderschulrektor Sonderschule
1963 1964
1986 1965
5. 6.
Kirchner Foitzik
Dorothea Norbert
Sonderschule Sonderschule
1966 1967
1989 1973
7. 8.
Stein Schneider
Wolfgang Jakob
Sonderschule Sonderschulrektor
1972 1973
1988 1991
9. 10.
Paling (Rupp) Zaiss
Gabriele Ursula
Sonderschule R.a.A. Sonderschule
1979 1982
2007 1996
11. 12.
Schäfers-Ungruhe Hagemann
Petra Norwin
Sonderschule Realschule
1985 1985
1998 1994
13. 14.
Horlbog Homann
Irmgard Karl
Realschule Realschule
1985 1986
1985 1988
15. 16.
Rose Petrich (Deppe)
Alfred Dagmar
Sonderschule Sonderschule
1986 1989
2007 2004
17. 18.
Pohlen Wacker (Rüffer)
Brigitte Astrid
Sonderschule Sonderschulrektorin
1990 1992
2005 2000
Tab. 5.2: Im Jahr 2008 Aktive Lehrkräfte Name
Vorname
Lehramt
Status
Eintritt
1.
Atts
Irmgard
Studienrätin
Teilabordnung
01. 08. 1994
2.
Auernheimer
Elisabeth
Förderschullehrerin
Planstelle
3.
Benthin
Peter
Förderschulkonrektor
Planstelle
4.
Höbel
Markus
Gymnasium
Planstelle
5.
Huber
Birgit
Förderschule
Planstelle
6.
Kleim
Helmut
Förderschule
Planstelle
7.
Lahham
Birgitt
Gymnasium
Planstelle
01. 08. 2000 06. 08. 2001 15. 01. 2001 01. 08. 2004 01. 08. 2000 01. 08. 2007
308
Die Klinikschule
((Fortsetzung)) Name
Vorname
Lehramt
Status
Eintritt
8.
Lüders
Barbara
Förderschule
Abordnung
01. 02. 1989
9.
Mommertz
Ursula
Förderschule/ Gymn.
Planstelle
10.
Müller
Annette
Förderschule
Planstelle
11.
Sachse
Edgar
Sonderschulrektor
Planstelle
12.
Schneider
Ulrich
Grundschule
Angestellt
13.
SchröderJeide
Wilma
Haupt- und Realschule
Planstelle
14.
Schüßler
Matthias
Förderschule
Planstelle
15.
Stey
Sabine
Gymnasium
Teilabordnung
16.
Thiel
Dominique
Gymnasium
Angestellt
17.
Vehlies
Klaudia
Gymnasium
Abgeordnet
18.
Vogelgesang
Barbara
Gymnasium
Abgeordnet
19.
Wüst
Cathrin
Förderschule
Planstelle
05. 02. 2001 01. 08. 1993 01. 02. 1987 01. 09. 2003 01. 08. 1983 16. 04. 2007 25. 08. 2004 15. 08. 2007 15. 01. 2001 15. 11. 1986 01. 08. 2002
Tab. 5.3: Ehemalige Vertretungskräfte und Teilabgeordnete Fachlehrkräfte Name
Vorname
Lehramt
Status
Bauer
Wilfried
BeerstecherKotouc
Ulrike
Förderschule
Abgeordnet
Chee
HansMartin
Gymnasium
Vertretung Erziehungsurlaub
Damm
Marion
Ferdinand
Elisabeth
Gymnasium
Fischer
Volker
Gymnasium
Gerlach
Gisela
Teilabordnung
Teilabordnung Vertretung Teilabordnung
Eintritt Austritt 01. 02. 1986
31. 07. 1986
01. 08. 1991 16. 01. 1989
31. 07. 1992 18. 01. 1990
01. 08. 1985 1995
31. 01. 1986 1996
1991 21. 08. 1995
1992 31. 07. 1996
309
Die Schulleiter
((Fortsetzung)) Name
Vorname
Lehramt
Status
Groth
Claudia
Lüdemann
Carola
Förderschule
Vertretung
Marx
Sandra
Förderschule
Vertretung
Nieder
Manuela
Grundschule
Vertretung
Petz
Dorothee
Studienrätin
Teilabordnung
PieperGehling
Heidemarie
Grundschule
Vertretung
Rabe
Veronika
Gymnasium
befr. angestellt
Sartor
Antje
Grundschullehrerin
Abordnung
Wahlen
Rosemarie
Gymnasium
Teilabordnung
Waldhauser
Walter
Haupt- und Realschule
Teilabordnung
Weitz
Elke
Ziesske
Regina
Abordnung
5.5
Die Schulleiter
1.
Heinz Mohr (1958 bis 1964)
Nebenberuf. Tätigkeit
Eintritt Austritt 01. 08. 1999
31. 07. 2000
01. 08. 2004 16. 08. 1999
22. 07. 2005 21. 06. 2000
01. 08. 2007 30. 08. 1989
20. 03. 2008 31. 01. 1990
01. 08. 2003 21. 09. 1994
16. 07. 2004 21. 12. 1994
01. 02. 1994 01. 08. 1994 01. 08. 1993 07. 05. 1986
05. 09. 2005 31. 07. 1998 25. 06. 1986
06. 09. 1993
1994
Dieser war früher Hilfsschullehrer und absolvierte den ersten Sprachheillehrerlehrgang in Marburg. Er übernahm in den ersten Jahren, als es nur zwei Lehrer gab, die Erledigung der Verwaltungsaufgaben. Herr Mohr verließ die Sonderschulklassen 1964 und wurde Schulleiter der Heimsonderschule Friedenshütten. Herr Mohr verstarb 1980 an Krebs.
310
2.
Die Klinikschule
Helmut Metzker (1964 bis 1986)
1939 Abitur, danach Arbeitsdienst. Nach dem Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft ab 1946 Lehrerausbildung in Jugenheim, dann 1947 applizierter Lehrer an einer einklassigen Volksschule in Böllstein, Odenwald. 1951 zweite Staatsprüfung zum Volksschullehrer ; 1952 bis 1956 Volksschullehrer in Höllerbach/Odenw.; 1956 bis 1963 Lehrer an der Heimsonderschule der Anstalten Hephata in Treysa; 1957 bis 1959 Studium an den ersten Lehrgängen zur Ausbildung von Sonderschullehrern in Marburg, 1959 Staatsprüfung für das Lehramt an Schuleinrichtungen für sprachgestörte Kinder. Ab 1963 an den Sonderschulklassen der Klinik. Wurde 1978 erster Schulleiter der neu gegründeten Schule für Kranke. Herr Metzker setzte sich insbesondere ein für die Benennung der Schule nach Herrn Prof. Stutte. Seit 1964 war er Mentor für Praktikanten des Instituts für Sonderpädagogik der Universität Marburg und engagierter Mitarbeiter bei der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik. Er entwickelte zahlreiche sprachheilpädagogische Diagnoseverfahren, u. a. den nach ihm benannten Stammlerprüfbogen und veröffentlichte umfangreiche Unterrichtsmaterialien zur Lese- und Schreibförderung. 1986 wurde er regulär pensioniert und lebte seitdem im Schwarzwald. Er starb am 31. 10. 2009.
Die Schulleiter
3.
311
Jacob Schneider (1986 bis 1990)
Abitur 1950 in Bonn; absolvierte die Lehrerausbildung an der pädagogischen Akademie in Bonn, erste Staatsprüfung 1952, und die praktische Phase in Gevelsberg. Sattelte dann um und studierte von 1954 bis 1959 Philosophie und Theologie in Paderborn und Tübingen. Er schlug die Laufbahn als katholischer Seelsorger ein und war von 1959 bis 1965 Kaplan in Duisburg und Meinerzhagen (Bistum Essen). 1965 nahm er wieder die Lehrerlaufbahn auf und unterrichtete bis 1970 in Weilbach im Main-Taunus Kreis, wo er auch 1968 die zweite Staatsprüfung für das Lehramt als Grund-, Haupt- und Realschullehrer ablegte. Ab 1970 absolvierte er das Aufbaustudium der Sonderschulpädagogik in Marburg, das er 1972 mit der Staatsprüfung für das Lehramt an Sonderschulen, Fachrichtung Sprachbehinderte, abschloss. Danach nahm er den Schuldienst wieder auf in Abordnung an die Kreissonderschule für Lernbehinderte in Bad Soden/Taunus. Ein Jahr später, zum 01. 02. 1973, bekam er als dritte Lehrkraft eine Stelle an den Sonderschulklassen der KJP in Marburg und 1986 übernahm er kommissarisch die Schulleitung in Nachfolge von Herrn Metzker. Herr Schneider kannte die Schule noch in der ursprünglichen Form als Sonderschulklassen mit nur drei Lehrerstellen und führte die Schule in seiner Amtszeit als Schulleiter zu der gegliederten Form. Dabei gelang es ihm, durch seinen ruhigen und menschenfreundlichen Führungsstil die neu hinzugekommenen Lehrkräfte zu integrieren und ein erstes Selbstverständnis als eigenständige »Schule« zu entwickeln. Er ging 1990 regulär in den Ruhestand.
312
4.
Die Klinikschule
Astrid Wacker (1991 bis 2000)
Nach dem Abitur 1962 in Dillenburg Lehrerstudium in Gießen und Berlin. Erste Staatsprüfung 1965 für das Lehramt an Volks- und Realschulen. 1965 bis 1968 Schuldienst an der Grundschule in Haiger, 1968 Zweite Staatsprüfung. Ab 1971 Sonderschulstudium in Marburg, Fachrichtung Lernbehinderte. 1974 Staatsprüfung für das Lehramt an Sonderschulen. Am gleichen Tag trat sie eine Planstelle als Sonderschullehrerin an der Sonderschulabteilung der Gesamtschule Kirchhain an. 1976 bis 1979 berufsbegleitende Fortbildung in analytischer familien- und Sozialtherapie am Psychoanalytischen Institut in Gießen. Seit 1979 übernahm sie diverse Lehraufträge am Erziehungswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Marburg. Ab 1991 Schulleiterin. Sie setzte sich mit all ihren Kräften für die Verbesserung der Raumsituation der Schule ein und legte besonderen Wert auf die Ausgestaltung des Schullebens, mit jahreszeitlichen Feiern und musischen Veranstaltungen. Auch organisierte sie ein wissenschaftliches Symposium zum 20-jährigen Bestehen der Schule. Im Jahr 2000 musste sie aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gehen.
Die Schulleiter
5.
313
Edgar Sachse (seit 1987 Konrektor, seit 2001 Schulleiter)
1971 Abitur in Wiesbaden, nach Zivildienst grundständiges Studium der Sonderschulpädagogik in Frankfurt/Main und Marburg, Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik. Erste Staatsprüfung 1978, danach Referendariat an der Burgbergschule Dautphetal, Schule für Lernbehinderte. Zweite Staatsprüfung 1980, ab 15. 9. 1980 Sonderschullehrerstelle an der Grundschule Norderney. Dort Tätigkeit als Klassenlehrer in der Lernbehinderten-Klasse, Entwicklung und Durchführung einer Überprüfung aller Schulanfänger in der Vorschulzeit auf Risiken für das Erlernen der Schriftsprache (Früherkennung) und Durchführung präventiver Förderung, in integrierter Kooperation von Vorschule, Grundschule und Sonderschule. 1983 Aufbau und Begründung des Krankenhausunterrichts an der Kinderabteilung der Allergie und Hautklinik. Ab 1987 Konrektor an der Schule für Kranke in Marburg. Nach 1989 Planung und Leitung von regionalen Lehrerfortbildungsveranstaltungen für Lehrer an Schulen für Kranke beim Hessischen Institut für Lehrerfortbildung. Schuljahr 1990/1991 kommissarische Leitung der Schule nach Pensionierung von Herrn Schneider, 1992 bis 1999 Schwerpunkt Kinderklinik, Entwicklung der Heimatschulbesuche in der Kinderklinik, Unterricht an der Dialyse, Einführung von Mitarbeiterbesprechungen, Integration der Lehrer ins psychosoziale Team der Kinderklinik. 2000 bis 2001 wieder kommissarische Schulleitung nach Pensionierung von Frau Wacker, ab 2001 Schulleiter. Von 2001 bis 2014 Koordination des ständigen Arbeitskreises der Schulleiter an Schulen für Kranke in Hessen. Im Jahr 2014 wurde er pensioniert.
314
5.6
Die Klinikschule
Zusammenfassung
Von Anfang an war durch Hermann Stutte bei der Planung der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie die Einrichtung einer Schule vorgesehen, die mit der Anstellung zweier Lehrer begann und zunächst die Bezeichnung »Sonderschulklassen an der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung der Universität« trug. Die notwendige Weiterentwicklung der Schule, sowohl, was die räumliche Struktur als auch das Personal betraf, durchlief zahlreiche Schwierigkeiten. Ein großes Problem war die Schulträgerschaft. Erst zum Schuljahr 1976/77 erhielt die Schule den Status einer eigenständigen »Schule für Kranke«. In den Jahren zwischen 1976 und 1984 konnte die Schule für Kranke personell und räumlich erweitert werden. Sie erhielt 1985 auf Antrag des Kollegiums den Namen »Hermann Stutte-Schule«. Aufgrund der in der Oberhessischen Presse veröffentlichten Angriffe auf Prof. Stutte entzog seine Witwe, Frau Dr. MarieLuise Stutte, der Schule diesen Namen. Im Jahr 2008 wurden schließlich festgestellt, dass das Ministerium für Wissenschaft und Kunst die Schulträgerschaft übernimmt, während die Mittelausstattung durch das private Rhön-Klinikum sichergestellt werden sollte. Im Jahr 2002 konnte die Schule einen Neubau beziehen und verfügte nunmehr über eine Nutzfläche von 480 m2.
6.
Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims
6.1 Gründung der Lebenshilfe 6.1.1 Jubiläum aus Anlass des 10-jährigen Bestehens der »Lebenshilfe für geistig Behinderte« 6.1.2 Zur Stigmatisierungsfrage 6.1.3 Eröffnung der Bundeszentrale der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Marburg am 27. 09. 1974 6.1.4 Kooperation zwischen Universitätsklinik und Lebenshilfe 6.2 Kerstin-Heim 6.2.1 Initiative im Marburger Raum 6.2.2 Entstehungsgeschichte des Kerstin-Heims 6.2.3 20-jähriges Jubiläum und Weiterentwicklung 6.3 Zusammenfassung
Die Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims werden in diesem Kapitel gemeinsam behandelt, da sie aus derselben Initiative hervorgingen und von denselben Personen in Angriff genommen wurden.
6.1
Gründung der Lebenshilfe
Die Gründung der Lebenshilfe geht auf eine Initiative von Tom Mutters (1917– 2016) zurück. Sie kann als Antwort verstanden werden auf die ideologische Verblendung des Nationalsozialismus, in deren Rahmen mindestens 5.000 Kinder, die in sogenannten Kinderabteilungen untergebracht waren, getötet wurden. Unter ihnen befanden sich viele geistig behinderte und psychisch kranke Kinder, die der sogenannten Kindereuthanasie anheim fielen. Der niederländische Pädagoge Tom Mutters hatte 1952 als Verbindungsoffizier der Vereinten Nationen für Kriegsverschleppte (displaced persons) die Betreuung von rund 50 Flüchtlingskindern mit geistiger Behinderung in dem dortigen Philipps-Hospital übernommen: »Unter ihnen waren auch jüdische Mädchen und Jungen, deren Eltern nach ihrer Befreiung aus Konzentrationslagern emi-
316
Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims
griert waren. Sie hatten ihre Kinder zurückgelassen. In Goddelau herrschten schwierigste Verhältnisse. Tom Mutters bot sich ein jämmerliches Bild: Kinder in Holzbettchen, zum Teil mit festgebundenen Händen, die in einem nach Exkrementen riechenden Raum an die Decke starrten und vor sich hin vegetierten. Mutters war erschüttert und beschloss, die schlimmen Zustände zu verbessern«. (50 Jahre Lebenshilfe, Broschüre, 2008, S.14). Von entscheidender Bedeutung für die Gründung der Lebenshilfe waren die Eltern. Als Tom Mutters im Jahr 1958 in der Zeitschrift »Unsere Jugend« einen Artikel zum Thema »Das geistig behinderte Kind in der heutigen Gesellschaft« veröffentlichte, nahm der Bonner Amtsgerichtsrat Bert Heinen, der selbst Vater eines behinderten Kindes war, Kontakt mit ihm auf. Er sollte später als Vorstandsmitglied der Lebenshilfe angehören. Tom Mutters wandte sich in der Folge an die Marburger Professoren Villinger und Stutte, es meldeten sich Eltern behinderter Kinder und gesellten sich hinzu. So entstand unter der Führung von Tom Mutters eine »lokale Bewegung«, die sich rasch ausweitete und einen Zusammenschluss von Eltern und Fachleuten sinnvoll erscheinen ließ. Nach verschiedenen Beratungen, insbesondere zwischen Tom Mutters und Professor Stutte, kam es schließlich zur Gründungsversammlung der »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« am 23. 11. 1958 in der Bibliothek der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg. Im Bericht über diese Versammlung führte der zum Geschäftsführer gewählte Tom Mutters im Rechenschaftsbericht 1959/1960 im Juni 1960 Folgendes aus: »An diesem Tage traf sich in der Bibliothek der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Marburg/Lahn ein Kreis von 15 Personen aus der Elternschaft und Fachwelt, um in Nachfolge ähnlicher Bestrebungen in vielen anderen Ländern die Notwendigkeit der Gründung einer deutschen Vereinigung von Eltern und Freunden geistig Behinderter zu diskutieren. Über das Programm einer solchen Vereinigung, das den Teilnehmern bereits vorher schriftlich bekannt gegeben worden war, bestand volle Einmütigkeit. Es fand seinen Niederschlag in der von den Herren Professor Stutte und Mutters entworfenen Vereinssatzung, die bei der zweiten Zusammenkunft am 18. 1. 1959 in Marburg/Lahn endgültig abgefasst und zur Anmeldung dem Vereinsregister Bonn vorgelegt werden konnte. Der zuvor genannte Kreis, in Zukunft als »Gründungskreis« bezeichnet, beschloss am 23. November 1958 die Vereinsgründung und wählte als erste Vorstandsmitglieder die Herren Prof. Richard Mittermaier als ersten Vorsitzenden, Amtsgerichtsrat Bert Heinen als zweiten Vorsitzenden und Tom Mutters als Geschäftsführer. Als erste Mitglieder des zu errichtenden wissenschaftlichen Beirats wurden die Herren Prof. Villinger, Prof. Stutte und Dr. Schade gewählt. Der wissenschaftliche Beirat sollte im Laufe der Zeit mit namhaften Vertretern anderer Disziplinen, die sich mit der vielfältigen Problematik der Geistesschwäche beschäftigen, ergänzt werden»365. 365 Protokoll aus dem Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 Marburg.
Gründung der Lebenshilfe
317
Die 15 Gründungsmitglieder waren: Prof. Berendes und Ehefrau (Marburg), Frau Emilie Neumann (Wetzlar), Ministerialdirektor Dr. Halank (Bad Homburg), Amtsgerichtsrat Bert Heinen und Ehefrau (Bonn), Frau Ella Gräfin Ignatiev (Bad Homburg), Professor Mittermaier und Ehefrau (Marburg), Gerda Mittermaier (Studentin, Bad Homburg), Dr. Schütz und Ehefrau (Rodenkirchen bei Köln), Prof. Stutte (Marburg), Prof. Villinger (Marburg) und Tom Mutters. Zur Namensgebung wird in der Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum der Lebenshilfe Folgendes ausgeführt: »Der Name sollte allgemeinverständlich sein und zu den Zielen des Vereins passen.« Wegen der Werbekraft, aber auch, weil es 1958 fast nur geistig behinderte Kinder gab, entschieden sich die Gründer für den Zusatz »für das geistig behinderte Kind«. Doch sollte der Name auch zeigen, dass sich die Hilfe nicht nur auf Kinder beschränkte, sondern allen Menschen mit geistiger Behinderung zugute kam. Der Name »Lebenshilfe« drückte aus, dass die Hilfe für das ganze Leben gemeint war. Den Ursprungsnamen »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.« behielt der Verein bis zum Jahr 1968, als er sich in »Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V.« umbenannte. Der neue Name betonte, dass die Lebenshilfe sich um Menschen mit geistiger Behinderung aus allen Altersgruppen ein Leben lang kümmert. Nach Einführung des neuen Logos 1995 wurde im Folgejahr der Name erneut geändert. Seitdem heißt der Verein »Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.«. Die Initiativen der Lebenshilfe lösten z. T. aber auch kritische Stellungnahmen aus. Insbesondere entstand zuweilen in den sogenannten »Schwachsinnigen-Anstalten« die Befürchtung, sie könnten angesichts der Ausweitung ambulanter Hilfen überflüssig werden. Jedenfalls wurde ein Aufsatz von Hermann Stutte mit dem Titel »Zeitgemäße Möglichkeiten der Hilfe für geistig Behinderte« (Blätter der Wohlfahrtspflege, 1962) so verstanden, worauf der Leiter der Heil-und Pflegeanstalten Stetten im Remstal, Pfarrer Ludwig Schlaich, mit Datum vom 03. 07. 1962 ein umfangreiches Schreiben an Hermann Stutte sandte, in dem er sich darüber beklagte, dass sich Stutte im o.g. Aufsatz in abwertender Weise über die »Schwachsinnigen-Anstalten« geäußert habe366. Schlaich wies darauf hin, dass man die Arbeit der Anstalten an den Schwachsinnigen nicht allein aus der Sicht der psychiatrischen Krankenanstalten beurteilen dürfe. Man zerstöre durch Angriffe auf die Anstalten, die gute Arbeit leisteten, vor allem das Vertrauen der Eltern. Er kritisiert in dem Brief, dass Stutte die »heilpädagogischen Möglichkeiten« nicht hinreichend anerkannt habe und weist darauf hin, »dass in den holländischen Wohnheimen für geistig Behinderte die Insassen unter einer sehr viel enger beschränkten Freiheit leben als die mittelgradig Schwachsinnigen in unseren Anstalten«. Dieser Hinweis bezieht sich auf In366 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Lebenshilfe, Bd. III.
318
Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims
itiativen des Niederländers Tom Mutters, der Konzepte aus den Niederlanden in die Lebenshilfe einzubeziehen versuchte. Stutte antwortet am 09. 07. 1962 sehr ausführlich auf dieses Schreiben367, zunächst mit dem Hinweis, dass es ihm völlig fern gelegen habe, die Tätigkeit der Anstalten in irgendeiner Weise abzuwerten. Es sei vielmehr sein Anliegen gewesen, »den zweifellos doch eingetretenen Stilwandel in der SchwachsinnigenFürsorge und Schwachsinnigen-Betreuung darzulegen«. Es sei ihm in dem Beitrag, der auf einem Vortrag in Stuttgart beruhe, darauf angekommen, »einen Entwurf der gesamten institutionalisierten Möglichkeiten der Behindertenbetreuung aufzuzeigen und vor allem die organisatorischen, rechtlichen und kooperativen Aufgaben darzulegen«. Im Übrigen werde er, sollten anstaltsfeindliche Tendenzen bei der Lebenshilfe auftreten, diesen entgegentreten. Anmerkung zur Nomenklatur : Aus diesem Schriftwechsel geht hervor, dass, obwohl der Terminus »geistige Behinderung« in der Lebenshilfe dominierte, immer noch von »Schwachsinnigen« und von der »Schwachsinnigen-Fürsorge« gesprochen wurde.
6.1.1 Jubiläum aus Anlass des 10-jährigen Bestehens der »Lebenshilfe für geistig Behinderte« Am 23. 11. 1968 fand aus diesem Anlass eine Festveranstaltung in Würzburg statt. Die Tagung wurde eröffnet durch den Ehrenvorsitzenden Prof. Mittermaier. Es sprachen sodann Mitglieder der bayerischen Staatsregierung, des Bundesministeriums für Jugend und Familie sowie Vertreter der Kirchen und des Rundfunks. Den Festvortrag hielt Prof. Dr. Schomburg, Vorsitzender der Bundesvereinigung Lebenshilfe, zum Thema »Der geistig Behinderte in unserer Mitte – gestern – heute – morgen«. In einem Bericht über die Tagung zieht Hermann Stutte Bilanz über die Entwicklung der Lebenshilfe368 : 1968 bestanden 312 Ortsvereinigungen mit 38.000 Mitgliedern, 19 heilpädagogische Kindergärten, 275 Tagesbildungsstätten, 140 Beschützende Werkstätten und acht Wohnheime für geistig Behinderte. Hauptanliegen der Lebenshilfe sei, »diese (imbezillen) Kinder zu einer optimalen Selbständigkeit zu bringen unter tunlichster Belassung in ihrem natürlichen Bewahrungsgrund, der auch den emotionalen Bedürfnissen dieser Kinder Rechnung trägt. Entwicklung und systematisches Training vorhandener Fähigkeiten i. S. des stetigen, geduldigen und elastischen Konditionierens ist die via regia der Sonderpädagogik imbeziller Kinder, wobei gleichzeitige emotio367 ebenda. 368 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 Lebenshilfe, Bd. IV.
Gründung der Lebenshilfe
319
nale Hilfen erfahrungsgemäß ganz entscheidende Pacemaker im Lernprozess dieser Kinder sind«. »Die realen Erfolge der »Lebenshilfe-Pädagogik« haben die Grenzen der Erziehbarkeit bzw. Förderungsfähigkeit ausgeweitet. Sie haben – auch uns Ärzte – davon zu überzeugen vermocht, dass unter den imbezillen Kindern ein vergleichsweise kleiner Prozentsatz überwiegend pflegerischer Versorgung bedarf, der größere Teil jedoch mit sonderpädagogischen Mitteln noch zu einem (selbstverständlich bescheidenen, aber unter humanitären und sozialpolitischen Aspekten) respektablen Maß an Eigenaktivität, Selbständigkeit, günstigenfalls sogar zu produktiver Leistung gebracht werden kann«. In dem Bericht zum 10-jährigen Jubiläum fordert Stutte die Errichtung eines »Zentralinstituts zur wissenschaftlichen Erforschung der Oligophrenien des Kindesalters«. In den folgenden Jahren entwickelte sich die »Lebenshilfe« rasch zu einer großen Organisation mit Zweigstellen in einer Vielzahl von Städten im gesamten Bereich der Bundesrepublik Deutschland. Diese Entwicklung ist in einer umfangreichen Broschüre aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Lebenshilfe im Jahre 2008 ausführlich dargestellt. Sehr förderlich für die Entwicklung der Lebenshilfe war die Tatsache, dass sich prominente Persönlichkeiten als Vorsitzende der Vereinigung zur Verfügung stellten und damit die Anliegen der Lebenshilfe auch in der Öffentlichkeit sichtbar machten. Zu ihnen gehörten: Prof. Richard Mittermaier, Ordinarius für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (1959–1968), Prof. Eberhard Schomburg, Professor für Heilpädagogik, Präsident des Kinderschutzbundes von 1973–1975 (1968–1975), Professor Ludwig von Manger-Koenig, Staatssekretär a.D. im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (1975–1983), MarieLuise Trappen (1983–1984), Annemarie Griesinger, Ministerin a.D. (1984–1996), Günter Jaspert, Ministerialdirigent a.D. (1996–2000) und Robert Antretter, Bundestagsabgeordneter a.D. (2000 bis 2012) und seit September 2012 Gesundheitsministerin a.D. Ulla Schmidt. Die Tätigkeit von Hermann Stutte im Rahmen der Lebenshilfe war facettenreich und hatte viele positive Auswirkungen. So erfuhren seine Vorträge und Publikationen, die sich mit geistig behinderten Kindern und ihren Familien befassten, großes Interesse bei Eltern und der Öffentlichkeit. Er erhielt zahlreiche Anfragen von ratsuchenden Eltern, die ihre Kinder von ihm untersuchen lassen wollten (was er in sehr vielen Fällen auch getan hat). Akribisch hat er jede Anfrage, meist in sehr persönlicher Weise, beantwortet. Ein großes Echo löste die am 09. November 1962 unter dem Titel »Auch sie gehören zu uns« im Südwestfunk ausgestrahlte Fernsehsendung aus, in der Stutte über Probleme der Versorgung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher sprach. Es erreichten ihn danach eine Vielzahl von Anfragen von Eltern
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mit der Bitte, ihre behinderten Kinder zu untersuchen und ihnen Therapievorschläge zu unterbreiten. Dabei sah er den Schwerpunkt auf heilpädagogischem Sektor. In diesem Sinne schrieb er am 14. 11. 1962369 dem Vater eines Kindes mit einem Down-Syndrom: »Beim kindlichen Mongolismus liegt das Schwergewicht der Behandlungsmöglichkeiten erfahrungsgemäß auf heilpädagogischem Gebiet, d. h. man muss versuchen, die bescheidenen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kinder mittels spezieller Unterrichts- und Lernmethoden auszuschöpfen. Unterstützend können ggf. auch bestimmte Medikamente, insbesondere Vitamine, wirken, die man aber doch tunlichst schon in den ersten zehn Lebensjahren verabfolgen muss«. Über viele Jahre war die Untersuchung, Beratung und Behandlung geistig behinderter Kinder und ihrer Familien ein Schwerpunkt der Tätigkeit von Hermann Stutte. Er hat diesbezüglich insbesondere mit der Psychologin Prof. Hildegard Hetzer, dem Psychologen Prof. Busemann und dem Arzt und Sonderpädagogen Prof. Helmut von Bracken zusammengearbeitet, der die Sonderschulpädagogik in Marburg begründete370. Ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld Hermann Stuttes und seiner Mitarbeiter war die Begutachtung geistig behinderter Opfer nach sexuellem Missbrauch. Sein Mitarbeiter H. Pfeiffer berichtete auf der VI. Tagung der DVJ im Oktober 1959 in Berlin über die Begutachtung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher nach sexuellem Missbrauch, dass bei 22 von 26 Probanden (85 %) aufgrund einer ausführlichen psychologischen und psychiatrischen Untersuchung zu ihrer Glaubwürdigkeit diese als hinlänglich wahrscheinlich angesehen werden konnte371. Wegweisend für die Zusammenarbeit der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Lebenshilfe war die von der Bundesvereinigung Lebenshilfe abgehaltene Tagung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Philipps-Universität am 04. und 05. März 1963. Sie war Fragen der Begutachtung im weitesten Sinne gewidmet und von prominenten Referenten gestaltet, die die Thematik »Untersuchung und Begutachtung geistig Behinderter« aus vielfältigen Perspektiven behandelten372. Ziel der Tagung war, verschiedene Fragen, die mit der Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten und der auf den individu-
369 ebenda. 370 s. Oberhessische Presse vom 09. 03. 1963, Bericht über eine Tagung in Marburg zur Diagnostik geistiger Behinderungen auf Einladung der Lebenshilfe. 371 Pfeiffer, H. (1959)- ZBL für Neurologie und Psychiatrie, Bd. 157, H. 3, S. 189. 372 Hochqualifizierte Referenten der Tagung waren: Hildegard Hetzer, die die Tagung leitete, Hermann Stutte, Doris Weber, Curt Weinschenk, Helmut von Bracken, Friedrich Specht, Hubert Harbauer und Werner Munkwitz.
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ellen Fall abgestellten Behandlungen von geistig behinderten Kindern zusammenhängen, zu klären373.
6.1.2 Zur Stigmatisierungsfrage Im Frühjahr 1967 erreichte Prof. Stutte über den Geschäftsführer der Lebenshilfe, Herrn Tom Mutters, eine Anfrage dahingehend, ob »normalsinnige Kinder« durch den Anblick erheblich geistig behinderter Kinder einen seelischen Schaden erleiden könnten. Hierzu nahm Hermann Stutte im Mai 1967 wie folgt Stellung (gekürzt und sinngemäß)374 : »Dem in der Arbeit mit geistig Behinderten stehenden Fachmann sei die gestellte Frage durchaus vertraut: Sie ist ihm ein Beleg für die in weiten Kreisen unserer heutigen Gesellschaft noch herrschende Gesinnung von Voreingenommenheit, Mitleidlosigkeit gegenüber den Mitmenschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, Beweis auch für die in einer »aufgeklärten« Gesellschaft noch untergründig wirksamen atavistischen Empfindungen und primitiven Tabu- und Totemvorstellungen. Aus meiner 30-jährigen Erfahrung als Kinderpsychiater vermag ich keine Belege zur Stützung der Ansicht zu bringen, Kinder könnten durch den Anblick eines missgestalteten oder durch den Umgang mit einem nach körperlichem Habitus, Gesichtsausdruck oder Motorik erkennbaren geistig Behinderten einen seelischen Dauerschaden erleiden… In der kinderpsychiatrischen Klinik habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass geistig sichtbar Behinderte und u. U. sogar schwer missgestaltete und zunächst abstoßend wirkende Kinder bei normalsinnigen, u. U. sogar hochdifferenzierten Patienten über die Weckung von Mitleid und »Kavaliers«-Empfindungen häufig sogar eine ausgesprochen »diakonische« Haltung provozierten und Betreuungs- und Pflegeinstinkte mobilisierten.«
6.1.3 Eröffnung der Bundeszentrale der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Marburg am 27. 09. 1974 An der Feierstunde aus diesem Anlass konnte Hermann Stutte aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen und auch nicht der damalige Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Prof. Lempp aus Tübingen. In seinem Entschuldigungsschreiben an Tom Mutters vom 23. 09. 1974375 bedauert Stutte, dass die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie bei 373 Bericht über die Tagung, Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 Lebenshilfe, Bd. III. 374 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54 Lebenshilfe, Bd. II. 375 Nachlass Hermann Stutte UAMR 309/54, Lebenshilfe, Bd. VI.
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diesem denkwürdigen Ereignis mangelhaft vertreten sei, »das eigentlich seinen Ausgang genommen hat von unserer beider Beziehungen, der gemeinsamen Good-will-Reise durch Holland, dem Kontakt mit dem Ehepaar Mittermaier, der Gründungsveranstaltung in der Bibliothek unserer Klinik etc.« »Wir wenigen Mitglieder der »Urgemeinde« haben damals nicht im Entferntesten mit diesem »Schneeballeffekt« der Lebenshilfe-Idee gerechnet. Mit innerer Genugtuung und Freude registriere ich, dass die gesellschaftliche Mitverantwortung für die Probleme der Behinderten generell nicht zuletzt durch die Aktivitäten der »Bundesvereinigung für geistig Behinderte« ganz wesentlich stimuliert worden ist. Ich meine, dass wir – qua Lebenshilfe-Mitglieder – daran nicht unbeteiligt sind, wobei in erster Linie Ihnen und den Vorsitzenden der »Bundesvereinigung« unbestreitbare Verdienste zufallen. In Beratungsvorschlägen des »wissenschaftlichen Beirats« möchte ich in dieser historischen Rückschau ebenfalls Verdienste für die konkreten Aktivitäten der »Lebenshilfe« anerkennen und es würde mich freuen, wenn die von mir seit langem im wissenschaftlichen Beirat vertretene Idee der Schaffung eines wissenschaftlichen »Instituts zur Erforschung geistiger Behinderungen und zur Behandlung geistig Behinderter« in Bälde konkret Gestalt annehmen würde… Mit Ihnen, lieber Herr Mutters, und Ihrer Gattin registriere ich den 27. 09. 1974 als einen Markstein in der Sequenz persönlichen Bemühens«.
6.1.4 Kooperation zwischen Universitätsklinik und Lebenshilfe Die enge Verbindung zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg und der Lebenshilfe zeigte sich in verschiedenen Aktivitäten und Initiativen: – Die Professoren Villinger und Stutte waren Mitinitiatoren der Lebenshilfe und unterstützten Tom Mutters in allen seinen Initiativen. – Die Verbindung zwischen der Lebenshilfe und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität blieb Jahrzehnte hindurch erhalten und äußerte sich in Forschungsprojekten zur geistigen Behinderung, die durch die Klinik initiiert wurden und in der Mitgliedschaft mehrerer Professoren der Klinik im wissenschaftlichen Beirat der Lebenshilfe (erwähnt seien hier die Professoren Villinger, Stutte, Harbauer und Warnke). – Eine gemeinsame Initiative zwischen der Lebenshilfe, vertreten durch Tom Mutters, und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der PhilippsUniversität war die Gründung des Kerstinheims, eines Heimes und Internats für geistig behinderte und autistische Kinder, das im Jahre 2012 sein 50jähriges Bestehen feiern konnte. Die Gründung dieser Einrichtung wäre aber nicht möglich gewesen ohne die Initiative einer schwedischen Studentin, Kerstin Bjerre, die die Arbeit von Tom Mutters in Goddelau kennengelernt
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hatte und in Schweden einen beachtlichen Geldbetrag zur Errichtung des Heimes sammeln konnte, das dann auch nach ihr benannt wurde. – Die Verdienste von Prof. Stutte um die Lebenshilfe wurden unter anderem dadurch gewürdigt, dass die Lebenshilfe ihr Fortbildungszentrum in Marburg »Hermann-Stutte-Haus« nannte. Im Rahmen von Auseinandersetzungen um die Tätigkeit von Hermann Stutte während der Zeit des Nationalsozialismus wurde diese Benennung von seiner Witwe zurückgezogen. – Die enge Verbindung zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität und der Lebenshilfe fand auch darin ihren Ausdruck, dass der Fachbereich Humanmedizin der Philipps-Universität, auf Antrag des damaligen Direktors der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Prof. Remschmidt, Tom Mutters im Jahre 1987 die Ehrendoktorwürde verlieh376. Tom Mutters verstarb am 2. Februar 2016 im Alter von 99 Jahren. Er hat zeitlebens zur Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität und zum Kerstin-Heim Kontakt gehalten und hat in hohem Alter noch die Mitgliederversammlungen des Kerstin-Heims besucht. Über sein Leben und Wirken berichtet eine ausführliche Biographie377.
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Auch diesbezüglich ging die Initiative primär von Tom Mutters aus. In Goddelau war er mit dem Schicksal geistig behinderter Kinder, die in den Kriegswirren von ihren Eltern zurückgelassen worden waren, konfrontiert. In einem persönlichen Rückblick schreibt er : »In ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit haben diese Kinder mir ermöglicht, den wirklichen Sinn des Lebens zu erkennen, und zwar die Hinwendung zum Nächsten«378.
6.2.1 Initiative im Marburger Raum Aufgrund seiner Erfahrungen mit diesen Kindern lag es nahe, für sie eine Einrichtung zu schaffen, in der sie Zuwendung und Förderung erfahren und die 376 Die Ehrung fand am 13. Juni 1987 in feierlichem Rahmen in der Begegnungs- und Fortbildungsstätte der Lebenshilfe in Marburg statt. Die Urkunde wurde durch den Dekan des FB Humanmedizin, Prof. Hering, überreicht. Den Festvortrag hielt Prof. Peter Strunk (Freiburg), die Laudatio Helmut Remschmidt. 377 Becker M, Kächler K (2016): Tom Mutters, Pionier, Helfer, Visionär. Daedalus Verlag, Münster. 378 Lebenshilfe: Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum 2008, Marburg.
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ihnen alle Möglichkeiten zu einer guten Entwicklung ermöglichen sollte. Es ist nicht zufällig, dass Tom Mutters seine Initiative im Marburger Raum verwirklichen konnte. Denn hier hatte er für seine Ideen tatkräftige und kompetente Unterstützung gefunden, vor allem durch den Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg, Professor Hermann Stutte, und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Unter ihnen ist besonders Frau Prof. Doris Weber (1916–2017) hervorzuheben, die von Anbeginn mit dem KerstinHeim verbunden war und das Heim als Konsiliar-Ärztin jahrzehntelang betreut hat. Bereits am 9. März 1956 hatte Tom Mutters ein »Memorandum zur Errichtung eines Heimes für bildungsunfähige, geistig unterentwickelte DP- und Flüchtlingskinder«379 verfasst und die rasche Realisierung dieses Planes gefordert. Das Heim sollte in einem Pavillon-System gebaut werden, »um so die Möglichkeit zu bieten, die Kinder nach Art ihrer Mängel in kleinen Familiengruppen zu differenzieren. Um zu gewähren, dass die ärztliche Betreuung der Kinder durch ausreichend fachlich vorgeschulte Kräfte, also durch jugendpsychiatrisch vorgebildete Ärzte, erfolgen würde, wurde Marburg an der Lahn die Wahlheimat für das geplante Heim, zumal von der jugendpsychiatrischen und Child Guidance-Abteilung der Universitätsnervenklinik dem Plan das größte Interesse entgegengebracht und die Zusage gemacht wurde, dass man sich des geplanten Heimes gerne annehmen würde«. Verwiesen wird in dem Memorandum ferner auf die in Marburg vorhandene »Hilfsschullehrerausbildung des Landes Hessen« und auf die »optimistische und idealistische Aktivität, die für die Marburger Ausbildungs- und Forschungsstätten so charakteristisch ist«.
6.2.2 Entstehungsgeschichte des Kerstin-Heims Die Entstehungsgeschichte des Kerstinheims hat Doris Weber anlässlich des zwanzigsten Jubiläums dieser Einrichtung in einem Vortrag authentisch geschildert, der im Folgenden gekürzt wiedergegeben wird380 : »Der Initiator für die Errichtung des Heimes war der holländische Pädagoge Tom Mutters, heutiger Geschäftsführer der Lebenshilfe für geistig Behinderte, deren Gründung und Aufbau ebenfalls durch seine Initiative erfolgte. Tom Mutters betreute nach dem Krieg im Auftrag der Vereinten Nationen geistig 379 Kerstin-Heim o. J., Dokumente aus der Gründerzeit. 380 ebenda.
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behinderte Kinder von Deportierten und Flüchtlingen, die von ihren Eltern aufgrund entsprechender Gesetze nicht in das End-Land ihrer Flucht mitgenommen werden konnten und im Philipps-Hospital in Goddelau bei Darmstadt untergebracht waren. Kerstin Bjerre Aspegren ging als 20-jährige Studentin (sie studierte Philologie und später Theologie) im Jahre 1955 für einige Zeit nach Goddelau, um Tom Mutters bei seiner Arbeit behilflich zu sein. Sie war über das Schicksal sowie auch über die geringen Förderungsmöglichkeiten dieser Kinder im Nachkriegsdeutschland menschlich so erschüttert, dass sie in mühevoller Kleinarbeit in Schweden durch Vorträge und Zeitungsartikel und dadurch, dass sie Presse sowie Rundfunk für die Hilfsaktion interessierte, Geld sammelte zum Bau eines kleinen, progressiven Heimes. In den dünn besiedelten Landbezirken Schwedens kamen die Menschen zu Vorträgen in den Gemeindehäusern der Kirchdörfer oft von weit her, auch unter schlechten Wetterbedingungen, zum Teil per Fahrrad oder zu Fuß. Kerstin Bjerre Aspegren sammelte auf diese Weise die für die damalige Zeit beachtliche Summe von rund 150.000 DM. Die Sammlungen erfolgten unter der Regie der schwedischen Sektion des Lutherischen Weltbundes, deren Leiter Herr Pfarrer Daniel Cederberg war. Nach ihm wurde die Sonderschule des Kerstin-Heims benannt, denn er war einer der wichtigsten Garanten der Kerstin-Heim-Idee. Bis mit dem Bau des Heimes begonnen werden konnte, war aber noch eine jahrelange Initiative notwendig, die von einem schwedischen und einem deutschen Freundeskreis aufgebracht wurde. Die letzten Finanzierungsschwierigkeiten wurden dann durch beachtliche Zuschüsse aus dem Bundes- und dem Landesjugendplan Hessen behoben. Tom Mutters und Kerstin Bjerre Aspegren hatten mit Prof. Stutte, dem späteren Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps- Universität Marburg und ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, Kontakt aufgenommen. Aus diesen Begegnungen entstand ihr Wunsch, das Heim in Marburg zu errichten. Das Geld der schwedischen Spender wurde von der schwedischen Sektion des Lutherischen Weltbundes an die Innere Mission in Deutschland weitergegeben. Als man aber 1960 mit dem Bau des Heimes beginnen konnte, gab es in Deutschland keine Kinder von Vertriebenen und Flüchtlingen mehr, die in Heimen hätten untergebracht werden müssen. Die Geldgeber und Förderer kamen jedoch zu dem gemeinsamen Entschluss, an dem Bau eines Heimes für geistig behinderte Kinder und Jugendliche festzuhalten. Es war ein schwedisches und ein deutsches Arbeitskomitee entstanden, und mehrfach wurden gemeinsame Beratungen durchgeführt. Zu dem schwedischen Arbeitskomitee gehörten Kerstin Bjerre Aspegren, Pfarrer Daniel Cederberg, Eva Gowenius und Hermann Schlyter, zu dem deutschen die späteren Mitglieder des Vereins »Marburger Kinder-Heimat«, der 1957 gegründet wurde. Der Verein
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ist der Träger des Heimes und der Heimsonderschule und gehört dem Diakonischen Werk in Kurhessen/Waldeck an. Er bestand aus acht Mitgliedern: Prof. Dr. Dr. Helmut von Bracken (1899–1984), Direktor des Instituts für Sonderschulpädagogik an der Philipps-Universität, Landespfarrer Kirchenrat Erich Freudenstein, Tom Mutters (damals Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe), Laimons Pavuls ( Lutherische Weltbund), Rechtsanwalt Thorsten Peters (Sankt Elisabeth-Verein), Kirchenrat Dr. Dr. Schimmelpfeng (Anstalten Hephata, Treysa), Prof. Dr. Hermann Stutte, Dr. Doris Weber (beide Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Institut für ärztlich- pädagogische Jugendhilfe der PhilippsUniversität sowie Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V.) Die Mitglieder des damaligen Vorstandes (zum Zeitpunkt des zehnjährigen Jubiläums) waren Landespfarrer Dr. Friedrich Thiele (Erster Vorsitzender), Prof. Dr. Karl H. Bönner, Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt und Prof. Dr. Doris Weber. 1960 wurde mit dem Bau des Heimes begonnen (Architekt: Professor Paul Posenenske) und 1962 konnte das Heim bezogen werden (zunächst drei Wohnhäuser für 3–14 Kinder und ein Gebäude mit Heimleiterwohnung, Büroräumen, Küche, Wirtschaftsräumen, später kamen ein weiteres Wohnhaus für die Kinder und ein Heimleiter- Wohnhaus hinzu). Das Heimleiterehepaar, Diplompädagoge Helmut Maier und Kinderkrankenschwester Ingeborg Maier war rund 20 Jahre im Heim tätig. Von Beginn an bestand eine Heimsonderschule, die zunächst unter sehr beengten Bedingungen stand, u. a. musste der Unterricht in den Tagesräumen der Wohnhäuser erteilt werden. Die erste Rektorin der Schule war Frau Carola von Bracken (September 1962 bis April 1966). 1973 wurde der Bau der Daniel Cederberg-Schule fertiggestellt und die Schule unter der Leitung von Herrn Rektor Hanebutt in Betrieb genommen (Architekt: Dipl.-Ing. Walter Freiwald). Die Finanzierung des Schulgebäudes erfolgte durch die hessische Landesregierung, außerdem erhielt das Kerstin-Heim Beihilfen von der Aktion Sorgenkind, dem Landeswohlfahrtsverband und der Landeskirche von Kurhessen/Waldeck. Es war also ein langer und schwieriger Weg, der zur Verwirklichung der Kerstin- Heim-Idee führte. Viele Menschen haben mit beachtlichem persönlichen Einsatz gemeinsam nach diesem Weg gesucht. Ihnen allen wurde ein erhebliches Ausmaß an Durchhaltevermögen abverlangt. Die letztlich entscheidendste Tat aber ging von der jungen Studentin Kerstin aus, die mit unermüdlichem Eifer aus vielen kleinen Beträgen eine Summe als Startkapital zusammenbrachte, die einen staunen macht. Ohne dieses Startkapital und Kerstins unbegrenztes Drängen auf die Verwirklichung der humanitären Idee zum Nutzen dieser Kinder gäbe es das Kerstin-Heim heute nicht.«
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6.2.3 20-jähriges Jubiläum und Weiterentwicklung An der Feier zum 20-jährigen Jubiläum konnten zwei Vorstands- und Gründungsmitglieder nicht mehr teilnehmen: Herr Rechtsanwalt Thorsten Peters, erster Vorsitzender des Vereins seit seinem Bestehen, verstarb am 21. August 1980 und Prof. Hermann Stutte am 24. April 1982. Zum Schluss zitierte Doris Weber einen Satz aus dem letzten Brief von Herrn Professor Stutte an Kerstin Bjerre Aspegren, den er wenige Wochen vor seinem Tod schrieb: »Am Ende meines Lebens erscheint mir diese aus christlich- humanitärer Berufung erwachsene Gestaltwerdung eines karitativen Werkes in der heutigen Zeit unbedingt dokumentationswürdig«. (Referat gehalten am Donnerstag, den 13. 5. 1982). Über die weitere Entwicklung des Kerstin-Heims gibt eine Broschüre Auskunft, die zum 50-jährigen Jubiläum der Einrichtung erschienen ist381. Der Text beginnt mit einer Äußerung von Tom Mutters: »Ich war immer der Überzeugung, dass jedes Kind Förderung verdient und am gesellschaftlichen Leben teilhaben soll«. Nach dem 20-jährigen Jubiläum lassen sich folgende Etappen der Weiterentwicklung feststellen: – Mit der Übernahme der Heimleitung durch den Dipl.-Pädagogen Hans Ordnung im Jahr 1988 setzte eine intensive Umgestaltung der Einrichtung ein: Das Außengelände wurde neu angelegt, ein therapeutischer Fachdienst wurde eingerichtet, die Wohnbereiche wurden renoviert und im Schulbereich wurde die Einführung in die Kulturtechniken für diejenigen Schüler und Schülerinnen forciert, die hierfür die Voraussetzungen hatten. – Das Jahrzehnt von 1990–1999 war gekennzeichnet durch die Einführung der Kurzzeitpflege (1995), die Eltern, die ihr Kind zu Hause betreuen, die Möglichkeit bietet, eine Auszeit zu nehmen, indem sie ihr Kind für eine begrenzte Zeit im Heim in Obhut geben. Ferner wurde ein einheitliches Konzept zur Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs nach Prof. Haisch (Katholische Stiftungs-Fachschule München) eingeführt, die Wohnhäuser erhielten die Namen von Bäumen, was von den Kindern gut angenommen wurde. Zu den zahlreichen sozialen Aktivitäten zählte ein Tanzkurs, der unter den Jugendlichen sehr viel Anklang fand. – Für den Zeitraum von 2000–2012 ergaben sich folgende Neuerungen: Seit dem Jahr 1999 konnten junge Erwachsene aus der Heimeinrichtung ins »Betreute Wohnen« entlassen werden. Hierfür wurden in der Stadt acht Plätze in Form einer Wohngemeinschaft geschaffen. Die Daniel Cederberg-Schule 381 Kerstin-Heim (Hrsg.) (2012): 50 Jahre Kerstin-Heim. Geschichte, Geschichten und Gedanken zum 50. Geburtstag. Eigenverlag, Marburg.
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Gründung der Lebenshilfe und des Kerstin-Heims
wurde von Grund auf renoviert. Weitere Fortbildungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter wurden realisiert und die Außendarstellung der Einrichtung bekam einen besonderen Stellenwert. – Auch im Vorstand des Kerstin-Heims gab es Veränderungen. Nach dem Ausscheiden des langjährigen Vorsitzenden Pastor Dr. Friedrich Thiele (1980 bis 2011) übernahm Pfarrer Dr. Matti Schindehütte am 28. 2. 2011 die Vorstandsgeschäfte. Prof. Remschmidt blieb stellvertretender Vorsitzender bis 2016 und wurde von Sonderschulrektor Rainer Müller abgelöst. Als weiteres Vorstandsmitglied konnte PD Dr. Matthias Martin (Leiter der Einrichtung Leppermühle) gewonnen werden. Die hier dargestellte Erfolgsgeschichte wurde aber im Laufe der Jahre immer wieder durch ideologisch motivierte Störmanöver beeinträchtigt, die hauptsächlich die Schule bzw. die Lehrerschaft betrafen oder von ihnen ausgingen.
6.3
Zusammenfassung
Die Gründung der Lebenshilfe ging auf eine Initiative von Tom Mutters zurück, der Anfang der 1950-er Jahre als Verbindungsoffizier der Vereinten Nationen Flüchtlingskinder und Kinder mit geistiger Behinderung im Philippshospital in Goddelau betreute. Er war erschüttert über die dortigen Zustände und veröffentlichte 1958 einen Artikel zum Thema »Das geistig behinderte Kind in der heutigen Gesellschaft«, der insbesondere unter den Eltern behinderter Kinder großes Aufsehen erregte und schließlich dazu führte, dass eine Elterninitiative entstand, in deren Gefolge am 23. 11. 1958 in der Bibliothek der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg die Gründungsversammlung der »Lebenshilfe« stattfand. Unter den 15 Gründungsmitgliedern waren sowohl Eltern als auch Fachleute. Die neugegründete Vereinigung kam einem großen Bedürfnis entgegen und bestand bereits zehn Jahre später aus 312 Ortsvereinigungen mit 38.000 Mitgliedern. Die Gründung der Lebenshilfe geschah nicht zufällig in Marburg. Tom Mutters hatte sich erkundigt, an wen er sich mit seiner Initiative wenden könnte und es wurde ihm der Inhaber des einzigen damals existierenden Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Hermann Stutte, vorgeschlagen, mit dem sich in der Folgezeit nicht nur eine enge Zusammenarbeit, sondern auch eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Am Ende seines Lebens bezeichnete Hermann Stutte die Lebenshilfe als die »wichtigste psychohygienische Errungenschaft in der Nachkriegszeit«. Auch das Kerstin-Heim verdankt seine Entstehung der Initiative von Tom Mutters und dem Einsatz der damals 20-jährigen schwedischen Theologiestu-
Zusammenfassung
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dentin Kerstin Bjerre-Aspegren, die 1955 mit Tom Mutters in Goddelau zusammengearbeitet hatte und von dem tragischen Schicksal der dortigen Heimkinder so beeindruckt war, dass sie in Schweden die beachtliche Summe von 150.000 DM sammelte, welche den Grundstock für die Errichtung des Kerstin-Heims bildete, das von Anfang an ihren Namen trug. Die Verbindung zwischen dem Kerstin-Heim und der Marburger Universitätsklinik Kinder- und Jugendpsychiatrie war von Anfang an sehr eng und stabil über viele Jahre. Ganz besondere Verdienste um die Zusammenarbeit hat sich Doris Weber erworben, die als anerkannte Autismusspezialistin die autistischen und geistig behinderten Kinder im Heim viele Jahre lang betreut hat.
7.
Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kooperationsnetzwerk mit anderen Institutionen
7.1 Kooperationen innerhalb der Universität 7.2 Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb der Universität 7.3 Zusammenfassung
Bereits mit der Gründung der Kinderstation im Jahr 1947 entwickelten sich Kontakte und Kooperationsbeziehungen zu zahlreichen Institutionen innerhalb und außerhalb der Universität.
7.1
Kooperationen innerhalb der Universität
Hier ist in erster Linie die Universitätsnervenklinik382 zu nennen, aus der die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hervorging. In der Nervenklinik 382 Über die Geschichte der Nervenklinik informiert umfassend Michael Schäfer (2002): Zur Geschichte der Psychiatrie in Marburg. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (SDGN), Bd. 8, 277–299. Danach stellte die Med. Fakultät bei der preußischen Unterrichtsverwaltung den Antrag, die geplante Irrenanstalt mit der Universität in Verbindung zu bringen. Diese wurde 1874 in Betrieb genommen und der erste Direktor der Anstalt, Heinrich Cramer (1831–1893) wurde 1877 auf den neu errichteten Lehrstuhl für Psychiatrie berufen. Im Jahr 1904 wurde in den Räumen der Medizinischen Poliklinik mit der ambulanten psychiatrischen Behandlung begonnen, weil die Landesheilanstalt (wie sie inzwischen hieß) zu weit von der Stadt und den übrigen Kliniken entfernt war. Erst 1920 erhielt die Psychiatrische Universitätsklinik am Ortenberg ein eigenes, von der Landesheilanstalt getrenntes Gebäude mit 72 Betten. Nach mehreren Chefwechseln wurde Ernst Kretschmer (1888–1964) 1926 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie berufen. Als dieser 1946 an die Universität Tübingen wechselte, wurde Werner Villinger, von dort kommend, sein Nachfolger. Nachfolger Villingers wurde, aus Hamburg kommend, 1959 Hans Jacob (1907–1997). Unter seiner Leitung wurde der Neubau der Nervenklinik samt geschlossenen Stationen und Hörsaal im Zeitraum von 1967–1975 errichtet. Er war der letzte Lehrstuhlinhaber, der die beiden Fächer Psychiatrie und Neurologie in Personalunion vertrat. Nach seiner Emeritierung wurde Wolfgang Blankenburg (1928–2002) auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Gert Huffmann (1930–2011) auf den Lehrstuhl für Neurologie berufen.
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Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
waren die Fachgebiete Psychiatrie und Neurologie bis in das Jahr 1979, als Wolfgang Blankenburg (1928–2002) die Nachfolge von Hans Jacob (1907–1997) antrat, vereinigt. Erst im Jahr 1979 wurden also die beiden Fächer institutionell getrennt. Es bestanden aber gemeinsame Kolloquien zwischen den Fächern Neurologie, Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie bis in die 1990er Jahre. Dabei wurde ein Patient oder eine Patientin aus der jeweiligen Disziplin vorgestellt und unter differenzialdiagnostischen und therapeutischen Gesichtspunkten diskutiert. Mitte der 1990er Jahre wurden diese Kolloquien eingestellt, da von jeder der drei Disziplinen eigene und stärker spezialisierte Veranstaltungen etabliert wurden, so dass sich diese kasuistisch ausgerichtete Kooperation verlor. Die intensive fallbezogene klinische Zusammenarbeit blieb aber vollständig erhalten, wobei auch die Abteilungen für Neurochemie (Tilmann O. Kleine) und Neuroradiologie (Albrecht Lütcke und später Siegfried Bien) wertvolle Dienste leisteten. Die Zusammenarbeit mit der Psychiatrischen Klinik intensivierte sich, auch auf wissenschaftlichem Sektor, als JürgenChristian Krieg als Nachfolge von Wolfgang Blankenburg die Kliniksleitung übernahm. Während Blankenburg einen eher anthropologischen und daseinsanalytischen Ansatz vertrat, zog mit Krieg, der vom Max Planck-Institut für Psychiatrie in München kam, eine stärker empirisch und naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychiatrie ein, die gleichwohl auch psychotherapeutische Ansätze (auf der Basis der Verhaltenstherapie) in die Behandlung einbezog. J.C. Krieg leitete die Psychiatrische Klinik von 1993 bis 2008. Nachfolger von J.C. Krieg wurde Thilo Kircher, der 2009 die Leitung der Klinik für Psychiatrie übernahm und der in Marburg die Bildgebung als Forschungsschwerpunkt in die Psychiatrie einführte. Ein mehr oder weniger isoliertes Dasein führte die psychoanalytisch ausgerichtete Abteilung für Psychotherapie, die von Manfred Pohlen im Zeitraum von 1972–1998 geleitet wurde und die nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst in die Psychiatrische Klinik integriert wurde. Pohlen entwickelte u. a. ein multiprofessionelles, psychodynamisches Gruppenprogramm für die stationäre Psychotherapie. Erster Lehrstuhlinhaber für Neurologie nach der institutionellen Trennung der Fächer war Gert Huffmann (1930–2011), der die Neurologische Klinik im Zeitraum von 1980–1998 leitete und der sich schwerpunktmäßig klinisch und wissenschaftlich mit der Neurophysiologie beschäftigte. Sein Nachfolger wurde Wolfgang Oertel (*1951), ein international ausgewiesener Parkinson-Spezialist, der die Klinik von 1996–2014 leitete und danach als Seniorprofessor eine Forschungsprofessur übernahm, die es ihm ermöglicht, seine Forschung auf dem Gebiet der Parkinsonerkrankungen unbelastet von klinischen Pflichten fortzusetzen. Naturgemäß war von Anfang an die Kooperation mit der Universitätskin-
Kooperationen innerhalb der Universität
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derklinik383 von großer Bedeutung. In der Zusammenarbeit hatte der wechselseitige Konsiliardienst einen hohen Stellenwert. In unregelmäßigen Abständen fanden auch gemeinsame Kolloquien statt. Gründer der Marburger Universitätskinderklinik war Ernst Freudenberg (1884–1967), der die Klinik klinisch und wissenschaftlich zur Blüte führte. Er wurde, da er mit einer Jüdin verheiratet war, 1937 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, emigrierte nach Basel und übernahm den dortigen Lehrstuhl für Kinderheilkunde. In der Nachkriegszeit wurde im Zeitraum von 1946–1975 Friedrich Linneweh Direktor der Universitätskinderklinik. Ihm folgte, nach einem längeren Interregnum, Matthias Brandis, der die Klinik von 1981–1988 leitete, um im selben Jahr einem Ruf nach Freiburg zu folgen. Sein Nachfolger war Hansjörg Seyberth, der 1990 die Kliniksleitung übernahm. Dessen wissenschaftlicher und klinischer Schwerpunkt war die klinische Pharmakologie. Darüber hinaus hat er auch teilstationäre Behandlungskonzepte entwickelt, die Dialyse ausgebaut und sich für die Einrichtung eines MutterKind-Zentrums eingesetzt, das mittlerweile im II. Bauabschnitt des Klinikums auf den Lahnbergen verwirklicht wurde. Im Jahr 2002 folgte Rolf Felix Maier dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neonatologie und Neuropädiatrie nach Marburg. Nach der Emeritierung von Seyberth im Jahr 2005 übernahm Maier die Leitung der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Im Jahr 2006 erfolgte der Umzug vom bisherigen Standort bei der Elisabethkirche in das neue Mutter-Kind-Zentrum auf den Lahnbergen. Damit waren neben den personellen auch die baulichen Voraussetzungen für die Anerkennung als ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe erfüllt. Die Kinderklinik Marburg fungierte somit einerseits als universitäres Zentrum der Spitzenmedizin, war aufgrund ihrer geographischen Lage aber gleichzeitig auch für die Basisversorgung von kranken Kindern und Jugendlichen der Region zuständig. Im Jahr 2016 konnten zwei weitere Lehrstühle besetzt werden: ein Lehrstuhl für Kindernephrologie und Transplantationsnephrologie durch Stephanie Weber und ein Lehrstuhl für Kinderchirurgie durch Guido Seitz. Damit wurde die wissenschaftliche und klinische Expertise und Bedeutung der Marburger Kinderklinik weiter aufgewertet. Die Zusammenarbeit zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde weiter ausgebaut und intensiviert durch gemeinsame Forschungsprojekte, interdisziplinäre Lehrveranstaltungen und gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen. 383 Über die Entwicklung der Kinderklinik informiert H. Seyberth (2002). 75 Jahre Kinderklinik Marburg. Ein Rückblick, ein Porträt der aktuellen Arbeit und ein Ausblick in die Zukunft. UniJournal Marburg Nr. 11, 38–42.
334
Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Zum Institut für Heil- und Sonderpädagogik ergaben sich Kooperationen hauptsächlich im Rahmen der Vorlesungen der Prüfungsverpflichtungen. Mitarbeiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie haben viele Jahre hindurch Studierende der Heil- und Sonderpädagogik im Fach Psychopathologie geprüft und auch deren Zulassungsarbeiten als Zweitgutachter beurteilt. Die Ausbildung von Sonderschullehrern geht bis in die Anfangszeit der Kliniksgründung zurück und war auch ein wesentliches Argument für die Einrichtung des Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bereits 1953 hatte Hermann Stutte in einer Denkschrift »Über die Zweckmäßigkeit der Schaffung eines Zentrums der Hilfsschullehrerausbildung an der Universität Marburg« eine entsprechende Ausbildungsstätte gefordert. Er begründete dies damit, dass gerade in Marburg bereits zahlreiche behindertenpädagogische Einrichtungen bestünden, unter denen das im Jahr 1952 gegründete Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe eine besondere Stellung einnahm. Mit Erlass des Hessischen Kultusministers vom 6. Mai 1963 wurde das Institut für Heil- und Sonderpädagogik gegründet, das am 4. Dezember 1963 mit Ansprachen des Hessischen Kultusministers Ernst Schütte und des Rektors der Philipps-Universität Marburg feierlich eingeweiht wurde. Es wurden mehrere Studiengänge eingerichtet: für Lernbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik, Sehbehindertenpädagogik, Pädagogik der Entwicklungsgestörten und Pädagogik der Schwererziehbaren. Zum Gründungsdirektor wurde Helmut von Bracken (1899–1984) berufen, der Arzt und Psychologe war und als Nestor der deutschen Sonderpädagogik gilt. Er hatte, neben seiner Tätigkeit als Hilfsschullehrer (1921–1927) Erziehungswissenschaften und Psychologie in Leipzig studiert, später auch Medizin in Bonn (1935–1940). Als er sich 1933 weigerte, in die NSDAP einzutreten, verlor er seine inzwischen an der Technischen Hochschule Braunschweig erlangte Dozentur und ging in die Niederlande, um am Psychologischen Institut der Universität Amsterdam tätig zu werden. 1958 erhielt er eine Honorarprofessur an der Philipps-Universität Marburg und 1963 eine ordentliche Professur für Heil- und Sonderpädagogik. Helmut von Bracken pflegte eine besonders intensive Beziehung zur Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie und insbesondere zu Hermann Stutte und Doris Weber. Er war auch an der Gründung des Kerstinheims beteiligt (vgl. Kap. 6). Nach Bönner (2003) war das Marburger Institut für Heil- und Sonderpädagogik das »Mutterinstitut« für andere Universitäten und lange Zeit das einzige, an dem man akademische Abschlüsse in der Sonderpädagogik erwerben konnte. Im Zuge der Unruhen der 1968er Jahre geriet das Institut in tumultartige Zustände und in den Status einer »euphorischen Basisdemokratie« (Bönner, 2003), bis nach der Übernahme der Leitung des Instituts durch Lothar Tent wieder eine gewisse Ordnung einkehrte.Die »Basisdemokratie« äußerte sich in der Übernahme einer marxistischen Ideologie, die sich mit ausgeprägten antipsychiatrischen Ten-
Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb der Universität
335
denzen mischte und sich in Kampagnen gegen Heimeinrichtungen und Störungen von Vorlesungen äußerte. Diese Entwicklung ging weniger von den Studierenden, sondern von den wissenschaftlichen Assistenten aus, von denen einige später, ohne Habilitation, vorzugsweise in Bremen Professuren erhielten. Der überwiegende Teil der Studierenden schätzte allerdings die Vorlesungen in der Kinder-und Jugendpsychiatrie und ließ sich nicht in klassenkämpferische Umtriebe einbinden. Als einer der genannten Assistenten eine Vorlesung von Frau Professor Weber zu sprengen versuchte, bei den Studierenden kein Echo fand und Frau Weber ihm zurief, er solle doch die Vorlesungen in der Sonderpädagogik stören, gab er die ehrlichen Antwort. »Zu uns kommt ja niemand«. Zum Psychologischen Institut entwickelten sich Jahrzehnte hindurch enge Kooperationsbeziehungen. Sie bestanden zum einen in der Abhaltung von Lehrveranstaltungen für Studierende der Medizin, der Psychologie sowie der Heil- und Sonderpädagogik und zeitweise auch für Logopäden; zum anderen wurden Diplomarbeiten und Dissertationen für Studierende der Psychologie gemeinsam angeleitet und schließlich prüften der jeweilige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Oberärzte Studierende der Psychologie im Rahmen der Diplomhauptprüfung im Fach Psychopathologie. Das Psychologische Institut der Philipps-Universität hatte sich nach bescheidenen Anfängen und nach einer Zeitetappe, die von nationalsozialistischem Ideengut geprägt war, zu einer herausragenden Einrichtung der Universität entwickelt. Unter Erich Jaensch (1883–1940) wurden im Institut rassistische und antisemitische Positionen, auch und besonders im Zusammenhang mit seiner Typenlehre, vertreten. Nach dem Krieg war ab 1946 Heinrich Düker (1898–1986) die prägende Gestalt des Instituts. Er war ein Vertreter der experimentellen Psychologie und baute das Institut zu einer forschungsintensiven, naturwissenschaftlich ausgerichteten Einrichtung aus. Im Zuge der Universitätsreform, die mit der Auflösung der Fakultäten einherging, wurde das Institut 1971 als »Sektion Psychologie« in den selbständigen Fachbereich 04 eingeordnet. Dadurch entfiel das Amt des Institutsdirektors, an dessen Stelle die jährlich aus der Professorenschaft gewählten Dekane bzw. seit 1974 die Fachbereichsräte traten (Tent L, Geschichte des Fachbereichs bis ca. 1994).
7.2
Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb der Universität
Hier ist an erster Stelle die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie »Lahnhöhe« des LVW (jetzt »Vitos-Klinik«) zu erwähnen. Sie wurde 1974 erbaut. Der erste ärztliche Direktor war Dr. Heinrich Koch (1916–1999), der aus der Schule von Ernst Kretschmer hervorging. Er leitete von 1971–1974 die Klinik für
336
Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Kinder- und Jugendpsychiatrie in Weißenau, bis er 1974 die Klinik »Lahnhöhe« übernahm. Seine Nachfolgerin wurde, nach mehreren zwischenzeitlichen kommissarischen Leitungen, im Jahr 1979 Prof. Iris Dauner (1937–2000), zuvor Oberärztin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie leitete die Klinik bis 1995. Nach ihrer Pensionierung übernahm Dr. Christian Wolf am 01. 03. 1999 die Leitung der Klinik. Heinrich Koch war ein Vertreter der klinischen Heilpädagogik, er prägte auch diesen Begriff. Darüber hinaus übte er auch die von Ernst Kretschmer entwickelten psychotherapeutischen Behandlungsmethoden aus und war ein erfahrener Hypnotherapeut. Iris Dauner ( 1937–2000), die sich über kindliche und jugendliche Brandstifter habilitiert hatte, führte die Klinik unter Anwendung des in der Universitätsklinik praktizierten mehrdimensionalen Behandlungsansatzes und war eine gefragte forensische Gutachterin. Unter Christian Wolf arbeitet die Klinik nach einem multimodalen Ansatz vor dem Hintergrund eines tiefenpsychologischen Grundverständnisses und hat einen Schwerpunkt in der sozialpsychiatrischen Versorgung. Ihr ist als Pflichtversorgungsgebiet der Landkreis Waldeck-Frankenberg, der SchwalmEder-Kreis und die Region Vogelsberg zugeordnet. Einen besonderen Schwerpunkt stellt die Jugendforensik dar, die auch für den Maßregelvollzug zuständig ist. Die Klinik verfügt über 62 vollstationäre Planbetten, fünf tagesklinische Plätze, 13 Planbetten in der Jugendforensik und eine Ambulanz. Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings ein Konflikt zwischen der Klinik »Lahnhöhe«, ihrem Träger und der Universitätsklinik, der dadurch entstand, dass im Jahr 1982 die Pflichtversorgung für den Landkreis Marburg-Biedenkopf, die bis dahin durch die Klinik »Lahnhöhe« wahrgenommen wurde, an die Universitätsklinik überging. Dies geschah im Zuge des Modellprogramms »Psychiatrie« der Bundesregierung und wurde von den Mitarbeitern der Klinik »Lahnhöhe« »mit großer Empörung« (Reichard und Wolf, 2001) aufgenommen, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlten. Langfristig hat dieses Ereignis die Zusammenarbeit der beiden Kliniken allerdings nicht entscheidend beeinträchtigt. Auch zu den anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Vitos-Kliniken in Herborn, Kiedrich, Hofheim und Kassel ergaben sich fallbezogene Kooperationen. Weitere Kooperationspartner waren und sind das Kerstin-Heim, die Einrichtungen des St. Elisabeth-Vereins, die Interdisziplinäre Frühförderstelle (eine gemeinsame Gründung mit der Universitätskinderklinik), verschiedene Beratungsstellen, Jugendämter, Gerichte, alle Schulen im Marburger Raum, die Einrichtungen der Lebenshilfe – kurzum: alle Einrichtungen in der Stadt und im Landkreis Marburg-Biedenkopf sowie den umliegenden Landkreisen, die mit
Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb der Universität
337
psychisch kranken, behinderten oder verhaltensauffälligen Kindern und deren Familien zu tun haben. Eine ganz besondere und nachhaltige Zusammenarbeit ergab sich mit dem Jugendheim »Leppermühle« und im Rahmen einer Vielzahl von Begutachtungsfragen mit den Gerichten. Die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfeeinrichtung »Leppermühle« erstreckte sich sowohl auf die fallbezogene Arbeit als auch auf gemeinsame Projekte und Fortbildungsveranstaltungen. Herausragend ist und war das Rehabilitationsprojekt für junge, an einer Schizophrenie erkrankte Patienten, in dem diese aus dem ganzen Bundesgebiet aufgenommen und in einem mehrjährigen Behandlungsprogramm zum großen Teil erfolgreich rehabilitiert werden konnten. Die Zusammenarbeit mit den Gerichten konzentrierte sich sowohl auf familienrechtliche als auch auf strafrechtliche Begutachtungen. Unter den letzteren dominierten Gewalt- und Tötungsdelikte, deren Ursachen und Verlauf über einen längeren Zeitraum untersucht werden konnten384 Ein entscheidender Schrittmacher für Kooperationen aller Art war das Modellprogramm »Psychiatrie« der Bundesregierung, das im Zeitraum von 1980– 1985 im Marburger Raum durchgeführt werden konnte. Marburg und die umliegenden Landkreise waren die einzige Region von 14, die sich im Rahmen des Modellprogramms auf kinder- und jugendpsychiatrische Patienten konzentrieren konnte. Weitere Initiativen zur Verbesserung der Kooperation waren die regelmäßig stattfindenden interdisziplinären Kolloquien der Klinik und die im Rahmen des Modellprogramms »Psychiatrie« etablierte »Arbeitsgemeinschaft kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung«. Ein wesentlicher Unterstützer aller dieser Kooperationsmaßnahmen war Armin Clauss, der von 1976–1987 Hessischer Sozialminister war. Er hat, mit sanftem Druck, auch jene Institutionen zur Kooperation ermuntert, die dem Modellprogramm »Psychiatrie« der Bundesregierung zunächst zögerlich begegnet waren. Insgesamt konnte im Zeitraum von 1980–1995 ein komplettes Versorgungssystem für psychisch kranke Kinder und Jugendliche und deren Familien aufgebaut werden, das im genannten Zeitraum in keiner anderen Region Deutschlands in dieser Vollständigkeit und Differenziertheit existierte.
384 Remschmidt H (2012). Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen. Springer, Heidelberg.
338
7.3
Die Marburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Zusammenfassung
Als die kinder- und jugendpsychiatrische Station im Jahr 1947 gegründet wurde, war sie in die Universitätsnervenklinik integriert, kooperierte aber bereits damals mit verschiedenen anderen Einrichtungen innerhalb und außerhalb der Universität. Nach Bezug des Neubaus im Jahr 1958 und der Gründung der Lebenshilfe im selben Jahr sowie der Gründung des Kerstin-Heims im Jahr 1962 entwickelte sich ein immer größer werdendes Kooperationsnetz innerhalb und außerhalb der Universität. Innerhalb der Universität bestanden von jeher enge Beziehungen zu den Nachbardisziplinen (Neurologie, Psychiatrie, Neuroradiologie und Neurochemie, weniger zur Psychotherapie, natürlich zur Kinderklinik und zu allen anderen Abteilungen innerhalb der Universität, in denen Kinder und Jugendliche behandelt wurden). Diesbezüglich war der Konsiliardienst von großer Bedeutung, der von allen Kliniken innerhalb der Universität, in denen Kinder und Jugendliche behandelt wurden, regelmäßig in Anspruch genommen wurde. Das Kooperationsnetzwerk außerhalb der Universität manifestierte sich in der Zusammenarbeit mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Lahnhöhe des LWV (jetzt Vitos-Klinik), mit dem Kerstin-Heim und anderen Heimeinrichtungen, mit den Jugendämtern von Stadt und Landkreis und ganz besonders mit der Jugendhilfeeinrichtung »Leppermühle«, unweit von Gießen. In der Leppermühle konnte ein umfangreiches Rehabilitationsprojekt für Jugendliche mit schizophrenen Erkrankungen etabliert und evaluiert werden. Für die Kooperation in der ganzen Region war das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung von entscheidender Bedeutung, das im Zeitraum von 1980– 1985 in Marburger Raum durchgeführt werden konnte und das nicht nur zu einer Verbesserung der Versorgung insgesamt beigetragen hat, sondern auch den Bau einer architektonisch und konzeptuell vorbildlichen Tagesklinik ermöglichte.
8.
8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4 8.5.5 8.6
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige Facharztdisziplin und ihre Folgen
Die Einrichtung eigener Kinderabteilungen an psychiatrischen Kliniken und Kinderkliniken Ablösung von der Pädagogik und Heilpädagogik und Hinwendung zur Medizin Herauslösung aus der Psychiatrie und Pädiatrie Impulse aus der Pädiatrie Impulse aus der Psychiatrie/Neurologie Der Einfluss von Lehrbüchern Wie es weiterging Psychiatrie-EnquÞte und Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) Die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) Das Psychotherapeuten-Gesetz Institutionelle Verankerung neuer Versorgungsstrukturen Zusammenfassung
Der Weg der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Etablierung einer eigenständigen Facharztdisziplin war lang und beschwerlich. Für seine erfolgreiche Bewältigung waren vier Entwicklungen maßgeblich: – Die Einrichtung eigener Kinderabteilungen an psychiatrischen Kliniken und Kinderkliniken, – die Ablösung von der Pädagogik und der Heilpädagogik und Integration in die Medizin, – die Herauslösung aus den Mutterfächern Psychiatrie und Pädiatrie und – der Einfluss von Lehrbüchern, die in der Mehrzahl aus dem psychiatrischneurologischen Bereich kamen.
340
8.1
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Einrichtung eigener Kinderabteilungen an psychiatrischen Kliniken und Kinderkliniken
Die Schaffung eigener stationärer Abteilungen für psychisch kranke Kinder ging von der mit der Zeit gewachsenen Einsicht aus, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und auch eigene Bedürfnisse haben, die einen anderen diagnostischen und therapeutischen Zugang erfordern als bei Erwachsenen. Dies betraf hauptsächlich die Psychiatrie, in deren Kliniken Kinder unter erwachsenen psychisch Kranken schlecht aufgehoben waren. In der Kinderklinik waren sie zwar unter ihren Altersgenossen, jedoch forderte ihr vielfach »abweichendes Verhalten« eine getrennte Unterbringung von Patienten, die an somatischen Erkrankungen litten. So kam es an verschiedenen Orten zur Gründung stationärer Einrichtungen für psychisch kranke Kinder : – 1911: Gründung einer heilpädagogischen Abteilung durch Lazar (1877–1932) an der Wiener Universitätskinderklinik – 1914: Einrichtung einer Kinderabteilung durch Emil Sioli (1852–1922) an der »Anstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt, die im gleichen Jahr zur städtischen Universitätsklinik erhoben wurde – 1920: Gründung einer Kinderabteilung an der Universitätsnervenklinik in Tübingen durch Robert Gaupp (1870–1953) – 1921: Gründung einer kinderpsychiatrischen Abteilung an der Charit8 Berlin unter Karl Bonhoeffer (1868–1948) – 1926: Eröffnung der »Rheinischen Provinzial-Anstalt für psychisch abnorme Kinder« als erste außeruniversitäre kinder- und jugendpsychiatrische Klinik durch Otto Löwenstein (1873–1930) – 1926: Einrichtung einer kinderpsychiatrischen Abteilung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig durch Paul Schröder (1873–1941). Parallel zu diesen vorwiegend stationären Einrichtungen wurden auch Polikliniken gegründet. Diese Entwicklung zeichnete sich in ähnlicher Form auch im Ausland ab. In Deutschland führten die verbrecherischen Initiativen im Nationalsozialismus zur Einrichtung sogenannter »Kinderfachabteilungen« (etwa 30 an der Zahl), die der organisierten Tötung geistig und körperlich behinderter Kinder dienten. Im Nachkriegsdeutschland konnte die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ rasch wieder Anschluss an die europäische und internationale Kinder- und Jugendpsychiatrie gewinnen und es kam zur Neugründung zahlreicher kinderpsychiatrischer Abteilungen, ohne dass die Leiter dieser Abteilungen im eigentlichen Sinne als Kinder- und Jugendpsychiater ausgebildet
Ablösung von der Pädagogik und Heilpädagogik und Hinwendung zur Medizin
341
waren. Sie kamen entweder aus der Erwachsenenpsychiatrie oder aus der Pädiatrie, waren zunächst Autodidakten, entwickelten aber sehr bald den Wunsch, einen eigenen, auf die speziellen Bedürfnisse in Diagnostik und Therapie psychisch kranker Kinder zugeschnittenen Ausbildungsgang zu etablieren. In der Schweiz hatte bereits 1933 Moritz Tramer (1882–1963) in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie die Einführung einer eigenen Facharztdisziplin »Kinderpsychiatrie« gefordert385.
8.2
Ablösung von der Pädagogik und Heilpädagogik und Hinwendung zur Medizin
Die deutschsprachige Fachgesellschaft war zwar 1940 in Wien als »Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik« gegründet worden und entsprechende Abteilungen hießen, vorwiegend an Kinderkliniken, weiterhin »Heilpädagogische Abteilungen«. Es setzte sich aber zunehmend die Erkenntnis durch, dass die »Kernkompetenz« des künftigen Kinderpsychiaters in der Medizin liegen müsse. Auch wenn es hierüber vor dem II. Weltkrieg und auch danach noch einige Debatten gab, so zeigt rückblickend die gesamte weitere Entwicklung, dass die Integration der Kinderpsychiatrie in die Medizin national und international der erkenntnisgeleitete richtige Weg war. Entsprechend wurde auch die Namensgebung geändert. Wurde 1950 auf der Wiedergründungsversammlung der deutschen Kinderpsychiater in Marburg noch die Bezeichnung »Gesellschaft für Jugendpsychiatrie, Heilpädagogik und Jugendpsychologie« gewählt, so erfolgte bereits ein Jahr später die Umbenennung in »Deutsche Vereinigung für Jugendpsychiatrie«386. Es fällt auf, dass die Termini Heilpädagogik und Jugendpsychologie fallengelassen wurden. Der Schwenk von der Kinderpsychiatrie zur Jugendpsychiatrie war ohnehin schon vorher erfolgt. Dies kann als Ausdruck einer stärkeren Nähe zur Psychiatrie als zur Pädiatrie verstanden werden, entsprechend der beruflichen Herkunft der führenden Vertreter Villinger, von Stockert und auch BürgerPrinz (eigentlich Erwachsenenpsychiater), der ebenfalls an der besagten Mitgliederversammlung teilnahm und einen Vorschlag zur Besetzung des Vorstands einbrachte, welcher auch angenommen wurde: Vorsitzender : Werner Villinger, Erster Beisitzer : Günther von Stockert, Zweiter Beisitzer : der Pädiater Carl Bennholdt-Thomsen, Schriftführer: Hermann Stutte und Schatzmeister : Werner Gerson. 385 Köhnlein, 2001, S. 582. 386 Protokoll über die Mitgliederversammlung der »Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie« am 26. 9. 1951 in Stuttgart.
342
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Bereits auf dem ersten Nachkriegssymposium 1950 in Marburg wurde die Facharztfrage diskutiert und folgende Voraussetzungen in Vorschlag gebracht: Zwei Jahre Psychiatrie und Neurologie, ein Jahr Jugendpsychiatrie und ein Jahr Pädiatrie. Als Zusatzanforderungen wurden erörtert: die Teilnahme an psychologischen und psychotherapeutischen Kursen und evtl. auch ein zusätzliches Jahr mit sozialpsychiatrischem Schwerpunkt, z. B. in einem Heim, einer Erziehungsberatungsstelle oder einem Jugendgefängnis. Auch dieser Vorschlag verrät die Handschrift Villingers und entspricht weitgehend seinem eigenen Werdegang und seinen früheren Tätigkeiten. Wesentlich später, nämlich durch die Psychiatrie-EnquÞte und das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung (1980–1985), wurde diese Entwicklung eindrucksvoll bestätigt, wenn eines der Leitprinzipien im Abschlussbericht der Berater-Kommission zum Modellprogramm Psychiatrie im Hinblick auf kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtungen lautete: »Integration in die Medizin«. Diesen Weg nahm die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch in internationaler Perspektive.
8.3
Herauslösung aus der Psychiatrie und Pädiatrie
Die Entlassung von Kindern in die Selbständigkeit ist fast immer mit Schwierigkeiten verbunden. So war auch in den Mutterdisziplinen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Psychiatrie und der Pädiatrie, nicht von Anfang an die Neigung vorhanden, der Schaffung einer neuen Facharztdisziplin Kinder- und Jugendpsychiatrie zuzustimmen. Die Widerstände dagegen kamen dabei eher aus der Pädiatrie als aus der Psychiatrie. Aus beiden Mutterfächern hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie wesentliche Impulse erhalten.
8.3.1 Impulse aus der Pädiatrie Die Impulse, die die Kinder- und Jugendpsychiatrie aus der Pädiatrie erfahren hat, reichen, wie jene aus der Psychiatrie, weit zurück und sind zahlreich. Eine Auswahl wichtiger Persönlichkeiten, von deren Wirken nachweisbare Einflüsse auf die Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständiges Fach ausgegangen sind, zeigt Tab. 8.1. Während die Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Erwachsenenpsychiatrie die psychiatrischen Störungen und Erkrankungen gemeinsam hat, besteht die Gemeinsamkeit mit der Pädiatrie im Lebensalter der Patienten. Dies führt zu unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf die betroffenen Störungen. Die Einflüsse der Pädiatrie betreffen zunächst im Allgemeinen jüngere Kinder und dementsprechend auch deren
Herauslösung aus der Psychiatrie und Pädiatrie
343
Erkrankungen, im Vordergrund steht sehr stark die somatische Perspektive, aber auch bereits sehr früh soziale Aspekte, die später zur Entstehung der Sozialpädiatrie geführt haben. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts entspann sich auch eine heftige Diskussion zur Überforderung von Kindern, die unter dem Namen »Überbürdungsstreit« in der Literatur bekannt ist. Schließlich beschäftigten sich Pädiater auch intensiv mit Erziehungsfragen und in neuerer Zeit mit der Mutter-Kind-Beziehung und der Bindungsforschung. Diese Tendenzen sind in Tab. 8.1 unter Anführung der jeweiligen Fachvertreter stichwortartig dargestellt. Die historische Entwicklung der Pädiatrie wurde von Peiper (1951) umfassend dargestellt. Tab. 8.1: Beiträge der Pädiatrie zur Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), Berlin – 1810 Berlin Professur für »spezielle Pathologie und Therapie« – Propagierte Vorsorgeuntersuchungen in Schulen und vertrat den Präventionsgedanken – 1829 »Physische Erziehung der Kinder« Franz von Rinecker (1811–1883), Würzburg – 1844 erster Lehrstuhl für »Pädiatrik« in Würzburg und Gründung der 1. Univ.Kinderklinik (1850) – Erster »Spezialarzt für psychisch kranke Kinder und Jugendliche« (Nissen, 2005) – Akademischer Lehrer von Hermann Emminghaus (1845–1904) Eduard Henoch (1820–1910), Berlin – 1872 Extraordinarius und Direktor der Kinderklinik der Berliner Universität – 1881 Herausgeber des Handbuchs der Kinderkrankheiten – 1893 »Die hysterischen Affektionen der Kinder« Bernhard Heinrich Laehr (1820–1905), Berlin – Initiator des »Überbürdungsstreits« – »Lernstörungen bei Kindern als Folge eines Gehirndefektes« – Durch geistige Überforderung entstehen »Geisteskrankheiten« – (Jean Paul Hasse, 1830–1898) Otto Heubner (1843–1926), Berlin – 1894 erster Ordinarius für Kinderheilkunde an der Charit8 – Vorkämpfer für angemessene Ernährung und Hygienemaßnahmen – Vorläufer der Sozialpädiatrie Adalbert Czerny (1863–1941), Berlin – 1913 Nachfolger von Heubner auf dem Berliner Lehrstuhl für Pädiatrie – Wegbereiter der wissenschaftlichen Pädiatrie – Erkannte die Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung, Vorläufer der Bindungstheorie u. Bindungsforschung – Neuropathie als angeborene vegetative Fehlsteuerung – »Der Arzt als Erzieher des Kindes« (1908, 11. Aufl. 1946)
344
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
((Fortsetzung)) Albrecht Peiper (1889–1968), Leipzig – »Kinderarzt als Anwalt des Kindes«, forderte eine »Soziologie des Kindes« – »Eigenart der kindlichen Hirntätigkeit« (1949) – »Chronik der Kinderheilkunde« (1951)
8.3.2 Impulse aus der Psychiatrie/Neurologie Zweifellos hat Wilhelm Griesinger (1817–1868) mit seiner »Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten« (1845) einen großen Einfluss auf das Denken und Handeln der Psychiater und Kinderärzte gehabt, die sich mit psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen beschäftigten. Gemäß seinem Postulat, wonach psychische Erkrankungen Erkrankungen des Gehirns sind, erklärte er auch die »Geisteskrankheiten bei Kindern« durch eine »Reizbarkeit des Gehirns«. Er erkannte auch, dass die Pubertät eine krankheitsbegünstigende Lebensphase darstellt, ein Gedanke, der später auch von Ernst Kretschmer aufgegriffen wurde, wenn er von der Pubertät als »Wetterwinkel« für die psychische Entwicklung sprach. Schließlich kann Griesinger insofern auch als Vorläufer der Ich-Psychologie betrachtet werden, als er die psychischen Störungen des Kindesalters mit der noch unvollständigen Ich-Entwicklung erklärte und darüber hinaus darauf hinwies, dass eine Geisteskrankheit bei Kindern auch deren Weiterentwicklung ungünstig beeinflusse. Karl Bonhoeffer (1868–1948), wie Griesinger ebenfalls Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charit8 (1912–1938), ist für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor allem dadurch bedeutsam, dass er im Jahre 1921 die »Kinder-, Kranken- und Beobachtungsstation« an der Charit8 begründete. Er entwickelte die Psychiatrische und Nervenklinik der Charit8 zu einer »neuropsychiatrischen Hochburg« (Neumärker 2007), in der u. a. auch Franz Kramer (1878–1967) und Hans Pollnow (1902–1943) tätig waren, die im Jahre 1932 die bahnbrechende Arbeit »Über eine hyperkinetische Erkrankung im Kindesalter« veröffentlichten. Diese, im Ausland Jahrzehnte hindurch nicht beachtete Arbeit kann als eine der frühen Beschreibungen des hyperkinetischen Syndroms bzw. der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) angesehen werden. An der Geschichte dieser Störung bzw. der ihr zugrundeliegenden Konzepte lässt sich über mehr als ein Jahrhundert darlegen, wie, relativ unabhängig vom Zeitgeist (die Störung wurde zwar zeitweise auch als Folge von phosphatreicher Nahrung, Farbstoffen in Lebensmitteln oder auch als von den Eltern induziertes Phänomen angesehen) eine neurobiologische Hypothese zu ihrer Entstehung aufrecht erhalten wurde, die sich entsprechend dem
Herauslösung aus der Psychiatrie und Pädiatrie
345
Erkenntnisstand gewandelt hat und die in jüngster Zeit durch einen genetischen Erklärungsansatz erweitert wurde (vgl. Remschmidt und Heiser 2004). In Tab. 8.2 ist eine kurze Geschichte des Konzeptes ADHS/HKS wiedergegeben. Eine ausführliche Wissenschaftsgeschichte zu diesem Syndrom haben Rothenberger und Neumärker (2005) vorgelegt. In ihr werden auch die tragischen Biographien von Franz Kramer und Hans Pollnow beschrieben, die als jüdische Ärzte aufgrund des am 7. 4. 1933 in Kraft getretenen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« ihre Positionen verloren und Deutschland verließen. Franz Kramer emigrierte im August 1938 in die Niederlande und Hans Pollnow bereits 1933 nach Paris, wurde 1943 von der Gestapo in Südfrankreich festgenommen und am 21. 10. 1943 im KZ Mauthausen ermordet (Neumärker 2005). Tab. 8.2: ADHS/HKS: Eine kurze Geschichte des Konzeptes (ergänzt nach Rothenberger und Neumärker, 2005) 1845
H.Hoffmann:
1890
W. James:
1902
G. Still:
1932 1937 1947 1954 1954 1957
F. Kramer / H. Pollnow : C. Bradley : A.A. Strauss / L. Lehtinen: L. Panizzon: G. Göllnitz: M.D. Laufer / E. Denhoff:
»Zappelphilipp« Attention deficit disorder as a deficit of inhibitory control Beschreibung ADHS-ähnlicher Symptome Hyperkinetische Erkrankung im Kindesalter Erste Anwendung von Stimulanzien (Benzedrin) The brain injured child (MBD) Methylphenidat (Ritalin) Hirnorganisches Achsensyndrom Hyperkinetic behavior syndrome
1963
M. Bax / R.M. McKeith:
Minimal cerebral dysfunction (MCD)
1964
R. Lempp:
Frühkindlich exogenes Psychosyndrom (Frühkindliche Hirnschädigung und Neurose)
1974– 1976 1980 1987 1992
WHO:
Hyperkinetic syndrome of childhood (ICD-8; ICD-9)
APA: APA/DSM-III-R: WHO/ICD-10:
Attention deficit disorder (ADD) Attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) Hyperkinetic disorder
1994 2013
APA/DSM-IV: APA/DSM-5
Aktualisierung der ADHD-Kriterien Erneute Aktualisierung
346
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Auch Theodor Ziehen (1862–1950), der von 1904–1912 die Psychiatrische und Nervenklinik der Charit8 geleitet hat, ist für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie von großer Bedeutung. Er kann als einer ihrer Gründungsväter bezeichnet werden. Sein einflussreiches Werk »Die Geisteskrankheiten des Kindesalters«, das drei Auflagen erlebt hat, hat das kinder- und jugendpsychiatrische Denken und Handeln erheblich beeinflusst. Theodor Ziehen, der zugleich auch Philosoph und Psychologe war, versuchte, die damals verbreitete Assoziationspsychologie auf die klinische Psychiatrie anzuwenden. Er führte in seiner Zeit in Jena entwicklungspsychologische Untersuchungen zur Ideenassoziation an Kindern durch, in denen es um den Vorstellungsablauf bei gegebener Anfangsvorstellung ging. Dabei wurde auch die Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufs ermittelte. Er beschäftigte sich ferner mit den Psychosen in der Pubertät, mit der krankhaften psychischen Konstitution im Kindesalter, mit der Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter und mit dem Seelenleben von Jugendlichen. Kritisch angemerkt zu seinem Werk wurde, dass er, im Gegensatz zu Emminghaus, das Kind im Rahmen einer Evolutionsperspektive als unfertiges Geschöpf betrachtete, dem eine eigene Individualität nicht zusteht, ferner, dass er die diagnostischen Kategorien des Erwachsenenalters ohne Modifikation auf das Kindes- und Jugendalter übertrug (Gerhard und Blanz 2002; Herberhold 1977). Karl Leonhard (1904–1988), der von 1958–1970 Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Humboldt-Universität zu Berlin war, ist für die Kinderund Jugendpsychiatrie vor allem durch die Beschreibung der »frühkindlichen Katatonie« sowie durch sein Lehrbuch »Biologische Psychologie« und durch die Beschäftigung mit neurotischen Störungen und »Kinderpersönlichkeiten« bedeutsam. Was die frühkindliche Katatonie betrifft, so ist hervorzuheben, dass Leonhard der Motorik im Rahmen frühkindlicher Störungen den ihr gebührenden Platz einräumt. Inwieweit es sich dabei aber um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, auch in Abgrenzung von autistischen Störungen, muss vorerst offen bleiben. Eine ausführliche Darstellung von Persönlichkeit und Werk Karl Leonhards hat Neumärker (2008) vorgelegt.
8.4
Der Einfluss von Lehrbüchern
Als früher Vorläufer kann Henry Maudsley (1835–1918) in London gelten, der in seiner »Physiology and Pathology of Mind« (1867) ein Kapitel von 34 Seiten mit dem Thema »Insanity of Early Life« verfasste, das als Schrittmacher späterer kinderpsychiatrischer Lehrbücher angesehen werden kann. Ein wichtiger Markstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das Jahr 1887, in dem das bereits erwähnte erste kinderpsychiatrische
347
Der Einfluss von Lehrbüchern
Lehrbuch, verfasst von Hermann Emminghaus (1845–1904), erschien. Der Psychiatriehistoriker Harms (1960) bezeichnete es als die »Wiegenstunde der Kinderpsychiatrie«. 1899 wurde erstmals die Bezeichnung »Kinderpsychiatrie« durch den Franzosen M. Manheimer verwendet, der sein Buch »Les troubles mentaux de l’enfance« (1899) im Untertitel »Pr8cis de psychiatrie infantile« nannte. Über die weitere Entwicklung kinder- und jugendpsychiatrischer Lehrbücher bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und die damit verbundene Begriffsgeschichte informiert Tabelle 8.3. Tab. 8.3: Begriffsgeschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie anhand von Lehrbüchern 1867 H. Maudsley :
»lnsanity of early life«
1887 H. Emminghaus: 1888 P. Moreau de Tours:
»Psychische Störungen im Kindesalter« »La folie chez les enfants«
1898 W.W. Ireland: M. Manheimer1899 Gomez:
»The mental affections of children« »Les troubles mentaux de l’enfance« »Pr8cis de psychiatrie infantile«
1904 Th. Heller : 1910 W. Strohmayer:
»Grundriss der Heilpädagogik« »Psychopathologie des Kindesalters«
1915 Th. Ziehen: 1925 S. de Sanctis:
»Die Geisteskrankheiten des Kindesalters« »Neuropsichiatria infantile«
1931 P. Schröder :
»Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters« »Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit«
1935 L. Kanner : 1939 F.G. von Stockert:
»Child psychiatry« »Einführung in die Psychopathologie des Kindesalters«
1926 A. Homburger :
1942 M. Tramer : 1952 H. Asperger :
»Lehrbuch der allgemeinen Kinder- und Jugendpsychiatrie« »Heilpädagogik«
Die bis in das Jahr 1867 zurückreichende Liste von Lehrbüchern dokumentiert die Beschäftigung zahlreicher Autoren mit psychischen Störungen des Kindesund Jugendalters. Der Begriff »Kinderpsychiatrie« wurde bereits 1899 von Manheimer eingeführt. Die Autoren der in der Tabelle zusammengefassten Lehrbücher kamen mit Ausnahme von Theodor Heller, der Heilpädagoge war, alle aus dem ärztlichen Bereich und überwiegend aus der Psychiatrie bzw. Neurologie.
348
8.5
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Wie es weiterging
Die Etablierung der Facharztdisziplin »Kinder- und Jugendpsychiatrie«, die 1968 beschlossen wurde und 1969 als Gebietsbezeichnung in Kraft trat, hat die Entwicklung des Faches nachhaltig beeinflusst387. Jetzt war es möglich, sich als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in eigener Praxis niederzulassen, es wurden neue Lehrstühle sowie Kliniken und Ambulanzen gegründet. Tab. 8.4: Lehrstühle bzw. Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den deutschen Universitäten 1954
Marburg
1958 1960 1964 1966
Rostock Dresden Frankfurt Hamburg und Münster
1970
FA für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1968 Beschluss auf dem 71. Ärztetag am 22. Mai 1968 in Wiesbaden Berlin-Ost / Charit8
1970 1970
Göttingen Tübingen
1971 1975
Freiburg und Heidelberg Berlin-West / Freie Universität und Mannheim
1976 1976, 2003
Leipzig Magdeburg (nach Wiedervereinigung)
1978 1979
Würzburg Jena
1981 1984
Kiel München
1988 1997
Erlangen und Köln Aachen und Essen
387 Auf die Vorgeschichte der Bemühungen um eine eigene Facharztbezeichnung und deren Realisierung wurde bereits in Kap. 1 ausführlich eingegangen. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass sich Hubert Harbauer (1919–1980) um die Durchsetzung der Facharztbezeichnung besondere Verdienste erworben hat. Er nahm im Oktober 1967 an einer Sitzung des Facharztausschusses der Bundesärztekammer in München teil und ebenso im selben Jahr an einer Sitzung des Weiterbildungsausschusses der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Düsseldorf. Dort warb er, auch in seiner Eigenschaft als Pädiater, für die neue Facharztbezeichnung (Nissen G (2009): Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute. Persönliche Erinnerungen, S. 150–151, Psychosozial-Verlag Gießen.
349
Wie es weiterging
((Fortsetzung)) 1997/98
Mainz
2001 2003
Ulm Homburg/Saar
2010 2014
Bochum Witten/Herdecke
2016 Neuruppin (Brandenburg) Angegeben ist jeweils das Jahr, in dem die Kinder- und Jugendpsychiatrie den Status eines selbstständigen Bereiches erlangt hat, unabhängig vom Status des jeweiligen Leiters. In vielen Fällen war dies ein längerer Prozess: von einer eingegliederten Station in einer Kinderklinik oder in einer Psychiatrischen Klinik, zu einem nicht-selbstständig abgegrenzten Bereich, zu einer selbstständigen Abteilung und schließlich zu einem Ordinariat/ Lehrstuhl. Der Verfasser dankt besonders Prof.Michael Scholz ( Dresden) für die Ermittlung der Daten aus den neuen Bundesländer.
Tab. 8.4 gibt eine Übersicht über die Entwicklung der Lehrstühle bzw. der Universitätsabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den deutschen Universitäten. Sie verdeutlicht eine erfreuliche Entwicklung. Andererseits muss aber festgestellt werden, dass das Fach noch nicht an allen 38 medizinischen Fakultäten akademisch vertreten ist. Zu ihnen gehören Bonn, Düsseldorf, Gießen, Greifswald, Halle, Hannover und die TU München, Oldenburg und Regensburg. Im Jahr 1973 erschien zum ersten Mal die »Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie«, die sich aus dem »Jahrbuch für Jugendpsychiatrie« heraus entwickelt hatte – kurzum: Es war ein Aufbruch in die Zukunft. Dieser wurde im Wesentlichen durch vier Initiativen nachhaltig gefördert: (1) Durch die Psychiatrie-EnquÞte (1970–1975) und das aus ihr resultierende Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung (1980–1985), (2) durch die Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV), die am 18. 12. 1990 in Kraft trat, (3) die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV), die am 30. 6. 2013 wirksam wurde, und (4) das Psychotherapeutengesetz vom 16. Juni 1998, das nicht-ärztlichen Psychotherapeuten die selbständige Ausübung der Psychotherapie ermöglichte. In der DDR verlief die Nachkriegsentwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in etwas anderer Weise388 als in der BRD. Es etablierte sich von Anfang an die neuropsychiatrische Richtung. Dementsprechend wurde auch 1974 eine Subspezialisierung »Kinderneuropsychiatrie«389 eingeführt, nachdem im Jahr 1963 der erste Lehrstuhl für Kinder-Neuropsychiatrie in Rostock mit der Berufung von 388 Übersicht bei Häßler F (2016). Meilensteine der Kinderneuropsychiatrie. Fortschr. Neurol. Psychiatr. 84, S1–S2. 389 Die Subspezialisierung »Kinderneuropsychiatrie« konnte von Fachärzten für Psychiatrie und Neurologie erworben werden.
350
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Gerhard Göllnitz (1920–2003) gegründet worden war. Vorausgegangen war eine Regierungsanordnung über die Durchführung der psychiatrischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der DDR (1954). Für die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie in der DDR war Rostock der Ausgangspunkt, ähnlich wie Marburg in der BRD, und Göllnitz fiel als erstem Lehrstuhlinhaber für das neue Fachgebiet eine analoge Rolle zu, wie sie Hermann Stutte für Westdeutschland innehatte. In den 1960er und 1970er Jahren wurden zunehmend auch an anderen Universitäten der DDR kinderneuropsychiatrische Lehrstühle bzw. Abteilungen gegründet, so dass im Jahr 1980 an neun Medizinischen Hochschulen, darunter sieben Universitäten, entsprechende Abteilungen existierten: an den Universitäten in Berlin, Dresden, Leipzig, Jena, Greifswald, Rostock und Halle sowie an den Medizinischen Akademien in Erfurt und Magdeburg. Seit der Wende und der Vereinigung der beiden Fachgesellschaften im Jahr 1990 ( vgl.Kap.14) gelten die im Folgenden dargestellten Weiterentwicklungen mit Ausnahme des Modellprogramms Psychiatrie für ganz Deutschland.
8.5.1 Psychiatrie-Enquête und Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Angesichts der Unterversorgung psychisch kranker Erwachsener sowie auch Kinder und Jugendlicher und angesichts der Auseinandersetzungen zur Situation der Psychiatrie, die sich insbesondere auf psychiatrische Großkrankenhäuser, deren dezentrale Lage, die unzureichende Differenzierung ihres Versorgungsangebotes und regional sehr unterschiedliche Versorgungsstrukturen bezogen, beschloss der Bundestag am 23. Juni 1971, eine Kommission zur Erarbeitung einer EnquÞte über die Reform der Psychiatrie einzusetzen. Der Bericht dieser Kommission wurde am 25. November 1975 dem Deutschen Bundestag zugeleitet. Im Bericht wurde ausführlich die Situation psychisch Kranker und deren defiziente Versorgung beschrieben, und es wurden vier Grundprinzipien zur Reform der Psychiatrie vorgeschlagen: – Das Prinzip der gemeindenahen Versorgung, – das Prinzip der bedarfsgerechten und umfassenden Versorgung aller psychisch Kranker und Behinderter, – das Prinzip der bedarfsgerechten Koordination aller Versorgungsdienste und – das Prinzip der Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken. Nachdem der Bericht der Expertenkommission fünf Jahre in der Schublade der Bundesregierung geruht hatte, entschied die Bundesregierung »dem maßgeb-
Wie es weiterging
351
lichen Impuls der EnquÞte zum Durchbruch zu verhelfen«390. Dies geschah in Gestalt des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung, das im Zeitraum von 1980–1985 durchgeführt wurde und in 14 städtischen und ländlichen Regionen die Versorgung psychisch Kranker dokumentieren sollte, »um damit Erkenntnisse über den Aufbau einer bedarfsgerechten Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten zu gewinnen«391. Das »Modellprogramm Psychiatrie« wurde von September 1979 bis Dezember 1986 durchgeführt und von einer interdisziplinär zusammengesetzten Beraterkommission begleitet. Die Beraterkommission legte der Bundesregierung einen ausführlichen Bericht vor, zu dem die Bundesregierung, Kinder und Jugendliche betreffend, wie folgt Stellung nahm: – Es ist davon auszugehen, dass 5 % aller Kinder und Jugendlichen psychiatrisch behandlungsbedürftig sind, es werden aber nur maximal 3 % in gut ausgebauten Regionen behandelt. – Für die angemessene Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher ist eine Kooperation von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe unabdingbar. – Im Sinne einer Verbesserung der Versorgung soll die freie Niederlassung von Kinder- und Jugendpsychiatern gefördert werden. – Die Anstrengungen zur Verbesserung der Versorgung beginnen bereits bei der Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals. – Es bedarf der Einrichtung von Lehrstühlen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Universitäten, an denen das Fachgebiet noch nicht vertreten ist, sowie einer angemessenen Berücksichtigung der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Medizinstudium. – Ferner ist eine stärkere Integration kinder- und jugendpsychiatrischer Inhalte in die Ausbildungs- und Studiengänge anderer Fächer wie Psychologie, Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik geboten.392 Das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung hatte bundesweit einen entscheidenden Einfluss auf die Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie Erwachsener. Besonders profitiert hat hier die Region Marburg und umliegende Landkreise, weil diese die einzige von 14 Regionen war, in der die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie deren Familien umfassend erprobt werden konnte (s. auch Kap. 10.3).
390 Bundestagsdrucksache 11/8494 vom 27. 11. 1990. 391 ebenda. 392 Deutscher Bundestag, ebenda.
352
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
8.5.2 Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) Die Psychiatrie-Personalverordnung vom 18. Dezember 1990 regelt den Personalbedarf für die Krankenbehandlung. Erstmalig wurde dieser nicht mehr pauschal auf eine bestimmte Patientenzahl bezogen, sondern an der Art und Schwere der Erkrankung orientiert. Es wurden sieben Behandlungsgruppen gebildet, die der Maßstab für die Personalbemessung waren. Unterschieden wurden folgende Bereiche: KJ1 – kinderpsychiatrische Regel- und Intensivbehandlung, KJ2 – jugendpsychiatrische Regelbehandlung, KJ3 – jugendpsychiatrische Intensivbehandlung, KJ4 – rehabilitative Behandlung, KJ5 – langdauernde Behandlung schwer und mehrfach Kranker, KJ6 – Eltern-Kind-Behandlung und KJ7 – tagesklinische Behandlung. Diesen Behandlungsgruppen wurden bestimmte Zeitkontingente zugeteilt, die sich auf alle in der Krankenversorgung tätigen Berufsgruppen bezogen. Die PsychPV war und ist ein fortschrittliches Instrument zur angemessenen Versorgung psychisch kranker Erwachsener sowie Kinder und Jugendlicher. Leider wurde sie verschiedentlich nicht eingehalten; es gab aus ökonomischen Gründen immer wieder Abstriche, die zur Benachteiligung psychisch Kranker in der Versorgung geführt haben.
8.5.3 Die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) Die SPV »dient der Förderung einer qualifizierten interdisziplinären sozialpsychiatrischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung. In die Behandlung nach dieser Vereinbarung können Patienten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres aufgenommen werden«393. Sie trat am 1. Juli 2009 in Kraft und ermöglicht niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinderärzten und Nervenärzten mit einer mindestens zweijährigen Weiterbildung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie die interdisziplinäre Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in einem Praxisteam. In der SPV ist eine Obergrenze festgelegt. Es dürfen pro Quartal nicht mehr als 400 Patienten behandelt werden, um die Versorgungsqualität zu garantieren. Die SPV wurde umfassend evaluiert (vom 1. Quartal 2013 bis Mitte 2014). Der im Mai 2015 von der KBV vorgelegte Evaluationsbericht kam zu dem Ergebnis, dass sich die Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und nicht-ärztlichen Berufsgruppen bewährt hat und in beiden Gruppen ein hohes Engagement fest393 kbv.de/html/themen 2857.php.
Wie es weiterging
353
zustellen war. Es ließ sich eine hohe Behandlungskontinuität unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes nachweisen. Was den Behandlungserfolg betrifft, so war aus ärztlicher Sicht in 46 % aller Fälle ein vollständiger oder weitgehender Behandlungserfolg zu konstatieren. Bemerkt wurde diesbezüglich, dass in die Behandlung häufig auch Patienten mit multiplen und schwer behandelbaren Störungen einbezogen waren394. Auch die SPV hat zu einer bedeutsamen Verbesserung der Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher geführt, insbesondere, weil dadurch nicht-ärztliche Berufsgruppen regelhaft in das interdisziplinäre Team eingebunden sind.
8.5.4 Das Psychotherapeuten-Gesetz Das Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (PsychotherapeutengesetzPsychThG) vom 16. 6. 1998, in Kraft getreten am 1. 1. 1999, ermöglicht nach entsprechender Ausbildung und Erteilung einer Approbation nicht-ärztlichen Berufsgruppen die selbständige und eigenverantwortliche Ausübung der Psychotherapie. Die Berufsbezeichnung »Psychotherapeut« ist geschützt und darf von anderen Personen als Ärzten, psychologischen Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten nicht geführt werden. Die Berechtigung der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten erstreckt sich auf Patienten, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. In den Bestimmungen des PsychThG wird ferner ausgeführt, dass die Psychotherapie sich wissenschaftlich anerkannter Verfahren zu bedienen hat, nur bei Störungen von Krankheitswert angewendet werden darf und dass im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung eine somatische Abklärung herbeizuführen ist. Es muss sich um eine »heilkundliche Psychotherapie« handeln, die Aufarbeitung sozialer Konflikte oder Problemkreise außerhalb der Heilkunde gehört nicht zur Indikation.
8.5.5 Institutionelle Verankerung neuer Versorgungsstrukturen Die bislang geschilderten Initiativen zur Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher haben der Entwicklung des Fachgebietes Kinder- und Jugendpsychiatrie einen erheblichen Auftrieb verliehen. Bereits nach Etablierung des Facharztes kam es nicht nur zu einem Anstieg 394 ebenda.
354
Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
der Anzahl an Fachärzten in Klinik und Praxis, sondern auch zur Entwicklung regionaler Versorgungsnetze, in die Kliniken, Praxen und Jugendhilfeeinrichtungen einbezogen waren. Es wurden vermehrt Tageskliniken gegründet und regionale Versorgungsstrukturen aufgebaut, die institutionell aus der Trias Klinik-Tagesklinik-Ambulanz bestehen. Die Niederlassung in der Praxis wurde durch die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung sowohl attraktiver als auch entscheidend qualitativ verbessert; einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung leisten auch die Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA), die speziell für jene Patienten vorgesehen sind, die wegen Art, Schwere und Dauer ihrer Erkrankung eines besonderen krankenhausnahen Versorgungsangebotes bedürfen. Mit Hilfe der PIA sollen einerseits Krankenhausaufenthalte vermieden werden und andererseits, wenn diese nicht vermeidbar sind, die Behandlungszeit verkürzt und die Behandlungsabläufe optimiert werden. Die psychiatrischen Institutsambulanzen, die zunächst nur psychiatrischen Fachkrankenhäusern angeschlossen werden konnten, können seit dem Jahr 2000 auch an psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern und auch an Universitätskliniken eingerichtet werden.
8.6
Zusammenfassung
Die Etablierung eines eigenen Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahre 1968 war der entscheidende Anstoß für die progressive Weiterentwicklung dieses Fachgebietes. Durch die Psychiatrie-EnquÞte, gefolgt vom Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung, durch die Einführung der PsychiatriePersonalverordnung, die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung und durch das Psychotherapeuten-Gesetz, das auch nicht-ärztlichen Berufsgruppen die selbständige und eigenverantwortliche Ausübung der heilkundlichen Psychotherapie erlaubt, hat die Versorgung psychisch kranker Kinder und ihrer Familien bundesweit einen erheblichen Aufschwung erfahren, der zur institutionellen Verankerung neuer Versorgungsstrukturen geführt hat, innerhalb derer drei der vier Leitprinzipien des Modellprogramms Psychiatrie weitgehend verwirklicht sind, nämlich die Integration in die Medizin, die Gemeindenähe und die Angemessenheit der Versorgung. Die Gleichstellung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher mit anderen Patientengruppen ist allerdings noch nicht erreicht und muss weiterhin gefordert werden.
9.
Unruhige Jahre (1968–1980)
9.1 9.1.1 9.1.2 9.2 9.2.1 9.2.2
9.2.5.1 9.2.5.2 9.2.6 9.3 9.3.1 9.3.1.1 9.3.1.2 9.3.1.3 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4
Die 1968-er Bewegung und ihre Folgen Hintergrund Auswirkungen auf die Philipps-Universität Die Hochschulreformen in Hessen Hintergründe Das Gesetz über die wissenschaftlichen Hochschulen des Landes Hessen (Hochschulgesetz) vom 16. Mai 1966 Reaktionen auf das hessische Hochschulgesetz vom 16. Mai 1966 Das Hessische Universitätsgesetz vom 12. Mai 1970 Auswirkungen und Nachwirkungen des HUG vom 12. Mai 1970 auf die Universitätsmedizin Bildung von Medizinischen Zentren und Medizinischen Betriebseinheiten Situation im Zentrum für Nervenheilkunde Die Hochschulgesetzgebung im Lichte der Parteipolitik Die Politisierung der Philipps-Universität Marburg Die Marburger Schule Wolfgang Abendroth (1906–1985) Werner Hofmann (1922–1969) Heinz Maus (1911–1978) Der Wirkungskreis der sogenannten Marburger Schule Gemeinsamkeiten der Protagonisten der sogenannten Marburger Schule Zur Atmosphäre im Institut für wissenschaftliche Politik Zusammenfassung
9.1
Die 1968-er Bewegung und ihre Folgen
9.2.3 9.2.4 9.2.5
9.1.1 Hintergrund Die 1968-er Bewegung war eine Revolte der Jugend gegen überkommene Strukturen, Lebensverhältnisse, Weltanschauungen, politische und wirtschaftliche Verhältnisse mit dem Impetus, die Gesellschaft zu verändern. In ihr flossen
356
Unruhige Jahre (1968–1980)
zahlreiche Strömungen zusammen, die sich mehr oder weniger militant gegen herrschende Normen, das politische System, das Establishment, die Generation der Väter und ihre Vergangenheit im Nationalsozialismus, kurzum gegen die gesamte gesellschaftliche Situation, richteten. Es handelte sich nicht um eine deutsche, sondern um eine internationale Bewegung, die allerdings in Deutschland eine besondere Ausrichtung zeigte395. Die 1968-er Bewegung wird oft als Studentenbewegung bezeichnet, da die Studenten in ihr eine herausragende Rolle spielten. Sie ist aber nicht auf die Studierenden und ihre Aktivitäten beschränkt gewesen, sondern hatte zahlreiche gesamtgesellschaftliche Auswirkungen. Stichworte und Kampfbegriffe waren Enthierarchisierung, Demokratisierung, Gleichberechtigung, Transparenz, Mitbestimmung und Teilhabe an gesellschaftlichen und professionellen Entscheidungen. In den Jahren 1960–1970 kam es weltweit zu ähnlichen Protestbewegungen, die sich in Besetzungen von Institutionen, Blockaden von Verkehrswegen, Beschädigungen von Gegenständen, Demonstrationen, spontanen Aktionen und zum Teil auch in Straftaten verschiedenster Art manifestierten. In Deutschland war die Studentenrevolte assoziiert mit Aktionen der außerparlamentarischen Opposition und mit dem Bestreben, eine andersartige Republik zu errichten. Die Bewegung erhielt Auftrieb durch den Regierungswechsel in der Bundesrepublik im Jahre 1969, als die sozialliberale Bundesregierung ins Amt kam und Bundeskanzler Willy Brandt das Motto ausgab: »Mehr Demokratie wagen«. Die Akteure der Studentenrevolte protestierten gegen die Notstandsgesetze der großen Koalition, mahnten die bislang ausgebliebenen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus an und forderten eine Demokratisierung der Universität mit dem Slogan »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren«. Parallel hierzu entwickelte sich auch die Heimkampagne (1969), die Heimbewohner als revolutionäres Potenzial ansah, eine Erziehungsrevolution forderte und die antiautoritäre Erziehung propagierte, die bei vielen jungen Eltern zu einer starken Verunsicherung führte und deren Ergebnisse später nicht selten einer Erziehungsberatung oder gar klinischen Intervention bedurften (Hartmann, 2007). Die Heimkampagne begann 1969 im Jugendheim Staffelberg in Biedenkopf bei Marburg und hat letztlich auch dazu geführt, dass bis heute keine geschlossenen Heimplätze in Hessen existieren. In die Heimkampagne involviert waren auch RAF-Terroristen, u. a. Andreas Baader und Astrid Proll (Winkler, 2007).
395 Vgl. Gilcher-Holtey (2008): Die 68er Bewegung, C.H. Beck, München.
Die 1968-er Bewegung und ihre Folgen
357
9.1.2 Auswirkungen auf die Philipps-Universität Die 1968-er Bewegung hatte auch die Philipps-Universität ergriffen, allerdings nicht in gleichem Maße wie in Berlin, Frankfurt, Bremen oder Heidelberg. Auch erstreckte sie sich nicht auf die gesamte Universität, sondern auf bestimmte Fachbereiche, unter denen der Fachbereich 03 (Sozialwissenschaften und Philosophie) die führende Rolle einnahm. Mit dem Inkrafttreten des Hessischen Hochschulgesetzes vom 16. Mai 1966 entstanden heftige Auseinandersetzungen im Hinblick auf die Zusammensetzung der akademischen Gremien sowie auf die Gestaltung der im Hochschulgesetz vorgesehenen Universitätssatzung. Es kam fortlaufend zu Protestveranstaltungen seitens der Studierenden, die in unverhältnismäßig hoher Zahl an allen Entscheidungen innerhalb der Universität beteiligt sein wollten, es kam zu massiven Störungen der Lehrveranstaltungen zu Go-Ins, Sit-Ins in Gremien und Institutionen, so dass zeitweise ein geregelter Lehrbetrieb nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Gegen diese machtergreifende Politisierung, die unter dem Deckmantel der Demokratisierung stattfand, wandten sich 35 Ordinarien im sogenannten »Marburger Manifest« vom 17. April 1968, das in der Folge deutschlandweit verbreitet, von mehr als 1.500 Hochschullehrern unterzeichnet und als Anzeige in der »Welt« am 30. 04. 1968 und in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« am 09. 07. 1968 veröffentlicht wurde. Obwohl der satzungsgebende Senat der Philipps-Universität Marburg mit knapper Mehrheit am 20. 01. 1968 eine Beteiligung der Studierenden mit 20 % am Satzungsausschuss beschlossen hatte, sprengten die Studierenden unter Mitwirkung von einigen Senatsmitgliedern aus den Reihen der akademischen Mitarbeiter am 10. 02. 1968 die konstituierende Sitzung des satzungsgebenden Senats. In der Folge wurden ordnungsgemäße Beratungen in den akademischen Gremien nicht mehr möglich: »Sie tagten zu ungewöhnlichen Zeiten an ungewöhnlichen Orten in Marburg oder außerhalb des Stadtgebiets. Am 27. November 1968 beschlossen, am 13. Januar 1969 vom Kultusminister gebilligt und am 19. September 1972 vom Hessischen Staatsgerichtshof für ungültig erklärt, gelang es erst nahezu vier Jahrzehnte später, nachdem ein neues Hochschulgesetz in Kraft getreten war und die Zeiten sich beruhigt hatten, am 12. 07. 2011 eine Grundordnung zustande zu bringen« (Mammitzsch, 2016)396. Was die Auswirkungen der 1968-er Revolte auf die Gesellschaft betrifft, so gehen die Meinungen auseinander. Während ehemalige Akteure der 1968-er Bewegung die Auswirkungen der Revolte als Zäsur im Hinblick auf die demokratische Ausrichtung der Bundesrepublik betrachten, räumen andere aus der 396 Mammitzsch, V. (2016): Vorwort in: Mammitzsch, V., Föllinger, S., Froning, H., Gornig, G., Jungraithmayr, H. (Hrsg.): Die Marburger Gelehrtengesellschaft, DeGruyter, Berlin.
358
Unruhige Jahre (1968–1980)
Distanz einiger Jahrzehnte ihr eine weitaus geringere Bedeutung ein, dies auch im Hinblick auf die Reformen der Universitäten (Rohstock, 2010, 2011). Zur Geschichte der 1968-er Bewegung sind inzwischen zahlreiche Publikationen erschienen397, unter denen das Ende der 1990-er Jahre begonnene Projekt des Instituts für Zeitgeschichte in München einen besonderen Stellenwert einnimmt (vgl. Wengst, 2013; Rohstock, 2013), und die sehr lesenswerte Rückschau eines Beteiligten (Schneider, 2008). Die spezielle Situation an der PhilippsUniversität hat Kosock398 (2015)399 anschaulich beschrieben, dessen Gesamtbeurteilung wie folgt lautet: »Die Jahre 1967–72 haben die deutsche Universität, und mit ihr einen gewichtigen Teil der deutschen Gesellschaft, entscheidend verändert. Allerdings wäre es eine grobe Vereinfachung, diese Jahre auf die Auseinandersetzung zwischen Revolutionären und Reaktionären zu reduzieren, die sich ihrer Ziele – radikale Veränderung oder Bewahrung des Status quo – sicher gewesen wären. Zwischen diesen beiden Gruppen bewegte sich die große Mehrheit der akademischen Gemeinschaft, Hochschullehrer wie Studierende, in einer plötzlich zum Minenfeld mutierten Landschaft, aufgeschreckt durch die Vorstellung, nicht stehen bleiben zu dürfen, aber den Weg zu sicheren Positionen nicht zu kennen, gutwillig, aber naiv, aktionsbereit, aber hilflos« (S. 5).
9.2
Die Hochschulreformen in Hessen
9.2.1 Hintergründe Hintergründe für die Hochschulreform in Hessen seit 1960-er Jahren waren folgende Entwicklungen: – Die rasche Erhöhung der Studentenzahlen im Zeitraum ab den 1960-er Jahren im Gefolge des von einigen Protagonisten ausgerufenen Bildungsnotstandes mit der Forderung, die Abiturientenzahlen drastisch zu erhöhen (Edding, 1963; Picht 1964). Insbesondere Georg Picht hatte auf die deutsche Bildungskatastrophe aufmerksam gemacht und diese wie folgt begründet: Die Bundesrepublik stehe 397 Vgl. auch Gilcher-Holtey, J. (20084): Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA. C.H. Beck, München; Kraushaar, W. (2000): 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburger Edition, Hamburg. 398 Heinz Kosock, geb. 1934, hat die Anfänge der 1968-er Jahre an der Philipps-Universität Marburg erlebt, wechselte dann nach Wuppertal und war an der dortigen Bergischen Universität bis zu seiner Emeritierung als Professor für Anglistik tätig. Er ist insbesondere als Experte für die irische Literatur hervorgetreten und war Präsident der Internationalen Gesellschaft für irische Literatur (Wikipedia, 12. 11. 2017). 399 H. Kosock (2015). 68 in der Provinz. Szenen aus einer deutschen Universität 1967–1972. WVT, Wissenschaftlicher Verlag, Trier.
Die Hochschulreformen in Hessen
359
in der vergleichenden Schulstatistik am unteren Ende europäischer Länder, Bildungsnotstand heiße auch wirtschaftlicher Notstand, die bisherige wirtschaftliche Entwicklung werde rasch ein Ende nehmen, wenn nicht eine geeignete Zahl qualifizierter Nachwuchskräfte zur Verfügung stünde, wenn das Bildungswesen versage, sei die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. In seinem »Entwurf eines Notstandsprogramms« machte Picht umfangreiche Vorschläge zur Modernisierung des Schulwesens sowie des Bildungswesens überhaupt. – Die 1968-er Revolte der Studentenschaft mit der Forderung nach einer Demokratisierung der Hochschulen, die nur durch erhebliche Umstrukturierungen erreichbar war (Ablösung der Ordinarien durch die Gruppenuniversität, Einführung weitgehender Mitbestimmungsrechte aller anderen in der Universität Tätigen, Aufhebung der traditionellen Fakultäten und Institute). – Der Ausbau der Sozialwissenschaften, die im Hinblick auf Bildung und Ausbildung zunehmend die »Relevanzfrage« stellten und dem Praxisbezug der universitären Ausbildung einen hohen Stellenwert beimaßen. – Die aus den USA übernommene Humankapitaltheorie, die Bildung als Ressource für die gesamtwirtschaftliche Weiterentwicklung der Gesellschaft ansah und für die Universität zu einer Ablösung des Humboldtschen Bildungsideals durch ein pragmatisches Modell der Berufsausbildung (von der Bildung zur Ausbildung) führte. Ausgaben für die Bildung waren im Lichte dieser Theorie und im Sinne eines Kosten-Nutzen-Denkens für die Ausbildung der künftigen Akademikergeneration nutzbringend einzusetzen. In der hessischen Hochschulgesetzgebung schlugen sich diese Einflüsse in zahlreichen Bestimmungen und Regelungen nieder, die zum Teil überstürzt eingeführt wurden und zuweilen zu chaotischen Zuständen in den Gremien, Fakultäten und Instituten führten. Im Zeitraum von 1966 (erstes Hessisches Hochschulgesetz) bis zum Jahre 1986 wurde das hessische Hochschul- bzw. Universitätsgesetz einer Vielzahl von Veränderungen unterworfen, die nicht selten dazu führten, dass neue Regelungen nach wenigen Jahren wieder zurückgenommen und der Status quo ante wiederhergestellt wurde. Für die Reform der hessischen Hochschulen und Universitäten waren in dem hier zu betrachtenden Zeitraum zwei Gesetze von zentraler Bedeutung: das Hessische Hochschulgesetz vom 16. Mai 1966 und das Hessische Universitätsgesetz vom 12. Mai 1970.
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Unruhige Jahre (1968–1980)
9.2.2 Das Gesetz über die wissenschaftlichen Hochschulen des Landes Hessen (Hochschulgesetz) vom 16. Mai 1966 In den Jahren 1963/1964 zeichnete sich ein »grundlegender hochschulpolitischer Richtungswechsel« ab, der auf eine stärkere Einflussnahme des Staates auf die Universitäten hinauslief (Rohstock, 2010). Den Universitäten traditionellen Zuschnitts wurde nicht zugetraut, mit dem »gewaltigen Studentenberg« fertig zu werden. Gleichzeitig verfolgte man in Hessen aber auch eine politische Zielsetzung, die sich auf die »bildungspolitischen Leitsätze der SPD« aus dem Jahr 1963 bezog. Das Gesetz war das erste Hochschulgesetz eines Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor galt für die Hochschulen und Universitäten des Landes Hessen Satzungsrecht. Dieses Gesetz, das im wesentlichen keine drastischen Strukturveränderungen herbeiführte, den Universitäten sogar freistellte, zwischen drei verschiedenen Leitungsmodellen zu wählen (Rektoratsverfassung, präsidiale Verfassung oder Direktorialverfassung), enthält allerdings eine Bestimmung, die an der PhilippsUniversität Marburg zu erheblichen Auseinandersetzungen führte. Es handelte sich um die Bestimmung in § 6 Abs. 1, der lautete: »Die Hochschule gibt sich eine Satzung. Diese trifft nähere Bestimmungen über: 1. die korporativen Rechte und Pflichten der Angehörigen des Lehrkörpers, der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Studenten. 2. die Organe der Hochschule, ihre Aufgaben und Befugnisse sowie ihre Zusammenarbeit, 3. die Besetzung und den Geschäftsgang ständiger Senatsausschüsse 4. die Zahl der Hochschullehrer der Abteilung für Erziehungswissenschaften im Senat, 5. die Zahl der Vertreter der Versammlungen der Nicht-Ordinarien und der NichtHabilitierten, die an den Senats- und Fakultätssitzungen sowie an Ausschusssitzungen teilnehmen. 6. die Zahl der Vertreter der Studentenschaft und der Fachschaft, die an den Senatsund Fakultätssitzungen sowie an Ausschusssitzungen teilnehmen, 7. die Stellung der wissenschaftlichen Anstalten innerhalb der Hochschule, 8. Beginn und Ende der Vorlesungszeiten (die Dauer des Sommersemesters soll derjenigen des Wintersemesters entsprechen)«.
Mit dieser Bestimmung hatte die Regierung praktisch alle relevanten Regularien an die Universität »abdelegiert«, was zu einem »Hauen und Stechen« innerhalb militanter Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen führte. Es ging dabei insbesondere um Proporzregelungen zur Beteiligung der verschiedenen Gruppen in den Gremien der Universität. Diese Gruppen waren: die Ordinarien, die Nicht-Ordinarien, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Studierenden.
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Im Zuge der Grundsatzdebatte zur Satzung kam es im akademischen Senat zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der genannten Gruppen. Schließlich wurde eine Satzungskommission gebildet, die die sogenannte Waldecker Satzung ausarbeitete, benannt nach einer Klausurtagung der Satzungskommission auf Schloss Waldeck. Der satzungsgebende Senat beschloss die neue Satzung am 27. November 1968. Sie wurde am 13. Januar 1969 vom hessischen Kultusminister genehmigt. Die Waldecker Satzung brachte eine Reihe tiefgreifender Veränderungen für die Philipps-Universität Marburg mit sich. Sie sah verschiedene Eingriffe in die Struktur vor, deren wichtigste im Folgenden wiedergegeben sind: Direktorium (§§ 51–61): Die Leitung der Universität wurde einem Direktorium übertragen, bestehend aus drei hauptamtlich an der Philipps-Universität tätigen Universitätslehrer, die vom Konvent für eine Amtszeit von drei Jahren gewählt wurden. Die Mitglieder des Direktoriums führten den Titel »Rektor«. Es gab also jeweils drei Rektoren. Konvent (§§ 39–44): Dem Konvent, der gleichsam das Parlament der Universität darstellte, gehörten an: (1) alle Lehrstuhlinhaber, (2) Vertreter der Dozentenversammlung, (3) Vertreter der Versammlung der akademischen Mitarbeiter, (4) Vertreter der Studentenschaft (5) der Kanzler. Die Zahl der unter Ziffer (2) bis (4) genannten beträgt die Hälfte der unter Ziffer (1) Genannten. Senat (§§ 42–50): Die Aufgaben des Senats wurden wie folgt beschrieben: »Der Senat bestimmt die Richtlinien der akademischen Verwaltung. Er berät und beschließt über alle gemeinsamen Angelegenheiten der akademischen Verwaltung, soweit sie nicht durch Gesetz oder Satzung einem anderen Organ übertragen sind. Er berät das Direktorium in allen zu dessen Zuständigkeit gehörenden Fragen.« Lehrkörper (§§ 5–20): Diesbezüglich ergaben sich keine bedeutsamen Veränderungen. Die Zusammensetzung des Lehrkörpers entsprach weitgehend den Regelungen des Hessischen Hochschulgesetzes vom 16. Mai 1966. Anstaltsbeirat (§§ 98ff.): Der gravierendste Eingriff aber war die Einrichtung eines Anstaltsbeirates in den sogenannten wissenschaftlichen Anstalten. Unter dieser Bezeichnung wurde den der Forschung dienenden wissenschaftlichen Anstalten ein Anstaltsbeirat zugeordnet, dem folgende Gruppen angehörten: »a) Die an der Anstalt tätigen Universitätslehrer, b) Vertreter der an der Anstalt tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiter, c) Vertreter der Studenten der durch die Anstalt betreuten Fachrichtungen«. Näheres sollte durch eine »Anstaltsordnung« geregelt werden. Der Anstaltsbeirat sollte den Direktor oder die Direktoren im Hinblick auf die Leitung der Anstalt beraten und notwendige Entscheidungen vorbereiten. Insbesondere sollte sich der Anstaltsbeirat mit folgenden Fragen befassen:
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»Ausbildung der Studenten und Durchführung anstaltsbezogener Prüfungen Weiterbildung von akademischen Mitarbeitern, Fortbildung Berufstätiger Planung, Durchführung und Koordination von Forschungsvorhaben regelmäßige Tätigkeitsberichte der Anstalt Aufstellung des Haushaltsvorschlages und Verteilung der Mittel Anstaltsordnung und Hausordnung Personalfragen (zum Beispiel Einstellungen und Entlassungen)«.
Die Bildung des Anstaltsbeirates als bürokratisches Unikum sorgte nicht nur für Unruhe und Ratlosigkeit in den einzelnen Instituten und Kliniken, sondern erwies sich als untauglich im Hinblick auf die Lösung der ihm zugewiesenen Aufgaben und war letzten Endes entbehrlich. Er hat aber Hochschullehrer und Mitarbeiter intensiv beschäftigt, was im Rückblick als eine immense Zeitverschwendung angesehen werden muss. Nachdem die Untauglichkeit dieses Gremiums eingesehen wurde, wurde es wieder abgeschafft.
9.2.3 Reaktionen auf das hessische Hochschulgesetz vom 16. Mai 1966 Die außeruniversitären Reaktionen auf das Gesetz waren überwiegend positiv. Es wurde als fortschrittlich angesehen, dass die Aufgaben der Universitäten präzise beschrieben wurden, dass eine Trennung zwischen akademischer und staatlicher Verwaltung innerhalb des Hochschulbereichs vorgenommen, dass die Berufungsverfahren gestrafft werden sollten und dass den Nicht-Ordinarien eine stärkere Position eingeräumt wurde (Sargk, 2010). Innerhalb der Hochschulen stieß das Gesetz aber auf erheblichen Widerstand. Kritisiert wurde u. a.: – Die längere Amtszeit des Rektors (vier Jahre), die die Kontinuität der Forschung für den Rektor verhindere und einem Berufswechsel gleichkomme. Im Falle der präsidialen Verfassung war sogar eine achtjährige Amtszeit vorgesehen. – die Ausweitung der Partizipationsrechte der Studierenden und die Frage eines allgemeinen politischen Mandats der Studentenschaft, – vor allem aber die als Oktrois bezeichnete Möglichkeit des Ministers, direkt in Berufungsvorgänge der Universitäten einzugreifen. Hierfür waren im Gesetz zwei Möglichkeiten vorgesehen: (1) Eingriffsmöglichkeit durch den Minister im Falle zeitlicher Verzögerungen des Berufungsverfahrens (Nichteinreichung der Berufungsliste innerhalb der Vorlagefrist) und (2) Recht des Ministers, bei Bedenken gegen eine Berufungsliste eine neue anzufordern und
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»in besonders begründeten Ausnahmefällen eine von der Fakultät nicht vorgeschlagene Persönlichkeit zu berufen« ( § 26, Abs. 5). Zuvor war es im »Revolutionsjahr 1968« bundesweit zu politischen Aktivitäten gekommen, an denen sich die Studentenschaft, aber auch einige Marburger Professoren, an führender Stelle Wolfgang Abendroth (1906–1985) und Werner Hofmann (1922–1969), beteiligt hatten. Es ging dabei um Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition gegen den Vietnamkrieg, Proteste und Anschläge gegen die Springer-Presse, Proteste gegen die Notstandsgesetze und innerhalb der Philipps-Universität um Störungen von Gremiensitzungen, Sprengung von Vorlesungen, Anfeindungen von Professoren, die sich der »Bewegung« entgegenstellten und auch Anfeindungen zwischen verschiedenen Gruppen der Studierenden. Am 11. April 1968 wurde das Attentat auf Rudi Dutschke verübt und am 11. Mai 1968 kam es zum Sternmarsch nach Bonn zum Protest gegen die Notstandsgesetze, an dem die Professoren Abendroth und Hofmann teilnahmen. Diese Aktivitäten erfassten aber keineswegs die gesamte Universität. Sie spielten sich vorwiegend in den Geisteswissenschaften ab, wobei der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und die Fächer Politologie, Soziologie und zum Teil Philosophie eine führende Rolle spielten.
9.2.4 Das Hessische Universitätsgesetz vom 12. Mai 1970 Dieses Gesetz, unter dem hessischen Kultusminister von Friedeburg erarbeitet und eingeführt, brachte eine Reihe von nachhaltigen Veränderungen für die hessischen Universitäten. Auch bei diesem Gesetz standen die »sozialdemokratischen Grundsätze zur Hochschulgesetzgebung vom 16. Februar 1968« Pate. In diesen wurden die sozialdemokratischen Landtagsfraktionen und der Kultusminister aufgefordert, auf die »Grundsätze« zurückzugreifen und diese in die anstehenden Gesetzentwürfe einzuarbeiten (HHStAW, 502, Nr. 6632b). Das Gesetz wurde gegen den Widerstand der Rektoren der wissenschaftlichen Hochschulen in Hessen mit den Stimmen der SPD gegen die Oppositionsparteien CDU, FDP und NPD verabschiedet. Dies führte zum geschlossenen Rücktritt aller hessischen Rektoren und Prorektoren. Das Gesetz brachte (Kaufmann, 1977) »eine radikale Neuordnung, insbesondere auf den Gebieten der Organisationsstruktur, Mitbestimmung und Personalstruktur«. Im Einzelnen kam es zu folgenden Veränderungen: – Es wurde eine Einheitsverwaltung eingeführt unter dem Aspekt der stärkeren Autonomie der Universität, die Leitung der Universität lag in Händen eines
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hauptamtlichen Präsidenten, der acht Jahre amtieren sollte und nicht mehr Professor sein musste, die traditionellen Fakultäten wurden abgeschafft und durch Fachbereiche ersetzt, es wurden zwei parlamentarische Gremien eingeführt (Konvent und Senat), wobei der Senat eher einem »Ständemodell« entsprach als einem parlamentarischen Gremium (Kaufmann, 1977). Die Habilitation wurde als Voraussetzung für die Ernennung von Hochschullehrern abgeschafft. Im Rahmen der mit dem Gesetz eingeführten »Gruppenuniversität« verfügte in den Gremien keine Gruppe über eine Mehrheit. Folglich mussten Entscheidungen zwischen den verschiedenen Gruppen kooperativ ausgehandelt werden. Die Ordinarienuniversität war auf diese Weise abgeschafft. Die im Hochschulgesetz vom 16. 5. 1966 vorgesehenen Organe Senat und Verwaltungsrat wurden durch sechs Kollegialorgane ersetzt: den Konvent als eine Art Universitätsparlament und Wahlorgan für den Präsidenten und die Vizepräsidenten, den Senat mit reduzierten Befugnissen und die vier ständigen Ausschüsse: für Lehr- und Studienangelegenheiten (I), Organisationsfragen, Angelegenheiten der Forschung und des wissenschaftlichen Nachwuchses (II), Haushaltsangelegenheiten und Hochschulentwicklungsplan (III) und Bibliothekswesen (IV). Diese Ausschüsse wurden mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Nach dem am 12. Oktober 1970 in Kraft getretenen »Gesetz zur Änderung beamtenrechtlicher besoldungsrechtlicher Voraussetzungen« konnten auch nicht-habilitierte wissenschaftliche Mitarbeiter, akademische Räte, Studienräte im Hochschuldienst etc. zu Professoren auf Lebenszeit ernannt werden.
Nach Angaben von Kaufmann (1977) wurden kurz vor Weihnachten 1972 rund 100 Angehörige dieses Personenkreises zu Professoren auf Lebenszeit ernannt. Bereits vorher seien 94 nicht-habilitierte akademische Räte, Studienräte und wissenschaftliche Assistenten zu Dozenten (neuer Art) ernannt worden. Als Argumente seitens des Ministeriums wurde der gesteigerte Bedarf an Lehrenden angeführt. Die »übergeleiteten Professoren« verfügten über keinerlei zusätzliche Ausstattung ihres Arbeitsgebietes und versuchten sodann, Strukturveränderungen herbeizuführen, die ihnen den Status eines selbstständigen Professors sichern konnten. Da sie in den entsprechenden Gremien hinreichend vertreten waren oder sogar zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern die Mehrheit hatten, versuchten sie, z. B. in der Medizin, die Leitung sogenannter »selbstständiger Funktionsbereiche« zu erlangen, um, wie im Gesetz vorgesehen, weisungsunabhängig zu sein. Bundesweit hat die Überleitung zu einer beträchtlichen Rufschädigung hes-
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sischer Universitäten beigetragen, »weshalb diese Professuren bei ihrem Freiwerden in den 1980-er Jahren eingezogen bzw. in Nachwuchsstellen überführt wurden« (Sargk, 2010, S. 277).
9.2.5 Auswirkungen und Nachwirkungen des HUG vom 12. Mai 1970 auf die Universitätsmedizin Der vierte Abschnitt des Gesetzes beschäftigt sich mit dem Fachbereich Humanmedizin (§§ 28–36). Darin werden die Universitätskliniken und die theoretisch-medizinischen Betriebseinheiten, die medizinischen Zentren sowie die angeschlossenen Schulen für Heilberufe und Hilfsbetriebe als eine rechtlich unselbständige Anstalt der Universität zusammengefasst. Die früher bestehende Fakultät wurde durch einen Fachbereichsrat ersetzt, dessen Mitglieder für mindestens zwei Jahre gewählt wurden, die Studierenden für mindestens ein Jahr. Die zentrale Person des Fachbereichs war der Dekan (§ 30). Dieser sollte, neben seinen Aufgaben als Dekan für den Fachbereich Humanmedizin auch die Aufgaben übernehmen, die ansonsten dem Präsidenten zustehen. Der Dekan war zugleich Vorsitzender der Ausschüsse und auch Vorsitzender des Vorstandes des Universitätsklinikums. Er war in dieser Funktion zugleich auch Ärztlicher Direktor des Klinikums. Gemäß § 33, Abs. 3, bestand der Vorstand des Klinikums aus dem Dekan, den Prodekanen und dem Verwaltungsdirektor. Der Verwaltungsdirektor führte die Geschäfte der laufenden Verwaltung des Universitätsklinikums und war zugleich Beauftragter für den Haushalt. Die einzelnen Institutionen des Fachbereichs Humanmedizin wurden gemäß § 34 HUG in medizinische Zentren und Betriebseinheiten aufgeteilt, die jeweils von einem Direktorium geleitet wurden, das aus dem Kreis der auf Dauer am Zentrum beschäftigten Professoren einen Geschäftsführenden Direktor für eine Amtszeit von vier Jahren wählte. Zu den Nachwirkungen des Gesetzes gehörte die Bildung von sogenannten selbständigen Funktionsbereichen in der Medizin400. Entsprechend § 6 der Verordnung Humanmedizin vom 24. November 1978 konnten »für Spezialbereiche der klinischen Medizin« selbständige Funktionsbereiche gebildet werden (§ 6 der Verordnung), deren Leiter verantwortlich waren »für die Organisation und den Dienstbetrieb im Funktionsbereich«. In der Verordnung heißt es weiter (§ 6, Abs. 4): »Dem selbständigen Funktionsbereich sind die zur Erfüllung sei400 Gemäß der Verordnung über die Bildung von Medizinischen Zentren und Medizinischen Betriebseinheiten sowie über die Bildung und Leitung von Abteilungen und selbständigen Funktionsbereichen (Verordnung Humanmedizin, GVBl II, 70–87 bzw. GVBl I vom 20. 12. 1978).
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ner Aufgaben notwendigen Personal- und Sachmittel zuzuweisen«. Die Leiter dieser selbständigen Funktionsbereiche sollten Professoren sein, wurden aber ohne ein förmliches Berufungsverfahren »im Benehmen mit dem Präsidenten vom Kultusminister bestellt«. Diese neuartige Möglichkeit der Strukturveränderung hat zu vielen Auseinandersetzungen im Fachbereich Humanmedizin geführt, weil eine Reihe von Professoren (übergeleitet oder nicht) versuchten, innerhalb größerer Kliniken einen selbständigen Funktionsbereich für sich zu reklamieren, was, da solchen Funktionsbereichen auch entsprechende Personal- und Sachmittel zuzuweisen waren, in manchen Kliniken zu Aufsplitterung in mehrere kleine Einheiten führte, was für das Gesamtfach (z. B. für die Innere Medizin) keineswegs förderlich war. 9.2.5.1 Bildung von Medizinischen Zentren und Medizinischen Betriebseinheiten Auch die in der Verordnung Humanmedizin vom 24. 11. 1978 vorgesehene Bildung von Medizinischen Zentren und Medizinischen Betriebseinheiten war kein durchschlagender Erfolg. Die Verordnung sah vor, dass fachlich verwandte Einrichtungen (§ 1, Abs. 2) »der unmittelbaren Krankenversorgung in Medizinischen Zentren zusammenzufassen« sind. Schon die Bezeichnung »Medizinisches Zentrum« erwies sich vielfach als Pleonasmus, wenn z. B. von einem »Medizinischen Zentrum für Innere Medizin« oder einem solchen für Chirurgie gesprochen wurde. Im Ministerium bestand man darauf, dass die Bezeichnung »Medizinisches Zentrum« beachtet wurde. Die Betten eines Medizinischen Zentrums sollten einen Bettenpool bilden, dessen Leitung den Abteilungsleitern im Wechsel für einen bestimmten Zeitraum übertragen werden sollte. Auch dies war eine weltfremde Vorstellung, die nirgendwo realisiert wurde. Die Medizinischen Zentren wurden von einem Geschäftsführenden Direktor geleitet, der Professor sein musste, und der vom Direktorium des Medizinischen Zentrums gewählt wurde. Der Geschäftsführende Vorstand des jeweiligen Zentrums setzte sich aus dem Gf. Direktor, einem Stellvertreter und einem weiteren Professor zusammen. Der Gf. Direktor und die übrigen Mitglieder des Gf. Vorstandes mussten nicht Abteilungsleiter sein. Es konnten auch Professoren gewählt werden, die keine Leitungsfunktion im Medizinischen Zentrum hatten. Anmerkung: Für jede Einstellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters und die Verabschiedung eines Ausschreibungstextes musste ein zeitweise 18-köpfige Direktorium zusammentreten. Im Prinzip war erforderlich, nach der Zentrumsbildung auch eine Zentrumssatzung zu entwerfen. Diese Frage stand bereits auf der Tagesordnung der Direktoriumssitzung des medizinischen Zentrums für Nervenheilkunde vom
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28. 5. 1980. Auf Antrag von Prof. Ehrhardt wurde dieser TOP verschoben und auch später erneut vertagt. Glücklicherweise hat diese Aktivität nie stattgefunden. 9.2.5.2 Situation im Zentrum für Nervenheilkunde Ein Musterbeispiel für eine misslungene Zentrumsbildung war das Med. Zentrum für Nervenheilkunde, das sich am 26. 10. 1979 konstituierte, wobei auch in der Konstituierenden Sitzung401 ein Professor zum Gf. Direktor gewählt wurde, der keiner Abteilung vorstand und die Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie (der Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht besetzt) nicht die erforderlichen Stimmenzahl für einen Sitz im Gf. Vorstand erreichten. Dies war kein Einzelfall; auch in anderen Med. Zentren wurden häufig Professoren zum Gf. Direktor gewählt, die keine leitende Funktion inne hatten und auch kein geordnetes Berufungsverfahren durchlaufen hatten. Zuvor war es mit dem Amtsantritt von Prof. Wolfgang Blankenburg am 01. 04. 1979 zu einer Trennung der Fachgebiete Neurologie und Psychiatrie im Zentrum gekommen, was die Zahl der C4-Lehrstühle von zwei auf drei erhöhte. Auch von anderen leitenden Funktionen innerhalb des FB Humanmedizin wurden aufgrund der Mehrheitsverhältnisse die Lehrstuhlinhaber weitgehend ausgeschlossen. So war zum Zeitpunkt der Konstituierung des Med. Zentrums für Nervenheilkunde ein übergeleiteter C2-Professor Dekan. Dieser Hinweis darf nicht dahingehend verstanden werden, dass Professoren, die nicht die Funktion eines Abteilungsleiters hatten oder auch solche, die übergeleitet oder nicht-habilitiert waren, Leitungsaufgaben nicht gewachsen gewesen wären. Vielmehr ging es bei den damaligen Mehrheitsverhältnissen darum, die sogenannten Ordinarien, die für Krankenversorgung, Forschung und Lehre die eigentliche Verantwortung trugen, von Entscheidungsprozessen fernzuhalten. Dies führte zeitweilig zu einem Klima des Misstrauens und mitunter zu einer paranoiden Atmosphäre. Ein gutes Beispiel hierfür war die Situation im sogenannten Med. Zentrum für Nervenheilkunde, das im Zeitraum vom 26. 10. 1979 bis 1982 von einem Gf. Direktor geleitet wurde, der keine Leitungsfunktion und auch keinen eigenen festgelegten Verantwortungsbereich innerhalb des Zentrums hatte. Dieser beantragte wiederholt und erneut am 13. 4. 1984, innerhalb der Klinik für Neurologie einen eigenen Funktionsbereich »Klinische Neuropsychologie des höheren Lebensalters« einzurichten. Bereits zuvor hatte er einen Funktionsbereich mit der Bezeichnung »Altersneurologie« oder »Neurogeriatrie« beantragt. Dem 401 Protokoll über die Konstituierende Sitzung vom 26. 10. 1979, Direktoriums-Akten.
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widersprach der Leiter der Neurologischen Klinik, Prof. Huffmann (damals hießen die Chefärzte und Lehrstuhlinhaber der Kliniken »Abteilungsleiter«, später wurden sie wieder zu »Direktoren«), mit dem Hinweis, dass 50 % der Patienten der Neurologischen Klinik 65 Jahre alt oder älter seien und auf diese Weise dem Funktionsbereich »Altersneurologie« zuzuordnen wären, was im Endergebnis einer Aufspaltung der Neurologischen Klinik entspräche. Das Direktorium wiederum hatte der Einrichtung eines solchen Funktionsbereiches mehrheitlich zugestimmt, um Prof. Solcher ein eigenes Arbeitsgebiet zuzuordnen und die unerträglichen Auseinandersetzungen innerhalb des Zentrums zu beenden. So beschloss das Direktorium am 13. 4. 1984, für Prof. Solcher einen selbständigen Funktionsbereich mit der Bezeichnung »Klinische Neuropsychologie des höheren Lebensalters« einzurichten, der der Neurologischen Klinik zuzuordnen sei. Diesem Beschluss widersprach der Leiter der Neurologischen Klinik, Prof. Huffmann, mit Schreiben an den Dekan vom 18. 4. 1984; es wurde der Präsident, Prof. Kröll, eingeschaltet, der Fachbereichsrat, das Ministerium – schließlich beschloss der Fachbereichsrat des FB Humanmedizin am 16. 5. 1984 die Einrichtung eines Funktionsbereiches für »Klinische Neuropsychologie des höheren Lebensalters« innerhalb der Klinik für Neurologie. Vor der Abstimmung hatte der Gf. Direktor des Zentrums, Prof. Remschmidt, ausgeführt, dass ihm innerhalb des Fachbereichs kein ähnlicher Fall bekannt sei und: »Der Antrag ist der Endpunkt einer sehr, sehr langen Diskussion und Bemühungen innerhalb und außerhalb des Zentrums. Auch der Präsident sehe hier eine Lösung. Die Bezeichnung ist geändert worden aufgrund der Einsprüche von Herrn Huffmann. Der Überschneidungsbereich ist wesentlich geringer geworden«402. Die ständigen Auseinandersetzungen im Zentrum für Nervenheilkunde hatten sich seit seiner Gründung im Jahr 1979 über Jahre hingezogen. Bereits mit Schreiben vom 12. 8. 1981 hatten sich fünf Professoren mit Leitungsfunktion innerhalb des Zentrums (die Professoren Blankenburg, Ehrhardt, Huffmann, Remschmidt und Weber) an den Hessischen Kultusminister Krollmann gewandt mit dem Hinweis, dass die Zentrumsbildung gescheitert sei und man nach einer anderen Lösung suchen müsse. Durch die permanenten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Abteilungen sei ein Stadium der »Zerrüttung« eingetreten, das den Aufbau einer Kooperation wohl kaum mehr möglich mache. Mehrfache Bemühungen einzelner Professoren, die wiederholte Einschaltung des Präsidenten der Philipps-Universität sowie Unterredungen mit Vertretern des Ministeriums hätten nicht vermocht, diese Situation zu verändern. Das Direktorium umfasse 18 Mitglieder, sei zu groß und zu unbeweglich, um rasche Entscheidungen herbeizuführen. Im Übrigen sei im Gf. Vorstand des Zentrums 402 Protokoll der 11. Sitzung des FBR des FB Humanmedizin vom 16. 5. 1984, Ordner Zentrum f. Nervenheilkunde.
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keiner der Leiter der großen klinischen Abteilungen (Neurologische Klinik, Psychiatrische Klinik, Kinder- und jugendpsychiatrische Klinik) vertreten, so dass die klinischen und wissenschaftlichen Belange dieser Abteilungen im Gf. Vorstand nicht vertreten werden könnten. Dies führe zu sachfremden Entscheidungen, die empfindlich in die personellen und strukturellen Belange der einzelnen Abteilungen eingriffen, ohne dass die Verantwortlichen beteiligt seien. Durch dieses Auseinanderklaffen von tatsächlicher Verantwortung und verantwortungsfernen Entscheidungsprozessen würden auch die Mitarbeiter in den einzelnen Abteilungen in einen permanenten Loyalitätskonflikt verwickelt, da sie einerseits den Weisungsbefugnissen des Abteilungsleiters unterlägen, zum anderen aber Gf. Direktor und Gf. Vorstand übergeordnete Kompetenzen ausübten, die in die Belange der Abteilungen eingriffen. Dieser Konflikt innerhalb der klinischen Abteilungen, die sich mit psychischen und neurologischen Erkrankungen zu befassen haben, könne nicht ohne Auswirkungen auf die Krankenversorgung bleiben. Im Übrigen verhinderten die permanenten Spannungen zwischen den einzelnen Hochschullehrern notwendige Diskussionen über diagnostische und therapeutische Maßnahmen, was aus der Sicht der Krankenversorgung unvertretbar sei. Diesem Schreiben widersprachen der Gf. Direktor (Prof. Solcher) und sein Stellvertreter (Prof. Pohlen) mit dem Argument, dass das Direktorium entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zusammengesetzt sei und dass die Unterzeichner des Briefes »in einem demokratischen Gremium die klinische Direktorialgewalt mehr repräsentiert sehen wollen, als es der Willensbildung der Wahlberechtigten entspricht« (Prof. Pohlen). Mit dem Hinweis auf demokratische Entscheidungen (Schreiben des Gf. Direktors vom 27. 10. 1981) wurde, wie auch in anderen Gremien der damaligen Zeit, die Ausgrenzung der Hauptverantwortlichen verschleiert. Tab. 9.1 Daten zur Entwicklung des Zentrums für Nervenheilkunde 26. 10. Konstituierende Sitzung des Direktoriums des Med. Zentrums für 1979 Nervenheilkunde und Wahl des Gf. Vorstandes Gf. Direktor : Prof. Solcher Stellvertreter: Prof. Pohlen Weiteres Mitglied des Direktoriums: Prof. Lütcke Prof. Blankenburg hatte seinen Dienst bereits angetreten, die Professoren Huffmann und Remschmidt noch nicht. Prof. Blankenburg kandidierte nicht und gab zu Protokoll, dass die Psychiatrische Klinik im Direktorium unterrepräsentiert sei. 1. 4. 1979
Amtsantritt Prof. Blankenburg
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((Fortsetzung)) 4. 2. 1980
Beschluss des Direktoriums des Zentrums zur »Reintegration des Instituts für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe in die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie« »Es wäre mit Prof. Remschmidt zu diskutieren, ob die Bildung eines Funktionsbereichs gemäß § 36, Abs. 3 HUG angemessen und zweckmäßig ist«. Abstimmung: 10 Ja-Stimmen, 4 Nein-Stimmen, 1 Enthaltung
30. 7. 1980 17. 5. 1982
Der Funktionsbereich Neurochemie wurde vom Ministerium genehmigt. Mitteilung des Dekans Hering an den Gf. Direktor Solcher vom 30. 7. 1980 Wahl des Gf. Vorstandes; Einladung von Prof. Solcher am 30. 4. 1982 Im Zentrumsordner findet sich kein Protokoll über die eigentliche Wahl mit dem Wahlergebnis, sondern nur ein Protokoll vom 29. 6. 1982 mit der Bekanntgabe des Ergebnisses durch Prof. Remschmidt, der das Bestätigungsschreiben des Präsidenten referiert, wonach nach § 35, Abs. 4 des HUG folgende Herren gewählt wurden: Prof. Remschmidt zum Gf. Direktor Prof. Pohlen zum stellvertr. Gf. Direktor Prof. Heene als weiterer Professor im Gf. Direktorium Im Protokoll heißt es weiter : »Prof. Remschmidt macht deutlich, dass er Gf. Direktor des gesamten Zentrums sei und bittet für seine schwere Aufgabe um Unterstützung der Mitglieder des Direktoriums«.
29. 5. 1984
Erneute Wahl des Gf. Vorstandes für 4 Jahre Gf. Direktor : Prof. Remschmidt (einstimmig) Stellvertreter: Prof. Pohlen (10 Ja, 1 Nein, 1 Enthaltung) Weiteres Mitglied im Vorstand: Prof. Lütcke (8 Ja, 4 Nein, 1 Enthaltung) Prof. Blankenburg hatte ebenfalls kandidiert, wurde aber nicht gewählt Prof. Huffmann erklärt vor den Wahlen, »dass er aufgrund seines Antrages auf Ausgliederung aus dem Zentrum nicht mitwählen will. Dr. Reimers schließt sich dem Antrag an, beide verlassen um 14.50 Uhr die Sitzung«. Beschluss des Ausschreibungstextes C4-Professur für Neurologie (Nachfolge Huffmann), die zum 1. 4. 1995 zu besetzen ist.
17. 1. 1994
15. 10. Wahl von Prof. Krieg zum Gf. Direktor (Amtszeit 4 Jahre) 1996 Stellvertreter: Prof. Remschmidt Weiteres Mitglied im Direktorium: Prof. Bien
Dieses Beispiel wurde ausführlicher dargestellt, weil es symptomatisch war für die damalige Situation, welche durch eine nicht durchdachte und fehlgeleitete Hochschulgesetzgebung herbeigeführt worden war. Aus heutiger Sicht (2018) erscheinen die geschilderten Vorgänge anachronistisch; sie haben viel Zeit und Energie gefordert, die wichtigeren Aktivitäten vorenthalten wurden. Aber auch die Strukturen, die Derartiges ermöglicht haben, haben sich erfreulicherweise geändert. Die sogenannten Med. Zentren wurden inzwischen aufgelöst, die Kliniken und die klinisch-theoretischen Einrichtungen sind unmittelbar dem FB Medizin (der auch nicht mehr FB Humanmedizin heißt) zugeordnet, die Leiter der Kliniken heißen wieder Direktoren und die Mehrheitsverhältnisse in den Entscheidungsgremien haben sich wieder dahingehend verändert, dass die
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Professoren, die Leitungsfunktionen ausüben, in den entscheidenden Gremien auch angemessen vertreten sind.
9.2.6 Die Hochschulgesetzgebung im Lichte der Parteipolitik Die Hochschulgesetzgebung kann nicht unabhängig von der politischen Orientierung und den Persönlichkeiten der Akteure gesehen werden, die sie konzipiert und durchgesetzt haben. Dies zeigt sehr eindrucksvoll die Analyse von Anne Rohstock (2010), die die Hochschulreform in Hessen und Bayern vergleichend untersucht und dargestellt hat. Hatten die hessischen Reformer Kultusminister Ernst Schütte (Amtszeit: 1959–1969) und Ludwig von Friedeburg (Amtszeit: 1969–1974) sich an den Richtlinien der SPD orientiert, so verlief die Gesetzgebung in Bayern »konservativer« und vielleicht auch besser durchdacht, wie die Entwicklung der bayerischen Universitäten Vergleich zu den hessischen in der Rückschau zeigt. Während man in Hessen verschiedentlich nach dem Motto »Hessen vorn« über das Ziel hinausschoss, ging man in Bayern gemäßigter vor und achtete primär auf Qualität und Konsolidierung. Ein gutes Beispiel für das gegensätzliche Vorgehen der beiden Bundesländer waren die zu weitgehenden Mitbestimmungsregelungen in Hessen, die aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum niedersächsischen Vorschaltgesetz von 1973, bereits 1974 und auch 1978 revidiert werden mussten (Rohstock, 2011, Seite 58). Mit dem Ministerwechsel von Ernst Schütte zu Ludwig von Friedeburg gewann die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten zunehmend Einfluss, wobei Vera Rüdiger, die 1965 bei Wolfgang Abendroth in Marburg promoviert hatte, als Vorsitzende des kulturpolitischen Ausschusses der SPD eine zentrale Rolle spielte: »Nacheinander strich der kulturpolitische Ausschuss im Jahr 1969 das Ordnungsrecht aus dem Gesetzentwurf Schüttes, trat für die Forderungen der Gewerkschaften und der Beteiligung des nicht- wissenschaftlichen Personals unter expliziter Berufung auf den hessischen DGB ein und machte sich schließlich auch für die durchgeführte Drittelparität auf allen Ebenen der akademischen Selbstverwaltung stark« (Rohstock, 2010, S. 321). Schließlich wurden im Sinne einer Viertelparität auch die nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter in verschiedene Gremien, zum Beispiel in den Konvent, aufgenommen, wo sie sogar in gleicher Zahl vertreten waren wie die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Eine höchst umstrittene Neuerung im Hessischen Universitätsgesetz von 1970 war der sogenannte Informationspflichtparagraf, der die Mitglieder der Hochschule verpflichten sollte »die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse« stets mit zu bedenken. Sollten ihnen Forschungen oder Forschungsergebnisse bekannt werden, »die bei verantwortungsloser Verwendung
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erhebliche Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder des friedlichen Zusammenlebens der Menschen herbeiführen können, so sollen sie den zuständigen Fachbereichsrat oder ein zentrales Organ der Universität unterrichten« (§ 6 des HUG, in der Fassung vom 6. 12. 1974). Vor der Verabschiedung des Gesetzes gab es im hessischen Landtag tumultartige Auseinandersetzungen, bis es schließlich am 12. 5. 1970 zu nächtlicher Stunde mit den Stimmen der SPD gegen die Opposition (CDU, FDP, NPD) verabschiedet wurde. Nach der Verabschiedung des Gesetzes traten Rektoren der vier hessischen Universitäten geschlossen zurück, ein in der Universitätsgeschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang. Ganz anders war die Situation in Bayern. Dort ging man behutsamer vor und wollte auch erst abwarten, welche Folgen das hessische Experiment haben würde und welchen Erfolg die zahlreichen Klagen hessischer Hochschullehrer gegen die Gesetzgebung erreichen würden. Letztlich folgte man in Bayern unter dem Kultusminister Hans Maier (Amtszeit: 1970–1986) aber doch den bundesweit präferierten Vorstellungen der Hochschulreform wie Einführung der Präsidialverfassung, Auflösung der großen Fakultäten in mehrere kleinere und Einführung moderater Mitbestimmungsregelungen. Eine gewisse Beschleunigung der Gesetzgebung in Bayern ereignete sich auch unter dem Druck der Studentenrevolte, dem man sich auch dort nicht entziehen konnte. Schließlich wurde das Bayerische Hochschulgesetz am 20. September 1972 vom Kabinett verabschiedet und am 28. November 1973 vom bayerischen Landtag beschlossen. Im Gegensatz zu Hessen, wo die Professoren auf die Barrikaden gingen, taten dies in Bayern die Studierenden, die öffentlich demonstrierten, Straßen blockierten und Vorlesungen sprengten. Sie wurden unterstützt durch die GEWund SPD-nahe Organisationen.
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Auch wenn von den Protagonisten der 1968-er Revolte und ihrer unmittelbaren Nachfolger in der Rückschau immer wieder behauptet wird, dass es die »rote Universität Marburg« nicht gab, so entspricht dies keineswegs den Tatsachen. Noch im Herbst 2015 berichtet Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann über sein Studium der Politikwissenschaften 1980–86 in Marburg Folgendes: »Ich erinnere mich an eine Erstsemester-Veranstaltung, an der ich mit Freunden teilnahm. Der Tutor, der uns beriet, hatte einen Anstecker des MSB. Der Professor kam rein, er trug einen DKP-Anstecker ; wir wurden durch die Bibliothek geführt, der Bibliothekar trug einen DKP-Anstecker ; die wissenschaftlichen Mitarbeiter hatten wieder einen MSB-Anstecker. Die Gruppen hatten ihre Leute fest im Griff. Als ich, ein
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Juso, in die Fachschaft gewählt wurde, war das so etwas wie eine Revolution. Ein ehemaliger Mitbewohner hat mir später berichtet, dass die Spartakus-Mitglieder angewiesen waren, mindestens eine halbe Stunde vor Beginn einer Veranstaltung vor Ort zu sein, Blöcke zu besetzen: links des Rednerpults saßen 50 Leute, rechts 50 Leute. Dies hatte den Effekt, dass der Saal zu toben begann, wenn sie ihren Leuten applaudierten oder die Gegner ausbuhten. Im Hinblick auf die Studentenbewegung habe ich also eher den dogmatischen Teil miterlebt. Rückblickend denke ich, dass diese Bewegungen auch etwas mit dem Glauben zu tun hatte. Es gab zwei Systeme und man glaubte daran, dass das eine das bessere sei. Mit dem Zusammenbruch der DDR hatte dieser Glaube seinen Inhalt verloren. Daraus erklärt sich auch die Frustration innerhalb dieser Gruppen nach 1989, die viele bewog, sich ins Private zurückzuziehen«. (Marburger Uni-Journal, Sommer/Herbst, S. 43, 2015).
Diese Aussage ist natürlich nicht repräsentativ für die gesamte Philipps-Universität. Sie zeigt aber, dass in bestimmten Fachbereichen (hier im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften) die Politisierung Professoren, die Mitarbeiterschaft und die Studierenden gleichermaßen und in umfassender Weise ergriffen hatte.
9.3.1 Die sogenannte Marburger Schule Im Hinblick auf die Politisierung der Philipps-Universität Marburg spielen drei Professoren eine herausragende Rolle: Wolfgang Abendroth (1906–1985), Werner Hofmann (1922–1969) und Heinz Maus (1911–1978), die zuweilen als »Marburger Dreigestirn« bezeichnet wurden403. Manche sprechen auch von einer Marburger Schule404. 9.3.1.1 Wolfgang Abendroth (1906–1985) Biografische Daten – 1906 geboren als Sohn eines Mittelschullehrers in Elberfeld (Wuppertal). Die Eltern sind überzeugte Sozialdemokraten. Schulbesuch in Frankfurt am Main – Frühzeitige Aktivitäten in linken Jugendorganisationen – 1920 Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes (KJ VD) (Peter, 2014) – 1928 Parteiausschluss aus der KPD, Eintritt in die KPD Anfang der zwanziger Jahre, – Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Tübingen, Münster und Frankfurt am Main 403 Peter, 2014. 404 ebenda.
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– 1930 erste juristische Staatsprüfung (voll befriedigend) – 1930–1938 Gerichtsreferendar in Hechingen – 1933 ff in verschiedenen illegalen Widerstandsorganisationen tätig (KP-Opposition, Rote Hilfe, Neubeginnen) – 1935 Promotion an der Universität Bern mit einer völkerkundlichen Dissertation – 1936 Volontärstelle in einem Berliner Bankhaus – 1937 Verhaftung von der Gestapo und Verurteilung wegen Hochverrats zu vier Jahren Zuchthaus durch das OLG Kassel – 1941 nach Haftentlassung Tätigkeit als Wissenschaftsjurist in Potsdam und Berlin – 1943 Versetzung als »Bewährungssoldat« in die Strafdivision 999 nach Griechenland – 1944 Desertion zur griechischen Widerstandsorganisation ELAS, britischer Kriegsgefangener in Ägypten – 1946 Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und Eintritt in die SPD, Heirat mit Lisa Hörmeyer – 1946/47 Zweites juristisches Examen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), auf Anraten von Georg August Zinn – 1948 Professor für Völkerrecht in Leipzig, im selben Jahr anschließend Professor für öffentliches Recht an der Universität Jena – Fluchtartiges Verlassen der SBZ und Ernennung zum ordentlichen Professor für öffentliches Recht an der »Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft« in Wilhelmshaven – 1950 Ernennung zum ordentlichen Professor für wissenschaftliche Politik an der Philipps-Universität Marburg – 1972 Emeritierung – 1985 W. A. stirbt am 15. September 1985 in Frankfurt am Main. Initiativen von Wolfgang Abendroth nach seiner Berufung nach Marburg – Mitbegründung des Sozialistischen Bundes – Mitglied des Kuratoriums » Notstand der Demokratie » und der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung«. – Eintreten für die Aufhebung des DKP-Verbots – Beiratsmitglied des DKP–eigenen »Instituts für marxistische Studien und Forschungen« (IMSF) – Für mehrere Jahre hatte er »quasi ein Monopol auf die Fortbildung Hunderter hessischer Lehrer im Fach Gemeinschaftskunde. Zahlreiche Marburger Absolventen gingen als Lehrer in die Schule« (Peter, 2014, S.105).
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Die Berufung Wolfgang Abendroths an die Philipps-Universität Marburg Nach Kriegsende verfolgten die westlichen Besatzungsmächte das Ziel, die Gesellschaft zu demokratisieren. An den Universitäten sollte dies dadurch geschehen, dass man Lehrstühle für wissenschaftliche Politik einrichtete. Der hessische Landtag hatte bereits am 11. 7. 1947 folgenden Beschluss gefasst405 : »(1) Staatsbürgerkunde für alle Studierenden als Pflichtfach einzuführen und in die Prüfungsordnung einzubeziehen; (2) die nötigen Vorlesungen und Übungen für alle Studierenden einzurichten; (3) für die Vorlesungen sollen »vorzugsweise geeignete Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben herangezogen werden«. Dieser Beschluss impliziert dennoch nicht die Einrichtung entsprechender Lehrstühle.«
Mit Schreiben vom 31. 12. 1948 regte der Minister an, Lehrstühle für wissenschaftliche Politik einzurichten und stellte Fragen hinsichtlich der Fakultätszuordnung der neu zu schaffenden Lehrstühle und wie die personelle Besetzung zu regeln sei406. Erst nach einem weiteren Beschluss der hessischen Landesregierung vom 28. April 1948 sollten derartige Lehrstühle an den Universitäten in Frankfurt und Marburg sowie an der Technischen Hochschule in Darmstadt angesiedelt werden. Seitens des Hessischen Ministeriums für Unterricht und Kultus wurde durch Vorschläge für den Marburger Lehrstuhl mehrfach in die Berufungsangelegenheit eingegriffen, was zu einer entsprechenden Gegenreaktion der Universität führte. So wies der Dekan der Philosophischen Fakultät, Professor Walcher, mit Schreiben 11. 11. 1949 den Vorschlag des Ministers zurück, den »Schriftsteller« Eugen Kogon auf den neu zu schaffenden Lehrstuhl zu berufen. Er sei, trotz seiner Bekanntheit und seiner öffentlichen Stellungnahmen, nicht für einen Lehrstuhl geeignet. Journalisten könnten für einen derartigen Lehrstuhl grundsätzlich nicht in Frage kommen. Auch sei eine bestimmte politische Ausrichtung nicht im Interesse der wissenschaftlichen Objektivität. Die Fakultät bleibe bei der Forderung nach einer wissenschaftlichen Qualifikation407. Als weiterer Kandidat wurde seitens des Ministers Professor Carlo Schmid (Vizepräsident des Deutschen Bundestages) ins Spiel gebracht. Hierzu schreibt Dekan Walcher, dieser sei zwar wissenschaftlich qualifiziert, man habe aber Bedenken in zeitlicher Hinsicht wegen seiner anderweitigen Verpflichtungen. Ferner sei er Exponent einer ganz bestimmten politischen Richtung und ver-
405 UAMR, 310/11190. 406 ebenda. 407 ebenda.
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körpere ein politisches Programm. Die Fakultät habe sich nicht entschließen können, Carlo Schmid in die Vorschlagsliste aufzunehmen408. Am 20. 4. 1950 beschloss die Berufungskommission, zwei Listen nebeneinander vorzuschlagen: eine Liste mit fachlich ausgewiesenen Anwärtern, eine zweite mit Anwärtern aus der politischen Praxis409. Liste 1 (fachlich ausgewiesene Kandidaten): (1) von Rantzau, (2) von Kempski, (3) Abendroth. Liste 2 (Kandidaten aus der Praxis): (1) Mende und mit Abstand (2) Jordan. Am 23. 6. 1950 beschäftigte sich der Akademische Senat mit den Listenvorschlägen der Philosophischen Fakultät und kam zu folgendem von Rektor Albrecht unterzeichneten Beschluss410 : »Der Senat der Universität interpretiert die Vorschlagslisten der Philosophischen Fakultät vom 28. 4. 1950 so, dass die Fakultät entscheidenden Wert darauf legt, einen der an erster Stelle der beiden Gruppen genannten Kandidaten – von Rantzau und Mende – zu berufen. Der Senat schließt sich dieser Meinung an. Gegen die weiteren Kandidaten von Kempski, Jordan und Abendroth bestehen bei der Mehrzahl der Senatsmitglieder Bedenken, die in einem entsprechenden Senatsbeschluss ihren Ausdruck gefunden haben. Dem Bericht der Fakultät vom 15. 6. 1950, betreffend Professor Carlo Schmid, schließt sich der Senat an.«
Die Berufung von Wolfgang Abendroth wurde von Rupp (2000, 2001) in zwei nahezu gleichlautenden Beiträgen ausführlich beschrieben. Er weist darauf hin, dass sich diese Berufung aus den Unterlagen im Marburger Staatsarchiv nicht schlüssig nachweisen lässt. Auch uns ist dies nicht gelungen. Weder in der Personalakte von Wolfgang Abendroth noch in anderen Unterlagen des Marburger Universitätsarchivs existiert ein Berufungsschreiben oder ein anderes Dokument, das den Berufungsvorgang lückenlos dokumentiert. Wie es letztlich zur Berufung und Ernennung von Wolfgang Abendroth kam, ist nicht zu rekonstruieren. Er war plötzlich da. Nach Rupp soll der Psychologe Heinrich Düker, der während der NS-Herrschaft, wie Abendroth, auch inhaftiert worden war, in der zweiten Kommissionssitzung Wolfgang Abendroth ins Gespräch gebracht haben (Rupp, 2001, S.67). Nach Mohr (1988, zitiert nach Rupp, 2001) soll das hessische Kabinett in seiner letzten Sitzung vor der Landtagswahl am 19. November, über den Kopf des Kultusministers Stein (CDU) hinweg, die Berufung Abendroths nach Marburg beschlossen haben. Nach Gerüchten, die auch von Rupp zitiert werden, sei dem hessischen Ministerpräsidenten Christian Stock (SPD) Abendroth von seiner Partei »aufgenötigt« worden ( Rupp. 2001, S.70). Für die Sozialdemo408 Vermerk des Dekans Walcher vom 18. 6. 1950, ebenda. 409 ebenda. 410 UAM 307 d, 2836.
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kraten im hessischen Kabinett wie den damaligen Justizminister (und späteren Ministerpräsidenten) Georg August Zinn411 und den Chef der Staatskanzlei Hermann Brill412 sei es darauf angekommen, eine Persönlichkeit für Marburg zu gewinnen, »die nicht nur eine klare demokratische wissenschaftliche Ausrichtung hatte, sondern auch bereit zu sein schien, erzkonservativen und reaktionären Tendenzen unter den entnazifizierten und wieder im vollen Bewusstsein ihrer »Mandarin«-Rolle amtierenden Professorenschaft die Stirn zu bieten« (Ringer, 1987 zit. nach Rupp, 2001, S. 73).
9.3.1.2 Werner Hofmann (1922–1969) Biografische Daten – Geburt in Meiningen, Mutter Katholikin, Vater Jude – Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität München – 1944/45 wegen halbjüdischer Abstammung für mehrere Monate im Zwangsarbeiterlager in Jena interniert – 1948 Wechsel aus Überzeugung nach Leipzig in die SBZ – 1952 Rückkehr nach München, weil seine Dissertation in Leipzig aus politischen Gründen nicht angenommen wurde – 1953 Promotion in München bei Adolf Weber – 1958 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der »Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft« in Wilhelmshaven und Habilitation bei Hans Raupach mit einer Studie zum Thema »Arbeitsverfassung in der Sowjetunion« – 1964 außerplanmäßige Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen – 1966–1969 ordentlicher Professor für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg (Unterstützung der Berufung durch Abendroth und Maus). Besondere Aktivitäten, Initiativen und Einstellungen – Begründung des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BDW, jetzt BdWi). – Mitbegründer der Partei »Aktion demokratischer Fortschritt« (ADF) – (Wahlbündnis von DKP und Deutscher Friedensunion), Spitzenkandidat dieser Partei in Hessen für die Bundestagswahl 1969 – Verfechter einer gesellschaftskritischen Soziologie 411 Georg August Zinn (1901–1976), hessischer Ministerpräsident von 1950–1969, Widerstandskämpfer in der Zeit des Nationalsozialismus (Wikipedia, 10. 02. 2018). 412 Hermann Brill (1895–1959) war von 1946–1949 Chef der Hessischen Staatskanzlei unter den Ministerpräsidenten Karl Geiler (1878–1953) und Christian Stock (1884–1967). Er war SPD-Mitglied und Widerstandskämpfer in der NS-Zeit. 1948 war er Mitglied des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee (Wikipedia, 10. 02. 2018).
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– Engagement im »Kuratorium Notstand der Demokratie«, einer Initiative gegen die Notstandsgesetze – Distanzierte Haltung zu den Gewerkschaften und zur Studentenbewegung, im Gegensatz zu Abendroth – Keine eigenen empirischen Forschungen ( Peter, 2014,S. 50). Die Berufung von Werner Hofmanns Werner Hofmann wurde im Rahmen eines ordnungsgemäßen Berufungsverfahrens von einer Kommission der Philosophischen Fakultät ausgewählt. Mit Schreiben vom 22. 7. 1965 gibt der Dekan der Philosophischen Fakultät, Professor Otten, folgende Liste an den hessischen Kultusminister weiter : (1) Professor Werner Hofmann (Göttingen), (2) Professor Hans Linde (Technische Hochschule Karlsruhe) und (3) Professor Norman Birnbaum, zum damaligen Zeitpunkt als Gastprofessor an der Universität Straßburg tätig. Werner Hofmann trat seinen Dienst in Marburg 1966 an. Mit seiner Berufung sei es zu einer spürbaren Verringerung des Ungleichgewichts zwischen den Fächern Politologie und Soziologie gekommen, deren Verhältnis bis dahin stark durch die Dominanz von Wolfgang Abendroth geprägt war (Peter, 2014, S. 41). Seine Tätigkeit an der Philipps-Universität war nur kurz. Er starb am 9. November 1969 an Herz-Kreislaufversagen413.
9.3.1.3 Heinz Maus ( 1911–1978) Biografische Daten – Geburt in Uerdingen – 1930 Abitur in Krefeld – 1932 Aufnahme des Studiums der Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main, nach Absolvierung einer Lehre als Buchhändler (1930–1932) in Mülheim/Ruhr – 1933 Fortsetzung des Studiums in Leipzig – 1938 kurzfristige Inhaftierung 413 Nach seinem Tod kursierte das Gerücht, er habe Selbstmord begangen. Nach Aussagen seines Sohnes Dr. Joachim Hofmann-Göttig (derzeit Oberbürgermeister der Stadt Koblenz) auf einer Gedenkveranstaltung für seinen Vater im Jahre 1998 in Marburg sei er ein »spät diagnostizierter Diabetiker« gewesen, »der sich um seine Krankheit nicht im Mindesten kümmerte, begeistert Schokolade aß und seine krankheitsbedingte Schlaflosigkeit mit Tabletten zu mildern suchte« (Oberhessische Presse vom 31. 10. 1998). So sei es auch am Morgen seines Todes gewesen: Er habe nach einer ruhelosen Nacht die begonnene Gartenarbeit abgebrochen, ein paar Schlaftabletten genommen, sei dann zusammengebrochen und auf dem Weg ins Krankenhaus am Kreislaufversagen gestorben (OP:ProfessorenPorträt: schlechter Autofahrer, Prozesshansel, Genie, 31. 01. 1998).
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– 1939 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bibliothekar am Institut für Gesellschaftsforschung und Arbeitslehre in Oslo – 1940 Assistent der Ufa-Lehrschau in Babelsberg – 1941 Promotion zum Dr. phil. in Kiel – 1943 erneute Verhaftung wegen Verstoßes gegen das Heimtückegesetz und Freispruch, Freiwilliger beim Sanitätsdienst der deutschen Wehrmacht – 1946/47 Schriftleiter der Internationalen Revue Umschau – 1949–1951 Assistent und Dozent für Gesellschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin – 1951–1953 Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt – 1955 außerordentlicher Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule in Weilburg – 1960 Ernennung zum ordentlichen Professor für Soziologie an der PhilippsUniversität Marburg, Herausgeber der »Soziologischen Texte« im Luchterhand Verlag (ab 1959) – 1978 Heinz Maus verstirbt in Marburg. Aktivitäten, Initiativen und Einstellungen – Engagement gegen die Notstandsgesetze (wie Abendroth und Hoffmann) – als einflussreicher Herausgeber tätig – Verfasser eines Leitfadens zur europäischen Sozialgeschichte in englischer Sprache. Dadurch Bekanntheitsgrad auch im englischsprachigen Ausland. Die Berufung von Heinz Maus Die Berufung von Heinz Maus414 erfolgte in einem ordentlichen Berufungsverfahren mit der Verabschiedung einer Viererliste: (1) Professor Dr. Rudolf Heberle, Full Professor für Soziologie in Baton Rouge/ Louisiana, USA, emigriert (2) Dr. Heinz Maus, Dozent für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Weilburg (3) Professor Dr. Hans Gerth, Full Professor für Soziologie an der Universität Wisconsin / USA (4) Prof. Dr. Max Ernst Graf Solms, Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Hochschule in Wilhelmshaven. Im Schreiben an das Ministerium weist der Dekan, Professor Carl Becker, darauf hin, dass während des Nationalsozialismus eine objektive wissenschaftliche Forschung in der Soziologie nicht möglich war. Ganz offensichtlich wurde durch 414 UAMR 305 a/ 4352.
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die vorgeschlagene Berufungsliste der Versuch unternommen, emigrierte Wissenschaftler zurückzugewinnen415.
9.3.2 Der Wirkungskreis der sogenannten Marburger Schule Wolfgang Abendroth Mit der Berufung von Werner Hofmann war das »Dreigestirn« der Marburger Schule komplett. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die drei Professoren Abendroth, Hofmann und Maus in erheblichem Umfang zur Politisierung der Philipps-Universität beigetragen haben. An erster Stelle ist diesbezüglich Wolfgang Abendroth zu nennen, der als charismatische Persönlichkeit und rhetorisch gewandt die Studierenden für sich und seine Ansichten gewinnen konnte. Abendroth ist durch zahlreiche markante und zuweilen polemische Äußerungen auch in der Öffentlichkeit hervorgetreten. Sein wissenschaftliches Werk wird auch von Insidern und Anhängern im Hinblick auf Originalität und Neuigkeitswert kritisch beurteilt. So schreibt Peter (2014) in seiner lesenswerten Darstellung »Marx an die Uni«: »Abendroth hat der marxistischen Theorie keine qualitativ neuen Momente hinzugefügt, wie das etwa Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung«[…] gelungen war«, und weiter : »Eher lag Abendroths Bedeutung für die marxistische Theorie sowohl in ihrer operativen Dimension als auch in der Verteidigung ihrer gegenwartsbezogenen Gültigkeit. Die Frage, ob der Marxismus geschichtlich überholt sei, hat er deshalb nachdrücklich verneint« (Peter, 2014, S. 59/60). Seine schöpferische Leistung habe vor allem in einer realitätsund praxisbezogenen realistischen Applikation der marxistischen Theorie auf die konkreten Widersprüche und gesellschaftlich-politischen Kräfteverhältnisse seiner Zeit bestanden. Bei von Bredow (2001) liest sich dies so: »Der Nimbus Wolfgang Abendroths muss, so vermute ich, in erster Linie von seiner Person ausgegangen sein, aus seinen Schriften lässt er sich nicht rekonstruieren« (S. 211)416 Die Wirkung als Person, sein Charisma, das auch von seinen Gegnern nicht bestritten wird, setzte er vor allem in den für Lehramtsstudierende obligatorischen Lehrveranstaltungen im Fach »Gemeinschaftskunde« ein, in denen er mit missionarischem Eifer marxistisches Gedankengut vermittelte. Hierzu führt sein Schüler Georg Fülberth aus: »Ein Teil seiner Massenwirkung lief und läuft über die Schulstuben zwischen Flensburg und Konstanz, vor allem aber zwi415 ebenda. 416 In: Hecker W, Klein J, Rupp HK (Hrsg) (2001). Politik und Wissenschaft. LIT-Verlag, Münster.
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schen Melsungen und Bensheim, in denen seine ehemaligen Studentinnen und Studenten im heute eher randständigen Fach Gesellschaftskunde Köpfe bearbeiten. So war es allemal besser, als wenn er Staatsrechtslehrer geblieben wäre«.417 Abendroth wirkte vorwiegend durch das Wort. In seiner Personalakte418 finden sich zuhauf Zeitungsberichte über seine öffentlichen Auftritte, deren Aussagen er in vielen Richtigstellungen korrigierte. Offenbar hatte er sich in seinen Aussagen vor seiner Anhängerschaft und auch in der breiten Öffentlichkeit nicht immer unter Kontrolle. Man könnte sagen, er fühlte sich fast immer missverstanden: Entweder hatte er eine Aussage so nicht gemeint oder die Aussage stimmte, wurde aber in grotesker Weise missverstanden. Wie stark Werk und Wirkung Abendroths von politischen Zeitströmungen abhängig waren, zeigt die Tatsache, dass nach dem Fall des eisernen Vorhangs wenig davon übrig blieb; zumindest sind die Diskussionen darüber verstummt. Dies wurde auch von seinen Schülern und Bewunderern festgestellt, wenn sie in einem Band über Wolfgang Abendroth, der bezeichnenderweise den Untertitel »Wissenschaftllicher Politiker« trägt (und nicht »politischer Wissenschaftler«) ausführen: »Nach seinem Tod und nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in der Sowjetunion sowie in den ost- und mitteleuropäischen Ländern wurde es indessen still um Abendroths Leben und Werk. Vereinzelt gibt es gar Versuche, die Bilanz seines Lebenswerks der Konkursmasse dieses Zusammenbruchs zuzuschlagen« (Balzer, Bock und Schöler, 2001). Dem wollten die Herausgeber des genannten Bandes entgegenwirken, der in der Rückschau nahezu ausschließlich bereits früher erschienene Beiträge der einzelnen Autoren enthält und nicht über Nachwirkungen seines wissenschaftlichen Werkes berichtet.
Werner Hofmann Im Mittelpunkt des Werkes von Werner Hofmann steht das Verhältnis von Marxismus zu Sozialökonomie. In den von ihm publizierten »sozialökonomischen Studientexten« setzte sich Hofmann mit diesem Spannungsverhältnis auseinander. Hofmann war ein sehr produktiver Wissenschaftler und hatte bereits, bevor er nach Marburg kam, eine Reihe von Monographien veröffentlicht, deren Schwerpunkt zunächst auf der Nationalökonomie lag, die er aber zunehmend ins Verhältnis zum Marxismus setzte, was zu einer kritischen Sicht 417 Fülberth, G. (2001): Freundlich, bitter und fremd. In: Balzer, F.-M., Bock, H. M., Schöler, U. (Hrsg.): Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker, S. 214, Leske und Budrich, Opladen. 418 UAMR, 310/Nr. 0.
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der ökonomischen Verhältnisse in der Bundesrepublik führte: »Eine so gründliche Auseinandersetzung mit Marx dürfte in der damaligen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion in der Bundesrepublik eine Rarität gewesen sein, die nicht nur intellektuelle Vorurteilslosigkeit, sondern, vergegenwärtigt man sich die akademisch konservativen, abweichenden Lehrmeinungen und Theorien gegenüber der häufig feindlichen Atmosphäre dieser Jahre, auch einen gewissen Mut widerspiegelt« (Peter, 2014, S. 65). Im Gegensatz zu Abendroth enthielt sich Hofmann »trotz seiner unverkennbaren Affinität zum Denken von Marx jeder apologetischen Identifikation« (Peter, 2014, S. 67). Heinz Maus Maus war als Schüler von Horkheimer durch die Frankfurter Schule geprägt. Er ist besonders durch seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur über Karl Marx hervorgetreten.
9.3.3 Gemeinsamkeiten der Protagonisten der sogenannten Marburger Schule Trotz einiger Unterschiede im Wissenschaftsverständnis, in den Schwerpunkten der Lehrtätigkeit und im Hinblick auf Biografie und Persönlichkeit, sind doch bedeutsame Gemeinsamkeiten der drei Protagonisten festzustellen: 1. Alle drei hatten einen Bezug zur sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR. Abendroth legte dort das zweite juristische Staatsexamen ab und ging zu diesem Zweck in die SBZ, angeblich auf Anraten von Georg August Zinn. Dies ist nicht ohne Weiteres verständlich, denn diese Möglichkeit hätte auch in der Bundesrepublik bestanden. Als er Schwierigkeiten hatte, dort seine Dissertation fertig zu stellen, ging er in die Schweiz. Werner Hofmann suchte aus Überzeugung die SBZ auf und kehrte nach München zurück, ebenfalls weil seine Promotion aus politischen Gründen nicht angenommen worden war. Worauf sich die Überzeugung Werner Hofmanns im Einzelnen bezog, lässt sich aus den zugänglichen Dokumenten nicht im Detail erschließen. Heinz Maus war im Zeitraum von 1949/1951 als Assistent und Dozent für Gesellschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität in Ostberlin tätig, im Anschluss daran ging er zu Horkheimer an das Institut für Sozialforschung in Frankfurt. 2. In den Veröffentlichungen aller drei Professoren geht es um theoretische Konzepte und nicht um die Erarbeitung und Beschreibung empirischer Sachverhalte. Dabei spielte der Marxismus-Leninismus, sowohl im Wissen-
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schaftsverständnis als auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren mögliche Veränderungen, eine zentrale Rolle. Ihre Publikationen erreichten nur ausnahmsweise ein internationales Publikum, Veröffentlichungen in englischer oder französischer Sprache kamen kaum vor, vielleicht mit der Ausnahme des Lehrtextes von Maus, der ihn auch im englischsprachigen Raum bekannt machte. Auch erschienen die meisten Veröffentlichungen nicht in renommierten Zeitschriften und Verlagen. Umso mehr machten sie vor Ort von sich reden, in einer Zeit, in der die Studentenbewegung und Protestaktionen aller Art ihren Höhepunkt erreichten. Um mit dem ehemaligen Marburger Studenten und vormaligen Direktor des Literaturarchivs Marbach, Ulrich Raulff, zu sprechen: »Sie waren in Marburg weltberühmt«. Im vehementen Vertreten des Marxismus in Forschung und Lehre äußerte sich ein missionarischer Gedanke, der am ausgeprägtesten bei Wolfgang Abendroth war, der durch die Fortbildung hessischer Lehrer im Fach Gemeinschaftskunde die Gelegenheit hatte, Generationen von Lehrern seine Sicht der Dinge zu vermitteln. Die Arbeiterbewegung als historische Reminiszenz Etwas pointiert könnte man sagen, dass sie sich zum Teil mit der Arbeiterbewegung beschäftigten, als diese gar nicht mehr existierte. Was den Wissenschaftsbegriff und das Verständnis von Wissenschaft betrifft, so stellt sich die Frage, ob eine einzige Gesellschaftstheorie (hier der Marxismus) wirklich geeignet ist, Vorgänge in der Gesellschaft zu analysieren und verständlich zu machen. Ist nicht der Marxismus eher eine Weltanschauung als eine Theorie, die Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen kann? Von daher ist weiterhin zu fragen, ob nicht hier Wissenschaft als Weltanschauung oder Weltanschauung als Wissenschaft betrieben wurde.
9.3.4 Zur Atmosphäre im Institut für wissenschaftliche Politik Interessante Einblicke in die Geschichte und die Arbeitsweise des Instituts für wissenschaftliche Politik geben die beiden Berichtsbände, die aus Anlass seines 50-jährigen Bestehens veröffentlicht wurden419. Insbesondere Band 1 versammelt zahlreiche Beiträge zu den Anfängen der Politikwissenschaft, zur Etablierung des Faches und zu den Umbruchsprozessen in den Jahren 1960 bis in die 1980-er Jahre. Dort finden sich, neben fachbezogenen, überwiegend theoretisch ausgerichtete Beiträge, auch solche, die die Persönlichkeit der führenden Ak419 Hecker et al. (Hrsg.): Politik und Wissenschaft. Bd. 1. Zur Geschichte des Instituts. LITVerlag, Münster, Hamburg, 2001.
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teure und die Atmosphäre des Instituts beschreiben. Dabei sind besonders Erfahrungsberichte jener Zeitzeugen interessant, die nicht dem im Institut vorherrschenden marxistischen Zeitgeist verfallen waren und ein andersartiges Verständnis von wissenschaftlicher Politik vertraten. Diese waren als sogenannte »bürgerliche Wissenschaftler« am Institut kaum geduldet und Repressalien ausgesetzt, insbesondere auch seitens der marxistisch indoktrinierten Studierenden. Sehr plastisch beschrieb diese Situation Ruprecht Kampe, der im Zeitraum von 1966 bis 1974 als Studienrat im Hochschuldienst am Institut tätig war. Er sei insbesondere deshalb an das Institut abgeordnet worden, um die Zusammenarbeit zwischen Universität und Schulen zu vertiefen: »Insbesondere sollten die Bedürfnisse der Schule im Curriculum der Lehrerbildung an der Universität stärkere Berücksichtigung finden«420. Das zunächst liberale Klima am Institut habe sich mit der Dominanz der 68-er Studentenbewegung signifikant verändert. Im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften sei es dabei nicht nur um eine mehr oder weniger radikale Form der »Demokratisierung« gegangen, »sondern ganz gezielt um die Durchsetzung eines marxistischen Gesellschaftsverständnisses in Lehre und Forschung«421. Dies habe man auf drei Ebenen beobachten können: in der Lehre, in der Berufspolitik und in dem im Institut vorherrschenden Tendenzdenken. (1)
Lehre
In den sogenannten Grundarbeitskreisen dominierten unter den Studierenden »die marxistisch-leninistisch orientierten Befürworter der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR«422. Von ihnen sei ein Einschüchterungseffekt gegenüber andersdenkenden Studierenden ausgegangen, die sich angesichts der rhetorischen Dominanz der »Marxismus-Gruppe« entweder ganz mit eigenen Stellungnahmen zurückhielten oder sich, entgegen ihrer eigenen Überzeugung, den Wertungen der Dominanz-Gruppe anschlossen, um nicht als »reaktionär« angesehen zu werden. Dieses Verhalten der Dominanzgruppe könne man nur als »fatale Form psychologisch-verbaler Repression einstufen«423.
420 421 422 423
Kampe in Hecker et al. 2001, S. 225. ebenda. ebenda, S. 225. ebenda, S. 226.
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(2)
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Berufungspolitik
Auch im Hinblick auf Berufungen sei von den marxistisch orientierten Mitgliedern des Institutes (Professoren wie Assistenten) ein Druck ausgegangen, der zum Rückzug andersdenkender Dozenten aus Marburg geführt habe. In diesem Zusammenhang erwähnt Kampe die Dozenten Czempiel und Link. Die einseitige Berufungspolitik belegt Kampe mit einer persönlichen Erfahrung, die sich auf eine Auseinandersetzung mit Abendroth bezieht. In einer Besprechung im Kreise von Mitarbeitern sei die Forderung aufgestellt worden, nur marxistisch orientierte Professoren nach Marburg zu berufen. Als Kampe aufgrund seiner eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung während der NS-Zeit dagegen protestierte, habe Abendroth diesen Einwand nicht gelten lassen, sondern erregt erwidert, dass es an anderen Universitäten genügend reaktionäre Professoren gebe und dass man deshalb in Marburg einen Gegenpol schaffen müsse. Unter dem Eindruck der 1968-er Wende habe leider auch Abendroth seine einstmals liberale Haltung aufgegeben. Auch in seinen politischen Äußerungen habe er zu jener Zeit sehr widersprüchliche Statements abgegeben. So habe er in einem öffentlichen Vortrag die demokratische Willensbildung der SED gelobt und andererseits in einem persönlichen Gespräch ein Demokratiedefizit innerhalb der SED beklagt. Auf diesen Widerspruch angesprochen, habe er geäußert, »die Mehrheit der Studierenden sei so sehr in reaktionären Denkweisen und Vorurteilen über den Sozialismus aufgewachsen, dass man sie nur bestärkt hätte, würde man ihnen die noch schlechte oder unzureichende gegenwärtige Realität der sozialistischen Staaten ungeschminkt aufzeigen«424. Diese Äußerung beurteilt Kampe als einen »eindeutigen Fall der Unterordnung des Ethos eines Wissenschaftlers und Professors unter das des Politikers«425.
(3)
Vorherrschendes Tendenzdenken im Institut
Typisch hierfür sei das von Mitarbeitern des Instituts aus Anlass des 65. Geburtstags von Abendroth herausgegebene Buch »BRD-DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme«. Dieses Buch strotze von vielen einseitigen und blauäugigen Fehlinterpretationen, was dem wissenschaftlichen Ansehen des Instituts einen schlechten Dienst erwiesen habe. Das Buch enthält 14 Kapitel, die sich unter verschiedenen Aspekten mit einem Vergleich der Gesellschaftssysteme in der BRD und der DDR beschäftigen und durchweg zu dem Ergebnis gelangen, dass das fortschrittliche sozialistische Gesellschaftssystem der DDR dem monopolkapitalistischen der BRD überlegen 424 ebenda, S. 227. 425 ebenda, S. 227.
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sei, sei es im Hinblick auf das ökonomische System (Jürgen Harrer und Heinz Jung), die betriebliche Organisation der Produktion (Frank Deppe), die Entwicklungstendenzen in der Landwirtschaft (Eberhard Dähne), die Entwicklung der Sozialstruktur (Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden), die Demokratie (Georg Fülberth und Helge Knüppel unterscheiden zwischen einer bürgerlichen und einer sozialistischen Demokratie), die Auseinandersetzung mit dem Faschismus (Reinhard Kühnl), die Grundrechte (Peter Römer), die Rechtsordnung (Herbert Lederer und Hans-Jochen Michels), die soziale Lage der Frauen (Helga Deppe-Wolfinger und Jutta von Freyberg), die medizinische Versorgung (Hans-Ulrich Deppe und Erich Wulff), die Forschungspolitik (Andr8 Leisewitz und Rainer Rilling), das Bildungswesen (Dieter Kramer et al.) und die Probleme der Systemauseinandersetzung im nachfaschistischen Deutschland (Kurt Steinhaus). Das Buch ist eine einzigartige Apotheose auf den Sozialismus marxistischer Prägung in der DDR. Die ideologische Verblendung der Autoren sei lediglich durch ein Zitat unterstrichen. Peter Römer (S. 289/90) führt zu den Grundrechten aus: »Die neue Qualität der Grundrechte in der DDR wird vielmehr in der bewussten Absage an jene Grundrechtstheorie und –praxis in der BRD ersichtlich, der gemäß die Grund- und Freiheitsrechte in erster Linie immer noch als Rechte des einzelnen, isolierten, egoistischen Individuums und als Mittel der sozialen Schrankenziehung angesehen werden«. In der DDR hingegen sei die Basis der Grundrechte die Mitgestaltung und Mitbestimmung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens nach dem Verfassungsgrundsatz: »Arbeite mit, plane mit, regiere mit«. Jeder, der die DDR jemals kennengelernt hat, wird sich verwundert die Augen reiben und fragen, welche DDR dieser Autor und auch die anderen gemeint haben. Schließlich erwähnt Kampe, dass im Institut ein Defizit im Hinblick auf die kompetente Behandlung ökonomischer Probleme geherrscht habe. Zwar seien ökonomische Fragestellungen in den Oberseminaren von Abendroth diskutiert worden, aber in ziemlich dilettantischer Weise, was Prof. Hofmann als gelernter Nationalökonom in einem privaten Gespräch auch bestätigt habe. Die Kontroverse um eine angemessene ökonomische oder wirtschaftswissenschaftliche Grundausbildung der Studierenden sei seinerzeit nie zum Abschluss gekommen. Die im Gefolge der 68-er Bewegung ständig ansteigende Studierendenzahl sei ein weiteres Problem gewesen, nicht zuletzt im Hinblick auf eine künftige berufliche Tätigkeit. Dies habe aber keineswegs jeden Studierenden bekümmert. Bei der Frage an Studierende, welches Berufsziel sie anstrebten, habe man nicht selten die Antwort erhalten: »Berufsrevolutionär«.
Zusammenfassung
9.4
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Zusammenfassung
Bei der 1968-er Bewegung handelt es sich nicht um eine deutsche, sondern um eine internationale, die allerdings in Deutschland durch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine besondere Ausrichtung zeigte. Die studentischen Akteure protestierten gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition, mahnten die bislang ausgebliebene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an und forderten eine Demokratisierung der Universität. Assoziiert mit dieser Bewegung war auch die Heimkampagne, die 1969 im Jugendheim Staffelberg bei Marburg begann. Die Auswirkungen auf die Philipps-Universität äußerten sich in Störungen von Lehrveranstaltungen, in Protesten gegen die Hochschulgesetzgebung, in Institutsbesetzungen, in Störungen von Gremiensitzungen und z. T. auch in mutwilligen Zerstörungen. Auch in der Hochschulgesetzgebung schlugen sich diese Einflüsse nieder, wobei zwei hessische Hochschulgesetze von besonderer Bedeutung waren: das Gesetz über die wissenschaftlichen Hochschulen des Landes Hessen (Hochschulgesetz) vom 16. Mai 1966 und das hessische Universitätsgesetz vom 12. Mai 1970. Beide Gesetze hatten nachhaltige Auswirkungen auf die Struktur und die Arbeitsweise der hessischen Universitäten. Während das erstgenannte Gesetz den Hochschulen und Universitäten noch gewisse Freiheiten zubilligte (z. B. die Wahl zwischen einer Rektoratsverfassung, einer Präsidialverfassung oder einer Direktorialverfassung), brachte das zweite Gesetz grundlegende Strukturänderungen der Universität mit sich. So wurden die traditionellen Fakultäten abgeschafft und durch Fachbereiche ersetzt, es wurden zwei parlamentarische Gremien (Konvent und Senat) eingeführt, die Habilitation wurde nicht mehr als Voraussetzung für die Ernennung von Hochschullehrern angesehen und im Rahmen der Gruppenuniversität verfügte keine Gruppe über eine Mehrheit, so dass Entscheidungen zwischen verschiedenen Gruppen in den Gremien kooperativ ausgehandelt werden mussten. Darüber hinaus wurden zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter, ohne die fachlichen Voraussetzungen zu erfüllen, zu Professoren ernannt. Diese Gruppe der »übergeleiteten Professoren« (sogenannte Hessenprofessoren), die keine Leitungsfunktionen innehatten, bestimmte in manchen Fachbereichen zukunftsträchtige Entscheidungen. Die Politisierung der Philipps-Universität erfasste jedoch nie die gesamte Universität, sondern nur bestimmte Fachbereiche, deren Protagonisten aber militant auftraten und so zur Außenwahrnehmung der Philipps-Universität als einer »roten Universität« beitrugen. Im Zusammenhang mit der Politisierung der Philipps-Universität spielte der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften mit den Vertretern der sogenannten Marburger Schule Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann und Heinz Maus eine führende Rolle. Auch der Fachbereich
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Pädagogik, insbesondere die Sonderpädagogik schwenkte mit Lehrenden und Studierenden auf diese Linie ein.
10. Wechsel der Klinikleitung und neue Initiativen (1980)
10.1 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.4
Die Berufung von Helmut Remschmidt zum Nachfolger von Hermann Stutte Veränderung und Erweiterung der Klinikstruktur Neue Initiativen Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Etablierung eines überregionalen Kooperationsmodells zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe (Leppermühle) Erweiterung und Regionalisierung der Erziehungsberatung im Landkreis Marburg-Biedenkopf Mitwirkung bei der Gründung der interdisziplinären Frühförderstelle in Marburg Gründung von Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten für Psychotherapie Einrichtung einer DFG-geförderten Klinischen Forschergruppe und andere innovative Forschungsprojekte Zusammenfassung
10.1 Die Berufung von Helmut Remschmidt zum Nachfolger von Hermann Stutte426 Seit dem 1. Mai 1975 war Helmut Remschmidt (aus Marburg kommend) ordentlicher Professor für Psychiatrie und Neurologie des Kindes- und Jugendalters an der Freien Universität Berlin. Mit seiner Berufung wurde die gleichnamige Abteilung an der FU eingerichtet. Als die Nachfolge von Hermann Stutte anstand, bewarb sich Helmut Remschmidt mit Schreiben vom 12. 7. 1977 an den Präsidenten der Philipps-Universität Marburg. Am 12. 5. 1978 teilte Dekan Neurath den Listenvorschlag der Berufungskommission, die von dem Internisten Professor Martini geleitet wurde, dem Hessischen Kultusministerium mit. Den Ruf erhielt Remschmidt allerdings erst am 6. 10. 1978, was bestimmte Gründe hatte. In die engere Wahl kamen vier Bewerber (in alphabetischer Reihenfolge): 426 HHStAW X 422 62.
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Wechsel der Klinikleitung und neue Initiativen (1980)
Helmut Remschmidt (Berlin), Martin Schmidt (Mannheim), Friedrich Specht (Göttingen) und Peter Strunk (Freiburg). Die Kommission hatte drei Gutachten eingeholt von den Professoren Robert Corboz (Zürich), Reinhard Lempp (Tübingen) und Hedwig Wallis (Hamburg). Die Gutachter Corboz und Wallis setzten jeweils Helmut Remschmidt an die erste Stelle der Berufungsliste, der Gutachter Lempp platzierte Peter Strunk an die erste Stelle, Herrn Remschmidt und Herrn Schmidt aequo loco an die zweite Stelle und Herrn Specht an die dritte Stelle auf der Berufungsliste. Mit Datum vom 18. 7. 1978 erreichte den Hessischen Kultusminister Hans Krollmann, persönlich und per Einschreiben, ein geheimes Sondervotum von Professor Manfred Pohlen (Leiter der Abteilung für Psychotherapie am Zentrum für Nervenheilkunde), der nicht der Kommission angehörte. In diesem Sondervotum schlug Pohlen vor, auf den ersten Listenplatz Martin Schmidt aus Mannheim anstelle von Helmut Remschmidt aus Berlin zu setzen. Unter anderem wurde dies damit begründet, dass es sich bei der Berufung von Helmut Remschmidt um eine Hausberufung handeln würde – dies, obwohl Remschmidt als Gründungsprofessor an der FU Berlin einen neuen Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie des Kindes und Jugendalters aufgebaut hatte. Im Kultusministerium stieß diese Intervention keineswegs auf Gegenliebe. Ein leitender Ministerialbeamter (Kraneis) schrieb hierzu: »Ich vermag nicht zu beurteilen, ob die Kritik von Professor Pohlen an der klinisch-theoretischen Kompetenz von Professor Remschmidt berechtigt ist. Allerdings hätte erwartet werden können, dass er diese »Kritik« dann auch unter Fachleuten im Fachbereich vorgetragen und zur Diskussion gestellt hätte. Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass keine Veranlassung besteht, an der Objektivität der vergleichenden Gutachten und des eindeutigen Votums vom Fachbereich und Senat in Marburg zu zweifeln»427. Dennoch holte das Ministerium ein weiteres vergleichendes Gutachten von Professor Müller-Küppers aus Heidelberg ein, datiert vom 18. September 1978, das die Reihenfolge der Kommission bestätigte und Herrn Remschmidt die erste Stelle, Herrn Schmidt die zweite, Herrn Strunk die dritte und Herrn Specht die vierte Position zubilligte. Abschließend vermerkt der für Marburg zuständige Ministerialrat Bickelhaupt in einem Schriftsatz an den Minister vom 25. September 1978: »Ich sehe keinen triftigen Grund, von dem Vorschlag des Fachbereichs, der sich im Ermessensspielraum hält, abzuweichen und Herrn Schmidt den Vorzug zu geben. Ich bitte daher, wie im Votum vom 20. Juli geraten, Herrn Remschmidt den Ruf zu geben und das beigefügte Rufschreiben zu unterschreiben«. Im Hinblick auf die Intervention von Herrn Pohlen führt er aus: »Bisher haben wir derartige 427 HHStAW X 422 62.
Die Berufung von Helmut Remschmidt zum Nachfolger von Hermann Stutte
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Eingaben stets postwendend zurückgegeben. Dekan Neurath, dem ich auf seinen Anruf nach dem Stand der Sache Auskunft über die Verzögerung geben musste, legt Wert darauf, das Sondervotum zu erhalten«428. Die Intervention von Manfred Pohlen gegen die Berufung Remschmidts ist aber noch aus einem anderen Grund interessant. Noch während der Berufungsverhandlungen, die von Oktober 1978 bis März 1980 andauerten, versuchten die Herren Pohlen (FB 20, Humanmedizin) und Rehbein (FB 21, Pädagogik), das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe aus dem Verband der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie herauszulösen. Ein entsprechendes Schreiben der Herren Pohlen und Rehbein, mitunterzeichnet vom damaligen Dekan des FB Erziehungswissenschaften, Prof. Auernheimer, war beim Geschäftsführenden Direktor des Zentrums für Nervenheilkunde, Prof. Solcher, eingegangen. Das Direktorium schloss sich jedoch am 4. 2. 1980 Remschmidts Antrag auf Re-Integration des Instituts in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an, ebenso der Fachbereichsrat des FB Humanmedizin am 6. 2. 1980. Auch der Klinikumsvorstand bestätigte diese Beschlüsse. Dennoch versuchte Dekan Neurath entgegen der Beschlüsse von Direktorium, FBR und Klinikumsvorstand, den Status des Instituts als »selbständiger Funktionsbereich« durchzudrücken. So teilte er mit Schreiben vom 7. 3. 1980 Herrn Remschmidt mit: »Direktorium, FBR und Klinikumsvorstand haben beschlossen, dass die Abteilung für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe nach Ausscheiden von Frau Prof. Dr. Weber zur Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie gehören soll, sie soll aufgrund der bisherigen Selbständigkeit als Funktionsbereich weiter bestehen. Ich werde diesen Antrag dem Kultusminister weiterreichen«.429 Auf die Korrektur dieser durch Beschlüsse nicht gedeckten Formulierung durch Remschmidt mit Schreiben vom 28. 3. 1980 antwortete der Dekan am 9. 4. 1980: »Ich hatte Ihnen mitgeteilt, dass dieses (gemeint ist das Institut für ärztlich-pädagogische Jugendhilfe, H.R.) als Funktionsbereich weiter bestehen soll. Soll ist i. S. von Beschlüssen keine Muss-Situation. Sie setzt immer voraus, dass weitere Beschlüsse gefasst werden«. Helmut Remschmidt teilte mit Schreiben vom 28. 3. 1980 Kultusminister Krollmann mit, dass der Dekan im Hinblick auf das Institut dem Kultusministerium eine Mitteilung gemacht hat, die im Widerspruch steht zu gültigen Beschlüssen dreier Gremien. Aus welcher Haltung die Verdrehung von Beschlüssen hervorging, wird aus einem zuvor geführten Telefongespräch (am 18. 12. 1979) zwischen Remschmidt und dem Dekan430 deutlich, in der er keinerlei Neigung erkennen ließ, einen Beschluss auf Re-Integration des »Instituts« in die Klinik herbeizuführen. Dies 428 ebenda. 429 Persönliche Berufungsunterlagen Prof. Remschmidt. 430 ebenda.
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solle erst nach Ausscheiden von Frau Prof. Weber geschehen. Im Übrigen sei ja auch die Innere Medizin, die viele Jahre der Gesamtleitung von Prof. Martini unterstand, in zahlreiche Abteilungen aufgelöst worden. Abgesehen davon, dass dieser Vergleich von der Sache her völlig fehl am Platze war, zeigte sich in diesem Verhalten des Dekans eine Tendenz zur Partikularisierung von Einrichtungen, die damals verbreitet war, hier von einem Dekan, der übergeleiteter C2-Professor war, selbst einem Funktionsbereich vorstand und nun seine Machtbefugnisse an falscher Stelle einsetzte. Angesichts der Tatsache, dass Remschmidt die Re-Integration des »Instituts« zur Voraussetzung für die Annahme des Rufes gemacht hatte, war dies ein weiterer Versuch, seine Berufung zu verhindern und zumindest zu erschweren. Der weitere Verlauf der 1 12-jährigen Berufungsverhandlungen zeitigte noch einige andere Schwierigkeiten, die Remschmidt veranlassten, dem Präsidenten ein Absageschreiben zuzusenden. Dieser bat jedoch in einem Telefongespräch, den Brief zurückzunehmen und versprach, die noch offenen Fragen zu klären, was durch den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Einsatz des damaligen Präsidenten Prof. Walter Kröll gelang. Schließlich nahm Helmut Remschmidt mit Schreiben vom 28. 3. 1980 den Ruf an die Philipps-Universität Marburg an unter zwei zuvor zugesagten und mit Hilfe des Präsidenten durchgesetzten Bedingungen: (1) Bereitstellung von vier Stellen für akademische Mitarbeiter im Haushaltsjahr 1981 und (2) Re-Integration des Instituts in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. In gleicher Weise setzte sich Präsident Kröll für das Verbleiben von Helmut Remschmidt an der Philipps-Universität Marburg angesichts seines Rufes an die Universität Zürich (in den Jahren 1984/85) ein. Wieder ging es u. a. um vier Stellen, von denen zwei der Fachbereich bereitstellen sollte und die anderen zwei das Hessische Kultusministerium. Der FBR Humanmedizin hatte bereits einen abschlägigen Beschluss gefällt, als Präsident Kröll die nächste Sitzung dieses Gremiums aufsuchte und einen eindringlichen Appell an dessen Mitglieder richtete, worauf der Beschluss revidiert und die beiden geforderten Stellen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zugebilligt wurden. Auch die Bereitstellung der beiden anderen Stellen seitens des Hessischen Kultusministeriums hat der Präsident der Philipps-Universität, Prof. Kröll, bewirken können.
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10.2 Veränderung und Erweiterung der Kliniksstruktur 10.2.1 Strukturelle Weiterentwicklungen Aufgaben und Struktur der 1958 erbauten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität konnten in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in erheblichem Umfang erweitert und fortentwickelt werden. In Abbildung 10.2.1 ist die bis Oktober 2006 gültige Organisationsstruktur der Klinik und ihrer Einrichtungen dargestellt. Die Abbildung zeigt auf der rechten Seite die verschiedenen klinischen Einrichtungen in der Krankenversorgung und zusätzlich jene organisatorisch selbständigen Einrichtungen, mit denen eine intensive Kooperation besteht. Auf der linken Seite sind die Forschungseinrichtungen und Forschungsschwerpunkte dargestellt. In der Mitte der Abbildung finden sich Einrichtungen, die sowohl der Krankenversorgung als auch der Forschung dienen. Für die differenzierte Arbeit der verschiedenen Teileinrichtungen der Klinik hat es sich als sehr sinnvoll erwiesen, dass sie in verschiedenen Häusern untergebracht sind, so dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines jeden Hauses ihre spezifische Identität entwickeln konnten, aber dennoch dem Ganzen verpflichtet sind. Haus 1 (Hans-Sachs-Strasse 6) enthält neben der Direktion der Klinik die Bibliothek, die Familienambulanz und ein Videostudio, Datenverarbeitung und Dokumentation sowie verschiedene Mitarbeiterzimmer des Forschungsbereiches. Haus 2 (Hans-Sachs-Strasse 8) beherbergt die Ärztlich-Pädagogische Jugendhilfe und die Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V. Marburg. Haus 3 (Hans-Sachs-Strasse 4) enthält die drei Stationen A, B, C, zwei MutterKind-Einheiten, Küche und Versorgungseinrichtungen, Behandlungszimmer, die auch vom Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin genutzt werden, Besprechungsräume für die Stationsleitungen, eine Patienten-Bibliothek, einige Räume der Schule für Kranke, die Krankengymnastik sowie Spielund Werkkeller für die Stationen. Haus 4 (Tagesklinik) ist für die Aufnahme von 12 bis 14 Patienten konzipiert, die morgens aus einem Umkreis von 30 km zur Behandlung kommen und abends wieder nach Hause gebracht werden. Hierfür existiert ein Taxi-Service, der von den Krankenkassen bezahlt wird. Auch in der Tagesklinik ist ein Schulraum der Schule für Kranke vorhanden sowie ein spezieller Gymnastikraum. Haus 5 (Haus Bethanien, Schützenstrasse 49) enthält Institutsambulanz, Spezialsprechstunden für anfallskranke und entwicklungsgestörte Kinder sowie für Kinder und Jugendliche mit Autismus und Asperger-Syndrom, die Polikli-
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Abb. 10.1: Bis 2006 gültige Organisationsstruktur der Klinik und ihrer Einrichtungen
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nik, ein EEG-Labor sowie entsprechende Forschungseinrichtungen und Forschungsprojekte. Von den Forschungseinrichtungen zu erwähnen sind: das Molekulargenetische Labor, das Neuropsychologische Labor, das Psychopharmakologische Labor. An Forschungsprojekten sind im Haus Bethanien angesiedelt: die Klinische Forschergruppe »Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation unter besonderer Berücksichtigung von Essstörungen und Adipositas«, die genetisch-neuropsychologische Arbeitsgruppe Legasthenie, die Asperger- und Autismus-Forschungsgruppe sowie Forschungsgruppen zur Psychopharmakologie des Kindes- und Jugendalters. Am unteren Rand der Abbildung sind die wichtigsten Initiativen auf dem Gebiet der Ausbildung, Fort- und Weiterbildung dargestellt. Neben Vorlesungen, Praktika für Studierende und regelmäßig stattfindenden Kolloquien existiert eine geregelte Mitarbeiterfortbildung, Fortbildungsangebote für andere Institutionen, eine verantwortliche Mitwirkung an der Weiterbildungsstätte zur Fachschwester bzw. zum Fachpfleger für Psychiatrie und das 1999 gegründete Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV), welches in einem dreijährigen Weiterbildungsgang Ärzte und Psychologen (zum Teil auch Ausbildungskandidaten mit pädagogischer Vorbildung) zu Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ausbildet. Über die Arbeit in der Klinik und ihren Einrichtungen in den letzten 26 Jahren haben wir in regelmäßigen Berichten Rechenschaft abgelegt, was hier nicht wiederholt werden soll. Es sollen nur einige Weiterentwicklungen herausgestellt werden, die sich im genannten Zeitraum ereignet haben. Die wichtigsten sind: – die Einrichtung einer Tagesklinik aus den Mitteln des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung (eröffnet 1984). – Aufstockung und der weitere Ausbau der geschlossenen Adoleszentenstation mit Einrichtung zweier Mutter-Kind-Einheiten und eines neuen Konferenzraums für Besprechungen und für die Lehre. – die Errichtung einer Institutsambulanz in Marburg (2001) und Bad Nauheim (2004). – die Einrichtung eines mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes für zwei Landkreise im Rahmen des Modellprogramms (1980–1989). – die Gründung eines Weiterbildungsseminars für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie und die Mitbegründung einer Weiterbildungsstätte zur Fachschwester bzw. Fachpfleger für Psychiatrie (ebenfalls 1981). – Gründung des Instituts für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin an der Philipps-Universität (IVV) als Fortsetzung des Weiterbildungsseminars für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie.
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– die Gründung des Vereins für Kinder- und Familientherapie e.V. Marburg im Jahr 1981. Dieser Verein fungierte zunächst als Träger für die Tagesklinik bevor diese im Landeshaushalt verankert werden konnte. – die Errichtung eines Neubaus für die Schule für Kranke im Jahr 2002. – die Errichtung einer eigenen Forschungseinheit und Etablierung aktueller Forschungsschwerpunkte. – Übernahme der Pflichtversorgung für den Landkreis Marburg-Biedenkopf im Jahr 1982 und Übernahme der Pflichtversorgung für die Landkreise Gießen und den Wetteraukreis im Jahr 1995.
10.2.2 Krankenversorgung Es wurde seit 1980 das Ziel verfolgt den ambulanten und tagesklinischen Bereich weiter auszubauen und den stationären Bereich durch Schwerpunktsetzung über das zugeordnete Einzugsgebiet hinaus attraktiv zu machen. Dies geschah stets auch unter Berücksichtigung entsprechender Forschungsinteressen, so dass die Patienten auch in Projekte eingebunden waren. Als derartige Schwerpunkte etabliert wurden: – Essstörungen (Anorexia nervosa und Bulimia nervosa) sowie, begünstigt durch die Klinische Forschergruppe in begrenztem Umfang auch Adipositas. – psychotische Erkrankungen mit dem Schwerpunkt Schizophrenie im Kindesund Jugendalter. Auf diesem Sektor konnte insbesondere auf die Nachsorgeund Rehabilitationseinrichtung Leppermühle vertraut werden. – Zwangsstörungen. Diese Patientengruppe war in ein multizentrisches Projekt in Zusammenarbeit mit den Kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätskliniken Aachen, Freiburg und Würzburg eingebunden. – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen mit und ohne Störung des Sozialverhaltens. Diese Patienten wurden nur in besonders schwerwiegenden Fällen aufgenommen. Sie wurden überwiegend ambulant behandelt und auch ambulant in einem Projekt zur Genetik ihres Störungsmusters einbezogen, welches unter Federführung des Leiters der Klinischen Forschergruppe (Prof. Hebebrand) durchgeführt wurde. Ambulanter Bereich Die ambulante Versorgung konnte durch die am 1. 4. 2001 eröffnete Institutsambulanz entscheidend verbessert werden. Ferner wurden spezielle Forschungssprechstunden seit Mitte der Neunzigerjahre eingeführt, z. B. für Hyperkinetische Störungen, Legasthenie, Essstörungen, Asperger-Syndrom und Autismus, Tics und Tourette-Syndrom. Die Einrichtung einer weiteren Insti-
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tutsambulanz in Bad Nauheim im Jahr 2004 erwies sich als wichtige Ergänzung innerhalb des Gesamtversorgungskonzeptes.
Tagesklinik Die 1984 durch Bundesmittel im Rahmen des Modellprogramms Psychiatrie eröffnete Tagesklinik hat sich als wertvolles Instrument der mittelfristigen Behandlung (Aufenthaltsdauer im Durchschnitt sechs Monate) psychisch kranker Kinder und Jugendlicher erwiesen. Ihr Einzugsgebiet erstreckt sich auf Stadt und Landkreis Marburg mit ca. 239.000 Einwohnern, davon etwa 50.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 17 Jahren. Aufgenommen werden Kinder mit Hyperkinetischem Syndrom, Störungen des Sozialverhaltens, Entwicklungsstörungen, Emotionalen Störungen, Autismus-Spektrum-Störungen sowie mit einer Reihe spezieller Syndrome wie Tics, Tourette-Syndrom, etc. Für die hier aufgenommenen Kinder ebenso wie für stationäre Patienten stellt die Schule für Kranke einen wichtigen Baustein im Gesamtbehandlungsplan dar. Denn die meisten Störungen sind zugleich mit schulischen Lern- und Leistungsstörungen sowie Verhaltensstörungen kombiniert. Konzept und Arbeitsweise der Tagesklinik haben wir in unseren Jahresberichten ausführlich beschrieben. Eine Evaluation des Behandlungserfolges wurde von Herrn Dr. Kurt Quaschner431 durchgeführt. Diese Studie ist insofern bemerkenswert, als er alle Patientinnen und Patienten (n=106), die in einem Zeitraum von fünf Jahren aufgenommen worden waren, katamnestisch nachuntersuchen konnte. Die Stichprobe umfasste 106 Patientinnen und Patienten: 75 männliche und 31 weibliche im Alter von fünf bis 18 Jahren; das Durchschnittsalter war 9,2 Jahre, der Katamnesezeitraum betrug 3 12 Jahre. Unter den Diagnosen bildeten emotionale Störungen die größte Gruppe (n=47), gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens (n=19), hyperkinetischen Syndromen (n=18), neurotischen Störungen (n=8) und Autismus-SpektrumStörungen (n=5). Die restlichen neun Diagnosen erstreckten sich auf verschiedene seltenere Störungsmuster. Die Behandlungsdauer betrug im Mittel sechs Monate. Die ermittelten Effektstärken, die mit Hilfe verschiedener Evaluationsinstrumente (CBCL, Marburger Symptomliste) erhoben wurden, betrugen für die Gesamtgruppe für den Zeitraum Aufnahme/Entlassung zwischen 0,91 und 1,17, für den Zeitraum Aufnahme/Katamnese zwischen 0,78 und 1,36. Für den Behandlungserfolg, gemessen an der Symptomreduktion, erwies sich die Dia431 Quaschner K (2001): Tagesklinische Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Darstellung und Evaluation eines Behandlungskonzeptes. Psychologische Dissertation, Marburg.
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gnosengruppe als bester Prädiktor : Ein guter Behandlungserfolg (deutlich oder völlig gebessert) war zum Entlassungszeitpunkt bei den drei häufigsten Diagnosen (emotionale Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und hyperkinetische Störungen) in 64–75 % der Fälle nachweisbar. Dieser gute Erfolg blieb allerdings zum Katamnesezeitpunkt nur bei den emotionalen Störungen erhalten (deutliche Besserungsrate 75 %), während er bei den hyperkinetischen Syndromen und den Störungen des Sozialverhaltens auf 21 bzw. 19 % absank. Im ambulanten Bereich erwies sich auch die Erziehungsberatungsstelle des Vereins für Erziehungshilfe e.V. als eine sehr wichtige Einrichtung (vgl. Kap. 3). Für den gesamten Bereich der Krankenversorgung ist Folgendes festzuhalten: – Die schrittweise Etablierung (seit 1980) eines umfassenden Versorgungssystems unter Einbeziehung kooperierender Einrichtungen im Einzugsgebiet hat zu einer signifikanten Verbesserung der Versorgung geführt und wird von Besuchern im In- und Ausland als modellhaft angesehen. – Die Daten aller Patienten werden seit 1980 in einer in unserer Klinik entwickelten Basisdokumentation registriert und stehen vollständig für Auswertungen und wissenschaftliche Projekte zur Verfügung. – Im Sinne der Philosophie und der wissenschaftlichen Ausrichtung der Klinik wurde in allen Bereichen eine enge Verflechtung zwischen Krankenversorgung und Forschung angestrebt und auch realisiert. Ausdruck dieser Tendenz ist die Einbeziehung der Patienten in allen klinischen Bereichen in (meist durch Drittmittel geförderte) Forschungsprojekte. – In den Jahren von 1990 bis 2006 wurde ferner eine systematische Therapieevaluation betrieben, in deren Verlauf Instrumente zur Therapieevaluation und zur Erfassung der Lebensqualität entwickelt wurden.
10.2.3 Forschung und Lehre
Über die Entwicklung der Forschung im Zeitraum von 1980 bis 2006 wird in Kap. 12 ausführlich berichtet, über die Entwicklungen in der Lehre in Kap. 13.
10.3 Neue Initiativen 10.3.1 Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung Aufgrund der Ergebnisse der Psychiatrie-EnquÞte (1970–1975) wurde von der damaligen Bundesregierung in Gestalt des »Modellprogramms Psychiatrie« die wichtigste Innovationsinitiative für die Psychiatrie in der Nachkriegszeit gestartet. In 14 Regionen der damaligen Bundesrepublik sollte die Lage der
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Psychiatrie untersucht, evaluiert und durch fortschrittliche Initiativen grundlegend verbessert werden. Zeitgleich mit seinen Berufungsverhandlungen mit der Philipps-Universität Marburg führte Helmut Remschmidt auch Gespräche mit dem damaligen hessischen Sozialminister, Armin Clauss, der seinen Plan nachhaltig unterstützte, die Region Marburg und umliegende Landkreise zu einer der 14 geförderten Regionen des Modellprogramms Psychiatrie zu machen. Dies gelang, und die Marburger Region wurde die einzige unter 14 Modellregionen, in der die Situation psychisch kranker Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien untersucht, evaluiert und verbessert werden sollte. Mit Hilfe dieser großzügigen Unterstützung, die mehr als 10 Mill. DM Fördermittel einbrachte, entstanden folgende Einrichtungen und Initiativen: – Eine Tagesklinik (architektonisch sehr gelungener Neubau) für psychisch kranke Kinder und Jugendliche mit 12–14 Plätzen, die 1984 im Beisein von Minister Armin Clauss eingeweiht werden konne. – Ein mobiler kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst, der von 1980–1989 existierte und zunächst die Landkreise Marburg-Biedenkopf und WaldeckFrankenberg, später nur den Landkreis Marburg-Biedenkopf versorgte. Er bestand aus zwei Teams von jeweils einem Arzt, einem Psychologen und einem Sozialpädagogen und hatte drei Aufgaben: (a) die Nachbetreuung ehemals stationärer Patienten, (b) die Abhaltung von Sprechstunden in verschiedenen Orten der beiden Landkreise und (c) die Beratung und Supervision von Einrichtungen, die Kinder betreuen, sofern diese es wünschten. Die Tätigkeit des mobilen Dienstes wurde kontinuierlich evaluiert, und die Ergebnisse wurden in mehreren Veröffentlichungen dargestellt (Remschmidt et al., 1986; Walter et al., 1988; Remschmidt und Walter, 1989). U. a. konnte nachgewiesen werden, dass der Dienst auch Patienten erreichte, die sonst kaum psychiatrische Einrichtungen aufsuchen und dass er die stationäre Behandlungsdauer verkürzte. – Eine Arbeitsgruppe Begleitforschung für alle Initiativen in der Modellregion Marburg-Biedenkopf und umliegende Landkreise. Diese Arbeitsgruppe wurde von Herrn Dipl.-Psych. Dr. Reinhard Walter geleitet. Ihre Aufgabe bestand darin, vorhandene Einrichtungen zu evaluieren und die Einrichtung neuer Versorgungsstrukturen wissenschaftlich zu begleiten. – Etablierung sozialpsychiatrischer Forschungsinitiativen. Die Teilnahme am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung führte auch zur Etablierung zahlreicher sozialpsychiatrischer Forschungsinitiativen, unter denen nur drei genannt werden sollen: – Eine vergleichende Untersuchung von stationärer Behandlung, tagesklinischer Behandlung und home treatment (Remschmidt und Schmidt, 1988). In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass bei entsprechend ausgewählten Patienten rund 10–15 % der normalerweise stationär be-
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handelten Patienten auch tagesklinisch oder sogar zu Hause (home treatment) behandelt werden können. – Evaluation der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in drei hessischen Landkreisen (Walter, Kampert, Remschmidt, 1988). In dieser Studie wurde eine nahezu vollständige kinder- und jugendpsychiatrische Inanspruchnahmepopulation erhoben. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Inanspruchnahme ambulanter Einrichtungen vom jeweiligen regionalen Angebot beeinflusst wird. Die Inanspruchnahmerate steigt mit dem Angebot, erreicht jedoch nur maximal 3,8 % der altersentsprechenden Bevölkerung. Sie liegt deutlich unterhalb der wahren Prävalenzrate von rund 7–13 %. – Evaluierung des mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes. Die Arbeit des mobilen Dienstes wurde kontinuierlich evaluiert und über die Ergebnisse wurde in verschiedenen Publikationen berichtet (Walter et al. 1988; Remschmidt et al. 1986; Remschmidt et al. 1990).
10.3.2 Etablierung eines überregionalen Kooperationsmodells zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe (Leppermühle) Durch das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung ergab sich die einmalige Gelegenheit, in einer umschriebenen Region neue Impulse zu setzen und eine beispielhafte Versorgung unter modernen Gesichtspunkten zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang traf es sich sehr glücklich, dass Herr Dr. Martin, Vorsitzender des Vereins für Jugendfürsorge e.V. Gießen (des Trägervereins der Leppermühle) zugleich Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg wurde. Diese Zusammenarbeit, die im Jahre 1980 begann, wurde kontinuierlich erweitert unter Einbeziehung der beiden Therapieheime (des Berthold-Martin-Hauses und des Adalbert-Focken-Hauses), intensiviert und zum Teil auch evaluiert. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Institutionen als modellhaft angesehen werden kann. Sie erstreckt sich auf vier Bereiche: – Zusammenarbeit im Rahmen gemeinsamer Konzepte (Behandlungskonzepte für schizophrene Erkrankungen, für Essstörungen, für Autismus und Asperger-Syndrom, störungsspezifische therapeutische Vorgehensweisen, schrittweises Rehabilitationskonzept für Patienten mit verschiedenen psychischen Störungen). – Institutionelle Zusammenarbeit und Zusammenarbeit in der Versorgung (rasche klinische Interventionsmöglichkeiten für Patienten aus der Leppermühle und anderen Einrichtungen, Aufnahme von Patienten aus der Klinik
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zur Fortführung der Therapie und Rehabilitation, Kooperation im Rahmen der Wiedereingliederung von Patienten in jeweils angemessene Lebensbereiche). – Zusammenarbeit in der Ausbildung, Fort- und Weiterbildung. In diesem Zusammenhang spielte das 1980 gegründete Weiterbildungsseminar für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie eine wichtige Rolle. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Klinik und der Einrichtungen des »Vereins« nahmen an den in Marburg stattfindenden Kursen teil. Gleiches gilt für das im Jahr 1999 gegründete Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV), das für Ärzte und Psychologen sowie auch für Absolventen eines pädagogischen oder sozialpädagogischen Studiums Aus- und Weiterbildungsgänge zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten anbietet. Um die Einrichtung des IVV hat sich insbesondere Prof. Mattejat verdient gemacht. Ferner stand auch Herr Dr. Niebergall (ehemals leitender Psychologe der Klinik) als Supervisor zur Verfügung. – Zusammenarbeit in der Forschung. Diese bezog sich im Wesentlichen auf fünf Schwerpunkte: (1) Evaluation des Rehabilitationsprogramms der Leppermühle für schizophrene Patienten, (2) Katamnestische Untersuchungen der Schizophrenie im Jugendalter, (3) Untersuchungen zum NeurotransmitterStoffwechsel bei schizophrenen Erkrankungen. Hervorgetan haben sich in diesen Bereichen insbesondere Prof. Schulz und Dr. Fleischhaker. (4) Untersuchungen zur Gewichtsregulation unter Behandlung mit atypischen und typischen Neuroleptika. Diese Untersuchungen wurden im Rahmen der Klinischen Forschergruppe »Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation« durchgeführt (Leitung Prof. Dr. J. Hebebrand). An den Untersuchungen haben auch Oberarzt Dr. Theisen sowie mehrere Doktoranden entscheidend mitgewirkt. (5) Untersuchungen zu den extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen unter Behandlung mit typischen und atypischen Neuroleptika. An diesem Projekt waren u. a. PD Dr. Martin, Prof. Dr. E. Schulz. Dr. Ch. Fleischhaker, Dr. F. Härtling und Dr. Gebhardt beteiligt. Dieser kurze Abriss soll zeigen, dass eine enge und vertrauensvolle Kooperation zwischen einer Jugendhilfeeinrichtung und einer Universitätsklinik nicht nur möglich, sondern auch in besonderer Weise geeignet ist, praktische Versorgungsarbeit mit Ausbildung und Weiterbildung sowie mit Forschung zu verknüpfen. Viele günstige Umstände haben dazu beigetragen, dass sich diese Kooperation in so hervorragender Weise entwickeln konnte. Letztlich waren und sind es aber in beiden Einrichtungen die Personen, die durch Einsicht, Kompetenz, Energie und Konstanz diese Zusammenarbeit möglich gemacht haben und die mit Sicherheit auch bestrebt sind, diese weiterzuentwickeln. Die Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Vereins für Jugendfürsorge und
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Jugendpflege e.V., herausgegeben vom »Verein« unter Vorsitz von PD Dr. Martin, gibt einen umfassenden Überblick über die Tätigkeit dieses Vereins und auch über die Kooperation mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg.
10.3.3 Erweiterung und Regionalisierung der Erziehungsberatung im Landkreis Marburg-Biedenkopf Ein weiterer wichtiger Schritt zur Verbesserung der Versorgung war die Erweiterung der erziehungsberaterischen Tätigkeit für den Landkreis MarburgBiedenkopf. Sowohl in Biedenkopf als auch in Stadtallendorf wurden Nebenstellen der Erziehungsberatungsstelle am Ortenberg gegründet, die gute Arbeit geleistet haben und die bis Oktober 2006 in das Versorgungskonzept der Universitätsklinik einbezogen waren. Dies ist ausführlich in Kap. 3 beschrieben.
10.3.4 Mitwirkung bei der Gründung der interdisziplinären Frühförderstelle in Marburg Auf Initiative der Leiterin des Kreisgesundheitsamtes, Frau Dr. Kuhnhen, sowie der Direktoren der Universitätskinderklinik und der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie kamen 1987 Bemühungen zum Abschluss, in Marburg eine interdisziplinäre Frühförderstelle einzurichten. In der zweiten Jahreshälfte 1987 wurde der Trägerverein »Interdisziplinäre Frühförderstelle Marburg e.V.« gegründet. Satzungsgemäß gehörten dem Vorstand je ein Vertreter des Zentrums für Kinderheilkunde, der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie des Vorstandes des Kinderzentrums Weißer Stein an. Nach dem Weggang von Prof. Brandis, der zunächst den Vorsitz des Vereins innehatte, an die Universität Freiburg wurde der Vorsitz von Helmut Remschmidt übernommen. Zweiter Vorsitzender wurde Oberarzt Dr. Köhler als Vertreter der Kinderklinik. Die ärztliche Mitwirkung wurde von Anfang an durch einen Konsiliardienst sichergestellt, der durch einen Neuropädiater des Zentrums für Kinderheilkunde sowie einen Kinder- und Jugendpsychiater der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie wahrgenommen wurde. Am 8. 3. 1995 wurde der Verein für Interdisziplinäre Frühförderung aufgelöst und die Frühförderstelle wurde in eine neue Trägerschaft des Kinderzentrums Weißer Stein Marburg-Wehrda e.V. übergeführt. Die wichtigsten Mitglieder des Vereins sind der Landkreis Marburg-Biedenkopf sowie die Lebenshilfe.
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10.3.5 Gründung von Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten für Psychotherapie Von besonderer Bedeutung waren die psychotherapeutischen Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten an der Klinik. Im Jahr 1981 wurde das Weiterbildungsseminar für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie gegründet, welches Ärzten und Psychologen eine Weiterbildung bzw. Ausbildung zum Psychotherapeuten ermöglichte. Seit seiner Begründung haben wir über 200 Ärzte und Psychologen in diesem dreijährigen berufsbegleitenden Curriculum aus- bzw. weiterbilden können. Im Jahre 1999 haben wir dann das Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV) an der Philipps-Universität gegründet, dessen Konzeption und Entwicklung ganz wesentlich von Prof. Fritz Mattejat gestaltet wurde, an welchem ebenfalls Ärzte und Psychologen zu Therapeuten mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin ausgebildet werden. In der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung sehen wir ein wichtiges Element zur Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgung, und gerade die Integration von ärztlicher und psychologischer Kompetenz sowie die gemeinsame Aus- und Weiterbildung der Angehörigen dieser Berufsgruppen ist von großer Bedeutung für die zukünftige Zusammenarbeit im Sinne einer kompetenten Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie deren Familien.
10.3.6 Einrichtung einer DFG-geförderten Klinischen Forschergruppe und andere innovative Forschungsprojekte Für die wissenschaftliche Entwicklung der Klinik und ihrer Mitarbeiter war die Einrichtung einer DFG-geförderten Klinischen Forschergruppe zum Thema »Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation unter besonderer Berücksichtigung von Adipositas und Essstörungen« von ausschlaggebender Bedeutung. Den beiden Antragstellern (Helmut Remschmidt und Johannes Hebebrand) war es gelungen, diese Forschergruppe nach zwei positiven Begutachtungen durch die DFG zu einem permanenten Bestandteil der Klinik zu machen. Im Zuge der Etablierung der Klinischen Forschergruppe konnte auch ein modernes molekulargenetisches Labor eingerichtet werden, das für molekulargenetische Untersuchungen auch in anderen Themenbereichen genutzt werden konnte. Nach Berufung des Leiters der Klinischen Forschergruppe, Prof. Johannes Hebebrand, an die Universität Essen wurde die Forschergruppe kommissarisch von Prof. Remschmidt geleitet. Die Stelle des Leiters der Klinischen Forschergruppe (C3-Professur) sollte im Zusammenhang mit der Wiederbe-
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setzung des Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie besetzt werden. Sie war auch im ersten Ausschreibungstext für die Nachfolge von Helmut Remschmidt enthalten, wurde jedoch, nachdem die erste Berufungsliste erschöpft war und neu ausgeschrieben werden musste, im zweiten Ausschreibungstext vom Dekan gestrichen. Die Stellen blieben allerdings zum Teil der Klinik erhalten und wurden einem neuen, von Helmut Remschmidt initiierten Schwerpunkt (Autismusforschung) zugeführt432. Die genetischen Untersuchungen der klinischen Forschergruppe bezogen sich keineswegs nur auf Essstörungen und Adipositas, sondern auch auf die genetischen Faktoren bei einer Reihe anderer Störungen z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Legasthenie, Autismus und Asperger-Syndrom. Die zahlreichen Arbeiten der klinischen Forschergruppe wurden in überwiegend hochrangigen internationalen Zeitschriften veröffentlicht (s. Kap.12). Der folgende Bericht des ehemaligen Leiters der Klinischen Forschergruppe schildert ihre Entstehungsgeschichte, wesentliche Ergebnisse und seine persönlichen Erfahrungen. Von Tics zu Kilogramm- meine Jahre an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg. Ein persönlicher Bericht von Johannes Hebebrand Meine wissenschaftliche Laufbahn hatte ich bei Herrn Prof. Peter Propping am Institut für Humangenetik der Universität Bonn begonnen. Während meiner Tätigkeit am Kinderzentrum München (Prof. Theodor Hellbrügge) hatten mich genetische Syndrome fasziniert, so dass ich für die Möglichkeit, an einem DFGProjekt mitwirken zu dürfen, dankbar war. Nach fünf Jahren hatte ich jedoch gewisse Schwierigkeiten entwickelt mir vorzustellen, mich den Rest meines Lebens mit wenigen Proteinen auseinanderzusetzen Glücklicherweise hatte ich bei Herrn Propping bereits einige Übersichten geschrieben zu psychiatrischen Erkrankungen über die Lebensspanne hinweg – das Spektrum reichte von kinder- und jugendpsychiatrischen Auffälligkeiten bei Kindern mit Chromosomenstörungen und monogenen Erkrankungen bis hin zu Alzheimer-Demenz. Um einen gewissen roten Faden in meinem wissenschaftlichen Lebenslauf hinzubekommen, waren Herr Remschmidt und ich uns rasch einig, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie spannende Forschungsmöglichkeiten bieten würde. Bei meiner Vorstellung in Marburg vermittelte Herr Remschmidt mir ein 432 Mitteilung des Dekanats (B. Daume) vom 30.09.3016.
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großes Interesse an meiner Person; er riet mir absolut zu, meinen ärztlichen und wissenschaftlichen Werdegang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie fortzusetzen und legte mir von Anfang an die für ihn entscheidenden Werte dar. So bot er mir die Möglichkeit an, die Klinik im Rahmen einer dreitägigen Hospitation kennenzulernen. Ich wurde außerordentlich freundlich von Assistenzärzten und Psychologen aufgenommen, so dass rasch die Entscheidung reifte, tatsächlich in die Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie zu wechseln. Ich trat meinen Dienst am 1. April 1990 an. Das erste Jahr war hart, sowohl die klinische Realität (ärztlich-therapeutische Verantwortung für sechs Patienten der Station C) als auch den familiären Bereich (Umzug mit drei kleinen Kindern, Sanierung eines Hauses etc.) betreffend. Schließlich musste auch noch die Antrittsvorlesung in Bonn bewältigt werden. Zum Glück verließ mich auch in dieser schwierigen Zeit das wissenschaftliche Interesse nicht: Dieses erstreckte sich, angeregt durch internationale Publikationen, auf – Zwangsstörungen und ihren möglichen Zusammenhang mit dem Gilles de la Tourette-Syndrom, was, nach eingehenden Diskussionen mit Helmut Remschmidt , zu einem DFG-Projekt führte, – Gewichtsregulationsstörungen mit nachfolgenden Projekten zur Anorexia nervosa und der Erstellung von BMI-Perzentilenkurven für die deutsche Bevölkerung, – Adipositas im Kindes- und Jugendalter ; entsprechende Patienten wurden und werden weiterhin zu Hunderten in Kinderrehabilitationskliniken aufgenommen; ihre langfristige Behandlung ist dennoch unzureichend. Wissenschaftlich reifte dann der Entschluss, die extremen Enden der Gewichtsverteilung – Anorexia nervosa und Adipositas – gleichzeitig anzugehen. In zahlreichen Gesprächen mit Helmut Remschmidt wurde diese Idee hin- und hergewälzt und entsprechende Forschungsansätze diskutiert. Letztlich wurde dann ein ausführlicher Antrag auf die Einrichtung einer Klinischen Forschergruppe bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestellt. Im Rahmen der dann Ende 1994 bewilligten Klinischen Forschergruppe haben wir intensiv an Kinderrehabilitationskliniken Patienten mit einer Adipositas und deren Familienangehörige rekrutiert, Blut abgenommen und aufwändige Interviews durchgeführt mit dem Ziel, molekulargenetische Untersuchungen zu initiieren. Gleichermaßen gingen wir auch vor im Hinblick auf die Patientinnen mit einer Anorexia nervosa. Dabei kam uns der Zufall zugute: Kurz vor Weihnachten 1994 – die Klinische Forschergruppe war gerade erst bewilligt worden – wurde das Gen für das Hormon Leptin kloniert. Dies läutete den Beginn der biomedizinischen Forschung zu Übergewicht im großen Stile ein. Es gelang erstmalig bestimmte überwiegend zentrale Regelkreise zu identifizieren,
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die für die Regulation des Körpergewichts von Bedeutung sind. Es zeigte sich, dass selbst extremes Übergewicht durch Mutationen in einzelnen Erbanlagen – so z. B. auch in dem Leptin-Gen – entstehen kann. Schon rasch wurde aber auch deutlich, dass Mutationen in einzelnen Erbanlagen nicht zu einem größeren Prozentsatz Adipositas in der Allgemeinbevölkerung erklären können. Zwar konnten wir aufzeigen, dass bei stark übergewichtigen Kindern und Jugendlichen Mutationen im Melanocortion-4-Rezeptorgen (MC4R) bei ca. 2 % dieser Kinder vorkommen; andere Untersucher fanden Raten von bis zu 6 %. Im Gegensatz zu Menschen mit funktionell relevanten Mutationen im Leptin-Gen war jedoch die Adipositas von MC4R-Mutationsträgern nur teilweise durch die entsprechenden Mutationen bedingt. Bei erwachsenen Männern bzw. Frauen betrug die durchschnittliche Gewichtserhöhung durch eine Mutation 15 bzw. 30 kg. Folglich mussten bei diesen Mutationsträgern mit einer extremen Adipositas noch zusätzliche Faktoren wirksam sein. Die Mutationssuche in anderen sogenannten Kandidatengenen für die Körpergewichtsregulation verlief sowohl international als auch bei uns frustran. Schon zu Beginn unserer Klinischen Forschergruppe hatte mich der Marburger Humangenetiker Prof. Grzeschik gewarnt: Die Suche nach entsprechenden Genen gestalte sich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Tatsächlich kristallisierte sich zunehmend heraus, dass die genetische Basis der Adipositas bei den meisten Betroffenen polygen bedingt ist. Wir identifizierten weltweit erstmalig eine Gen-Variante, die replizierbar einen kleinen Anteil des Körpergewichts erklärt. Ein spezifischer Austausch im einzigen Exon des MC4R führt zu einem Aminosäureaustausch; diese entsprechende Variante führt zu einer durchschnittlichen Reduktion des Körpergewichts der entsprechenden Träger von ca. 1,5 kg. Erst nach 2006 nahm die entsprechende Forschung an Tempo zu: Durch genomweite Assoziationsstudien sind mittlerweile über 100 Gen-Varianten bekannt, die jeweils das Körpergewicht um einige hundert Gramm erhöhen oder erniedrigen. Um solche Gen-Varianten zu detektieren, werden gegenwärtig Metaanalysen durchgeführt, in die die Daten von über hunderttausend Personen einfließen. Die Berücksichtigung von sowohl Adipositas als auch Anorexia nervosa in einem gemeinsamen Forschungsansatz machte sich rasch bezahlt: Wir konnten erstmalig aufzeigen, dass die Serumleptinspiegel bei Patientinnen mit Anorexia nervosa erniedrigt sind; in der Folge fanden wir systematische Anstiege unter der Realimentation der Patientinnen. Initial lagen die Serumspiegel für das entsprechende Hormon deutlich unterhalb des Referenzbereichs für die jeweilige Altersgruppe, im Verlauf stiegen die Spiegel dann auf Werte oberhalb des Referenzbereichs. Das Hormon Leptin wird in Fettzellen synthetisiert und von diesen in die
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Blutbahn sekretiert. So gelangt es dann an entsprechende Rezeptoren im Hypothalamus. Über diesen Mechanismus wird dem Gehirn die vorhandene Fettmasse bzw. im übertragenen Sinne die Energiereserve des Körpers rückgekoppelt. Da bei Patientinnen mit Anorexia nervosa die Fettmasse deutlich reduziert ist, erklärte sich hieraus die initial bestehende Hypoleptinämie. Offensichtlich wehrt sich der Organismus ein Stück weit gegen Gewichtsveränderungen, so dass es zu einer überschießenden Leptin-Bildung bzw. Sekretion kommt bei der therapeutisch induzierten Gewichtszunahme. Leptin gilt quasi als Schlüsselhormon für die Umstellung des Organismus auf eine Starvation. Fallen die Serumspiegel unterhalb bestimmter Schwellenwerte, werden sukzessive verschiedene Starvationsanpassungsvorgänge eingeleitet. Sehr schön ließ sich dies zeigen für die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. So ist die Amenorrhoe im Rahmen dieser Essstörung eine Folge des Leptin-Abfalls unterhalb eines kritischen Schwellenwertes. Schon früh hatte mich ein Tiermodell für die Anorexia nervosa fasziniert: Wenn man jugendliche Ratten auf Diät setzt und ihnen ein Laufrad in den Käfig stellt, entwickeln diese Tiere eine Hyperaktivität. Innerhalb von sieben Tagen steigert sich das Aktivitätsniveau um 300–400 %. In einer Kooperation mit dem Institut für Biologie (Cornelia Exner und Martin Klingenspor) in Marburg ließ sich tierexperimentell nachweisen, dass eine Leptin-Gabe im entsprechenden Tiermodell das Zustandekommen der Hyperaktivität verhindert. Auch konnte gewissermaßen im therapeutischen Sinne eine bereits aufgekommene Hyperaktivität durch die Gabe von Leptin »behandelt« werden. Diese Erkenntnisse führten zur Annahme, dass auch bei der Untergruppe von Patientinnen mit einer Anorexia nervosa, die eine erhebliche Hyperaktivität aufweisen, Leptin therapeutisch eingesetzt werden könnte. Leider ist ein entsprechender Versuch bis heute nicht unternommen worden, da die verschiedenen Firmen, die rekombinantes Leptin herstellen, eine Ausweitung der humanen Studien auf die Anorexia nervosa bislang noch nicht befürwortet haben. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass möglicherweise hierdurch auch andere Symptome einer Anorexia nervosa gebessert werden könnten (z. B. Depression, essstörungsspezifische Kognitionen). Sowohl die genetische Mitverursachung der Anorexia nervosa als auch die neuroendokrinen Mechanismen, die bei dieser Essstörung im Rahmen der Starvation greifen, führten erneut zu einer Auseinandersetzung mit den diagnostischen Kriterien der Anorexia nervosa. Im DSM-IV lautete das erste Wort des ersten Kriteriums (Gewichtskriterium) Weigerung (Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten). Insbesondere in Anbetracht der gemutmaßten Zusammenhänge zwischen der Hyperaktivität von Patientinnen mit Anorexia nervosa und den niedrigen Leptin-Spiegeln müsste die Hyperaktivität nicht als intendiertes Verhalten,
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sondern als Folge einer endokrinen Störung interpretiert werden. Im Tiermodell wird davon ausgegangen, dass die Hyperaktivität hungernden Tieren die Suche nach Futter erleichtert. In diesem Zusammenhang schiene der Begriff Weigerung wahrlich fehl am Platze. Fängt man dann erst einmal an, die diagnostischen Kriterien in Frage zu stellen, fügt sich eins zum anderen. Auch der Begriff Leugnen (Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichts) im C-Kriterium erscheint in Anbetracht der Unmöglichkeit, dies tatsächlich zu beweisen, deplatziert. Außerdem ist der Begriff wertend und paternalistisch. Unter Berücksichtigung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse bezüglich eines epidemiologisch basierten Gewichtskriteriums diskutierte ich mit drei nationalen (Ulrich Schweiger) und internationalen (Janet Treasure, Regina Casper) Essstörungsexperten über die entsprechenden Implikationen. Wir entschieden uns einen Artikel zu schreiben, in dem diese theoretischen Überlegungen zusammengefasst werden sollten. Ab 2003 versuchten wir eine Zeitschrift zu finden, die den Artikel annehmen würde. Amerikanische Zeitschriften lehnten ihn mit wortreicher Kritik ab; dank der Mitherausgeberschaft von Andreas Warnke beim Journal of Neural Transmission gelang es schließlich zum Glück, den Artikel doch noch zu publizieren. Er wurde jedoch kaum rezipiert. Erst Jahre später – die Diskussion zum DSM-5 waren im vollen Gange – wurde der Artikel in größerem Umfange wahrgenommen; tatsächlich war diese Arbeit maßgeblich dafür, dass in den neuen DSM-5-Kriterien von den Begriffen Weigerung und Leugnen Abstand genommen, zudem das Gewichtskriterium modifiziert wurde. Formal gilt es noch erwähnen, dass die DFG-Klinische Forschergruppe »Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation unter besonderer Berücksichtigung von Essstörungen und Adipositas« bis 2002 lief. Im Jahre 1999 konnten Frau Anke Hinney und ich ein BMBF-Verbundprojekt (Deutsches Humangenomprojekt) zur Genetik der Adipositas erfolgreich einwerben. Im Jahre 2003 wurde dieses abgelöst durch das erfolgreiche BMBF-Netzwerk »Adipositas und verwandte Störungen« im Rahmen des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN); hier arbeiteten bis zu 19 deutsche Gruppen miteinander. Bedanken möchte ich mich insbesondere bei Helmut Remschmidt. Er hat mich eingestellt und gewähren lassen. Gleichzeitig unterstützte er unsere Forschungsbemühungen und stand mir persönlich mit Rat zur Seite. Er freute sich, wenn Drittmittelanträge erfolgreich begutachtet worden waren; wenn es darum ging, Gutachter von unseren Arbeiten zu überzeugen, so konnte ihm keiner das Wasser reichen. Sehr sorgfältig bereitete er entsprechende Sitzungen vor und lief während derartiger Präsentationen zur Hochform auf. Er betonte immer wieder die Bedeutung der klinischen Forschung, um letztlich die Situation psychisch kranker Kinder und Jugendlicher zu verbessern. Bei Niederlagen spendete Herr
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Remschmidt Trost auch übergeordnet dadurch, dass er auf die Bedeutung der Familie und persönlicher Hobbys hinwies – es gibt auch ein Leben jenseits der Klinik und der Wissenschaft. Er wies mir auch das mit Abstand schönste Arbeitszimmer mit Blick auf das Marburger Schloss zu, das ich in meiner beruflichen Laufbahn »bewohnte«. Anke Hinney stieß 1995 zu der Klinischen Forschergruppe als Leiterin des Molekulargenetischen Labors. Als Biologin hat sie sich hervorragend in die Klinik der Essstörungen und der Adipositas eingearbeitet. Die molekulargenetischen Arbeiten erfolgten in dem großflächigen Labor in dem Haus Bethanien, das durch Mittel des Universitätsklinikums nach erfolgreicher Bewilligung unter ihrer Aufsicht eingerichtet worden war. Wir haben in der Marburger Zeit gemeinsam über 50 Doktoranden betreut, die meisten hiervon mit einer molekulargenetisch orientierten Arbeit. Frau Hinney hat mit Frau Gertrud Gerber jeweils vier Doktoranden in bestehende Projekte aufgenommen und diese während des experimentellen Teils und beim Zusammenstellen der schriftlichen Arbeit betreut. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit und persönliche Freundschaft mit Anke Hinney hat bis nach Essen getragen; heute hat sie an unserer Klinik eine W2-Professur am Universitätsklinikum Essen inne. Erst unlängst konnte sie die mutmaßlich ersten Gen-Varianten identifizieren, die zu einer Anorexia nervosa prädisponieren. Es zeigte sich, dass diese Varianten – wie bereits in einer Arbeit von Hebebrand und Remschmidt 1995 vermutet – auch Untergewicht im normalen Gewichtsspektrum erklären. Als besondere Herausforderung ist die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Biometrikern zu nennen; Prof. Helmut Schäfer hatte unsere Gruppe stets im Blickfeld. Zu Beginn der Klinischen Forschergruppe sandte er Dr. Andreas Ziegler zu uns, mit dem wir zahlreiche und lange Diskussionen führten. Andreas Ziegler ist heute Lehrstuhlinhaber in Lübeck. Frank Geller, der ihm folgte, wechselte von uns zur Firma deCODE nach Island und hiernach zu einem Forschungsinstitut nach Kopenhagen. Der letzte Biometriker, mit dem wir in Marburg zusammengearbeitet hatten, Dr. Andr8 Scherag, zog gemeinsam mit seiner Frau Susann ebenfalls nach Essen, um uns dort weiter zu betreuen. Mittlerweile hat er eine Professur in Jena inne. Als einer unserer ersten Ärzte im Praktikum in der Klinischen Forschergruppe stieß Herr Dr. Nikolaus Barth zu uns; mit großem Elan rekrutierte er stark übergewichtige Kinder und Jugendliche und deren Eltern an der Klinik Hochried in Murnau. Auch mit ihm verbindet mich weiterhin die gemeinsame Arbeit ebenso wie eine persönliche Freundschaft. Ich bin ihm insbesondere dankbar, dass er im Jahre 2004 als Leitender Oberarzt mit mir nach Essen ging. Wir wohnen nur wenige Häuser voneinander entfernt. Zu danken habe ich insbesondere auch Frau Inge Kram-Seifert und Frau Pia
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Köhler, die es als Sekretärinnen verstanden haben, meinen Arbeitsablauf zu strukturieren und mich zu unterstützen. In Marburg gab es mehrere wissenschaftliche Kooperationspartner ; ganz besonders hat mich die interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Fragestellung »Ist Adipositas eine Krankheit?« interessiert, an der Prof. Rief (Psychologie), Prof. Voit (Rechtswissenschaften), Prof. Dabrock (Bioethik) und Prof. Lingenfelder (Betriebswirtschaftslehre) mitgewirkt haben. In Marburg habe ich Frau Beate Herpertz-Dahlmann kennen gelernt, die sich ebenso wie ich insbesondere für die Anorexia nervosa wissenschaftlich interessiert. Engere wissenschaftliche Kooperationen begannen dann erst nach der Marburger Zeit; uns verbinden neben der Arbeit zahlreiche Symposia. Jährlich organisiert sie ein Wiedersehenstreffen ehemaliger Marburger : Helmut Remschmidt, Matthias Martin, Christoph Wewetzer, Andreas Warnke und Johannes Hebebrand; durch die Beteiligung der jeweiligen Ehepartner ist gewährleistet, dass die Welt sich nicht ausschließlich um die Kinder- und Jugendpsychiatrie dreht. Fritz Mattejat hat mir in Marburg die Psychotherapie näher gebracht. Gerhard Niebergall weihte mich in das Katathyme Bildererleben ein. Christoph Wewetzer und Peter Simon arbeiteten gemeinsam mit mir auf der Station C; zu Christoph Wewetzer, heute Chefarzt in Köln, wie auch zu anderen Kollegen aus der Marburger Zeit, bestehen weiterhin persönliche Kontakte. Ohne die Unterstützung von Kathrin, meiner Frau, wäre die Marburger Zeit nicht möglich gewesen; sie hat meine gedanklichen Abwesenheiten ebenso wie die Umzüge ertragen. Unsere vier Kinder wissen, dass ein gescheiter Familienvater am Esstisch mitten im Trubel arbeiten muss, sofern er an der Entwicklung seiner Kinder teilnehmen möchte. Zusammengefasst waren meine Jahre von 1990 bis 2004 außerordentlich spannend. Es ist gelungen mit Hilfe der Forschung die Klinik der Anorexia nervosa zu verändern; ein solches Resümee betrachte ich persönlich als Glücksfall.
10.4 Zusammenfassung Mit dem Wechsel der Kliniksleitung im Herbst 1980 gelang es, sowohl in der Krankenversorgung als auch in der Forschung und Lehre neue Initiativen zu ergreifen und so die bisherige Struktur und Funktion der Klinik weiter zu entwickeln. Zu ihnen gehören: (1) Die Etablierung des Modellprogramms »Psychiatrie« der Bundesregierung in der einzigen von 14 Modellregionen, in denen psychisch kranke Kinder und Jugendliche Schwerpunkt waren. Im Rahmen des Modellprogramms konnte eine Tagesklinik gebaut werden, ein Mobiler
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Dienst gegründet und eine Arbeitsgemeinschaft »Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung« etabliert werden, in die alle Institutionen, in denen psychisch kranke Kinder und Jugendliche untersucht und behandelt wurden, einbezogen wurden. (2) Die Übernahme der Pfichtversorgung für den Landkreis Biedenkopf im Jahr 1982 und für die Landkreise Gießen und den Wetteraukreis im Jahr 1995. (3) Die Gründung einer eigenen Forschungseinheit und die Etablierung zahlreicher Drittmittelprojekte. (4) Die Etablierung der Klinischen Forschergruppe »Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation«. (5) Die Einrichtung des Weiterbildungsseminars für Kinder-, Jugendlichen und Familientherapie sowie die Mitbegründung der Weiterbildungsstätte zur Fachschwester bzw. zum Fachpfleger für Psychiatrie (beides 1981). (6) Die enge Kooperation mit der Jugendhilfeeinrichtung »Leppermühle« und in diesem Zusammenhang die Etablierung eines Rehabilitationsprojektes für Kinder und Jugendliche mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis. In der Zusammenschau dieser Initiativen und Kooperation mit anderen Einrichtungen der Region (den anderen Kliniken, der Frühförderstelle, den Jugendämtern, den Gerichten) konnte ein nahezu komplettes Versorgungssystem etabliert werden, das national und international hohe Anerkennung gefunden hat.
11. Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1980–2006
Wesentliche Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Krankenversorgung Entwicklung eines umfassenden Versorgungsmodells für psychisch kranke Kinder und Jugendliche 11.3 Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1983–2006 11.3.1 Zwanzigjahres-Dokumentation stationärer Patientendaten für den Zeitraum von 1983–2002 11.3.2 Zeitliche Trends im Hinblick auf den 20-Jahresverlauf im ambulanten und stationären Bereich 11.3.3 Vierjahres-Dokumentation ambulanter, stationärer und teilstationärer Patienten für den Zeitraum von 2003–2006 11.4 Zusammenfassung 11.1 11.2
11.1 Wesentliche Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Krankenversorgung Von allergrößter Bedeutung für die Weiterentwicklung der Krankenversorgung waren vier Entwicklungen: (1) Das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung, innerhalb dessen der Landkreis Marburg Biedenkopf und umliegende Landkreise die einzige von insgesamt 14 Regionen waren, deren Schwerpunkt die Weiterentwicklung der Versorgung auf dem Gebiete der psychischen Störungen im Kindes und Jugendalter war. (2) Die Einführung des multiaxialen Klassifikationsschemas für psychiatrische Erkrankungen im Kindes und Jugendalter (Remschmidt und Schmidt, 1977, 20126), (3) die Einführung einer standardisierten Dokumentation, innerhalb derer alle wesentlichen Daten der Patienten erhoben und einer elektronischen Datenauswertung unterzogen wurden, und (4) die Gründung des Weiterbildungsseminars für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie im Jahr 1981, welches den ärztlichen und psychologischen Mitarbeitern eine solide Grundlage für die ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlung vermittelte. Es wurde im Jahr 1999
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Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1980–2006
übergeführt in das Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin ( IVV). Die Entwicklung der Krankenversorgung im genannten Zeitraum wurde in sieben Berichten, beginnend mit dem Jahr 1981, ausführlich dokumentiert: (1) Sieben- jahresbericht (1981–1987), (2) Fünfjahresbericht (1988–1992), (3) Fünfjahresbericht (1993–1997) sowie durch vier Zweijahresberichte, die die Zeiträume von 1988–1999, 2000–2001, 2002–2003 und 2004–2005 umfassten. Die Berichte waren jeweils einheitlich aufgebaut und beschrieben in zwölf Kapiteln die Entwicklung der Klinik und der Mitarbeiterschaft in Krankenversorgung, Forschung und Lehre. Stets wurden dabei auch die regionalen und überregionalen Kooperationen mit anderen Einrichtungen dargestellt und insbesondere auch die nationalen und internationalen Aktivitäten, die von der Klinik ausgingen.
11.2 Entwicklung eines umfassenden Versorgungsmodells für psychisch kranke Kinder und Jugendliche Im Rahmen des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung war es möglich, ein umfassendes Modell der kinder- und jugendpsychiatrischen Krankenversorgung zu etablieren, das folgende Komponenten umfasste: (1) Die Übernahme der Pflichtversorgung für den Landkreis Marburg-Biedenkopf zum 1. 11. 1982, die zuvor durch die Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie des Landeswohlfahrtverbandes (LWV) wahrgenommen wurde. Ab 1995 wurde das Pflicht- und Regelversorgungsgebiet auf den Landkreis Gießen und den Wetteraukreis ausgedehnt. (2) Die Etablierung eines mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes (gefördert im Rahmen des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung), der seine Tätigkeit im November 1981 aufnahm. Zwei Teams, bestehend jeweils aus einem Arzt, einem Psychologen und einem Sozialpädagogen, versorgten jeweils einen Landkreis. (3) Den Aufbau einer Tagesklinik für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, deren Bau am 9. 9. 1983 begonnen wurde und die im August 1984 in Betrieb genommen werden konnte. (4) Die Gründung eines Arbeitskreises kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung, in dem Vertreter aller einschlägigen Einrichtungen in der Region vertreten waren, und (5) die Etablierung einer Arbeitsgruppe Begleitforschung mit der Aufgabe, die Versorgungsleistungen zu evaluieren.
Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung
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11.3 Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1983–2006 11.3.1 Zwanzigjahres-Dokumentation stationärer Patientendaten für den Zeitraum von 1983–2002 Die Datenerhebung an den konsekutiv aufgenommenen Patienten erfolgte mit Hilfe einer seit 1983 eingeführten und zuvor ausführlich erprobten Basisdokumentation, die folgende inhaltlichen Bereiche erfasst: Aufnahmedaten, soziodemografische Daten, Anamnese, Symptomatik, Diagnosen, Therapie, Behandlungsergebnis und empfohlene Weiterbehandlung. Von 1983 bis 1991 (acht Jahre lang) wurde diese Dokumentation in unveränderter Form verwendet. Ab dem 1. Januar 1992 wurde eine revidierte und vereinfachte Version der Dokumentation eingeführt, die bis 1997 beibehalten wurde (insgesamt sechs Jahre). Am 1. Januar 1998 wurde eine nochmals überarbeitete Version der Dokumentation eingeführt. Die verschiedenen Dokumentations-Versionen wichen in vielen Bereichen nur geringfügig voneinander ab und konnten daher in der Auswertung aufeinander abgebildet werden; in einigen Bereichen aber fanden sich deutliche Abweichungen zwischen den verschiedenen Fassungen, die nicht aufeinander abbildbar waren – in diesen Fällen mussten die verschiedenen Dokumentationsversionen getrennt ausgewertet werden. Im Zeitraum 1983 bis 2002 wurden insgesamt 6.184 Episoden mit stationären Kliniksaufenthalten dokumentiert. Nach einer Plausibilitätsprüfung verbleiben 5.024 »echte« hinreichend sorgfältig bearbeitete Episoden. Für eine patientenbezogene Analyse werden nur die Erstepisoden betrachtet und es verbleiben 4.087 Patienten. Alle folgenden Angaben beziehen sich auf die 4.087 Erstepisoden, bis auf die jährlichen Angaben der Aufnahmen, die zusätzlich für alle Episoden, die technisch einwandfrei sind, aufgeführt werden. Die Anzahl der stationär aufgenommenen Patienten (nur Erstepisoden) schwankte im Verlauf der Jahre zwischen 212 und 314. Dies ist in Abb. 11.1 dargestellt. 82,7 % der Patienten erhielten eine Diagnose, 13,3 % zwei Diagnosen und 3,1 % erhielten jeweils drei Diagnosen. Im gesamten Berichtszeitraum entfielen 8,2 % der Episoden auf Patienten der Tagesklinik und 91,2 % auf Patienten, die vollstationär aufgenommen worden waren. Die Geschlechterverteilung schwankte im Verlauf der 20 Jahre geringfügig. Eine Tendenz zu einer Verschiebung im Hinblick auf das männliche oder weibliche Geschlecht war jedoch nicht erkennbar. Was das Aufnahmealter betrifft, so war im gesamten Zeitraum ein Trend zu einem niedrigeren Aufnahmealter erkennbar. Rund 75 % der Patienten wurden von zu Hause aufgenommen, die übrigen aus Einrichtungen, in denen sie sich zu Behandlung oder zum permanenten Aufenthalt befanden.
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Abb. 11.1 : Anzahl der stationären Patienten pro Jahr (nur Erstepisoden) im Zeitraum von 1983– 2002
Eine Übersicht über die Diagnosen auf der ersten Achse des multiaxialen Klassifikationsschemas (MAS) geht aus Abb.11.2 hervor.
Abb. 11.2: Diagnosegruppen im Zeitraum von 1983–2002
Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung
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Wie man aus ihr entnehmen kann, nehmen die Störungen des Sozialverhaltens, gefolgt von Anorexien, schizophrenen Erkrankungen und Anpassungsstörungen, den größten Anteil ein. Was die zweite Achse des multiaxialen Klassifikationsschemas betrifft, so lagen im Berichtszeitraum bei 18 % der Patientinnen und Patienten Entwicklungsstörungen vor. Dabei standen Patienten mit einem motorischen Entwicklungsrückstand an erster Stelle (8,3 %), gefolgt von solchen mit einer Legasthenie (7,2 %), Sprach- und Sprechstörungen (5,4 %) und Rechenschwäche (1,7 %). Das auf der dritten Achse des multiaxialen Schemas dokumentierte Intelligenzniveau geht aus Abb. 11.3 hervor. Wie die Abbildung zeigt, wies die ganz überwiegende Zahl der Patienten ein Intelligenzniveau im durchschnittlichen Bereich auf (IQ zwischen 85 und 115), unterdurchschnittliche Intelligenz genauso wie überdurchschnittliche bewegen sich unterhalb der 10 %-Marke.
Abb. 11.3: Intelligenzniveau der Patienten im Zeitraum von 1983–2002
Im Hinblick auf die fünfte Achse des multiaxialen Klassifikationsschemas (aktuelle abnorme psychosoziale Umstände) zeigte sich, dass nur 14,1 % aller Patientinnen und Patienten keine Belastung aufwiesen. Für 85,9 % war mindestens eine Belastung/eine Belastungskategorie auf der fünften Achse zutreffend. Im Hinblick auf die sechste Achse, die sich auf die Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung der Patienten bezieht, ist doch bemerkenswert, dass über 25 % der Patienten eine deutliche oder eine mäßige psychosoziale Beeinträchtigung aufwiesen. Dies ist in Abb. 11.4 dargestellt.
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Entwicklung der Krankenversorgung im Zeitraum von 1980–2006
Abb. 11.4: Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung der Patienten die im Zeitraum von 1983–2002 stationär aufgenommen wurden
Zur Symptombelastung der Patienten Die Symptomatik der Patienten zum Zeitpunkt der Klinikaufnahme wurde bis zum Jahr 1997 mit Hilfe einer ausführlichen Symptomliste, bestehend aus 93 Einzelsymptomen (in acht Blöcke aufgeteilt), erfasst, ab dem Jahr 1998 wurde sie mit den Marburger Symptomskalen erhoben, die 22 Faktoren faktorenanalytisch ermittelter Symptombereiche umfasste. Die beiden Kodierungen konnten ineinander übergeführt werden, so dass für alle Patienten Angaben zu den insgesamt 22 Symptombereichen der Marburger Symbolsymptomskalen (im SS) vorliegen. Eine Übersicht hierzu ist in Tab. 11.1 wiedergegeben. Tab. 11.1: Symptombelastung [%] in den Teilstichproben für die Jahre 1983–2002, erhoben mit den Marburger Symptomskalen Symptom vorhanden Verstimmung
73.3 %
Sonstige Aggressivität
64.6 % 62.8 %
mangelnde Leitungshaltung Kontaktstörung
59.6 % 57.7 %
dissoziale Verhaltensauffälligkeiten hyperaktive Symptome
49.2 % 48.0 %
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Statistische Übersichten zur Entwicklung der Krankenversorgung
((Fortsetzung)) Symptom vorhanden Angst
44.8 %
Störungen im Essverhalten psychomotorische Symptome
32.0 % 30.8 %
suizidales Verhalten Entwicklungsauffälligkeiten
27.8 % 26.5 %
Körperliche Symptome I (Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen) Organische Krankheiten Körperliche Symptome II (Allergien, Atmungsstörungen, Hautaffektionen) Störungen im Realitätsbezug
übermäßige Leitungshaltung Drogen-/Alkoholmissbrauch Einnässen/Einkoten Zwangssymptome Auffälligkeiten im Sexualverhalten Auffälligkeiten im Sprechfluss
23.6 % 22.5 % 17.5 % 16.8 % 16.7 % 14.6 % 12.1 % 9.4 % 7.5 % 5.7 %
11.3.2 Zeitliche Trends im Hinblick auf den 20-Jahresverlauf im ambulanten und stationären Bereich Die im Folgenden berichteten zeitlichen Trends sind alle statistisch belegt und mindestens auf dem Fünfprozentniveau signifikant. Der Übersichtlichkeit halber wird auf statistische Detailangaben verzichtet. Die Analyse des zeitlichen Trends im Hinblick auf den 20-Jahres-Verlauf ergab Folgendes: Ambulanter Bereich: Es ergaben sich signifikante Trends zur geringen Aufnahme von Mädchen, zu einer Zunahme des Aufnahmealters und zur Abnahme der Behandlungsdauer. Was die soziale Schicht betrifft, so ergaben sich keine signifikanten Veränderungen. Deutlich waren aber die Veränderungen im Familienbereich. Die Zahl der Kinder, die mit beiden leiblichen Eltern zusammenlebten, nahm signifikant ab; Gleiches gilt für den Beziehungsstand der Eltern. Es ergab sich ein signifikanter zeitlicher Trend im Hinblick auf die Ab-
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nahme des Zusammenlebens der beiden leiblichen Eltern eines Kindes. Alle beschriebenen Veränderungen lagen unter dem Signifikanzniveau (p