Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung: Ein Beitrag zum subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 GG [1 ed.] 9783428505876, 9783428105878


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German Pages 371 Year 2002

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Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung: Ein Beitrag zum subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 GG [1 ed.]
 9783428505876, 9783428105878

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M A R T I N SOPPE

Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 879

Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung Ein Beitrag zum subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 GG

Von Martin Soppe

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Soppe, Martin: Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung : ein Beitrag zum subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 GG / Martin Soppe. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 879) Zugl.: Hannover, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10587-7

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10587-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 von der Universität Hannover, Fachbereich Rechtswissenschaften, als Dissertation angenommen. Rechtsprechungs- und Literaturnachweise sind im wesentlichen auf dem Stand August 2000; später Erschienenes konnte nur noch ausnahmsweise nachgetragen werden. Mein Dank gilt zunächst Prof. Dr. geduldige und angenehme Betreuung auch Prof. Dr. Hans-Ernst Folz für sowie Förderung in und nach meinem

Kay Waechter für die sehr engagierte, des Vorhabens. Danken möchte ich die Erstellung des Zweitgutachtens Studium.

Zu danken habe ich des weiteren der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die das Vorhaben mit einem Promotionsstipendium gefördert hat. Einen Druckkostenzuschuß erhielt ich von der Mathews-Stiftung. Die Arbeit entstand im wesentlichen in der Zeit meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Privatrecht, Hamburg, dessen auch im Bereich des Verfassungsrechts hervorragende Arbeitsbedingungen gesonderter Erwähnung bedürfen. Herzlich bedanken möchte ich mich schließlich bei Sabine Schwandt für ihre stets vorhandene Diskussionsbereitschaft sowie die mühevolle Durchsicht des Manuskripts. Die Arbeit ist als kleines Zeichen besonderen Danks meinen Eltern gewidmet, die mich jederzeit auf alle erdenkliche Weise gefördert haben. Hamburg, im Mai 2001

Martin Soppe

Inhaltsverzeichnis 1. T e i l Einleitung

27

1. Kapitel Einführung in die Themenstellung

27

2. Kapitel Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

30

Beschränkung der Untersuchung auf den Deutschen Bundestag Keine Betrachtung der Landesparlamente Keine Betrachtung des Europäischen Parlaments Keine Betrachtung der „quasi-parlamentarischen Organe" sonstiger Internationaler Organisationen IV. Keine Betrachtung der „Gemeindeparlamente" V. Keine Betrachtung der Mitgliedervertretung sonstiger Selbstverwaltungskörperschaften

30 30 31

A. Die I. II. III.

32 32 33

B. Die Beschränkung der Untersuchung auf Kompetenz Verlagerungen

34

C. Terminologische Fragen

36 3. Kapitel Gang der Untersuchung

37

2. T e i l Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht Vorbemerkung

39 39

1. Kapitel Die Kompetenzen des Bundestags

39

A. Der Bundestag als Volksvertretung

39

B. Die Stellung des Bundestags im Verfassungsgefüge

40

8 C. Die I. II. III. IV. V. VI.

nsverzeichnis Aufgaben des Bundestags im Verfassungsgefüge Die Wahlfunktion Die Willensbildungsfunktion Die Kontrollfunktion Die Öffentlichkeitsfunktion Die Gesetzgebungsfunktion Die Budgetfunktion

41 41 42 43 43 44 44

2. Kapitel Die Pflicht des Bundestags zur Aufgabenwahrnehmung

45

A. Befugnis zur Nichtausübung der Kompetenzen? I. Die Wahlfunktion II. Die Willensbildungsfunktion III. Die Kontrollfunktion IV. Die Öffentlichkeitsfunktion V. Die Gesetzgebungsfunktion VI. Die Budgetfunktion VII. Ergebnis zur Nichtausübung der Kompetenzen

46 46 47 48 48 49 50 50

B. Befugnis zur Delegation der Kompetenzen? I. Grundsatz II. Ausnahmen 1. Die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen, Art. 80 GG 2. Die Gewährung von Satzungsautonomie III. Ergebnis zur Delegation der Kompetenzen

50 50 52 52 53 54

C. Ergebnis zur Pflicht des Bundestags zur Wahrnehmung der Kompetenzen . . 54

3. T e i l Der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG

55

1. Kapitel Das Wahlrecht - Allgemeines

55

2. Kapitel Das Verhältnis zwischen Art. 38 GG und Volksentscheiden nach Art. 29 GG

57

3. Kapitel Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG

58

nsverzeichnis

9

4. Kapitel Der Einzelne und die Stellung des Bundestags

59

5. Kapitel Sonstiges

61

4. T e i l Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme der Diskussion -

62

1. Kapitel Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

62

A. Die prozessuale Situation

62

B. Die Schriftsätze des Beschwerdeführers Brunner

63

C. Die Schriftsätze der vier Mitglieder des Europäischen Parlaments

66

D. Das Plädoyer von H.-H. Rupp im Verfahren 2 BvR 2173/92

67

E. Sonstige Schriftsätze im Prozeß I. Die Äußerung der Bundesregierung II. Die Äußerung des Bundesrats III. Die Äußerung des Bundestags IV. Die Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen MdEP

68 68 69 69 70

F. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts I. Allgemeines II. Überwiegende Zurückweisung der Interpretationen des Art. 38 GG . . . 1. Kein Grundrecht auf Durchführung eines Volksentscheids 2. Kein Anspruch auf Beseitigung eines Demokratiedefizits in der EU 3. Keine wahlrechtliche „Konkurrentenklage" 4. Zum „subjektiven Elementargrundrecht des citoyen" III. Insbesondere das Recht auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt

71 71 72 73 73 74 74 74

2. Kapitel Die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

75

A. Der Verweis auf BVerfGE 47, 253 (269) im Maastricht-Urteil

76

B. Sonstige Entscheidungen zum subjektiven Recht aus Art. 38 GG?

76

C. Ergebnis zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

77

10

nsverzeichnis 3. Kapitel Die sonstige frühere Rechtsprechung

77

4. Kapitel Das Schrifttum vor dem Maastricht-Urteil

77

A. Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinschaft aus Art. 1 GG

78

B. Menschenwürde und Grundrecht auf Demokratie

78

C. Individuelle Rechte und Volkssouveränität

79

D. Der allgemeine Demokratierechtsschutz des Bürgers

79

E. Bewertung dieser Ansätze

80 5. Kapitel

Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

81

A. Kritik an der Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil 82 I. „Methodisch: keine dogmatische Absicherung der weiten Auslegung" . 82 II. „Weite der Auslegung und verfassungsprozessuale Folgen" 84 III. „Vermengung von Demokratieprinzip und Souveränität" 86 IV. „Widerspruch zu früheren Entscheidungen"? 87 V. „Beschwerdebefugnis zu Unrecht bejaht"? 89 B. Zustimmung zur Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil

90

6. Kapitel Dogmatische Ansätze im Schrifttum nach dem Maastricht-Urteil Α. Κ Α. Schachtschneiders Konzept der „Res publica res populi" I. Der Gedankengang von Schachtschneider 1. Das Republik-Verständnis unter Bezugnahme auf Kant 2. Das Verhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht.... 3. Das Grundrechtsverständnis II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung 1. Erstes Problem: Konzeptionsbedingte dogmatische Unklarheiten.. . 2. Zweites Problem: Inhaltliche Bedenken an der Konzeption 3. Drittes Problem: Geringe Ergiebigkeit zum subjektiven Recht III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von Schachtschneiders Arbeit

92 92 93 93 95 96 97 97 99 101 102

Β. A. Wolfs Konzept eines Anspruchs auf »judicial activism" aus Art. 38 GG.. 102 I. Die Argumentation von A. Wolf 102 II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung 104 1. Der empirische und rechtspolitische Charakter dieses Ansatzes... . 105 2. Keine Argumentation zur Versubjektivierung 105

Inhaltsverzeichnis III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von A. Wolfs Arbeit C. Der I. II. III.

11 106

Rückgriff auf den Wesensgehalt des Wahlrechts, Art. 19 Abs. 2 GG.. . 106 Die Argumentation von H.-J. Cremer und A. Wolf 106 Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung 107 Ergebnis zur Verwertbarkeit des Rückgriffs auf die Wesensgehaltsgarantie 109

D. Astrid Epineys Ansatz: Der status activus des Wahlberechtigten I. Die Argumentation von Astrid Epiney II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von Astrid Epineys Ansatz E. Art. 20 Abs. 1-3 GG als Anknüpfung für ein subjektives Recht auf Demokratie I. Die Argumentation von 5. Hobe und B. Wiegand II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung 1. Die Prämisse: Recht auf Effizienz des Art. 38 GG nur aus Art. 20 GG 2. Die Begründung: Staatsstrukturentscheidungen als Prinzipien gleichzusetzen mit objektiven Grundrechtsgehalten III. Ergebnis zur Anknüpfung an Art. 20 Abs. 1-3 GG

109 109 110 111 112 112 113 114 114 118

F. Art. 2 Abs. 1 GG als Anknüpfung für ein subjektives Recht auf Demokratie. I. Die enge Auslegung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG II. Die weite Auslegung des Schutzbereichs durch die ganz herrschende Ansicht 1. Kein Eingriff durch eine Kompetenzverlagerung als solche 2. Keine Anwendung auf die Konstellation des Maastricht-Verfahrens ΙΠ. Ergebnis zur Anknüpfung an Art. 2 Abs. 1 GG

118 119 119 120 121 122

G. Ergebnis zu den dogmatischen Ansätzen im Schrifttum

122

7. Kapitel Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil

122

A. Die Euro-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts I. Die Verfahren 2 BvR 1877/97 und 50/98 II. Das Verfahren 2 BvR 532/98

122 123 128

B. Sonstige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

128

C. Entscheidungen anderer Gerichte

129

D. Exkurs zur Kritik am Maastricht-Urteil „Sachentscheidung um jeden Preis". 130

8. Kapitel Fazit der Bestandsaufnahme

131

12

nsverzeichnis 5. T e i l Grundlegung des subjektiven Rechts

133

1. Kapitel Vorbemerkungen

133

A. Die verschiedenen Adressaten etwaiger Kompetenzverlagerungen

133

B. Die Anwendbarkeit auf innerstaatliche Konstellationen

134

C. Die I. II. III. IV.

inhaltliche und terminologische Abgrenzung zur Souveränität Der Begriff der äußeren Souveränität Der Begriff der inneren Souveränität Exkurs: Der Begriff der Volkssouveränität Die Verbindung zum Begriff der Demokratie

138 139 140 140 141

D. Der I. II. III.

Kreis der Grundrechtsträger Die Wahlberechtigung als Voraussetzung Sonstige Einschränkungen des Kreises der Grundrechtsträger? Ergebnis zum Kreis der Grundrechtsträger

142 142 142 146

2. Kapitel Sonstige Begründungsansätze für die Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

147

A. Grammatische und historische Auslegung des Art. 38 GG? I. Grammatische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG? II. Historische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG? 1. Auslegung der Art. 20 und 38 Abs. 1 GG? 2. Auslegung des BVerfGG und des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG? III. Ergebnis zur grammatischen und historischen Auslegung

147 148 148 148 149 151

B. Extensive Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze? I. Gleichheit der Wahl? II. Unmittelbarkeit der Wahl? III. Ergebnis zur extensiven Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze.. .

151 151 152 153

C. Parallelen zu subjektiven Rechten aus anderen Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen? 153 I. Das Sozialstaatsprinzip? 154 II. Das Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen"? 158 1. Die Sicherung des ökologischen Status quo in Art. 20a GG 158 2. Übertragbarkeit auf die vorliegende Fragestellung? 159 3. Argumente gegen eine Übertragbarkeit 159 4. Ergebnis zu Art. 20a GG 160

nsverzeichnis III. Sonstige Staatsstrukturprinzipien? IV. Ergebnis zu Ansprüchen aus anderen Staatsstrukturprinzipien D. Ergebnis zu den sonstigen Ansätzen zur Schutzbereichserweiterung

13 160 161 162

3. Kapitel Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs A. Vorbemerkung

162 162

B. Indirekte Beeinträchtigungen der Rechte des status activus 164 I. Der Begriff des Grundrechtseingriffs 164 1. Der unmittelbare Grundrechtseingriff 165 2. Die indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen 166 a) Zur Terminologie: „Indirekte" Beeinträchtigungen 167 b) Die Folgeprobleme der Erweiterung des Eingriffsbegriffs 168 (1) Die sogenannten Drittbetroffenen 168 (2) Die Abgrenzung der Beeinträchtigung 169 (a) Lösungsansätze in der Rechtsprechung 169 (b) Lösungsansätze im Schrifttum 171 (c) Übereinstimmende Ergebnisse trotz dogmatischer Unsicherheiten 172 II.

Die unterschiedlichen Grundrechtsstatus 1. Die Statuslehre im heutigen Verständnis 2. Die Menschenrechte des negativen und des positiven Status a) Die Menschenrechte des negativen Status b) Die Menschenrechte des positiven Status c) Gemeinsamkeiten der Menschenrechte 3. Die Bürgerrechte des status activus

172 173 174 175 175 176 176

III. Exkurs: Eingriffsdogmatik und positiver Status? 1. Vorbemerkung 2. Das Konzept von Gertrude Lübbe-Wolff 3. Das Konzept von M. Sachs a) Die Lehre vom „grundrechtlichen Berechtigungskomplex" . . . . b) Die Grundrechte im positiven Status 4. Ergebnis zum Exkurs

177 177 178 179 180 181 182

IV. Eingriffsdogmatik und Wahlrecht 1. Die Position der Rechtsprechung zur Beeinträchtigung des Wahlrechts a) „Eingriffe" in das Wahlrecht b) Insbesondere indirekte Beeinträchtigungen des Wahlrechts . . . . (1) Mittelbare Beeinträchtigungen des Wahlrechts (a) Insbesondere die Geheimheit der Wahl (b) Insbesondere die Freiheit der Wahl

182 182 182 184 184 184 185

14

nsverzeichnis

2.

3.

4. 5. 6.

(2) Faktische Beeinträchtigungen des Wahlrechts c) Ergebnis zur Position der Rechtsprechung Die Position der Literatur zur Beeinträchtigung des Wahlrechts . . . a) „Eingriffe" in das Wahlrecht b) Insbesondere indirekte Beeinträchtigungen des Wahlrechts . . . . (1) Mittelbare Beeinträchtigungen des Wahlrechts (2) Faktische Beeinträchtigungen des Wahlrechts c) Ergebnis zur Position der Literatur Die Struktur des Wahlrechts a) Das Wahlrecht als Bereich konstituierter Staatsfreiheit b) Das Wahlrecht als „Bewirkungsrecht" c) Ergebnis zur Struktur des Wahlrechts Unterschiede zwischen Wahlrecht und Abwehrrechten Gemeinsamkeiten zwischen Wahlrecht und Abwehrrechten Ergebnis zur Übertragbarkeit

186 187 188 188 188 189 189 190 190 190 191 193 193 194 196

C. Gegenthese: „Schutzbereichsausdehnung statt Eingriffserweiterung" I. Die Konzeptionen zur Reichweite der Schutzbereichsausdehnung 1. Die Lehre vom funktionalen Schutzbereich 2. Die Lehre von den Kontext- und Umweltbezügen 3. Die Lehre von den faktischen Betätigungschancen 4. Die Lehre von den „Nebenfreiheiten" II. Gemeinsamkeiten der Konzeptionen III. Ergebnis zur These einer Schutzbereichsausdehnung

196 197 197 198 199 200 201 201

D. Abwägung: Eingriffserweiterung oder Schutzbereichsausdehnung? I. Argumente für die Erweiterung des Schutzbereichs II. Argumente für die Erweiterung des Eingriffsbegriffs 1. Keine beliebige Erweiterbarkeit des Schutzbereichs 2. Keine Vermengung von Schutzbereich und Eingriff 3. Unterschiede zwischen Abwehrrechten und Wahlrecht 4. Die fehlende inhaltliche Begründung einer Schutzbereichserweiterung 5. Die „größere Aufrichtigkeit" einer Eingriffserweiterung 6. Die klarere Konturierung des erweiterten Eingriffsbegriffs III. Ergebnis der Abwägung

202 202 203 203 204 205 206 207 208 209

4. Kapitel Die parlamentarische Kompetenzabgabe als indirekte Wahlrechtsbeeinträchtigung

209

A. Die fehlende Mittelbarkeit des Eingriffs

209

B. Die Einstufung als faktischer Eingriff

209

nsverzeichnis I.

Weitere Fälle einer Sinnentleerung grundrechtlicher Positionen 1. Art. 14 GG und die Figur des enteignenden Eingriffs 2. Art. 12 GG und die Erhebung erdrosselnder Abgaben 3. Art. 12 GG und die wirtschaftliche Verhinderung des Arbeitsplatzwechsels 4. Die Übertragbarkeit auf die wahlrechtliche Problematik II. Sinnlose Wahlen als staatlich inszenierte Farce III. Die Veränderung des „rechtlichen Umfelds" des Wahlrechts

C. Ergebnis zum 4. Kapitel

15 210 210 214 216 218 219 219 220

5. Kapitel Mögliche Gegenargumente

221

A. „Unterscheidung von Volkswillensbildung und Staatswillensbildung"

221

B. „Verstoß gegen die Freiheit des parlamentarischen Mandats"

224

C. „Verrechtlichung des unverbindlichen Repräsentationsdialogs"

225

D. „Zuweisung der Aufgaben an den Bundestag in Art. 70 ff. GG"

226

E. „Recht aus Art. 38 GG neben Art. 23 GG nicht möglich"

227

F. „Recht aus Art. 38 GG neben Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG nicht erforderlich" 229 G. „Klageflut führt zu Überlastung des Bundesverfassungsgerichts"

230

H. „Popularverfassungsbeschwerde"

231

I.

234

„Ersatzgesetzgebung durch Verfassungsgericht"

J. „Handlungsfähigkeit des Staats bei bloßen Organisationsakten"

237

K. „Grundrechtsinflation"

237

6. Kapitel Zusammenfassung der Ergebnisse zur innerstaatlichen Kompetenzabgabe

239

7. Kapitel Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen" an EG-Organe

240

A. Die deutsche Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union I. Art. 23 Abs. 1 GG als souveränitätsbezogene Norm II. Der Demokratiebezug in Art. 23 Abs. 2 und 3 GG

241 241 242

B. Die Rolle des Art. 38 GG im Geltungsbereich des Art. 23 GG

243

16

nsverzeichnis I.

„Übertragung von Hoheitsrechten" versus „Übertragung von parlamentarischen Kompetenzen" 243

II.

Das Erfordernis: Übertragung parlamentarischer Kompetenzen

244

C. Exkurs: Der Einzelne und die Übertragung von Hoheitsrechten

245

D. Ergebnis zur Kompetenzabgabe an EG-Organe

246

8. Kapitel Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen" an völkerrechtliche Institutionen A. Das I. II. III.

246

subjektive Recht und die Ermächtigung völkerrechtlicher Institutionen . 247 Vereinzelt geäußerte Zweifel an der Übertragbarkeit 247 Die fehlende Berechtigung dieser Zweifel 248 Ergebnis zur Frage der Anwendbarkeit 250

B. Die Rolle des Art. 38 GG im Geltungsbereich des Art. 24 GG

250

C. Ergebnis zur Kompetenzabgabe an völkerrechtliche Institutionen

250

6. T e i l Subjektives Recht auf Demokratie Rechtsvergleichung und Völkerrecht

251

7. Kapitel Rechtsvergleichung

252

A. Die zu untersuchende Fragestellung I. Die Formulierung der Fragestellung II. Die grundsätzlichen Möglichkeiten individueller Berechtigung

252 252 253

B. Der deutschsprachige Raum: Schweiz, Liechtenstein und Österreich I. Schweiz und Liechtenstein 1. Das Stimmrecht als Organkompetenz 2. Rechtsschutz gegen Kompetenzbeeinträchtigungen? II. Österreich

253 253 254 255 256

C. Vereinigtes Königreich I. Die Anerkennung eines „locus standi" II. Die Lehre der „sovereignty of parliament" III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung

257 257 259 261

D. Frankreich I. Die gerichtliche Überprüfbarkeit von Legislativakten II. Keine Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung

261 261 263 264

Inhaltsverzeichnis

17

E. Dänemark I. Die dänischen Maastricht-Entscheidungen - Überblick II. Die Zulässigkeitsentscheidung des H0jesteret vom 12.8.1996 1. Die Klagebefugnis nach überkommenem Verständnis 2. Die neue Interpretation durch den H0jesteret 3. Die Bedeutung dieser Neuinterpretation 4. Die Rezeption der Neuinterpretation im dänischen Schrifttum III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung

264 265 266 266 267 268 269 269

F. Portugal I. Die Gewährleistung des Art. 48 Abs. 1 port. Verf. II. Die Anwendungspraxis des Art. 48 Abs. 1 port. Verf III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung

270 270 271 271

G. Ergebnis zur Rechtsvergleichung

271

2. Kapitel Völkerrechtliche Gewährleistungen

272

A. Art. 21 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

273

B. Art. I. II. III.

274 274 276 277

25 lit. a des Int. Pakts über bürgerliche und politische Rechte Der Inhalt der Gewährleistung Die Berechtigung der deutschen Staatsbürger Die faktische Bedeutung der Gewährleistung

C. Art. 5 lit. c des Int. Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung

278

D. Art. 7 lit. b des Übereinkommens gegen Frauendiskriminierung

278

E. Sonstige Übereinkommen als „völkerrechtlicher Hintergrund" I. Art. XX der Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen II. Art. 23 Abs. 1 lit. a der Amerikanischen Menschenrechtskonvention . . III. Art. 13 Abs. 1 der Banjul-Charta

279 280 280 280

F. Ergebnis zum Völkerrecht

281

7. T e i l Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

1. Kapitel Die Problemstellung 2 Soppe

282

nsverzeichnis

18

2. Kapitel Die Rechtsnatur der Gewährleistung A. Die Rechtsnatur des subjektiven Rechts nach dem hiesigen Ansatz

283 284

B. Folgerungen aus dieser dogmatischen Einordnung 285 I. Die Schutzbereichsseite: Das Aktivrecht als „bewahrendes" Recht.... 285 II. Die Eingriffsseite: Qualifizierte Beeinträchtigung erforderlich 286

3. Kapitel Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

286

A. Die denkbaren Anwendungsbereiche

286

B. Die zu berücksichtigenden Spannungspole

287

C. Die I. II. III.

288 288 289 290 290 291 292

Vorschläge im bisherigen Schrifttum Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG Das Konzept des »judicial activism" Der status activus des Wahlberechtigten 1. Die Argumentation von Astrid Epiney 2. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Frage IV. Die Wesentlichkeitstheorie

D. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen 292 I. Die in Betracht kommenden Qualifikationsmerkmale 293 II. Insbesondere: Das Kriterium der Intensität der Beeinträchtigung 295 III. Zwischenergebnis

296

IV. Die Formeln der Rechtsprechung zu indirekten Beeinträchtigungen der Abwehrrechte 296 V.

Die Intensität der faktischen Wahlrechtsbeeinträchtigung im einzelnen. 1. Die relative Beeinträchtigungsintensität 2. Das Erfordernis einer weiteren, absoluten Strukturierung 3. Absolute Strukturvorgaben durch das objektive Recht a) Objektiv-rechtlich verfassungskonforme Kompetenzübertragungen als Fälle unterhalb der Beeinträchtigungsschwelle b) Die Übertragung parlamentarischer Grundfunktionen als Fälle oberhalb der Beeinträchtigungsschwelle (1) Der Rückgriff auf die parlamentarischen Grundfunktionen . (2) Der Verlust einer parlamentarischen Grundfunktion (3) Kompetenzabgaben ohne Berührung der Grundfunktionen . (4) Zwischenergebnis c) Zweifelsfälle

297 297 298 299 300 301 302 302 304 305 305

Inhaltsverzeichnis (1) Die bloße Beeinträchtigung einer parlamentarischen Grundfunktion (2) Kompetenzabgaben unter Überschreitung der Delegationsbefugnis d) Zwischenergebnis e) Sonderfall: Handeln des Verfassungsgesetzgebers (1) Die objektiv-rechtliche Bindung (nur) an Art. 79 Abs. 3 GG (2) Art. 79 Abs. 3 GG auch als Grenze des subjektiven Rechts . (3) Der Maßstab im Maastricht-Urteil (4) Zwischenergebnis 4. Ergebnis zur Beeinträchtigungsintensität

19

305 306 307 308 308 308 309 311 311

4. Kapitel Die Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an EG-Organe

312

A. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts

312

B. Die Vorschläge im bisherigen Schrifttum

312

I.

Die „Übergewichts-Formel" von U. Karpenstein

312

II.

Das Konzept des »judicial activism"

314

III. Die Betonung der Steuerhoheit bei E. Steindorff

314

C. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen 315 I.

Die grundsätzliche Geltung des oben entwickelten Maßstabes

315

II.

Besonderheiten aus der Ermächtigungsnorm des Art. 23 GG?

316

1. Bei objektiv rechtmäßigen Kompetenzübertragungen? 2. Bei Übertragungen durch den Verfassungsgesetzgeber? 3. Bei Übertragungen durch den einfachen Gesetzgeber?

316 316 316

D. Ergebnis zu den Kompetenzabgaben an EG-Organe

318

5. Kapitel Die Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen A. Die bisherige Rechtsprechung und Literatur

318 318

B. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen 318 C. Ergebnis zu den Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen 2*

319

nsverzeichnis

20

6. Kapitel Sonderproblem: Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten für den Einzelnen?

319

A. Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament als Parallelproblem? 320 B. Die I. II. III.

fehlende Vergleichbarkeit Demokratieprinzip und Volkssouveränität einerseits ... Bundestagswahlrecht andererseits Sonderfall Maastricht-Urteil

320 320 321 322

C. Ergebnis zur Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten für den Einzelnen 322

8. T e i l Die Rechtfertigung von Eingriffen?

323

9. T e i l Die prozessuale Durchsetzung dieses Rechts

326

7. Kapitel Das Verfassungsbeschwerdeverfahren

326

A. Die Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde

326

B. Die I. II. III.

327 327 328

Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde Insbesondere die Beschwerdefähigkeit Insbesondere die Beschwerdebefugnis Insbesondere das Gebot grundsätzlicher vorheriger Rechtswegerschöpfung IV. Insbesondere das allgemeine Rechtsschutzinteresse V. Insbesondere die Beschwerdefrist

C. Der Maßstab der Begründetheitsprüfung

329 330 330 331

2. Kapitel Sonderfall: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit A. Die Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch deutsche Organe

332 333

B. Die Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch außerdeutsche Institutionen 334 I. Die Problemstellung 334

nsverzeichnis

21

II.

Sonderfall: Handeln von EG-Organen 335 1. Die Position des Schrifttums 335 2. Die Position des Bundesverfassungsgerichts 336 3. Folgerungen für die hiesige Fragestellung 337 4. Zwischenergebnis 338 III. Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Bundestags 338 IV. Ergebnis zur Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch außerdeutsche Institutionen 342 C. Ergebnis zum 2. Kapitel

342 10. T e i l Thesen

343

Literaturverzeichnis

348

Sachverzeichnis

367

Abkürzungsverzeichnis Die Titel von Büchern und Periodika sind kursiv gedruckt a. A. a. a. O. a. E. a.F. AB1.EG Abs. AK All E.R. Allg.VerwR Anh. AnwBl. AöR AP ArbuR Art. Aufl. Az. BAG BAGE bay. BB Bd. Beri. BezVG BFH BGB BGB-AT BGBl. BGH BGHZ BK Brem. brit. BSG

anderer Ansicht am angegebenen Ort am Ende alter Fassung Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Alternativkommentar The All England Law Review Allgemeines Verwaltungsrecht Anhang Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeit und Recht Artikel Auflage Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bayerisch(e/er/es) Betriebsberater Band Berliner Bezirksversammlungsgesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Allgemeiner Teil des BGB Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bonner Kommentar Bremer britisch(e/er/es) Bundessozialgericht

Abkürzungsverzeichnis BSGE BStBl. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BWahlG bzw. C.A. ca. CDU CML Rev. dän. DB Diss. DÖV DRiZ DuR DVB1. E.L.Rev. Ed. EG EGMR EJIL EMRK EPIL EPL Erl. et al. EU EuBl. EuGH EuGRZ EuR EuZW Ev.StL. EWG EWiR EWS f./ff. FN frz.

Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundessteuerblatt Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz beziehungsweise Court of Appeal circa Christlich-Demokratische Union Common Market Law Review dänisch(e/er/es) Der Betrieb Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt European Law Review Edition Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of International Law Europäische Menschenrechtskonvention Encyclopedia of Public International Law European Public Law Erläuterung und andere Europäische Union Europablätter Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Zeitschrift fur Wirtschaftsrecht Evangelisches Staatslexikon Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Seite/folgende Seiten Fußnote französisch(e/er/es)

23

24

Abkürzungsverzeichnis

FS Festschrift G (in Gesetzesnamen) Gesetz (z.B. WahlG = Wahlgesetz) GG Grundgesetz GO Gemeindeordnung grds. grundsätzlich GS Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt GVB1. GYIL German Yearbook of International Law H. L. House of Lords h. M. herrschende Meinung Halbs. Halbsatz HdBkommWuP Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis HdBStR Handbuch des Staatsrechts HdBVerfR Handbuch des Verfassungsrechts hess. hessisch(e/er/es) Hmb. Hamburger Hrsg. Herausgeber hrsgg. herausgegeben i. d. F. in der Fassung i. S. d. im Sinne des/der i. V. m. in Verbindung mit IDHEAP Institut de Hautes Etudes en Administration Publique int. international(e/er/es) Int.Org. Internationale Organisationen J.O. Journal Officiel de la République Française JIR Jahrbuch für Internationales Recht JK Jura-Kartei (Beilage zur Zeitschrift JURA) JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart JR Juristische Rundschau JURA Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung LdR/VR Lexikon des Rechts/Völkerrecht LES Liechtensteinische Entscheidungssammlung LG Landgericht Lit. Literatur lit. litera m. w. N. mit weiteren Nachweisen MdEP Mitglied des Europäischen Parlaments MJ Maastricht Journal of European and Comparative Law n. F. neuer Fassung NATO North Atlantic Treaty Organisation nds. niedersächsisch(e/er/es)

Abkürzungsverzeichnis NJ NJB NJW Nr. NRW NuR NVwZ NVwZ-RR

25

Neue Justiz Nederlands Juristenblad Neue Juristische Wochenschrift Nummer nordrhein-westfâlisch(e/er/es) Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport NWVB1. Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter o.T. ohne Titel OG (Schweizer) Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege Österreichische Juristen-Zeitung ÖJZ OLG Oberlandesgericht op.cit. bereits zitiertes Werk OVG Oberverwaltungsgericht port. portugiesisch(e/er/es) Q.B. Queen's Bench R (in Buchtiteln) Recht (z.B. StaatsR = Staatsrecht) R. Regina Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales RabelsZ Privatrecht RDI Rivista di Diritto Internazionale RDP Revue du Droit Public RevMC Revue du Marché Commun RGBl. Reichsgesetzblatt RGDIP Revue Générale du Droit International Public rh.-pf. rheinland-pfâlzisch(e/er/es) RSC Rules of the Supreme Court Rspr. Rechtsprechung RTDeur Revue Trimestrielle du Droit européen RUDH Revue Universelle des Droits de l'Homme RuP Recht und Politik Rz. Randziffer S. Seite s. section sc. ergänze SEW Sociaal-Economische Wetgeving sog. sogenannt(e/er/es) Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands st. Rspr. ständige Rechtsprechung

26

Abkürzungsverzeichnis

StGB Strafgesetzbuch StGH Staatsgerichtshof subj. subjektiv(e/er/es) ThürVBl. Thüringer Verwaltungsblätter UfR Ugeskrift for Retsvœsen Univ. Universität usw. und so weiter v. (in brit. Urteilen) versus v. (in Namen) von Verf. Verfassung VersR Versicherungsrecht VerwArch Verwaltungs-Archiv vgl. vergleiche Vol. Volume Vorb. Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen StaatsVVDStRL rechtslehrer VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WEU Westeuropäische Union WM Wertpapier-Mitteilungen WRV Weimarer Reichsverfassung z.B. zum Beispiel z.T. zum Teil ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZBR Zeitschrift für Beamtenrecht ZfJ Zentralblatt für Jugendrecht ZfRV Zeitschrift für Rechtsvergleichung ZG Zeitschrift für Gesetzgebung zit. zitiert ZPO Zivilprozeßordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZUM Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

1. T e i l

Einleitung 1. Kapitel

Einführung in die Themenstellung In dem Maße, in dem der Bundestag einzelne Aufgaben unwiderruflich auf andere Stellen überträgt - im Rahmen der europäischen Integration etwa auf Organe der Europäischen Gemeinschaft, aber auch innerstaatlich auf bestimmte weisungsfrei arbeitende Organe - stellt sich die Frage, ob der Bürger einen Anspruch darauf hat, daß derartige Kompetenzverlagerungen von dem unmittelbar gewählten und vom Souverän daher unmittelbar zu kontrollierenden Parlament auf andere Institutionen unterbleiben, sofern dadurch Verfassungsnormen verletzt werden. Denn es bestünde die Gefahr, daß das Parlament durch weitreichende Kompetenzübertragungen unwiderruflich eigene Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse einbüßt, so daß in letzter Konsequenz das Wahlrecht des Einzelnen entwertet oder zumindest gemindert würde. Auch wenn diese Fragestellung, wenn sie abstrakt formuliert wird, allenfalls von theoretischem Interesse zu sein scheint, so hat es doch bereits in der Praxis zumindest einen Anwendungsfall gegeben, in dem eine auf die Verletzung des subjektiven Wahlrechts in Art. 38 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht als zulässig angesehen und mithin die Möglichkeit einer diesbezüglichen Rechtsverletzung - „Beschwerdebefugnis" im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG - immerhin bejaht wurde: In dem sogenannten „Maastricht-Urteil" 1 verwarf das Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden, die gegen das Ratifikationsgesetz zum „Maastricht-Vertrag", 2 bzw. gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.19923 gerichtet waren. Überraschend war nach Ansicht vieler Beobachter dabei weniger das Ergebnis der (abweisenden) Entscheidung, als vielmehr die Tatsache, daß das Gericht eine der Verfassungsbeschwerden, die des Beschwerdeführers Manfred Brunner, überhaupt 1

BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 ff. Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BGBl. 1992 II, S. 1251 ff. 3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BGBl. 1992 I, S. 2086 f. 2

28

1. Teil: Einleitung

als zulässig ansah, soweit darin eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 GG gerügt wurde. In der Urteilsbegründung erkannte das Bundesverfassungsgericht nämlich dem Individuum ein „subjektives, materielles Recht auf Demokratie", 4 oder, wie es vereinzelt auch genannt wurde, „Grundrecht auf echten Parlamentarismus", 5 zu. Bereits im ersten Leitsatz des Urteils stellt das Gericht fest: „Im Anwendungsbereich des Art. 23 GG schließt Art. 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird". 6 Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus auch im Rahmen der „Euro-Entscheidungen" 7 Anlaß zur Prüfung dieses subjektiven Rechts gesehen, wenngleich die Möglichkeit einer Verletzung vom Gericht im konkreten Fall dort jeweils verneint wurde. Immerhin aber liegt darin eine Bestätigung der im „Maastricht-Urteil" erstmals angewendeten Auslegung des Art. 38 GG. Nicht zu verkennen ist freilich, daß die Problematik der möglichen Grenzen, die das Verfassungsrecht einer Kompetenzverlagerung vom Parlament auf andere Institutionen oder Organe zieht, sowie die Frage, inwieweit der Einzelne dadurch in subjektiven Rechten verletzt ist, sich nicht lediglich im Rahmen der europäischen Einigung stellen. Ebenfalls denkbar sind Fälle internationaler Zusammenarbeit außerhalb der EU/EG, welche Fragen betreffen, die nach deutschem Verfassungsrecht einem Parlamentsvorbehalt unterliegen. Ein möglicherweise realitätsnahes Beispiel wäre beispielsweise die Anordnung von Bundeswehreinsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO oder der WEU, die nach bisherigem Verfassungsrecht einen auf den konkreten Einsatz bezogenen Bundestagsbeschluß erfordern. 8 Bei 4 So Hillgruber, FS Leisner, S. 53 (70); vgl. auch Meessen, NJW 1994, 549 (550): „Demokratieprinzip als subjektives Recht"; Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (567): „subjektives Recht auf die Beachtung des Demolo-atieprinzips"; ähnlich Frontoni, JZ 1995, 800 (801): „Anspruch jeden Bürgers auf Aufrechterhaltung der Demokratie"; siehe auch denselben, RDP 111 (1995), 323 (355): „droit à être gouverné démocratiquement"; H.-P. Ipsen, EuR 1994, 1 (2): „Anspruch auf Existenz in einer demokratisch verfaßten Staatlichkeit"; ferner Abbott, GYIL 37 (1994), 137 (141): „right to adequate democratic representation"; Biskup, ThürVBl. 1999, 49 (53): „demokratisches Teilhaberecht". 5 Vgl. Schachtschneider, RuP 1994, 1; derselbe, Neue Epoche 1994, 38 (39 f.); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (431); noch anders E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (272): „Grundrecht auf substantielle Kompetenzausstattung des Parlaments". 6 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155. 7 Zuerst BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 ff.; nachfolgend dann BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 22.6.1998, NJW 1998, 3187 f. 8 BVerfG, Urteil vom 12.7.1994, BVerfGE 90, 286 (381 ff.).

1. Kap.: Einführung in die Themenstellung

29

Zustimmung zu einer völkerrechtlichen Vereinbarung, die der jeweiligen Internationalen Organisation die verbindliche Entscheidung darüber ermöglichte, in welchen Fällen (auch) deutsche Streitkräfte eingesetzt würden, 9 könnte das genannte subjektive Recht aus Art. 38 GG berührt sein. Auch im rein innerstaatlichen Staatsorganisationsrecht könnte das Problem der Kompetenzübertragungen aktuell werden, wenn etwa der Bundestag in weitem Umfang Legislativ- oder Kontrollbefugnisse auf eine Stelle übertrüge, die weisungsfrei, d.h. mangels Einbindung in die Verwaltungshierarchie ohne eigene demokratische Legitimation, arbeitete. 10 Sofern eine derartige Institution die Möglichkeit hätte, in Grundrechte einzugreifen, „wesentliche" Entscheidungen (im Sinne der Wesentlichkeitstheorie) zu treffen, oder andere staatliche Organe zu kontrollieren, bestünde möglicherweise auch im innerstaatlichen Raum ein subjektiv-rechtliches Interesse, die Frage der Verfassungsmäßigkeit derartiger Zuständigkeitsübertragungen verfassungsgerichtlich klären zu lassen. Prozessual hätte das zur Folge, daß ein wahlberechtigter Bürger bereits die Kompetenzverlagerung als solche mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde angreifen könnte. Bei einem völkerrechtlichen Vertrag könnte somit - siehe das Maastricht-Verfahren - schon das Zustimmungsgesetz mit der darin enthaltenen Zuständigkeitsübertragung angegriffen werden. Ein Grundrechtsträger müßte dann nicht erst, wie nach dem bisherigen Verständnis, den Erlaß eines (auch) ihn in sonstigen grundrechtlichen oder grundrechtsähnlichen Gewährleistungen belastenden staatlichen Aktes - auf dem Gebiet der europäischen Integration etwa den Erlaß einer Richtlinie oder Kommissionsentscheidung, im oben angedeuteten Bundeswehrfall zum Beispiel einen Einberufungsbefehl, bei der Ermächtigung innerstaatlicher Organe etwa den Erlaß eines Verwaltungsakts - abwarten. Nach überkommener Rechtslage würde die Zulässigkeit der Kompetenzübertragung erst im Rahmen des gegen diesen Akt gerichteten Rechtsschutzbegehrens inzidenter bei der formellen Rechtmäßigkeit, genauer gesagt, bei der Frage geprüft, ob der belastende Akt von dem (verfassungsrechtlich) zuständigen Träger hoheitlicher Gewalt erlassen wurde. Prozessuale Folge der Annahme eines solchen subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG wäre also einerseits eine Vorverlegung der Rechtsschutzmöglichkeit auf den Zeitpunkt der Kompetenzübertragung. Andererseits gäbe es zumindest im Regelfall mehr Klageberechtigte, da nicht nur die Adressaten eines gesonderten Grundrechtseingriffs klage- und verfassungsbeschwerdebefugt wären, sondern möglicherweise alle Wahlberechtigten. 9 Zur Erweiterung des NATO-Vertrages durch Beschlüsse der im Nordatlantikrat vertretenen Regierungen der Mitgliedstaaten ausführlich Hillgruber, FS Leisner, S. 53 ff. 10 Zu derartigen „Entparlamentarisierungstendenzen" Kirchhof, Süddeutsche Zeitung, Nr. 275 vom 27728.11.1999, S. 14. Weitere Konstellationen bei Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (572 f.).

30

1. Teil: Einleitung 2. Kapitel

Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Die damit bereits in ersten Zügen umrissene Fragestellung ist i m folgenden noch weiter einzugrenzen.

A. Die Beschränkung der Untersuchung auf den Deutschen Bundestag I m Schrifttum ist im Anschluß an das Maastricht-Urteil vereinzelt behauptet worden, 11 die in der Entscheidung aufgestellten subjektiv-rechtlichen Maßstäbe ließen sich über den dortigen Anwendungsbereich auf Bundesebene hinaus auch auf Kompetenzverlagerungen anderer Parlamente, zum Beispiel auf die Landesparlamente, 12 übertragen. Auch wenn für eine derartige Übertragbarkeit prima facie einiges sprechen mag - bei den Landesparlamenten etwa die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG - , sollen sich die hiesigen Untersuchungen jedoch aus den folgenden Gründen auf die Problematik bei Kompetenzverlagerungen durch den Deutschen Bundestag beschränken.

I. Keine Betrachtung der Landesparlamente Bei der vorliegenden Fragestellung ist zunächst zwischen Kompetenzübertragungen durch den Bundestag einerseits und durch ein Landesparlament andererseits zu differenzieren. Denn Art. 38 GG erfaßt unmittelbar nur die Wahlen zum Deutschen Bundestag, und eine analoge Anwendung auf Wahlen und Abstimmungen in den Ländern scheidet mit Rücksicht auf die selbständigen und voneinander getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern aus. 13 Auch über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG ergibt sich nichts anderes, da diese dem Bürger keine mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einforderbaren rügefähigen subjektiven Rechtspositionen vermittelt. 14 Schließlich ist, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahre 1998, ferner auf dem Gebiet der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl für den Bereich der Länder und Gemeinden nicht mehr auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG 11

Etwa von E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (274). In den Bundesländern werden sie in den Flächenstaaten „Landtage" genannt, in Hamburg und Bremen als „Bürgerschaft" und in Berlin als „Abgeordnetenhaus" bezeichnet. 13 BVerfG, Beschluß vom 16.7.1998, BVerfGE 99, 1 (7), m.w.N. 14 BVerfG, a.a.O. (8). 12

2. Kap.: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

31

zurückzugreifen. 15 Demgemäß richtet sich die Rechtslage in den Ländern insoweit allein nach der jeweiligen Landesverfassung. Zwar mag sich daraus im Einzelfall ebenfalls eine der Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG vergleichbare Auslegung ergeben; jedoch ist dies nicht zwingend, da über Art. 28 Abs. 1 GG lediglich Homogenität, nicht aber Uniformität mit den grundgesetzlichen Gewährleistungen geschuldet wird. 1 6 Aus diesem Grund wäre über die Analyse der Rechtslage nach dem Grundgesetz hinaus eine eingehende Betrachtung der Verfassungen aller 16 Bundesländer erforderlich, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann.

Π. Keine Betrachtung des Europäischen Parlaments Die gleiche Einschränkung, wenngleich aus anderen Gründen, ist des weiteren hinsichtlich des Europäischen Parlaments zu machen; auch die Abgabe von Kompetenzen durch dieses Europäische Organ an andere Institutionen soll nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Dies rechtfertigt sich zum einen aus der Erwägung, daß das Europäische Parlament - trotz dieser Bezeichnung - kein „echtes" Parlament im verfassungsrechtlichen Sinne ist. 1 7 Denn es verfügt weder über echte Rechtssetzungskompetenzen, 18 sondern hat lediglich gewisse Anhörungs- und Mitentscheidungsrechte; 19 noch genießt es die wirkliche Budgethoheit, 20 noch bestellt es die anderen Organe der EG. 2 1 Hinzu kommt, daß sich die Existenz und rechtliche Ausgestaltung dieses Organs und damit auch das Verhältnis der

15 BVerfG, a.a.O. (10 ff.) auch mit Nachweisen seiner früheren Rechtsprechung; BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 20.12.1998, NVwZ-RR 1999, 281. 16 Statt aller Nierhaus, in Sachs, GG, Art. 28, Rz. 6, m. w.N. 17 Das ist wohl allgemeine Meinung, siehe nur Th. Oppermann, EuropaR, Rz. 263; D. Grimm, Der Spiegel 43/1992, 57. 18 Th. Oppermann, a.a.O., Rz. 265 ff. 19 Insbesondere in Art. 192 f., 200 f. EG-Vertrag. 20 Vgl. Th. Oppermann, EuropaR, Rz. 271. 21 Lediglich die Benennung des Kandidaten für den Kommissionspräsidenten durch die Regierungen der Mitgliedstaaten bedarf gemäß Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG-Vertrag der Zustimmung des Parlaments, ebenso dann die endgültige Ernennung der Kommission als ganzes, Art. 214 Abs. 2 Satz 3 EG-Vertrag. Nur gegenüber der (gesamten) Kommission sieht Art. 201 EG-Vertrag auch ein Mißtrauensvotum vor. Bei der Bestellung der Mitglieder des Rechnungshofs hat das Parlament ein Anhörungsrecht, Art. 247 Abs. 3 Satz 1 EG-Vertrag. Hingegen werden die Mitglieder des Rates ausschließlich von den Regierungen der Mitgliedstaaten entsandt, Art. 203 EG-Vertrag, und die Mitglieder der EuGH sowie des Gerichts erster Instanz von den Regierungen „im gegenseitigen Einvernehmen" ernannt, Art. 223 Satz 1 bzw. Art. 225 Abs. 3 Satz 1 EG-Vertrag. Siehe hierzu auch Th. Oppermann, a.a.O., Rz. 273 ff.

32

1. Teil: Einleitung

Bürger zum Europäischen Parlament weitestgehend nach primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht bestimmt. 22 Zwar erfolgt die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments auf der Grundlage von nationalen Wahlgesetzen, in Deutschland aufgrund des Europawahlgesetzes 23 und der Europawahlordnung. 24 Dies liegt aber lediglich daran, daß Art. 7 Abs. 2 des Direktwahlaktes 25 bis auf weiteres das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften ablaufen läßt. Selbst wenn man deshalb für den Wahlakt die Regelungen des Art. 38 Abs. 1 GG für entsprechend anwendbar hält, 2 6 könnten doch wegen der gemeinschaftsrechtlichen Prägung eventuelle, aus dem Grundgesetz für den Deutschen Bundestag hergeleitete Ergebnisse nicht auf das Gesamtverhältnis zwischen Wahlberechtigten und Europaparlament übertragen werden.

ΠΙ. Keine Betrachtung der „quasi-parlamentarischen Organe" sonstiger Internationaler Organisationen Dieser auf das Europäische Parlament bezogene Befund gilt erst recht für die „quasi-parlamentarischen Organe", 27 wie sie verschiedene internationale Organisationen in ihrem Organisationsstatut vorsehen. 28 Mangels Bezugs zu den grundgesetzlichen Grundrechten käme eine Übertragung der hier entwickelten Ergebnisse wohl ohnehin kaum in Betracht.

IV. Keine Betrachtung der „Gemeindeparlamente44 Des weiteren werden im Verlauf dieser Arbeit Kompetenzverlagerungen durch ein „Gemeindeparlament" nicht behandelt. Zwar kämen hier grundsätzlich ebenfalls Fälle faktischer Selbstentmachtung der Gemeindevertre22

Siehe insbesondere Art. 189 ff. EG-Vertrag sowie die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (14. Auflage, AB1.EG 1999 Nr. L 202, S. 1). 23 Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 16. Juni 1978 in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. März 1994 (BGBl. 1994 I, S. 423). 24 Europawahlordnung vom 27.7.1988 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Mai 1994 (BGBl. 1994 I, S. 957). 25 Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung, AB1.EG 1976 Nr. L 278, S. 1. 26 So z.B. Murswiek JZ 1979, 48 (49); zustimmend G. Roth, DVB1. 1998, 214 (217 f.). 27 Begriff nach Seidl-Hohenveldern/Loibl, Int.Org., Rz. 1201 ff. 28 Zu denken wäre hier beispielsweise an die Beratende Versammlung des Europarats (Art. 22 ff. der Satzung des Europarats, BGBl. 1950, S. 263 [267 ff.]) oder an die Parlamentarische Versammlung der WEU (vgl. Art. IX des WEU-Vertrages, BGBl. 1955 II, S. 283 [287]).

2. Kap.: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

33

tung in Betracht, aufgrund geringerer finanzieller Leistungskraft der Kommunen möglicherweise sogar noch eher als beim Bundestag. Jedoch werden die Volksvertretungen in den Gemeinden von der ganz herrschenden Meinung zu Recht nicht als Parlament im staatsrechtlichen Sinne angesehen. Trotz der Formulierung in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, nach der auch in den Kreisen und Gemeinden das Volk eine nach den fünf Wahlrechtsgrundsätzen zu wählende Vertretung haben muß, stellen diese Organe 29 einen Teil der Exekutive dar. 3 0 Denn die Gemeinde ist insgesamt ein Teil der Landesverwaltung. 31 Somit sind die Grundsätze des Parlamentsrechts auf die kommunalen Volksvertretungen nicht übertragbar. 32 Da zudem das Kommunalrecht als Gegenstand der Landesgesetzgebung entsprechend vielgestaltig ist und die oben 33 für die Landesparlamente gemachten Vorbehalte hier ebenfalls gelten, muß eine Analyse der Rechtslage auf kommunaler Ebene im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ausscheiden. V. Keine Betrachtung der Mitgliedervertretung sonstiger Selbstverwaltungskörperschaften Schließlich kann in der hiesigen Arbeit nicht auf die Frage eingegangen werden, inwieweit die dabei gefundenen Ergebnisse auf die Mitgliedervertretungen sonstiger, nicht-kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften 34 übertragen werden können. Derartige Verwaltungsformen gibt es unter anderem in den Bereichen der Sozialversicherung, der berufsbezogenen Kammern - etwa von Handwerkern, Industrie und Handel, Landwirten, medizinischen und rechtsberatenden Berufen - sowie der Universitäten und Rundfunkanstalten. Auch wenn durch die Mitgliedervertretungen demokratische Legitimation vermittelt wird, 3 5 handelt es sich jedoch auch hier um (mittelbare) Verwaltung, so daß die auf den Bundestag als Legislative zugeschnittenen Überlegungen nicht ohne weiteres übertragbar sind. Die Klärung der

29

Die Bezeichnungen sind unterschiedlich: „Rat", „Gemeinderat" (in Bayern auch „Stadtrat" und „Marktgemeinderat", § 30 Abs. 1 bay. GO), „Gemeindevertretung", auf Kreisebene „Kreistag" und in den Stadtstaaten „Bezirksverordnetenversammlung" (Art. 69 ff. Beri. Verf.) sowie „Bezirksversammlung" (§§8 ff. Hmb. BezVG). 30 Frowein, in HdBkommWuP, Bd. 2, S. 84, m.w.N.; Waechter, KommunalR, Rz. 282; Reichert/Gern, KommunalR, M. I. 1.1. 31 Waechter, a.a.O. 32 Frowein, in HdBkommWuP, Bd. 2, S. 86; Waechter, a.a.O., Rz. 284. 33 Oben I. 34 Hierzu etwa Stern, StaatsR I, S. 400 f. 35 Dazu Oebbecke, VerwArch 81 (1990), 349 ff. 3 Soppe

34

1. Teil: Einleitung

damit zusammenhängenden weiterreichenden Fragen kann in dem hier vorhandenen Rahmen ebenfalls nicht geleistet werden.

B. Die Beschränkung der Untersuchung auf Kompetenzverlagerungen Des weiteren wird sich die Arbeit auf die Untersuchung parlamentarischer Kompetenzverlagerungen beschränken. Gemeint sind damit Fälle, in denen der Bundestag ein anderes Organ oder eine andere Institution ermächtigt, an seiner Stelle eine bislang ihm zustehende Kompetenz selbständig wahrzunehmen, mithin eine eigene Entscheidung in der Sache zu treffen. Entscheidendes Kriterium hierfür ist, daß nach der Kompetenzabtretung nunmehr ein anderer die ehemals dem Bundestag zustehende Befugnis ausübt. Im vorliegenden Rahmen können demgegenüber eventuelle Konstellationen nicht behandelt werden, in denen sich der Bundestag auf andere Art und Weise seiner Kompetenzen bzw. eines Teils davon begibt. Dies kann vor allem faktisch dadurch geschehen, daß er eine Entscheidung trifft, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen irreversibel ist und dementsprechend nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Hierdurch können Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die einem nachfolgenden Bundestag 36 auf bestimmten Gebieten keine Entscheidungsmöglichkeit mehr lassen. Diese „normative Kraft des Faktischen" vermag das Parlament in durchaus ähnlicher Weise zu binden, wie es die Abgabe der betreffenden Kompetenz an ein anderes Organ oder eine andere Institution vermöchte. Als Beispiel sei die Entscheidung für bestimmte technische Entwicklungen mit unvorhersehbarer Eigendynamik 37 genannt, welche einen späteren kurzfristigen „Ausstieg" als kaum mehr möglich erscheinen läßt. Etwas anders gelagert, aber ebenfalls hier anzuführen, ist das Problem der ständigen Kreditaufnahmen der öffentlichen Hand. Hieraus kann in absehbarer Zeit eine völlige Überschuldung der öffentlichen Haushalte resultieren, die - in Form der bislang nur für Staaten der sogenannten Dritten Welt konstatierten „Schuldenfalle" 38 - zu einer zumindest starken Einschränkung staatlicher Gestal36

Im Sinne der in einer späteren Wahlperiode bestehenden Zusammensetzung. Konkret: Die Entscheidung für die Nutzung der Kernenergie oder für die Zulässigkeit gentechnischer Forschung (auch) am menschlichen Erbgut. 38 Darunter zu verstehen ist das Phänomen, daß die Pflicht zur Bedienung der Kredite (Tilgung und Zinszahlung, teilweise auch nur letztere) so viel staatliches Kapital bindet, daß der Staat seine Aufgaben nur durch weitere Kreditaufnahmen kurzfristig erfüllen kann, was langfristig dann aber zu noch höheren Tilgungs- und Zinsverpflichtungen führt, welche wiederum noch höhere Kredite zum Bestreiten der laufenden Aufgaben erfordern usw. 37

2. Kap.: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

35

tungsmacht führen könnte. Denn die steil ansteigenden Zinsbelastungen sowie etwaige Tilgungsleistungen binden staatliche Mittel, die dann für andere Projekte nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies geht unmittelbar auch zu Lasten des Parlaments, dessen Budgethoheit 39 durch eine solche, immer stärkere Prädeterminierung staatlicher Einnahmen empfindlich beschnitten werden kann. Eine echte Haushaltspolitik mit verschiedenen realisierbaren Optionen kann dann praktisch ausgeschlossen sein. Zwar lassen sich hier gewisse Parallelen zu der Konstellation einer Kompetenzverlagerung feststellen. Denn in beiden Fällen läge eine Entmachtung bzw. eine Machteinschränkung des Parlaments vor. Bei einer Kompetenzabgabe beruhte diese auf rechtlichen Gründen; bei den irreversiblen Technologie· oder Haushaltsentscheidungen wäre sie faktisch begründet. Noch enger beisammen lägen beide Fallgruppen, falls das Parlament eine Kompetenzabgabe nicht ausdrücklich beschlösse, sondern einen Kompetenzübergriff eines anderen bloß duldete oder gar schlicht seine Arbeit einstellte, mit der Folge, daß ein anderes Organ oder eine andere Institution seine Aufgaben übernähme. Jedoch unterscheiden sich beide Konstellationen in einem wesentlichen Punkt, der eine simple Gleichsetzung verbietet und getrennte Untersuchungen nahelegt: Bei den irreversiblen Entscheidungen entscheidet der Bundestag selbst und letztverbindlich. Das wäre bei den Kompetenzabgaben an andere gerade nicht gegeben. Zudem würden parlamentarische Befugnisse im ersten Fall de facto untergehen, im anderen Fall hingegen delegiert werden. Hier käme es zu einer kompetenziellen Verschiebung im institutionellen Gefüge der Staatsgewalten; die Volksvertretung verlöre ihre Befugnis an einen anderen. Demgemäß kann nur hier das Argument verwendet werden, der Bundestag müsse an seinen Kompetenzen festgehalten werden. Hinzu kommen Abgrenzungsschwierigkeiten, welche Arten von Entscheidungen so schwer zu revidieren sind, daß sie nachfolgende Bundestage in ihrer Entscheidungsfreiheit relevant behindern. Denn letztlich stellt jede Entscheidung in Sach- oder auch Personalfragen eine gewisse Selbstbindung her und hat somit Auswirkungen auf die zukünftige Entscheidungsfreiheit. Die Frage nach der dort notwendigen Abgrenzung zu bloßen Bagatellfällen müßte gesondert analysiert werden. Auch wenn nach alledem durchaus nicht auszuschließen ist, daß in beiden Fallgruppen das subjektive Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG einschlägig sein mag, wird sich die vorliegende Untersuchung deshalb auf den Fall der Kompetenzabgaben beschränken. Die anderen Fallgestaltungen bedürften angesichts der geschilderten Unterschiede einer weiterreichenden Betrachtung, die den hiesigen Rahmen sprengen würde. 39

3*

Dazu unten 2. Teil, 1. Kapitel, C. VI.

36

1. Teil: Einleitung

C. Terminologische Fragen Nach diesen ersten Eingrenzungen der Fragestellung sind nunmehr noch einige (weitere) Begriffe zu klären, die im Verlauf der Arbeit des öfteren verwendet werden. M i t den „Kompetenzen" des Deutschen Bundestags, um deren Verlagerung es hier geht, sind sämtliche Kreations-, Aufsichts-, Leitungs- und Repräsentationskompetenzen gemeint, ohne daß dies zunächst näher aufzuspalten wäre. Lediglich aus sprachlichen Gründen wird dafür im folgenden auch der Begriff der „Befugnis" verwendet. Weiter meint „Verlagerung" der Kompetenzen deren Abgabe im weitesten Sinne, unabhängig von der Frage, wie dieser Vorgang jeweils dogmatisch korrekt zu beschreiben sein mag. Hierunter fallen damit Delegationen, Abtretungen und Ermächtigungen ebenso wie der Vorgang der „Übertragung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, der als der „überaus komplexe Vorgang" der Schaffung einer neuen Hoheitsgewalt eines von den Staaten gesonderten Rechtssubjekts aufgefaßt wird. 4 0 Die im Text ebenfalls benutzten Ausdrücke der „Übertragung", „Abgabe" oder „Abtretung" werden hier - aus rein sprachlichen Gründen - synonym verwendet. Wie bereits oben angedeutet, kann sich die Frage der Verlagerung dieser Kompetenzen ferner sowohl im Binnenraum der Verfassung als auch im zwischen- oder überstaatlichen Bereich stellen. Da die rein innerstaatliche Verlagerung mangels eines Bezugs zur (äußeren) Souveränität 41 andere Schwierigkeiten aufwirft als die Abgabe von Kompetenzen an außerdeutsche Institutionen, ist insoweit eine sprachliche Differenzierung geboten. Im folgenden werden daher Kompetenzverlagerungen im Binnenraum als Abgaben „an andere Organe" bezeichnet. Der Begriff des Organs umfaßt dabei Verfassungsorgane, sonstige oberste Staatsorgane und weitere Staatsorgane. 42 Ebenfalls erfaßt sind die Fälle, in denen Organe der Bundesländer ermächtigt werden. Diese gehören zwar zu einem anderen Rechtsträger, jedoch erfolgt auch hier die Kompetenzverlagerung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, was eine Gleichbehandlung mit der Bevollmächtigung von Bundesorganen nahelegt. Denn Probleme der äußeren Souveränität ergeben sich hier ebenfalls nicht. Kompetenzabgaben mit internationalem oder supranationalem Bezug werden hingegen zusammenfassend Verlagerungen „an andere Institutionen" genannt werden, da es sich bei diesen nicht um bloße andere Organe des deutschen Rechts, sondern um einen anderen Rechtsträger, eine andere Rechtsperson handelt. 43 40 41 42

Stern, StaatsR I, S. 523, m.w.N. Näher dazu unten 5. Teil, 1. Kapitel, C. Zu dieser Terminologie Stern, StaatsR II, S. 42.

3. Kap.: Gang der Untersuchung

37

3. Kapitel

Gang der Untersuchung Der Gang der Untersuchung läßt sich überblicksartig wie folgt zusammenfassen: Zunächst konzentriert sich die Betrachtung auf den dbgmatischen Ausgangspunkt der hiesigen Fragestellung, um etwaige neue Erkenntnisse zum Wahlrecht rechtlich einordnen und bewerten zu können. Hierbei soll einerseits als objektiv-rechtlicher Hintergrund die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht untersucht werden (2. Teil), insbesondere die Frage nach Stellung und Kompetenzen des Parlaments. Andererseits ist der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG zu betrachten (3. Teil), um sich den grundrechtsdogmatisch gesicherten Stand des Wahlrechtsverständnisses zu vergegenwärtigen. Im 4. Teil wird anschließend die bisherige Diskussion über das „subjektive Recht auf Demokratie" nachgezeichnet. Auf diese Weise sollen die bislang unternommenen Versuche einer dogmatischen Herleitung dieses Rechts sowie die hiergegen gerichtete Kritik sichtbar werden. Ausgangspunkt dieser Analyse ist das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, gefolgt von einer Betrachtung der früheren Rechtsprechung und Literatur, ehe dann die rechtswissenschaftliche Rezeption der Maastricht-Entscheidung referiert wird. Im Anschluß folgt eine Darstellung weiterer dogmatischer Ansätze im Schrifttum und in der nachfolgenden Rechtsprechung. Da, wie zu zeigen sein wird, alle bisherigen Konzeptionen durchgreifenden Bedenken ausgesetzt sind, wird im 5. Teil der Arbeit eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem subjektiven Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG versucht. Nach verschiedenen inhaltlichen und terminologischen Vorbemerkungen werden kurz weitere als möglich erscheinende Begründungsansätze für die Erweiterung des wahlrechtlichen Schutzbereichs durchgemustert, ohne daß hieraus weiterführende Ergebnisse abzuleiten wären. Im Anschluß wird deshalb vorgeschlagen, die hier gestellte Frage nicht vom Schutzbereich her zu begreifen, sondern für ihre Lösung vielmehr am Eingriffsbegriff anzusetzen. Dadurch soll die Blickrichtung von der Frage „Was wird alles von Art. 38 Abs. 1 GG geschützt?" umgelenkt werden zu der Prüfung „Wovor ist das Wahlrecht geschützt?". In diesem Rahmen soll gezeigt werden, daß die für den Bereich der Abwehrrechte seit langem anerkannte Figur der indirekten Grundrechtsbeeinträchtigung auf das Wahl43 Allerdings wird bei Bezugnahmen auf konkrete Organe der Europäischen Gemeinschaft, wie z.B. die Kommission, auch hier der übliche Begriff „EG-Organ" benutzt.

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1. Teil: Einleitung

recht als einem Recht des Aktivstatus übertragen werden kann. Hier kann sie dergestalt fruchtbar gemacht werden, daß parlamentarische Kompetenzverlagerungen als eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG begriffen werden können. Im Anschluß an diese grundrechtsdogmatischen Überlegungen soll ein Blick über die Grenzen des Grundgesetzes hinaus geworfen werden (6. Teil). Dabei werden zum einen einige ausländische Rechtsordnungen im Wege der Rechtsvergleichung untersucht; zum anderen bieten sich verschiedene völkerrechtliche Gewährleistungen für eine Betrachtung an. Mit diesem „Kontrollblick" werden die Ausführungen in dieser Arbeit, ob sich ein derartiges Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG herleiten läßt, abgeschlossen. Erforderlich sind jedoch noch Erwägungen über den Inhalt der subjektiv-rechtlichen Gewährleistung, mithin über die Frage, wie diese ausgestaltet ist. Deshalb wird im 7. Teil die Reichweite des subjektiven Rechts untersucht. Hier ergibt sich, daß - entsprechend der Dogmatik von den indirekten Grundrechtseingriffen - maßgeblich auf das Kriterium der Beeinträchtigungsintensität abzustellen ist. Kurz wird schließlich die Frage angesprochen, ob - vor dem Hintergrund des allgemeinen Schemas „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung" - etwaige faktische Eingriffe in das Wahlrecht einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sind (8. Teil), bevor im 9. Teil noch auf die prozessuale Durchsetzung des hier herausgearbeiteten subjektiven Rechts näher einzugehen ist. Im abschließenden 10. Teil werden die Ergebnisse der Arbeit schließlich in Thesenform zusammengefaßt.

2. T e i l

Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht Vorbemerkung Vor einer Betrachtung, inwieweit eine vom Wahlrecht vermittelte subjektive Berechtigung an der Kompetenzausstattung des Bundestags bestehen kann, ist in einem ersten Kapitel zunächst einmal der ungefähre objektivrechtliche Umfang dieser Kompetenzen zu klären, um eine grobe Vorstellung davon zu gewinnen, welche Rechts- und Politikbereiche durch eine Kompetenzverlagerung überhaupt betroffen sein könnten. Dann ist in einem zweiten Kapitel der Frage nachzugehen, inwieweit der Bundestag nach objektivem Recht zur Wahrnehmung seiner Aufgaben verpflichtet und an einer Abgabe von Kompetenzen gehindert ist. Dabei soll zum einen gezeigt werden, daß, jedenfalls in gewissen Grenzen, der Bundestag verpflichtet ist, die ihm übertragenen Aufgaben tatsächlich wahrzunehmen, und daß zumindest eine „Entleerung" seiner Befugnisse (auch) gegen objektives Verfassungsrecht verstieße. Zum anderen liegt dem die Erwägung zugrunde, daß ein eventuelles subjektives Recht des Wahlberechtigten nicht weiter reichen kann als die objektive Pflicht des Bundestags. Sofern also objektiv-rechtlich eine Kompetenzverlagerung in bestimmten Bereichen oder in gewissem Umfang zulässig ist, könnte der Einzelne diese von Anfang an nicht unter Berufung auf ein subjektives Recht angreifen. Durch diese Betrachtung kann damit bereits eine erste, wenn auch noch recht ungenaue und lediglich näherungsweise, äußerste Eingrenzung der hier in Betracht kommenden Auslegung des subjektiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG vorgenommen werden. 7. Kapitel

Die Kompetenzen des Bundestags A. Der Bundestag als Volksvertretung Im grundgesetzlichen System der repräsentativen Demokratie, in der direkt-demokratische Elemente nur schwach ausgeprägt sind, stellt der Bundestag das unmittelbar gewählte Parlament dar. Dieses dient der Volksver-

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

tretung, der Repräsentation des Staatsvolks bei der Wahrnehmung der Staatsleitung. Somit ist der Bundestag in erster Linie das aus den nach den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewählten Abgeordneten bestehende, gesetzgebende Organ. Jedoch beschränken sich seine Befugnisse nicht auf die Gesetzgebung im eigentlichen Sinne, vielmehr hat der Bundestag auch weiterreichende Aufgaben, so daß er zusammenfassend auch bezeichnet wird als „das Staatsorgan, in dem die ausschlaggebenden Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten politischer Herrschaft vereinigt sind". 1 Bei Wahrnehmung dieser Aufgaben handelt er aus eigenem Recht; die Entscheidungen, die er dabei trifft, werden dem Volk - wie bei allen Staatsorganen - rechtlich und politisch zugerechnet. 2 Der Wille des Parlaments gilt als (hypothetischer) Volkswille; 3 rechtlich unerheblich ist, ob der Wille des Bundestags von dem vermeintlichen oder tatsächlich feststellbaren Willen des Volks abweicht. 4 Nach alledem stellt der Bundestag die Institution dar, die dem Staatsvolk die Einflußnahme auf die Staatsleitung im besonderen und auf die Durchführung der öffentlichen Angelegenheiten im allgemeinen sichern soll. Damit diese Vertretung des Volks auch möglichst genau dessen Willen entspricht, bedarf es eines stark formalisierten Wahlrechts, 5 das im Bundeswahlgesetz näher festgeschrieben ist. Ferner ist eine ständige Rückbindung des Parlaments an die von den Staatsbürgern ausgehende öffentliche Meinung erforderlich, 6 mit der die Formung des Staatswillens „von unten nach oben" erreicht werden soll.

B. Die Stellung des Bundestags im Yerfassungsgefiige In der gewaltenteilenden Demokratie sind dem Bundestag freilich nicht alle Kompetenzen der Staatsleitung anvertraut. Vielmehr steht er neben den anderen Verfassungsorganen Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht; 7 zudem existieren weitere Staatsorgane, wie etwa der Bundesrechnungshof, und sonstige Organe, die durch einfachgesetzliche Regelungen eingerichtet wurden. Auch wenn im Vergleich mit 1

Badura, in HdBStR I, § 23, Rz. 5. Vgl. H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 1. 3 Stern, StaatsR II, S. 39, unter Verweis auf Hatschek und Leibholz. 4 Vgl. Magiern, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 9. 5 Vgl. Meyer, in HdBStR II, § 37, Rz. 22. 6 Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 10. 7 So Magiera, Parlament, S. 95. Stern, StaatsR II, S. 35, zählt zu den Verfassungsorganen auch noch den Gemeinsamen Ausschuß und die Bundesversammlung, wie sich aus den Kapitelüberschriften in dem mit „Die Verfassungsorgane" überschriebenen „2. Abschnitt" seines Buches ergibt. Beide Organe sind für die hier untersuchte Fragestellung jedoch nicht weiter relevant. 2

1. Kap.: Die Kompetenzen des Bundestags

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diesen der Bundestag als einziges Organ unmittelbar demokratisch legitimiert ist und insofern ein „Vertretungsmonopol" innehat, 8 folgt hieraus doch keine Vorrangstellung des Parlaments gegenüber den anderen staatlichen Einrichtungen. Von daher kann weder von einer Rangordnung der Verfassungsorgane mit dem Bundestag an deren Spitze die Rede sein, noch besteht eine Kompetenzvermutung zugunsten des Bundestags,9 wie es etwa im Kommunalrecht für Zweifelsfälle teilweise die Zuständigkeitsvermutung zugunsten der gemeindlichen Volksvertretung gibt. 1 0 Aus diesem Grunde gibt es auch keine Organsouveränität oder „Parlamentssuprematie" des Bundestags, die es diesem erlauben würde, die grundgesetzliche Aufgabenverteilung im System der „checks-and-balances" willkürlich zu ändern. 11 Vielmehr ist das Parlament an seinen Platz im Gewaltenteilungsgefüge gebunden und muß die Kompetenzen der anderen Organe beachten. Dennoch obliegen ihm weitreichende Aufgaben.

C. Die Aufgaben des Bundestags im Verfassungsgefüge Die oben noch recht allgemein benannten Aufgaben des Parlaments werden im verfassungsrechtlichen Schrifttum im Anschluß an Walter Bagehot des öfteren den folgenden parlamentarischen Funktionsbereichen zugeordnet: 12 (I.) elective, (II.) expressive, (III.) teaching, (IV.) informing und (V.) function of legislation. 13 Stern fügt dem eine „financial function" hinzu, 1 4 die man mit „Haushalts-" oder „Budgetfunktion" (VI.) übersetzen könnte. I. Die Wahlfunktion Aufgrund der Wahlfunktion, auch als Kreationsfunktion bezeichnet, obliegt dem Bundestag, neben der Bestellung seiner eigenen Organe und Hilfsorgane, 15 die Beteiligung an der Kreation der anderen obersten Bundesorgane, denen er dadurch demokratische Legitimation vermittelt. Mit 8

K-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 5. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 8.8.1978, BVerfGE 49, 89 (125); zustimmend H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 2. 10 Siehe etwa § 41 Abs. 1 Satz 1 NRW-GO; §§ 29, 30 Abs. 2 bay .GO. 11 Vgl. Magiern, Parlament, S. 169 f. 12 Zitat nach Stern, StaatsR II, S. 47. 13 Bei H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 9 übersetzt mit: Wahlfunktion, Willensbildungsfunktion, Kontrollfunktion, Öffentlichkeitsfunktion und Gesetzgebungsfunktion. 14 Stern, StaatsR II, S. 47. 15 Hierzu H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 24. 9

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

Ausnahme der Ernennung der Mitglieder des Bundesrats, die von den Landesregierungen entsandt werden, ist der Bundestag auf diese Weise bei der Bestellung aller anderen Verfassungsorgane zumindest mitbeteiligt: Gemäß Art. 63 GG hat er den Bundeskanzler zu wählen; gemäß Art. 94 Abs. 1 GG wählt der Bundestag - durch den nach § 6 BVerfGG gebildeten Wahlausschuß - die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, und gemäß Art. 54 Abs. 3 GG stellen die Bundestagsabgeordneten kraft Amtes die Hälfte der Mitglieder der Bundesversammlung, die nach Art. 54 Abs. 1 Satz 1 GG den Bundespräsidenten wählt. Zwar gibt es keinen unmittelbaren Einfluß des Bundestags auf die Bestellung der Bundesminister, da diese gemäß Art. 64 Abs. 1 GG auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt werden. Jedoch besitzt das Parlament insoweit vielfältige mittelbare Einflußmöglichkeiten, vor allem politischer Art, von denen der Sturz der gesamten Regierung durch ein konstruktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG nur die ultima ratio darstellt. 16 Darüber hinaus ist der Bundestag auch bei der Bestellung der Mitglieder anderer Staatsorgane beteiligt, so etwa bei der Wahl der Richter der Bundesgerichte (Art. 95 Abs. 2 GG). Ferner entsendet er auch Mitglieder in internationale Organe, 17 zum Beispiel in die parlamentarische Versammlung des Europarats, sowie in bestimmte Verwaltungs- und Rundfunkräte. 18 Auf diese Weise dient die Wahlfunktion, neben der Sicherung politischen Einflusses auf die zuletzt genannten Gremien, vor allem der Vermittlung demokratischer Legitimation durch Schaffung einer personellen demokratischen Legitimationskette vom unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament zu den anderen Organen.

Π. Die Willensbildungsfunktion Eine der ursprünglichen Parlamentsaufgaben ist des weiteren die Mitwirkung an der Ausformung des staatlichen Willens. In diesem Sinne soll das Parlament Forum des Staats sein, in dem die öffentlichen Angelegenheiten erörtert werden und wo aus den verschiedenen gesellschaftlich vertretenen Ansätzen eine staatliche Politik herausdestilliert wird. In der parlamentarischen Praxis übt der Bundestag als solcher diese Aufgabe freilich nurmehr in einem recht geringen Maße aus, 19 was sich etwa darin äußert, daß immer weniger Gesetze kontrovers verabschiedet werden und auch ein Rückgang der „reinen" Entschließungsanträge ohne Gesetzesentwurf sowie der na16

Näher zu den indirekten Einflußmöglichkeiten des Parlaments hinsichtlich der Ministerauswahl H. H. Klein, a.a.O., Rz. 25. 17 Ausführlich hierzu Schweitzer, in Schneider/Zeh, ParlamentsR, § 61. 18 Ausführlich Dach, in Schneider/Zeh, ParlamentsR, § 62. 19 Näher H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 11, auch zum folgenden.

1. Kap.: Die Kompetenzen des Bundestags

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mentlichen Abstimmungen zu verzeichnen ist. Auf diese Weise gewinnt die Bundesregierung mehr Gewicht in Fragen der politischen Willensbildung, ohne daß damit allerdings die verfassungsrechtlich dem Bundestag zugeordnete Willensbildungsfunktion entfiele.

III. Die Kontrollfunktion Eng mit der Willensbildungsfunktion hängt die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung - und damit zugleich gegenüber der (Ministerial-) Verwaltung - zusammen. Sie ist Ausfluß der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. 20 Anders als die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich die Kontrolle durch den Bundestag nicht auf eine reine Rechtsaufsicht, sondern erfaßt auch Erwägungen der Zweckmäßigkeit und insbesondere der politischen Zielsetzung. Vor allem aber handelt es sich bei der parlamentarischen Kontrolle nicht um eine bloß nachträglich einsetzende Überprüfung, sondern - entsprechend dem englischen Wort „control" 2 1 - um eine laufende Beeinflussung aktueller Prozesse durch parlamentarische Willensäußerungen, 22 mithin um eine dirigierende Kontrolle auch im Vorfeld von Exekutiventscheidungen.

IV. Die Öffentlichkeitsfunktion Um die Willensbildung im Staat „von unten nach oben" zu ermöglichen, muß der parlamentarische Prozeß öffentlich sein. Dementsprechend verhandelt der Bundestag grundsätzlich öffentlich, Art. 42 Abs. 1 GG, was in der Regel auch eine öffentliche Abstimmung verlangt. 23 Denn nur so kann der Bürger den Prozeß der staatlichen Willensbildung verfolgen und zum Beispiel sein Wahlverhalten danach ausrichten. Zu dieser Funktion der Öffentlichkeit wird auch der Bereich der Repräsentation des Volks zu zählen sein, das heißt der Bereich der Selbstdarstellung des Volks, zum Beispiel durch Feierstunden bei Gedenktagen oder ähnlichem. 24

20 21 22 23 24

Stern, StaatsR I, S. 988. Hierauf weist Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 44, in dortiger FN 115, hin. Vgl. H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 30. H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 39. Vgl. Stern, StaatsR I, S. 1006.

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

V. Die Gesetzgebungsfunktion Eine der wichtigsten parlamentarischen Funktionen ist die der Gesetzgebung. Durch diese wird die rechtliche Ordnung in der Bundesrepublik wesentlich gestaltet. Zudem dient die Gesetzgebung in besonderem Maße der Durchsetzung politischer Zielvorstellungen; 25 so wird der Wille der - im Rahmen des Wahlrechts ja nicht zur Sachentscheidung, sondern ausschließlich zur Abstimmung über (Parteien und) Personen und deren politisches Programm berufenen - Staatsbürger umgesetzt. Da auf diese Weise ein erhöhtes Maß an inhaltlicher demokratischer Legitimation gewährleistet ist, sind bestimmte Regelungen einer direkten parlamentarischen Entscheidung unterworfen. Ausdrücklich ist dies zum Teil im Grundgesetz geregelt, so etwa für die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, insbesondere zum Friedensschluß, Art. 1151 Abs. 3 GG, oder auch für die Entscheidung über die Stärke und grundlegende Organisation der Bundeswehr, Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG. Darüber hinaus wird bekanntlich von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip abgeleitet, daß für bestimmte „wesentliche" Entscheidungen, d.h. solche von besonderer Tragweite für die staatliche Gemeinschaft oder die Grundrechtsausübung des Einzelnen, ein förmliches Gesetz des Bundestags erforderlich ist. 2 6 In diesen Fällen ist auch über den Bereich des Art. 80 GG hinaus und trotz der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive 27 eine Delegation der Entscheidung an die Verwaltung nicht zulässig.

VI. Die Budgetfunktion In der politischen Praxis von grundlegender Bedeutung, und darum auch in der früheren historischen Auseinandersetzung mit der monarchischen Regierung lange umstritten, ist schließlich die Budgethoheit des Parlaments, d.h. dessen Befugnis, über die Staatsfinanzen und deren Verteilung zu entscheiden. 28 Auch wenn man dies formal aufgrund der parlamentarischen Beschlußfassung über den Haushaltsplan als Haushaltsgesetz29 der Gesetzgebungsfunktion zurechnen könnte, so spielt die Budgethoheit doch eine dar25

H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 17. Siehe etwa BVerfG, Beschluß vom 28.10.1975, BVerfGE 40, 237 (248 ff.), und öfter. 27 Dazu oben III. 28 Auch wenn laut H.-P. Schneider, NJW 1999, 1303, das Parlament in praxi lediglich über 5 % der Haushaltsmittel frei verfügen kann, da der Rest durch gesetzlich festliegende Verpflichtungen nicht disponibel ist. 29 Vgl. Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG. 26

2. Kap.: Die Pflicht des Bundestags zur Aufgabenwahrnehmung

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über hinausgehende Rolle. Denn sie greift durch die Bereitstellung oder Versagung finanzieller Mittel in besonderem Maße in die politische Gestaltung ein und ist deshalb auch im Grundgesetz in dem von der übrigen Gesetzgebung abgesetzten „X. Abschnitt: Das Finanzwesen" gesondert geregelt. 2. Kapitel

Die Pflicht des Bundestags zur Aufgabenwahrnehmung Fraglich ist allerdings, ob die gerade dargestellten Kompetenzen nur Befugnisse 30 des Bundestags darstellen, von denen dieser nach Belieben Gebrauch machen oder das auch unterlassen könnte, oder ob es sich um Aufgabenzuweisungen handelt, zu deren Wahrnehmung das Parlament als Adressat nach allgemeinen Grundsätzen verpflichtet wäre. Denn in der Regel stellen Kompetenznormen objektiv-rechtliche Aufgabenzuweisungen dar, die ihren Adressaten zur Wahrnehmung verpflichten. 31 Fraglich ist, ob dieser Grundsatz auch für den Bundestag gilt, ob, mit anderen Worten, eine objektiv-rechtliche Pflicht des Bundestags zur Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben besteht. Einer derartigen, im Grundsatz für alle staatlichen Organe bestehenden Pflicht könnte sich das Parlament auf zweierlei Arten entziehen: Zum einen könnte es sich schlicht weigern, seine Kompetenzen wahrzunehmen, und zum anderen könnte es seine Kompetenzen - gegebenenfalls sogar unwiderruflich - auf andere Organe übertragen. Beide Konstellationen sind im folgenden näher zu betrachten. Auch wenn die hier zu untersuchende Fragestellung insoweit eine Beschränkung auf die Fallgruppe der Übertragung von Kompetenzen auf andere nahezulegen scheint, soll auch die Konstellation einer bloßen Nichtausübung der parlamentarischen Kompetenzen analysiert werden. Denn wie zu zeigen sein wird, kann ein derartiger Rückzug des Bundestags aus einem Aufgabenbereich zumindest de facto die Stellung eines anderen Organs stärken, welches in die dann entstehende Lücke vorstoßen kann. Das ist insbesondere der Fall, wenn Kompetenzen vom Bundestag mit einem anderen Organ zusammen ausgeübt werden sollen. Dann könnte durch einen Rückzug des Bundestags das andere Organ die erforderlichen Entscheidungen praktisch allein treffen.

30 Der im Schrifttum an dieser Stelle des öfteren verwendete Ausdruck „Rechte" ist dogmatisch hier nicht zutreffend, da es sich lediglich um Kompetenzen des Bundestags als Organ der Bundesrepublik Deutschland, die gegenüber anderen Organen (Bundesregierung usw.) innerhalb der gleichen Rechtsperson bestehen, handelt, nicht aber um Außenrechte. 31 Stern, StaatsR II, S. 235, m.w.N.; ebenso Häußler, Konflikt, S. 236.

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

A. Befugnis zur Nichtausübung der Kompetenzen? Eine Ausnahme von dem oben genannten Grundsatz einer Pflicht zur Kompetenzausübung könnte sich aus der besonderen Stellung des Bundestags als Verfassungsorgan ergeben, das niemandem unterworfen ist und auch inhaltlich über einen weiten politischen Einschätzungsspielraum verfügt. Man könnte argumentieren, daß der Bundestag, als Teil seiner politischen Lenkungsaufgabe, frei darüber entscheiden können müsse, ob er eine Aufgabe wahrnehme oder nicht. In Analogie zu dem aus der Grundrechtslehre geläufigen Schlagwort „Grundrechtsverzicht ist Grundrechtsausübung" 3 2 wäre vorliegend dann die Formulierung denkbar: „Kompetenzverzicht ist Kompetenzausübung". Andererseits hätte der Bundestag durch ein derartiges Verhalten unter Umständen die Möglichkeit, nicht nur politische Lenkungsentscheidungen zu treffen, sondern auch bestimmte, vom Grundgesetz vorgesehene Verfahren zu blockieren und auf diese Weise - sozusagen über den Umweg der Verfahrensgestaltung - andere Verfassungsorgane, welche ihrerseits - wie dargelegt 33 - dem Parlament nicht untergeordnet sind, in ihrer Arbeit zu behindern. Angesichts dieser gegenläufigen Grundsätze politischer Gestaltungsmacht und organisatorischer Bindung ist eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Parlamentsfunktionen erforderlich. I. Die Wahlfunktion Die Wahlfunktion dient, wie oben dargelegt, in erster Linie der Vermittlung demokratischer Legitimation durch Herstellung einer demokratischen Legitimationskette. Damit soll die Besetzung der anderen staatlichen Organe gewährleistet werden, die für die Person des Organwalters vom Bundestag (mit-) verantwortet sein soll. Dieser Zweck spricht für eine Pflicht des Bundestags zur Wahrnehmung seiner Wahlfunktion. Denn anderenfalls könnte er die Funktionsfähigkeit der anderen Organe empfindlich beeinträchtigen oder gar verhindern. So könnte er durch die Weigerung, gemäß Art. 63 GG einen Bundeskanzler zu wählen, nicht nur dessen Ernennung verhindern. Dadurch würde mittelbar zugleich die Bildung der gesamten Regierung unmöglich, da die Minister laut Art. 64 Abs. 1 GG nur auf Vorschlag des - dann nicht vorhandenen Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt werden können. Auf die 32

Zu dieser Problematik etwa v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19, Rz. 62 f. 33 Oben 1. Kapitel, B.

2. Kap.: Die Pflicht des Bundestags zur A u f g a b e n w a h r n e h m u n g 4 7 gleiche Weise könnte der Bundestag die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts blockieren, indem er die gemäß Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG von ihm zu bestimmenden Richter nicht wählt. 3 4 Vergleichbares gilt für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Art. 95 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 12 f. Richterwahlgesetz. 35 Selbst die Wahl des Bundespräsidenten könnte ein sich verweigernder Bundestag - genauer: könnten die sich kollektiv verweigernden Bundestagsabgeordneten - wohl verhindern. Denn die Bundesversammlung bestünde dann ausschließlich aus derjenigen Hälfte ihrer Mitglieder, die von den Landtagen in sie entsandt werden. 36 Damit dürfte die Versammlung bereits nicht beschlußfähig sein. 37 Zudem hat der dann unterstelltermaßen ebenfalls fehlende - Bundestagspräsident die Aufgabe der Einberufung und Leitung der Bundesversammlung. 38 Schließlich wäre rein rechnerisch ein erster Wahlgang nach Art. 54 Abs. 6 Satz 1 GG nicht vorstellbar, da eine (absolute) „Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung" nicht möglich wäre, wenn die Hälfte der Delegierten nicht teilnähme. Deshalb ist der Bundestag zur Wahrnehmung seiner Wahlfunktionen verpflichtet, 39 um die Kreation der übrigen Staatsorgane zu ermöglichen.

Π. Die Willensbildungsfunktion Etwas anders ist die Situation bei der Willensbildungsfunktion. Sofern der Bundestag hier seine Kompetenzen nicht ausübte, wäre kein anderes Organ blockiert. Stattdessen gewönne die Bundesregierung an politischem Einfluß bei der staatlichen Willensbildung. Auch wenn dies unter dem Aspekt der Gewaltenteilung und -verschränkung nicht unproblematisch ist, so ist doch nicht zu übersehen, daß eine derartige Konstellation auch dadurch entstehen kann, daß ein seine Kompetenzen wahrnehmender Bundestag mit der Regierungsarbeit vollen Umfangs übereinstimmt; auch dann käme es kaum zu einer gesonderten Willensbildung des Parlaments. 40 Hier wäre auch kaum einzusehen, warum das Parlament gesondert die Initiative ergreifen sollte. 34 Für eine Pflicht des Bundestags zur Wahl der Bundesverfassungsrichter daher ausdrücklich Häußler, Konflikt, S. 236, m.w.N. 35 Vgl. Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 95, Rz. 63. 36 Siehe Art. 54 Abs. 3 GG. 37 Das ergibt sich aus Art. 54 Abs. 3 GG i. V. m. § 8 Satz 2 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung i.V.m. § 45 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags: Beschlußfähigkeit bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder. 38 Zur Einberufung siehe Art. 54 Abs. 4 Satz 2 GG; zur Leitung vgl. § 8 Satz 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. 39 Für den Sonderfall der zweiten Wahlphase der Kanzlerwahl nach Art. 63 Abs. 3 GG ebenso H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 63, Rz. 7.

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich allerdings dann, wenn der Bundestag der Regierung für die Willensbildung quasi einen „Freibrief 4 dergestalt ausstellen würde, daß er seine Kompetenzen auch in Zukunft nicht ausüben werde. Denn das käme einer Generalermächtigung an die Regierung gleich, den staatlichen Willen in Zukunft in alleiniger Verantwortung zu bilden. Eine solche Generalermächtigung an ein anderes Organ, originäre Befugnisse des Bundestags auszuüben, wäre aber, wie unten näher dargelegt werden wird, 4 1 rechtswidrig.

ΠΙ. Die Kontrollfunktion Vergleichbares gilt für die parlamentarische Kontrollfunktion. Auch insoweit spricht nichts dagegen, daß das Parlament auf die Beeinflussung der exekutiven Tätigkeit verzichtet, wenn es sich mit Regierung und Verwaltung bezüglich der Vorgehensweise politisch einig ist. Bedenken bestehen jedoch auch hier, wenn der Bundestag sich von der Kontrolle der Exekutive vollständig zurückzöge, da er damit der Zweiten Gewalt völlig freie Hand ließe, was zu einer Verschiebung der grundgesetzlichen Kompetenzen von dem Parlament auf die Exekutive führen würde. Das System der „checksand-balances" liefe dann leer. Auch die Vernachlässigung der Kontrollfunktion wäre daher unzulässig.

IV. Die Öffentlichkeitsfunktion Da die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments kein „Parlamentsprivileg [ist], sondern ein objektiver, zwingender Satz des Verfassungsrechts", 42 darf der Bundestag hierauf nicht ohne weiteres verzichten. Denn diese Funktion dient der Unterrichtung der Wahlberechtigten über den Prozeß der Entscheidungsfindung im parlamentarischen Verfahren und schafft so erst die Grundlage für die Wahlentscheidung. Deshalb sieht Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG für die Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit von den parlamentarischen Sitzungen auch ein geregeltes Verfahren und das strenge Quorum der Zweidrittelmehrheit vor.

40 Zur bereits in diese Richtung tendierenden Staatspraxis in der Bundesrepublik siehe oben 1. Kapitel, C. II. 41 Unten B. 42 So Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 42, Rz. 1, zum Grundsatz der Öffentlichkeit der Bundestagssitzungen nach Art. 42 Abs. 1 GG.

2. Kap.: Die Pflicht des Bundestags zur A u f g a b e n w a h r n e h m u n g 4 9

V. Die Gesetzgebungsfunktion Eine differenzierte Betrachtung ist bei der Gesetzgebungsfunktion erforderlich. Aufgrund seiner inhaltlichen Entscheidungsprärogative steht es dem Bundestag ohne weiteres frei, Gesetzesinitiativen der Bundesregierung gemäß Art. 76 Abs. 2 GG oder des Bundesrats gemäß Art. 76 Abs. 3 GG nicht anzunehmen. Insoweit ist allerdings ein ablehnender Beschluß erforderlich. Ein solcher wäre stets zulässig. Nicht zulässig ist es hingegen, gar nicht über den Gesetzesentwurf zu beschließen, sondern ihn einfach zu ignorieren. Denn eine derartige reine Untätigkeit des Bundestags würde das Gesetzgebungsverfahren nach den Art. 76 ff. GG lahmlegen und den Erlaß gesetzlicher Regelungen schlechthin verhindern. Damit aber würde jede Möglichkeit der Staatslenkung durch Gesetze unmöglich gemacht, ohne daß der Bundestag hierfür durch Ablehnung der entsprechenden Gesetzesentwürfe ausdrücklich die politische Verantwortung übernähme. Etwaige, von Bundesregierung oder Bundesrat eingeleitete Gesetzesinitiativen verliefen schlichtweg im Sande. Dementsprechend formuliert § 86 Satz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags, durchaus im Sinne einer Handlungsaufforderung: „Nach Schluß der dritten Beratung wird über den Gesetzentwurf abgestimmt." Noch deutlicher heißt es in dem 1994 neu eingefügten 43 Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG für Gesetzesvorlagen des Bundesrats: „Der Bundestag hat über die Vorlagen in angemessener Frist zu beraten und Beschluß zu fassen." Die darin statuierte Pflicht zur inhaltlichen Befassung mit der Vorlage gilt für alle Gesetzesvorlagen. 44 Zusammenfassend könnte man deshalb zur Gesetzgebungsfunktion formulieren, daß der Bundestag in seiner Beschlußfassung über Gesetzesentwürfe insoweit frei ist, als es um das „Wie" der Entschließung geht, nicht aber hinsichtlich des „Ob" der Entscheidung. Mit anderen Worten: Der Bundestag ist zu einer Beschlußfassung als solcher verpflichtet. Wie diese inhaltlich ausfällt, steht allerdings in seinem politischen Ermessen. 45

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Durch die Grundgesetznovelle vom 27.10.1994, BGBl. 1994 I, S. 3146 (3147). Vgl. in diesem Sinne auch BK - Schmidt-Jortzig/Schürmann, Art. 76, Rz. 76 ff. 45 Ebenso BK - Schmidt-Jortzig/Schürmann, a.a.O., Rz. 78 sowie Rz. 418 (für Bundesrats vorlagen). 44

4 Soppe

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

VI. Die Budgetfunktion Wegen der formalen Nähe der Budgetfunktion zur Gesetzgebungsfunktion 4 6 gelten hier die gleichen Grundsätze wie bei der Gesetzgebungsaufgabe des Bundestags. Aufgrund der grundlegenden Bedeutung des Haushaltsplans für das Handeln aller Staatsorgane ist das Parlament zur Haushaltsgesetzgebung verpflichtet; 47 hinsichtlich des „Ob" ist ihm keine Handlungsfreiheit eingeräumt, sondern nur hinsichtlich des „ W i e " . 4 8

VII. Ergebnis zur Nichtausübung der Kompetenzen Zusammenfassend bleibt damit festzustellen, daß der Bundestag verpflichtet ist, seine Kompetenzen auch auszuüben. Es ist ihm objektiv-rechtlich nicht gestattet, seine Aufgaben schlicht nicht wahrzunehmen.

B. Befugnis zur Delegation der Kompetenzen? Insbesondere aus der Kreationsfunktion könnte aber die Befugnis des Bundestags folgen, andere Organe zu schaffen und mit Kompetenzen auszustatten, die statt seiner entsprechende Aufgaben(-teile) wahrnehmen, sei es unter seiner Kontrolle, sei es in eigener Verantwortung.

I. Grundsatz Im Grundsatz ist es dem Bundestag jedoch untersagt, zugunsten eines anderen Organs auf seine ihm nach dem Grundgesetz zustehenden Kompetenzen zu verzichten. 49 Das ergibt sich zum einen daraus, daß der Bundestag keine Organsouveränität besitzt, 50 kraft derer er die Kompetenzordnung des Grundgesetzes nach seinen Vorstellungen verändern könnte, 51 zum Beispiel durch Zuweisung von Aufgaben an andere Organe.

46

Siehe oben 1. Kapitel, C. VI. Vgl. BVerfG, Urteil vom 25.5.1977, BVerfGE 45, 1 (33): „verfassungsrechtliche [...] Verpflichtung aller beteiligten Verfassungsorgane, daran mitzuwirken, daß der Haushaltsplan regelmäßig vor Ablauf des vorherigen Rechnungsjahres verabschiedet werden kann". 48 So ausdrücklich Stern, StaatsR II, S. 1216. 49 So bereits BVerfG, Urteil vom 29.7.1952, BVerfGE 1, 372 (379); ebenso etwa Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 38, Rz. 3. 50 H. H. Klein, in HdBStR II, § 40, Rz. 2, m.w.N.; BK-Badura, Art. 38, Rz. 13. 47

2. Kap.: Die Pflicht des Bundestags zur Aufgabenwahrnehmung

51

Zum anderen folgt dies aus dem demokratischen Prinzip: „Das Parlament ist das einzig unmittelbar volksgewählte Organ im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes. Dies bedingt, um dem Prinzip der Legitimation der Herrschaft durch das Volk zu genügen, daß die Volksvertretung substantielle Aufgaben der Staatsßhrung muß wahrnehmen können. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend betont, daß sich das Parlament seiner Aufgaben nicht,beliebig* entäußern darf." 52 Aus diesem Grund hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner bekannten „Wesentlichkeitsrechtsprechung" insbesondere für den Bereich der Gesetzgebungsfunktion ausgeführt, daß in besonders wichtigen Themenbereichen das Parlament selbst zur Regelung der damit zusammenhängenden Fragen berufen ist: „Der Gesetzgeber darf seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen. [...] Vielmehr ist in einem Staatswesen, in dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübt, vor allem dieses Parlament dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden. Der Staat erfüllt hier durch seine gesetzgebende Gewalt die Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen zu sein."53 „Auch außerhalb des Bereichs des Art. 80 GG [...] hat der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten..." 4 Zu beachten ist allerdings, daß es keine Abgabe von parlamentarischen Befugnissen darstellt, wenn statt des Bundestagsplenums ein von diesem gewählter Ausschuß entscheidet. Demgemäß stellt es beispielsweise keine Beeinträchtigung der parlamentarischen Kreationskompetenz dar, wenn der gemäß Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG vom Bundestag zu wählende Teil der Richter des Bundesverfassungsgerichts nach § 6 BVerfGG in indirekter Wahl durch einen Bundestagsausschuß statt durch das Plenum bestimmt wird. 5 5 Denn die Beschlüsse des Ausschusses sind staatsorganisationsrechtlich Beschlüsse des Bundestags. 56 Aus diesem Grund ist auch die in Art. 45 Satz 2 GG vorgesehene Ermächtigung des Bundestagsausschusses für EUAngelegenheiten keine Ausnahme von dem hier dargestellten Grundsatz. 51 Vgl. Magiera, Parlament, S. 169 f.: „Als Verfassungsordnung [...] kennt das Grundgesetz nach alledem kein „souveränes" oder „höchstes" Staatsorgan, dem [...] letztlich die Verfassungsordnung zur Disposition steht." 52 Stern, StaatsR I, S. 609; Hervorhebung im Original. 53 BVerfG, Beschluß vom 9.5.1972, BVerfG 33, 125 (158 f.). 54 BVerfG, Beschluß vom 28.10.1975, BVerfGE 40, 237 (248). 55 Das sieht auch Majer so (in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 6, Rz. 39), der allerdings entgegen der von ihm a.a.O., Rz. 37, dortige FN 49, referierten überwiegenden Ansicht § 6 BVerfGG aus anderen Gründen für verfassungswidrig hält. 56 Majer, a.a.O., Rz. 39.

4*

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2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht I I . Ausnahmen

Aus dem gerade Ausgeführten folgt, daß eine Delegation der Kompetenzen nur in recht eng umschriebenen Ausnahmen (objektiv-rechtlich) zulässig sein kann. Diese Ausnahmen sollen im folgenden kurz beleuchtet werden. 57 1. Die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen,

Art. 80 GG

Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG gestattet dem Bundestag, durch Gesetz die Bundesregierung, einen Bundesminister oder die Landesregierungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen zu ermächtigen. Hierdurch wird naturgemäß die Gesetzgebungsfunktion des Bundestags berührt, da der die Staatslenkung betreffende Erlaß von Rechtsnormen im Umfang der Ermächtigung nicht mehr dem Bundestag obliegt. Da bei einer von der Exekutive ausgehenden Rechtsverordnung dann aber auch die parlamentarische Diskussion entfällt, die bei Erlaß der Verordnungsermächtigung kaum in gleicher Intensität vorweggenommen werden wird, sind zugleich auch die Willensbildungsfunktion sowie die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments betroffen. Diese Befugnis zur Rechtssetzungsdelegation unterliegt deshalb einigen Bindungen. 58 Auf formaler Ebene ist zunächst Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG mit der darin enthaltenen „Schrankentrias" zu beachten: Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetz bestimmt werden. 59 Zudem muß, wenn die Ermächtigung weiter übertragen werden können soll, dies ebenfalls in dem ermächtigenden Gesetz bestimmt sein; das ergibt sich aus Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG. Durch diese Vorschriften soll, zusammen mit der Beschränkung der Ermächtigungsadressaten auf die drei in Satz 1 genannten Organe, die Kontrollfunktion des Bundestags gesichert werden. Denn auf diese Weise kann der Bundestag jedenfalls „in den großen Linien" noch bestimmen, wie die von der Exekutive zu erlassende Rechtsnorm aussehen wird. 6 0 Auch auf der inhaltlichen Ebene ist die Möglichkeit der Verordnungsermächtigung eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht und die ganz herrschende Lehre leiten aus der Wesentlichkeitstheorie nämlich auch und gerade 57

Näher zu den verschiedenen Formen untergesetzlicher Rechtssetzung und den damit verbundenen Problemen Ossenbühl, DVB1. 1999, 1 ff. 58 Lücke, in Sachs, GG, Art. 80, Rz. 3; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 39. 59 Näher dazu W. Cremer, AöR 122 (1997), 248 ff. 60 Vgl. nur Ziekow, JZ 1999, 963 (964), m. w.N.

2. Kap.: Die Pflicht des Bundestags zur Aufgabenwahrnehmung

53

im Bereich des Art. 80 GG die oben 61 aufgezeigten Grenzen für die Delegation parlamentarischer Befugnisse in den „wesentlichen" Bereichen ab. 6 2 Auch dies kommt letztlich der Kontrollkompetenz des Parlaments zugute. Insgesamt läßt sich hier somit eine Tendenz des Grundgesetzes feststellen, den Bundestag - äußerstenfalls sogar gegen seinen eigenen, in der Ermächtigung zum Ausdruck gebrachten Willen - an seinen Kompetenzen festzuhalten und ihm nicht zu gestatten, sich ihrer vollständig zu entledigen. 63 2. Die Gewährung von Satzungsautonomie Weitestgehend parallel liegen die Probleme, wenn der Bundestag bestimmten Verwaltungseinheiten Satzungsautonomie zuerkennt. Nach allgemeiner Ansicht darf der Gesetzgeber Organe mittelbarer Staatsverwaltung, d.h. Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, errichten. Insbesondere den auf diese Weise eingerichteten Körperschaften wird oft zusätzlich die Ermächtigung zur Regelung bestimmter Angelegenheiten erteilt, 64 die sogenannte Satzungsgewalt oder Satzungsautonomie. Damit können sie bestimmte Aufgabenbereiche rechtlich unabhängig regeln, vor allem den ihnen häufig zugewiesenen Bereich der Verwaltung eigener Angelegenheiten. Beispiele derartiger Selbstverwaltungskörperschaften sind vor allem die Gemeinden, aber auch die Universitäten, Handwerksinnungen und die Berufskammern der freien Berufe. Es liegt auf der Hand, daß die Verleihung dieser Rechtssetzungsbefugnis an eine autonome Einheit in die Befugnisse des Parlaments eingreift, das in dem der Körperschaft zugewiesenen Bereich dann von der Rechtssetzung ausgeschlossen ist. Dennoch ist die Verleihung der Satzungsautonomie nur teilweise im Grundgesetz geregelt; 65 Art. 80 GG ist auf sie nicht anwendbar. 6 6 Verfassungsrechtlich gerechtfertigt wird diese Kompetenzübertragung, 61

Oben I. Zum Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zum Bestimmtheitsgebot und zum Parlamentsvorbehalt siehe Ziekow, JZ 1999, 963 (965 f.). 63 Vgl. Ziekow, a.a.O. (964): „Eine derartige Selbstentmachtung des Parlaments sollte durch die Einfügung des Art. 80 GG verhindert werden." 64 Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 80, Rz. 51; näher dazu Ossenbühl, in Erichsen, Allg.VerwR, § 6, Rz. 63 f. 65 Nämlich für die kommunale Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG („regeln"). Der Verweis von Maunz, a. a. O., Rz. 56, auf die im Grundgesetz enthaltene Geschäftsordnungsautonomie von Bundestag (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG), Bundesrat (Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GG), Bundesregierung (Art. 65 Satz 4 GG) und Vermittlungsausschuß (Art. 77 Abs. 2 Satz 2 GG) geht fehl, weil diese Organe staatliche Kompetenzen wahrnehmen, nicht hingegen solche autonomer Selbstverwaltung. Dementsprechend sind „Satzungen" und „Geschäftsordnungen" strikt zu unterscheiden. 62

54

2. Teil: Die Stellung des Bundestags nach objektivem Recht

soweit ersichtlich, 67 mit historischen 68 und systematisch-teleologischen69 Erwägungen. Bezüglich der in der Verfassung nicht gesondert geregelten Bereiche gilt, daß die Verleihung von Satzungsautonomie durch ein formelles Gesetz erfolgen muß, das seinerseits mit der Zuständigkeitsverteilung der Art. 70 ff. GG vereinbar sein muß. 7 0 Das Satzungsrecht der Körperschaft wird dann nur von dem Zweck und Kreis der ihr zugewiesenen Aufgaben beschränkt. 71 Allerdings gilt auch hier, daß sich der Gesetzgeber durch Autonomiegewährleistungen seiner Rechtssetzungsbefugnis nicht völlig entäußern darf, und er darf auch nicht seinen Einfluß auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen gesetzten Rechtsnormen gänzlich preisgeben. 72 Damit wird hier ebenfalls dem Bundestag die Kontrollkompetenz erhalten. Auch hier findet sich daher die Tendenz in der objektiv-rechtlichen Ordnung des Grundgesetzes, das Parlament notfalls auch gegen seinen Willen an der verfassungsmäßigen Kompetenzzuweisung festzuhalten.

III. Ergebnis zur Delegation der Kompetenzen Damit ist eine Delegation der Kompetenzen nur in eng umgrenzten Ausnahmen zulässig.

C. Ergebnis zur Pflicht des Bundestags zur Wahrnehmung der Kompetenzen Aus alledem folgt, daß der Bundestag nach objektivem Recht im Grundsatz verpflichtet ist, die ihm vom Grundgesetz übertragenen Kompetenzen auch wahrzunehmen. Eine schlichte Nichtausübung kommt kaum, eine Delegation von Befugnissen kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmen in Betracht. 66

BVerfG, Beschluß vom 2.5.1961, BVerfGE 319 (325). Eine ausdrückliche Begründung wird, soweit erkennbar, nirgends gegeben. 68 Vgl. die Ausführungen von Stern, StaatsR I, S. 398 ff., zu den historischen Wurzeln der Idee der Selbstverwaltung. 69 Vgl. die Argumentation von MaunZy in Maunz/Dürig, GG, Art. 80, Rz. 48 f. 70 Vgl. Bothe, in AK-GG, vor Art. 70, Rz. 3; zustimmend Degenhart, in Sachs, GG, Art. 70, Rz. 15. 71 Vgl. BVerfG, Beschluß vom 2.5.1961, BVerfGE 12, 319 (325), m.w.N., für eine zahnärztliche Versorgungsanstalt; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 80, Rz. 21; ähnlich Ossenbühl, in Erichsen, Allg.VerwR, § 6, Rz. 68 f. 72 BVerfG, Beschluß vom 9.5.1972, BVerfGE 33, 125 (158); ebenso SchmidtBleibtreu/Klein, a. a. O. 67

3. T e i l

Der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG Um die noch im einzelnen darzustellende 1 Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 38 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht zu verdeutlichen, soll im folgenden kurz dessen überkommene Rechtsprechung zu dem dort verankerten Wahlrecht und etwaigen sonstigen subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen nachgezeichnet werden, soweit sie für die vorliegende Fragestellung von Interesse ist. 1. Kapitel

Das Wahlrecht - Allgemeines Zunächst ist festzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht aus Art. 38 Abs. 1 GG nicht lediglich die darin ausdrücklich gewährleisteten Wahlrechtsgrundsätze herleitet, sondern in dieser Norm zugleich ein grundlegendes „Wahl-Recht" als gewährleistet ansieht. Ganz allgemein zu dem aktiven Wahlrecht, das auch als „politisches Grundrecht" 2 bezeichnet wird, heißt es: Der permanente Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mündet ein in den für die Willensbildung im Staat entscheidenden Akt der Parlamentswahl [...]. Willensbildung des Volkes und Bildung des staatlichen Willens durch seine verfaßten Organe müssen unterschieden werden. Von dieser Unterscheidung geht das Grundgesetz aus [...]. Nur dann, wenn das Volk als Verfassungs- oder Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen selbst die Staatsgewalt ausübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), fällt die Äußerung des Volkswillens mit der Bildung des Staatswillens zusammen.. ." 3 „Mit seinem Wahlrecht übt der Bürger die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus."4 Insoweit handele es sich um „politische Rechte des Aktivstatus."5 „Mit der Stimmabgabe der Wahlen betätigt sich der Bürger als Glied des Staatsorgans Volk im status activus."6 1 2 3 4 5

Unten 4. Teil, 1. Kapitel. BVerfG, Urteil vom 5.4.1952, BVerfGE 1, 208 (242). BVerfG, Urteil vom 19.7.1966, BVerfGE 20, 56 (98). BVerfG, Beschluß vom 16.7.1998, BVerfGE 99, 1 (8). BVerfG, Beschluß vom 20.7.1954, BVerfGE 4, 27 (30).

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3. Teil: Der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG

Die daneben gegebene Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe „setzt voraus, daß das Volk einen effektiven Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe hat. [...] Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau."7 Bereits recht früh hatte das Bundesverfassungsgericht insoweit inhaltlich ausgeführt: „Es gehört zu den grundlegenden Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates, daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und neu legitimiert werden."8 Und: „Zur Demokratie, wie sie das Grundgesetz will, gehört nicht nur, daß eine Volksvertretung vorhanden ist, die die Regierung kontrolliert. Wesentlich ist ihr auch, daß den Wahlberechtigten das Wahlrecht nicht auf einem in der Verfassung nicht vorgesehenen Wege entzogen oder verkürzt wird. Das Wahlrecht wird auch beeinträchtigt, wenn fällige Wahlen hinausgeschoben werden."9 Dementsprechend „könnte man weiter aus Art. 38 ein subjektives Recht folgern, daß fällige Wahlen auch durchgeführt werden." 10 Bei der Ausgestaltung des Wahlrechts steht dem Gesetzgeber freilich ein weiter Einschätzungsspielraum zu, 1 1 der vom Bundesverfassungsgericht nicht überprüft wird. Lediglich einige Grundzüge sind verfassungsrechtlich justitiabel: „Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer - wie auch immer ermittelten - demokratischen Mehrheit erworben werden [...]. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt [zudem] stets, daß die Abgeordneten gewählt werden; eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus [...]. Wie bei der Bestimmung der gewählten Bewerber unmittelbar nach der Wahl, so müssen auch bei einer späteren - ohne Nachwahl angeordneten - Nachfolge die Voraussetzungen einer Wahl gewahrt bleiben."12 6 BVerfG, Urteil vom 31.10.1990, BVerfGE 83, 60 (71); ähnlich bereits BVerfG, Urteile vom 30.7.58, BVerfGE 8, 104 (115) bzw. BVerfGE 8, 122 (133); jeweils für amtlich angeordnete Volksbefragungen. 7 BVerfG, Urteil vom 31.10.1990, BVerfGE 83, 60 (71 f.). 8 BVerfG, Beschluß vom 27.7.1964, BVerfGE 18, 151 (154). 9 BVerfG, Urteil vom 23.10.1951, BVerfGE 1, 14 (33); BVerfG, Urteil vom 11.7.1961, BVerfGE 13, 54 (91). 10 BVerfG, Urteil vom 11.7.1961, BVerfGE 13, 54 (91). 11 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997, BVerfGE 95, 335 (349), m.w.N. 12 BVerfG, Beschluß vom 26.2.1998, BVerfGE, 97, 317 (323), Hervorhebungen im Original.

2. Kap.: Art. 38 GG und Volksentscheide nach Art. 29 GG

57

„Eine Wahl hat [freilich] nicht nur das Ziel, eine Volksvertretung zu schaffen, die ein Spiegelbild der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Meinungen darstellt, sondern sie soll auch ein funktionsfähiges Organ hervorbringen." 13 2. Kapitel

Das Verhältnis zwischen Art. 38 GG und Volksentscheiden nach Art. 29 GG Andererseits entschied das Bundesverfassungsgericht, das Recht auf Durchführung fälliger Wahlen könne nicht dahingehend ausgedehnt werden, daß der Einzelne ein Gesetz zur Neugliederung des Bundesgebiets im Sinne des Art. 29 GG - und damit verbunden einen Volksentscheid gemäß Art. 29 Abs. 2 und 3 GG - verlangen könne. 14 Damit gebe es kein Recht auf Durchführung eines Volksentscheids. Denn Art. 29 GG sei in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG nicht genannt und das Recht auf Abstimmung im Volksentscheid etwas wesentlich anderes als das Recht auf Wahlen. Bei Wahlen stehe nämlich der Akt des Volks im Vordergrund, während der Volksentscheid im Rahmen des Art. 29 GG lediglich den Verfahrensgang eines eventuellen Neugliederungsgesetzes beeinflussen könne, so daß hier das Verfahren des Bundesgesetzgebers im Vordergrund stehe. 15 In einem anderen Verfahren 16 ging es demgegenüber um inhaltliche Vorgaben an den Gesetzgeber aufgrund eines Volksentscheids: 1975 sprach sich im Rahmen eines Volksentscheids über die Wiederherstellung des Landes Oldenburg die Mehrheit der Abstimmenden für die Wiederherstellung des Landes und damit gegen den Verbleib im Bundesland Niedersachsen aus. Trotzdem entschied sich der Bundesgesetzgeber gegen eine Neugliederung, da ein Bundesland Oldenburg nicht hinreichend lebensfähig sei. Hiergegen wandten sich die Beschwerdeführer mit der Rüge, die Entscheidung des Gesetzgebers verletze die in Art. 20 Abs. 2, 29 und 38 GG niedergelegten Grundsätze über die Mitwirkung des Volks bei der Ausübung der Staatsgewalt. Art. 29 GG (in der damals geltenden Fassung) berechtige die Beschwerdeführer, vom Bundesgesetzgeber die Beachtung des Volksentscheids zu verlangen. Dieser Anspruch müsse in entsprechender Anwendung des Art. 38 GG mit der Verfassungsbeschwerde verfolgt werden können, da den Bürgern ein Aktivstatus in einem echten Volksgesetzge13

BVerfG, Beschluß vom 22.5.1979, BVerfGE 51, 222, (236); später bestätigt von BVerfG, Urteil vom 10.4.1997, BVerfGE 95, 408 (418): „Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung als Ziel der Parlaments wähl". 14 BVerfG, Urteil vom 11.7.1961, BVerfGE 13, 54 (91). 15 BVerfG, a.a.O. (91 ff.). 16 Siehe BVerfG, Beschluß vom 1.8.1978, BVerfGE 49, 15 ff.

58

3. Teil: Der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG

bungsverfahren verliehen worden sei. Daher müsse Art. 38 GG auch den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch der abstimmungsberechtigten Bürger auf Befolgung des Abstimmungsergebnisses einbeziehen. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerden für unzulässig: Ein „Recht auf Sicherung des Erfolgswerts ihrer beim Volksentscheid abgegebenen Stimmen" in dem Sinne, daß der Bundesgesetzgeber den Beschwerdeführern gegenüber verpflichtet sei, seiner Entscheidung das Ergebnis des Volksentscheids zugrunde zulegen und von ihm nur abzuweichen, soweit dies zur Erreichung der Ziele der Neugliederung erforderlich ist, kenne das Grundgesetz nicht. 1 7 Denn die Bürgerbeteiligung nach Art. 29 GG erfolge nur im objektiven Interesse zur Feststellung der dort genannten „landsmannschaftlichen Verbundenheit" und sei zwar auch Ausdruck des Demokratieprinzips, enthalte aber keine voll ausgebildeten Mitwirkungsrechte. 18 Ferner bestünden eben grundlegende Unterschiede zwischen Wahlen und Abstimmungen. 19 Terminologisch interessant ist hier die Ausdrucksweise des Gerichts, das „politische Mitentscheidungs- und Mitgestaltungsrechte", die im Grundgesetz unter anderem in Art. 38 garantiert seien, 20 erkennt. 3. Kapitel

Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Des weiteren hatte das Bundesverfassungsgericht aus Art. 38 GG zunächst die - objektiv-rechtliche - Pflicht zur Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze entnommen 21 und später dann einen etwaigen Verstoß dagegen als eine „mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbare Verletzung des in Art. 38 enthaltenen subjektiven Rechts" bezeichnet. 22 In diesem Zusammenhang finden sich begriffliche Anklänge an eine umfassende subjektiv-rechtliche Teilhabe der Wahlberechtigten an der politischen Willensbildung, indem das Bundesverfassungsgericht feststellt:

17

BVerfG, a.a.O. (20). Kritisch zu diesem Argument Sachs, in Stern, StaatsR III/1, S. 378; Höfling, Der Staat 33 (1994), 493 (500). 19 BVerfG, Beschluß vom 1.8.1978, BVerfGE 49, 15 (20 ff.). 20 BVerfG, a.a.O. (23). 21 BVerfG, Urteil vom 23.1.1957, BVerfGE 6, 84 (89). 22 BVerfG, Urteil vom 11.7.1961, BVerfGE 13, 54 (91). 18

4. Kap.: Der Einzelne und die Stellung des Bundestags

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„Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung des Volkes äußert sich in einer Demokratie nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung."23 Allerdings wurde daraus im folgenden dann lediglich das Recht auf Beachtung der Wahlgrundsätze (hier: die Gleichheit der Wahl) gefolgert. 24 Auch stellt das Bundesverfassungsgericht die Verbindung von Art. 38 zum Demokratieprinzip her, denn ,,[d]iese Grundentscheidung der Verfassung für die demokratische Staatsform wird unter anderem in Art. 38 Abs. 1 GG näher dahin ausgestaltet, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden [...]. Die personellen Träger der obersten politischen Staatsorgane bedürfen, damit ihr Verhalten dem Volk verantwortlich bleibt, in regelmäßig wiederkehrenden zeitlichen Abständen der demokratischen Legitimation durch Wahlen."25 Auf eine umfassende Wiedergabe der Rechtsprechung zu den einzelnen Wahlgrundsätzen soll hier verzichtet werden. 26 Soweit diese für die vorliegende Fragestellung von Interesse ist, wird weiter unten an der jeweiligen Stelle auf sie zurückzukommen sein. 4. Kapitel

Der Einzelne und die Stellung des Bundestags M i t der Stellung des Bundestags und dem Verhältnis des subjektiven Wahlrechts hierzu befaßten sich schließlich zwei verfassungsgerichtliche Verfahren gegen die Auflösung des 9. Deutschen Bundestags nach Art. 68 GG im Januar 1983 im Anschluß an die politisch und auch verfassungsrechtlich umstrittene Vertrauensfrage von Bundeskanzler Kohl. 21 23 BVerfG, Beschluß vom 15.1.1985, BVerfGE 69, 92 (107); rein objektiv-rechtlich insoweit noch BVerfG, Urteil vom 2.3.1977, BVerfGE 44, 125 (139 f.), im Rahmen eines Organstreitverfahrens. 24 BVerfG, Beschluß vom 15.1.1985, BVerfGE 69, 92 (107). 25 BVerfG, Urteil vom 2.3.1977, BVerfGE 44, 125 (138 f.); ähnlich BVerfG, Beschluß vom 15.2.1978, BVerfGE 47, 253 (272). 26 GG, Art. 38, Dazu ausführlich etwa v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Rz. 118 ff.; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 32 ff. 27 Siehe dazu die Anordnung des Bundespräsidenten Carstens über die Auflösung des Bundestags vom 6.1.1983 in BGBl. 1983 I, S. 1; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Kohl und der anschließenden Auflösung des Bundestags siehe BVerfG, Urteil vom 16.2.1983, BVerfGE 62, 1 ff. einerseits und die abweichenden Sondervoten der Richter Rinck und Rottmann, BVerfGE 62, 70 ff. bzw. 108 ff., andererseits.

6 0 3 .

Teil: Der überkommene Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG

In dem einen Fall begehrte ein Wahlberechtigter vom Bundesverfassungsgericht, dem Bundespräsidenten durch einstweilige Anordnung zu verbieten, den Bundestag aufzulösen. 28 Denn die Voraussetzungen des Art. 68 GG seien nicht gegeben und seine Rechte als Wahlberechtigter aus Art. 38 GG würden beeinträchtigt, wenn der Deutsche Bundestag seine Arbeit vorzeitig beende, obwohl er eine regierungsfähige Mehrheit bilden könne. 29 Die Abweisung des Antrags begründete das Bundesverfassungsgericht lapidar wie folgt: „Die Auflösung des Deutschen Bundestages verletzt nicht die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten Rechte des Antragstellers. Sie betrifft den Deutschen Bundestag und seine Abgeordneten, nicht aber im Rechtssinne unmittelbar den einzelnen Bürger. Art. 38 GG gewährleistet eine allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl sowie das aktive und passive Wahlrecht. Ein Recht des einzelnen Wählers darauf, daß der Deutsche Bundestag nicht in Anwendung des Art. 68 GG vorzeitig aufgelöst wird, läßt sich aus Art. 38 GG nicht herleiten." 30 In einem Verfassungsbeschwerdeverfahren rügte ein anderer Wahlberechtigter ebenfalls einen Verstoß gegen - unter anderem - Art. 38 G G : 3 1 „Er habe die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die jetzt im Amt sind, auf die Dauer von vier Jahren gewählt und wolle nicht nach dem Belieben der Regierung und der Abgeordneten während der laufenden Wahlperiode erneut zur Wahlurne geschickt werden. Er fühle sich „zum Stimmvieh degradiert". Da der Deutsche Bundestag, von den Ausnahmefällen der Art. 63 Abs. 4 Satz 3 und Art. 68 GG abgesehen, deren Voraussetzungen nicht vorlägen, nur in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch Wahl abgelöst und neu legitimiert werden könne, stelle die Verfahrensweise der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages eine Verletzung seines verfassungsrechtlich gewährleisteten Wahlrechts [...] dar." 32 Auch hier verneinte das Bundesverfassungsgericht mit wortgleicher Begründung 33 eine Verletzung des Beschwerdeführers in subjektiven Rechten. 3 4

28

BVerfG, Beschluß vom 11.1.1983, BVerfGE 62, 397 ff.; nach Erlaß der Auflösungsanordnung durch Bundespräsident Carstens legte das Gericht den Antrag sinngemäß als auf Aussetzung der Wirksamkeit dieser Anordnung gerichtet aus, BVerfG, a.a.O. (398). 29 BVerfG, a.a.O. (398). 30 BVerfG, a.a.O. (399); zustimmend Schreiber/Schnapauff, AöR 109 (1984), 369 (399). 31 BVerfG, Beschluß vom 12.1.1983, BVerfGE 63, 73 ff. 32 BVerfG, a.a.O. (74 f.). 33 Wenn man von der insoweit gebotenen Ersetzung des Begriffs „Antragsteller" durch „Beschwerdeführer" absieht. 34 BVerfG, Beschluß vom 12.1.1983, BVerfGE 63, 73 (75).

5. Kap.: Sonstiges

61

5. Kapitel

Sonstiges Schließlich findet sich in einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einmal die Charakterisierung des Einzelnen als „Wächter für die objektive Verfassungsordnung". 35 Allerdings wurde diese Bezeichnung bei einer Popularklage nach Art. 98 Satz 4 bay. Verf., § 54 Abs. 1 bay. VerfassungsgerichtshofsG verwendet, mithin im Zusammenhang mit einem Verfahren, das - gerade im Unterschied zu bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren - dem Bürger eine Klagebefugnis ohne Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte gewährt.

35

BVerfG, Beschluß vom 3.10.1961, BVerfGE 13, 132 (141).

4.

Teil

Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme der Diskussion In dem nun folgenden vierten Teil soll die bisherige Diskussion über die Frage, inwieweit der Einzelne unter Berufung auf sein individuelles Wahlrecht parlamentarische Kompetenzverlagerungen rügen könne, nachgezeichnet und kritisch gewürdigt werden. 7. Kapitel

Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Als dogmatischer Ausgangspunkt zur Klärung dieser Fragen ist nach dem bereits in der Einführung Gesagten zunächst auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts abzustellen.1

A. Die prozessuale Situation Gegenstand des dortigen Verfahrens waren das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 19922 und das Gesetz vom 28. Dezember 1992 zum (Maastrichter) Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union. 3 Von den zahlreichen Verfassungsbeschwerden 4 wurden zwei, nämlich die vom ehemaligen Kabinettschef des deutschen EG-Kommissars Bangemann, Manfred Brunner, 5 sowie die von den der Partei DIE GRÜNEN angehörenden Mitgliedern des Europäischen Parlaments Hiltrud Brey er, Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Claudia Roth und Wilfried Telkämper 6/ 1 zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Die Be1

Zur Vorgeschichte des Verfahrens siehe Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 15 ff.; zur „Politik der prozessualen Situation" Bryde, Maastricht-Urteil, S. 2. 2 BGBl. 1992 I, S. 2086. 3 BGBl. 1992 II, S. 1251. 4 Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 629, zählt insgesamt 36 (!) Verfassungsbeschwerden und 3 Organstreitverfahren. 5 Aktenzeichen des BVerfG: 2 BvR 2134/92. 6 Namen dieser Beschwerdeführer zitiert nach Hölscheidt/Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 103.

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schwerdeführer begehrten mit unterschiedlicher Begründung die Feststellung, daß das Zustimmungsgesetz zum EU-Vertrag sie in einer Reihe von Grundrechten verletze und daher nichtig sei. Eine 8 der weiteren Verfassungsbeschwerden, die des Bonner Ministerialrats Hans A. Stöcker, 9 wurde nicht mit den anderen beiden verbunden, jedoch vom Berichterstatter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Bundesregierung ebenfalls zur Kenntnisnahme übersandt. 10 Stöckers Bevollmächtigter, H.-H. Rupp, erhielt in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit zum Vortrag. 11 Später wurde diese Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt. 12 Die übrigen Verfassungsbeschwerden wurden teils zurückgenommen, teils vom Gericht nicht zur Entscheidung angenommen. 13

B. Die Schriftsätze des Beschwerdeführers Brunner Da bei der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts die Frage nach der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden als erste hohe Hürde erkennbar war, wurde von den Beschwerdeführern im Hinblick auf mögliche Grundrechtsverletzungen überaus vielschichtig argumentiert. 14 Dabei wandte sich Brunner sowohl gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 15 als auch gegen das Ratifikationsgesetz zum Maastricht-Vertrag. 16 Sein Verfahrensbevollmächtigter, Κ. A. Schachtschneider, machte Verletzungen der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 in Verbindung mit 21 Abs. 1 Satz 2, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 sowie 38 Abs. 1 GG geltend. 17 Hinsichtlich des - hier allein interessierenden - Art. 38 Abs. 1 GG rügte er, ,,[d]ie Wahlprinzipien als solche werden durch den Unionsvertrag und damit das diesen Vertrag in das deutsche Recht transformierende Zustimmungsgesetz nicht 7

Aktenzeichen des BVerfG: 2 BvR 2159/92. Aktenzeichen des BVerfG: 2 BvR 2173/92, zitiert nach Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 613, dortige FN 1. 9 Name zitiert nach Hölscheidt/Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 103. 10 Siehe Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 613, dortige FN 1. 11 Winkelmann, a.a.O. 12 Winkelmann, a.a.O. 13 Siehe die bereits erwähnte Aufstellung bei Winkelmann, a.a.O., S. 629. 14 Kritisch hierzu Rath, DRiZ 1997, 452: die Kläger hätten sich „beim Erfinden neuer Grundrechte redlich Mühe" gegeben; ähnlich Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204. 15 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BGBl. 1992 I, S. 2086 f. 16 Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BGBl. 1992 II, S. 1251 ff. 17 Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde des Manfred Brunner vom 18.12. 1992, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 104 ff. 8

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

verletzt. Vielmehr wird dem das demokratische Prinzip wesentlich materialisierenden Prinzip der gewählten Volksvertretung die Substanz genommen. Nicht nur die Wahlprinzipien, sondern das Prinzip der Vertretung des ganzen Volkes durch Abgeordnete ist durch Art. 38 Abs. 1 GG geschützt. Die Wahl vermittelt das Volk als Träger der Staatsgewalt mit dem wesentlichen Organ der Gesetzgebung in Deutschland, dem Deutschen Bundestag. Folglich schützt Art. 38 Abs. 1 GG die Teilhabe des ganzen Volkes und damit ausweislich seiner Verfassungsbeschwerdefähigkeit jedermann, d.h. hier jeden Bürger, in dem Teilhaberecht an der Ausübung der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). [...] Dieses demokratische Grundrecht wird in der Substanz geschmälert, wenn das Vertretungsorgan wesentlich in der Kompetenz eingeschränkt wird." 18 „Mittels Art. 38 Abs. 1 GG wird das demokratische Prinzip und das Prinzip der demokratischen Gesetzgebung jedenfalls in seinem Kern, dem Prinzip der Legitimation durch Wahlen, grundrechtsähnlich beschwerdefahig. Es soll der Deutsche Bundestag das Volk bei der Ausübung der gesetzgeberischen Staatsgewalt vertreten und dieses Gesetzgebungsorgan soll vom deutschen Volk gewählt werden. Die Gesetzgebung soll damit wesentlich auf dem Willen des deutschen Volkes beruhen, welches durch sein Gesetzgebungsorgan Deutscher Bundestag die bestmöglichen Gesetze beschließen läßt." „Die substantielle Minderung der Kompetenzen der Vertreter des Volkes im Deutschen Bundestag greift in den Wesensgehalt des Wahlprinzips des Art. 38 Abs. 1 GG und damit der demokratischen Legitimation der Gesetzgebung ein. Dieser Wesensgehalt ist analog Art. 19 Abs. 2 GG unantastbar; denn die Wahl verliert weitgehend die Funktion der Legitimation der Ausübung der gesetzgebenden Staatsgewalt, weil nur wesentlich verminderte gesetzgeberische Kompetenzen in der Hand des gemäß Art. 38 Abs. 1 GG gewählten Parlaments verbleiben. Jeder Bürger hat Anspruch darauf, daß der Wahlakt nicht nur den formalen Wahlprinzipien entspricht, sondern auch darauf, daß die Wahl nicht ihres wesentlichen Inhalts beraubt wird, nämlich das wirkliche Gesetzgebungsorgan zu wählen. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die Zustimmung zum Unionsvertrag selbst unmittelbar und gegenwärtig in diesem Recht verletzt; denn seine wesentlichen parlamentarischen Vertreter, die (auch) in seinem Namen das Richtige als Gesetze zu beschließen haben, um Recht zu schaffen, sind weitgehend entmachtet. Der gesetzliche Wille des Beschwerdeführers wird nicht mehr so verwirklicht, wie es eine Verfassung will." 2 0 „Jeder Bürger hat nicht nur ein Recht auf einen nationalen Gesetzgeber, soweit nicht die Gesetzgebungskompetenz rechtens auf die Gemeinschaft übertragen ist, sondern ein Recht auf eine gemäß Art. 20 Abs. 2 GG vom deutschen Volk gewählte Volksvertretung, welche die Kompetenz zur Gesetzgebung wahrnimmt und wahrnehmen darf. Das kann derzeit nur der Deutsche Bundestag sein.. ." 2 1 18

Schachtschneider, a.a.O., S. 115. Schachtschneider, a.a.O., S. 116 f. 20 Schachtschneider, a.a.O., S. 117. 21 Schachtschneider, Erwiderung I des Verfassungsbeschwerdeführers Brunner vom 29.3.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 381; Hervorhebung im Original. 19

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Ausgehend von diesen allgemeinen Ausführungen wurden in der Verfassungsbeschwerdeschrift verschiedene „Verletzungsrichtungen" hinsichtlich Art. 38 Abs. 1 GG unterschieden: 22 Zum einen werde der Beschwerdeführer dadurch verletzt, daß die Wahlen zum Deutschen Bundestag „substanzlos" würden: Bereits die durch den Unionsvertrag erweiterte Kompetenzfülle der Gemeinschaftsorgane nimmt den Wahlen nach Art. 38 Abs. 1 GG wesentlich die Funktion, demokratische Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt zu vermitteln, weil die Staatsgewalt nicht wesentlich von den gewählten Vertretern des ganzen Volkes im Deutschen Bundestag ausgeübt wird." 23 Hier wurde also die „Entleerung" der Befugnisse des Bundestags gerügt. Zum anderen monierte Schacht Schneider, Art. 38 GG werde auch wegen eines Demokratiedefizits auf der Gemeinschaftsebene verletzt: „Das demokratische Prinzip, dessen Verwirklichung Art. 38 Abs. 1 GG dient, wird aber auch deswegen ausgehöhlt und verletzt, weil die Rechtssetzung durch die Organe der Gemeinschaft nicht hinreichend demokratisch legitimiert ist." 24 Dort wurde somit auf den Grad demokratischer Legitimation derjenigen Stelle abgestellt, auf die der Bundestag Kompetenzen transferiert hatte. Schließlich wurde auch noch als Grundrechtsverletzung gerügt, daß durch den EU-Vertrag Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten das aktive und passive Wahlrecht bei deutschen Kommunalwahlen eingeräumt werde, was den Beschwerdeführer „in seinem Recht zur aktiven und passiven Beteiligung an den Kommunalwahlen beeinträchtige." 25 Während Schachtschneider das freilich offenbar als Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit auffaßte - in der Verfassungsbeschwerdeschrift wird dies unter Punkt II. aufgeführt, der angebliche Verletzungen des Art. 2 Abs. 1 GG betrifft - , behandelt das Bundesverfassungsgericht diese Rüge als einen Unterfall des Rechts aus Art. 38 GG, wie sich aus der systematischen Stellung im Tatbestand 26 bzw. in den Entscheidungsgründen 27 des Urteils ergibt.

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Besonders deutlich finden sich die verschiedenen Ansätze auch im Tatbestand des verfassungsgerichtlichen Urteils, BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (165 f.) unter Il.l.a). 23 Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde vom 18.12.1992, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 116. 24 Schachtschneider, a.a.O., S. 116. 25 Schachtschneider, a.a.O., S. 115 f. 26 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (166), unter Punkt Il.l.a), der sich mit dem Vortrag des Beschwerdeführers zu Art. 38 GG befaßt. 27 BVerfG, a.a.O. (179 f.), unter B.3.c). 5 Soppe

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

C. Die Schriftsätze der vier Mitglieder des Europäischen Parlaments Auch die vier Mitglieder des Europäischen Parlaments erhoben ihre Verfassungsbeschwerde als Privatpersonen, 28 so daß sie gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte vortragen mußten. Dementsprechend finden sich im Zulässigkeitsteil ihrer Verfassungsbeschwerde, die sich ausschließlich gegen das Ratifikationsgesetz wandte, die Rüge von Verletzungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, der Art. 3 Abs. 1, 12 und 20 Abs. 4 G G 2 9 sowie - im vorliegenden Zusammenhang allein von Interesse - eine Berufung auf Art. 38 GG: „Die Beschwerdeführer machen geltend, daß das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag nicht durch den Bundestag - auch nicht mit 2/3-Mehrheit - und insbesondere nicht ohne Legitimation durch den Verfassungsgeber, also durch das Volk als Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt, verabschiedet werden durfte. [...] Die Beschwerdeführer machen geltend, daß mit der Unterlassung einer Volksabstimmung die Rechte des Volkes als Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt und damit auch ihrer [gemeint wohl: ihre] eigenen Rechte verletzt werden. Zwar regelt das Grundgesetz nur das Wahlrecht für die Bundestagswahl in Art. 38 Abs. 2 GG, aber dieses Mitwirkungsrecht am demokratischen Willensbildungsprozeß ist auch auf Volksabstimmungen anzuwenden, die auf der Basis des Grundgesetzes oder dort stattfinden, wo sie in zulässiger Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt stattfinden. Ebenso wie bei Wahlen kann auch bei Sachentscheidungen des Volks von einer Entscheidung des „Volks" nur dann die Rede sein, wenn alle stimmberechtigten Bürger Anspruch auf Teilnahme an der Entscheidung haben. Aus Art. 38 GG folgt aber nicht nur der Anspruch auf Teilnahme an der demokratischen Entscheidung, der auch nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG geltend gemacht werden kann, sondern aus Art. 38 GG ist auch das Grundrecht auf Durchführung einer verfassungsrechtlich gebotenen Entscheidung des Volkes zu entnehmen. Ebenso wie es ein subjektives Recht jedes wahlberechtigten Bürgers darauf gibt, daß eine Bundestagswahl überhaupt stattfindet, muß dieses Recht des Bürgers auf Durchführung einer Volksabstimmung analog Art. 38 GG in den Fällen angenommen werden, in denen ein Volksentscheid von Rechts oder Verfassungs wegen oder auf Grund höherrangigen Rechts geboten ist. Ebenso wie für eine verfassungswidrig nicht durchgeführte Bundestagswahl das subjektive Recht auf Durchführung gilt, muß dies für eine verfassungswidrig nicht durchgeführte Volksabstimmung gelten."30 „Ebenso wie bei einem gleichheitswidrigen Wahlgesetz jeder Bürger selbst in seinem Grundrecht auf Wahlrechtsgleichheit betroffen ist, ist die unterbliebene 28 Ströbele, Verfassungsbeschwerde einiger MdEP vom 17.12.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 78. 29 Ströbele, a.a.O., S. 78 ff. 30 Ströbele, a.a.O., S. 87 f.

1. Kap.: Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

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Durchführung einer verfassungsrechtlich gebotenen Volksabstimmung eine Verletzung des Grundrechtes jedes einzelnen stimmberechtigten Bürgers." 31

D. Das Plädoyer von H.-H. Rupp im Verfahren 2 BvR 2173/92 Außer mit den Schriftsätzen der Beschwerdeführer in den verbundenen Verfahren befaßte sich das Bundesverfassungsgericht auch mit Ausführungen von H.-H. Rupp, die dieser als Verfahrensbevollmächtigter des Beschwerdeführers Stöcker in der mündlichen Verhandlung machen durfte. 32 Zur Zulässigkeit der von ihm vertretenen Verfassungsbeschwerde führte Rupp aus: „Vor allem ist es das fundamentale und von Art. 79 III, Art. 20 II GG geschützte demokratische Grundrecht jedes einzelnen Mitgliedes des Demos auf Teilhabe an dessen Souveränitätsrechten und Mitentscheidung an Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens. Dieses Grundrecht ist zwar nicht in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes aufgenommen, wie dies in neueren Verfassungen, beispielsweise in derjenigen Portugals der Fall ist. Dort heißt es in Art. 48 I im Grundrechtsteil: „Alle Bürger haben das Recht, direkt oder über gewählte Vertreter am politischen Leben und an der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben des Landes teilzunehmen". Es geht also um den status activus des Bürgers als Glied des Demos, um das jeder freiheitlichen Demokratie eingeborene und unveräußerliche Grundrecht des citoyen als Subjekt politischer Mitentscheidung und Mitverantwortung. Daß dieses Grundrecht in Art. 38, 20 II GG versteckt ist und nicht dem Katalog der grundrechtlichen status negativi der Freiheitsgrundrechte des bourgeois voransteht und sich zudem im Bund - nicht in den Ländern - letztlich auf Wahlen zum Bundestag konzentriert, kann mit Sicherheit nicht in Frage stellen, daß auch dem Grundgesetz dieses subjektive Elementargrundrecht, von dem ein Stück mit dem Mandat auf die Abgeordneten übertragen wird, immanent ist und daß aus diesem Grund das Wahlrecht in Art. 93 I Nr. 4 a GG für verfassungsbeschwerdefähig erklärt ist." 33 „Vordergründig betrachtet können die Bürger der Bundesrepublik auch nach Wirksamwerden des Maastrichter Vertrages ihre Repräsentanten in den Bundestag und die Landtage wählen, und auch an der Stellung der gewählten Abgeordneten würde sich nichts ändern, so daß man mit jenem Mitglied des französischen Senats in der Debatte um das Ρ etain' sehe Ermächtigungsgesetz des Jahres 1940 [...] sagen könnte: „Vielleicht wird der Parlamentarismus sterben, die Parlamentarier bleiben im Dienste der Nation". Wer Demokratie und Parlamentarismus nur darin sieht, daß Wahlen abgehalten werden und Abgeordnete vorhanden sind, nicht aber danach fragt, wo der eigentliche inhaltliche und materiale Gegenstand 31

Ströbele, a.a.O., S. 88 f. Zur prozessualen Situation siehe oben A. 33 Rupp, Plädoyer in der mündlichen Verhandlung am 1./2. Juli 1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 544, Hervorhebungen im Original; ähnlich hatte er sich auch bereits im HdBStR I, § 28, Rz. 18 i. V.m. dortiger FN 18 geäußert. 32

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

des politischen Selbstbestimmungsrechts des Demos und seiner einzelnen Mitglieder bleibe, kann in der Tat die Behauptung wagen, es gehe dieses individuelle Selbstbestimmungsrecht nichts an, ob demokratische Herrschaft entleert werde, Technokratie oder Diktatur herrsche, und deshalb seien die Verfassungsbeschwerden mangels thematischer Betroffenheit bereits unzulässig."34

E. Sonstige Schriftsätze im Prozeß Nach Eingang der Verfassungsbeschwerden gab das Bundesverfassungsgericht gemäß §§94 Abs. 4, 77 Nr. 1 BVerfGG dem Bundestag, dem Bundesrat sowie der Bundesregierung Gelegenheit zur Äußerung. Darüber hinaus gaben die deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments eine Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden ab.

I. Die Äußerung der Bundesregierung In der von der Bundesregierung vorgelegten Äußerung zu den Verfassungsbeschwerden wird die Existenz eines vorliegend verletzten subjektiven Rechts aus Art. 38 GG bestritten: „Das Wahlrecht des Beschwerdeführers [Brunner] aus Art. 38 Abs. 1 GG ist nicht berührt, weil es ein Recht auf einen nationalen Gesetzgeber jedenfalls im Rahmen zulässiger Hoheitsübertragungen nach Art. 23 n. F. und Art. 24 GG nicht gibt. Ebensowenig enthält die Vorschrift ein Recht auf mittelbare demokratische Mitwirkung an der Kreation von EG-Organen, da sie lediglich die Kreation des nationalen Gesetzgebers betrifft. Bei völkerrechtlichen Zusammenschlüssen kann insbesondere dann, wenn die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge" sind, die Willensbildung des internationalen Zusammenschlusses durch Übereinkunft der verbündeten Regierungen geschehen. Die innerstaatliche Legitimation solcher Willensbildung leitet sich von der demokratischen Legitimation der Regierung ab." 35 „Es besteht schließlich auch nicht die Möglichkeit, daß der Beschwerdeführer durch den Maastrichter Vertrag oder durch das Zustimmungsgesetz zu diesem in seinem angeblichen Recht auf Teilhabe an der politischen und staatlichen Willensbildung verletzt wird. Die Unmöglichkeit einer solchen Verletzung folgt daraus, daß es ein umfassendes Recht auf Teilhabe an der politischen und staatlichen Willensbildung nach dem Grundgesetz nicht gibt. Es gibt nicht ein Grundrecht auf politische Teilhabe, sondern Teilhaberechte ergeben sich aus einzelnen speziellen Grundrechtsverbürgungen mit politischem Bezug.

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Rupp, Plädoyer in der mündlichen Verhandlung am 1./2. Juli 1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 545. 35 Hilf, Stellungnahme I der Bundesregierung vom 15.1.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 215.

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Deshalb können auch nur diese einzelnen speziellen Grundrechte verletzt werden. [...] Zusammengefaßt bedeutet die Herleitung eines Rechts auf politische Teilhabe aus den einzelnen Grundrechtsverbürgungen: das Recht des einzelnen auf politische Teilhabe ist nur punktuell durch spezielle Grundrechte geschützt. Es ist nur dann verletzt, wenn diese einzelnen speziellen Grundrechte verletzt sind." 36

II. Die Äußerung des Bundesrats Ähnlich ablehnend wird in der Äußerung des Bundesrats ausgeführt: „Soweit sich die Ausführungen [in den Verfassungsbeschwerden] auf Art. 38 Abs. 1 und 2 GG berufen, ist schon nicht zu sehen, wieso sich aus dieser Vorschrift in Verbindung mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in subjektiv-rechtlicher Hinsicht etwas anderes ergeben können soll als die Gewährleistung der allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze als grundrechtsgleiche Rechte des einzelnen, abgesehen von der Wahl zum Bundestage selbst. Diese Grundsätze werden durch den Vertrag von vornherein nicht tangiert. Man kann in ihre Gewährleistung namentlich nicht die Garantie eines bestimmten Umfangs der Zuständigkeit des Bundestages hineinlesen. Eine Grundrechtsverletzung ist auch dann nicht erkennbar, beruft man sich - so die Verfassungsbeschwerde [der MdEP] - auf eine Analogie zu Art. 38 (Abs. 1 und 2). Hieraus soll die Berechtigung auf unmittelbare Mitwirkung des Volkes an verfassungsgebenden Vorgängen gewonnen werden können. Damit wird schon verkannt, daß Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde nur die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, so wie sie das Grundgesetz ausgeformt hat, darstellen. Läge tatsächlich ein Akt der Verfassungsgebung vor, löste man sich gerade vom Grundgesetz und hierdurch zugleich von den durch das Grundgesetz garantierten Rechten."37

ΙΠ. Die Äußerung des Bundestags In der Äußerung des Bundestags wird ein subjektives Recht der Beschwerdeführer aus Art. 38 GG ebenfalls abgelehnt: „[Es] scheidet auch eine Verfassungsbeschwerde aus, die eine Verletzung der Grundrechte des status activus (insbesondere Art. 38 GG) mit der Begründung rügt, die Wahlentscheidung werde durch die Abgabe von Rechtssetzungskompetenzen nach Brüssel weniger wichtig. Auch hier gilt, daß der Umfang der Kompetenzen des gewählten Organs kein taugliches Thema einer auf die Grundrechte der Bürger gestützten Verfassungsbeschwerde ist. Davon abgesehen ist die Annahme, die Qualität der Wahlentscheidung werde durch den EU-Vertrag entwertet, falsch. In dem Ausmaß, in dem Rechtssetzungs36

Hilf, a.a.O., S. 216 f. Lerche, Äußerung des Bundesrats vom 20.3.1993, bei Winkelmann, MaastrichtUrteil, S. 241. 37

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

befugnisse an die Gemeinschaft abwandern, wird die Entscheidung darüber wichtiger, wer die Bundesrepublik in Brüssel vertritt, also die Entscheidung über die Zusammensetzung der Regierung, die ebenfalls Inhalt der Wahlentscheidung des Bürgers ist." 38 „Der Versuch in der Verfassungsbeschwerde [der MdEP], analog Art. 38 GG ein Recht auf Teilnahme an einer Volksabstimmung über „Maastricht" zu konstruieren, muß schon daran scheitern, daß das Grundgesetz über die Form des Tätigwerdens des pouvoir constituant keine Aussagen macht. Es gibt auch keine Meta-Verfassung, die vorschreibt, daß der pouvoir constituant sich gerade in Form einer Volksabstimmung betätigen muß." 39

IV. Die Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen MdEP Schließlich wird auch in der Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments bestritten, daß vorliegend subjektive Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 38 GG verletzt seien. So heißt es zur Verfassungsbeschwerde der „grünen" MdEP: „Eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf Teilhabe an der politischen Willensbildung gemäß Art. 38 GG kommt insoweit offensichtlich nicht in Betracht. Das Fehlen der erforderlichen Möglichkeit einer Verletzung von Art. 38 GG folgt hier aus der Überlegung, daß der Schutzbereich der Vorschrift durch das Unterlassen der Durchführung einer Volksabstimmung nicht berührt werden kann. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ist zu schließen, daß sie nur das Recht auf Teilnahme an der Wahl des Bundestages als demokratisch legitimierte Vertretung des Volkes verbürgt." 40 Zur Verfassungsbeschwerde Brunners heißt es: „Bedenken bestehen weiterhin gegen die Rechtsauffassung des Beschwerdeführers, sein Recht auf Teilhabe an der politischen Willensbildung könne durch das Zustimmungsgesetz zum [EU-Vertrag] beeinträchtigt sein. Durch Art. 38 GG werden das aktive und das passive Wahlrecht als grundrechtsgleiche Rechte geschützt. Der Schutzbereich des Art. 38 GG umfaßt auch den Anspruch darauf, daß nach Maßgabe der Verfassung überhaupt gewählt wird. Daneben werden durch Art. 38 GG die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und das Geheimnis der Wahl als grundrechtsgleiche Rechte unter den Schutz der Verfassung gestellt. Durch den vorliegend angegriffenen Gesetzgebungsakt wird ersichtlich keiner dieser von Art. 38 GG geschützten Grundsätze berührt. Mögliche Verletzungsrich38

Bryde/Randelzhofer, Stellungnahme des Deutschen Bundestags vom 5.4.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 283. 39 Bry de/Randelzhofer, a.a.O., S. 284. 40 Bieber, Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 29.3.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 469.

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tung des Zustimmungsgesetzes ist erst die Effizienz der Wahlrechtsausübung, die durch einen teilweisen Entzug von Zuständigkeiten zu Lasten der innerstaatlichen Volksvertretungsorgane indirekt vermindert sein könnte. Folglich zielt die Verfassungsbeschwerde auf den Nachweis einer Verletzung staatsorganisatorischer Kompetenzregelungen und nicht auf die Geltendmachung subjektiver Rechte. Ähnlich wie es das Bundesverfassungsgericht ablehnt, ein Recht des einzelnen Wählers darauf, daß der Deutsche Bundestag nicht in Anwendung des Art. 68 GG vorzeitig aufgelöst wird, aus Art. 38 GG herzuleiten und eine in diesem Zusammenhang erhobene Verfassungsbeschwerde als unzulässig verwirft, kann auch kein subjektives Recht auf Beibehaltung aller Gesetzgebungszuständigkeiten auf nationaler Ebene aus Art. 38 GG folgen." 41

F. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts I. Allgemeines In seiner Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht in Ergänzung des bereits in der Einführung zitierten ersten Leitsatzes seiner Entscheidung aus: „Art. 38 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen (vgl. BVerfGE 47, 253 [269]). Im Wahlakt geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Der Bundestag übt sodann Staatsgewalt als Organ der Gesetzgebung aus, das zugleich den Bundeskanzler wählt und die Regierung kontrolliert (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG). Art. 38 GG verbürgt nicht nur, daß dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden. Die Verbürgung erstreckt sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts: Gewährleistet wird den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen. In dieser Hinsicht bedarf das Recht allerdings der näheren Bestimmung. Sie ist vorliegend nur insoweit notwendig, als die Ausübung von Hoheitsgewalt durch supranationale Organisationen im Rahmen der Verwirklichung eines vereinten Europas (Art. 23 GG) in Frage steht. Gibt der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse auf, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berührt das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht."42 „Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages

41 42

Bieber, a.a.O., S. 472 f. BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (171 f.).

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird. Das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 38 GG kann demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, daß die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden." 43 Unter Hinweis auf die Einschätzung, daß schon bisher nahezu 80 % aller Regelungen im Bereich des Wirtschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt und nahezu 50% aller deutschen Gesetze durch das Gemeinschaftsrecht veranlaßt seien, bejahte das Bundesverfassungsgericht anschließend in knappen Worten die Möglichkeit einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht aus Art. 38 G G . 4 4 Im Rahmen der Begründetheitsprüfung 45 finden sich dann zwar immer wieder Rückbindungen an die Vorschrift des Art. 38 GG, inhaltlich befaßt sich das Gericht dort aber fast ausschließlich mit objektiv-rechtlichen Fragen, insbesondere zu Art. 20, 23 und 79 Abs. 3 GG. An diesen Bestimmungen werden die einzelnen Dispositionen des Maastricht-Vertrages gemessen, im Wege der Auslegung auf ihre genaue Bedeutung untersucht und im Ergebnis bekanntlich für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Diese Argumentation soll hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden; hinsichtlich dieses Teils der Urteilsbegründung sei vielmehr auf die zahllosen Urteilsanmerkungen und -besprechungen verwiesen, die ganz überwiegend dort ihren thematischen Schwerpunkt haben. Quasi als Fazit formuliert das Bundesverfassungsgericht: „Das Demokratieprinzip hindert mithin die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer - supranational organisierten - zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist." 46

II. Überwiegende Zurückweisung der Interpretationen des Art. 38 GG Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Versuche der Beschwerdeführer, eine Betroffenheit in subjektiven Rechten zu konstruieren, und der Zu43 44 45 46

BVerfG, a.a.O. (172). Siehe BVerfG, a.a.O. (173). BVerfG, a.a.O. (181 ff.). BVerfG, a.a.O. (184).

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rückweisung dieser Argumentationsstränge in den Stellungnahmen der Verfassungsorgane und der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, werden Inhalt und Reichweite der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht noch etwas deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, inwieweit das Gericht eine Rechtsverletzung aus Art. 38 GG verneinte. Denn das Gericht wies die erweiternden Auslegungen des Art. 38 GG durch die Beschwerdeführer ganz überwiegend zurück. 1. Kein Grundrecht auf Durchführung

eines Volksentscheids

Insbesondere die Lesart von Ströbele für die vier „grünen" Mitglieder des Europäischen Parlaments, aus Art. 38 GG folge ein Grundrecht auf Durchführung eines Volksentscheids, verwarf das Bundesverfassungsgericht mit nur kurzer Begründung: „Das Grundgesetz gewährt individuelle Rechte nur im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung, nicht jedoch für das Verfahren oder den Inhalt einer Verfassungsneugebung. Art. 79 Abs. 3 GG bindet die staatliche Entwicklung in Deutschland an den in ihm bezeichneten Kemgehalt der grundgesetzlichen Ordnung und sucht so die geltende Verfassung gegenüber einer auf eine neue Verfassung gerichteten Entwicklung zu festigen, ohne selbst die verfassungsgebende Gewalt normativ binden zu können. Er zieht demgemäß der verfassungsändernden Gewalt Grenzen und schließt damit förmlich aus, ein verfassungsänderndes Gesetz, das den veränderungsfesten Kern des Grundgesetzes antastet, im Wege eines Volksentscheids zu legitimieren." 47 2. Kein Anspruch auf Beseitigung eines Demokratiedefizits in der EU Ebenfalls kann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 38 GG kein Recht auf Beseitigung eines etwaigen Demokratiedefizits in der Europäischen Union hergeleitet werden. Soweit also in der Verfassungsbeschwerde Brunners gerügt wird, eine Grundrechtsverletzung durch das Zustimmungsgesetz liege darin, daß die Institution, auf die der Bundestag Kompetenzen übertrage, nicht hinreichend demokratisch legitimiert sei, folgt das Gericht der Argumentation ausdrücklich nicht: „Die Rüge, daß die in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n.F. genannten Strukturprinzipien der Europäischen Union nicht verwirklicht seien, ist ebenfalls unzulässig. Aus Art. 38 GG kann nicht abgeleitet werden, wie der institutionelle Rahmen der Europäischen Union auszugestalten ist." 48

47 48

BVerfG, a.a.O. (180), unter B.5. BVerfG, a.a.O. (179) unter B.3.b).

74

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme 3. Keine wahlrechtliche „Konkurrentenklage

"

Schließlich weist das Bundesverfassungsgericht auch die Argumentation zurück, das aktive und passive Kommunalwahlrecht des Beschwerdeführers werde durch die Zulassung von Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten zu Wahlen auf Gemeindeebene verletzt: „Art. 38 GG gewährt jedenfalls für das Kommunalwahlrecht kein subjektives Recht, sich bei der Ausübung des aktiven oder passiven Wahlrechts durch eine wahlrechtliche „Konkurrentenklage" gegen nichtdeutsche Wahlbewerber oder Wahlberechtigte wehren zu können."49 4. Zum „subjektiven Elementargrundrecht

des citoyen "

Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Rupp, ein Recht auf Mitentscheidung in Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens stehe jedem Bürger als Mitglied des Demos zu, erfolgt in dem Urteil angesichts der fehlenden Verbindung dieses Verfahrens zur gemeinsamen Entscheidung naturgemäß nicht. Möglich erscheint freilich, daß das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung trotz der anderslautenden Diktion des Urteils von Rupps Plädoyer beeinflußt wurde. Letztlich muß dies aber spekulativ bleiben. Denn in den Urteilsformulierungen finden sich - soweit ersichtlich - keine Anklänge an das „subjektive Elementargrundrecht des citoyen", und auch die rhetorisch zugespitzten Formulierungen von Rupp über die Bedeutung der Abgabe von Kompetenzen durch den Bundestag 50 werden in der Entscheidung nicht aufgegriffen.

ΠΙ. Insbesondere das Recht auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt Damit läßt das Bundesverfassungsgericht allein die Argumentation in der Verfassungsbeschwerde Brunners gelten, Art. 38 GG schütze ein Recht auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt. Insoweit ist ein deutlicher Einfluß der Ausführungen in der Verfassungsbeschwerde auf das Urteil zu spüren. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, ähnlich wie SchachtSchneider f daß in Art. 38 GG nicht nur ein Anspruch auf Zulassung des Bürgers zur Wahl und auf Beachtung der (formalen) Wahlrechtsgrundsätze enthalten ist. Vielmehr wird hieraus auch auf eine inhaltliche Mindestanforderung geschlossen: I m Ergebnis der bisher bereits anerkannten formalen Ansprüche müsse der Bürger auch inhaltlich an der Legitimation der Staats-

49 50

BVerfG, a.a.O. (180) unter B.3.c). Siehe oben D.

2. Kap.: Die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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gewalt mitwirken können. Mit Blick auf seine Funktion, demokratische Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt zu vermitteln, wird Art. 38 GG also „materiell angereichert". 51 Der Schutzbereich wird über ein Recht auf Teilhabe an der Konstituierung des Parlaments auf eine Gewährleistung auch hinsichtlich der Ausübung von dessen Kompetenzen erweitert. 52 Interessanterweise greift das Gericht dabei die von Schachtschneider angeführte Wesensgehaltsgarantie in Analogie zu Art. 19 Abs. 2 GG nicht auf. Obwohl es der Sache nach gerade um den inhaltlichen Bestand des Wahlrechts geht, kommt die Argumentation ohne einen Verweis auf Art. 19 Abs. 2 GG aus. Die Notwendigkeit, den „notwendigen demokratischen Gehalt" des Wahlrechts zu bewahren, wird allein aus Art. 38 GG, ohne den „Umweg" über Art. 19 Abs. 2 GG, hergeleitet. Auch zur Reichweite dieses Rechts folgt das Urteil der Argumentation in den Schriftsätzen nicht uneingeschränkt. Denn das Gericht beschränkt das Recht aus Art. 38 GG - jedenfalls für den vorliegend streitbefangenen Fall der Europäischen Integration - gemäß Art. 23 Abs. 1 GG auf den in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbestand. 53 Ob diese Einschränkung zwingend ist, oder ob die in der Entscheidung enthaltene Konstruktion auch auf etwaige andere Fallgruppen übertragen werden kann, wird im einzelnen noch zu untersuchen sein. 54 An dieser Stelle bleibt lediglich festzuhalten, daß eine derartige Beschränkung sich in der Verfassungsbeschwerde nicht findet. Dort waren ja vielmehr „über die Brücke" des Art. 38 GG der Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und das darin enthaltene Demokratieprinzip ohne Einschränkungen versubjektiviert worden. 2. Kapitel

Die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wendet man nun, ausgehend von der Maastricht-Entscheidung, den Blick zurück auf die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so wird man dort zu einer derartigen Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG wenig finden.

51 So Gassner, Der Staat, 34 (1995), 429 (433); ähnlich Hirsch, NJW 1996, 2457 (2458). 52 Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (567). 53 Vgl. Puttler, ZRP 1998, 168 (169). 54 Dazu unten 5. Teil, 1. Kapitel, B.

76

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

A. Der Verweis auf BVerfGE 47, 253 (269) im Maastricht-Urteil Zunächst ist festzuhalten, daß der im Maastricht-Urteil enthaltene Verweis 5 5 des Gerichts auf BVerfGE 47, 253 (269) fehlgeht. Denn an der angegebenen Fundstelle ging es nicht, wie der Zusammenhang des Zitats suggeriert, um das Recht der Wahlberechtigten, an der Wahl der Bundestagsabgeordneten teilzunehmen, sondern um das Recht von Einwohnern der Stadt Bochum auf Beachtung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl bei der Bildung von Bezirksvertretungen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte dort die Anwendbarkeit des Art. 38 GG ab, da diese Verfassungsnorm lediglich für Wahlen zum Deutschen Bundestag gelte, bejahte hingegen die Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 GG. M i t dem generellen Recht der Wahlberechtigten auf Teilnahme an einer Wahl zum Deutschen Bundestag hat dies nichts zu tun. Zwar finden sich dann auf S. 271 f. der zitierten Entscheidung Ausführungen zu Art. 20 und 38 GG; diese befassen sich aber nicht mit subjektiven Rechten der Wahlberechtigten, sondern mit dem (objektiv-rechtlichen) Demokratieprinzip und hieraus abzuleitenden Anforderungen an die Staatsorganisation. 56

B. Sonstige Entscheidungen zum subjektiven Recht aus Art. 38 GG? Soweit ersichtlich, findet sich auch darüber hinaus in der früheren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts kein Beispiel einer dem MaastrichtUrteil vergleichbar weiten Auslegung des Art. 38 G G . 5 7 Vielmehr beschränkte sich die Rechtsprechung auf die bereits oben 58 nachgezeichneten Linien. Auch aus anderen Verfassungsnormen war vom Bundesverfassungsgericht eine derartige Interpretation bislang nicht hergeleitet worden. Aufgrund dieser gänzlich neuen Entwicklung, diesem Novum, 5 9 wurden die Verfassungsbeschwerden von der Bundesregierung und den übrigen Staatsorganen zunächst nicht recht ernst genommen. 60

55

BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 85, 155 (171). Weitere Fehlzitate im Maastricht-Urteil monieren Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (495); Zuleeg, JZ 1994, 1 (4); derselbe, E.L.Rev. 22 (1997), 19 (27 f.). 57 Bundesverfassungsrichter H. H. Klein, Maastrichter Vertrag, S. 4, spricht von einer „Erweiterung des Bedeutungsgehalts". 58 Oben 3. Teil. 59 So Pernice EuZW 1993, 649; zustimmend Schwarze, NJ 1994, 1; Häde, BB 1993, 2457; ähnlich H.-J. Cremer, EuR 1995, 21. 56

4. Kap.: Das Schrifttum vor dem Maastricht-Urteil

77

C. Ergebnis zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, daß in der früheren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts sich zwar begriffliche Anklänge an einen im Wahlrecht verankerten subjektiv-rechtlichen Schutz vor parlamentarischen Kompetenzverlagerungen finden mögen, daß eine derartige Konstruktion dort bislang aber weder angedeutet noch gar entwickelt worden war. 6 1 3. Kapitel

Die sonstige frühere Rechtsprechung Soweit ersichtlich, war des weiteren auch weder in Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte noch in denen anderer Gerichte ein derartiges subjektives Recht angenommen worden, so daß das Bundesverfassungsgericht auch nicht auf eine dogmatische Aufarbeitung dort hätte zurückgreifen können. 4. Kapitel

Das Schrifttum vor dem Maastricht-Urteil Vor der Maastricht-Entscheidung hatte es schließlich auch in der Literatur keine ausgearbeiteten Konzeptionen eines subjektiven Rechtsschutzes vor parlamentarischen Selbstentmachtungen gegeben. 62 Lediglich in thesenartiger Form hatten einige Autoren zum Teil frühzeitig eine Verknüpfung von Grundrechten und Demokratieprinzip hergestellt, wobei Anknüpfungspunkt meist die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde war. 6 3 60 Dörr, ZUM 1995, 14 (15); Streinz, EuZW 1994, 329; vgl. auch O. Schneider, EuBl. 1994, 67 (69 f.); Fromont, RDP 111 (1995), 323 (354), spricht von einer diesbezüglichen „surprise générale". 61 Etwas anders - für die objektiv-rechtliche Seite - freilich A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 30, der aus den von ihm zusammengestellten Entscheidungen das Fazit zieht, „daß die Erweiterung des objektiven Bedeutungsgehaltes im MaastrichtUrteil keinesfalls völlig unvermittelt oder überraschend kommt. Vielmehr wurde die Argumentation in der Substanz, der engen Zusammenschau von Art. 38 GG mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 GG und in den gewählten topoi bereits [...] vorgeformt." 62 Ähnlich Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (443); Häde, BB 1993, 2457 (2458); A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 24. 63 Terminologisch bemerkenswert bezeichnet Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 31, das Wahlrecht unter Verweis auf BVerfGE 1, 208 (242) als „poli-

78

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

A. Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinschaft aus Art. 1 GG Bereits auf der Staatsrechtslehrertagung 1974 hatte H. Meyer in seinem Referat die These aufgestellt, „es gehöre in einer Demokratie zu der in Art. 1 für unantastbar erklärten Würde des Menschen, daß er an der Gestaltung der Gemeinschaft, der er angehört, teilhaben kann, und zwar nicht primär, weil er sich dadurch vor Akten dieser Gemeinschaft besser schützen oder seine Bedürfnisse und materiellen Interessen am besten verfolgen oder genereller gefaßt, damit er Autonomie verwirklichen könne, sondern, weil die politische Gestaltung mit zu den natürlichen Lebensmöglichkeiten des Menschen als homo politicus gehört." 64 Eine nähere Darstellung oder dogmatische Untermauerung dieser These findet sich jedoch weder an dieser Stelle, da Meyers Referat im übrigen mehr auf objektiv-rechtliche Fragen der Repräsentation abstellt, noch, soweit ersichtlich, an anderer Stelle in seinen Schriften.

B. Menschenwürde und Grundrecht auf Demokratie Eine ähnliche Auffassung wie H. Meyer vertritt auch P. Häberle, der in der „Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung [...] ein Grundrecht auf Demokratie" sieht. 65 Art. 38 GG sei „als »funktionelle Grundlage der Demokratie 4 konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen »Schicht4 der Menschenwürdeklausel". 66 Dies begründet Häberle mit einem engen Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Volkssouveränität: Während beide Begriffe früher meist „getrennt gedacht und organisiert" worden seien, 67 sei in neueren Verfassungstexten, seit dem Herrenchiemseer Entwurf auch im deutschen Grundgesetz, eine Wandlung dahingehend festzustellen, daß die Menschenwürde „archimedischer Bezugspunkt aller Herrschaftsableitungen" geworden sei; der Menschenwürdeschutz sei insoweit allen Herrschaftsableitungen und Legitimationszusammenhängen vom Volk zu den Staatsorganen vorgegeben. 68 Auch Häberle führt diesen Gedanken freilich, soweit erkennbar, weder an dieser noch an anderer Stelle weiter aus.

tisches Grundrecht", ohne hieran allerdings, soweit erkennbar, irgendwelche inhaltlichen Folgerungen zu knüpfen. 64 Meyer, VVDStRL 33, 69 (75 f.). 65 Häberle, in HdBStR I, § 20, Rz. 68. 66 Häberle, a.a.O., Rz. 69. 67 Häberle, a.a.O., Rz. 61. 68 Häberle, a.a.O., Rz. 63.

4. Kap.: Das Schrifttum vor dem Maastricht-Urteil

79

C. Individuelle Rechte und Volkssouveränität Ein wiederum anderer Ansatz ist in der Monographie „Demokratie und Grundrechte" von K. Grimmer zu finden. Nach einer ausführlichen Darstellung der allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Voraussetzungen des Grundgesetzes und Ausführungen zur Methodik der Grundgesetzauslegung werden dort aus dem objektiv-rechtlichen Prinzip der Volkssouveränität subjektive Rechte des „Aktivbürgers" abgeleitet. Grimmer schreibt: „Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität [...] gewährleistet für den Aktivbürger ein gleiches Recht auf Mitbestimmung über die konkrete politisch-gesellschaftliche Staatsordnung. Art und Weise der Mitbestimmung sind selbst verfassungsrechtlich geregelt. Dieses gleiche Recht auf Mitbestimmung beinhaltet für jeden einzelnen Staatsbürger die Berechtigung, seine Anliegen und Interessen in die Realisierung einer politischen Gesamtordnung und also auch in die Konkretion offener Grundrechte in jeder Form gewaltfreier politischer Meinungs- und Willensbildung einzubringen, sei es in öffentlicher politischer Diskussion, sei es mittels Assoziationen, Verbänden oder Parteien, sei es in staatlichen Gesetzgebungsorganen, soweit dies keinen allgemeinen oder besonderen Verfassungsvorschriften zuwiderläuft." 69 „Das Prinzip der Volkssouveränität beinhaltet also mehr als eine formale Wahlgleichheit, es gewährleistet eine real gleiche Chance, das gleiche Recht zur politischen Mitbestimmung.. . " 7 0 Auch dieser Autor gelangt aber, wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt, nicht zu einem Recht des Einzelnen darauf, daß der Bundestag seine Kompetenzen behalte. Zunächst führt er nämlich nur aus, daß sich das geschilderte Recht in der Möglichkeit zur freien Bildung von Vereinigungen und politischen Parteien äußere. Im folgenden setzt Grimmer dann die Grundrechte, deren Bezugspunkt er nicht im Einzelnen, sondern eher in den sozialen Beziehungen des Individuums sieht, in Bezug zur Volkssouveränität und zum Mehrheitsprinzip, ohne jedoch der hier behandelten subjektivrechtlichen Fragestellung weiter nachzugehen.

D. Der allgemeine Demokratierechtsschutz des Bürgers Zumindest sehr klare Fragen und Ansätze zu dem hier untersuchten Thema finden sich schließlich in einem Aufsatz von K. A. Schachtschneider aus dem Jahre 1970. 71 Darin wird einleitend festgestellt, daß gegen Demokratieverstöße grundsätzlich kein Rechtsschutz des Bürgers existiere, es sei denn, dieser könne eine Verletzung in anderen „Bürgerrechten" rügen. 69 70 71

Grimmer, Demokratie und Grundrechte, S. 187 f. Grimmer, a.a.O., S. 187, in dortiger FN 33. Schachtschneider, JR 1970, 401 ff.

80

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Ausgehend von drei Beispielen von seiner Ansicht nach mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbarenden Gesetzesregelungen konstatiert SchachtSchneider daher ein Bedürfnis nach einem diesbezüglichen allgemeinen Anspruch des Bürgers, mit dem dieser - insoweit über das vorliegend behandelte Recht freilich weit hinausgehend - jedwede Demokratieverletzung rügen könnte. Ein solcher Anspruch könnte dogmatisch, so meint Schachtschneider, ohne sich allerdings festzulegen, entweder in Analogie zu den subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen aus dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet werden. 72 Oder er komme als „analoge Anwendung des Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 90, 91 BVerfGG" in Betracht. 73 Oder es könne „konstruktiv [...] dafür Art. 2 Abs. 1 GG herangezogen werden". 74 Diese unterschiedlichen Anknüpfungsansätze werden freilich nicht näher dargestellt. Ebensowenig wird auf die - je nach verfassungsrechtlichem Ansatzpunkt sicherlich unterschiedliche - genaue Ausgestaltung und Reichweite dieses Anspruchs eingegangen, da, so Schachtschneider, die hierfür erforderliche „Gesamtschau der historisch-politischen Verfassungssituation" im dortigen Aufsatz nicht geleistet werden könne. 75

E. Bewertung dieser Ansätze Bereits aus der kurzen Wiedergabe der vorgestellten Ansätze, auf die teilweise auch in manchen Besprechungen des Maastricht-Urteils verwiesen wird, 7 6 wird deutlich, daß sie sich auf einem relativ abstraktem Niveau bewegen. Soweit ersichtlich, haben die genannten Autoren keine konkreten Maßgaben für die Staatsorganisation hieraus abgeleitet - Häberle betont, daß aus seinem Ansatz „keine Präferenz für eine bestimmte Demokratieform" folge 7 7 - , geschweige denn ein subjektives Recht des Einzelnen darauf, daß der Bundestag seine Kompetenzen nicht abgebe. Zwar sieht Häberle allgemein als Konsequenz „ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z.B. aus Art. 38, [...]) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe". 78 Allerdings äußert er sich dann nicht näher zur hier zu untersuchenden Problematik. Gleiches gilt für Meyer und Grimmer, so daß deren Beiträge für die Frage nach dem subjektiven Recht letztlich ebenfalls unergiebig sind. 79 Schachtschneider hingegen sieht in dem genannten Aufsatz 72

Schachtschneider, a.a.O. (406). Schachtschneider, a.a.O. (408). 74 Schachtschneider, a.a.O. 75 Schachtschneider, a.a.O. (403). 76 Siehe die Verweise von Hüde, BB 1993, 2457 (2458); Hahn, RGDIP 1994, 107 (109 f.); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (443). 77 Häberle, in HdBStR I, § 20, Rz. 68. 78 Häberle, a.a.O., Rz. 69. 73

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

81

das Problem zwar grundsätzlich richtig.80 Jedoch findet sich bei ihm ebenfalls keine dogmatische Aufarbeitung und Begründung dieses Rechts. Vielmehr scheint er sich selbst nicht recht entscheiden zu können, welches denn der richtige verfassungsrechtliche „Aufhänger" sein solle. Aus diesem Grund kann auch auf seinem Ansatz nicht weiter aufgebaut werden. Dementsprechend hat sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil nicht auf die genannten Konzeptionen bezogen, sondern, wie dargestellt, einen anderen Ansatz, ausgehend von Art. 38 GG gewählt. 5. Kapitel

Die Rezeption des Maastricht-Urteils i m Schrifttum Wie wohl nur wenige Entscheidungen zuvor hat das Maastricht-Urteil eine geradezu unüberschaubare Flut von Stellungnahmen in Form von Urteilsanmerkungen und sonstigen Äußerungen hervorgerufen. Diese beschränken sich, wie bei einem europarechtlichen und integrationspolitischen Thema dieser Größenordnung nicht anders zu erwarten war, durchaus nicht auf die deutsche Staatsrechtslehre, sondern auch auf den Seiten ausländischer und europäisch ausgerichteter Zeitschriften sind zahlreiche Auseinandersetzungen mit der Entscheidung zu finden. 81 Wie wohl bei kaum einem anderen Urteil zuvor schwanken allerdings auch die Bewertungen in den Äußerungen, deren Tenor von weitestgehender Zustimmung bis hin zu fast völliger Ablehnung reicht. 82 Der vorliegend zu untersuchende Gesichtspunkt der neuen Interpretation des Art. 38 GG durch das Bundesverfassungsgericht erfährt dabei freilich, wie bereits angedeutet, eine recht stiefmütterliche Behandlung: Viele Besprechungen und Anmerkungen konzentrieren sich auf andere Aspekte, ins79

Ähnlich Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (444 f.). Und zudem auch klarer und dogmatisch stringenter als in seiner umfangreichen Arbeit „Res publica res populi" 24 Jahre später; dazu näher unten 6. Kapitel, A. 81 Siehe beispielsweise in fremdsprachigen europa- und völkerrechtlichen Zeitschriften Crossland, E.L.Rev. 19 (1994), 202 ff.; Gattini, RDI 77 (1994), 114 ff.; Grewe, RUDH 1993, 226 ff.; Hahn, RGDIP 1994, 107 ff.; Hanf, RTDeur 30 (1994), 391 ff.; Schwarze, RevMC 1994, 293 ff.; Wieland, EJIL 5 (1994), 259 ff.; im niederländischen Schrifttum: de Lange, SEW 1994, 418 ff.; Koopmans, NJB 1994, 245 ff.; aus Frankreich: Fromont, RDP 111 (1995), 323 (349 ff.); aus italienischer Sicht: Cartabia, politica del diritto 25 (1994), 203 ff. 82 Selbst Äußerlichkeiten werden unterschiedlich wahrgenommen: Während Carl O. Lenz, NJW 1993, 3038, von einem „außerordentlich umfangreichen Urteil" spricht, meinen Hölscheidt/Schotten, Verwaltungsrundschau 1994, 183 (185), „daß die Entscheidung angesichts der zu bewältigenden Materialfülle relativ kurz ausgefallen ist". 80

6 Soppe

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

besondere die integrationsrechtlichen Implikationen, 83 das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof 84 sowie die objektiv-rechtliche Fragestellung nach der Zulässigkeit der Kompetenzübertragungen, 85 die allesamt bereits im Vorfeld der Entscheidung zu einer erheblichen Diskussion geführt hatten. 86 Soweit die Zulässigkeitsfrage überhaupt thematisiert wird, geschieht dies überwiegend referierend mit allenfalls kursorischer Begründung der Ablehnung oder Zustimmung. 87 Eine - im Rahmen von Urteilsanmerkungen etwas eingehendere Darstellung und Würdigung der Argumentation des Gerichts zu Art. 38 GG findet sich letztlich nur bei einer Handvoll Autoren.

A. Kritik an der Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil Gegen die Zulässigkeitsentscheidung schälen sich dabei einige Kritikpunkte heraus, die von jeweils mehreren Autoren genannt werden. Teilweise sind sie für die hier zu leistende Untersuchung von erheblichem dogmatischen Interesse, weil sie sich auf Aspekte beziehen, die, obwohl einschlägig, im Maastricht-Urteil keine oder nur eine unvollständige Behandlung erfahren haben. Die wichtigsten Gesichtspunkte 88 sollen daher im folgenden kurz referiert werden:

I. „Methodisch: keine dogmatische Absicherung der weiten Auslegung44 Der erste Kritikpunkt betrifft eine eher methodische Frage: Vielfach wird die fehlende dogmatische Abstützung des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG gerügt. 89 Das Bundesverfassungsgericht habe hier - neben der Sachfrage, ob der Bundestag sich zum Eintritt der dritten Stufe der Wirt83

Siehe etwa Weber, JZ 1994, 53 f f So z.B. Zuleeg, JZ 1994, 1 ff.; Gersdorf, DVB1. 1994, 674 ff.; Horn, DVB1. 1995, 89 ff., Everting, GS Grabitz, S. 57 ff. 85 Beispielsweise Kahl, Der Staat 33 (1994), 241 ff.; Weiler, JöR 44 (1996), 91 ff. (= FS Everling, S. 1651 ff.). 86 Siehe etwa Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 ff.; Schwarze, JZ 1993, 585 ff.; J. Wolf, JZ 1993, 594 ff.; Schachtschneider/Emmerich-Fritsche/Beyer, JZ 1993, 751 ff.; jeweils m.w.N. 87 Ein Beispiel unter vielen: Hartenfels, WM 1994, 529 ff. 88 Kritisch äußert sich auch Erichsen, JK 94, GG Art. 23/lb, der meint, da die Befugnisse des Bundestags im Grundgesetz besonders geregelt seien, sei es fragwürdig, diese Kompetenzen zugleich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet zu sehen. Dabei übersieht Erichsen freilich, daß Ansatzpunkt für Art. 38 GG weniger die Befugnisse des Bundestags als vielmehr die Rechte der Wahlberechtigten sind. 89 So etwa von Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (493); Häde, BB 1993, 2457 (2458). 84

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

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schafts- und Währungsunion äußern müsse, - „zwei außerordentlich kühne Argumentationsschritte gleichzeitig getan, ohne wirklich überzeugende Gründe für seine Rechtsansicht aufzutischen". 90 Nur eine „gewagte Argumentationskette" habe dem Gericht „aus der Klemme" geholfen. 91 Des weiteren wird moniert, daß es für eine derart weitgehende Auslegung bisher kaum Anhaltspunkte gebe, 92 während das Verfassungsgericht mit einem „Minimum an dogmatischem Aufwand" eine „bislang ungeahnte Rechtsschutzdimension" eröffnet habe. 93 Ausgehend von dieser Feststellung ist in der Literatur darüber hinaus sogar zum Teil der Vorwurf erhoben worden, das Gericht habe wohl um jeden Preis in der Sache entscheiden wollen 9 4 und deshalb durch eine extensive Zulässigkeitsprüfung den Weg für eine inhaltliche Stellungnahme zum EU-Vertrag erst freigemacht, 95 um eine „Verbreiterung der eigenen Jurisdiktionsgewalt im Kontext der europäischen Integration" zu schaffen. 96 Die „Neuinterpretation", so heißt es, sei „durch gemeinschaftsrechtliche Vorgänge zwar faktisch, indes keineswegs rechtlich veranlaßt" gewesen. 97 90

Tomuschat, a.a.O. Ott, Vorgänge 124 (1993/4), 31; ähnlich Blanke, ZG 1994, 181 (182); siehe auch Badura, StaatsR, E, Rz. 5: „in diffuser Vermittlung herbeigeführte Wirkung". 92 Häde, BB 1993, 2457 (2458); Kokott, AöR 119 (1994), 207 (210 f.); König, ZaöRV 54 (1994), 17 (18): „rechtsfortbildende Auslegung"; ähnlich, wenn auch in der Bewertung positiv, Schröder, DVB1. 1994, 316 (319) unter II.l. 93 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (430); nicht überzeugend ist freilich die Behauptung Gassners, a.a.O., FN 5, hierfür sei „indiziell", „daß sich schon vor Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde der Berichterstatter Paul Kirchhof und das Senatsmitglied Dieter Grimm kritisch zu »Maastricht4 geäußert hatten": Letzterer hatte keinen unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidung. Dieter Grimm war seinerzeit Richter im Ersten Senat und war demgemäß, wie sich auch aus dem Abdruck der Richter-Unterschriften in BVerfGE 89, 155 (213), ergibt, am Maastricht-Urteil nicht beteiligt. 94 So etwa die Kritik von Schwarze, NJ 1994, 1 f., derselbe, RevMC 1994, 293 (300); zustimmend König, ZaöRV 54 (1994), 17 (28); Kortz, Entscheidung, S. 277 f.; ähnlich auch Streinz, EuZW 1994, 329 (330); Gassner, a.a.O.; Grewe, RUDH 1993, 226 (227); Häde, BB 1993, 2457 (2458); Hahn, RGDIP 1994, 107 (110); Hailbronner, GYIL 37 (1994), 93 (94 f.); Zuleeg, E.L.Rev. 22 (1997), 19 (27); ebenso, diese Vorgehensweise aber ausdrücklich begrüßend, Steinberger, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 25 (26); derselbe, FS Bernhardt, S. 1313 (1319); Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (206). 95 Vgl. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (491); Incesu, RuP 1994, 70 (72), spricht von einem „juristischen Kunstgriff 4, mit dem das Gericht die Zulässigkeit der Beschwerde realisiert habe; ähnlich auch O. Schneider, EuBl. 1994, 67 (71); Schroeder, ZfRV 1994, 143 (146); Koopmans, NJB 1994, 245 (246), meint, das BVerfG habe Art. 38 GG als Fenster gebraucht, um in die Problematik des EU-Vertrages zu klettern („Artikel 38 wordt zodoende als venster gebruikt om binnen te klimmen in de problematiek van het Verdrag."). 96 Pauly, AöR 123 (1998), 232 (281). 91

6*

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Vereinzelt finden sich sogar polemische Formulierungen von einem „intellektuellen Schleudern" des Gerichts, 98 bzw. die Behauptung, bei der Zulässigkeitsprüfung habe das Gericht „wunderliche Kapriolen" geschlagen,99 „die nur mühsam den brennenden Wunsch des Senats übertünchen konnten, sich doch zur Sache äußern zu können", 1 0 0 anstatt sich „durch Verwerfung aller Verfassungsbeschwerden als unzulässig aus allen politischen Fragen heraus[zu]halten". 101 Letztlich sei hier „Außenpolitik in Justizform betrieben" worden. 1 0 2

II. „Weite der Auslegung und verfassungsprozessuale Folgen" Ein anderer, oft zu lesender Gesichtspunkt der Kritik ist die Weite der Auslegung, die Art. 38 Abs. 1 GG hier erfährt. Das Kriterium der „Selbstbetroffenheit" des Beschwerdeführers sei nicht erfüllt. 1 0 3 Einerseits würde so - verfassungsprozessual - die Unterscheidung zwischen Individualklage und Popularklage völlig verschwinden, 104 was Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gerade ausschließen solle. Letztlich werde so der Einzelne zum „Hüter des demokratischen Prinzips im Grundgesetz". 105 Zudem werde das Wahlrecht mit dem Demokratieprinzip gleichgestellt und 97

E. Klein, FS Stern, S. 1301 (1310). So Fromont, RDP 111 (1995), 323 (355): „dérapage intellectuel" mit schweren Folgen für die Begründetheitsprüfung der Beschwerde; de Witte, MJ 2 (1995), 145 (167), bezeichnet den Argumentationsgang als „breath-taking doctrinal parcours". 99 Bettermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 297 vom 20.12.1996, S. 13; zustimmend Papier, NJW 1997, 2841 (2844). 100 Papier, a.a.O., in Anlehnung an Bettermann, a.a.O. 101 Schwarze, NJ 1994, 1 (5); Wiegandt, NJ 1996, 113 (114), spricht von einem „Sich-in-die-Verantwortung-Drängen" des BVerfG; noch drastischer die Formulierungen von Rath, DRiZ 1997, 452. 102 Bettermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 297 vom 20.12.1996, S. 13. 103 Vgl. Zuleeg, E.L.Rev. 22 (1997), 19 (27). 104 Tomuschat, EuGRZ 1993, 489; Grewe, RUDH 1993, 226 (228); Schwarze, NJ 1994, 1; derselbe, RevMC 1994, 293 (300); Kokott, AöR 119 (1994), 207 (211); Bieber, NJ 1993, 241 (242); Weber, FS Benda, S. 421 (426): „Popularnormenkontrolle"; siehe auch Hüde, BB 1993, 2457 (2458); Th. Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 28, 1993, S. 11 in dortiger FN 2; König, ZaöRV 54 (1994), 17 (27); ähnlich bereits im Rahmen des anhängigen Verfahrens Hilf, Stellungnahme I der Bundesregierung vom 15.1.1993, bei Winkelmann, MaastrichtUrteil, S. 218; Bieber, Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, bei Winkelmann, a.a.O., S. 474; etwas unklar Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (S. 559 im Text zur dortigen FN 14 einerseits; S. 578 im Text zur dortigen FN 95 andererseits). 105 So die kritisch gemeinte Formulierung von Tomuschat, EuGRZ 1993, 489; positiv beurteilend hingegen Schachtschneider, Neue Epoche 1994, 38 (40); neutral wiederum E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (275). 98

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

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seine Tragweite fast uferlos. 106 Es müsse Verwunderung erregen, „daß durch dieses Nadelöhr des Rechts auf Wahlteilnahme der Weg zur umfassenden Nachprüfung der Verfassungsstruktur der Europäischen Union und Gemeinschaft [...] eröffnet" werde. 1 0 7 Zudem wird dieser Gedanke sogar dahingehend erweitert, der Einzelne sei noch nicht einmal „auch selbst" im Sinne einer Popularklage betroffen, sondern er nehme ausschließlich fremde Rechte wahr; durch die Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen sei in erster Linie und unmittelbar ausschließlich der Bundestag betroffen, der Wahlberechtigte hingegen erst in zweiter Linie und somit nur mittelbar. Könne dieser Einzelne aber nunmehr staatsorganisationsrechtliche Kompetenzverletzungen rügen, so rücke er „bedenklich in die Nähe eines Prozeßstandschafters". 108 Andererseits wird darüber hinaus - integrationspolitisch - auch als Gefahr gesehen, daß in Zukunft jedermann jeden völkerrechtlichen Vertrag oder jede Verfassungsänderung, die Rechte des Bundestags beschneiden, anfechten könne. 1 0 9 So sei der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und der Verhandlungsspielraum Deutschlands empfindlich verengt worden. 1 1 0 Diese Interpretation des Art. 38 Abs. 1 GG stelle ein unzulässiges „Rechtsmittel gegen Integrationsöffnungen der Verfassungsordnung", 111 ja sogar eine „vom Gericht geöffnete Pandora-Büchse einer Flut auf Art. 38 GG gestützter Klagen" 1 1 2 dar. Zudem verstoße eine derartige Auslegung gegen das Gebot richterlicher Zurückhaltung. 113

106

Fromont, JZ 1995, 800 (801). Everling, Integration 1994, 165; siehe auch H.-P. Ipsen, EuR 1994, 1 (2); Schwarze, NJ 1994, 1. 108 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (449); in der Sache ähnlich, ohne dies deutlich zu sagen, Bryde, Maastricht-Urteil, S. 4: Der Schutz der Kompetenzen sei „Sache der betroffenen Organe und ihrer Mitglieder, nicht die des einzelnen Bürgers." 109 Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (491); Häde, BB 1993, 2457 (2458); H.-P. Ipsen, EuR 1994, 1; König, ZaöRV 54 (1994), 17 (27); Kokott, AöR 119 (1994), 207 (211); Hahn, RGDIP 1994, 107 (110); Hailbronner, GYIL 37 (1994), 93 (95); Steinberger, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 25 (26 f.); ähnlich Weber, FS Benda, S. 421 (426); für den Amsterdamer Vertrag meinen dies Hilf/ Pache, NJW 1998, 705. 110 Herdegen, CMLRev. 1994, 235; Hobe, GYIL 37 (1994), 113 (114); Pronti Süddeutsche Zeitung, Nr. 237 vom 13.10.1993, S. 4. 111 H.-P. Ipsen, EuR 1994, 1; ähnlich Schroeder, ZfRV 1994, 143 (147 und 155). 112 Bryde, Maastricht-Urteil, S. 12. 113 König, ZaöRV 54 (1994), 17 (28 f.); Everling, Integration 1994, 165; Wiegandt, NJ 1996, 113 (114); ähnlich Kokott, AöR 119 (1994), 207 (211); Kortz, Entscheidung, S. 278; Winkler, NVwZ 1994, 450; plastisch Papier, NJW 1997, 2841 (2844): „tiefefr] Einbruch des Gerichts in Reservate der Außen- und Innenpolitik". 107

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

ΙΠ. „Vermengung von Demokratieprinzip und Souveränität" Wohl bereits als ein Problem der Reichweite der weiten Auslegung des Art. 38 GG wird darüber hinaus - manchmal auch nur andeutungsweise 114 - kritisiert, daß das Bundesverfassungsgericht einen „Anspruch auf Existenz in einer demokratisch verfaßten Staatlichkeit" 115 kreiert habe, daß, mit anderen Worten, nicht nur das Demokratieprinzip, sondern zugleich die deutsche Staatlichkeit als geschützt angesehen worden sei. 1 1 6 „Durch die Tür des Wahlrechts" führe das Gericht das Prinzip der Volkssouveränität als verfassungsrechtlichen Maßstab für die Bewertung des EU-Vertrages ein. 1 1 7 Der französische Staatsrechtslehrer Fromont formuliert, das Gericht gleite unmerklich von der Frage der Beachtung der Demokratie zu der nach der Erhaltung staatlicher Souveränität, wenn es fordere, daß den Mitgliedstaaten hinreichend bedeutsame eigene Aufgabenfelder gewahrt bleiben und dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müßten. 1 1 8 An anderer Stelle setzt er den Anspruch „auf Aufrechterhaltung der Demokratie" sogar gleich mit „Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität" „nach der französischen Terminolog i e " . 1 1 9 Frowein deutet Art. 38 GG in seiner weiten Auslegung schlicht als Schutz „gegen die Entäußerung der deutschen Staatsgewalt in einer nicht ausreichend bestimmten Weise" 1 2 0 und sieht im Urteil eine „Wiederentdekkung der Souveränität". 121 Dementsprechend sieht Schröder das Bundesver114

So sind z.B. wohl die Ausführungen von Pauly, AöR 123 (1998), 232 (281) zu verstehen. 115 So formuliert H.-P. Ipsen, EuR 1994, 1 (2). 116 In der Bewahrung deutscher Staatlichkeit sehen den Kem des Urteils auch Battis , in Battis et al., Integration, S. 81 (106); Commichau, JA 1994, 28 f.; H.-J. Cremer, EuR 1995, 21 (44); Heintzen, AöR 119 (1994), 564 (568), im Text zur dortigen FN 19. Siehe femer Teske, EuBl. VI/1993, 3 (5): Das Urteil sei kein „Sprung über den nationalen Schatten". 117 De Witte, MJ 2 (1995), 145 (166): „Through the door of the individual right to vote, the court brings in the structural principle of popular sovereignty as the constitutional standard by which to judge the Treaty on [the] European Union", m.w.N. in dortiger FN 75; anders - auch als die folgenden Autoren - freilich Bryde, Maastricht-Urteil, S. 6, der ausdrücklich begrüßt, „daß das Urteil die Frage der Demokratie in den Mittelpunkt stellt und nicht das Thema der deutschen Staatlichkeit." 118 Fromont, RDP 111 (1995), 323 (355): „... la Cour glisse insensiblement de la question du respect de la démocratie à celle du respect de la souveraineté des Etats ...". Siehe auch Grewe, RUDH 1993, 226 (228): „le principe démocratique du juge allemand joue au plan national et remplit ainsi une fonction semblable à la souveraineté". 119 Fromont , JZ 1995, 800 (801). 120 Frowein, ZaöRV 54 (1994), 1 (8); ähnlich Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 104.

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

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fassungsgericht als „Hüter des Staates". 122 Vereinzelt wird auch formuliert, das Gericht „zementiere" mit seiner Entscheidung den Nationalstaat, 123 bzw. gar der Vorwurf erhoben, das Urteil sei „eines der zahlreichen Symptome [...] einer Rückkehr des Nationalismus". 124

IV. „Widerspruch zu früheren Entscheidungen"? Ferner lautet ein von verschiedenen Seiten erhobener Vorwurf, daß sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner Auslegung in Widerspruch zu seinen bereits zitierten 1 2 5 früheren Entscheidungen aus dem Jahre 1983 setze, in denen es ein Recht des einzelnen Wählers aus Art. 38 GG darauf, daß der Deutsche Bundestag nicht in Anwendung des Art. 68 GG vorzeitig aufgelöst werde, verneint hatte. 1 2 6 Dem entgegnet Verfassungsrichter Kirchhof, daß grundlegende Unterschiede zwischen beiden Entscheidungen bestünden, da die Entscheidung über die vorzeitige Auflösung des Bundestags eine vorzeitige Wahrnehmung des Wahlrechts, nicht hingegen eine verminderte Bedeutung der Wahl zum Gegenstand habe. 1 2 7 In der Tat erscheint diese Kritik an der Maastricht-Entscheidung nicht stichhaltig. 128 Ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Entscheidungen 121

Frowein, a.a.O. (5); zustimmend de Witte, MJ 2 (1995), 145 (166). Schröder, DVB1. 1994, 316; ähnlich Pernice, FS Everling, S. 1057 f.: Die Beteiligten im Maastricht-Verfahren hätten letztlich darüber gestritten, „ob Deutschland durch den Vertrag seine Staatlichkeit verliere"; siehe auch Schroeder, ZfRV 1994, 143 (146). 123 Diese Kritik referiert Incesu, RuP 1994, 70 (73) im Text zur dortigen FN 14. 124 Hanf, RTDeur 30 (1994), 391 (423): „... l'un des nombreux symptômes, de plus en plus visibles depuis 1990, des tendances à la «normalisation», euphémisme allemand pour un retour du nationalisme". Weniger polemisch in der Formulierung, aber in der Sache ähnlich auch Bryde, Maastricht-Urteil, S. 16, nach dem „auch in der Bundesrepublik ein Prozeß der Renationalisierung stattfindet." 125 Oben 3. Teil, 4. Kapitel. 126 Dies kritisieren etwa Bieber, NJ 1993, 241 (242); Tomuschat, EuGRZ 1993, 489; H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (6); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (432); Huber, Symposium Badura, S. 105 (109), sowie a.a.O., Diskussionsbeitrag (S. 170); J.-P. Schneider, AöR 119 (1994), 294 (300), in dortiger FN 32. Siehe auch Pauly, AöR 123 (1998), 232 (280), dessen Verweis auf BVerfGE 6, 376, 384 f. in seiner dortigen FN 250 allerdings nicht überzeugt: Dort war Art. 38 GG nicht anwendbar, weil es nicht um Bundestags- sondern um Kommunalv/ählen ging. Eine Gleichsetzung beider Entscheidungskonstellationen erfolgt auch, allerdings (umgekehrt) kritisch zu den Entscheidungen zur Bundestagsauflösung, bei Schachtschneider, Res publica res populi, S. 801. 127 Kirchhof, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 11 (13). 128 Im Ergebnis ebenso A. Wölf, Prozessuale Probleme, S. 89 f. 122

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

des Bundesverfassungsgerichts für dieses selbst keine Bindungswirkung entfalten 1 2 9 und eine Änderung der Rechtsprechung damit stets zulässig wäre, sind beide Konstellationen tatsächlich nicht vergleichbar. Denn zum einen handelte es sich bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestags um ein vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenes Instrument, was bei Kompetenzabgaben des Bundestags jedenfalls in den Einzelheiten und bezüglich des Umfangs nicht der Fall ist. Zum anderen wird bei der Auflösung die Institution Bundestag nicht betroffen. Auch wenn der aktuelle Bundestag im Sinne einer bestimmten, durch die Wahl vermittelten Zusammensetzung durch die Auflösung in seinen Rechten beschränkt sein mag, 1 3 0 so beeinträchtigt das die Institution als solche nicht, 1 3 1 da der neugewählte Bundestag mit seinem Zusammentritt ja über die gleichen Rechte wie der alte verfügt, sog. Institution-Kontinuität. 132 Dementsprechend wird auch, anders als bei einer - jedenfalls unwiderruflichen - Kompetenzabgabe an andere Institutionen, das Recht auf parlamentarische Teilhabe nicht beeinträchtigt. Allenfalls die durch die jeweilige Wahl bestimmte politische Zusammensetzung des Bundestags ändert sich, was jedoch aufgrund der Regelmäßigkeit von Wahlen ohnehin ein konstituierendes Merkmal der Demokratie i s t . 1 3 3 Somit hätte für die Vergleichbarkeit beider Fälle belegt werden müssen, daß das Wahlrecht auch ein Recht des Einzelnen dahingehend enthalte, daß der Bundestag in seiner aktuellen (partei-) politischen Zusammensetzung über die volle Wahlperiode erhalten bleibe. Das ist - soweit ersichtlich - bislang nicht unternommen worden. 1 3 4 Ein derartiger Nachweis dürfte angesichts der Regelungen einer vorzeitigen Auflösung des Bundestags in den Art. 67 f. GG 129 Maunz, in Maunz et al., BVerfGG, § 31, Rz. 20; zu einer diesbezüglichen „Präjudizienvermutung" des Inhalts, daß sich das BVerfG „an seinen eigenen Präjudizienketten solange orientiert, als nicht überwiegende Gründe zu einer Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung [...] Anlaß geben", allerdings Kriele, in HdBStR V, § 110, Rz. 29 ff. 130 Gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG endet seine Wahlperiode zwar erst mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags; jedoch dürften aus politischen Gründen während dieser Zeit der bloßen Fortführung der Geschäfte meist keine weitreichenden Entscheidungen mehr getroffen werden. Versteyl, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 39, Rz. 5, meint sogar, während des gesamten letzten Jahres einer regulären Sitzungsperiode würden aus wahlkampftaktischen Gründen keine „unerwünschten Maßnahmen" mehr ergriffen. Zur Frage der Zulässigkeit von Kanzlerwahlen und Mißtrauensvoten durch den Bundestag während der Schwebezeit des Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG siehe H. H. Klein in Maunz/Dürig, GG, Art. 39, Rz. 90 einerseits und H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 39, Rz. 15 andererseits. 131 Das übersieht Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (432 f.). 132 Dazu Stern, StaatsR II, S. 68. 133 Vgl. BVerfG, Urteil vom 11.7.1961, BVerfGE 13, 54 (91); zu dieser sog. persönlichen Diskontinuität auch Stern, a. a. Ο. 134 Soweit erkennbar, wird die Dauer der Wahlperiode stets nur unter objektivrechtlichen Fragestellungen untersucht.

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

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auch schwerfallen. Zudem hätte jeder Wahlberechtigte die Möglichkeit, auch bei einer vorzeitigen Neuwahl seine Stimme abzugeben. Das würde die vorzeitige Revision des Wahlergebnisses, in der eine Verminderung der Bedeutung der Stimmabgabe allein liegen könnte, aufwiegen. 135

V. „Beschwerdebefugnis zu Unrecht bejaht"? Schließlich wird kritisiert, das Bundesverfassungsgericht habe die Beschwerdebefugnis zu Unrecht bejaht. Neben der Unmittelbarkeit 136 fehle auch die Gegenwärtigkeit der angeblichen Rechtsverletzung auf Seiten des Beschwerdeführers, 137 da er erst etwaige Ausführungsakte hätte abwarten müssen. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik, das Bundesverfassungsgericht habe im Maastricht-Urteil seine Rechtsprechung zur Beschwerdefähigkeit von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen revidiert, 1 3 8 da bisher stets ein unmittelbarer Eingriff in die Rechtssphäre des Einzelnen erforderlich gewesen sei, was als Kriterium nunmehr aufgegeben werde. Ferner wird eingewandt, das Bundesverfassungsgericht hätte, selbst wenn dem von ihm entwickelten Maßstab zu folgen wäre, nicht erst die Begründetheit, sondern bereits die Zulässigkeit der Beschwerde verneinen müssen. Denn von einem „Totalverlust der Bedeutung des Bundestages" könne „schon im Ansatz nicht die Rede sein". 1 3 9 Die erste Argumentation übersieht freilich, daß das Bundesverfassungsgericht wegen der anderenfalls eintretenden völkerrechtlichen Bindungswirk u n g 1 4 0 gegen Gesetze zur Ratifikation völkerrechtlicher Verträge im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die Verfassungsbeschwerde stets schon vor der Verkündung im Bundesgesetzblatt zuläßt, wenn das Gesetzgebungsverfahren bis auf die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und die Verkündung abgeschlossen i s t . 1 4 1 Letzteres war auch im Maastricht-Verfahren der Fall.

135

Ähnlich E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (272), in dortiger FN 5. Dazu bereits oben II. im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Popularklage. 137 So z.B. König, ZaöRV 54 (1994), 17 (19); ähnlich Weber, FS Benda, S. 421 (426); Zweifel andeutend auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 36 f. 138 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (430). 139 Bryde, Maastricht-Urteil, S. 5. 140 Siehe Art. 27 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II, S. 927 (937), wonach sich eine Vertragspartei zur Rechtfertigung der Nichterfüllung des Vertrages grds. nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann. 141 BVerfG, Urteil vom 25.6.1968, BVerfGE 24, 33 (53 f.); siehe auch Urteil vom 30.7.1952, BVerfGE 1, 396, 411 ff.; zustimmend Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 98. 136

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Gegen den zweiten Kritikpunkt spricht, daß das Bundesverfassungsgericht eine mögliche Rechtsverletzung, mithin einen möglicherweise gegebenen unmittelbaren Eingriff in die individuelle Rechtssphäre des Art. 38 GG gerade bejaht. Somit bleibt das Gericht seinem - stets erforderlichen - Kriterium einer Verletzung in subjektiven Rechten auch hier treu. Dem dritten Einwand ist schließlich entgegenzuhalten, daß auch nach überkommenem Verständnis die Möglichkeit einer Rechtsverletzung für die Annahme der Beschwerdebefugnis ausreicht. 142 Wenn, wie im Urteil festgestellt w i r d , 1 4 3 mittlerweile „nahezu 80% aller Regelungen im Bereich des Wirtschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt und nahezu 50% aller deutschen Gesetze durch das Gemeinschaftsrecht veranlaßt" sind, erscheint eine Rechtsverletzung durch die Kompetenzverlagerung vom Deutschen Bundestag auf die Ebene der Europäischen Union jedenfalls „nicht von vornherein ausgeschlossen". 144

B. Zustimmung zur Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil Auf der anderen Seite gibt es freilich auch gegenteilige Bewertungen der Entscheidung. 145 So wird die Auslegung des Art. 38 GG durch das Bundesverfassungsgericht teilweise schlicht als „selbstverständlich, wenn die Ausübung des Wahlrechts einen Sinn haben soll", angesehen. 146 Zudem hätten sich die Richter „intensiv mit Art. 38 GG auseinandergesetzt 147 und „mit einem in jeder Hinsicht wohlüberlegten, ausgewogenen U r t e i l " 1 4 8 die Wogen der Auseinandersetzung um den Maastricht-Vertrag geglättet, kurzum „die Aufgabe [...] souverän gemeistert". 149 „Das Unterfangen" des Bundesverfassungsgerichts, heißt es auch etwas gönnerhaft, entbehre mithin „nicht einer gewissen Überzeugungskraft". 150 Anderenorts wird zustimmend konstatiert, 142

So die st. Rspr. des BVerfG, siehe etwa den Beschluß vom 5.2.1991, BVerfGE 83, 341 (351 f.); zustimmend z.B. Pestalozzi VerfProzeßR, § 12, Rz. 27; Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 61, m.w.N. 143 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (173). 144 So der anzulegende Maßstab, Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 61. 145 Allgemein zustimmend etwa Rupp, in Brunner (Hrsg.), Kartenhaus Europa?, S. 104 (= ZfJ 1994, 105 [106]; = LIST FORUM 19 [1993], 294 [297]); Schachtschneider, RuP 1994, 1 f. 146 Schröder, DVB1. 1994, 316 (319). 147 Hölscheidt/Schotten, Verwaltungsrundschau 1994, 183 (185). 148 Pernice, EuZW 1993, 649. 149 Stern, Rheinischer Merkur, Nr. 42 vom 15.10.1993, S. 3.

5. Kap.: Die Rezeption des Maastricht-Urteils im Schrifttum

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das Gericht habe mit seiner Konzentration auf Art. 38 GG den „Kern der öffentlichen und der fachlichen Diskussion um die Befugnisse und die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft getroffen". 151 Ein anderer Autor bezeichnet diesen Zugriff des Gerichts gar als „genial", 1 5 2 während nachdenklichere Stimmen davon sprechen, „daß die verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe [...] durch Interpretation bis an die Grenzen ihrer normativen Leistungsfähigkeit getrieben werden und wohl getrieben werden müssen, um verfassungsrechtlich auf einen Prozeß einwirken zu können, der an die Fundamente zu rühren beginnt, auf denen das Verfassungsrecht aufbaut". 153 Letztlich sei hierdurch nämlich eine „Lücke im Bereich der (rechtzeitigen) verfassungsgerichtlichen Kontrolle" geschlossen worden, 1 5 4 weil „nur auf diese Weise sichergestellt werden kann, daß der durch die Garantie eines Mindeststandards letztlich geschützte Bürger seine diesbezüglichen Rechte auch geltend machen kann". 1 5 5 Des weiteren wird auch bestritten, daß das Bundesverfassungsgericht „der Bundesregierung im Sinne eines ,Ja, aber' zahlreiche Auflagen gemacht" habe. 1 5 6 Ferner habe es auch keineswegs den Weg für Popularklagen eröffnet. Zum einen spricht Oppermann von „sehr verständlicher Schadensbegrenzung ... [gegenüber] einer Flut neuer Verfassungsbeschwerden". 1 5 7 „Die Aussichten, eine zulässige Beschwerde zu erheben, dürften daher gering sein'·. 158 Zum anderen wird bestritten, daß es sich überhaupt um eine Popularklage handele; vielmehr werde „nur scheinbar eine actio popularis eröffnet. Denn die Verletzung des »generellen Wesensgehalts' als der generelle „»praktische Wegfall' einer Grundrechtsgarantie betrifft jeden (bisherigen) Grundrechtsträger selbst und individuell, indem ihm sein Recht entzogen w i r d " . 1 5 9

150

Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (434). Gündisch, AnwBl. 1993, 590 (592); ähnlich Götz, JZ 1993, 1081 (1082): „... mit sicherem Zugriff den richtigen verfassungsrechtlichen Ansatz gewählt". 152 So Steindorff, EWS 1993, 341; skeptisch wegen der begrenzten Tragweite des Art. 38 GG insoweit Schröder, DVB1. 1994, 316 (319). 153 Heintzen, AöR 119 (1994), 564 (569). 154 E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (275). 155 Epiney, Cahiers de l'IDHEAP 123, S. 11. 156 Götz, JZ 1993, 1081 (1086). 157 Th. Oppermann, Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.10.1993, S.13; ähnlich Meessen, NJW 1994, 549 (550 f.); Incesu, RuP 1994, 70 (72); vorsichtig optimistisch aufgrund einer „wohlwollenden Lesart der Urteilsgriinde" insoweit auch Schwarze, NJ 1994, 1 (3); Wieland, EJIL 5 (1994), 259 (261), leitet dieses Ergebnis aus der Beschränkung der Urteilsgrundsätze auf den „Anwendungsbereich des Art. 23 GG" ab. 158 H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7). 159 H.-J. Cremer, a.a.O. 151

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme 6. Kapitel

Dogmatische Ansätze i m Schrifttum nach dem Maastricht-Urteil Über die größtenteils auf bloße Zustimmung oder Kritik angelegten Besprechungen des Maastricht-Urteils hinaus gibt es vereinzelt im Schrifttum auch Versuche, das vom Bundesverfassungsgericht angenommene subjektive Recht eigenständig zu dogmatisieren und so mit einer eigenen Begründung zu versehen. Diese Ansätze sollen im folgenden jeweils kurz vorgestellt und bewertet werden.

Α. Κ. A. Schachtschneiders Konzept der „Res publica res populi" Besondere Beachtung darf bei dieser Analyse zunächst eine Arbeit von Schachtschneider beanspruchen. Diesem gelang es ja, wie bereits oben bei der Nachzeichnung der Verfahrensgeschichte dargelegt, 160 mit seiner Argumentation das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich zu beeinflussen. 161 Zudem hatte er bereits 1970 einen außerordentlich weitgehenden „Anspruch auf Demokratie" postuliert 1 6 2 und war schließlich mehr als 25 Jahre später an der sogenannten Euro-Verfassungsbeschwerde beteiligt, in der es ebenfalls um die Frage der subjektiv-rechtlichen Reichweite des Art. 38 Abs. 1 GG ging. 1 6 3 Dementsprechend soll Schachtschneiders umfangreiche Arbeit „Res publica res populi", erschienen nach dem Maastricht-Urteil, als erste auf einen möglichen Beitrag zu der hier behandelten Fragestellung eines subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG untersucht werden. In dieser Arbeit, auf die er zur Begründung in seinen Schriftsätzen an das Bundesverfassungsgericht schon vor ihrem Erscheinen gelegentlich verwiesen hatte, entwickelt Schachtschneider weit ausgreifend eine - so der Untertitel - „Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre". Aufbauend auf einem nach eigener Ansicht kantianisch beeinflußten Verständnis von der „Republik" als einem nicht lediglich formalen, sondern inhaltlichen Beg r i f f , 1 6 4 formuliert er einen Gegenentwurf zu der seiner Auffassung nach allzu stark von den politischen Parteien beherrschten Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik. Seine aufgrund mancher Wiederholungen und etli160 161 162 163 164

Oben 1. Kapitel, F. III. Ebenso Hailbronner, GYIL 37 (1994), 93 (95). Schachtschneider, JR 1970, 401 ff. Zu den Euro-Verfahren näher unten 7. Kapitel, A. Zu dieser Unterscheidung siehe Böckenförde, in HdBStR I, § 22, Rz. 95 f.

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

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eher emphatischer Zitate freilich zuweilen schwer verständliche Konzeption geht dabei jedoch mit der herrschenden Auffassung und insbesondere dem - vor allem für die Staatspraxis bedeutsamen - Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wenig konform. Vielmehr ist sie gerade darauf angelegt, „alle Institutionen der Verfassung neu [zu] dogmatisieren". 165

I. Der Gedankengang von Schachtschneider Stark gestrafft dargestellt, argumentiert Schachtschneider - soweit vorliegend von Interesse 166 - etwa wie folgt: 1. Das Republik-Verständnis

unter Bezugnahme auf Kant

Ausgehend von der Prämisse, daß das Recht in einem auf den Schutz der Würde des Menschen verpflichteten Gemeinwesen nur auf Freiheit gründen könne, kritisiert er die herrschende Auffassung, daß das Grundgesetz als Staatsform die Demokratie vorgebe. 167 Da diese von der h.M. - entgegen der ursprünglichen Bedeutung des Wortes - nicht mehr als „Volksstaatlichkeit", sondern als „Volksherrschaft" geweitet werde, 1 6 8 bedeute sie heute nicht die größtmögliche Freiheit des Einzelnen, sondern dessen „Unterwerfung unter einen Herrscher", nämlich das herrschende V o l k . 1 6 9 Demgegenüber gewährleiste ausschließlich das republikanische Prinzip, im Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 genannt, die Freiheit des Einzelnen. Dieses sei nämlich nicht bloßer (formaler) Gegenbegriff zur Monarchie, sondern habe auch einen von der herrschenden Meinung vernachlässigten materiellen Gehalt, nach dem die Organisation des Gemeinwesens „öffentliche Sache", res publica, und um des gemeinsamen Wohls willen auszuüben sei. Nur hier repräsentierten die Bürger sich wirklich selbst. Im Rahmen seiner Argumentation beruft sich Schachtschneider auf Kant, der ja ebenfalls deutlich zwischen Demokratie und Republik unterschied und die Begriffspaare Demokratie/Aristokratie/Autokratie für die (politische) „Form der Beherrschung (forma imperii)" einerseits und Republik/ Despotie zur Kennzeichnung der (ethischen) „Form der Regierung (forma regiminis)" andererseits verwendete. 170 Die in einer Republik geltende kon-

165

Schachtschneider, Res publica res populi, S. IX. Eine sehr gute allgemeine Zusammenfassung von Schachtschneiders kengang findet sich bei Huster, Der Staat 34 (1995), 606 ff. 167 Schachtschneider, Res publica res populi, z.B. S. 14 ff., 30. 168 Schachtschneider, a.a.O., S. 32 und öfter. 169 Vgl. Schachtschneider, a.a.O., S. 92; ähnlich auch S. 192. 170 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 24 f. 166

Gedan-

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

sensuale Ordnung schließe, so meint Schachtschneider, die Ausübung von Herrschaft aus. 1 7 1 Sie gewähre so mit der Setzung eigenen Rechts die größtmögliche Freiheit der Bürger, denn - unter Bezugnahme auf Rousseau - „der Gehorsam gegen das selbst gegebene Gesetz ist Freiheit" 1 7 2 bzw. mit Verweis auf Kant - „Gesetzlichkeit ist Freiheit, vorausgesetzt, das Gesetz ist Recht". 1 7 3 Die Setzung dieses Rechts dürfe sich dabei freilich nicht nach dem Mehrheitsprinzip richten, denn ein solches im Sinne einer Mehrheitsherrschaft wäre republikwidrig. 1 7 4 „Republikanisch ist Führung nur, wenn sie argumentiert, d.h. wenn sie sich auf den Diskurs um Wahrheit und Richtigkeit einläßt und dadurch zur geistigen Führung in Freiheit, also zur vorbildlichen Moralität wird." 175 Recht im Sinne Kants verlange demnach auch in der Bundesrepublik Deutschland die Beachtung des kategorischen Imperativs. Denn ,,[d]ie Verfassung der Freiheit gebietet die Sittlichkeit, d.h. die allgemeine Gesetzlichkeit des Handelns. Der Imperativ ist notwendig, damit alle frei zu ihrem Glück sind. Nur die allgemeine Gesetzlichkeit bewirkt, daß alle , unabhängig sind von anderer nötigender Willkür 4 , d.h. die äußere Freiheit haben."176 „Die Achtung vor dem kategorischen Imperativ, der gute Wille des Gesetzgebers also, macht aus Gesetzen Recht". 177 Anknüpfungspunkt hierfür ist für Schachtschneider die Nennung des Begriffs „Sittengesetz" in Art. 2 Abs. 1 GG, den er entgegen der ganz herrschenden Ansicht nicht als bloße Grundrechtsschranke im Sinne entweder der überlieferten sittlichen Vorstellungen 178 oder des überlieferten Rechtsbegriffs „gute Sitten" 1 7 9 sieht. Vielmehr sei damit der kategorische Imperativ von Kant gemeint, der alles Staatshandeln beeinflusse: „Das Grundgesetz hat aber mit dem Sittengesetz in Art. 2 Abs. 1 den kategorischen Imperativ zur republikanischen Grundpflicht moralischer Art erhoben". 8 0

171

Vgl. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 86 f. Schachtschneider, a.a.O., S. 127. 173 Schachtschneider, a.a.O. 174 Schachtschneider, a.a.O., S. 109; siehe auch S. 112 ff. 175 Schachtschneider, a.a.O., S. 103. 176 Schachtschneider, a.a.O., S. 56. 177 Schachtschneider, a.a.O., S. 149. 178 So z.B. Starck, FS Geiger (1974), S. 259 (273). 179 So etwa Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rz. 16; Pieroth/Schlink, II, Rz. 388. 180 Schachtschneider, Res publica res populi, S. 56. 172

StaatsR

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

95

2. Das Verhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht Ausgehend von dieser Grundposition sieht Schachtschneider das Bundesverfassungsgericht in einer Rolle, die über das herkömmliche Verständnis weit hinausgeht. Denn während auch bislang die besondere Position des Verfassungsgerichts an der Schnittstelle von Politik und Recht sowie die politische Rolle des Verfassungsrechts dazu führte, das Gericht als „politisches Gericht", 1 8 1 als „Durchbrechung der Gewaltenteilung" 182 oder gar als „Vierte Gewalt" 1 8 3 anzusehen, läßt Schachtschneider diese Ansätze noch weit hinter sich. Er weist dem Bundesverfassungsgericht für die Gesetzgebung eine ebenso wichtige Rolle zu wie dem Bundestag und Bundesrat. Denn letztlich handele es sich bei der Gesetzgebung nur um die Erkenntnis des praktisch Vernünftigen, wie es sich aus dem kategorischen Imperativ ergebe, der in den Grundrechten weitere objektiv-rechtliche Vorgaben gebe: „Die objektive Dimension der Grundrechte charakterisiert die Teilung der Gesetzgebungsfunktion zwischen der Gesetzgebung und der Verfassungsrechtsprechung, weil die Gesetzgebung von den Grundrechten geleitet wird, für deren Verwirklichung die Verfassungsrechtsprechung verantwortlich ist." 1 8 4 „Die Verantwortung des Verfassungsgerichts für die Rechtlichkeit der Gesetze rechtfertigt es, das Gericht, genauer seine beiden Senate, als eine »Dritte Kammer4 zu bezeichnen."185 Diese extreme Aufwertung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts ist nur verständlich vor dem Hintergrund von Schachtschneiders Einschätzung, daß in der Bundesrepublik mittlerweile eine „typisch unaufrichtige Parteienoligarchie" 1 8 6 herrsche, die das Parlament lediglich als verlängerten Arm von Koalitions- bzw. Fraktionsrunden begreife. „Allein schon die Fraktionierung" zeige angesichts des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG „das Persönlichkeitsdefizit der Abgeordneten", 187 und die Fraktionen seien „die Bündnisse des Mißbrauchs der Abgeordneten". 188 Dementsprechend seien die Abgeordneten, die ausschließlich ihr persönliches Wohl im Auge hätten, ungeeignet, das praktisch Vernünftige zu erkennen. In um so hellerem Licht und mit desto

181 Vgl. die Nachweise bei Stern, StaatsR II, S. 944, im Text zur dortigen FN 39; Roellecke, in HdBStR II, § 53, Rz. 24. 182 Vgl. Böckenförde, NJW 1999, 9 (13); weitere Nachweise bei Stern, a.a.O., S. 939 f. 183 Diesen und andere Begriffe referiert Simon, in HdBVerfR, § 34, Rz. 29; kritisch zu den Befugnissen des BVerfG auch Großfeld, NJW 1995, 1719 ff. 184 Schachtschneider, Res publica res populi, S. 823. 185 Schachtschneider, a.a.O., S. 936. 186 Ygi Schachtschneider, a.a.O., S. 968 et passim. 187 Schachtschneider, a.a.O., S. 943. 188 Schachtschneider, a.a.O., S. 942.

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

gewichtigeren Kompetenzen erscheint bei Schachtschneider dagegen, trotz der parlamentarischen Bestellung der Richter, das Bundesverfassungsgericht: „Die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts dient [...] der Förderung der praktischen Vemünftigkeit der Gesetzgebung. [...] Keinesfalls sollte einem parteienstaatlichen Parlament die letzte Entscheidung über das Recht überlassen bleiben. Dafür ist es nicht eingerichtet. Weder sind die Abgeordneten geeignet, Rechtsfragen verantwortlich zu entscheiden, noch läßt die Größe des Parlaments einen rechtlichen Diskurs zu, der unabdingbar einer Rechtserkenntnis vorausgehen muß. In jeder Weise ist das Bundesverfassungsgericht bei der Erkenntnis des Rechts dem Gesetzgeber überlegen. Es hat seiner Gestaltung nach eine weitaus höhere Chance zur Moralität." 189 „Weil Gesetzgebung, soll sie Recht setzen, Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit voraussetzt, also Moralität erfordert, steht unvermeidbar die Moralität des Gesetzgebers, nämlich die praktische Vemünftigkeit seiner Gesetze, auf dem Prüfstand der Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ob der Gesetzgeber die Grenzen des praktisch Vernünftigen überschritten oder eingehalten hat." 190 * Das geht so weit, daß dem Gericht sogar die Aufgabe übertragen wird, „den Gesetzen [erst] die Legitimität des Rechts zu verschaffen. Das leistet das Bundesverfassungsgericht durch seinen Spruch, da[s] angegriffene Gesetz entspreche den Grundrechten und sei verfassungsgemäß." 191 3. Das Grundrechtsverständnis Schachtschneider geht in seiner Arbeit des weiteren von einem Verständnis der Grundrechte aus, das grundlegend anders ist als die im übrigen wohl unangefochtene Staatspraxis. Alle Grundrechte seien objektiv-rechtliche Ausprägungen des kategorischen Imperativs. Dementsprechend gewährleiste Art. 2 Abs. 1 GG ein „Grundrecht auf allgemeine Gesetzlichkeit", 192 d.h. ein Grundrecht darauf, daß die Gesetze „Recht" im kantischen Sinne seien, also unter Beachtung des kategorischen Imperativs den Grundsätzen der Richtigkeit und Wahrheit verpflichtet blieben. Darum „können die Bürger eine Gesetzlichkeit verlangen, welche die allgemeine Freiheit Wirklichkeit sein läßt." 193 „Die Rechtlichkeit der Gesetze zu fördern, ist die Sache jedes Bürgers, vor allem ist es Sache der Vertreter des Volkes im Parlament und in den Verfassungsgerichten." 194

189 190 191 192 193 194

Schachtschneider, Schachtschneider, Schachtschneider, Schachtschneider, Schachtschneider, Schachtschneider,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. 941 f. S. 943 f. S. 960. S. 494. S. 296. S. 306 f.

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

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Art. 2 Abs. 1 GG ist damit auch für Schachtschneider das allgemeine Freiheitsrecht, aber nicht im Sinne eines grundlegenden Abwehrrechts, sondern vielmehr - soweit diese traditionelle Terminologie überhaupt paßt als fundamentales Teilhaberecht auch auf inhaltlich-richtiges Staatshandeln: „Die Moralität wird dadurch zur juridischen Kategorie, [...] die sich in der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts verwirklicht, seine praktische Vernünftigkeit, seine Moralität, stellvertretend für das Volk, in Rechtserkenntnissen materialisiert, für das Gemeinwesen verbindlich zu machen".195 Damit wird Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als „Recht auf allgemeine Gesetzlichkeit" zur Grundlage auch eines subjektiven Rechts auf Demokratie. Demgegenüber findet sich zur besonderen Rolle des Art. 38 GG, die Schachtschneider noch im Maastricht-Verfahren so betont hatte, im „Res publica res populi" wenig. Lediglich an einer Stelle heißt es, die Bürger hätten ein Grundrecht darauf, „daß das von ihnen gewählte Parlament seine Aufgaben erfüllt und nicht manipuliert durch ein anderes ersetzt wird (argumentum aus Art. 38 Abs. 1 in Verb, mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a G G ) " . 1 9 6 Dies ist freilich mehr oder minder eine bloße Wiedergabe der Aussage des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts und wohl ohne darüber hinausgehende Erkenntnis.

II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll eine Beurteilung der logischen Stringenz und philosophischen Überzeugungskraft von Schachtschneiders Gesamtkonzeption als solcher nicht unternommen werden, 197 da dies den vorhandenen Rahmen sprengen würde. Stattdessen sollen sich die Anmerkungen auf die hier zu beantwortende Fragestellung nach einem subjektivrechtlichen Schutz vor parlamentarischer Selbstentmachtung beschränken. 1. Erstes Problem: Konzeptionsbedingte

dogmatische Unklarheiten

Schachtschneiders Arbeit erscheint bereits nach ihrer Grundkonzeption wenig geeignet, Erkenntnisse für die Frage der dogmatischen Fundierung 195

Schachtschneider, a.a.O., S. 499. Schachtschneider, a.a.O., S. 801. 197 Sehr kritisch freilich die Besprechung von Gröschner, JZ 1996, 637 ff.; ebenfalls kritisch Huster, Der Staat 34 (1995), 606 ff.; etwas positiver, wenn auch weithin nur referierend die Besprechung von Karpen, JR 1995, 481 f.; vgl. im übrigen die spöttische Bemerkung von Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (206), dortige FN 29, zum Verfassungsbeschwerdeschriftsatz im Maastricht-Verfahren: ,,[I]nwieweit das mit viel Emphase extrapolierte Feiern Kantischen Gedankenguts hinsichtlich des Grundgesetzes angemessen ist, erscheint zweifelhaft; ansonsten müßten Schachtschneider et al. auch annehmen, Friseure seien nicht wahlberechtigt." 196

7 Soppe

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

eines subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG zu liefern. Dies ergibt sich insbesondere aus folgendem: Methodisch ist zunächst zu rügen, daß Schachtschneider des öfteren nicht klar genug trennt zwischen allgemeinen Erörterungen der Staatstheorie, -lehre oder gar -philosophie einerseits und konkreter Grundgesetzexegese andererseits. 198 Rein dogmatische Auslegung der gegebenen Verfassung und Ableitung von (gewünschten) Ergebnissen aus den allgemeinen Staatswissenschaften verschwimmen bisweilen bis zur Unkenntlichkeit. Das hat zur Folge, daß man sich bei der Frage, ob die geltende Verfassung eine bestimmte These Schachtschneiders überhaupt trägt, häufig auf schwankendem Boden befindet, da die rechtliche Verortung im Grundgesetz unklar bleibt. Das gilt um so mehr, als häufig „eine transparente Argumentation durch Kaskaden von Zitaten verdeckt oder sogar ersetzt w i r d " . 1 9 9 Als Beispiel kann insoweit die von ihm behauptete kantianische Prägung des Grundgesetzes angeführt werden, auf der sein Konzept, soweit es auf die deutsche Verfassungslage abzielt, ja wesentlich beruht. Gröschner weist nach, daß Schachtschneiders Argumentation diesbezüglich äußerst „dünn" i s t , 2 0 0 wenn dieser sich allein auf einen Satz der Erinnerungen Carlo Schmids als Mitglieds des parlamentarischen Rats stützt. Bei einer ganz herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Lehre, die von der weltanschaulichen Neutralität des Grundgesetzes ausgeht, 201 wäre hier für eine wissenschaftlichen Kriterien genügende Untermauerung deutlich mehr Argumentationsaufwand erforderlich gewesen. Vergleichbares gilt für die von Schachtschneider behauptete Auslegung, die Erwähnung des „Sittengesetzes" in Art. 2 Abs. 1 GG transponiere nicht nur den kategorischen Imperativ in das Grundgesetz, sondern mache diesen auch gleich zur „republikanischen Grundpflicht moralischer Art". Auch diese Auffassung ist so grundlegend neu und sieht sich einer so geschlossenen gegenteiligen Ansicht gegenüber, daß eine ganz erhebliche Argumentationslast bei ihrem Autor liegt, der ihr aber kaum nachkommt. Diese Tendenz dogmatischer Unsicherheit hängt freilich auch mit Schachtschneiders Anspruch zusammen, „alle Institutionen der Verfassung neu [zu] dogmatisieren". 202 Dies bringt ihn zwangsläufig - und folgerichtig - dazu, nahezu das gesamte überkommene Verständnis dieser Institutionen über Bord zu werfen. Ebenso zwangsläufig ist dann aber auch, daß es bei 198

So auch Karpen, a.a.O., (482). Huster, Der Staat 34 (1995), 606. 200 Gröschner, JZ 1996, 637 f. 201 Vgl. nur BVerfG, Urteil vom 14.12.1965, BVerfGE 19, 206 (216); sowie Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rz. 19 ff; jeweils m.w.N.; siehe auch Huster, Der Staat 34 (1995), 606 (612). 202 Schachtschneider, Res publica res populi, S. IX. 199

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99

dem einen oder anderen Gesichtspunkt enge Überschneidungen mit dem überkommenen Verständnis gibt, bei anderen Aspekten hingegen nicht, ohne daß dies vom Autor stets deutlich unterschieden würde. Eng damit zusammen hängt schließlich ein weiterer Aspekt: Schachtschneider vertritt nicht nur ein anderes Rechtsverständnis als das überkommene. Letztlich geht er, weil gerade im Bereich des Verfassungsrechts das rechtliche Dürfen oft das tatsächliche Sein bestimmt, auch von einer anderen Tatsachengrundlage als dem in der Bundesrepublik bestehenden Modell aus. Denn da beispielsweise in der Verfassungsrealität das Bundesverfassungsgericht sich eben nicht als „Dritte Kammer" der Gesetzgebung ansieht und auch gerade nicht in Anspruch nimmt, die „Moralität" der Gesetzgebung zu überprüfen, 203 hat es auch tatsächlich nicht die Position, die Schachtschneider ihm zuschreibt. Auch wenn daher, wie dargelegt, seine Argumentation, zum Beispiel zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in weitem Umfang von seiner Sicht der politischen Verhältnisse, wie etwa der starken Stellung der politischen Parteien, beeinflußt sein mag, so beschwört er somit letztlich doch ein anderes Modell als das im Laufe der Zeit in Deutschland gewachsene. Selbst wenn also sein philosophisches Konzept in sich geschlossen wäre - was beispielsweise Gröschner verneint 2 0 4 - . ließen sich Schachtschneiders Schlußfolgerungen hieraus auf die Verfassungswirklichkeit in Deutschland darum nicht übertragen. 205 Auch dies behindert eine klare Trennung von Ergebnissen de constitutione lata et ferenda. 2. Zweites Problem: Inhaltliche Bedenken an der Konzeption Des weiteren stoßen seine Folgerungen für die Staatsorganisation, vor allem bei der Gewaltenteilung, die für die vorliegende Fragestellung ganz entscheidend ist, auf inhaltliche Bedenken. In dieser Hinsicht erscheinen seine Ausführungen nicht überzeugend. Zweifelhaft bleibt nach Schachtschneiders Konzept vor allem, wie die inhaltlichen Vorgaben an die „Moralität" umgesetzt, d.h. wie sichergestellt sein soll, daß die Gesetze zu „Recht" im (angeblich) kantischen Sinne werden. Mit diesem Aspekt der Rechtssetzung verbunden ist ja nicht nur die Frage, wie aus der „Vielheit" der unterschiedlichen Willen der Bürger die „Einheit" des Staatswillens geformt werden soll und wie eine derartige Einigung bzw. zumindest Akzeptanz des so gefundenen Ergebnisses be203

Dazu unten 2. Gröschner, JZ 1996, 637 (642): „offensichtliche[r] Bruch der Gesamtkonzeption"; ähnliche Nachweise passim; zweifelnd auch Huster, Der Staat 34 (1995), 606 204

(610). 205

7*

Ebenso Huster, a.a.O. (611).

100

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

gründet werden kann. Ganz praktisch bleibt die Frage, ob eine Kontrolle des Prozesses der Staatswillensbildung erfolgen, und, wenn ja, wer in welchem Verfahren hierzu berufen sein soll. Schachtschneider weist hier dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz über die Frage zu, was „Moralität" bzw. „praktische Vernünftigkeit" in einem konkreten Fall zu tun geböten. 206 Nach seiner Konzeption kann der Einzelne im Wege der Verfassungsbeschwerde diese Kontrolle mit der Rüge auslösen, Art. 2 Abs. 1 GG sei verletzt, da der Gesetzgeber sich nicht an das Sittengesetz gehalten habe, so daß seine gesetzliche Regelung nicht der praktischen Vernunft entspreche. 207 Eine derartige Auffassung ist freilich unter den Gesichtspunkten der Gewaltenteilung sowie der demokratischen Legitimation 2 0 8 höchst problematisch. Denn hiermit würde gegebenenfalls die parlamentarische Entscheidung, obwohl diese ja auch nach Schachtschneider als Repräsentation des Volkswillens ergangen ist, durch die Wertung etwaiger Verfassungsbeschwerdeführer bzw. des Bundesverfassungsgerichts konterkariert. Schachtschneider selbst erwähnt zwar an anderer Stelle den Vorrang, den Entscheidungen des Gesetzgebers vor richterlichen Entscheidungen haben müßten. 2 0 9 Jedoch fehlen - wie auch immer geartete - Maßstäbe, wann der Gesetzgeber einen Vorrang bei der Interpretation tatsächlicher Fakten, mithin eine Einschätzungsprärogative, haben soll. Vielmehr scheint Schachtschneider hier gerade dem Bundesverfassungsgericht in derartigen Fällen ein Letztentscheidungsrecht zugestehen zu wollen. Daß dies jedoch zu untragbaren Ergebnissen führen kann, liegt auf der Hand. Denn das Bundesverfassungsgericht würde damit, wie Schachtschneider ausdrücklich postuliert, in die Rolle des Gesetzgebers gerückt, wenn es „die wegen praktischer Vernunftwidrigkeit unrichtigen Gesetze" 210 aufheben könnte. Den Richtern müßte noch nicht einmal böser Wille unterstellt werden, um Konstellationen vorherzusagen, in denen sie die „Wahrheit und Richtigkeit" einer Gesetz gewordenen Problemlösung anders beurteilten als das Parlament, 2 1 1 zum Beispiel bei Prognoseentscheidungen für die Zukunft, tatsächlich schwierigen oder wissenschaftlich umstrittenen Bewertungen oder Ermessensfragen bei rechtlicher Auswahlmöglichkeit. Aus welchem Grund 206

Schachtschneider; Res publica res populi, S. 499. Besonders deutlich wird diese Auffassung in der Euro-Verfassungsbeschwerde, in der Schachtschneider et alii ihre rechtliche und volkswirtschaftliche Bewertung der 3. Stufe der Währungsunion als die einzig vertretbare darstellen und vom Bundesverfassungsgericht quasi deren Befolgung verlangen, näher dazu unten 7. Kapitel, Α. I. 208 Zur demokratischen Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit Böckenförde, NJW 1999, 9 (15 ff.). 209 Schachtschneider, Res publica res populi, S. 864. 210 Schachtschneider; Res publica res populi, S. 498. 207

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

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sollte nun aber ihre Beurteilung wahrer oder richtiger sein? Wie sollten sie schließlich gar den „guten Willen" des Gesetzgebers überprüfen können? Angesichts der wesentlich geringeren demokratischen Legitimation der Richter, des fehlenden Zugriffs auf den fachlichen Sachverstand der Ministerialverwaltung und ihrer in aller Regel zudem rein juristischen Vorbildung stieße eine derartige Entscheidungskompetenz deshalb auf fundamentale Bedenken, 212 über die sich Schachtschneider mit dem bloßen Hinweis auf die seines Erachtens „republikwidrige" parteipolitische Bindung der Bundestagsabgeordneten leichtfertig hinwegsetzt. Das Bundesverfassungsgericht würde so nicht nur zu der oftmals schon beschworenen „Superrevisionsinstanz", sondern sogar zum „Superlegislativorgan". Eine Begründung hierfür bleibt Schachtschneider schuldig. 3. Drittes Problem: Geringe Ergiebigkeit zum subjektiven Recht Auch darüber hinaus gibt Schachtschneiders Buch für die hier zu stellende Frage nach der Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG wenig her. Auch wenn nach seinem Konzept die Rolle des Bundesverfassungsgerichts (übermäßig) gestärkt wird und dem Einzelnen dadurch weitreichende Klagemöglichkeiten eröffnet werden, steht die Frage nach dem Individualrechtsschutz ersichtlich nicht im Mittelpunkt von Schachtschneiders Interesse. Da er sich vor allem mit der objektiv-rechtlichen Konzeption einer allgemeinen Republiklehre beschäftigt, werden weder Inhalt und Reichweite eines hier zu untersuchenden subjektiven Rechts näher bestimmt, noch wird eine dogmatische Aufarbeitung dieses Themenkomplexes angeboten. Wie dargelegt, begründet Schachtschneider seine Lesart des Art. 2 Abs. 1 GG trotz der völlig entgegenstehenden überkommenen Auffassung kaum. Eher beiläufig als ausgearbeitet sieht er darin ein „Grundrecht auf allgemeine Gesetzlichkeit". Dieser fehlenden dogmatischen Begründung entspricht eine fehlende inhaltliche Bestimmtheit. Offenbar sieht Schachtschneider die subjektive Reichweite als unbegrenzt an, so daß die objektivrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zur „Schaffung richtigen Rechts" und die hierauf bezogene subjektiv-rechtliche Berechtigung des Einzelnen absolut deckungsgleich sind. Auch dies entspricht aber keinesfalls dem überkommenen Verständnis von subjektiven öffentlichen Rechten, bei denen einem derartigen Recht zwar stets eine Pflicht des Verpflichteten gegen211

Auch Huster, Der Staat 34 (1995), 606 (611), kritisiert, daß Schachtschneider „das Faktum des Pluralismus" nicht ernst genug nehme, wenn er das Gesetzgebungsverfahren als reinen Erkenntnisprozeß konstituiere. 212 Zu derartigen Bedenken gegen eine Rolle des BVerfG „als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus" pointiert H.-P. Schneider, NJW 1999, 1303 ff.

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übersteht, nicht aber umgekehrt jeder Pflicht auch ein subjektives Recht entspricht. Auch insoweit hätte also eine Begründung erwartet werden können, die Schachtschneider schuldig bleibt. Unklar bleibt schließlich das dogmatische Verhältnis zwischen Art. 2 Abs. 1 GG als „Grundrecht auf Gesetzlichkeit" und Art. 38 GG, an dem Schachtschneider, wie gezeigt, in Übereinstimmung mit dem MaastrichtUrteil ein Recht darauf festmacht, daß das Parlament seine Aufgaben selbst erfülle und nicht manipuliert durch andere Institutionen ersetzt werde. Ist die letztere Vorschrift eine die erstere verdrängende Spezialregelung derselben Gewährleistung? Oder greift Art. 2 Abs. 1 GG noch weiter aus und schützt auch die inhaltliche Richtigkeit, während Art. 38 GG auf die Rüge fehlender Zuständigkeit beschränkt bleibt? Wie steht es überhaupt mit der Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG im Prozeß der politischen Teilhabe, die von der herrschenden Meinung ebenfalls verneint wird? 2 1 3

III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von Schachtschneiders Arbeit Nach alledem liefert Schachtschneider in seiner Arbeit „Res publica res populi" keinen überzeugenden Beitrag zur vorliegenden Fragestellung.

Β. A. Wolfs Konzept eines Anspruchs auf „judicial activism" aus Art· 38 GG Eine ähnlich starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts, wie sie Schachtschneider propagiert, wird dem Gericht auch, wenngleich mit anderer Begründung, in der Dissertation von A. Wolf zugebilligt.

I. Die Argumentation von A. Wolf In seiner Arbeit analysiert A. Wolf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gelangt zu der Auffassung, daß die dortige Entscheidung über die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde richtig ist. Nachdem er die Diskussion des Schrifttums über das Für und Wider der neuen Auslegung des Art. 38 GG recht umfassend 214 nachgezeichnet hat, ohne sich insoweit allerdings selbst festlegen zu wollen, 2 1 5 pflichtet er dem Bundesverfassungsgericht mit einer etwas überraschenden Argumentation bei:

213

Zu diesem Punkt näher unten F. II. 1. Nicht gesehen hat A. Wolf allerdings die hier gerade untersuchte Schrift von Schachtschneider, Res publica res populi, und auch auf die - jedenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahre 1999 - bereits gefällten Euro-Entscheidungen nebst zugehöriger Diskussion geht er nicht ein. 214

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

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„Um die Frage nach der Berechtigung der vorgenommenen Auslegung des Wahlrechts zu beantworten, ist über die dogmatische Ebene hinaus weitergehend die Auswirkung dieser Auslegung des Art. 38 GG auf die Stellung des BVerfG im Gefüge der Staatsorgane zu beachten. Nur von einem so verstandenen funktionalen Ansatz her ist die Fragestellung adäquat zu beantworten." 216 So sei im Bereich der europäischen Integration ein fortlaufender Kompetenzverlust des Bundestags festzustellen, der zum Teil an einem Übergang der Entscheidungsstrukturen von den nationalen Parlamenten zu den nationalen Regierungen sowie den Gemeinschaftsorganen liege, zum Teil aber auch - neben anderen Gründen 2 1 7 - an einem europapolitischen „Dornröschenschlaf 4 des Bundestags. 218 Demgegenüber habe die Exekutive an Macht gewonnen, und auch das Bundesverfassungsgericht habe sich des öfteren mit der verfassungsrechtlichen Problematik der Integration beschäftigt. Hieraus ergebe sich, daß die Frage nach einer Abhilfe dieses Kontrolldefizits nicht zur Alternative „Entscheidungszuständigkeit des Bundestages oder des Bundesverfassungsgerichts" führe. Stattdessen laute sie: „Gouvernement des administrations ou gouvernement des juges". Diese Frage sei zugunsten des Gerichts zu beantworten: 219 „Solange der Bundestag weiterhin seiner Kontrollfunktion im Hinblick auf die europäische Integration nicht oder nur ungenügend gerecht wird, obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, diesen Prozess auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überwachen." 220 Dem Gericht komme nämlich bereits aufgrund der grundgesetzlichen Entscheidung für den Verfassungsstaat eine starke Stellung unter den Staatsorganen z u , 2 2 1 woraus aufgrund eines „Wandels der Gewaltenteilung" „eine Legitimation, wenn nicht Verpflichtung zum Tätigwerden" resultiere. 222 Dem entspreche die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde, dem Schutz und der Wahrung des objektiven Verfassungsrechts zu dienen, 223 weshalb die Verfassungsbeschwerde möglichst weit zuzulassen sei: 2 2 4 215

Vgl. sein auf S. 114 f. gezogenes Fazit, das einerseits die Gründe zugunsten der neuen Auslegung überwiegen läßt, andererseits der dogmatischen Untersuchung die letztverbindliche Eignung zur Klärung dieser Frage allgemein abspricht. 216 A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 258 (These 10). 217 A. Wolf nennt hier (a.a.O., S.140 ff.) ganz ähnlich der Kritik Schachtschneiders, das „Zuschieben von Verantwortung ,νοη Bonn nach Karlsruhe 4", „spezielle Probleme der Parteiendemokratie", „[insbesondere Entscheidungen in eigener Sache", „Fehlen zureichender öffentlicher Diskussion", „Gewaltenverschränkung und Parteienkonsens", „Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat" sowie „Kurzatmigkeit der Gesetzgebung". 218 A. Wolf, a.a.O., S. 133 f. 219 Vgl. A. Wolf, a.a.O., S. 118 ff. 220 A. Wolf, a.a.O., S. 135. 221 A. Wolf, a.a.O., S. 150 ff. 222 A. Wolf, a.a.O., S. 155.

104

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

„So ist gerade aus Gründen der Rechtsräson eine starke Stellung des BVerfG zu fordern - damit das BVerfG die Rolle des Senats bzw. des Oberhauses, in die es hineingewachsen ist - um es pointiert auszudrücken - , bestmöglich ausfüllen kann. Hierfür ist [...] eine möglichst flexible Handhabung der Zulässigkeitskriterien [der Verfassungsbeschwerde] angezeigt."225 Die im Schrifttum teilweise geübte Kritik an einer zu starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts gehe mithin ebenso fehl wie die Forderung nach mehr „judicial self-restraint". Stattdessen gelte vielmehr folgendes: „Wenn ein anderes Verfassungsorgan, insbesondere der Gesetzgeber, seine Verantwortung für die Rechtsordnung in Fragen von elementarer Bedeutung für das Gemeinwesen nicht wahrnimmt, kann das BVerfG zu aktivem ,Richterlichen Eingreifen', zu judicial activism', herausgefordert sein, um einen andernfalls drohenden schweren und unerträglichen Zustand und damit größere Schäden für den (Rechts-)Staat abzuwenden."226 Im Anschluß an diese These nennt A. Wolf verschiedene Fallgruppen einer derartigen, das Eingreifen des Gerichts erfordernden Notsituation, zu denen auch, wie ausgeführt wird, die dem Maastricht-Urteil zugrundeliegende Fallkonstellation gehört habe. Aus diesem Grund sei die dortige extensive Auslegung des Art. 38 GG im Ergebnis zu Recht erfolgt, um dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Stellungnahme zu eröffnen. Letztlich sei hierdurch nämlich - entgegen aller Kritik im Schrifttum - ein europafreundliches Urteil ergangen, da das Gericht so im Wege einer präventiven verfassungskonformen Auslegung einerseits seiner grundgesetzlichen Aufgabe der Wahrung der Verfassung nachgekommen sei, andererseits aber einen offenen Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof habe vermeiden können. 2 2 7

II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung Auch wenn seine Arbeit aufgrund ihres Themas in mehrfacher Hinsicht die hier behandelte Fragestellung berührt, so ist sie wegen A. Wolfs dargestellten eigenen Ansatzes für die vorliegende Problematik letztlich unergiebig.

223 224 225 226 227

A. Wolf a.a.O., S. 156 f. A. Wolf a.a.O., S. 157. A. Wolf a.a.O., S. 163. A. Wolf a.a.O., S. 166. Vgl. A. Wolf a.a.O., S. 260 (These 19).

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum 7. Der empirische und rechtspolitische dieses Ansatzes

105

Charakter

A. Wolf sieht selbst, daß er mit den geschilderten Überlegungen den Bereich der juristisch-dogmatischen Argumentation verläßt. Er bezeichnet seinen Ansatz als „funktional". 2 2 8 Möglich erscheint allerdings auch eine Kennzeichnung als „empirisch" oder „rechtspolitisch". Denn die Fragen, inwieweit der Bundestag in der Verfassungsrealität seinen Kontrollaufgaben nicht nachgekommen sei, ob diese daher von anderen Staatsorganen wahrzunehmen seien und ob hierzu das Bundesverfassungsgericht am besten geeignet erscheine, dürfte weniger in den Bereich der Rechtswissenschaft als in den der empirischen Gesellschaftswissenschaften fallen, da sie wesentlich von tatsächlichen Befunden auszugehen und weitere, vor allem, außerrechtliche Aspekte zu berücksichtigen hätte. Rechtspolitisch ist demgegenüber die Schlußfolgerung Λ. Wolfs, die Verfassungsbeschwerde sei zur Erfüllung dieser Aufgabe extensiv zuzulassen. Dadurch wird sie nämlich zu einem bloßen Hilfsmittel oder „Instrument" im Bereich der staats-, verfassungs- oder auch integrationspolitischen Entscheidungsfindung, welches dem Bundesverfassungsgericht weniger die rechtliche Entscheidung als vielmehr eine politische Stellungnahme - in Substitution des insoweit angeblich „ausgefallenen" Bundestags - ermöglichen soll. 2 2 9 Inwieweit eine derartige Instrumentalisierung bereits schon jetzt der Fall ist oder etwa für die Zukunft wünschenswert wäre, mag eine verfassungspolitisch interessante Fragestellung sein. 2 3 0 Allerdings kann sie eine juristisch-dogmatische Aufarbeitung der vom Gericht postulierten neuen Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG nicht ersetzen. 2. Keine Argumentation zur Versubjektivierung Auch darüber hinaus bietet die Arbeit keine Begründung für die materiellrechtliche Anreicherung des Wahlrechts, die im Schrifttum ja vor allem auf Kritik gestoßen ist. 228

So die Abschnittsüberschrift von A. Wolf a.a.O., auf S. 117; bezeichnenderweise stellt er diesen Ansatz „neben" den dogmatischen Ansatz, siehe z.B. a.a.O., S. 1 unten, S. 19. 229 Besonders deutlich wird dieser Gedanke bei A. Wolfs Schlußfolgerung (a.a.O., S. 189). 230 Die erheblichen faktischen und rechtlichen Probleme eines verfassungsgerichtlichen „judicial activism" hat allerdings - in einem anderen Zusammenhang - H.-P. Schneider; NJW 1999, 1303 ff., deutlich aufgezeigt. Zu den Bedenken an einer derartigen Rolle des BVerfG „als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus" (H.-P. Schneider, a.a.O.), die auch schon gegen Schachtschneiders Konzeption erhoben wurden, siehe ferner oben Α. II. 2.

106

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Selbst wenn man A. Wolfs eigenen Ansatz noch als einen rechtlichen ansehen sollte, so bliebe er doch allein auf der objektiv-rechtlichen Ebene stehen, wenn er das Verhältnis der Staatsorgane zueinander analysiert. Ausführungen zum subjektiven Recht und zur Frage, mit welcher rechtlichen Begründung ein bislang nur objektiv-rechtlich verstandenes Gebiet nunmehr auch subjektive Gewährleistungen enthalten soll, finden sich nicht. Stattdessen geht es ihm gerade darum, ,,[ü]ber den begrenzten Bereich der Verfassungsbeschwerde hinaus [...] die Untersuchung auf eine allgemeine Theorie zur Stellung des BVerfG im Gefüge der Staatsgewalten auszudehnen". 2 3 1 Er behandelt damit nur die objektiv-rechtliche Verpflichtung zum „judicial activism", nicht aber den eventuellen subjektiv-rechtlichen Anspruch des Einzelnen darauf. Soweit die Arbeit - außerhalb dieses Ansatzes - grundrechtsdogmatische Probleme behandelt, bleibt sie demgegenüber zu sehr an der Oberfläche, um neue Erkenntnisse zu bieten. Dies ist zum einen für den dortigen Abschnitt „D. Dogmatische Ansätze zur Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes des Wahlrechts" festzustellen. Dort werden die dogmatischen Ansätze weithin nur referiert, soweit sie in der früheren Literatur, insbesondere in den Rezensionen der Maastricht-Entscheidung, entwickelt worden waren. Darüber hinaus reißt A. Wolf Fragen jeweils nur an und formuliert Ergebnisse stets im Konjunktiv. 2 3 2 Zum anderen gilt dieser Befund für den Schlußteil von A. Wolfs Arbeit, in dem er Stoßrichtung und Begründbarkeit etwaiger künftiger Verfassungsbeschwerden sowie Grenzen der Auslegung des Art. 38 GG behandelt. Auch hier werden Probleme oftmals nur angeschnitten, anstatt bis zum Ende durchdacht. 233

III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von A. Wolfs

Arbeit

Insgesamt liefert damit der Ansatz von A. Wolf keine für die vorliegende Fragestellung verwertbaren Erkenntnisse.

C. Der Rückgriff auf den Wesensgehalt des Wahlrechts, Art. 19 Abs. 2 GG I. Die Argumentation von H.-J. Cremer und A. Wolf Ein weiterer, freilich nur angedeuteter Ansatz im Schrifttum besteht darin, die Begründung der neuen Auslegung von Art. 38 Abs. 1 GG in der 231 232 233

A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 149. Siehe beispielsweise A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 65 f. So z.B. A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 224 ff.

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

107

Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zu sehen, 234 auf die auch schon Schachtschneider in dem von ihm verfaßten Verfassungsbeschwerdeschriftsatz Brunners abgehoben hatte. 2 3 5 Diese Garantie schütze vor einer Beseitigung der Substanz der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte und verbiete damit einerseits ihre prinzipielle Preisgabe; andererseits werde nur deren absolut feststehender Kern geschützt. In diesen „Argumentationszusammenhang" füge sich der Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts „nahtlos" e i n . 2 3 6 In Extremfällen ließe die „vollständige oder auch nur übermäßige Verlagerung hoheitlicher Gewalt" weg vom Bundestag das Wahlrecht zum Bundestag „zu einer wertlosen Hülle degenerieren". Das aber „ - so läßt sich der Gedanke des Art. 19 Abs. 2 GG aufnehmen - " taste das Wahlrecht in seinem Wesensgehalt an; mangels Rechtfertigung stelle dies dann stets auch eine Verletzung dar. 2 3 7

II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung Zu untersuchen ist, ob diese Argumentation tatsächlich geeignet ist, die neue materiellrechtliche Auslegung des Wahlrechts überzeugend zu begründen. Zunächst ist festzuhalten, daß Art. 19 Abs. 2 GG trotz des von ihm benutzten Begriffs „Grundrecht" und trotz seiner Stellung im Grundrechtsteil wegen seiner grundrechtssichernden Funktion auch auf grundrechtsgleiche Rechte außerhalb dieses ersten Abschnitts anwendbar i s t . 2 3 8 Damit kann er grundsätzlich auch auf das in Art. 38 Abs. 1 GG enthaltene Wahlrecht Anwendung finden. Jedoch ist die Wesensgehaltsgarantie für die Frage nach der dogmatischen Stichhaltigkeit der neuen Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG nicht ergiebig. Durch sie wird allenfalls die Reichweite des Wahlrechts festgelegt. Es wird aber nicht rechtlich begründet, warum dieses Recht - entgegen der überkommenen Auffassung - auch materiellrechtliche Elemente enthalten solle. Bei genauerer Analyse erweist sich nämlich, daß die darauf gestützte Argumentation eine petitio principii darstellt. Denn die Argumentation läßt sich in der Aussage zusammenfassen, das Wahlrecht sei nunmehr nicht nur 234

H.-7. Cremer, NJ 1995, 5 (7); zustimmend A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 105 f. 235 Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde des Manfred Brunner vom 18.12.1992, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 117. 236 A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 106. 237 H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7). 238 Vgl. Krebs, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 19, Rz. 19; deshalb werden im folgenden mit dem Begriff „Grundrechte", sofern nicht anders vermerkt, auch die „grundrechtsgleichen Rechte" erfaßt.

108

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

formal, sondern auch materiell zu verstehen, weil die materiellrechtliche Seite zu dessen Wesensgehalt gehöre. Dieser Satz würde in anderer Formulierung, aber mit gleichem Inhalt lauten: „Inhaltlich-materiellrechtliche Verbürgungen gehören zum Wahlrecht, weil sie zu dessen Wesensgehalt gehören." Auf diese Weise wird das Ergebnis „ . . . gehört zum Wahlrecht" aus der Behauptung abgeleitet „ . . . gehört zum Wesensgehalt des Wahlrechts", was ersichtlich einen Zirkelschluß darstellt. Damit ist also, dogmatisch betrachtet, für die Begründung noch nichts gewonnen. Vielmehr müßte erst einmal nachgewiesen werden, warum derartige materiellrechtliche Aspekte (sogar) zum unantastbaren Wesensgehalt des Wahlrechts gehören sollten. Denn was unter dem Begriff des Wesensgehalts im Sinne des Art. 19 Abs. 2 GG zu verstehen ist, ist keineswegs so eindeutig, daß ein schlichter Hinweis auf den Wesensgehalt des Wahlrechts jede nähere Beschreibung überflüssig machte. Vielmehr ist nach wie vor umstritten, was den Wesensgehalt eines Grundrechts ausmacht. Nach einem bekannten Wort gilt: „Das Wesen des Wesens ist unbekannt". 239 „Absolute Theorien", nach denen Art. 19 Abs. 2 GG einen - wie auch immer zu definierenden - absoluten Kernbereich der Grundrechte schützt, stehen „relativen Theorien", nach denen der Wesensgehalt immer nur relativ, das heißt in Abwägung zu anderen Grundrechten und sonstigen Verfassungswerten festgestellt werden kann, gegenüber; 240 zum Teil wird darüber hinaus sogar vertreten, es handle sich bei Art. 19 Abs. 2 GG im Grunde um eine „leerlaufende Verfassungsnorm", da sie nur deklaratorisch ausspreche, was sich aus einer sachgerechten Auslegung des jeweiligen Grundrechts ohnehin ergebe. 241 Mithin müßten diejenigen, die in diesem Zusammenhang auf die Wesensgehaltsgarantie rekurrieren wollen, erst noch den Wesensgehalt des Wahlrechts näher bestimmen. Dies würde aber wieder zu der Frage zurückführen, warum dieses Recht, genauer: sein „Wesen", entgegen langjährigem Verständnis auf einmal auch materiell-rechtliche Gewährleistungen enthalten solle. Damit wäre man in etwa wieder am Ausgangspunkt der vorliegenden Fragestellung angelangt - und hätte außerdem noch die Frage nach dem „Wesen des Wesens" zu klären. Hinzu kommt, daß die Effizienz eines Rechts in erster Linie an das jeweilige Recht selbst anknüpft 2 4 2 und insoweit der Rückgriff auf Art. 19 Abs. 2 GG gar nicht erforderlich erscheint. Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht, wie oben dargelegt, 243 im Maastricht-Urteil die 239

Luhmann, Grundrechte, S. 59 f. Vgl. hierzu die ausdifferenzierten Darstellungen von Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. II, Rz. 1 ff.; Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 135 ff. 241 Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 234 f.; zustimmend Hesse, VerfR, Rz. 332. 242 Vgl. Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (207). 240

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

109

Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG für seine Auslegung des Art. 38 GG nicht aktiviert, obwohl diese Norm in einer der Verfassungsbeschwerden ausdrücklich in Bezug genommen wurde. Stattdessen hat das Gericht - was dogmatisch kaum besser ist, aber wenigstens viele unübersichtliche Probleme ausspart - ausschließlich auf das Wahlrecht abgestellt und dessen unantastbaren „grundlegenden demokratischen Gehalt" sozusagen wahlrechtsimmanent, d.h. allein aus sich selbst heraus festgestellt.

III. Ergebnis zur Verwertbarkeit des Rückgriffs auf die Wesensgehaltsgarantie Nach alledem ist die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG für die Frage nach der dogmatischen Begründung der Schutzbereichsausdehnung bei Art. 38 GG nicht ergiebig.

D. Astrid Epineys Ansatz: Der status activus des Wahlberechtigten I. Die Argumentation von Astrid Epiney Ein anderer Ansatz in der Literatur, mit dem versucht wurde, die apodiktische Auslegung des Art. 38 GG durch das Bundesverfassungsgericht dogmatisch zu unterfüttern, stellt auf den Charakter des Wahlrechts als politisches Grundrecht und die dadurch vermittelte Stellung des Bürgers a b . 2 4 4 Auszugehen sei dabei von der Unterscheidung zwischen „droits de l'homme" und „droits du citoyen". Während erstere die Rechte erfaßten, die dem Einzelnen als Individuum gegenüber der Staatsgewalt entweder als Abwehr- oder als Leistungsrecht (status negativus bzw. status positivus) zustünden, gehe es bei letzteren um die Rechte, die dem Einzelnen in seiner Rolle als Staatsbürger eine Teilhabe an der staatlichen Willensbildung ermöglichten. 245 Diese bezögen sich also, im Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip stehend, auf die Konstituierung der Staatsgewalt; insbesondere das Wahlrecht solle die Legitimation der Staatsgewalt und ihrer Ausübung durch das Volk sicherstellen. 246 Dann müsse aber auch der Schutzbereich des Art. 38 GG so bestimmt werden, daß das dieser Vorschrift zu entnehmende subjektive Recht seiner Funktion für die Verwirklichung der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes gerecht werden könne. 2 4 7 Hierfür

243 244 245 246

Siehe oben 1. Kapitel, F. III. Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 ff. Epiney, a.a.O. (565). Vgl. Epiney, a.a.O. (566 ff.).

110

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

sei das bloße Recht auf formale Teilnahme an der Wahl freilich nicht ausreichend. Denn wenn der Wahlberechtigte zwar ein subjektives Recht auf Teilnahme an der Wahl habe, aber dann nicht gewährleistet sei, daß auf diese Weise auch tatsächlich die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk legitimiert sei, dann könne das in Art. 38 GG enthaltene Recht gerade nicht seine Funktion erfüllen, das Demokratieprinzip zu verwirklichen. Das Recht auf Teilnahme an der Wahl habe also nur dann einen Sinn, wenn es sich auch auf die Teilhabe an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt erstrecke, was wiederum voraussetze, daß das Parlament tatsächlich die ihm zustehenden Befugnisse ausübe. Aus Sinn und Zweck des Wahlrechts folge also auch ein materieller Inhalt dergestalt, „daß das gewählte Organ, der Bundestag, tatsächlich die ihm zustehenden Befugnisse der Ausübung der Staatsgewalt wahrnimmt. Insoweit hat der Bürger also über sein Recht, auf die Ausübung der Staatsgewalt Einfluß nehmen zu können, einen Anspruch auf Wahrung der Zuständigkeiten des [...] gewählten Organs; es findet ein ,Durchgriff 4 auf die Kompetenzen des Bundestages statt." 248

II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung Die Argumentation von Epiney enthält einige sehr interessante Ansätze, auf die später noch näher einzugehen sein wird. Insbesondere sieht Epiney richtig, daß grundlegend an die dogmatische Erklärung der neuen Auslegung von Art. 38 GG heranzugehen ist und auch allgemeine grundrechtliche Lehren einzubeziehen sind, ohne dabei den besonderen Charakter des Wahlrechts als Recht des aktiven Status aus den Augen zu verlieren. Andererseits gelingt es ihr nicht, einen schlüssigen Beweis dafür zu erbringen, daß nach der grundgesetzlichen Konzeption ein bloß formales 249 Recht auf Teilnahme an den Wahlen nicht ausreichend ist. Auch wenn dieser Aussage im Ergebnis zuzustimmen ist, fehlt doch der dogmatische Unterbau hierfür. Auf dieser Basis wird das von ihr gefundene Ergebnis zur bloßen „Glaubenssache": Entweder der Leser teilt ihre Meinung, daß das Wahlrecht nur materiellrechtlich angereichert sinnvoll genutzt werden könne, oder er tut dies nicht. Denn zwingend ist die Argumentation mit Sinn und Zweck des Wahlrechts wohl nicht. Im Grundgesetz gibt es verschiedene Strukturprinzipien, wie etwa das Rechtsstaats- und das Sozial247

Epiney, a. a. O. (568 f.), auch zum folgenden. Epiney, a.a.O. (569). 249 Epiney, a. a. Ο. (569 ff.), spricht durchgehend von einem „formellen" Recht, was aber nach allgemeinem Sprachgebrauch wohl nicht der Gegensatzbegriff zu „inhaltlich-materiell", sondern eher zu „informell" im Sinne von „nicht förmlich" ist. 248

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

111

staatsprinzip, die trotz eines engen Zusammenhangs mit grundrechtlichen Gewährleistungen nicht zu einer Erweiterung des jeweiligen grundrechtlichen Schutzbereichs führen. So folgt zum Beispiel nach ganz herrschender Ansicht weder aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG noch aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch, 250 obwohl dies zur Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips sicherlich sinnvoll und zweckmäßig wäre. Damit ist letztlich, obwohl Epiney den dogmatischen Hintergrund der neuen Auslegung richtig ausleuchtet, das eigentliche Argument für das „Umschlagen" der formalen Wahlrechtsgewährleistung in ein materiellrechtliches subjektives Recht noch nicht geliefert. Insoweit geht ihre Argumentation über das Maastricht-Urteil nicht hinaus. Wohl aus diesem Grunde hat sie sich auch vorhalten lassen müssen, ihre Argumentation kennzeichne „ein hoher verfassungspolitischer Impetus", 2 5 1 ein Vorwurf, der bereits gegenüber dem Bundesverfassungsgericht erhoben worden w a r . 2 5 2 Auch an der Fortsetzung der zitierten Kritik zeigt sich der letztlich thesenhafte Charakter von Epineys Aussage, wenn es dort - ohne nähere Begründung - heißt: „Weder sind Wahlen zu vergleichsweise kompetenzarmen Vertretungen sinnlos, noch nehmen Rechtsverbürgungen sonst entgegen ihrem textlichen Ausdruck all die Gewährleistungsinhalte auf, die in ihrem Sinnhorizont liegen." 253 Damit wird lediglich thesenartig das Gegenteil zu Epiney behauptet, ohne daß der Leser etwa, gestützt auf ihre Argumentation, diese Gegenbehauptung sofort als weniger richtig erkennen könnte. Für die Überwindung dieser diametral entgegengesetzten Aussage gibt der Rückgriff auf Epineys Aufsatz nichts her. Der Leser kann sich einer der beiden Behauptungen anschließen; überzeugen lassen kann er sich hiervon nicht. 2 5 4

III. Ergebnis zur Verwertbarkeit von Astrid Epineys Ansatz Nach dem Vorgesagten vermag auch dieses Konzept die neue Auslegung des Art. 38 GG nicht hinreichend überzeugend zu untermauern.

250

Vgl. Woljf/Bachof/Stober, VerwaltungsR I, § 43, Rz. 10, m.w.N. Pauly, AöR 123 (1998), 232 (281). 252 Wohl nicht zufällig wird in Paulys Kritik dieser Vorwurf unmittelbar im Anschluß auch gegenüber dem BVerfG erhoben (Pauly, a. a. O.). Zu der sonstigen diesbezüglichen Kritik am BVerfG siehe oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. 253 Pauly, AöR 123 (1998), 232 (281). 254 Kritisch zu Epineys Ansatz auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 65. 251

112

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

E. Art. 20 Abs. 1-3 GG als Anknüpfung für ein subjektives Recht auf Demokratie Aufgrund der Nennung des objektiv-rechtlichen Demokratieprinzips in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG mag des weiteren - über die dargestellten Ansätze hinaus - an Art. 20 Abs. 1-3 GG als Quelle einer weiten Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG zu denken sein. Inhaltlich könnte man hier versuchen, ein subjektives Recht zu begründen, indem man sich sozusagen von der anderen Seite annähert, als es das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil getan hat. Während dort die subjektiv-rechtliche, aber rein formale Gewährleistung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG materiellrechtlich angereichert wurde, könnte man versuchen, über Art. 20 GG (umgekehrt) die zwar materielle, aber rein objektiv-rechtliche Gewährleistung der Demokratie zu versubjektivieren, d.h. mit subjektiv-rechtlichen Inhalten zu versehen.

I. Die Argumentation von S. Hobe und B. Wiegand Auf dieser Linie ist im Anschluß an die Maastricht-Entscheidung in der Literatur vorgeschlagen worden, für die dortige Konstellation ein subjektives Recht des Einzelnen aus Art. 20 Abs. 1-3 GG direkt herzuleiten. 255 Dabei wird ausgeführt, im Kern der Zulässigkeitsprüfung des MaastrichtUrteils gehe es um die Frage der Effizienz der grundgesetzlich gewährleisteten subjektiven Rechte. „[Es] zeigt sich, daß die Berufung auf den Bedeutungsverlust des Art. 38 Abs. 1 GG nicht die dort enthaltenen subjektiven Rechte trifft [...], sondern den Artikel selbst, soweit dieser eine Emanation der Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG darstellt. Denn nur diese innerhalb der Verfassung übergeordneten Normen stellen - im Sinne einer Wesensgehaltsgarantie - die Grenzen zulässiger restriktiv-systematischer Interpretation des Art. 38 GG [...] dar. Dann geht es, subjektivrechtlich gewendet, aber nicht mehr um die Rechte aus Art. 38 GG, sondern um ein subjektives Recht auf (bzw. einen Mindestanwendungsbereich des) Art. 38 GG. Dieses kann aber aus logischen Gründen nicht in der Vorschrift selbst enthalten sein, sondern ist ihr vorgelagert." 256 „Kurz: ein Recht auf effiziente Wirksamkeit des Art. 38 Abs. 1 GG ist nur im Rahmen des Art. 20 GG ein durch andere Verfassungsnormen uneinschränkbares Recht dieser Norm selbst und kann sich in diesem Zusammenhang allein aus dem Demokratieprinzip ergeben." 257 Begründet wird dieser Ansatz mit der folgenden Überlegung: Nach überkommener Auffassung enthalte das Demokratieprinzip zwar keine subjek255

Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (207 f.). So, auch zum vorhergehenden, Hobe/Wiegand, im Original. 257 Hobe/Wiegand, a.a.O. (208). 256

a.a.O. (207), Hervorhebungen

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

113

tiven Rechte. Anders könne man dies aber sehen, wenn es Garantiewirkung für die Effizienz und den Erhalt der verfassungsbeschwerdefähigen Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte entfalte. Dogmatisch begründen ließe sich dies, so die Autoren Hobe und Wiegand, durch ein Verständnis der in Art. 20 GG genannten Regeln als Prinzipien, die sich im Gegensatz zu Rechtsregeln dynamisch entfalteten. Sie könnten als Optimierungsgebote verstanden werden, welche die Aufgabe hätten, bestimmte Werte zu optimieren. „Berücksichtigt man nunmehr die enge Verknüpfung von Werte- und Prinzipienlehre, so erscheint es unsystematisch, einerseits die als objektive Werteordnung klassischerweise bezeichneten Grundrechtsfunktionen zu versubjektivieren, wie es aufgrund der Prinzipienlehre konsequent ist, andererseits die ebenfalls rechtstheoretisch als Prinzipien anzusehenden Staatsstrukturprinzipien nicht. Hier spricht nichts dagegen, soweit diese Prinzipien selbst Teil der Werteordnung sind, [...] sie ebenso zu behandeln wie die objektivrechtlichen Gehalte der Grundrechte auch. Auch die Staatsstrukturprinz[i]pien stehen in einem z.T. unauflöslichen Zusammenhang zu den individuellen Gehalten der Grundrechte, daß es von diesem Blickwinkel her der Optimierungsaufgabe entspricht, ihnen - zumindest in Teilbereichen, wo die Konnexität zu Grundrechten nachweisbar ist - eine „subjektive Werteordnung" an die Stelle [gemeint ist wohl: Seite] zu stellen; Staatsstrukturprinzipien sind insoweit als subjektive Rechte anzusehen, wie sie die Funktion erfüllen, das subjektrechtliche [wohl: subjektivrechtliche] System der Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte zu optimieren." 258

II. Die Bewertung dieses Ansatzes für die vorliegende Fragestellung Für diesen Ansatz könnte insbesondere die Verfassungssystematik, auf die sich ja auch Hobe/Wiegand berufen, sprechen. Bereits nach überkommenem Verständnis besteht ein enger Zusammenhang zwischen Art. 38 GG und dem in Art. 20 GG niedergelegten Demokratieprinzip. 259 Gegen diesen Ansatz sprechen freilich zunächst der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, in dem Art. 20 GG nicht als eines der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte aufgeführt ist, sowie das historische Verständnis von Art. 20 G G . 2 6 0

258

Hobe/Wiegand, a.a.O.; dort auch die im Text noch folgenden Zitate. Siehe dazu die Nachweise oben 3. Teil. 260 Dementsprechend formuliert auch das BVerfG in seinem Beschluß vom 7.5.1957, BVerfGE 6, 376 (385): „Art. 20 GG ist in § 90 BVerfGG nicht aufgeführt. Mit der Behauptung, daß ein [Gesetz] diesen Artikel verletze, kann also eine Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden. Das Gericht könnte allenfalls im Rahmen einer zulässig erhobenen Verfassungsbeschwerde sich von Amts wegen veranlaßt sehen, auch die Übereinstimmung des angegriffenen Gesetzes mit anderen Verfassungsbestimmungen zu überprüfen." 259

8 Soppe

114

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Bei genauerer Betrachtung erweist sich zudem, daß auch systematische Gründe gegen die von Hobe und Wiegand skizzierte Konzeption sprechen. 1. Die Prämisse: Recht auf Effizienz nur aus Art. 20 GG

des Art. 38 GG

Gravierende Zweifel bestehen bereits an der Prämisse, daß ein „Recht auf effiziente Wirksamkeit des Art. 38 Abs. 1 GG" im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG nur aus Art. 20 GG folgen könnte. Grundsätzlich haben Rechtsnormen aus sich selbst heraus einen Anspruch auf effektive Geltung, 2 6 1 der auch, wie zum Beispiel die Institute des Rechtsmißbrauchs und des Schikaneverbots belegen, nicht auf die rein formale Beachtung beschränkt ist, sondern gerade die Befolgung „der Sache nach" mitumfaßt. Auch wenn Art. 38 GG selbst nicht in der „Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG genannt ist, ist er doch einer Aufhebung sogar durch den Verfassungsgesetzgeber insoweit entzogen, als er Elemente des - veränderungsfesten Art. 20 GG e n t h ä l t 2 6 2 Weiter als auf Beachtung dieses „Kernbereichs" 263 des Art. 38 Abs. 1 GG könnte wegen der inhaltlich identischen Reichweite daher auch ein Anspruch aus Art. 20 GG nicht gehen. Dann wäre es aber nicht erforderlich, dogmatisch auf Art. 20 GG zurückzugreifen, um ein subjektives Recht zu konstruieren und so die Beachtung dieser Grenzen durchzusetzen; ein derartiges Recht könnte auch aus Art. 38 GG selbst hergeleitet werden. Damit ist bereits die Prämisse, welche die beiden Autoren zur Anwendung von Art. 20 GG führt, nicht zwingend. als Prinzipien 2. Die Begründung: Staatsstrukturentscheidungen gleichzusetzen mit objektiven Grundrechtsgehalten Des weiteren überzeugt schon der erste Schritt von Hobes und Wiegands Begründung nicht, die Staatsstrukturentscheidungen des Art. 20 GG, darunter den Demokratiegrundsatz, undifferenziert als „Prinzipien" im rechtstheoretischen Sinne zu verstehen, die als Optimierungsgebote durch Abwägung realisiert würden. Hier wäre eine unterscheidende Betrachtung erforderlich. 261

Das räumen Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (207), selbst ein. Vgl. für einen Parallelfall auch Waechter, Die Verwaltung 1996, 47 (53): „Es ist durchgehend anerkannt und auch zwingend, daß für Einrichtungen, deren Existenz die Verfassung in einer Norm fordert, auch die Funktionsfähigkeit dieser Einrichtungen mitgefordert ist." 262 Vgl. Bryde, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 79, Rz. 41. 263 Im untechnischen Sinne, nicht im Sinne der Kernbereichstheorie zu Art. 2 Abs. 1 GG; zu dieser etwa Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rz. 14.

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

115

So ist der Rechtsstaatsgrundsatz wohl kein Prinzip im Sinne eines Optimierungsgebots, das mehr oder weniger weit verwirklicht werden könne, je nach dem Ergebnis einer Abwägung mit anderen Prinzipien. Vielmehr dürfte der Rechtsstaatsgrundsatz ein absolut geltender Rechtssatz sein. 2 6 4 Ein Prinzip im Sinne Alexys wäre demgegenüber eher der Sozialstaatsgrundsatz, dessen Ausprägungen nach allgemeiner Ansicht unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen 265 und insoweit stets mit anderen Prinzipien abzuwägen sind. Quasi zwischen diesen beiden Polen scheint schließlich das Demokratieprinzip zu stehen, das jedenfalls in seinem Kern einer Abwägung wohl nicht zugänglich ist und dort absolute Geltung beansprucht. Durchgreifende Bedenken sind ferner auch gegen die Begründung für den zweiten Schritt anzumelden. Darin werden die Prinzipien versubjektiviert, d.h. zu subjektiven Rechten erklärt, was mit einer Parallele zu den als „objektive Wertordnung klassischerweise bezeichneten Grundrechtsfunktionen" sowie dem Optimierungsgebot begründet wird. Zweifelhaft könnte bereits sein, ob, wie die Autoren meinen, es „aufgrund der Prinzipienlehre konsequent" ist, „die als objektive Werteordnung klassischerweise bezeichneten Grundrechtsfunktionen zu versubjektivieren". Denn die Frage einer etwaigen Versubjektivierung objektiver Grundrechtswirkungen ist in hohem Maße umstritten und die Ableitung subjektiver Rechte aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten bei weitem nicht so klar, wie es Hobe und Wiegand vorauszusetzen scheinen. 266 Sie bedarf vielmehr einer eingehenden Begründung. 267 Nicht überzeugend ist jedoch der Vorschlag, Staatsstrukturprinzipien „ebenso zu behandeln wie die objektivrechtlichen Gehalte der Grundrechte". Hiergegen spricht, entgegen Hobe und Wiegand, einiges: Grundrechten und Staatsstrukturprinzipien liegt bereits ein gänzlich unterschiedliches historisches Verständnis zugrunde: Grundrechte sind, jedenfalls in ihrer abwehrrechtlichen Funktion, von jeher als subjektive Rechte verstanden worden; 2 6 8 sie sind somit geradezu der Prototyp subjektiver öffentlicher Rechte. Demgegenüber betreffen die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG zunächst nur den objektiv-rechtlichen Staatsaufbau, die staatliche Struktur, ohne jeglichen Bezug zur Rechtssphäre des Einzelnen. Dieses überkommene Verständnis wäre zwar nicht ohne weiteres zwingend; 264 Vgl. etwa die Betonung des Rechtsstaatsgrundsatzes gegenüber dem Grundsatz der Demokratie bei Stern, StaatsR I, S. 870 f. 265 Näher dazu unten 5. Teil, 2. Kapitel, C. I. 266 Stern, StaatsR III/1, S. 978, zählt dies zu den „umstrittensten Problemen der Lehre von der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte". 267 Stern, a.a.O.; eine Begründung dieser Versubjektivierung versucht Alexy, auf den sich Hobe/Wiegand beziehen. 268 Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rz. 96; Bleckmann, StaatsR II, § 6, Rz. 5.

*

116

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

eine andere Auslegung könnte mit entsprechender Argumentation möglicherweise entwickelt werden. Eine derartige Begründung bleiben Hobe und Wiegand jedoch schuldig. Das Argument der Optimierbarkeit, auf das sie die Gleichbehandlung stützen wollen, verfängt nicht. Denn es wären alle möglichen Prinzipien im Grundgesetz und auch darüber hinaus denkbar, bei denen im Einzelfall eine optimierte Durchsetzung bzw. Durchsetzbarkeit wünschenswert sein könnte, ohne daß dies zu einer Versubjektivierung führen könnte. Zu nennen wären etwa das Prinzip der Verfassungsorgantreue, 269 das Prinzip der Bundestreue 2 7 0 oder ähnliche Regeln, die allein die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betreffen. 271 Hier käme wohl niemand auf den Gedanken, diesen Prinzipien - jedenfalls im Rahmen der im wesentlichen konsentierten Verfassungsstruktur 272 - subjektive Rechte beizumessen; eine Verbindung zu subjektiven Rechten besteht ersichtlich nicht. Diese Argumentationsschwäche wird auch durch den Hinweis auf einen „unauflöslichen Zusammenhang zu den individuellen Gehalten der Grundrechte" nicht behoben. Der Vorschlag von Hobe/Wiegand, die Versubjektivierung der Staatsstrukturprinzipien soweit zu beschränken, „wie sie die Funktion erfüllen, das subjekt[iv]rechtliche System der Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte zu optimieren", 2 7 3 ist deshalb wenig hilfreich. Denn zum einen ist die Reichweite dieser „Grundrechtsoptimierungsfunktion" unklar. Wie weit die Funktion der Staatsstrukturprinzipien gehen soll, - nur oder auch? - die subjektiven Rechte zu optimieren, wird ebensowenig dargestellt, wie die Frage beantwortet, was mit dieser „Optimierung" überhaupt gemeint ist, die verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit oder die materiellrechtliche inhaltliche Verfeinerung bzw. Entfaltung. Des weiteren kann der bloße Zusammenhang auch nicht ausreichen, den dogmatischen Unterschied zwischen Staatsstrukturprinzipien und Grundrechten in Richtung einer Versubjektivierung der ersteren einzuebnen. Denn 269

Dazu grundlegend Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 26 ff. et passim. Dazu ausführlich Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20, IV. Abschnitt, Rz. 61 ff. 271 Alexy, Grundrechte, S. 118 f., nennt als Beispiele für Prinzipien das Prinzip der militärischen Verteidigung sowie das der „Erhaltung und Förderung des Handwerks", die ebenfalls keinerlei unmittelbare subjektive Rechte enthalten. 272 Denkbar wäre allerdings eine radikal andere Konzeption etwa von der Qualität, mit der Schachtschneider die Bedeutung des republikanischen Prinzips stärken will. Ein derartiger Ansatz würde jedoch die Grenzen der Grundgesetzauslegung verlassen und wohl sogar einen anderen Verfassungstext, zumindest aber ein grundlegend anderes Verständnis nahezu aller grundrechtlichen Begriffe voraussetzen. Ein solches Konzept kann daher im Rahmen der vorliegenden Arbeit weder entwickelt, noch muß es mangels Existenz näher untersucht werden. 273 Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (208). 270

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

117

einerseits sind nicht alle Rechtsinstitute, die der Optimierung des Grundrechtsschutzes dienen, 2 7 4 mit ihr also in Zusammenhang stehen, überhaupt subjektiv-rechtlich geschützt, so daß unter diesem Gesichtspunkt eine Versubjektivierung der Strukturentscheidungen nicht etwa geboten, sondern eher systemfremd wäre. Das gilt um so mehr, als es sich um subjektive Rechtspositionen gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber handelt, wie sie Hobe/Wiegand gerade durch den Rückgriff auf die von Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Staatsstrukturprinzipien konstruieren wollen. Ein realitätsnaher Beleg für diese These wäre beispielsweise eine Einschränkung des gerichtlichen Instanzenzuges. Eine möglichst umfangreiche Gerichtsbarkeit dient sicherlich dem Rechtsschutz des Einzelnen und damit auch der Optimierung des Grundrechtsschutzes. Dennoch würde eine Beschränkung des Instanzenzuges von derzeit bis zu drei auf allgemein noch zwei Instanzen durch eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Prozeßordnungen den Einzelnen weder in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG, noch, soweit erkennbar in anderen Grundrechten verletzen. 275 Vergleichbares dürfte sogar für das Institut der Verfassungsbeschwerde gelten, das in besonderem Maße - neben der Weiterentwicklung des Verfassungsrechts 276 - der Optimierung des Grundrechtsschutzes dient. 2 7 7 Auch hier wäre eine (einfach-) gesetzliche Beschränkung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden zum Beispiel durch ein freieres Annahmeverfahren wegen Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich wohl zulässig; 278 jedenfalls dürfte dies durch eine Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers geschehen. 279 Andererseits folgt aus der Diagnose eines Zusammenhangs nicht die Notwendigkeit der (teilweisen) Versubjektivierung von Staatsstmkturprinzipien. Das ist zum einen schon logisch nicht zwingend: Aus der bloßen Subsumierbarkeit unter einen gemeinsamen Oberbegriff folgt nicht, daß aus den beiden Unterbegriffen in vollem Umfang gleiche Folgerungen abzuleiten wären. Insoweit müßten Hobe und Wiegand einen darüber hinausgehenden 274

Wenn man die Formulierung von Hobe/Wiegand denn so verstehen will. Vgl. die st. Rspr. des BVerfG, siehe etwa die Beschlüsse vom 21.10.1954, BVerfGE 4, 74 (94 f.); vom 11.10.1978, BVerfGE 49, 329 (340); vom 12.7.1983, BVerfGE 65, 76 (90). 276 Diese Funktion liegt z.B. dem § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG zugrunde. 277 Das ergibt sich aus § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG. 278 So etwa, jeweils unter Hinweis auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, Rupprecht, JZ 1970, 207 (212); Wieland, Der Staat 29 (1990), 333 (351); Häußler, Konflikt, S. 171; Clemens, in Umbach/ Clemens, BVerfGG, § 93d, Rz. 23; a.A. Umbach, in Umbach/Clemens, BVerfGG, vor §§ 93a ff., Rz. 48 f. 279 So, neben den bereits in der vorigen Fußnote genannten Befürwortern, auch Umbach, a.a.O. 275

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Zusammenhang zwischen beiden Begriffen darlegen. Das gelingt ihnen nicht. Ein solcher ist auch nicht ersichtlich. Gerade die herkömmliche Auffassung argumentiert ja anders herum: Die Grundrechte - in Form der Kommunikationsgrundrechte - sind ihrerseits „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung [...] schlechthin konstituierend". 280 Gerade unter Anerkennung des inhaltlichen Zusammenhangs werden die Grundrechte also eher als Absicherung der objektiv-rechtlichen Staatsstrukturentscheidung für die Demokratie angesehen als umgekehrt. Trotz inhaltlichen Zusammenhangs etwa auch der Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG mit dem Demokratieprinzip 2 8 1 zwingt die subjektiv-rechtliche Qualität der ersteren damit nicht etwa zur Versubjektivierung des letzteren. Das zeigt, daß eine Ausdehnung der subjektiven Berechtigung auf andere als Grundrechtsnormen durch einen bloßen Zusammenhang nicht zwingend gefordert wird.

ΠΙ. Ergebnis zur Anknüpfung an Art. 20 Abs. 1-3 GG Nach dem Vorgesagten kann ein Recht auf Effizienz des Art. 38 GG aus Art. 20 Abs. 1-3 GG nicht angenommen werden. Die Begründung von Hobe und Wiegand überzeugt nicht.

F. Art. 2 Abs. 1 GG als Anknüpfung für ein subjektives Recht auf Demokratie Als weitere Anknüpfungsmöglichkeit erscheint schließlich Art. 2 Abs. 1 GG in der Form der vom Bundesverfassungsgericht seit dem ZsT/es-Urteil 282 in ständiger Rechtsprechung vertretenen allgemeinen Handlungsfreiheit. Demgemäß wurde im Maastricht-Verfahren eine Anknüpfung an Art. 2 Abs. 1 zumindest von einem der Verfassungsbeschwerdeführer vertreten. 283 Auch in Besprechungen des Maastricht-Urteils findet sich die Einschätzung, daß im dortigen Verfahren die Verfassungsbeschwerdebefugnis leichter aus Art. 2 Abs. 1 GG hätte abgeleitet werden können. 2 8 4 Vorgeschlagen wird dort die Argumentation, daß das Zustimmungsgesetz nicht zur „verfassungsmäßigen Ordnung" gehöre und daher keine Grundlage für Belastungen des Bürgers darstellen könne. 2 8 5

280

So die bekannte Formulierung des BVerfG aus dem „Lüth-Urteil" vom 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 (208). 281 Dazu Hesse, VerfR, Rz. 146, sowie näher oben 3. Teil, 3. Kapitel. 282 BVerfG, Urteil vom 16.1.1957, BVerfGE 6, 32 (36 f.). 283 Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde des Manfred Brunner vom 18.12. 1992, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 107 ff. 284 Streinz, EuZW 1994, 329 (330).

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

119

Dann müßte freilich die Abgabe von parlamentarischen Kompetenzen an andere Institutionen den Bürger in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit verletzen. Wie diese zu deuten ist, ist umstritten, ohne daß dieser Streit im vorliegenden Rahmen aber einer Entscheidung bedürfte.

I. Die enge Auslegung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG Nach einer Minderansicht 286 fallt hierunter lediglich das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, da Anknüpfung letztlich die in Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Menschenwürde sei. Zudem würden bei einer weiteren Ausdehnung die Grundrechtsgewährleistungen banalisiert. 287 Schließlich würde im Wege des Art. 2 Abs. 1 GG das objektive Rechtsstaatsprinzip versubjektiviert, was verfassungsprozessual die Folge hätte, daß die Verfassungsbeschwerde zur allgemeinen Normenkontrolle ausgeweitet würde. 2 8 8 Nach dieser Auffassung wäre durch die Verlagerung von Kompetenzen durch den Bundestag an andere Institutionen der Schutzbereich dieses Grundrechts bereits eindeutig nicht betroffen. Denn es ist nicht ersichtlich, inwieweit eine derartige staatsorganisatorische Maßnahme die Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen sollte berühren können.

Π. Die weite Auslegung des Schutzbereichs durch die ganz herrschende Ansicht Nach der ganz herrschenden Meinung 2 8 9 ist hingegen der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gegenständlich nicht beschränkt. In den Schutzbereich fällt damit jedes menschliche Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht ihm für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt. 2 9 0 Dem damit sehr weiten Schutzbereich entspricht freilich auch eine umfassende Schrankenregelung. Abgesehen von einem absolut geschützten Kern285

So für das Maastricht-Verfahren ausdrücklich Streinz, a.a.O.; etwas verallgemeinernd Zuck, NJW 1994, 978 (979); siehe auch Schnapp, in v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (4. Aufl.), Art. 20, Rz. 2, allgemein zu einer derartigen „Subjektivierung" des objektiven Gehalts von Art. 20 GG durch Art. 2 Abs. 1 GG. 286 Hesse, VerfR, Rz. 428; D. Grimm, Sondervotum in BVerfGE 80, 137 (164 ff.). 287 Vgl. D. Grimm, a.a.O. (168). 288 D. Grimm, a.a.O. (167 f.). 289 Neben der st. Rspr. des BVerfG (z.B. Beschluß vom 6.6.1989, BVerfGE 80, 137 [152], m.w.N.) siehe etwa Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rz. 11; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 2, Rz. 4; Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rz. 12 ff.; Murswiek, in Sachs, GG, Art. 2, Rz. 52 ff.; jeweils m.w.N. 290 BVerfG, a.a.O.

120

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

bereich privater Lebensführung, welcher der staatlichen Einwirkung schlechthin entzogen ist, steht die allgemeine Handlungsfreiheit unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-) Ordnung. 291 Entsprechend weit gefaßt ist auch der Bereich an Normen, die der Einzelne im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit per Verfassungsbeschwerde darauf überprüfen lassen kann, ob sie zur „verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG gehören, mithin formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen. Allerdings folgt hieraus kein „allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch" dergestalt, daß der Einzelne die Beachtung rein objektiv-rechtlicher Rechtsnormen verlangen könnte. 2 9 2 Der Schutzbereich ist auch bei der allgemeinen Handlungsfreiheit - wie bei jedem Grundrecht immer erst dann berührt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich erfolgt, hier also dem Grundrechtsträger eine Freiheitsbeschränkung auferlegt wird. Und nur dann ist der Einzelne befugt, im Wege der Verfassungsbeschwerde die Verfassungskonformität der Grundrechtsschranke überprüfen zu lassen. L Kein Eingriff

durch eine Kompetenzverlagerung

als solche

Eine derartige Beschränkung der individuellen Freiheit dürfte allerdings durch die bloße Tatsache, daß der Deutsche Bundestag Kompetenzen an eine andere Institution abgibt, kaum jemals gegeben sein, da die - abstrakte - Frage, wer die dem Bundestag zustehenden Kompetenzen tatsächlich ausübt, keinen erkennbaren Bezug zu dieser dem Einzelnen gewährleisteten Freiheitssphäre hat. Auch nach der Kompetenzverlagerung als solcher kann der Einzelne weiterhin tun und lassen, was er will, ohne daß auch nur eine der ihm möglichen Verhaltensoptionen ausgeschlossen oder eingeschränkt wäre. Erst wenn nach der Kompetenzverschiebung dem Einzelnen - in einem weiteren Akt - ein bestimmtes Verhalten verboten oder geboten wird, beispielsweise durch eine von der ermächtigten Institution erlassene (Verbots-) Regelung, ist ein Bezug zur Grundrechtssphäre des Einzelnen hinreichend ausgeprägt. Dieses Ergebnis folgt aus der dogmatischen Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit. Diese soll dem Einzelnen eine Sphäre garantieren, in der er staatliche Eingriffe abwehren kann. In dieser Betrachtung ist Art. 2 Abs. 1 GG ein klassisches Abwehrrecht, oder, in der auf G. Jellinek 293 zurückgehenden Einteilung, ein Recht des status negativus. Demgegenüber betrifft das Verhältnis des Wahlberechtigten zu „seinem" Parlament nicht den Bereich der Abwehr von Grundrechtseingriffen, sondern, sofern hier 291

BVerfG, a.a.O. (153), m.w.N. Diese Folge sieht aber D. Grimm in seinem Sondervotum zu BVerfGE 80, 137 (167 f.). 293 Jellinek System, S. 86 f. 292

6. Kap.: Dogmatische Ansätze im Schrifttum

121

subjektive Rechte bestehen, den auf Teilhabe oder Mitwirkung, richten sich also auf etwas gänzlich anderes. 294 Das Bundesverfassungsgericht trennt daher zu Recht beide Sachbereiche scharf voneinander: „Die allgemeine Handlungsfreiheit ist umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre und zugleich Ausgangspunkt aller subjektiven Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Politische Mitentscheidungs- und Mitgestaltungsrechte [...] sind im Grundgesetz jeweils besonders garantiert (vgl. z.B. Art. 38 GG). Über solche besonderen Gewährleistungen hinaus können sie nicht dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit zugeordnet werden." 295 Speziell für das Wahlrecht formuliert das Gericht: „Mit seinem Wahlrecht übt der Bürger die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus. Die Wahrnehmung dieses Rechts ist nicht Teil der jedem Menschen gewährleisteten freien Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre des Menschen und unterscheidet sich damit grundlegend von den im Grundgesetz gewährleisteten politischen Rechten des Aktiv-Status." 296 2. Keine Anwendung auf die Konstellation des Maastricht-Verfahrens Nach alledem mag es zwar möglich erscheinen, daß im Maastricht-Verfahren auch eine Rechtsverletzung der Beschwerdeführer in der allgemeinen Handlungsfreiheit nicht von vornherein ausgeschlossen war. Eine solche Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit wäre jedoch aus den oben genannten Gründen nicht schon dadurch denkbar, daß der Deutsche Bundestag Kompetenzen an Organe der Europäischen Gemeinschaft abgeben würde, 2 9 7 sondern als Bezugspunkt einer Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG kämen allenfalls andere, der bloßen Kompetenzverlagerung nachfolgende Akte in Frage, die dann einen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen, „[zu] tun und [zu] lassen, was er w i l l " , 2 9 8 bedeuteten. 294

Das übersieht, jedenfalls für den Bereich der hier untersuchten Konstellation, Schachtschneider, JR 1970, 401 (408). 295 BVerfG, Beschluß vom 1.8.1978, BVerfGE 49, 15 (23); zustimmend G. Roth, DVB1. 1998, 214 (216). 296 BVerfG, Beschluß vom 16.7.1998, BVerfGE 99, 1 (8). 297 Ähnlich, wenngleich etwas zurückhaltender, Streinz, EuZW 1994, 329 (330): derartige Belastungen direkt und unmittelbar aus dem Zustimmungsgesetz abzuleiten wäre „schwer zu begründen"; wie hier Kokott, AöR 119 (1994), 207 (219 und 222 f.), die Art. 2 Abs. 1 ebenfalls nur bei - erst noch zu erlassenden - „zuständigkeitswidrigen Akten" als berührt ansieht (Hervorhebung vom Verfasser). 298 So die vom BVerfG im Elfes-Urteil (E 6, 32 [36]) als ursprünglich angesehene Fassung, kritisch zu diesem Zitat Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rz. 13: keine Formulierung ,was er will' in den Entwürfen; wie das BVerfG aber auch BK-Wernicke, Art. 2, Erl. II 1 a) a.E.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 2, Rz. 5 a.E.

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

ΠΙ. Ergebnis zur Anknüpfung an Art. 2 Abs. 1 GG Damit besteht kein aus Art. 2 Abs. 1 GG ableitbares subjektives Recht des Einzelnen, sich gegen Kompetenzverlagerungen des Bundestags zu wenden.

G. Ergebnis zu den dogmatischen Ansätzen im Schrifttum Zusammenfassend läßt sich daher sagen, daß die bisherigen Ansätze einer dogmatischen Aufarbeitung der neuen Auslegung des Art. 38 GG für die vorliegende Fragestellung nicht ergiebig sind. 7. Kapitel

Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil I m Anschluß an das Maastricht-Urteil hat auch die Rechtsprechung wiederholt Gelegenheit gehabt, sich mit der neuen Auslegung des Art. 38 GG zu befassen.

A. Die Euro-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts In den sogenannten Euro-Entscheidungen ging es inhaltlich um die Teilnahme Deutschlands an der bereits i m Maastricht-Vertrag angelegten dritten Stufe der Währungsunion. Aufgrund volkswirtschaftlicher und finanzpolitischer Bedenken an der Leistungsfähigkeit der für eine Teilnahme in Betracht kommenden Volkswirtschaften stieß bekanntlich die gemäß Art. 109j Abs. 4 EG-Vertrag a . F . 2 " zum 1.1.1999 geplante Einfuhrung des Euro als gemeinsame Währung in der Öffentlichkeit auf teilweise massive Ablehnung. 3 0 0 Insbesondere wurde befürchtet, der Euro könne sich aufgrund der Teilnahme wirtschaftlich schwächerer Länder als nicht so „hart" wie die Deutsche Mark erweisen, was inflationäre Tendenzen und gesamtwirtschaftliche Probleme in Deutschland verursachen würde. Diese Sorge führte zu mehreren Verfassungsbeschwerden, mit denen die deutsche Teilnahme an der dritten Stufe der Währungsunion verhindert werden sollte. 3 0 1 299

Jetzt Art. 121 Abs. 4 EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrages. Siehe etwa die zahlreichen, überwiegend kritischen Stimmen in Jorges (Hrsg.), Der Kampf um den Euro. 301 Zu den verschiedenen „Angriffsmöglichkeiten" siehe Zuck/Lenz, NJW 1998, 1119 ff.; Zwissler, NJW 1997, 179 f. 300

7. Kap.: Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil

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Trotz der oben dargestellten 302 Kritik des Schrifttums hielt das Bundesverfassungsgericht in den Euro-Entscheidungen an seiner weiten Auslegung des Art. 38 GG fest. 3 0 3 Auf der anderen Seite wehrte es Versuche ab, Art. 38 GG mit weiteren subjektiv-rechtlichen Komponenten „materiell demokratisch aufzuladen" 304 und den Anwendungsbereich dadurch weiter auszudehnen. 305 Zu den in der Literatur vertretenen Anknüpfungen eines subjektiven Rechts auf Demokratie an Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 20 GG äußerte es sich nicht.

L Die Verfahren 2 BvR 1877/97 und 50/98 In diesen Verfahren 306 hatte das Gericht über zwei Verfassungsbeschwerden - die erste von H.-H. Rupp, 307 die zweite von den sog. „vier Professoren" Hankel, Nölling, Schachtschneider und Starbatty 30* - zu entscheiden, die sich gegen die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion richteten. Neben einer teilweise behaupteten Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 14 Abs. 1 G G 3 0 9 rügten die dortigen Beschwerdeführer einen rechtswidrigen Eingriff in ihr grundrechtsgleiches Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG. „Der Beschwerdeführer zu 1. sieht sich als Wähler in seinen Rechten auf Teilhabe an einem offenen Prozeß europapolitischer Willensbildung verletzt. Voraussetzung für eine sinnvolle Wahl sei eine objektive, die Probleme nicht verschweigende Informationspolitik der Bundesregierung. Das demokratische Mitwirkungsrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG gewähre insoweit einen Abwehranspruch gegen eine nicht hinreichend unterrichtende Informationspolitik." 310 Des weiteren trug er vor, ,,[n]ach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei es verfassungswidrig, das in Art. 38 Abs. 1 GG verbürgte Mitentscheidungsrecht der Bürger durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip und die demokratische Legitimation aller 302

Oben 5. Kapitel, A. Ebenso Mengelkoch, EuR 1998, 563 (565 f.). 304 So zum Maastricht-Urteil Kokott, AöR 119 (1994), 207 (210 et passim). 305 Kritisch hierzu Schachtschneider, Euro-Beschluß, S. 1 ff. 306 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 ff. 307 Siehe Biskup, ThürVBl. 1999, 49 in dortiger FN 2, die freilich den Mainzer Staatsrechtslehrer Hans-Heinrich Rupp mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Hans Rupp verwechselt. 308 Die Professoren Hankel, Nölling, Schachtschneider und Starbatty veröffentlichten ihre Verfassungsbeschwerde zu großen Teilen: dieselben, Euroklage. 309 Zu einem derartigen Ansatz siehe insbesondere Meier, NJW 1996, 1027 (1029); ausführlich auch Kröger/Gas, VersR 1998, 1338. 310 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (362). 303

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4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

öffentlichen Gewalt verletzt werde. Insbesondere der Bundeskanzler und die von ihm geführte Bundesregierung seien dabei, den Beitritt Deutschlands zur Währungsunion durchzusetzen, obwohl die Konvergenzkriterien [des Art. 109j Abs. 1 EG-Vertrag a.F. 311 i.V.m. dem Protokoll über die Konvergenzkriterien] - durch eine »kreative Buchführung 4 - nur scheinbar eingehalten würden." 312 Etwas anders argumentierten die Beschwerdeführer zu 2 : 3 1 3 „Auch [sie] sehen sich durch die gegenwärtige Währungspolitik in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG verletzt. Der Deutsche Bundestag habe die Verantwortung für die Währungsunion gemäß den Bestimmungen des Vertrages von Maastricht übernommen; daher seien die Stabilitätsanforderungen dieses Vertrages eine verbindliche Grenze der Integrationspolitik. Eine Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion entgegen dem Konzept der Stabilitätsgemeinschaft sei nicht mehr vom Deutschen Bundestag verantwortet und auch nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt. Sollte der Deutsche Bundestag selbst bei seinem Votum über die Teilnahme Deutschlands an der dritten Stufe der Währungsunion das Stabilitätskonzept mißachten, so könne dies unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG angegriffen werden, weil die Teilnahme Deutschlands nur dann parlamentarisch verantwortbar sei, wenn die Währungsunion berechenbar bleibe. Die Beschwerdeführer stützen sich dabei insbesondere auf ein subjektives Recht auf Freiheitlichkeit aller Politik. Diese sei letztlich Erkenntnis des Rechts. Deshalb habe der Einzelne ein Bürgerrecht darauf, daß der Deutsche Bundestag sich bei seinen Beschlüssen an das Recht halte. Vertrete er das Volk entgegen dem Recht, so verletze dies das verfassungsbeschwerdefähige Recht auf Repräsentation der Sittlichkeit und der praktischen Vernunft durch die Vertreter des Volkes." 314 Die letztere Aussage erklärt sich vor dem Hintergrund des von Schachtschneider entwickelten Konzepts, 315 nach dem Politik als „Erkenntnis des Rechts, welche der Wahrheit nicht entsagen darf," betrachtet w i r d . 3 1 6 Demgemäß dürfe und müsse das Bundesverfassungsgericht überprüfen, ob das Parlament das Recht und damit die Wahrheit richtig erkannt habe, was eine rein objektiv zu beantwortende Frage sei. In diesem Sinne sei Gesetzgebung nicht nur Sache der Legislative, sondern auch der Judikative, mithin das Bundesverfassungsgericht letzten Endes Gesetzgebungsorgan. 317 Die im 311

Jetzt Art. 121 Abs. 1 EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrages. BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (362). 313 Die Wiedergabe der von Schachtschneider verfaßten Argumentation zur Zulässigkeit orientiert sich im folgenden weitgehend an der prägnanten Zusammenfassung im Tatbestand des BVerfG-Beschlusses vom 31.3.1998. In Hankel et al., Euroklage, sind die Ausführungen zur Zulässigkeit nur stark verkürzt enthalten, siehe S. 301 ff.; im - nicht veröffentlichten - Verfassungsbeschwerdeschriftsatz nehmen sie ca. 37 Seiten ein (S. 24 - 61 des Schriftsatzes vom 12.1.1998). 314 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (363 f.). 315 Schachtschneider, Res publica res populi, näher dazu oben 6. Kapitel, A. 316 Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde vom 12.1.1998 (nicht veröffentlicht), S. 13. 312

7. Kap.: Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil

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Maastricht-Urteil entwickelte Konzeption des Art. 38 GG sei dahingehend zu ergänzen, „daß das parlamentsrechtliche Bürgerrecht das Recht jedes Bürgers einschließt, daß das Parlament bei seinen die Politik gestaltenden Beschlüssen nicht selbst das Recht mißachtet"; 3 1 8 das Grundrecht aus Art. 38 GG umfasse auch den „Anspruch auf die Rechtmäßigkeit dieser parlamentarischen Vertretung". 319 „Die Beschwerdeführer machen außerdem geltend, daß die Europäische Union mit dem Übergang zentraler währungspolitischer Befugnisse substantielle Staatlichkeit gewinne. Den Parlamenten der Mitgliedstaaten verblieben mit der Errichtung der Währungsunion keine Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht mehr." 320 I m Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden offengelassen und sie, da sie jedenfalls unbegründet seien, gemäß § 24 BVerfGG verworfen. 321 Trotz der deshalb fehlenden Zulässigkeitsprüfung finden sich aber differenzierte Aussagen zur Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG, welches das Gericht vorliegend aus unterschiedlichen Gründen nicht verletzt sieht. 3 2 2 Zunächst wiederholt das Gericht - etwas abweichend - seine Aussage aus dem Maastricht-Urteil: „Art. 38 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet den Wahlberechtigten das subjektive Recht, an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen. Diese Verbürgung erstreckt sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts: den Wahlberechtigten wird - nach Maßgabe näherer gesetzlicher Bestimmung - gewährleistet, durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen."323 Im Anschluß zitiert das Gericht den ersten Leitsatz des Maastricht-Urteils mit der darin enthaltenen weiten Interpretation des Art. 38 G G . 3 2 4

317

Schachtschneider, a.a.O., S. 14. Schachtschneider, Euro-Beschluß, S. 8. 319 Schachtschneider, in Hankel et al., Euroklage, S. 301 f. 320 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (364). 321 Kritisch zum Dahinstehenlassen der Zulässigkeit Kortz, EWS 1998, 226; geradezu abfällig zum Verfahren nach Art. 24 BVerfGG Schachtschneider, Euro-Beschluß, S. 1 ff.; unklar Mengelkoch, EuR 1998, 563 (564): „Königsweg" (S. 564 oben), bedauernd hingegen S. 564 unten f.; positiv urteilt Siekmann, EWiR 1998, 743 f. Ausführlich zur Anwendung des § 24 BVerfGG Biskup, ThürVBl. 1999, 49 (50 ff.); siehe ferner Chr. Lenz, BB 1998, 1276. 322 Interessanterweise erhebt nunmehr Schachtschneider, Euro-Beschluß, S. 2, den Vorwurf, das Gericht habe offenbar unbedingt in der Sache entscheiden wollen. 323 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (368). 324 BVerfG, a.a.O. (368 f.). 318

126

4. Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Für dieses Recht verneint das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis dann eine Rechtsverletzung. 325 Diese Auffassung stützt es allerdings ausschließlich auf die - tatsächliche - Erwägung, daß die sogenannte dritte Stufe der Währungsunion bereits im Maastrichter Vertrag angelegt gewesen war: „Maßstab und Ablauf des Eintritts in die dritte Stufe der Währungsunion sind im [Maastricht-]Vertrag geregelt und gewinnen im Zustimmungsgesetz in der Verantwortung von Bundestag und Bundesrat für Deutschland Rechtsverbindlichkeit. Die Wahrnehmung dieser bereits durch den Maastricht-Vertrag übertragenen Hoheitsrechte nimmt dem Bundestag keine weiteren Kompetenzen und Befugnisse. Insoweit kommt eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 GG nicht in Betracht." Darüber hinaus findet sich in der Euro-Entscheidung eine weitere Eingrenzung des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG, wenn es dort heißt: „Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Dazu gehört auch, daß die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind [...]. Solche - vorrechtlichen Verfassungsvoraussetzungen werden jedoch von Art. 38 I GG nicht grundrechtsgleich gewährleistet." 327 „Soweit der Beschwerdeführer zu 1. rügt, die von der Bundesregierung verfolgten politischen Zielvorstellungen seien nicht allgemein sichtbar und verstehbar, betrifft dies die vorrechtlichen Voraussetzungen der Demokratie. Diese sind jedenfalls aufgrund des Art. 38 Abs. 1 GG als einer grundrechtsgleichen Gewährleistung nicht einforderbar." 328 Hiermit umgrenzt das Bundesverfassungsgericht, im Anschluß an die Ausführungen im Maastricht-Urteil, den Gewährleistungsinhalt des Art. 38 Abs. 1 GG weiter, indem das subjektive Recht nicht auf die rein tatsächliche und daher bloß vorrechtliche Existenz einer öffentlichen Meinung oder gar eines politischen Diskurses erstreckt wird. Schließlich findet sich am Ende der Entscheidung noch eine - an Art. 2 Abs. 1 GG anknüpfende - Aussage zu den Grenzen gerichtlicher Überprüfbarkeit von politischen Entscheidungen, die aber auch für die grundrechtsgleiche Gewährleistung des Art. 38 GG Bedeutung hat:

325 Das hatten bereits vor der Entscheidung auch Zuck/Lenz, NJW 1998, 1119, so gesehen und deshalb schon die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden verneint; ähnlich Zwissler, NJW 1997, 179 f. 326 BVerfG, Beschluß vom 31.3.1998, BVerfGE 97, 350 (370). Zustimmend Chr. Lenz, BB 1998, 1276 (1277). 327 BVerfG, a.a.O. (369). 328 BVerfG, a.a.O. (370).

7. Kap.: Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil

127

„[Es] bietet die allgemeine Handlungsfreiheit ebenso wie alle anderen Grundrechte keinen Schutz gegen die im Vollzug des EG-Vertrages zu treffende Entscheidung über die Gründung einer Europäischen Währungsunion mit bestimmten Mitgliedstaaten, die sich auf politisch zu verantwortende Feststellungen, Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen stützt und im Geltungsbereich des Grundgesetzes von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat verantwortet wird. Langfristige ökonomische Entwicklungen und die daraus zu ziehenden Folgerungen [...] können nicht in der Sicht eines individuellen und punktuellen Eingriffs beurteilt, sondern müssen stetig mitgestaltet und kontinuierlich überprüft werden. Dieses ist nicht Sache der Gerichte, sondern der Regierung und des Parlaments." 329 Mit dieser Aussage wendet sich das Gericht gegen die Konzeption, Politik sei bloße „Erkenntnis des Rechts". Zugleich weist es den Versuch einer weiteren Ausdehnung der Auslegung des Art. 38 GG in der zweiten Verfassungsbeschwerde zurück und beschränkt den Rechtsschutz der Bürger darauf, „daß der Deutsche Bundestag substantielle Kompetenzen habe, wie auch immer er diese ausüben m a g " . 3 3 0 Dogmatisch knüpft das Gericht, insoweit auf dem Boden seiner bisherigen Rechtsprechung, an die Theorie vom »judicial self-restraint" an, die richterliche Zurückhaltung in genuin politischen Wertungsfragen verlangt, in denen der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative hat. 3 3 1 Etwas unklar an der Begründung des Beschlusses erscheint freilich der bereits im Obersatz enthaltene Verweis auf die „Maßgabe näherer gesetzlicher Bestimmungen". Diese Formulierung nimmt offensichtlich Bezug auf Art. 38 Abs. 3 GG, der für „das Nähere" auf ein Bundesgesetz - das Bundeswahlgesetz - verweist, in dem dann die technischen Einzelheiten der Wahlen zum deutschen Bundestag geregelt sind. Fraglich ist nun nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, ob auch für das subjektive Recht auf inhaltliche Teilnahme an der Legitimation der Staatsgewalt (einfach·) gesetzliche Beschränkungen bestehen sollen. Aus dem Bundeswahlgesetz mit seiner Ausrichtung auf Regelungen zur Vorbereitung und Durchführung der Bundestagswahlen dürften sich solche kaum herleiten lassen. Andererseits erscheint kaum denkbar, daß das Bundesverfassungsgericht in einem halben Nebensatz die ganze Konzeption des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG, an der es, wie dargelegt, ja festhält, einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterstellen will. Auf die Schranken der Gewährleistung wird daher unten noch näher einzugehen sein. 3 3 2 329

BVerfG, a. a. O. (377); Hervorhebung vom Verfasser. So - kritisch - Schachtschneider, Euro-Beschluß, S. 8. 331 Grundlegend BVerfG, Urteil vom 31.7.1973, BVerfGE 36, 1 (14 f.); zustimmend zu diesem Aspekt der Euro-Entscheidung Mengelkoch, EuR 1998, 563 (570); allgemein zu verfassungsgerichtlichem »judicial self-restraint" von der Heydte, FS Geiger (1974), S. 909 ff. 332 Siehe unten 7. Teil. 330

1 2 8 4 . Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

Π. Das Verfahren 2 BvR 532/98 Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer dieses Verfahrens 333 eine Verletzung seiner grundrechtsgleichen Gewährleistung aus Art. 38 Abs. 1 GG durch einen Kabinettsbeschluß der Bundesregierung vom 27.3.1998, demzufolge die Bundesregierung beabsichtigte, der Empfehlung der EG-Kommission zum Teilnehmerkreis an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zuzustimmen und im Rat der Kommissionsempfehlung zu folgen. Er trug vor, daß die Bundesregierung mit dem in Aussicht genommenen Abstimmungsverhalten im Rat der EG die Grenzen des deutschen Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Maastricht, die strikte Einhaltung der Konvergenzkriterien, nicht beachten würde. Hierin liege ein Verstoß gegen Art. 38 GG, weil das Handeln der Regierung jenseits der Grenzen des Zustimmungsgesetzes nicht mehr demokratisch legitimiert sei. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde, gestützt auf § 93a Abs. 2 BVerfGG, nicht zur Entscheidung an, da die verfassungsrechtlichen Fragen bereits in dem Beschluß vom 31.3.1998 entschieden worden seien. „Dabei kann offenbleiben, ob - wie der Beschwerdeführer meint - Art. 38 I GG dem Bürger auch außerhalb der Frage nach der Wirksamkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten die Verfassungsbeschwerde mit den im Maastricht-Urteil des BVerfG genannten Folgen [...] eröffnet. Aus der Begründung des oben genannten Beschlusses des Zweiten Senats vom 31.3.1998 ergibt sich nämlich, daß eine Verletzung des im Vertrag über die Europäische Union festgelegten Integrationsprogramms durch die angegriffenen Akte der Bundesregierung nicht in Betracht kommt." 334 Insoweit stellt diese Kammerentscheidung also lediglich eine Bestätigung der ersten Euro-Entscheidung ohne darüber hinausgehende Erwägungen dar.

B. Sonstige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts In zwei weiteren Beschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht ferner seine bereits im Maastricht-Urteil vertretene Rechtsprechung gefestigt, daß das kommunale Wahlrecht für Unionsbürger keine Verletzung der Grundrechte deutscher Wahlberechtigter bedeute. Insbesondere aus Art. 38 GG ergebe sich nicht die Zulässigkeit einer wahlrechtlichen „Konkurrentenklage" gegen nichtdeutsche Wahlberechtigte oder Wahlbewerber. 335 Dabei führt das Gericht aus: 333

BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 22.6.1998, NJW 1998,

3187 f. 334

BVerfG, a.a.O.; Hervorhebung im Original.

7. Kap.: Die Rechtsprechung nach dem Maastricht-Urteil

129

„Ein subjektives Recht auf Ausschließung anderer von der Wahl kann auch nicht darauf gestützt werden, daß diese - im Unterschied zum Beschwerdeführer - Mitglieder des Ausländerbeirats [gemäß §§84 ff. hess. GO] werden oder diese Mitglieder wählen können. Es erscheint ausgeschlossen, daß dadurch das Recht des Beschwerdeführers, durch Wahlen und Abstimmungen an der demokratischen Legitimierung der in den Gemeinden ausgeübten Staatsgewalt mitzuwirken, beeinträchtigt wird. Die Wahrnehmung von Unterrichtungs-, Vorschlags- und Anhörungsrechten durch die Ausländerbeiräte stellt eine rein konsultative Tätigkeit dar, durch die keine Staatsgewalt ausgeübt wird.. , " 3 3 6

C. Entscheidungen anderer Gerichte In einem unerwarteten Kontext begegnet die Maastricht-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht schließlich in zwei Urteilen des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1994: In einer Urheberrechtssache sah sich ein Unternehmen, das Tonträger vertreibt, dadurch in seinen Rechten aus Art. 38 GG verletzt, daß der Europäische Gerichtshof bei einer bestimmten Auslegung des EWG-Vertrages im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWG-Vertrag a . F . 3 3 7 den ihm von der Ermächtigungsgrundlage, dem Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag, zugewiesenen Rahmen verlassen habe. Demgemäß verletze - so ist zu ergänzen - der Europäische Gerichtshof durch diese „Kompetenzanmaßung" das im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil entwickelte subjektive Recht des deutschen Wahlberechtigten aus Art. 38 Abs. 1 GG. Der Bundesgerichtshof wies diese Rüge zurück, da die Anwendbarkeit des europäischen Rechts gemäß der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs jedenfalls erkennbar gewesen sei. 3 3 8 In einem zweiten, ähnlich gelagerten Rechtsstreit hat der Bundesgerichtshof diese Auffassung bestätigt. 339 Auch wenn diese Urteile die Dogmatik der neuen Auslegung von Art. 38 Abs. 1 GG nicht weiter entfalten, so handelt es sich doch um eine der Maastricht-Entscheidung jeweils entsprechende Rechtsanwendung, welche die dort entwickelte Auslegung weiter untermauert.

335 BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 8.1.1997, NVwZ 1998, 52 (53); BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 19.2.1997, NVwZ 1998, 52. 336 BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 19.2.1997, NVwZ 1998, 52. 337 Jetzt Art. 234 EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrages. 338 BGH, Urteil vom 21.4.1994, BGHZ 125, 382 (392 f.). 339 BGH, Urteil vom 6.10.1994, NJW 1995, 868 (869). 9 Soppe

1 3 0 4 . Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme

D. Exkurs zur Kritik am Maastricht-Urteil „Sachentscheidung um jeden Preis44 Nach der Sichtung der dem Maastricht-Urteil nachfolgenden Judikatur ist nun noch kurz auf die oben 3 4 0 referierte Kritik einzugehen, das Bundesverfassungsgericht habe im Maastricht-Verfahren um jeden Preis in der Sache entscheiden wollen. Diese Rüge zu behandeln, ist freilich schwierig, weil sie das Gebiet sachlicher Diskussion und rechtlicher Argumentation verläßt und ihrem Adressaten quasi unlautere Motive unterstellt. Angesichts der genauen Ausdifferenzierung, die das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil bei der Zulässigkeitsprüfung im allgemeinen und bei Art. 38 GG im besonderen vornimmt, überzeugt dieser Vorwurf jedoch bei genauerer Betrachtung inhaltlich nicht. Dies gilt um so mehr, als sich in den Euro-Entscheidungen erweist, daß das Bundesverfassungsgericht an seiner Auslegung durchaus festhält und sich nicht etwa hiervon distanziert. Für eine derartige, geradezu mißbräuchliche Auslegung dürfte im übrigen kein hinreichender Grund gegeben sein, da das Gericht in der Sache ja die Anträge abgelehnt hat. 3 4 1 Etwaige Vorbehalte, Hinweise für künftige Fälle oder gar Warnungen an den Gesetzgeber, die zum Teil in einigen Formulierungen des Urteils gesehen wurden, 3 4 2 hätte das Gericht zumindest als obiter dicta - auch in einer bereits die Zulässigkeit verneinenden Entscheidung unterbringen können. 3 4 3 Ferner hätte dann eine weniger trennscharfe Betrachtung der geltendgemachten, aus Art. 38 Abs. 1 GG 340

Oben 5. Kapitel, Α. I. Demgegenüber wird die mit der Entscheidung in der Sache verbundene Klarstellung der Position des BVerfG begrüßt von Steinberger, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 25 (26); derselbe, FS Bernhardt, S. 1313 (1319); Hobe/ Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 (206). 342 Siehe etwa Herdegen, CMLRev. 1994, 234: „rather dramatic restraints"; König, ZaöRV 54 (1994), 17: „Stolperstein"; zurückhaltender Meessen, NJW 1994, 549 (554): „Notbremse gezogen, als der Zug bereits stand"; anders Bryde, Maastricht-Urteil, S. 4: Grenzziehungen für die weitere Integration seien „weitgehend ausgeblieben"; ebenso Götz, JZ 1993, 1081 (1086); siehe auch allgemein zu einer derartigen Tendenz der Integrationsrechtsprechung des BVerfG Hecker, AöR 123 (1998), 577 (582). 343 Als Beispiel einer derartigen Entscheidung könnte etwa der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 18.10.1967, BVerfGE 22, 293 ff., dienen. Dort verwarf das Gericht mehrere unmittelbar gegen Verordnungen der (damaligen) EWG gerichtete Verfassungsbeschwerden, ließ aber ausdrücklich offen, inwieweit es berechtigt sei, „im Rahmen eines zulässigerweise bei ihm anhängig gemachten Verfahrens Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes" zu messen (a.a.O., S. 298 f.). Diese Frage überhaupt aufzuwerfen, bestand im Rahmen der Entscheidung an sich keinerlei Anlaß. Verständlich ist die Argumentation nur, wenn man hierin einen Hinweis an die anderen Staatsorgane erblickt, daß diese Fragestellung einmal aktuell werden könnte. 341

8. Kap.: Fazit der Bestandsaufnahme

131

hergeleiteten Verletzungsrichtungen nahegelegen. Anstatt genau zu differenzieren, hätte das Bundesverfassungsgericht dann einfacher im Wege einer pauschalen Betrachtung aus Art. 38 GG eine Rechtsverletzung herleiten können. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden während des gesamten Verfahrens streitig war. Demgegenüber ist die Entscheidung, gerade auch bei der Zulässigkeitsfrage, einstimmig gefallen, und kein Mitglied des erkennenden Senats hat eine andere Auffassung in einem Sondervotum gemäß § 30 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck gebracht, was bei einer aus sachfremden Erwägungen motivierten Bejahung der Zuständigkeit durchaus zu erwarten gewesen wäre. Dies gilt um so mehr, als der Richter des Bundesverfassungsgerichts H. H. Klein, der an der Entscheidung mitwirkte, später deutlich machte, daß die Formel, mit der das Gericht die Zulässigkeitsfrage bejahte, „Gegenstand langer und eingehender Beratungen" war und „ i n jedem ihrer Teile sorglich durchdacht" wurde. 3 4 4 Nach dem Vorgesagten ist vielmehr davon auszugehen, daß das Bundesverfassungsgericht die von ihm vertretene Auslegung des Art. 38 GG nicht als bloßes Vehikel auf dem Weg zu einer Entscheidung in der Sache angesehen, sondern sich bewußt und aus sachlichen Erwägungen für diese Interpretation entschieden hat. 8. Kapitel

Fazit der Bestandsaufnahme Nach der Durchsicht von Rechtsprechung und Schrifttum zur vorliegenden Fragestellung ist damit folgender Befund festzuhalten: Bei der neuen Auslegung des Art. 38 GG durch das Bundesverfassungsgericht handelt es sich - entgegen ersten Vermutungen im Schrifttum nicht um eine „Eintagsfliege", die lediglich im Rahmen der Maastricht-Entscheidung dem Gericht zu einer Entscheidung in der Sache verhelfen sollte. Vielmehr zeigen insbesondere die Euro-Entscheidungen, daß das Gericht an seiner Interpretation auch in Zukunft festhalten wird. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht weder vor dem MaastrichtUrteil, noch in dieser Entscheidung selbst, noch in nachfolgenden Judikaten dieses neu „entdeckte" Recht dogmatisch aufgearbeitet. Auch die Literatur hat - sofern sie sich überhaupt mit dieser Fragestellung befaßt hat - bislang keine überzeugende Begründung für diese materiellrechtliche Anreicherung des Wahlrechts gefunden.

344

9*

H. H. Klein, Maastrichter Vertrag, S. 4.

1 3 2 4 . Teil: Das subjektive Recht auf Demokratie - Bestandsaufnahme Dementsprechend werden auch Reichweite und Grenzen dieser Interpretation nicht hinreichend abgesteckt, so daß unklar bleibt, in welchen Fallkonstellationen zukünftig eine Verletzung des Wahlberechtigten in seinem Recht aus Art. 38 GG in Betracht kommen könnte bzw. tatsächlich gegeben ist. Das kann zur Folge haben, daß das neue Verständnis des Art. 38 GG in Zukunft übergangen wird, obwohl es einer Entscheidung zugrunde zu legen wäre. In diesem Fall würde der Anwendungsbereich des Art. 38 Abs. 1 GG zu eng ausgelegt. Des weiteren besteht aber auch die Gefahr, daß die neue Lesart zu Unrecht in Bezug genommen wird, um rechtspolitisch erwünschte Ergebnisse zu belegen. Dann fände mithin eine Überdehnung des wahlrechtlichen Geltungsbereichs statt. 345

345

Ein besonders krasses Beispiel einer derartigen Fehlinterpretation durch eine offensichtliche Überdehnung des Anwendungsbereichs findet sich bei Weilbach, einem Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, der in BB 1995, 451 (453), mit folgender Argumentation aus der Maastricht-Entscheidung ein Recht mittelständischer Kapitalgesellschaften darauf herleiten will, daß diese entgegen einer EG-Richtlinie die Offenlegung ihrer Jahresabschlußbilanzen verweigern dürften: Dem Bundestag müßten laut Maastricht-Urteil Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben. „Dem deutschen Mittelstand" als überwiegendem Teil der deutschen Wirtschaft komme ein solches substantielles Gewicht zu. Deshalb sei der Datenschutz dieser Unternehmen „höher zu werten" als das Recht der EG. Mit verfassungsrechtlicher Dogmatik ist diese Aussage kaum belastet; sie zeigt aber, welche (Fehl-) Interpretationen aufgrund eines unklaren Verständnisses der neuen Auslegung im Maastricht-Urteil möglich sind.

5. T e i l

Grundlegung des subjektiven Rechts Nachdem die Bestandsaufnahme im vierten Teil ergeben hat, daß die bisherigen Versuche einer Erweiterung des Anwendungsbereichs von Art. 38 GG sich als nicht überzeugend erwiesen haben, ist im folgenden nunmehr grundlegend an diese Fragestellung heranzugehen. Hierbei darf insbesondere, wie zu zeigen sein wird, die Frage nach der Qualität des Eingriffs in das Wahlrecht nicht außer Betracht gelassen werden. 1. Kapitel

Vorbemerkungen Um dogmatische Unklarheiten möglichst von Anfang an auszuschließen, sind vor einer genaueren Analyse vorab noch vier Abgrenzungsfragen zu behandeln, die den Umfang der zu behandelnden Fragestellung betreffen und ihn teils ausdehnen, teils ihn eingrenzen. Zunächst sind die verschiedenen Adressaten etwaiger Kompetenzverlagerungen zu betrachten (dazu A.); dann ist zu prüfen, ob die Auslegung des Art. 38 GG nach der im Maastricht-Urteil vorgenommenen Anwendung auf einen supranationalen Sachverhalt auch auf rein innerstaatliche Konstellationen anwendbar ist (dazu B.); im Anschluß daran ist eine inhaltliche und terminologische Abgrenzung zur Souveränität vorzunehmen (dazu C.); und schließlich ist der Kreis der Grundrechtsträger zu analysieren (dazu unten D.).

A. Die verschiedenen Adressaten etwaiger Kompetenzverlagerungen Zunächst gilt es, bei der Betrachtung zwischen den verschiedenen denkbaren Adressaten eventueller parlamentarischer Kompetenzverlagerungen zu unterscheiden. Als solche kommen auf der einen Seite deutsche (Staats-) Organe, insbesondere solche der Exekutive, in Betracht. Wie gerade der Maastricht-Fall gezeigt hat, sind aber auch außerdeutsche Institutionen als Adressaten denkbar. Bei letzteren kann es sich nach herrschender Meinung freilich nur um inter- bzw. supranationale Institutionen handeln. Denn die theoretisch zwar ebenfalls denkbare Fallgruppe der Ermächtigung eines fremden Staats1 wäre weder von der Spezialregelung des Art. 23 GG ge-

134

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

deckt, noch - wie sich aus der Formulierung ^zwischenstaatliche Einrichtungen" ergibt - von Art. 24 Abs. 1 GG erfaßt 2 und damit nach geltendem Verfassungsrecht unzulässig.3 Im Verlauf der nachfolgenden Ausführungen werden zunächst die rein innerstaatlichen Konstellationen untersucht, d.h. Kompetenzverlagerungen auf andere Organe. 4 Denn Sachverhalte mit internationalem oder supranationalem Bezug weisen als zusätzliche Schwierigkeit das Problem auf, daß nicht nur das dem Bundestagswahlrecht zugrundeliegende Demokratieprinzip betroffen ist, sondern auch der - hiervon zu unterscheidende - Grundsatz der nationalen (äußeren) Souveränität. Obwohl beide Grundsätze eng zusammenhängen, da sie ideengeschichtlich eine ähnliche Wurzel haben und heute auch oftmals vermengt werden, 5 sind sie doch nicht identisch. Bei dem Demokratieprinzip geht es nämlich um die Frage, inwieweit sich Maßnahmen des Staats auf einen Volkswillen zurückführen lassen; bei der Problematik der nationalen Souveränität ist hingegen entscheidend, inwieweit eine Maßnahme einer außerstaatlichen Institution 6 in Hoheitsrechte des betroffenen Staats eingreift bzw. noch von dessen Willen gedeckt ist. 7 Aus diesem Grund werden Kompetenzabgaben an solche supranationalen bzw. internationalen Institutionen jeweils in einem gesonderten Kapitel 8 behandelt werden.

B. Die Anwendbarkeit auf innerstaatliche Konstellationen Des weiteren setzt die neue Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG auch für Fälle innerstaatlicher Kompetenzverlagerungen voraus, daß sie auf derartige Konstellationen überhaupt übertragbar ist. 1

Ausführlich dazu Gramm, DVB1. 1999, 1237 ff. H.M., siehe etwa Randelzhofer, in Maunz/Dürig, GG, Art. 24, Rz. 53; Streinz, in Sachs, GG, Art. 24, Rz. 20. 3 Nicht von Art. 24 Abs. 1 GG erfaßt wäre auch eine Übertragung an eine einem fremden Staat eingegliederte Organisation, BVerfG, Urteil vom 30.6.1953, BVerfGE 2, 347 (378). Nicht von Art. 24 Abs. 1 GG verboten soll es hingegen sein, wenn ein Organ eines fremden Staats die Befugnisse der zwischenstaatlichen Organisation für diese ausübt, BVerfG, Urteil vom 18.12.1984, BVerfGE 68, 1 (94). Zu ungeschriebenen Übertragungsmöglichkeiten im Rahmen des „traditionell und vorkonstitutionell Üblichen" siehe ferner Gramm, DVB1. 1999, 1237 (1238). 4 Im Sinne der oben 1. Teil, 2. Kapitel, C., vorgenommenen Differenzierung. 5 Zur diesbezüglichen Kritik am Maastricht-Urteil siehe oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. III. 6 Das heißt, das Handeln einer supra- bzw. internationalen Organisation oder, was hier aus den oben genannten Gründen nicht näher verfolgt werden soll, eines anderen Staats. 7 Näher zu den beiden Prinzipien unten C. 8 Siehe unten, 7. bzw. 8. Kapitel. 2

1. Kap.: Vorbemerkungen

135

Zwar wurde im Maastricht-Urteil die Erweiterung des Gewährleistungsgehalts des Art. 38 GG vom Gericht ausdrücklich auf den „Anwendungsbereich des Art. 23 GG", mithin auf den Bereich der europäischen Integration beschränkt. 9 Hieraus ist - sofern die Frage einer Übertragbarkeit auf andere Konstellationen überhaupt gesehen wurde - im Schrifttum vereinzelt geschlossen worden, daß die weite Auslegung des Wahlrechts keine Anwendung auf rein innerstaatliche Kompetenzverlagerungen finde. 1 0 Beide Fallgestaltungen seien nicht vergleichbar, da zum einen für den Binnenraum der Verfassung die Wesentlichkeitstheorie als Mittel zur Sicherung der Rechte des Bundestags ausreiche und zum anderen dort etwaige vom Bundestag getroffene Kompetenzverlagerungen stets reversibel seien. 11 Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von Stimmen, welche diese Grundsätze auch bei innerstaatlichen Konstellationen für anwendbar halten. 12 Gegen diese Auffassung scheint zwar zunächst der Wortlaut des verfassungsgerichtlichen Urteils mit seiner Beschränkung auf den Anwendungsbereich des Art. 23 GG zu sprechen. Andererseits hatte das Bundesverfassungsgericht lediglich über diesen konkreten Fall im Rahmen der europäischen Integration zu entscheiden. Rein innerstaatliche Ermächtigungen anderer deutscher Organe standen nicht zur Entscheidung an. Deshalb entsprach es der Beschränkung auf den Verfahrensgegenstand, lediglich für diesen Fall überhaupt eine Aussage zu treffen. 13 Dementsprechend findet sich im Urteil auch die Aussage, es „... bedarf das Recht allerdings der näheren Bestimmung. Sie ist vorliegend nur insoweit notwendig, als die Ausübung von Hoheitsgewalt durch supranationale Organisationen im Rahmen der Verwirklichung eines vereinten Europas (Art. 23 GG) in Frage steht."14 Diese Formulierung spricht für eine - auch vom Bundesverfassungsgericht gesehene - prinzipiell unbeschränkte Reichweite, die im Rahmen des Urteils nur für den zu entscheidenden Fall näher bestimmt werden mußte. Eine allgemeinere Aussage auch zu anderen Fallgruppen wäre zudem lediglich ein unnötiges obiter dictum gewesen. Demnach ist die Aussage des Bundesverfassungsgerichts nicht zu verstehen als ,„lediglich im Anwen9 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (182), sowie Leitsatz 1 auf S. 155. 10 So ausdrücklich A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 256. 11 A. Wolf a.a.O. 12 So z.B. Epiney, Der Staat, 34 (1995), 557 (572 f.); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (433); Meessen, NJW 1994, 549 (550 f.); E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (273); für ministerialfreie Räume auch H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7); etwas vorsichtiger Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (491). 13 Diesen Punkt sieht auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 253 f. 14 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (172), Hervorhebung vom Verfasser.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

dungsbereich des Art. 23 GG 4 sei Art. 38 GG weit auszulegen", sondern als jedenfalls im Anwendungsbereich des Art. 23 GG", was eine Übertragung auf andere Fallgruppen nicht ausschlösse. Für diese Lesart spricht auch die allgemeine gerichtliche Tendenz, abstrakte Festlegungen, die vom konkreten Fall nicht gefordert sind, soweit wie möglich zu vermeiden. Hierdurch soll eine Bindung in späteren Fällen vermieden werden, die anderenfalls durch voreilige Präjudizien, deren Tragweite zum früheren Zeitpunkt nicht überschaubar war, eintreten könnte. Hinzu kommt, daß durchgreifende inhaltliche Gründe gegen die Übertragung auf innerstaatliche Konstellationen nicht ersichtlich sind. 15 Der Verweis von A. Wolf auf die Wesentlichkeitstheorie überzeugt nicht. Nach dieser Lehre, einer Fortentwicklung des rein objektiv-rechtlichen Vorbehalts des Gesetzes,16 bedürfen alle wesentlichen Eingriffe in Grundrechte sowie die wesentlichen staatslenkenden Entscheidungen eines förmlichen Gesetzes. 17 Somit verbietet die Wesentlichkeitstheorie in der Form des Parlamentsvorbehalts (objektiv-rechtlich), daß ein Exekutiv- oder Judikativorgan derartige „wesentliche" Entscheidungen trifft, die der Legislative vorbehalten bleiben. Hiermit könnte dann mittelbar - so ist die verkürzte Argumentation von A. Wolf wohl zu verstehen - der Bundestag von einer Verlagerung derartiger Entscheidungskompetenzen abgehalten werden, da die Delegation an ein Organ, das dann seinerseits nicht entscheiden dürfte, sinnlos wäre. Jedoch enthält die Wesentlichkeitslehre selbst keinerlei subjektive Rechte. Eine etwaige Verletzung dieser Lehre könnte vom Einzelnen daher lediglich incidenter im Rahmen einer Verletzung in einem subjektiven Recht gerügt werden, wenn also beispielsweise ein „wesentlicher" Eingriff in ein bestimmtes Grundrecht nicht auf einem förmlichen Gesetz beruhte. 18 Dies entspricht der Rechtslage zu den Kompetenzen des Bundestags nach überkommenem Verständnis: Auch hier hätte vor der Maastricht-Entscheidung eine objektiv rechtswidrige Kompetenzverlagerung nur incidenter im Rahmen einer anderweitigen Grundrechtsrüge gerichtlich überprüft werden können. Wenn nun aber das Wahlrecht weit verstanden werden soll, damit zu dieser objektiven Rechtswidrigkeit auch eine subjektiv-rechtliche Rügemöglichkeit hinzutritt, so ist dies nur vor dem Hintergrund erklärlich, daß die Rechtsposition des Einzelnen gestärkt werden soll. Dann wäre es aber inkonsequent, den Einzelnen gerade im Binnenbereich der Verfassung insoweit ohne Schutz zu lassen, mithin gerade diesen Bereich von der Verstärkung der Rechtsposition auszunehmen. Ein sachlicher Grund für diese Dif15

So deutlich Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (433). Vgl. Badura, StaatsR, F, Rz. 13. 17 Näher etwa Schnapp, in v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (4. Aufl.), Art. 20, Rz. 46. 18 Zu dieser „Aktivierung des Parlaments Vorbehalts" im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG vgl. Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rz. 56. 16

1. Kap.: Vorbemerkungen

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ferenzierung ist ohnehin nicht ersichtlich. Denn wenn schon im Bereich der Kompetenzverlagerungen nach außen dem Bundestag nicht zugetraut wird, daß er sich an die objektiv-rechtlich bestehenden Grenzen 19 für eventuelle Kompetenzverlagerungen halten werde, dann ist nicht erkennbar, warum er innerstaatlich einen solchen Vertrauensvorschuß genießen sollte. Daher ist nicht zu begründen, warum bei einer Kompetenzdelegation „nach außen" der Einzelne, ohne einen weiteren Grundrechtseingriff abwarten zu müssen, sofort unter Berufung auf sein Wahlrecht diese Verlagerung soll rügen können, während er im innerstaatlichen Bereich zunächst einen weiteren Akt des Staats mit einem Eingriff in weitere Grundrechte soll abwarten müssen. Diese Erwägung spricht für eine gleiche Behandlung beider Konstellationen und somit für die Ausweitung auch auf den binnenstaatlichen Bereich. Des weiteren verfängt auch das Argument der angeblichen Reversibilität von Kompetenzverlagerungen im binnenstaatlichen Bereich nicht. Denn zum einen sind auch hier Fälle denkbar, in denen der Bundestag Kompetenzabgaben nicht rückgängig machen könnte. Das wäre etwa dann der Fall, wenn aufgrund zwischenzeitlicher Entwicklungen eine Abänderung, zum Beispiel aus Vertrauensschutzgesichtspunkten, unzulässig wäre. Vor allem aber kann es Konstellationen geben, in denen zwar die organisatorische Ausgliederung von Kompetenzen rückgängig gemacht werden könnte, in denen zu diesem Zeitpunkt aber bereits irreversible Entscheidungen getroffen worden sind, die vom Bundestag nicht verantwortet wurden. Zu denken ist hier etwa an Ermächtigungen der Exekutive, insbesondere 20 im Bereich der ministerialfreien Räume, 21 zu denen kein Weisungsstrang zu der dem Parlament verantwortlichen Regierung führt. Derartige weisungsfrei arbeitende Organe könnten in der Zeit ihrer Ermächtigung „vollendete Tatsachen" schaffen - beispielsweise durch ihrerseitige Kompetenzabgaben oder auch durch weitreichende Politik- oder Investitionsentscheidungen - , die de facto 2 2 oder de iure 2 3 nicht mehr abänderbar sind. Dann würde auch die Rückverlagerung der Kompetenzen an das Parlament nicht mehr helfen, da eine solche lediglich für die Zukunft wirken würde. Zum anderen sind auch Fälle denkbar, in denen das Parlament die Kompetenzabgabe zwar revidieren könnte, dies aus bestimmten Gründen aber 19

Zu diesen objektiv-rechtlichen Grenzen näher oben 2. Teil, 2. Kapitel. Aber nicht nur; denkbar erscheint auch eine „normale" Verwaltung, die ohne Information der Behördenspitze oder jedenfalls des Parlaments vollendete Fakten schafft. 21 Siehe dazu etwa W. Müller, JuS 1985, 497 ff. 22 Als faits accomplis. 23 Z.B. wegen des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots oder aufgrund zu gewährenden Vertrauensschutzes. 20

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

nicht will. Vorstellbar wäre dies zum Beispiel im Bereich von unpopulären Maßnahmen, in denen sich das Parlament in der politischen Auseinandersetzung auf seine nunmehr fehlende Zuständigkeit beruft und einer technokratischen Instanz das Feld überläßt. 24 Zwar könnte der Wähler hier bei den nächsten Wahlen diese Revisionsunwilligkeit der Abgeordneten theoretisch durch anderweitige Stimmabgabe genauso sanktionieren, als ob das Parlament die unpopuläre Entscheidung selbst getroffen hätte. Jedoch ist nicht zu verkennen, daß die Verantwortlichkeit des Parlaments hier sehr viel undeutlicher ist und in der Praxis das Parlament in den Augen vieler Wähler insoweit als allenfalls mittelbar verantwortlich erschiene. Schließlich sprechen auch gewichtige Gründe dafür, die weite Auslegung auf rein innerstaatliche Konstellationen zu übertragen. Hier ist zum einen das Schutzbedürfnis des Einzelnen zu nennen. Dieses ist, bezogen auf sein Wahlrecht, im Binnenraum der Verfassung nicht ohne weiteres weniger ausgeprägt als bei Kompetenzabgaben „nach außen". Inwieweit das subjektive Recht hier stärkeren Einschränkungen, etwa aus Art. 23 GG, unterliegt, ist eine Frage, die bei der Reichweite des Rechts zu diskutieren sein wird, 2 5 die aber die Anerkennung dieses Rechts als solches nicht in Frage zu stellen vermag. Zum anderen erscheint - auch aus der Sicht des Parlaments als Anspruchsverpflichtetem - ein Erst-recht-Schluß zulässig: Wenn schon im Rahmen der europäischen Integration, bei der vielerlei Rücksichten auf die europäischen Partner und die Gemeinschaft zu nehmen sind, der einzelne Wahlberechtigte einen Anspruch auf eine inhaltliche Mindestkompetenzausstattung des Bundestags hat, obwohl sowohl die Partner als auch die Gemeinschaft nicht Grundgesetzadressaten sind, dann muß er einen solchen Anspruch doch erst recht im Binnenraum des Grundgesetzes haben, in dem solche Rücksichten nicht zu nehmen sind. Damit ist festzustellen, daß die weite Auslegung des Wahlrechts im Grundsatz auch auf rein innerstaatliche Konstellationen übertragbar ist. Das entsprechende subjektive Recht des Einzelnen kann daher auch bei innerstaatlichen Kompetenzverlagerungen anwendbar sein.

C. Die inhaltliche und terminologische Abgrenzung zur Souveränität Vorab ist des weiteren klarzustellen, daß Maßstab dieser Untersuchung des Wahlrechts allein das in Art. 38 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommende Demokratieprinzip, nicht aber das Souveränitätsprinzip sein kann. 2 6 Wie be24

Vgl. zu derartigen „politisch heiklen Fällen" Ossenbühl, DVB1. 1999, 1. Siehe dazu unten 7. Teil, 4. Kapitel, C. II. 26 Für das Maastricht-Urteil weist zu Recht Meessen, NJW 1994, 549 (552), auf diese Unterscheidung hin. 25

1. Kap.: Vorbemerkungen

139

reits angedeutet, wurde im Anschluß an das Maastricht-Urteil i m Schrifttum der Vorwurf erhoben, das Bundesverfassungsgericht habe dort Kriterien des Demokratieprinzips mit denen des Souveränitätsgrundsatzes vermengt. 27 Aus diesem Grund ist vorweg eine kurze Betrachtung dieser nicht immer hinreichend unterschiedenen Prinzipien erforderlich, die freilich auch inhaltliche Berührungspunkte aufweisen. Dabei ist zunächst zu beachten, daß nach heutigem Sprachgebrauch 28 „Souveränität" zwei Aspekte der staatlichen Gewalt umfaßt, die einander zwar wechselseitig bedingen, sich aber doch unterscheiden: 29 Man trennt zwischen innerer (staatsrechtlicher) und äußerer (völkerrechtlicher) Souveränität. 30

I. Der Begriff der äußeren Souveränität In der heutigen rechtswissenschaftlichen Terminologie bezeichnet die äußere Souveränität die Völkerrechtsunmittelbarkeit des Staats und dessen Unabhängigkeit nach außen. 31 Der souveräne Staat ist geborenes Völkerrechtssubjekt allein kraft seiner Existenz und - jedenfalls rechtlich 32 - von Weisungen jedes anderen Staats unabhängig. Hieraus folgt die Idee der souveränen Gleichheit aller Staaten vor dem Recht, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Stärke und ungeachtet etwaiger faktischer Abhängigkeiten auf diesen Gebieten. Zugleich folgt hieraus der koordinationsrechtliche Charakter des Völkerrechts. 33 Die äußere Souveränität wird durch (völker-) vertraglich übernommene Selbstbeschränkungen nicht beeinträchtigt, jedenfalls solange diese Verpflichtungen nicht in die Substanz der Verfassungshoheit eingreifen und solange sie reversibel sind. Auch die Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen beeinträchtigt die Souveränität der Staaten nicht, da die damit verbundenen Verpflichtungen freiwillig übernommen wurden und somit gerade Ausfluß der Unabhängigkeit der politischen Entscheidungsmacht sind. 27

Siehe dazu oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. III. Zur Geschichte des Souveränitätsbegriffs vgl. etwa Dagtoglou, in Ev.StL., Sp. 3155 ff.; Randelzhofer, in HdBStR I, § 15, Rz. 13 ff. 29 Vgl. Randelzhofer, a.a.O., Rz. 24; siehe auch de Witte, MJ 2 (1995), 145 (147): „Janus-like character of sovereignty". 30 Dagtoglou, Ev.StL., Sp. 3160; Stern, StaatsR II, S. 21, bezeichnet sie als relative bzw. absolute Souveränität. Da dies zumindest mißverständlich ist - man könnte insoweit nicht an verschiedene Anwendungsbereiche, sondern an eine unterschiedliche Reichweite oder Einschränkbarkeit der Souveränität denken - , soll hier der im Text verwendeten Terminologie gefolgt werden. 31 Randelzhofer, in HdBStR I, § 15, Rz. 25; ebenso zum folgenden. 32 Zu dieser Einschränkung in einer interdependenten Welt Dagtoglou, Ev.StL., Sp. 3163 f. 33 Zippelius, Staatslehre, § 10 I. 28

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

II. Der Begriff der inneren Souveränität Die innere Souveränität wiederum ist eine notwendige Eigenschaft der Staatsgewalt, nicht jedoch die Staatsgewalt selbst. Kraft der inneren Souveränität ist die Staatsgewalt nach innen die rechtlich höchste Gewalt, die über allen anderen steht und keiner anderen gehorcht. 34 Wegen der inneren Souveränität schließt die Staatsgewalt die Kompetenz-Kompetenz ein, und ihretwegen hat der Staat das Gewaltmonopol. 35 Nach h.M. ist die innere Souveränität per definitionem einzig, 3 6 das heißt ohne zweite konkurrierende Gewalt neben sich und lediglich aufgrund ihrer Zielsetzung beschränkt, insbesondere durch die Verfassung und die darin enthaltenen Grundrechte. Des weiteren ist sie einseitig, so daß der Staat im Rahmen des Rechts seine Zuständigkeiten ohne oder sogar gegen den Willen der Betroffenen ausüben darf. Einzigkeit und Einseitigkeit der Staatsgewalt setzen freilich nicht voraus, daß die Letztentscheidung bei einem einzelnen Staatsorgan liegt. Sie kann auch von mehreren Organen ausgeübt werden; die Teilung beeinträchtigt die Souveränität des Staats nicht. 3 7

ΙΠ. Exkurs: Der Begriff der Volkssouveränität Die Bestimmung des ohnehin schon wenig präzisen Begriffs der Souveränität leidet freilich auch daran, „daß nicht selten das Problem der Souveränität des Staates vermischt oder verwechselt wird mit dem anderen Problem der Souveränität im Staat, d.h. der Frage nach dem Träger der Souveränität". 3 8 ,,[0]bgleich die beiden Problemkreise in keinem inneren Zusammenhang stehen", 39 kann es hier leicht zu terminologischer - und dadurch auch inhaltlicher - Verwirrung kommen, 4 0 da die letztgenannte Frage nach dem 34 Dagtoglou, Ev.StL., Sp. 3160; ähnlich de Witte, MJ 2 (1995), 145 (146 f.): „the ultimate source of legal authority within a State". 35 Vgl. Dagtoglou , a.a.O.; ebenso zum folgenden. 36 Zippelius, Staatslehre, § 9 III, bezeichnet dies als „Einheit" der Staatsgewalt. Dies erscheint aber mißverständlich in dem Sinne, daß die Staatsgewalt nicht durch ein singuläres Organ ausgeübt werden müsse; dazu sogleich. 37 Randelzhofer, in HdBStR I, § 15, Rz. 38. 38 Randelzhofer, a. a. O., Rz. 4; Hervorhebung im Original. 39 Randelzhofer, a.a.O., Rz. 18. 40 Ein Beispiel hierfür ist die von Fromont, RDP 111 (1995), 323 (355), am bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil geäußerte Kritik. Er ist offenbar von den Urteilen des Conseil Constitutionnel zum EU-Vertrag beeinflußt, in denen es, wie Hecker, AöR 123 (1998), 577 (591 ff.), herausgearbeitet hat, vor allem um die nationale Souveränität Frankreichs geht. Der Ausgangspunkt des BVerfG ist demgegenüber das Wahlrecht, welches Verbindungen zum Demokratieprinzip und zum Grundsatz der Volkssouveränität aufweist, nicht aber zur (nationalen) Souveränität des Staats.

1. Kap.: Vorbemerkungen

141

Träger der Souveränität im Staat heute meist mit dem Schlagwort der Volkssouveränität beantwortet wird. Tatsächlich scheint es, wenn von Souveränität gesprochen wird, oftmals allein um diese Frage nach dem Subjekt der Souveränität zu gehen, denn diese „stellt das Kernproblem dar, auf das sich der Kampf um die Souveränität praktisch konzentriert". 41 Auch im Grundgesetz ist lediglich die Inhaberschaft der Souveränität, nicht aber die Souveränität als solche angesprochen. So heißt es in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Hierin wird allgemein die Anknüpfung an das Prinzip der Volkssouveränität gesehen.42 Ideengeschichtlich entwickelte sich diese als Reaktion auf den „verschärften Souveränitätsbegriff', 43 der den Landesherrn von vielen der zunächst vorhandenen religiös- und naturrechtlichen Bindungen befreit und damit zum Absolutismus geführt hatte. Später trat dann an die Stelle des Herrschers von Gottes Gnaden das Volk, dessen Souveränität nunmehr ausschließlich säkulär begründet wird: Politische Herrschaft von Menschen über Menschen ist nicht per se hinzunehmen, sondern bedarf einer Legitimation. Diese kann nur vom Volk selbst als der Summe der ihr Unterworfenen ausgehen; sie hat „Ausdruck der Freiheit und Selbstbestimmung des Volkes" 4 4 zu sein.

IV. Die Verbindung zum Begriff der Demokratie Von dem, wie dargelegt, nur begrifflich mit der „Souveränität" verbundenen Terminus „Volkssouveränität" ist es inhaltlich schließlich nur ein kleiner Schritt zum Begriff der „Demokratie". Denn in der Volkssouveränität wird allgemein die Grundlage der Demokratie als Regierungs- und Staatsform in Deutschland gesehen.45 Bei dieser Legitimation der Herrschaft durch das Volk geht es „um die Verhinderung des Abgleitens der selbsthandelnden Repräsentanten in eine souveräne Stellung". 46 Das Demokratieprinzip, im Grundgesetz unter anderem in den Art. 21 und 38 näher ausgestaltet, dient dabei der Organisation der Staatsgewalt dergestalt, daß sie sich in ihrer Einrichtung und Ausübung stets von dem Willen des Volks herleitet bzw. auf ihn zurückgeführt werden kann. Die Herrschaft braucht nicht vom Volk ausgeübt zu werden, sie muß lediglich durch das Volk gerechtfertigt 41

Dagtoglou, Ev.StL., Sp. 3162; ähnlich Stern, StaatsR II, S. 25. Statt aller: Böckenförde, in HdBStR I, § 22, Rz. 2. 43 So der Terminus von Dagtoglou, Ev.StL., Sp. 3157; dort auch zum folgenden. 44 Böckenförde, in HdBStR I, § 22, Rz. 3. 45 Wiederum statt aller: Böckenförde, in HdBStR I, § 22, Rz. 1; ganz ähnlich Stern, StaatsR I, S. 604. 46 Böckenförde, FS Eichenberger, S. 301 (314); zustimmend Stern, StaatsR I, S. 594. 42

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

sein, so daß Demokratie den Aufbau der Staatsgewalt „vom Volke her, d.h. von unten nach oben" 4 7 bedeutet.

D. Der Kreis der Grundrechtsträger Vorab ist schließlich noch der Kreis der etwaigen Grundrechtsträger abzustecken, da nur so der Anwendungsbereich und die Überzeugungskraft der Argumentationen hinreichend absehbar sind. In dieser Hinsicht wurde bereits oben 48 dargelegt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch nach überkommenem Verständnis das Wahlrecht des Bürgers ein politisches Grundrecht im Aktivstatus darstellt, das enge Verbindungen zur staatlichen Willensbildung aufweist, indem hierdurch der Bürger Einfluß auf die staatliche Legitimation nehmen kann. Fraglich ist aber der Kreis der insoweit Berechtigten, soweit es um die weite Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG geht.

I. Die Wahlberechtigung als Voraussetzung Zunächst einmal versteht sich von selbst, daß Träger dieses Rechts allenfalls die Wahlberechtigten sein können. Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Art. 38 Abs. 2 Halbs. 1 GG) oder aus sonstigen Gründen gemäß §§12, 13 BundeswahlG nicht wahlberechtigt sind, können sich auf eine Gewährleistung des Wahlrechts - welchen Umfangs auch immer - nicht berufen. Sie fallen damit von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 GG heraus und sind demnach auch von einer Erweiterung des Schutzbereichs nicht erfaßt. Lediglich am Rande ist anzumerken, daß dies ein weiteres Argument gegen den gegenüber dem Maastricht-Urteil erhobenen Vorwurf ist, dort werde eine Popularklage eingeführt, da nunmehr jeder Staatsbürger, 49 jeder quivis ex populo, klagebefugt sei. Diese Aussage geht zu weit, da der Kreis der Antragsberechtigten sich von vornherein auf die Wahlberechtigten, mithin nur einen Teil aller Staatsbürger, beschränkt.

II. Sonstige Einschränkungen des Kreises der Grundrechtsträger? In seiner Betrachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im Maastricht-Urteil wendet Gassner ein, man dürfe nicht bei allen Wahlberechtigten den gleichen Gewährleistungsinhalt des Wahlrechts an47 48 49

Stern, a.a.O., S. 593. Oben 3. Teil, 1. Kapitel. So z.B. ausdrücklich E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (275), m.w.N.

1. Kap.: Vorbemerkungen

143

nehmen. Entscheidend sei vielmehr, ob deren Vertrauen in den Inhalt dieses Rechts überhaupt Schutz verdiene. Das sei im Hinblick auf die materiellrechtliche Anreicherung des Art. 38 Abs. 1 GG jedenfalls bei NichtWählern „klar [zu] verneinen": „Wegen des fehlenden Wahlakts kann ein schützenswerter Vertrauenstatbestand nicht entstehen". 50 Auch in einer zweiten Fallgruppe sei dieses Vertrauen zweifelhaft, nämlich bei den Wählern einer „delegationsfreundlichen" Partei, die bereits vor der Wahl angekündigt hatte, sich im Falle ihres Wahlsieges für eine Kompetenzübertragung in einem bestimmten Umfang einzusetzen: „Nach dem klassischen vertragstheoretischen Grundsatz volenti non fit iniuria verdienen solche Wähler jedenfalls dann keinen Schutz, wenn die Haltung der Partei zu Kompetenzverschiebungen maßgeblichen Einfluß auf die Wahlentscheidung hatte. Wollte man ihnen ein subjektives Recht auf verfassungsgerichtliche Überprüfung der von ihnen selbst gewollten und mitbewirkten Kompetenzverlagerung zuerkennen, käme dies der Prämierung eines venire contra factum proprium gleich." 51 Fraglich ist, ob diese Differenzierung innerhalb der Gruppe der Wahlberechtigten tatsächlich geboten ist. Angesichts des nicht auf den Wahlakt beschränkten 52 Grundsatzes der Gleichheit der Wahl dürfte eine Differenzierung hier nämlich nicht willkürlich vorgenommen werden, sondern bedürfte sachlicher Gründe, 53 da sie unter Anknüpfung an die Wahlentscheidung unterschiedliche Rechtsstellungen in einem späteren verfassungsgerichtlichen Verfahren und damit eine Ungleichbehandlung nach sich zöge. Gegen die Argumentation von Gassner spricht bereits, daß eine derartige Differenzierung in der Praxis kaum hinreichend sicher durchgehalten werden könnte. Technisch möglich wäre eventuell zwar noch die Feststellung, ob ein Wahlberechtigter überhaupt gewählt hat, 5 4 da im Wahllokal die Wähler bei der Stimmabgabe im Wählerverzeichnis „abgehakt" werden. 55 Durch Einsichtnahme in diese Listen ließe sich daher eventuell nachträglich im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens noch klären, ob der Beschwerdeführer seinerzeit im Wahllokal erschienen war. Darüber hinaus wäre das Wählerverzeichnis aber unergiebig: Weder ließe 50

Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (434 f.). Gassner, a.a.O. (435). 52 Siehe Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 91. 53 Für die Ordnung des Wahlrechts siehe etwa BVerfG, Urteil vom 29.9.1990, BVerfGE 82, 322 (338). 54 Freilich bestehen verfassungsrechtliche Bedenken an der Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise, da nach h.M. auch das negative Wahlrecht geschützt und auch insoweit das Wahlgeheimnis zu wahren ist, vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 54, m.w.N.; vgl. zur Auskunft aus den Wählerverzeichnissen und zu deren Vernichtung auch §§89 Abs. 2, 90 Abs. 2 Bundeswahlordnung. 55 Das ergibt sich aus §§ 56 Abs. 4 Satz 3, 58 Bundeswahlordnung. 51

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

sich feststellen, ob der Wahlberechtigte überhaupt einen Stimmzettel abgab, noch ob dieser eine Wahlentscheidung enthielt, noch ob es sich hierbei um eine gültige Stimmabgabe handelte. Und erst recht nicht feststellen ließe sich der Inhalt der Wahlentscheidung. Diese Feststellung, also die Klärung der Frage, ob ein Beschwerdeführer eine delegationsbereite Partei oder möglicherweise gerade eine Partei mit entgegengesetzten Zielen wählte, wäre aufgrund des Wahlgeheimnisses auch sonst nicht möglich. 5 6 Aufzeichnungen hierüber darf es nicht geben, und wenn es sie gäbe, dürften sie von staatlichen Organen nicht verwendet werden. Die Ansicht von Gassner liefe deshalb prozessual auf die unsinnige Konsequenz hinaus, daß ein Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu der Behauptung gezwungen wäre, er habe erstens überhaupt eine gültige Stimme abgegeben und zweitens damit eine nicht zur Kompetenzdelegation bereite Partei gewählt. Mangels Überprüfbarkeit dieser Aussage könnte diese vom Verfahrensgegner nicht sinnvoll bestritten werden. Zudem wäre eine Beweiserhebung über diese Frage unzulässig. 57 Damit wäre die Forderung nach einem derartigen Vortrag im verfassungsgerichtlichen Verfahren aber ein bloßer Formalismus. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird Vergleichbares nicht einmal im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nach Art. 41 Abs. 2 und 3 GG i.V.m. § 48 BVerfGG vom Beschwerdeführer verlangt: Weder dieser noch die gemäß § 48 BVerfGG beitretenden Wahlberechtigten müssen an der Wahl teilgenommen haben, 58 noch müssen sie dies auch nur behaupten. Aber selbst bei Außerachtlassung dieser rein verfahrensbezogenen Bedenken vermag die von Gassner vorgenommene Differenzierung nicht zu überzeugen; inhaltliche Bedenken bestehen nämlich auch an dem von ihm gewählten methodischen Ausgangspunkt eines „klassischen vertragstheoretischen Grundsatzes" in Verbindung mit der Gewährung von Vertrauensschutz. Denn das Verhältnis zwischen Wahlberechtigten und Bundestag ist, wie immer man es im einzelnen auffassen mag, jedenfalls kein vertragsrechtliches. Ein solches bedürfte nämlich stets einer Einigung in Form zweier übereinstimmender Willenserklärungen über die essentialia negotii. 59 Eine derartige Einigung zwischen Wahlberechtigten - oder auch nur den tatsächlichen Wählern - einerseits und dem Bundestag andererseits ist aber nicht 56

Vgl. auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 111. Vgl. BVerwG, Beschluß vom 21.7.1975, BVerwGE 49, 75 (76 ff.); zustimmend BGH, Urteil vom 29.10.1980, JZ 1981, 103 f., m.w.N. 58 Storost, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 48, Rz. 26, m.w.N. 59 So für den Bereich des Schuldrechts Medicus, BGB-AT, Rz. 430 f., für den öffentlich-rechtlichen Vertrag vgl. Erichsen, Allg.VerwR, § 23, Rz. 1, und für den Bereich des Völkerrechts Verdross/Simma, VölkerR, § 534. 57

1. Kap.: Vorbemerkungen

145

feststellbar: Das Parlament verhandelt nicht mit den Bürgern über die (zukünftige) Politik, die ja allein als „Vertragsinhalt" in Betracht käme, noch gibt es überhaupt eine Willenserklärung ab. Auch in der Wahlentscheidung der Wähler kann keine auf einen Vertragsschluß gerichtete Willenserklärung gesehen werden, da sie nicht unmittelbar auf Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist; es handelt sich insoweit allein um eine politische Stimmabgabe, die durch das Wahlrecht in Bundestagsmandate transformiert wird. 6 0 Nicht angängig wäre schließlich, in etwaigen Wahlversprechen der politischen Parteien ein vertragliches Angebot zu sehen, das dann von den Wählern mit der entsprechenden Stimmvergabe „angenommen" würde. Denn damit wäre bereits rein rechtslogisch jedenfalls nicht der Bundestag als solcher verpflichtet. Zudem sind aufgrund des von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten freien Mandats weder die Partei noch der Abgeordnete als ihr Mitglied an etwaige Wahlversprechen gebunden, 61 was ebenfalls gegen einen Vertragsschluß spricht. Deshalb geht der Verweis auf „klassische vertragstheoretische Grundsätze" hier ins Leere. 62 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Verweis Gassners auf die Kategorie des Vertrauensschutzes. Zwar kann schützenswertes Vertrauen nicht nur im Rahmen von Vertragsbeziehungen entstehen, sondern kann gerade im Bereich des öffentlichen Rechts auch an rein tatsächlichen Bezugspunkten anknüpfen. 63 Vorliegend ist aber nicht ersichtlich, wie und zu wessen Gunsten hier ein zu schützendes Vertrauen entstehen könnte. Aufgrund der negativen Wahlfreiheit, nach der auch die Entscheidung, nicht zur Wahl zu gehen, geschützt ist, kann in der Nichtausübung des Wahlrechts nicht ein Verzicht darauf gesehen werden. 64 Gassner meint offenbar, mit seiner Entscheidung für eine „delegationsfreundliche" Partei schaffe der Wähler Vertrauen dahin, daß er sich später nicht gegen die dann tatsächlich erfolgende Delegation von Bundestagskompetenzen wenden werde. Eine derartige Folge kann die Wahlentscheidung aber nicht nach sich ziehen. Denn erstens ist der Wähler in seinem zukünftigen Verhalten frei, da es sich bei den Wahlen lediglich um eine periodische Zwischenentscheidung im ständigen demokratischen Willensbildungsprozeß des Volks handelt. 65 Dementsprechend kann er sich - selbstverständlich - bei der nächsten Wahl anders

60

Vgl. BK-Badura, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rz. 72 ff. Vgl. H. H. Klein, in HdBStR II, § 41, Rz. 3. 62 Im Ergebnis ähnlich A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 110 f.; allgemein zum Grundrechtseingriff bei Einwilligung des Betroffenen wie hier auch Bethge, VVDStRL 57, 10 (44): „Der Satz ,volenti non fit iniuria 4 gilt nicht." 63 Zu denken wäre etwa an den sogenannten Bestandsschutz für getätigte Investitionen, z.B. im Bau-, Gewerbe- oder Umweltrecht. 64 Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 59. 65 Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 75, m.w.N. 61

10 Soppe

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

entscheiden, er kann bei Landtagswahlen auch innerhalb der laufenden Bundestagswahlperiode eine andere politische Richtung unterstützen, und er darf sogar bei ein und derselben Bundestagswahl seine Erst- und Zweitstimme „splitten", d.h. unterschiedlichen politischen Richtungen zur Verfügung stellen. 66 Alle diese Phänomene lassen sich mit der Figur des Vertrauensschutzes nicht in Einklang bringen. Zweitens wäre auch unklar, wer sich auf einen derartigen Vertrauenstatbestand überhaupt sollte berufen können. Das könnte ja, wenn überhaupt, nur die unterstützte Partei sein, nicht aber der Bundestag, da jedenfalls ihm gegenüber keine Handlung vorgenommen worden wäre, die Vertrauen begründen könnte. Auch dürfte der Bundestag nach objektivem Recht auf seine Kompetenzen ohnehin nicht verzichten. 67 Diese Hürde wäre auch im Wege des Vertrauensschutzes nicht zu überspringen. Hinsichtlich der unterstützten Partei hingegen gilt, daß sie wiederum als solche (erst recht) keine Übertragungen von Bundestagskompetenzen vornehmen könnte, so daß auch ihr gegenüber ein Vertrauensschutz sinnlos wäre. Drittens sprechen, und dies sei lediglich noch am Rande bemerkt, auch Wortlaut und Systematik des Grundgesetzes gegen eine derartige Differenzierung zwischen unterschiedlichen Gruppen von Wahlberechtigten. Denn nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sind die Abgeordneten gerade „Vertreter des ganzen Volkes" und nicht etwa nur der sie tragenden Wählergruppe. Damit haben sie die Nichtwähler ebenso zu vertreten wie die Wähler einer anderen politischen Richtung. Vor allem aber ist es, wie dargelegt, 68 dem Bundestag von Verfassungs wegen ohnehin grundsätzlich nicht gestattet, sich seiner Kompetenzen zu entledigen. Dieser objektiv-rechtlichen Bindung darf sich das Parlament nicht unter Berufung auf etwaige Wählerentscheidungen entziehen.

III. Ergebnis zum Kreis der Grundrechtsträger Nach alledem ist nicht zwischen verschiedenen Gruppen von Wahlberechtigten zu differenzieren. Vielmehr sind alle Wahlberechtigten Träger des Wahlrechts. 69 Damit sind sie auch alle grundrechtsberechtigt, soweit das Wahlrecht einen Schutz vor Kompetenzübertragungen durch das Parlament bietet.

66 Wie sich aus §§4 ff. BundeswahlG ergibt; näher zum Stimmensplitting Meyer, in HdBStR II, § 38, Rz. 52 ff. 67 Siehe oben 2. Teil, 2. Kapitel. 68 Oben 2. Teil, 2. Kapitel. 69 Im Ergebnis ebenso Häde, BB 1993, 2457 (2458).

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

147

2. Kapitel

Sonstige Begründungsansätze für die Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG? Oben 7 0 ist bereits dargestellt worden, daß die verschiedenen Ansätze, die anhand von systematisch-teleologischen Argumenten eine Ausweitung des Schutzbereichs von Art. 38 Abs. 1 GG zu begründen versuchten, nicht überzeugen können. Der gleiche Befund ergibt sich, wie im folgenden darzulegen ist, aus einer Betrachtung von Wortlaut und Entstehungsgeschichte dieser Norm (dazu unten Α.). Des weiteren wird zu zeigen sein, daß auch ein extensives Verständnis einzelner Wahlrechtsgrundsätze wenig weiterführend wäre (B.). Dies gilt schließlich auch für die Analyse derjenigen Fälle, in denen aus anderen Staatsstrukturprinzipien als dem Demokratieprinzip, insbesondere dem Sozialstaatsprinzip sowie der Wertentscheidung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, subjektive Rechte des Einzelnen hergeleitet wurden (C.).

A. Grammatische und historische Auslegung des Art. 38 GG? Ungeachtet der in der Methodik der Verfassungsauslegung in jüngerer Zeit artikulierten Zweifel an der Ergiebigkeit des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte für eine aktuelle Verfassungsinterpretation 71 müssen grammatische und historische Betrachtung einer Verfassungsnorm zumindest der Ausgangspunkt ihrer Auslegung sein. 72 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß der Wortlaut einer Verfassungsnorm häufig nicht nach den Maßstäben heutiger Dogmatik entwickelt wurde, sondern geschichtlichen oder verfassungspolitischen Traditionen entspricht. 73 Und viele existentielle Pro-

70

Oben im 4. Teil. Siehe etwa Bleckmann, StaatsR II, § 8, Rz. 50 f.; vgl. auch schon Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2106); entschieden gegen derartige Tendenzen H.-P. Schneider, FS Stern, S. 903 ff. 72 Für die Auslegung nach dem Wortsinn als Beginn jeder Auslegung auch Larenz, Methodenlehre, S. 305; kritisch zu dem hieraus abgeleiteten Rangverhältnis der Auslegungsmethoden Kriele, in HdBStR V, § 110, Rz. 19 ff., siehe auch H.-P. Schneider, a.a.O. 73 Als Beispiel kann Art. 2 Abs. 1 GG gelten, dessen ursprüngliche, sprachlich eindeutigere Fassung lediglich aus Gründen der Stilistik den heutigen Wortlaut erhielt, vgl. etwa v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 1, Rz. 8; allgemein zu dem „gesetzestechnisch unvollständigen Charakter" der Grundrechte Bethge, Der Staat 24 (1985), 351 (353 f.). 71

10*

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

blemlagen konnte der damalige Verfassungsgeber noch nicht erkennen, was die Relevanz der historischen Auslegungsmethode einschränkt. 74

I. Grammatische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG? Art. 38 Abs. 1 GG lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Demgemäß ist der Wortlaut der Norm für einen Anspruch auf Demokratie unergiebig. 75 Eine ausdrückliche Nennung gibt es dort nicht. Allenfalls könnte an die Begriffe der „Wahl" in Satz 1 oder des „Vertreter[s]" in Satz 2 im Sinne eines materiell-rechtlichen Verständnisses angeknüpft werden, was mit einer bloßen Wortlautinterpretation allein aber kaum zu begründen wäre. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß nur wenige wahlrechtliche Bestimmungen ausdrücklich im GG niedergelegt sind 7 6 und viele Regelungen einfachgesetzlicher oder gar ungeschriebener Natur sind. Zusammen mit dem oben genannten Aspekt der Unbestimmtheit von Verfassungsnormen spricht der insoweit wenig ergiebige Befund daher auch nicht gegen die Existenz eines solchen Rechts. 77

II. Historische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG? Ebenfalls unergiebig ist die Analyse der Geschichte dieser Vorschrift. 78 1. Auslegung der Art. 20 und 38 Abs. 1 GG? Ausweislich der Dokumentation über die „Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes" 79 spielte ein subjektives Recht im vorliegenden Sinne bei der Beratung des Art. 38 Abs. 1 GG keinerlei Rolle. Dort ging es 74

Deshalb sind beispielsweise Umwelt- und Datenschutz im Grundrechtsteil des Grundgesetzes nicht ausdrücklich geregelt, vgl. Bleckmann, StaatsR II, § 8, Rz. 50. 75 Ebenso zu dem von ihm postulierten umfassenden „Anspruch auf Demokratie" Schachtschneider, JR 1970, 401 (403); kritisch zur Konzeption des BVerfG deshalb Schwarze, NJ 1994, 1; Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (447). 76 BK-Badura, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rz. 1. 77 Ebenso A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 56 f.; vgl. auch Rupp, in HdBStR I, § 28, Rz. 18 i.V.m. dortiger FN 41. 78 In der Terminologie von H.-P. Schneider, FS Stem, S. 903 (905), handelt es sich hierbei um eine „genetische Auslegung" bzw. um eine „historische Auslegung im engeren Sinne". 79 Vgl. zu Art. 38 GG Füsslein, JöR 1 (1951), 1 (349-355).

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

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primär um die Frage der Aufnahme der wahlrechtlichen Bestimmungen in das Grundgesetz sowie um die Anzahl der Abgeordneten. Auch in der Dokumentation der Beratungen zu Art. 20 GG finden sich keine Hinweise auf einen derartigen Anspruch. 80 Dort wurden vor allem die Fassung des Abs. 2, die Bindung der Staatsgewalten an die Verfassung und die Formulierung des bundesstaatlichen Prinzips diskutiert. 2. Auslegung des BVerfGG und des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG? Gassner 81 knüpft eine - ablehnende - historische Argumentation nicht an die Entstehungsgeschichte des Art. 38 GG, sondern an die Beratungen des Gesetzgebers zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz und die dort behandelte Frage des Umfangs der Verfassungsbeschwerde: Die Aufnahme des Art. 38 GG in den Katalog der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte sei dort unter der Fragestellung diskutiert worden, ob es nicht besser der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung überlassen bleiben sollte, den Kreis der geschützten Grundrechte selbst zu bestimmen. Die Tatsache, daß Art. 38 GG zunächst durch den einfachen, später auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ausdrücklich in einen Kanon verfassungsbeschwerdefähiger Rechte aufgenommen worden sei, spreche für eine enge Auslegung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und damit gegen eine weite Auslegung des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG. Bereits unter methodischen Gesichtspunkten erscheint dieser Ansatz nicht richtig.82 Grundlage des hier zu untersuchenden Anspruchs kann nicht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, sondern nur Art. 38 Abs. 1 GG - oder eine andere materielle Grundrechtsnorm - sein. Dann ist aber der Bezugspunkt der historischen Auslegung bei Gassner unzutreffend gewählt. Denn bei diesem Auslegungskriterium handelt es sich darum, den - allerdings objektivierten 83 - Willen des historischen Normgebers der betroffenen Norm zu untersuchen, 84 hier also des Verfassungsgebers als Schöpfer des Art. 38 GG. Gassners Analyse, in welchem Prozeß das Recht der Verfassungsbeschwerde entstanden ist, soll hingegen die Frage beantworten, wie der Gesetzgeber des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes den Art. 38 GG und 80 Vgl. dazu Matz, JöR 1 (1951), 1 (195-202); wie hier - zum umfassenden „Anspruch auf Demokratie" - Schachtschneider, JR 1970, 401 (403). 81 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (450 f.). 82 Unkritisch insoweit A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 57. 83 Siehe BVerfG, Beschluß vom 17.5.1960, BVerfGE 11, 126 (130 f.). 84 Vgl. Larenzy Methodenlehre, S. 313 ff., der dies auf S. 316 sogar noch genauer aufschlüsselt in die „an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen" und die „am Gesetzgebungsakt selbst beteiligten Personen".

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

dessen Gewährleistungsinhalt verstand. Dies ist methodisch eher die Suche nach einer „authentischen Auslegung" der entsprechenden Verfassungsnormen durch den (späteren) Gesetzgeber, 85 nicht aber die Erkundung des Willens des historischen Normgebers. Darüber hinaus verfängt Gassners Argumentation auch inhaltlich nicht. Inwieweit eine bloße Kanonisierung der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte anstelle einer vom Bundesverfassungsgericht selbst auszufüllenden Generalklausel für eine einschränkende Auslegung des Art. 38 GG sprechen soll, bleibt unerfindlich. Durch die Aufnahme in diesen Kanon hat der Gesetzgeber hinreichend deutlich gemacht, daß er Art. 38 GG mit den darin enthaltenen subjektiven Rechten mit der Verfassungsbeschwerde bewehren will; über den Inhalt dieser Norm wird insoweit keine Aussage getroffen. 86 Vermutlich beruht diese Argumentation auf der Vorstellung Gassners, 87 daß das Bundesverfassungsgericht i m Maastricht-Urteil außer der materiellrechtlichen Anreicherung („Materialisierung") des Art. 38 Abs. 1 GG noch - in einem zweiten Schritt - eine (gesonderte) „Subjektivierung" vorgenommen habe, 88 um ein subjektives Recht zu begründen. Dies erscheint jedoch wenig überzeugend. Vielmehr dürfte es sich um eine bloße materiell-rechtliche Anreicherung des Art. 38 Abs. 1 GG handeln, die für die Versubjektivierung auch genügte. Denn die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenen wahlrechtlichen Aussagen sind, soweit erkennbar, sämtlich auch subjektivrechtlich gewährleistet. 89 Somit besteht hier keine Diskrepanz zwischen objektivem und subjektivem Recht. Ein objektiv-rechtlicher „Mehrwert" des Art. 38 Abs. 1 GG, der eine gesonderte Versubjektivierung erforderlich machte, existiert für den Bereich des Wahlrechts nicht; 9 0 beide Ebenen entsprechen sich. Erst im Rahmen des allgemeinen Demokratieprinzips aus Art. 20 GG gibt es nach ganz herrschender Auffassung objektiv-rechtliche Inhalte, die nicht auch subjektiv-rechtlich gewährleistet sind. 91 Demgemäß

85

Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 31 GG. Wie hier A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 57. 87 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (433). 88 Weshalb er auch formuliert, „daß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gerade in Zusammenhang mit dieser Norm [sc. Art. 38 Abs. 1 GG] eng auszulegen ist", anstatt Art. 38 Abs. 1 GG direkt auszulegen. 89 Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 29, der für die Wahlrechtsgrundsätze formuliert, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewähre „dem Bürger ein subjektives Recht auf Einhaltung dieser Vorschriften bei den Wahlen" (Hervorhebung vom Verfasser); ähnlich H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 42, nach dem die Wahlrechtsgrundsätze die Staatsgewalten „als unmittelbar geltendes Recht i.S. von Art. 1 Abs. 3" GG, mithin als Grundrechte, binden; siehe auch Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (566); A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 31. 90 Vgl. Badura, StaatsR, C, Rz. 104. 86

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

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erscheint es rechtlich klarer, das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts nicht als zwei kumulative Schritte, sondern als nur einen einzigen zu werten, der allerdings in beide Richtungen - alternativ - bezeichnet werden kann: das Bundesverfassungsgericht reichert den Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG materiell an und versubjektiviert auf diese Weise die Beibehaltung der Entscheidungskompetenzen durch das Parlament. Diese Folge tritt dann quasi von selbst ein, weshalb jedenfalls hierfür auch kein gesonderter Begründungsbedarf mehr besteht. Anders gewendet: Die Versubjektivierung geschieht, indem das Gericht Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG materiell anreichert. Allenfalls in den Auswirkungen kann man deshalb von zwei kumulativen Schritten sprechen. 92 Diese am Rande liegende Beobachtung ändert freilich nichts an der Unergiebigkeit der historischen Auslegung im vorliegenden Zusammenhang.

ΠΙ. Ergebnis zur grammatischen und historischen Auslegung Damit sind sowohl die grammatische als auch die historische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG unergiebig für die Frage nach dem subjektiven Recht aus Art. 38 GG.

B. Extensive Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze? Denkbar wäre ferner, unter Anknüpfung an den Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, die Begründung des subjektiven Rechts in einer extensiven Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze zu suchen. Denn wenn diese ein solches Ergebnis trügen, wäre die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht mit einer Begründung versehen, die an den Normtext anknüpfen könnte.

I. Gleichheit der Wahl? In Betracht käme zunächst der Gesichtspunkt der Gleichheit der Wahl. Hier wäre die folgende Argumentation denkbar: Nach der unwiderruflichen Abgabe von Zuständigkeiten und Befugnissen würde der Bundestag über weniger Kompetenzen als vorher verfügen. Insbesondere könnte er nunmehr nur noch in geringerem Umfang demokratische Legitimation für die verschiedenen Bereiche der staatlichen Funktionen vermitteln, wenn er be91 Zum objektiv-rechtlichen Gehalt des Demokrateprinzips siehe beispielsweise Böckenförde, in HdBStR I, § 22, Rz. 1 ff. 92 Ähnlich wie hier E. Klein, GS Grabitz, 271 (275); A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 21.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

stimmte Amtswalter nicht mehr wählen oder kontrollieren könnte oder in bestimmten Sachbereichen von einer eigenen Entscheidung ausgeschlossen wäre. Dementsprechend würde durch dann folgende Wahlen den Wahlberechtigten im Ergebnis eine geringere Einflußmöglichkeit auf die demokratische Legitimation gewährt als zuvor. Im Vergleich zu den Wahlen vor der Kompetenzverlagerung könnte hierin eine Ungleichbehandlung liegen, da das Wahlrecht „vorher und nachher" eine unterschiedliche inhaltliche Reichweite hätte. Allerdings lägen die Schwächen einer derartigen Argumentation auf der Hand: Zum einen müßte der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nicht nur auf die Teilnahme an ein und derselben Wahl anwendbar sein, sondern auch Ungleichbehandlungen bei verschiedenen Wahlen erfassen; der in Bezug genommene Zeitpunkt müßte also zu einem Zeit räum erweitert werden. Selbst wenn man dies bejahen würde, 93 wäre für das Ergebnis aber wohl noch nichts gewonnen. Denn dann wäre immer noch nachzuweisen, wieso der Gesichtspunkt der Gleichheit der Wahl nicht lediglich die formale Gleichheit bei der Wahlentscheidung erfassen soll, sondern zugleich die inhaltliche Teilhabe an der demokratischen Legitimationsbefugnis. Gerade für die problematische Frage nach der dogmatischen Rechtfertigung der erweiterten Auslegung des Wahlrechts gäbe die Argumentation mit der Wahlrechtsgleichheit nichts her.

II. Unmittelbarkeit der Wahl? Denkbar wäre des weiteren noch eine Parallele zum Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, den das Bundesverfassungsgericht wie folgt versteht: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlangt, daß für den Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe erkennbar sind [...]. Jede Stimme muß bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet werden; dies muß dem Wähler vor der Wahl hinreichend erkennbar sein [.. .]." 9 4 Erforderlich ist also, daß „die Zurechnung der abgegebenen Wählerstimmen auf die einzelnen Wahlbewerber sich von der Stimmabgabe an ohne Zwischenschaltung eines von dem der Wähler verschiedenen Willens vollzieht."95 „Nur wenn die Wähler das letzte Wort haben, haben sie auch das entscheidende Wort; nur dann wählen sie unmittelbar." 96 93

Was - soweit ersichtlich - nirgends vertreten wird. BVerfG, Beschluß vom 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (326), m.w.N.; ähnlich bereits BVerfG, Beschluß vom 11.11.1953, BVerfGE 3, 45 (50). 95 BVerfG, Beschluß vom 11.4.1967, BVerfGE 21, 355 (356). 96 BVerfG, Beschluß vom 3.7.1957, BVerfGE 7, 63 (68). 94

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

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„Das gilt auch für die Feststellung der Ersatzmänner im Falle, daß gewählte Vertreter die Wahl ablehnen oder durch Tod oder Verlust ihres Sitzes ausscheiden. Wird für den Fall des Nachrückens von Ersatzmännern, also nach der Stimmabgabe irgendeiner Instanz das Recht eingeräumt, die neuen Vertreter zu bestimmen, so hat der Wählerwille auf die Auswahl dieser Vertreter nicht mehr einen dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl entsprechenden Einfluß." 97 Die vorliegend interessierende Parallele könnte nun darin liegen, daß bei einer Kompetenzabgabe durch den Bundestag Entscheidungsträger nun ebenfalls nicht mehr die von den Wählern bestimmten Personen wären, sondern diese Gewählten ihrerseits Dritte mit der Wahrnehmung bestimmter Kompetenzen beauftragten. Ganz wie bei einer bloß mittelbaren Wahl läge zwischen der Entscheidung der Wähler und der Auswahl der tatsächlichen Entscheidungsträger die Entscheidung einer eigenständigen Instanz, hier nämlich des Bundestags, über die Frage, an wen bestimmte Befugnisse zu übertragen seien. Allerdings läßt sich diese Parallele ebenfalls nicht zu einer überzeugenden Antwort auf die vorliegende Fragestellung ausbauen. Denn auch hier wäre erst einmal zu begründen, weshalb der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl entgegen dem bisherigen Verständnis von dem Wahlvorgang als solchem zu lösen und auf die nachfolgende parlamentarische Praxis zu übertragen sein sollte. Denn die Wahl des Bundestags als solche wäre ja (noch) unmittelbar. Erst durch einen Akt des Bundestags selbst würden nachfolgend neue Entscheidungsträger berufen. Auch diese Anknüpfung würde also die Frage nach der Begründung der materiellrechtlichen Anreicherung des Art. 38 Abs. 1 GG nicht lösen, sondern ihrerseits eine derartige Begründung gerade voraussetzen.

III. Ergebnis zur extensiven Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze Damit führt eine extensive Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze nicht weiter.

C. Parallelen zu subjektiven Rechten aus anderen Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen? Schließlich kommt eine Parallele zu subjektiv-rechtlichen Ansprüchen aus anderen Staatsstrukturprinzipien in Betracht. 98 Denn im Anschluß an 97

nal.

BVerfG, Beschluß vom 9.7.1957, BVerfGE 7, 77 (85), Hervorhebung im Origi-

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

das Maastricht-Urteil ist in der Literatur des öfteren konstatiert worden, daß nunmehr objektiv-rechtliche Gehalte des Demokratieprinzips subjektivrechtlich einklagbar seien."

I. Das Sozialstaatsprinzip? Das in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip ist von der Staatsrechtslehre in besonderem Maße darauf untersucht worden, ob sich aus ihm subjektive Rechte des Einzelnen gewinnen lassen. Entgegen diverser Versuche im Schrifttum 1 0 0 hat es das Bundesverfassungsgericht wegen der Unbestimmtheit des Sozialstaatsprinzips aber immer abgelehnt, unmittelbar hieraus subjektive Rechte herzuleiten. 101 Das entspricht auch der in der Lehre heute ganz herrschenden Ansicht. 1 0 2 Stattdessen beeinflußt das Sozialstaatsprinzip lediglich die Auslegung (auch) der Grundrechtsnormen, ohne aber selbständige subjektiv-rechtliche Gewährleistungen zu enthalten. Dementsprechend hat die Rechtsprechung vor allem derivative Ansprüche aus Art. 3 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet. 103 Freilich stünde dieser Befund einer Parallele zum materiell angereicherten Wahlrecht noch nicht entgegen, da das Bundesverfassungsgericht sich im Maastricht-Urteil formal ebenfalls nicht unmittelbar auf das Demokratieprinzip, sondern auf das grundrechtsgleiche Wahlrecht des Art. 38 Abs. 1 98 Derartiges hatte bereits Schachtschneider, JR 1970, 401 (406), für seinen umfangreichen und wesentlich weitergehenden „Anspruch auf Demokratie" in Erwägung gezogen. 99 Vgl. oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. II. 100 Ein Überblick über die (frühere) Literatur findet sich bei Wiedenbrüg, Sozialstaatsprinzip, S. 128 ff. 101 Siehe etwa BVerfG, Beschluß vom 29.5.1990, BVerfGE 82, 60 (80); vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 3.12.1969, BVerfGE 27, 253 (283); BVerfG, Beschluß vom 17.1.1976, BVerfGE 41, 126 (153 f.). 102 Siehe z.B. Zacher, in HdBStR I, § 25, Rz. 107; Stern, StaatsR I, S. 916; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 20, Rz. 51; Schnapp, in v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1 (4. Aufl.), Art. 20, Rz. 19, m.w.N.; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VIII. Abschnitt, Rz. 28. 103 So z.B. BVerfG, Urteil vom 18.7.1972; BVerfGE 33, 303 (331): Anspruch auf Zulassung zum Hochschulstudium „aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip"; BVerfG, Beschluß vom 12.12.1973, BVerfGE 36, 237 (249 f.); BVerfG, Beschluß vom 22.6.1977, BVerfGE 45, 376 (387); siehe auch BSG, Urteil vom 15.10.1963, BSGE 20, 41 (45), welches das Sozialstaatsprinzip als Begründung für die erweiternde Auslegung einer sozialversicherungsrechtlichen Norm heranzieht; ähnlich BGH, Urteil vom 26.9.1957, BGHZ 25, 231 (234 f.) zur Unfallfürsorge für Strafgefangene; bezüglich der dogmatischen Anknüpfung hingegen unklar BVerwG, Urteil vom 12.6.1964, BVerwGE 18, 352 ff.

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

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GG gestützt hat. Dort hieß es ja, wie oben 1 0 4 näher ausgeführt, Art. 38 GG schließe aus, „daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird".105 Zudem erscheint der äußere Argumentationsgang im Maastricht-Urteil einerseits und bei der Ableitung von Gewährleistungen aus dem Sozialstaatsprinzip andererseits durchaus vergleichbar: In beiden Fällen scheint eine Grundrechtsnorm 106 durch die Verbindung mit einem Staatsstrukturprinzip insoweit angereichert zu werden, als ihr Gewährleistungsinhalt erweitert wird. Durch die Verbindung mit dem Strukturprinzip wird ein größerer Gewährleistungsumfang begründet, als zuvor bestand. 107 Dennoch zeigen sich bei einer genaueren Analyse Unterschiede zwischen beiden Ansätzen. Sie liegen zum einen in der Aktivierung des Art. 79 Abs. 3 GG begründet. Denn das Maastricht-Urteil erkennt dem Einzelnen, wie eben noch einmal zitiert, subjektive Rechte ausdrücklich nur insoweit zu, als der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Teil des Demokratieprinzips verletzt ist. Mithin ist nicht der gesamte Umfang des Demokratieprinzips bereits geeignet, eine Verletzung des Art. 38 GG zu begründen, sondern nur der Kernbereich, der gemäß Art. 79 Abs. 3 GG sogar einer Verfassungsänderung entzogen wäre. Anders verhält es sich aber bei der Ableitung von subjektiven Rechten mit Hilfe des Sozialstaatsprinzips. Hier ist von einer derartigen Einschränkung, soweit ersichtlich, nirgends die Rede. Vielmehr wird der Rahmen insofern tiefer gehängt, als bereits das Sozialstaatsprinzip als solches zur Begründung der grundrechtlichen Gewährleistungserweiterung ausreichen soll. Die Rechtsprechung ist bei der Ableitung von Individualrechten aus dem Sozialstaatsprinzip also großzügiger als bei der materiellrechtlichen Anreicherung des Art. 38 GG, die lediglich in dem von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Teil des Demokratieprinzips anerkannt wird. Diese „Großzügigkeit" bei den sozialstaatsbezogenen Gewährleistungen ist deshalb vertretbar, weil dort als einschränkendes Instrument der insbesondere von der Rechtsprechung stets betonte 1 0 8 „Vorbehalt des Möglichen" zur Verfügung steht, der die Finanzierbarkeit der Gewährleistungen ver104

Oben 4. Teil, 1. Kapitel, F. BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (Leitsatz 1). 106 Im Falle des Wahlrechts strenggenommen eine grundrechtsgleiche Norm. 107 Vgl. für das Sozialstaatsprinzip Zacher, in HdBStR I, § 25, Rz. 109: „Argument der Auslegung und Ergänzung der Rechtsnormen, die [der Bürger] für sich in Anspruch nimmt" (Hervorhebung vom Verfasser). 108 Siehe etwa BVerfG, Urteil vom 18.7.1972, BVerfGE 33, 303 (333); BVerfG, Beschluß vom 29.5.1990, BVerfGE 82, 60 (82). 105

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

langt. 1 0 9 Derartiges wird i m Rahmen der staatsorganisatorischen Ausgestaltung von Wahlrecht und Bundestagskompetenzen weder gefordert, noch würde dieser Vorbehalt hier überhaupt passen, da der Bereich der Staatsorganisation ersichtlich nicht in erster Linie von Kostenfragen abhängen darf. Des weiteren ist der Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen und der Schaffung von Einrichtungen wie etwa staatlichen Ausbildungsgängen, hinsichtlich derer dann vermittels des Sozialstaatsprinzips individuelle Teilhaberechte in Betracht kommen, weitgehend frei. 1 1 0 Derartige Entscheidungen sind kaum rechtlichen Bindungen unterworfen, sondern hauptsächlich von politischen Kriterien abhängig. 111 Demgegenüber besteht für den (einfachen) Gesetzgeber auf dem Gebiet der Staatsorganisation ein wesentlich kleinerer Gestaltungsspielraum, der in dem Bereich des Demokratieprinzips noch deutlich weiter eingeschränkt ist. Denn, wie oben dargelegt, 112 ist der Bundestag in weiten Bereichen an die grundgesetzliche Zuständigkeitsverteilung gebunden, und eine Delegation seiner Befugnisse kommt allenfalls in eng umgrenzten Sonderfällen in Betracht. Auch aus diesem Befund sind unterschiedliche Folgerungen hinsichtlich der Gewährung subjektiver Rechte zu ziehen. Die Gewährung von derivativen Teilhaberechten wird nicht zuletzt damit gerechtfertigt, daß diese sich nur auf die Teilhabe an dem jeweils Vorhandenen bezögen. 113 W i l l der Staat etwa vorhandene Einrichtungen aus bestimmten Gründen schließen, anders organisieren oder bisher gewährte Leistungen in Zukunft einstellen, genießt der Einzelne gegen diese Entscheidung in der Regel keinen Rechtsschutz. Die Gestaltungsfreiheit des Staats wird deshalb durch die Zuerkennung subjektiver Rechte auf diesem Gebiet kaum eingeschränkt. 114 Anders verhält es sich bei einer Erweiterung des wahlrechtlichen Gewährleistungsbereichs vermittels des Demokratieprinzips. Sofern der Staat hier überhaupt nach objektivem Recht frei in der Gestaltung ist, könnte die Anerkennung subjektiver Rechte des Einzelnen seine Gestaltungsfreiheit (weiter) beeinträchtigen und ihm (zusätzliche) rechtliche Grenzen auferlegen. Zwar wird noch im einzelnen zu prüfen sein, 1 1 5 inwieweit dies tatsächlich der Fall ist. Jedoch gibt die lediglich parallele Betrachtung der Staatsstrukturprinzipien auf diese unterschiedlichen Problemlagen keine ausreichende Antwort.

109

Aus dem Schrifttum siehe dazu auch Neumann, DVB1. 1997, 92 (94). Vgl. Stern, StaatsR I, S. 916; Benda, in HdBVerfR, § 17, Rz. 90. 111 Vgl. Benda, a.a.O., § 17, Rz. 170; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Vili. Abschnitt, Rz. 25. 112 Oben 2. Teil, 2. Kapitel. 113 Vgl. Murswiek, in HdBStR V, § 112, Rz. 57. 114 Vgl. Stern, StaatsR I, S. 935. 115 Unten 7. Teil, 3. Kapitel, D. V. 3. a. 110

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

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Hinzu kommt schließlich der folgende grundrechtsdogmatische Gesichtspunkt: Sozialstaatsbezogene Gewährleistungen beziehen sich in erster Linie auf Anspruchsrechte des sogenannten positiven Status. 116 Sie gewähren dem Einzelnen einen Anspruch auf eine staatliche Leistung, sei es, wie meist, als derivatives Teilhaberecht, 117 sei es - selten 1 1 8 - als originäres Anspruchsrecht. Auf diese Weise soll dem Individuum die Führung eines menschenwürdigen Lebens gesichert werden. 1 1 9 Demgegenüber betreffen sowohl das Wahlrecht als auch das diesem zugrundeliegende Demokratieprinzip den aktiven Status. 120 Dieser befaßt sich nicht mit der Gewährleistung einer staatsfreien Sphäre für den Einzelnen durch Abwehr staatlicher Eingriffe oder Gewährung von Leistungen für eine selbstbestimmte Lebensführung, sondern der Aktivstatus spricht das Individuum gerade als Teil des Staats an und eröffnet ihm die Möglichkeit zur Mitgestaltung des Staatswesens. Wegen dieser Verschiedenheit der Lebensbereiche können Ergebnisse des positiven Status nicht ohne weiteres auf den aktiven Status übertragen werden. 1 2 1 Das gilt um so mehr, als aus dem Sozialstaatsprinzip in erster Linie eine (leistende) aktive Tätigkeit des Gesetzgebers abgeleitet wird, zum Beispiel auf Schaffung oder Ausbau sozialstaatlicher Gewährleistungen. Demgegenüber wird gerade in der vorliegend zu untersuchenden Konstellation vom Bundestag eher ein Unterlassen erwartet, nämlich die Unterlassung einer Kompetenzverlagerung zugunsten anderer Institutionen oder Organe. Dieser Aspekt spricht ebenfalls gegen die Parallelisierung der Argumentation zum Demokratieprinzip zu der des Sozialstaatsprinzips. Damit können für die Konstellation des Maastricht-Urteils und das dort in Bezug genommene Demokratieprinzip aus einer Parallele zum Sozialstaatsprinzip keine weiterführenden Erkenntnisse gewonnen werden. 1 2 2

116

Näher zur Statuslehre und den daraus abzuleitenden Unterschieden unten 3. Kapitel, Β. II. 117 Zu den Teilhaberechten allgemein Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VIII. Abschnitt, Rz. 49 ff. 118 Vgl. Sachs, GG, vor Art. 1, Rz. 47. 119 BVerfG, Beschluß vom 29.5.1990, BVerfGE 82, 60 (80); Schnapp, JuS 1998, 873 (877), m.w.N. 120 Dazu unten 3. Kapitel, Β. II. 3. 121 Auch dieser Gesichtspunkt wird unten im 3. Kapitel noch des näheren ausgeführt. 122 In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, daß das BVerfG im Maastricht-Urteil die Rüge einer Verletzung von Sozialstaats- und Bundesstaatsprinzip für unzulässig erklärt hat (BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (179).

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

II. Das Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen"? Ein anderer Argumentationsgang könnte sich möglicherweise auf eine Parallele zu Art. 20a GG und den dort verankerten „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" stützen. 1. Die Sicherung des ökologischen Status quo in Art. 20a GG Ausweislich des Normtextes soll der Schutz der Umwelt gerade „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" gewährt werden. Aus dieser Formulierung wird allgemein ein sogenannter „Nachweltschutz" abgeleitet, 1 2 3 das heißt die Beachtung der Folgen umweltrelevanten staatlichen Handelns für die zukünftigen Individuen gefordert. Während dies teilweise lediglich als eine staatliche Pflicht zur Einbeziehung auch solcher Risiken verstanden wird, die erst auf lange Sicht drohen, etwa durch Akkumulation an sich geringer Schadstoffmengen über Jahre hinweg oder durch langfristig drohende Risiken in der Endlagerung von Nuklearabfällen, 124 wird andererseits betont, daß Zielrichtung des Art. 20a GG die Bewahrung der Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen i s t . 1 2 5 Demgemäß müsse der von dieser Norm gewährte Schutz weiter gehen. Aus ihr lasse sich deshalb eine Pflicht zur Bewahrung des Status quo herleiten, die eine weitere Verschlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen verbiete: 126 Es dürften nur soviel Ressourcen verbraucht werden, wie sich auch regenerieren könnten bzw. wie anderweitig ersetzbar seien. Nur so werde den zukünftigen Generationen „keine Gesamtverschlechterung ihrer Situation" hinterlassen. 127 Neben dem teleologischen Argument spreche für diese Auslegung des Art. 20a GG eine Parallele zu der haushaltsrechtlichen Bestimmung des Art. 115 Abs. 1 GG. Wenn Satz 2 dieser Norm statuiere, daß die Einnahmen aus Krediten die Summe der Investitionen nicht überschreiten dürften, diene dies dadurch der Wahrung der „demokratische^ Lebensgrundlage der Entscheidungsfreiheit [...] für Zukünftige, daß nur soviel an Schulden hinterlassen wird, wie auch an Werten in Form von Investitionen hinterlassen wird. Dadurch können zukünftige Generationen theoretisch immer von einem gleichen finanziellen Wertbestand ausgehen und sind demzufolge in ihrer demokratischen Entscheidungsfindung nicht durch finanzielle Altlasten beschränkt". 128 123

Begriff bei Kloepfer, DVB1. 1996, 73 (77); in der Sache ebenso z.B. Ψ aechter, NuR 1996, 321 (325 ff.); Murswiek, NVwZ 1996, 222 (225); Schink, DÖV 1997, 221 (225); jeweils m.w.N. 124 So z.B. Murswiek, a.a.O. 125 Waechter, NuR 1996, 321 (326). 126 Waechter, a.a.O. (327). 127 Waechter, a.a.O. (326).

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG? 2. Übertragbarkeit

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auf die vorliegende Fragestellung?

Die eventuelle Parallele dieser Konzeption zur vorliegenden Fragestellung könnte nun wie folgt lauten: Auch hier müsse auf die künftigen Generationen der Wahlberechtigten Rücksicht genommen werden, so daß deren Wahlrecht nicht entwertet werden dürfe. Ebensowenig wie den nachfolgenden Generationen ökologische oder finanzielle Altlasten hinterlassen werden dürften, dürften ihnen demokratische - oder besser: ^demokratische - „Altlasten" übergeben werden; der Status quo könnte mithin im Bereich des Wahlrechts ebenso sicherzustellen sein wie auf dem Gebiet des Umweltschutzes. 3. Argumente gegen eine Übertragbarkeit Gegen die Übertragbarkeit dieser zu Art. 20a GG entwickelten Argumentation bestehen aber gewichtige Bedenken. Zum einen ist eine derartige Übertragung wohl bereits im Grundsatz nicht möglich. Soweit erkennbar, ist ein solcher themenbezogener Bestandsschutz im Grundgesetz nur an den beiden von Waechter angeführten Stellen formuliert. Da es sich hierbei um jeweils eng umgrenzte Rechtsmaterien handelt, wird man insoweit - was auch Waechter nicht tut - nicht von einem allgemeinen Grundsatz des Verfassungsrechts sprechen können. Denn auf zahlreichen Gebieten ist ein derartiger „Nachweltschutz" nicht gegeben. Vielmehr handelt es sich bei Art. 20a und 115 Abs. 1 Satz 2 GG um Sonderregelungen mit einem scharf umrissenen Geltungsbereich, die jedenfalls einer umfassenden Verallgemeinerung nicht zugänglich sind. Aber auch einer bloßen Parallelisierung der Argumentation stehen durchgreifende Bedenken entgegen. Denn während Art. 20a GG mit seiner Formulierung „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" diesen „Nachweltschutz" ausdrücklich ausspricht, fehlt für den Bereich des Wahlrechts und der Demokratie ein solcher Textbeleg völlig. Und während ein „Nachweltschutz" für das Gebiet einer Kreditbeschaffung zwar nicht im Wortlaut des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG enthalten ist, sich aber von selbst verstehen könnte, da jeder Kredit irgendwann zurückgezahlt werden muß und damit zur Belastung wird, fehlt auch dieses Argument für den vorliegend zu untersuchenden Bereich. Denn es liegt auf der Hand, daß nahezu jede parlamentarische Entscheidung Auswirkungen auf Inhalt und Umfang der Kompetenzen des Parlaments haben kann und somit indirekt das Wahlrecht beeinflußt. Damit kann potentiell fast jeder Beschluß des Parlaments zu einer Verringerung von dessen Kompetenzen führen, ohne daß dies von Verfas128

Waechter, a.a.O.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

sungs wegen problematisiert würde oder auch nur problematisiert werden könnte. Denn der Bundestag ist ständig gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die aus faktischen Gründen irreversibel sein können; jede inhaltliche Einschränkung der Entscheidungsbefugnisse aus Gründen des Bestandsschutzes würde eine zeitgemäße und dynamische Gesetzgebung zumindest erschweren, wenn nicht gar verhindern. 129 Zum anderen wäre für die vorliegende Fragestellung - selbst wenn eine Übertragung der Argumentation grundsätzlich möglich wäre - noch nichts gewonnen. Denn mit ihr ließe sich lediglich ein objektiv-rechtlicher Bestandsschutz für den Bereich der Bundestagskompetenzen begründen. 130 Da es sich bei der Norm des Art. 20a GG nach allgemeiner Ansicht um ein Staatsstmkturprinzip handelt, 131 lassen sich unmittelbar aus ihr subjektive Rechte nicht ableiten. 132 Gerade um diese subjektiven Rechte geht es aber im Rahmen dieser Arbeit. Soweit in Anlehnung an die Argumentation zum Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit der Menschenwürde bei Art. 20a GG „ein subjektives Recht auf Wahrung des Existenzminimums hinsichtlich der Lebensgrundlagen" angenommen w i r d , 1 3 3 sprechen gegen die Übertragbarkeit auf die vorliegende Fragestellung die oben 1 3 4 beim Sozialstaatsgrundsatz angeführten Argumente. 4. Ergebnis zu Art. 20a GG Damit ist eine Übertragung der Argumentation zum ökologischen Status quo auf die vorliegend zu untersuchende Thematik nicht möglich.

III. Sonstige Staatsstrukturprinzipien? Ebenfalls unergiebig ist die Betrachtung der sonstigen Strukturprinzipien. Das Bundesstaatsprinzip vermittelt, soweit erkennbar, keinerlei subjektive Rechte des Einzelnen; hier wäre im übrigen auch schon zweifelhaft, ob dieses Prinzip durch eine Kompetenzabgabe des Bundestags überhaupt objektiv-rechtlich tangiert ist. 129 Aus diesem Grunde wird, wie bereits dargelegt, im Rahmen der vorliegenden Arbeit lediglich die Übertragung von Kompetenzen des Bundestags erörtert, nicht aber dessen rein faktische Selbstbindung, näher dazu oben 1. Teil, 2. Kapitel, B. 130 Was zudem lediglich verstärkenden Charakter hätte, da auch nach überkommener Rechtslage auf der objektiv-rechtlichen Ebene eine weitreichende Kompetenzabgabe durch den Bundestag unzulässig wäre, siehe oben 2. Teil, 2. Kapitel. 131 Siehe nur Schink, DÖV 1997, 221 (222), m.w.N. in dortiger FN 20. 132 Waechter, NuR 1996, 321; ausführlich Uhle, JuS 1996, 96 (100 ff.). 133 So Waechter, NuR 1996, 321 f.; gegen eine solche Vergleichbarkeit mit dem Sozialstaatsprinzip Uhle, JuS 1996, 96 (100 ff.). 134 Oben I.

2. Kap.: Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG?

161

Auch das republikanische Prinzip gibt für die vorliegende Fragestellung nichts her. Nach ganz herrschender Auffassung beschränkt es sich auf die Festschreibung einer Absage an die Monarchie und das dynastische Prinz i p . 1 3 5 Schachtschneiders Versuch, den Republikbegriff inhaltlich auszuweiten, geht von der ausdrücklichen Prämisse aus, „alle Institutionen der Verfassung neu [zu] dogmatisieren", 136 was kaum sinnvoll zu leisten wäre, zumal sein Ansatz auch aus sonstigen Gründen für die hier zu untersuchende Problemstellung unergiebig i s t . 1 3 7 Schließlich führt eine Betrachtung des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls nicht weiter. Zwar gibt es enge Verbindungen zwischen diesem Strukturprinzip und den Grundrechten: Teilweise werden bestimmte Ansprüche des Einzelnen alternativ auf die Grundrechte oder das Rechtsstaatsprinzip gestützt; 1 3 8 teilweise werden aus den Grundrechten in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip bestimmte Gewährleistungen, zum Beispiel die eines fairen Verfahrens, hergeleitet 139 und teilweise wird sogar die Gewährleistung von Grundrechten überhaupt als Teil des Rechtsstaatsprinzips gesehen. 1 4 0 Jedoch wird, soweit erkennbar, nirgends die Anreicherung einer grundrechtlichen Gewährleistung durch das Rechtsstaatsprinzip postuliert, wie es für das Sozialstaatsprinzip vertreten w i r d 1 4 1 und für das Demokratieprinzip der Konstellation des Maastricht-Urteils entsprechen würde.

IV. Ergebnis zu Ansprüchen aus anderen Staatsstrukturprinzipien Damit ist auch aus der Betrachtung der anderen Staatsstrukturprinzipien kein Anhaltspunkt für die Begründung der neuen Auslegung des Art. 38 GG herzuleiten.

135

Siehe nur die Nachweise bei Isensee, JZ 1981, 1 f.; ähnlich Henke, JZ 1981, 249 (250). 136 Schachtschneider, Res publica res populi, S. IX. 137 Näher dazu oben 4. Teil, 6. Kapitel, A. 138 Ein Beispiel hierfür bildet die Begründung des verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs, der neben einer Analogie zu §§ 823, 1004 BGB vor allem mit einer Ableitung entweder aus dem Rechtsstaatsprinzip oder den Freiheitsgrundrechten begründet wird (siehe zu den Begründungsansätzen in Literatur und Rechtsprechung Ossenbühl, StaatshaftungsR, S. 294 ff.). 139 BVerfG, Beschluß vom 11.3.1975, BVerfGE 39, 156 (163); BVerfG, Beschluß vom 21.1.1976, BVerfGE 41, 246 (249); BVerfG, Beschluß vom 26.5.1981, BVerfGE 57, 250 (274 f.). 140 So z.B. Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VII. Abschnitt, Rz. 23. 141 Dazu oben I. 11 Soppe

162

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

D. Ergebnis zu den sonstigen Ansätzen zur Schutzbereichserweiterung Nach alledem ist auch über die im Schrifttum bislang vertretenen Ansätze hinaus keine dogmatische Erklärung der neuen Auslegung des Art. 38 GG ersichtlich, die überzeugend die Erweiterung von dessen Schutzbereich belegen könnte. 3. Kapitel

Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs A. Vorbemerkung Für die Kompetenzübertragungen, die mit der Ratifikation des EU-Vertrages verbunden waren, dürfte nach dem oben Dargestellten deutlich geworden sein, daß eine Verletzung des Schutzbereichs von Art. 38 GG nach dessen überkommenem Verständnis ausgeschlossen ist. Das staatliche Verhalten berührt danach nicht den überkommenen Gewährleistungsinhalt. Denn das in Art. 38 GG enthaltene Wahlrecht schützt danach, wie oben dargelegt, 142 lediglich das Recht auf Teilnahme an der Konstituierung der Staatsgewalt, nicht aber den Übergriff auf die Ausübung dieser Gewalt durch den Bundestag. Das Bundesverfassungsgericht hat nun eine mögliche Rechtsverletzung des Beschwerdeführers deshalb bejaht, weil es den Schutzbereich des Art. 38 GG ausgedehnt und auch auf einen bisher nicht als gewährleistet angesehenen „materiell-rechtlichen Kern" erstreckt hat. Auch sämtliche der im Schrifttum unternommenen Deutungsversuche haben an diesem Punkt angesetzt und - wie gezeigt, allerdings erfolglos - versucht, die Schutzbereichserweiterung auf ein tragfähiges dogmatisches Fundament zu stellen. Andere Stimmen halten - wie dargelegt - weder die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts für überzeugend, noch stimmen sie den Dogmatisierungsansätzen im Schrifttum zu. Schließlich sind auch die oben aufgezeigten Ansätze einer grammatischen und historischen Auslegung ebenso ungeeignet wie die Anknüpfung an einzelne Wahlgrundsätze oder die Parallele zu subjektiven Rechten aus anderen Staatsstrukturprinzipien. Allen diesen Konzepten ist gemeinsam, daß sie ihr Augenmerk nicht auf die Zielrichtung und Reichweite des staatlichen Handelns richten, sondern allein den grundrechtlichen Schutzbereich in seiner überkommenen sowie 142

Siehe oben 3. Teil.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

163

der neu postulierten Reichweite betrachten. Tatsächlich scheint ein Gutteil der Meinungsverschiedenheiten über die Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil gerade darauf zurückzuführen sein, daß das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend ein Teil des Schrifttums das Wahlrecht als „irgendwie betroffen" angesehen haben, während ein anderer Teil der Literatur eine solche Betroffenheit gerade nicht zu erkennen oder jedenfalls nicht zu begründen vermochte. Das „Dilemma", daß der überkommene Schutzbereich des Art. 38 GG durch den staatlichen Akt der Kompetenz Verlagerung nicht unmittelbar beeinträchtigt ist, wurde dann mit einer Ausdehnung dieses Gewährleistungsinhalts zu beheben versucht. Rechtslogisch besteht aber auch noch eine andere Möglichkeit, in der hier zu untersuchenden Konstellation einen Eingriff in subjektiv geschützte Rechte des Bürgers zu bejahen, die bislang offenbar noch nicht in Betracht gezogen worden ist: Denkbar erscheint die Beibehaltung des überkommenen grundrechtlichen Schutzbereichs bei gleichzeitiger begrifflicher Ausdehnung dessen, was als Beeinträchtigung zu bewerten ist. Denn wenn die staatliche Maßnahme als (unmittelbarer) Eingriff nicht auf den Schutzbereich (nach überkommenem Verständnis) trifft, lassen sich die an diesem Ergebnis vielleicht bestehenden Zweifel dogmatisch auch dadurch aufnehmen, daß der Bereich desjenigen staatlichen Verhaltens erweitert wird, das den Schutzbereich des Art. 38 GG zu beeinträchtigen vermöchte. Mit anderen Worten: Das Maß dessen, was geschützt ist - das Wahlrecht - , bleibt gleich, aber das Maß dessen, wovor es zu schützen ist - den staatlichen Handlungen - , wird ausgeweitet. 143 Jedenfalls im Bereich der grundrechtlichen Abwehrrechte hat sich diese Möglichkeit bereits in dem Sinne durchgesetzt, daß die mittlerweile wohl allgemeine Meinung den jeweiligen Gewährleistungsbereich nicht nur gegen unmittelbare, sondern auch gegen indirekte, 144 d.h. mittelbare und faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen schützt. Hier wurde mithin das

143 Eine in der Sache ähnliche Unterscheidung findet sich bei Ramsauer, Faktische Beeinträchtigungen, S. 52 f.: Der „sachliche Schutzbereich" eines Grundrechts erfasse die Frage „Welche Befugnisse sind geschützt?"; der „funktionelle Schutzbereich" beantworte das Problem „Wogegen werden diese Befugnisse geschützt?". Auf diese Weise will Ramsauer klären, wann ein indirekter Grundrechtseingriff vorliegt. Für die vorliegende Fragestellung erscheint Ramsauers Terminologie allerdings eher verwirrend als klärend. Denn auch wenn nicht zu verkennen ist, daß Schutzbereichsumfang und Eingriffsbegriff eng zusammenhängen, so darf doch nicht übersehen werden, daß der Inhalt des „funktionellen Schutzbereichs" in erster Linie ein bestimmtes staatliches Verhalten meint. Dann ist es aber sinnvoll, dieses mit der überkommenen Ansicht auch „vom Staat" her, d.h. mit der auf das staatliche Handeln zugeschnittenen Eingriffsterminologie zu erfassen, und nicht auf die Perspektive des Grundrechtsträgers abzustellen (näher zu diesem Ansatz unten C. I. 1.). Kritisch zu der Lehre vom funktionalen Schutzbereich insgesamt Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 266 ff. 1

164

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Maß dessen, wovor das Grundrecht seinen Träger schützt, von den klassischen unmittelbaren Grundrechtseingriffen im Sinne ziel- und zweckgerichteter rechtlicher Eingriffe ausgeweitet auch auf faktische und mittelbare Beeinträchtigungen. Der - gegenständlich unverändert gebliebene - Schutzbereich schützt damit auch gegen staatliches Handeln, das entweder eine andere Qualität oder eine andere Zielrichtung aufweist als ein unmittelbarer Grundrechtseingriff. Fraglich ist, ob dieser Gedanke für die vorliegende Konstellation ebenfalls fruchtbar gemacht werden kann. Das hätte gegebenenfalls den Vorteil, daß der - auch historisch gewachsene - Begriff des Wahlrechts unverändert bestehen bliebe, gleichzeitig aber das zunächst rein intuitive Unbehagen dogmatisch aufgenommen werden könnte, daß durch eine weitgehende Abgabe von Kompetenzen durch den Bundestag „irgendwie" das Wahlrecht betroffen ist. Dazu müßte freilich zweierlei zu bejahen sein: Erstens müßte die Figur der indirekten Grundrechtsbeeinträchtigung auch auf die Bürgerrechte des status activus übertragbar sein (dazu sogleich in den folgenden Ausführungen des 3. Kapitels). Und zweitens müßte sich dann die Abgabe parlamentarischer Kompetenzen als mittelbare oder faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts darstellen (dazu i m 4. Kapitel).

B. Indirekte Beeinträchtigungen der Rechte des status activus I. Der Begriff des Grundrechtseingriffs Zunächst ist für die Klärung der oben aufgeworfenen Fragen eine Verständigung über den Begriff des Grundrechtseingriffs erforderlich. Dabei ergibt eine Durchsicht der neueren Rechtsprechung und Literatur recht schnell, daß die Frage, was genau unter einem Grundrechtseingriff zu verstehen ist, mit zu den umstrittensten Fragen der allgemeinen Grundrechtsdogmatik gehören dürfte. 1 4 5 Nachdem mit dem sogenannten klassischen Eingriffsbegriff, der in Umfang und Reichweite dem Verwaltungsakt korrelierte, 1 4 6 zunächst relativ sichere Kriterien zur Verfügung standen, wann in ein Grundrecht eingegriffen werde, 1 4 7 ist nunmehr, mit der Auflösung dieses Begriffs, eine deutliche Unsicherheit zu konstatieren. 148 144 Der Terminus „indirekter Grundrechtseingriff 4 wird im folgenden als Oberbegriff für „mittelbare" und „faktische" Grundrechtseingriffe verwendet. Näher zur Terminologie unten Β. I. 2. a. 145 Siehe etwa Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 128, der von „einer ebenso extensiven wie letztlich offengebliebenen Diskussion" spricht. 146 Vgl. Albers, DVB1. 1996, 233 (234); Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (374).

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs 1. Der unmittelbare

165

Grundrechtseingriff

Nach bisherigem Verständnis spielte die Figur des Grundrechtseingriffs fast ausschließlich 149 in dem Bereich der negativen Abwehrrechte eine Rolle. In diesem Bereich kann man vorrechtlich gedachte Freiheiten von solchen unterscheiden, die erst noch durch Rechtsakt näher eingerichtet werden müssen. Zu den vorrechtlichen Freiheiten gehören dabei solche Handlungsbereiche, die, wie z.B. das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, für eine Wahrnehmung durch das Individuum keiner rechtlichen und damit staatlichen Ausformung - bedürfen. Demgegenüber benötigen andere Freiheiten, wie etwa das Eigentums- und Erbrecht, noch eine genauere rechtliche Einrichtung. Denn nur wenn deutlich ist, was Eigentums- und Erbrecht sind, können sie sinnvoll ausgeübt werden. Insbesondere bei den vorrechtlich gedachten Freiheiten stellt der Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts eine Freiheitssphäre dar, die dem Grundrechtsberechtigten gewährleistet, auf diesem Gebiet zunächst einmal keinen staatlichen Regelungen unterworfen zu sein. Eingriffe des Staats in diese Sphäre sind grundsätzlich verboten; staatliche Beeinträchtigungen der darin gewährleisteten Freiheit sind grundsätzlich untersagt. Wenn der Staat in diese Freiheitssphäre eingreifen will, so benötigt er deshalb einen „Rechtfertigungsgrund", eine Eingriffsermächtigung. Diese ist bei den unterschiedlichen Grundrechten unterschiedlich weit gefaßt. Sie kann einen Eingriff aufgrund jedes (rechtmäßigen) Gesetzes rechtfertigen; sie kann für einen rechtmäßigen Eingriff ein formelles Gesetz verlangen, und sie kann einen Eingriff ausschließlich aufgrund kollidierender anderer Verfassungsgewährleistungen gestatten. Liegt eine Eingriffsermächtigung nicht vor, ist der Eingriff rechtswidrig und kann vom Grundrechtsträger abgewehrt werden. Ähnlich verhält es sich bei den rechtlich auszuformenden Rechten; dort müssen allerdings diejenigen Gesetze, die das Grundrecht erst ausfüllen und umgrenzen, von etwaigen Beeinträchtigungen unterschieden werden. 1 5 0 Aus alledem ergibt sich das klassische Schema zur Rechtmäßigkeitsprüfung eines Grundrechtseingriffs: (1) Ist der Schutzbereich eines Grundrechts überhaupt berührt? (2) Wird in diesen Schutzbereich zu Lasten des Grund147 Nach Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 104, sind die Kriterien des klassischen Grundrechtseingriffs „zwar keine notwendigen [...], aber allgemein als hinreichend anerkannte Merkmale für mangels besonderer Rechtfertigung anzunehmende Grundrechtsverletzungen" . 148 Des öfteren wird bereits von einer „Krise des Grundrechtseingriffs" gesprochen, so z.B. Bethge, VVDStRL 57, 10 (37 ff.), m.w.N. 149 Zu Ausnahmen siehe unten III. 150 Ganz h.M.; für das Eigentumsrecht grundlegend BVerfG, Beschluß vom 15.7.1981, BVerfGE 58, 300 (330 ff.).

166

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

rechtsträgers eingegriffen? (3) Ist dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt? Verhältnismäßig unproblematisch lassen sich diese Fragen bei den sogenannten klassischen Grundrechtseingriffen beantworten. 151 Der klassische Eingriffsbegriff setzt dabei ein staatliches Handeln voraus, das rechtsförmig, unmittelbar, final und imperativ erfolgt; 1 5 2 diese Kriterien sind eng aufeinander bezogen. 153 Damit erscheint dieses Verständnis des Eingriffs eng an dem Begriff des Verwaltungsakts orientiert und gewährt vor allem Schutz vor derartigem Verwaltungshandeln. 2. Die indirekten

Grundrechtsbeeinträchtigungen

Unter der Geltung des Grundgesetzes wurde dann der Schutz der Grundrechte stärker in den Vordergrund gerückt. Dabei ergab sich, daß es aus der Sicht des Grundrechtsträgers unerheblich ist, mit welchem Ziel und in welcher Form in seine Freiheitssphäre eingegriffen w i r d . 1 5 4 Dies führte zu der Erkenntnis, daß diese Sphäre nicht nur durch die klassischen Eingriffe gestört sein kann, sondern auch durch sonstiges staatliches Handeln, ja letztlich sogar durch ein vom Staat lediglich angeregtes Handeln Dritter. Dementsprechend wurde der Begriff des Grundrechtseingriffs wirkungsbezogen ausgelegt 155 und ausgedehnt auf die Fälle indirekter Beeinträchtigungen, 156 die entweder mittelbar oder faktisch die Grundrechtsausübung behindern. Begründet wurde dies unter anderem mit der umfassenden Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG sowie dem Argument, daß dem Verfassungstext keine Einschränkung auf unmittelbare Grundrechtsbeschränkungen zu entnehmen sei. 1 5 7 Diese Erweiterung des Eingriffsbegriffs, deren grundsätzliche Notwendigkeit mittlerweile unstreitig i s t , 1 5 8 betrifft alle Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs: 159 Eine (indirekte) Beeinträchtigung kann auch vorliegen bei 151

Siehe Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 83, m.w.N. Vgl. statt aller Bethge, VVDStRL 57, 10 (38), m.w.N. 153 Vgl. Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 34 ff. 154 Vgl. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 43 ff.; zustimmend WeberDürler, WDStRL 57, 59 (76); Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 40. 155 Albers, DVB1. 1996, 233 (234). 156 Unter „Beeinträchtigung" wird hier im Anschluß an die Terminologie bei Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 79 ff., der Eingriff im weiteren Sinne, d.h. die Gesamtheit der neben dem klassischen Eingriff zusätzlich abzuwehrenden Einwirkungen, verstanden. 157 Vgl. Albers, DVB1. 1996, 233 (234), mit weiteren Argumenten. 158 So ausdrücklich Sachs, JuS 1995, 303; ähnlich Albers, DVB1. 1996, 233 (234); siehe des weiteren Papier, VerwArch 84 (1993), 417 (422); W. Roth, Faktische Eingriffe, S. 33; Bethge, VVDStRL 57, 10 (39); jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 152

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

167

einer vom handelnden Staat gar nicht beabsichtigten oder nicht vorhergesehenen Grundrechtsberührung. Eine Beeinträchtigung muß weiter nicht unmittelbare Folge eines staatlichen Handelns sein, sondern kann auch erst aufgrund weiterer zwischenzeitlicher Entwicklungen eintreten. Ferner muß eine Beeinträchtigung nicht notwendigerweise durch Rechtsakt erfolgen, sondern kann ebenso durch faktisches Verhalten gegeben sein. Schließlich muß sie auch nicht einseitig-hoheitlich erfolgen. Demgemäß wird der erweiterte Eingriffsbegriff heute nurmehr näherungsweise umschrieben, ohne daß eine paßgenaue Definition möglich erscheint. 160 Gängige Formulierungen lauten etwa, eine Beeinträchtigung sei jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten verwehrt, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. 1 6 1 Teilweise wird dies dahin aufgeschlüsselt, der Eingriff (im weiteren Sinne) erfasse die Verhinderung oder Behinderung geschützter Handlungen, die Beeinträchtigung geschützter Eigenschaften oder Situationen und die Beseitigung geschützter rechtlicher Positionen 162 durch den Staat, ohne daß allerdings damit viel Klarheit für den Einzelfall gewonnen wäre. 1 6 3 a) Zur Terminologie: „Indirekte" Beeinträchtigungen „Indirekt" wird im folgenden als ein Oberbegriff benutzt, der „mittelbar" und „faktisch" zusammenfaßt. 164 Dabei werden als „mittelbar" diejenigen Fälle bezeichnet, in denen die Grundrechtsausübung nicht unmittelbar durch 159 Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 240, mit Beispielen derartiger indirekter Eingriffe in Rz. 241; ausführlich Sachs, in Stem, StaatsR ΙΠ/2, S. 128 ff.; Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 175 ff. 160 Di Fabio, JuS 1997, 1 (4), formuliert plastisch, die Handhabung des Eingriffsbegriffs werde „quecksilbrig". 161 Vgl. Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 207; zustimmend Murswiek, DVB1. 1997, 1021 (1025); unter Einbeziehung auch der Fälle „wesentlicher Erschwernis der Grundrechtsausübung" ebenso Papier, VerwArch 84 (1993), 417 (422 f.); Bethge, WDStRL 57, 10 (40); kritisch Merten, Redebeitrag in WDStRL 57, 112 (113), da diese Formulierung nicht auf alle Grundrechte, so z.B. die Schutzgrundrechte, passe. 162 Alexy, Grundrechte, S. 274 i.V.m. S. 174 ff. 163 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, bezeichnen die Definition des mittelbaren Eingriffs als „vollkommen unklar". 164 Der Begriff „indirekt" wird, soweit erkennbar, in diesem Zusammenhang bislang eher selten und dann auch nicht einheitlich verwendet, siehe etwa Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 88 f. und S. 159; Kirchhof, Verwalten, S. 10 in dortiger FN 35. Der Begriff rechtfertigt sich aus der Überlegung, daß in seinen Konstellationen kein direkter Eingriff im Sinne des klassischen Eingriffsbegriffs vorliegt. Zudem erscheint er einfacher als die Wortverbindung „mittelbar-faktisch", wie sie z.B. Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 ff., verwendet.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

das staatliche Handeln betroffen ist, sondern erst aufgrund einer durch das staatliche Handeln in Gang gesetzten Kausalkette mit weiteren Faktoren. Hierfür ist es unerheblich, ob diese weiteren Faktoren rein tatsächlicher Art sind, wie z.B. naturwissenschaftliche Abläufe, oder ob sie auf dem Willensentschluß von Dritten beruhen, der durch den staatlichen „Anstoß" gerade erst hervorgerufen wurde. „Faktisch" werden demgegenüber die Fälle genannt, in denen staatliches Handeln zwar als solches, d.h. unmittelbar, ohne das Dazwischentreten weiterer Umstände, einen Grundrechtsbereich betrifft, aber diese Wirkung nicht final, nicht zielgerichtet oder nicht hoheitlich durch Rechtsakt eintritt. 1 6 5 b) Die Folgeprobleme der Erweiterung des Eingriffsbegriffs Als Folge dieser Erweiterung des Eingriffsbegriffs allem zwei Probleme.

ergeben sich vor

( 1) Die sogenannten Drittbetroffenen Zum einen besteht das Problem der sogenannten Drittbetroffenen, d.h. derjenigen Personen, die von den Nebenfolgen eines an einen ganz anderen Adressaten gerichteten Staatshandelns betroffen sind. 1 6 6 In diesen Fällen wirkt das staatliche Handeln nicht nur gegenüber seinem Adressaten, sondern hat auch Auswirkungen auf an sich Unbeteiligte, bei denen Art und Umfang der Beeinträchtigung manchmal im einzelnen gar nicht vorherzusehen sein mögen. Allerdings braucht dieser Punkt hier nicht vertieft zu werden. Denn bei dem unten zu untersuchenden Wahlrecht stellt sich diese Problematik nicht. 165 Festzustellen ist freilich, daß die Terminologie auf diesem Gebiet nicht einheitlich ist (siehe dazu die Diskussion zwischen Schwabe, DVB1. 1988, 1055 [1056 f.], und Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 1057 [1058]). Teilweise wird zwischen faktischen und mittelbaren Eingriffen nicht differenziert (siehe z.B. Albers, DVB1. 1996, 233, die alle nicht vom klassischen Eingriffsbegriff erfaßten Konstellationen als faktische Beeinträchtigungen bezeichnet); teilweise werden beide Begriffe anders verwendet (so etwa Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 [3781, die „faktisch" als Oberbegriff und „mittelbar" für Beeinträchtigungen des grundrechtlichen „Umfelds" benutzen; kritisch dazu Schwabe, DVB1. 1988, 1055 [1056 f.]); siehe auch die umfangreichen Nachweise zur Terminologie bei Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 144, dortige FN 308 f. Gerade für die vorliegende Fragestellung wird sich jedoch die vorgenommene Differenzierung als sinnvoll erweisen, da sie eine verhältnismäßig trennscharfe Betrachtung ermöglichen wird. Auch wenn nicht verkannt wird, daß beide Fallgruppen im Einzelfall nah beieinanderliegen können und die Differenzierung logisch auch nicht zwingend erforderlich ist, soll deshalb an dieser Unterscheidung im folgenden festgehalten werden. Wie hier werden die Begriffe verwendet von Papier, VerwArch 84 (1993), 417 (422). 166 Dazu Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 242 f.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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Bei einer parlamentarischen Kompetenzverlagerung gibt es kein an irgendeinen Grundrechtsträger als Adressaten gerichtetes Handeln. Mithin sind die eventuell betroffenen Wahlberechtigten jedenfalls nicht „drittbetroffen" im Sinne dieses Problembereichs. (2) Die Abgrenzung der Beeinträchtigung Zum anderen - und vor allem - stellt sich die Frage, wann die Berührung eines grundrechtlichen Schutzbereichs dem Staat zuzurechnen ist und dies Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche auslöst. Denn ausschließlich die als „Beeinträchtigung" zu qualifizierenden Berührungen des Schutzbereichs stellen eine potentielle Grundrechtsverletzung dar und bedürfen deshalb einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Sonstige Einwirkungen sind dem Staat entweder nicht zurechenbar oder liegen unterhalb dieser Schwelle und sind vom Grundrechtsträger hinzunehmen. 167 Diese Abgrenzung konnte mit den Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs recht sicher vorgenommen werden. Seit dessen Erweiterung bestehen hingegen insofern erhebliche Schwierigkeiten. Denn einerseits soll das betroffene Grundrecht gerade weitergehend als bislang gegen staatliches Handeln geschützt werden. Andererseits droht die Gefahr, daß das Vorliegen einer Beeinträchtigung aufgrund deren begrifflicher Unschärfe nicht sicher festzustellen ist. Daraus könnte ein uferloser Eingriffsbegriff erwachsen, der jegliche Grundrechtsberührung verbietet und so jedes Staatshandeln unmöglich macht. 1 6 8 Daraus könnte aber auch eine un vorhersehbare Kasuistik erwachsen, in der das Vorliegen einer Beeinträchtigung im Einzelfall geradezu beliebig angenommen oder abgelehnt werden könnte. Dies wäre sowohl dem Grundrechtsschutz als auch der Rechtssicherheit abträglich. 169 Schließlich könnte, quasi als Gegenreaktion, das Kriterium der Indirektheit zu restriktiv interpretiert und so das Ziel eines erweiterten Grundrechtsschutzes unterlaufen werden. Vor diesem Hintergrund haben Rechtsprechung und Literatur zur Frage nach der Abgrenzung verschiedene Lösungswege beschritten. (a) Lösungsansätze in der Rechtsprechung Die Rechtsprechung hat bislang keine umfassende Abgrenzungstheorie entwickelt, sondern arbeitet mit verschiedenen fallgruppenbezogenen Umschreibungen, denen gemeinsam ist, daß sie einen recht hohen Grad an Ein167 168 169

Isensee, in HdBStR V, § 111, Rz. 66. Vgl. Weber-Dürler, VVDStRL 57, 59 (76). Vgl. Bethge, VVDStRL 57, 10 (40 f.).

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Wirkungsintensität voraussetzen, um eine relevante Beeinträchtigung durch einen mittelbaren oder faktischen Eingriff zu bejahen. So verlangen sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht für indirekte Beeinträchtigungen in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG in ständiger Rechtsprechung, daß ein enger Zusammenhang mit der Berufsausübung besteht und eine „berufsregelnde Tendenz" erkennbar i s t . 1 7 0 Indirekte Beeinträchtigungen der Wettbewerbsfreiheit, welche die Rechtsprechung überwiegend aus Art. 2 Abs. 1 GG herleitet, 171 sind als Eingriffe im weiteren Sinne zu qualifizieren, wenn sie einen „Auszehrungs- und Verdrängungswettbewerb" verursachen. 172 Bei der Religionsfreiheit des Art. 4 GG stellen faktische Handlungen, insbesondere staatliche Warnungen vor Sekten, dann eine relevante Beeinträchtigung dar, wenn es sich um beabsichtigte „schwerwiegende Folgen" handelt. 173 Schließlich finden sich Entscheidungen zur Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG. Dabei gelten allerdings Besonderheiten für die indirekten Beeinträchtigungen, da zum einen eine deutliche Abgrenzung zur gesondert geregelten Enteignung als ziel- und zweckgerichtetem, unmittelbarem Eingriff in die Eigentumsposition erforderlich ist. Zum anderen hat die Ausformungsbedürftigkeit des Instituts Eigentum insbesondere i m Bereich des Baurechts zu zahlreichen einfachgesetzlichen Gewährleistungen geführt, die mit ihrem Anwendungsvorrang den Rückgriff auf die „große Münze" des Art. 14 GG meist ausschließen. Jedoch wird hier eine indirekte Beeinträchtigung in das Eigentumsgrundrecht bei Vorliegen einer „schweren und unerträglichen" Belastung angenommen. 174

170 Siehe etwa BVerfG, Beschluß vom 30.10.1961, BVerfGE 13, 181 (186); jüngst BVerfG Urteil vom 7.5.1998, BVerfGE 98, 106 (117); BVerwG, Urteil vom 18.4.1985, BVerwGE 71, 183 (191). 171 BVerwG, Urteil vom 19.12.1963, BVerwGE 17, 306 (309); BVerwG, Urteil vom 22.5.1980, BVerwGE 60, 154 (159); a.A. z.T. die Literatur, welche die Wettbewerbsfreiheit als von Art. 12 GG gewährleistet ansieht, so z.B. Erichsen, in HdBStR VI, § 152, Rz. 61 f., unter Verweis auf BVerfG, Beschluß vom 8.2.1972, BVerfGE 32, 311 (317); Papier, VerwArch 84 (1993), 417 (419 und 439); Schulte, DVB1. 1988, 512 (515); alle m.w.N. auch aus der Rspr. 172 BVerwG, Beschluß vom 1.3.1978, NJW 1978, 1539 (1540); ähnlich OVG Münster, Urteil vom 22.9.1982, NVwZ 1984, 522 (524 f.). Einen „unerträglichen Eingriff 4 verlangt demgegenüber noch BVerwG, Urteil vom 30.8.1968, BVerwGE 30, 191 (198). 173 BVerwG, Urteil vom 23.5.1989, BVerwGE 82, 76 (79). 174 BVerwG, Urteil vom 13.6.1969, BVerwGE 32, 173 (178 f.); BVerwG, Urteil vom 26.3. 1976, BVerwGE 50, 282 (286 ff.); BVerwG, Urteil vom 14.4.1978,

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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Für den Bereich des Staatshaftungsrechts hat der Bundesgerichtshof ebenfalls den Eingriffsbegriff ausgeweitet, indem er auf das Kriterium der Finalität verzichtet hat und nunmehr ausreichen läßt, daß eine Maßnahme „»unmittelbar 4 [...] Auswirkungen auf das Eigentum im Sinne des Enteignungsrechts" hat. 1 7 5 Da die Unmittelbarkeit dann „als einzig wirksame Haftungsbremse in dem völlig aufgeweichten Tatbestand des enteignungsgleichen Eingriffs erschien", interpretierte das Gericht dieses Kriterium zunächst sehr restriktiv. 1 7 6 Später wurden hierunter die verschiedensten Zurechnungskriterien und -erwägungen zusammengefaßt. 177 (b) Lösungsansätze im Schrifttum Im Schrifttum gibt es unterschiedliche Ansätze, um das Vorliegen einer Beeinträchtigung von der Existenz einer bloßen Belästigung abzugrenzen. 178 So wird - sehr weitreichend - vertreten, alle einschränkenden Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs aufzugeben und jedes Betroffensein in eigenen Rechten ausreichen zu lassen. 179 Demgegenüber wollen andere lediglich das Kriterium der Finalität des Eingriffs ausweiten zu dem der Vorhersehbarkeit; unvorhersehbare Eingriffe seien dem Hoheitsträger unmöglich zuzurechnen. 180 Nach anderen ist je nach Fallgruppe zu differenzieren. 181 Bleckmann wiederum plädiert dafür, das Kriterium der Unmittelbarkeit beizubehalten und jedenfalls ganz entfernte Kausalitäten vom Eingriffsbegriff auszuschließen. 182 Andere wollen auf die „soziale Adäquanz" abstellen und nur inadäquates Staatshandeln als Eingriff bewerten. 183 Ramsauer stellt dagegen auf den Schutzzweck der betroffenen Grundrechtsnorm ab und bestimmt den Eingriff von einem so entwickelten „funktionalen Schutzbereich" her. 1 8 4 Wieder andere wollen den Eingriffsbegriff schutzbereichsbezogen bestimDVB1. 1978, 614 (617); siehe auch BVerwG, Urteil vom 29.7.1977, BVerwGE 54, 211 (222). 175 BGH, Urteil vom 15.3.1962, BGHZ 37, 44 (47); BGH, Urteil vom 14.10.1963, NJW 1964, 104; jeweils m.w.N. 176 Ossenbühl, StaatshaftungsR, S. 249. 177 Näher Ossenbühl a.a.O., S. 251. 178 Ein umfangreicher Überblick über die bisherige Diskussion findet sich bei Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 149 ff. 179 Bernhardt, JZ 1963, 302 (306), für die Anfechtung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts durch den belasteten Dritten. 180 Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 23. 181 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 176 ff. 182 Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 49. 183 Wagner, NJW 1966, 569 (571), unter Verweis auf die straf- und deliktsrechtliche Rechtsfigur; weitere Nachweise dieser Auffassung bei Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 250 in dortiger FN 40.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

men: Je sensibler das jeweils betroffene Schutzgut sei, um so geringer seien die Anforderungen an das Vorliegen eines Eingriffs anzusetzen. 185 (c) Übereinstimmende Ergebnisse trotz dogmatischer Unsicherheiten Zu konstatieren ist daher, daß die Frage, wo generell die Grenze zwischen indirekten Beeinträchtigungen und bloßen Belästigungen zu ziehen ist, dogmatisch bislang nicht befriedigend beantwortet i s t . 1 8 6 Auf der anderen Seite darf freilich nicht übersehen werden, daß die verschiedenen Ansätze hauptsächlich in Fällen mit geringer Beeinträchtigungsintensität zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. „Weite" Ansätze mögen hier eine Beeinträchtigung (schon) bejahen, während „engere" Auffassungen deren Vorliegen (noch) verneinen. Aber jedenfalls in den „deutlichen Fällen", in denen ein grundrechtlicher Gewährleistungsbereich massiv betroffen ist, besteht zumeist ein hohes Maß an Übereinstimmung dahin, daß die Schrankensystematik des betreffenden Grundrechts ausgelöst werden und somit im Ergebnis das Vorliegen einer Beeinträchtigung angenommen werden muß. 1 8 7 Dementsprechend sind auch die Fälle, in denen die Rechtsprechung, gestützt auf die von ihr verlangte hohe Beeinträchtigungsintensität, einen Eingriff im weiteren Sinne annahm, im Schrifttum ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Damit ist trotz möglicher dogmatischer Unsicherheiten im Einzelfall davon auszugehen, daß intensive indirekte Beeinträchtigungen eines Grundrechts im Ergebnis von der ganz überwiegenden Ansicht zu Recht als Eingriff im weiteren Sinne gewertet werden.

Π. Die unterschiedlichen Grundrechtsstatus Bevor die Frage beantwortet werden kann, ob sich die soeben dargestellte Eingriffsdogmatik auch von dem Bereich der Abwehrrechte des negativen Status auf das Wahlrecht als eines der Rechte des aktiven Status übertragen läßt, ist zunächst zu klären, was unter den unterschiedlichen Status zu verstehen ist, worin sie sich unterscheiden und wie sie zusammenhängen. 184

Ramsauer, Faktische Beeinträchtigungen, S. 52 ff.; siehe auch Ramsauer; VerwArch 72 (1981), 89 (99 ff.); zustimmend z.B. Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rz. 447. 185 So Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 243 ff. 186 Vgl. Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 128. 187 So im Ergebnis z.B. Krebs, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 19, Rz. 60; ähnlich Wendt, in Sachs, GG, Art. 14, Rz. 53; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1, Rz. 27, sowie Art. 14, Rz. 28, m.w.N.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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1. Die Statuslehre im heutigen Verständnis Noch zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs entwickelte G. Jellinek seine Statuslehre, mit deren Hilfe er verschiedene Aspekte grundrechtlicher Gewährleistungen unterscheiden konnte. 1 8 8 Danach sind vier Status zu unterscheiden: Der passive Status, 189 der negative Status, 190 der positive Status 191 und der aktive Status. 192 Den Begriff des Status umschreibt Jellinek als eine irgendwie geartete Relation zwischen Bürger und Staat; eine inhaltliche Definition könne es nicht geben, weil der Status „ganz unabhängig von einzelnen aus ihm entspringenden Rechten und Pflichten i s t " . 1 9 3 Dabei ist der Mensch im passiven Status dem Staat unterworfen, Subjekt individueller Pflichten und insoweit in seiner Selbstbestimmung ausgeschlossen. 194 I m negativen Status ist er demgegenüber in seiner individuellen Freiheitssphäre beschrieben; er ist Träger von Freiheitsrechten, in die der Staat nicht (ohne weiteres) eingreifen darf. 1 9 5 I m positiven Status werden dem Einzelnen positive, das heißt auf Leistungen gerichtete Ansprüche gegen den Staat eingeräumt. 196 I m aktiven Status schließlich ist der Einzelne berechtigt, politische Rechte auszuüben: „Indem der Staat dem Individuum die Fähigkeit zuerkennt, für den Staat tätig zu werden, versetzt er es in einen Zustand gesteigerter qualifizierter, aktiver Zivität." 197 Nach wie vor sind Jellineks Differenzierungen grundlegend für das herrschende Grundrechtsverständnis in Deutschland; 198 soweit andere Begrifflichkeiten verwendet werden, bauen sie oft zumindest inhaltlich auf den dort getroffenen Unterscheidungen auf. 1 9 9 Zwar fehlt es nicht an Versuchen, die statusbezogene Einteilung zu überwinden. 200 Diese haben sich jedoch 188

Jellinek, System, S. 86 ff. Auch bezeichnet als status subiectionis, Jellinek, a.a.O., S. 86. 190 Oder status libertatis, Jellinek, a.a.O., S. 94 ff. 191 Oder status civitatis, Jellinek, a.a.O., S. 114 ff. 192 Oder Status der aktiven Civität, Jellinek, a.a.O., S. 136 ff. 193 Jellinek, a.a.O., S. 118. 194 Vgl. Jellinek, a.a.O., S. 86. 195 Vgl. Jellinek, a.a.O., S. 87. 196 Vgl. Jellinek, a.a.O. 197 Jellinek, a.a.O. 198 In diesem Sinne auch Alexy, Grundrechte, S. 229; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 3, Rz. 147, m.w.N. 199 Vgl. etwa den Versuch von Murswiek, in HdBStR V, § 112, Rz. 12, den von ihm verwendeten Begriff der Teilhaberechte in die Statuslehre einzupassen. 200 Siehe etwa Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 222 ff.; Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1134 ff.). 189

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

bislang nicht durchsetzen können; 2 0 1 auch das Bundesverfassungsgericht legt seiner Rechtsprechung nach wie vor die Statuslehre zugrunde. 202 2. Die Menschenrechte des negativen und des positiven Status Eine der eben angesprochenen, weitgehend parallel zur Statuslehre laufenden Differenzierungen ist die Unterscheidung zwischen Menschenrechten („droits de l'homme") und Bürgerrechten („droits du citoyen"), 2 0 3 die für die hiesige Fragestellung fruchtbar gemacht werden könnte. Dabei faßt der Begriff der Menschenrechte die Bereiche des negativen und positiven Status zusammen. Gemeint sind hiermit die Rechte, die dem Einzelnen als Mensch gegenüber dem Staat zustehen; erfaßt sind alle Ansprüche des Einzelnen gegen den Staat, entweder auf Unterlassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen oder auf Gewährung positiver staatlicher Leistungen. Demgegenüber umfassen die Bürgerrechte die Rechte im aktiven Status im Sinne Jellineks\ sie stehen dem Einzelnen nicht kraft seines Menschseins zu, sondern aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Staat, mithin wegen seiner Staatsbürgereigenschaft. Angeknüpft wird bei dieser Unterscheidung also an eine andere Eigenschaft des Einzelnen. Das Grundgesetz unterscheidet im Bereich der Menschenrechte, ohne daß dies für die vorliegende Fragestellung weiter relevant und damit zu vertiefen wäre, zwischen sogenannten Jedermannsrechten, die jedem Menschen, unabhängig von seiner Nationalität, zustehen, einerseits, und Deutschenrechten andererseits, die aus bestimmten Gründen nur den Deutschen gewährt werden. Zu den ersteren gehören etwa die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 GG genannten Grundrechte, auf die sich „jeder" berufen kann. Beispiele für die letztgenannte Gruppe sind die Grundrechte aus Art. 8, 9 oder 12 GG, die für „alle Deutschen" gelten. Auch wenn insoweit an die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 116 GG angeknüpft wird, sind diese „Deutschenrechte" nicht mit den Bürgerrechten zu verwechseln, da sie gerade einen außerhalb des Staats liegenden Bereich erfassen und nicht etwa die Teilhabe am Staat oder das Tätigwerden für den Staat regeln. 2 0 4 Es handelt sich also um Menschenrechte, die nur für einen Teil der Menschen gelten. 2 0 5 201 202

Vgl. Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 57. Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BVerfG, Urteil vom 31.10.1990, BVerfGE 83, 60

(71).

203

Näher dazu Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (565), m.w.N.; ähnlich auch Sachs, in Stem, StaatsR m/1, S. 399. 204 Mißverständlich daher z.B. die Terminologie bei Hesse, VerfR, Rz. 284. 205 Für Ausländer sind nach h.M. dabei im wesentlichen die gleichen Freiheiten aus der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit abzulei-

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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a) Die Menschenrechte des negativen Status Die auf Abwehr staatlichen Eingreifens, auf „Freiheit vom Staat" 2 0 6 gerichteten Menschenrechte bilden den Archetyp der im Grundgesetz ausdrücklich genannten Grundrechte. Die meisten Grundrechte sind als Abwehrrechte formuliert, weil die Gewährung bestimmter individueller Freiheitsbereiche gegenüber dem Staat geschichtlich als die wichtigste Grundrechtsform angesehen wurde. 2 0 7 Unter dem Aspekt der Abwehr kann verlangt werden, Eingriffe, wenn sie geschehen sind, zu beseitigen, und wenn sie bevorstehen, zu unterlassen. 208 Für diese Gruppe der Grundrechte wurde zuerst die Eingriffs- und Schrankendogmatik entwickelt; sie ist damit wohl von der Rechtswissenschaft am weitesten dogmatisch durchstrukturiert. b) Die Menschenrechte des positiven Status Demgegenüber sind viele der „Anspruchsrechte" im positiven Status erst unter der Geltung des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips 209 entwickelt worden. Sie gehen von der Erkenntnis aus, daß der Einzelne seine Freiheit nicht ohne den Staat haben kann, sondern auf staatliche Vorkehrungen angewiesen ist, um seine freie Existenz zu schaffen und zu erhalten. 210 Innerhalb dieser Gruppe wird häufig danach differenziert, ob der Anspruch des Einzelnen sich auf Teilhabe an einer bereits bestehenden Gewährleistung richtet, oder ob mit ihnen die Schaffung bislang nicht vorhandener staatlicher Vorkehrungen verlangt werden kann. In ersterem Fall spricht man von „derivativen" oder abgeleiteten Rechten, 211 in letzterem Fall von „originären" oder ursprünglichen Rechten. Jellinek sah den Anspruch auf Rechtsschutz als das wichtigste Recht im positiven Status a n . 2 1 2 Dieses ist mittlerweile im Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 und in den Justizgrundrechten der Art. 101 ff. verankert. Darüber hinaus wird als Beispiel eines originären ten, so z.B. BVerfG, Beschluß vom 10.5.1988, BVerfGE 78, 179 (196 f.); Hesse, VerfR, Rz. 284. 206 Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 58. 207 Vgl. Badura, StaatsR, C, Rz. 3. 208 Lauhinger, VerwArch 80 (1989), 261 (299). 209 Dazu bereits oben 2. Kapitel, C. I. 210 Vgl. Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 60. 211 Der für diese Fallgruppe gelegentlich auch verwendete Begriff der „Teilhaberechte" (siehe etwa Pieroth/Schlink, a. a. Ο.) ist leicht mit dem Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation im Bereich des aktiven Status (dazu für das Wahlrecht z.B. Badura, StaatsR, C, Rz. 3) zu verwechseln und soll deshalb in dieser Arbeit vermieden werden. 212 Jellinek, System, S. 124.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Anspruchsrechts das Recht des Einzelnen auf Gewährung des Existenzminimums genannt, das von der herrschenden Meinung aus der Menschenwürdegewährleistung des Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet w i r d . 2 1 3 Beispiele derivativer Rechte sind die vor allem im Bereich der staatlichen Ausbildung anerkannten Verbürgungen auf gleiche Berücksichtigung im Rahmen der vorhandenen Kapazitäten. 214 Darüber hinaus werden aus den Grundrechten bzw. der von ihnen konstituierten objektiven Weiteordnung 215 auch Ansprüche auf staatlichen Schutz vor Rechtsgutsbeeinträchtigungen durch private Dritte hergeleitet. 216 c) Gemeinsamkeiten der Menschenrechte Damit ist den Menschenrechten vor allem gemein, daß sie dazu dienen, dem Einzelnen einen Bereich selbstbestimmten und staatsfreien Lebens zu gewährleisten, sei es durch schlichte (negative) Abwehr staatlicher Eingriffe, sei es durch positive Ansprüche an den Staat auf Gewährung der für die Freiheitsausübung erforderlichen Möglichkeiten. 3. Die Bürgerrechte

des status activus

Demgegenüber zielen, wie bereits angedeutet, die Bürgerrechte in eine andere Richtung. Sie sollen nicht die Sphäre des Einzelnen von der des Staats trennen, sondern im Gegenteil dem Einzelnen eine Betätigung seiner „Freiheit im und für den Staat" 2 1 7 ermöglichen. Sie dienen damit der Teilnahme des Einzelnen am Staat, seiner Möglichkeit, diesen mitzugestalten, und seiner Teilhabe an der Ausübung staatlicher Gewalt. Bei der Wahrnehmung dieser staatsbürgerlichen Rechte tritt die Freiheit des Einzelnen in die Dienste des Staats, und zugleich wird der Staat der Raum der individuellen Freiheitsbetätigung. 218 Im Grundgesetz sind neben dem als Recht des Aktivstatus bereits bezeichneten Wahlrecht 2 1 9 als Bürgerrechte insbesondere der Zugang zum öffent213

Grundlegend BVerwG, Urteil vom 24.6.1954, BVerwGE 1, 159 (161 f.); aus der Literatur etwa Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rz. 30, m.w.N. 214 Dazu BVerfG, Urteil vom 18.7.1972, BVerfGE 33, 303 (331 f.), für Hochschulstudienplätze; BVerfG, Beschluß vom 22.5.1975, BVerfGE 39, 334 (371 ff.), für Plätze im juristischen Vorbereitungsdienst. 215 Grundlegend BVerfG, Urteil vom 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 (205). 216 Zu diesen sog. Schutzrechten siehe beispielsweise Isensee, in HdBStR V, § 111, Rz. 77 ff. 217 So die Formulierung von Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 65. 218 Vgl. Pieroth/Schlink, a.a.O., Rz. 67. 219 Siehe oben 3. Teil, 1. Kapitel.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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liehen Dienst, Art. 33 Abs. 1 bis 3, sowie die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung, Art. 4 Abs. 3 und Art. 12a Abs. 2, ausdrücklich genannt. 220 Darüber hinaus werden zu diesen Aktivrechten teilweise noch weitere Rechte gezählt, 221 die hier aber nicht weiter verfolgt werden müssen.

ΠΙ. Exkurs: Eingriffsdogmatik und positiver Status? 1. Vorbemerkung Bislang ist, wie bereits angedeutet, der Begriff des Eingriffs vor allem auf dem Gebiet der Abwehrrechte verwendet worden. 2 2 2 Gleiches gilt entsprechend für alle damit zusammenhängenden Fragen, insbesondere auch die Diskussion um die Erweiterung dieses Eingriffsbegriffs, mithin für die gesamte Eingriffsdogmatik. Immerhin aber gibt es Vorschläge, die Eingriffsdogmatik auch auf andere Bereiche zu übertragen. Zum einen zielen derartige Tendenzen auf die abwehrrechtliche Funktion der Gleichheitsrechte. 223 Dieser Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt werden, da er für die vorliegende Fragestellung nach dem Wahlrecht nicht weiterführt. Zum anderen gibt es Versuche, die gesamte Eingriffsdogmatik nicht auf die Grundrechte im negativen Status zu beschränken, sondern auf die anderen Status zu erweitern. Der Eingriffsbegriff, so ist formuliert worden, müsse nicht „an seiner überkommenen (und oft kritisierten) Fixierung auf die Abwehrfunktion der Grundrechte" 224 festgehalten werden. Auch andere Grundrechtsfunktionen ließen sich „mit Hilfe einer reformierten dogmatischen Struktur in konkrete Fallösungen umsetzen". 225 Explizite Erörterungen dieser Fragestellung sind freilich eher selten. Zumeist wird die Beschränkung der Eingriffssystematik auf die Abwehrrechte bloß behauptet 226 oder aber, ganz im Gegenteil, deren Ausdehnung auch auf die anderen Status eher beiläufig bejaht. 2 2 7 220

Vgl. Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 66. Siehe den Überblick über die verschiedenen Deutungen bei Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 278 ff. 222 Siehe etwa Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 76 sowie S. 219; Bethge, VVDStRL 57, 10 ff.; für eine Beschränkung der Kategorie des Eingriffs auf den negativen Status Isensee, Redebeitrag in VVDStRL 57, 107 (109); ähnlich auch Burmeister, Redebeitrag in VVDStRL 57, 115 f. 223 Kirchhof, in HdBStR V, § 124, Rz. 274 ff., m.w.N.; Bethge, VVDStRL 57, 10 (13). 224 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (378). 225 Bleckmann/Eckhoff, a.a.O. 226 Siehe etwa Isensee, Redebeitrag in VVDStRL 57, 107 (109); ähnlich auch Burmeister, Redebeitrag in VVDStRL 57, 115 f. 221

12 Soppe

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

A m ehesten finden sich Diskussionsbeiträge noch zu der Frage einer Erstreckung der Eingriffsdogmatik auf den Bereich der Leistungsrechte des positiven Status. Die dazu entwickelten Konzeptionen sollen als parallel gelagert zur vorliegenden Frage im folgenden kurz vorgestellt werden, ohne daß es allerdings einer Entscheidung bedürfte, ob ihnen - und gegebenenfalls welchem von ihnen - zu folgen ist. 2. Das Konzept von Gertrude Lübbe-Wolff In ihrer Habilitationsschrift unternimmt es Gertrude Lübbe-Wolff, die für den Bereich der Rechte des negativen Status entwickelte Eingriffsdogmatik auch für einen Teil der Gewährleistungen des positiven Status fruchtbar zu machen. Dazu löst sie den Eingriffsbegriff, der ursprünglich nur auf Beeinträchtigungen natürlicher, vorrechtlicher Freiheiten gepaßt habe, von dieser überkommenen Beschränkung, indem sie ihn als „jede beeinträchtigende Ingerenz in den Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechts durch positives staatliches Handeln" auffaßt. 228 Soweit einfachgesetzliche Normen einen grundrechtlichen Verfassungsauftrag erfüllten oder zu dessen Erfüllung beitrügen, schafften sie eine konstituierte, nämlich auf staatlicher Normsetzung beruhende Rechtsposition des Einzelnen. 229 Auf diese Fälle der Rechte des positiven Status lasse sich die Eingriffsdogmatik des negativen Status übertragen. 230 Denn der Einzelne genieße in diesem Bereich - wie für verschiedene Fallgruppen von der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung auch schon anerkannt s e i 2 3 1 - „Normanwendungsschutz" 232 sowie „Normbestandsschutz". 233 Das bedeute, daß die Nicht- oder Falschanwendung dieser Normen bzw. deren Aufhebung oder restriktive Änderung nur zulässig seien, soweit verfassungsrechtlich der Eingriff in diesen Schutzbereich gerechtfertigt sei. 2 3 4 Hieraus folge kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch 227

So z.B. Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV, Rz. 284; BKSchenke, Art. 19 Abs. 4, Rz. 298; die auch für den Bereich des positiven Status beide von „Verletzungen" sprechen, ohne dies zu problematisieren; siehe auch Huber, Redebeitrag in WDStRL 57, 141 (142); Lange, Redebeitrag in WDStRL 57, 143 f.; Bethge, Redebeitrag in WDStRL 57, 154 (156). 228 Lübbe-Wolff, Grundrechte, S. 71, m.w.N. der früheren Vertreter dieser Definition. 229 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 75 ff. 230 Lübbe-Wolff a.a.O., S. 119, 122, zum Normanwendungsschutz; S. 145 f., zum Normbestandsschutz. 231 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 105 ff., zum Normanwendungsschutz unter Verweis u.a. auf den Mülheim-Kärlich-Beschluß des BVerfG (E 53, 30 [65 f.]); S. 125 ff., zum Normbestandsschutz unter Verweis auf Rechtsprechung und Literatur u. a. zum Vertrauensschutz und zu den institutionellen Garantien. 232 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 105 ff. 233 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 125 ff.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

179

auf Normsetzung; 235 jedoch könnten einige von der Praxis erfaßte Fallgruppen so besser dogmatisiert werden. M i t dieser Argumentation erstreckt Lübbe-Wolff die Eingriffsdogmatik der Grundrechte in den Bereich der Anspruchsrechte hinein. Zugleich wird damit deutlich, daß die Grenzen zwischen negativem und positivem Status fließend sind, je nachdem, wie der betreffende Grundrechtsbereich konstituierter Freiheit rechtlich verfaßt wird: Entweder man sieht in einer unterbleibenden staatlichen Leistung die Nichtgewährung einer Leistung, oder man erblickt darin wie Lübbe-Wolff einen Eingriff in das subjektive Recht auf fehlerfreie Anwendung der zugrundeliegenden Norm. Verwaltungsprozessual würde der erste Ansatz zu einer Verpflichtungsklage auf Leistungsgewährung führen; der zweite Ansatz ließe sich mit einer Anfechtungsklage gegen die fehlerhafte Entscheidung umsetzen. Allerdings ist Lübbe-Wolffs Konzeption nicht ohne Widerspruch geblieben. Insbesondere Schwabe meldet in seiner Besprechung ihrer Arbeit gravierende Bedenken an: Es sei fraglich, weshalb es sich beim Grundrechtsschutz gegen die Nicht- oder Falschanwendung einer Norm um Eingriffsabwehr handeln solle. Wende sich z.B. ein Antragsteller auf Sozialhilfe gegen die Nicht- oder Falschanwendung des Bundessozialhilfegesetzes, so verlange er „unzweifelhaft" eine Leistung. „In der Verbiegung dieses klaren Befundes zu einer Abwehr staatlichen positiven Tuns (in Form einer Rechtsverletzung)" vermag Schwabe „noch nicht einmal ansatzweise einen Sinn zu sehen". 236 Andere Rezensenten sind zurückhaltender in ihrer Kritik bzw. stimmen der Autorin z u , 2 3 7 ohne daß insoweit aber zu konstatieren wäre, daß Lübbe-Wolffs Konzept sich in der Folgezeit in der Diskussion eindeutig durchgesetzt hätte. 3. Das Konzept von M. Sachs Einen anderen Weg geht Sachs in den von ihm bearbeiteten Teilen von Sterns „Staatsrecht". Bei ihm findet sich zwar eingangs die Aussage, die nicht auf Abwehr gerichteten Grundrechtsberechtigungen seien anders als die Abwehrrechte strukturiert und böten insbesondere keinen Schutzgegen234

Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 150 ff. Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 147 f. 236 Schwabe, Der Staat 30 (1991), 283 f. 237 Zweifelnd etwa Pieroth, AöR 115 (1990), 517 ff.; in diesem Punkt zustimmend wohl Robbers, DÖV 1989, 687 f.; zwiespältig hingegen Sachs, NWVB1.1989, 350 ff., der einerseits meint, Lübbe-Wolff habe die „Aufgabe mit Bravour gemeistert", andererseits ihr in vielen Punkten nicht zustimmt; siehe auch seinen Vorwurf, den erweiterten Eingriffsbegriffen Lübbe-Wolffs hafte „der Mangel der Inhaltsleere" an (Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 156 f.). 235

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

stand, der vor Beeinträchtigungen durch die Staatsgewalt geschützt werden solle. Diese „Verschiedenheit der Wirkungsweise" spreche dagegen, „den für die Abwehrrechte klar definierten Begriff der Beeinträchtigung auf Grundrechtsberechtigungen anderer Struktur auszudehnen". 238 Jedoch wird aus seinen folgenden Ausführungen deutlich, daß es Sachs in erster Linie auf die Übertragbarkeit des von den Abwehrrechten bekannten Regel-Ausnahme-Schemas ankommt, das eine Prüfungsfolge „Schutzbereich-EingriffRechtfertigung" vorsieht, 239 und weniger darauf, ob auch ein Staatshandeln, das nur mittelbar oder faktisch auf die grundrechtliche Stellung des Einzelnen einwirkt, von diesem angegriffen werden kann. Auch wenn eine direkte Übertragung des Begriffs der Beeinträchtigung nicht möglich sei, könne nämlich unter Umständen doch „eine der Beeinträchtigung analoge Vorstufe potentieller Verletzungen" angenommen werden, „die die Grundlage für eine anschließende Legitimationsprüfung" biete. 2 4 0 Zudem gelangt Sachs zu dem Ergebnis, daß viele der üblicherweise dem positiven oder aktiven Status zugeordneten Funktionen konkret von einem abwehrrechtlichen Hilfsrecht erfaßt werden, bei dem eine Beeinträchtigung im Sinne der Eingriffsdogmatik dann entsprechend unproblematisch zu bejahen ist. Im einzelnen: a) Die Lehre vom „grundrechtlichen Berechtigungskomplex" Sachs sieht in einer einzigen grundrechtlichen Aussage des Verfassungstextes oft mehrere verschiedenartige Berechtigungen enthalten, da in einer einzelnen normativen Formulierung des Grundgesetzes oft eine Mehrheit von normativen Aussagen stecke, denen jeweils eine subjektive Berechtigung bestimmter Struktur entspreche. 241 In einem derartigen „Bündel von grundrechtlichen Positionen" oder auch „grundrechtlichen Berechtigungskomplex" 2 4 2 seien neben dem Hauptrecht auch Hilfs-, Neben- und Folgerechte enthalten. 243 Dabei seien Hilfsrechte, die hier vor allem interessieren, die neben der zentralen, im Verfassungstext geregelten Berechtigung bestehenden „Berechtigungen, die aufgrund teleologischer Gesichtspunkte zum Schutz und zur Realisierung der Hauptberechtigung der Grundrechtsbestimmung zusätzlich angenommen werden". 2 4 4 Bei den Abwehrrechten 238

Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 220. Vgl. Sachs, a.a.O., S. 221, „... Regel-Ausnahme-Schema, nach dem zunächst überschießend mehr gewährleistet wird, als im Ergebnis effektiven Schutz genießen soll." 240 Sachs, in Stem, a.a.O., S. 220. 241 Sachs, in Stem, StaatsR m/1, S. 587 f. 242 Sachs, a.a.O. 243 Sachs, a.a.O., S. 588. 244 Sachs, a.a.O. 239

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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seien „schützende Hilfsrechte" beispielsweise die Ansprüche auf Unterlassung und Beseitigung von Störungen oder auch, als schützende Sekundärrechte, Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche. Bei den staatsbürgerlichen Mitwirkungsrechten sowie bei den Leistungsrechten kämen ebenfalls abwehrrechtliche Ansprüche in Frage. 245 Des weiteren seien „Realisierungshilfsrechte" dazu da, die Entstehung oder Wirksamkeit der Hauptrechtsberechtigung zu gewährleisten. 246 Diese Erkenntnis wendet Sachs im folgenden bei der Analyse der Frage an, inwieweit die Rechtsfigur der Grundrechtsbeeinträchtigung auch auf andere als abwehrrechtliche Konstellationen anwendbar ist. b) Die Grundrechte im positiven Status Sachs spaltet bei seiner Analyse dann die Grundrechte des positiven Status weiter auf. Bei den dazu gehörenden derivativen Leistungsrechten unterscheidet er zwischen solchen, bei denen die Nutzung staatlicher Einrichtungen durch bloßes Tätigwerden des handelnden Bürgers möglich ist, einerseits, und solchen, die eine staatliche Zulassungsentscheidung voraussetzen, andererseits. 247 Jedenfalls in der erstgenannten Fallgruppe vermittele die Berechtigung zur Nutzung dem Einzelnen eine „abwehrrechtlich geschützte Rechtsposition". 248 Das bedeutet, daß demnach die Versagung derartiger Nutzungsmöglichkeiten ohne weiteres als staatlicher Eingriff zu deuten ist. Vergleichbares gilt nach Sachs für die „auf Schutz gerichteten Leistungsgrundrechte": Auch deren dogmatische Struktur entspreche, von bestimmten Unsicherheiten abgesehen, grundsätzlich denen der Abwehrrechte, so daß sie ähnlich behandelt werden könnten. 2 4 9 Für die übrigen „Leistungsgrundrechte im allgemeinen" gelte schließlich, daß „wenigstens die Rechtsverletzung ohne weiteres faßbar" s e i 2 5 0 eine „dogmatische Abschichtung" (im Sinne der sukzessiven Prüfung von „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung") sei hier freilich in der Regel nicht möglich, da diejenigen Rechtssätze, die als Rechtfertigungstatbestand in Betracht kämen, hier „regelmäßig schon in die Präzisierung der Leistungspflicht" einflös-

245 246 247 248 249 250 251

Sachs, Sachs, Sachs, Sachs, Sachs, Sachs, Sachs,

a.a.O., S. 588 f. a.a.O., S. 589 f. a.a.O., S. 697 ff. a.a.O., S. 702 f. in Stern, StaatsR III/2, S. 221 f. a.a.O., S. 220 f. a.a.O., S. 221.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Hiermit stellt Sachs aber, trotz seiner eingangs zitierten, eine Übertragung des Eingriffsbegriffs ablehnenden Aussage letztlich nicht in Frage, daß auch ein Staatshandeln, das lediglich indirekt auf die leistungsrechtliche Grundrechtsstellung des Einzelnen einwirkt, von diesem angegriffen werden kann. Denn zum einen sieht er ausdrücklich die Rechtsverletzung als „ohne weiteres faßbar", zum anderen ist auch nach seinem Ansatz der Umfang der zu prüfenden Normen identisch; lediglich bei der Frage des Prüfungsstandorts ergeben sich Unterschiede. 4. Ergebnis zum Exkurs Als Fazit ergibt sich, daß die Übertragbarkeit der Eingriffsdogmatik auf die Grundrechte i m positiven Status fraglich ist. Einzelnen Ansätzen stehen gegenteilige Stimmen gegenüber; eine überzeugende Antwort scheint bislang noch nicht gegeben.

IV. Eingriffsdogmatik und Wahlrecht An dieser Stelle könnte sich nun eine Untersuchung der Frage anschließen, ob die Lehre von den indirekten Grundrechtseingriffen auch auf die Bürgerrechte des aktiven Status übertragen werden kann, da eine umfassende Betrachtung dieser Problematik, soweit ersichtlich, bislang aussteht. Jedoch wäre eine derartige Analyse weder in dem thematischen Rahmen noch in dem begrenzten Umfang der vorliegenden Arbeit zu leisten. Angesichts der Unklarheit, was überhaupt unter dem aktiven Status zu verstehen i s t , 2 5 2 bedürfte diese Frage eigenständiger monographischer Behandlung. Deshalb sollen sich die folgenden Ausführungen auf die speziellere Frage beschränken, ob die Eingriffsdogmatik auch auf das Wahlrecht als eines der Bürgerrechte des aktiven Status übertragbar ist. 1. Die Position der Rechtsprechung zur Beeinträchtigung des Wahlrechts Als erstes ist die Rechtsprechung zu dieser Frage zu analysieren. a) „Eingriffe" in das Wahlrecht Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat verschiedentlich auch im Bereich des Wahlrechts ganz unbefangen von „Eingriffen" gesprochen. 252

Dazu Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 278 ff.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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So heißt es bereits im Tatbestand einer frühen Entscheidung, die Antragsteller sähen in der von ihnen angegriffenen Maßnahme „einen verfassungswidrigen Eingriff in ihr passives Wahlrecht", 2 5 3 ohne daß sich das Gericht im weiteren Verlauf der Entscheidung von dieser Terminologie distanzieren würde. Später spricht das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Fragen der Wahlkampfkostenerstattung von einem „Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit". 254 In einem Beschluß aus dem Jahre 1985 wird die Verwendung der eingriffsdogmatischen Terminologie noch deutlicher: Dort differenziert das Gericht danach, „auf welcher Stufe des Wahlverfahrens der Gesetzgeber mit welcher Intensität eingreift". 255 Zudem heißt es dort, das Gericht habe bereits früher bestimmte wahlrechtliche Vorgaben „als sachlich gerechtfertigt angesehen", 256 was deutlich auf das grundrechtliche Prüfungsschema von „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung" Bezug nimmt. Schließlich behält das Gericht auch in Entscheidungen aus jüngster Zeit seine Begrifflichkeit bei. So heißt es in einem Sondervotum zur Frage der Zulässigkeit von Überhangmandaten, diese würden „in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit bewertet". 257 In einem anderen Urteil vom gleichen Tage meint das Gericht zu den im dortigen Verfahren angegriffenen Grundmandatsklauseln, die Zulässigkeit von differenzierenden Regelungen richte sich danach, „mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen w i r d " . 2 5 8 Des weiteren findet sich auch dort der Begriff vom „Eingriff in die Wahlgleichheit". 259 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Terminologie bisweilen weniger strikt sein mag als das wissenschaftliche Schrifttum, so wird man in den dargestellten Fällen kaum mehr von gelegentlichen „begrifflichen Ausrutschern" sprechen können. Vielmehr zeigen die zitierten Entscheidungen, daß das Gericht ohne weiteres davon ausgeht, die Eingriffsdogmatik auch im Bereich des Wahlrechts anwenden zu können. Insbesondere die letztgenannten Zitate belegen dies deutlich, da zu dieser Zeit die

253

BVerfG, Beschluß vom 7.5.1957, BVerfGE 6, 376 (378). BVerfG, Beschluß vom 9.3.1976, BVerfGE 44, 399 (409). 255 BVerfG, Beschluß vom 22.10.1985, BVerfGE 71, 81 (96), Hervorhebung vom Verfasser. 256 BVerfG, a. a. O., Hervorhebung vom Verfasser. 257 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997, BVerfGE 95, 335 (380 und 382), Hervorhebung vom Verfasser. 258 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997, BVerfGE 95, 408 (418), Hervorhebung vom Verfasser. 259 BVerfG, a.a.O., (419). 254

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Übertragbarkeit des Eingriffsbegriffs bereits seit längerem diskutiert worden w a r 2 6 0 und somit dem Gericht diese Frage bekannt gewesen sein mußte. b) Insbesondere indirekte Beeinträchtigungen des Wahlrechts Des weiteren hat das Bundesverfassungsgericht der Sache nach sogar mehrfach bereits indirekte Beeinträchtigungen des Wahlrechts bejaht. (1) Mittelbare Beeinträchtigungen des Wahlrechts Zu dieser Frage finden sich vor allem Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht oder sonstige Gerichte mittelbare Beeinträchtigungen des Wahlrechts durch private Dritte angenommen haben. (a) Insbesondere die Geheimheit der Wahl So hat das Bundesverfassungsgericht vor allem in seinen Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl herausgearbeitet, daß sich der Grundsatz der Geheimheit der Wahl nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen andere Private richtet. In einem Wahlprüfungsverfahren aus dem Jahre 1965 rügte ein Wahlberechtigter, die Zulassung des Briefwahlverfahrens und der Hinzuziehung einer Vertrauensperson zur Stimmabgabe verstoße unter anderem gegen den Grundsatz der geheimen Wahl. Denn bei der Briefwahl sei der Wähler zwar zur unbeobachteten Kennzeichnung des Stimmzettels verpflichtet; dies könne aber nicht kontrolliert werden, so daß die Kenntnisnahme durch andere Personen drohe. Gleiches gelte für den Fall, daß eine Hilfsperson im Wahllokal den Stimmzettel für einen Wähler ausfülle, der dazu nicht in der Lage sei. Das Gericht erkannte die „besonderen Gefahren, die sich daraus ergeben", durchaus, 261 bejahte im konkreten Fall allerdings die Verfassungsmäßigkeit, da durch diese Möglichkeiten zur Stimmabgabe das Prinzip der Allgemeinheit der Wahl gefördert werde und eine konkrete Verletzung der Geheimheit nicht ersichtlich sei. 2 6 2 Diese Argumentation entspricht dem Schema der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs durch andere Positionen von Verfassungsrang; die erste Stufe dieses Prüfungsschemas, das Vorliegen einer Beeinträchtigung des Schutzbereichs, hat das Gericht hier in der möglichen Kenntniserlangung der

260 261 262

Siehe die oben III. geführten Nachweise. BVerfG, Beschluß vom 15.2.1967, BVerfGE 21, 200 (205). BVerfG, a.a.O. (206).

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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Wahlentscheidung durch andere Private gesehen. 263 Das entspricht der von den Abwehrrechten bekannten Figur des mittelbaren Eingriffs. (b) Insbesondere die Freiheit der Wahl Des weiteren ist in der Rechtsprechung im Grundsatz anerkannt, daß ein Eingriff in die Freiheit der Wahl auch dadurch gegeben sein kann, daß private Dritte einen Wahlberechtigten zu einer bestimmten Wahlentscheidung nötigen. Zum einen wurde in den eben zitierten Wahlanfechtungsverfahren, die sich gegen die Briefwahl sowie die Zulassung von Vertrauenspersonen richteten, auch eine Verletzung der Freiheit der Wahl gerügt, weil die Gefahr bestehe, daß der per Brief oder mit Hilfestellung Wählende unzulässigem Zwang bei der Stimmabgabe ausgesetzt werde. Denn unter welchen Umständen er seine Stimme abgebe, könne nicht kontrolliert werden. 2 6 4 Das Bundesverfassungsgericht ließ hier ebenfalls die auf eine mittelbare Wahlrechtsverletzung abzielende Argumentation als solche gelten, nahm jedoch auch hier eine Rechtfertigung wegen des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl bei gleichzeitig fehlendem Beweis einer konkreten Verletzung der Wahlfreiheit an. 2 6 5 Des weiteren finden sich verwaltungsgerichtliche Entscheidungen aus den frühen 1960er Jahren zu den sogenannten Hirtenbriefen der katholischen Bischöfe in Nordrhein-Westfalen. In einem Hirtenwort, das kurz vor einer damals anstehenden Kommunalwahl im Gottesdienst von der Kanzel verlesen worden war, hatten die Bischöfe dazu aufgerufen, Kandidaten zu wählen, die sich um die Verwirklichung „christlicher Ordnungen" bemühten. 2 6 6 Der Kläger sah darin eine unzulässige Einflußnahme auf die Freiheit der Wahl und, da ein gläubiger Katholik es beichten müsse, wenn er dem Hirtenwort nicht folge, auch eine Verletzung der Geheimheit der Wahl. Das OVG Münster räumte ein, daß kirchliches Verhalten die Wahlrechtsgrundsätze beeinträchtigen könne, hielt das angegriffene Hirtenwort aber aus einer Gesamtschau des Verhältnisses von Staat und Kirche für gerechtfert i g t . 2 6 7 Das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsinstanz gelangte zu dem 263

Diese Argumentation hat das BVerfG in einer späteren Entscheidung noch einmal bestätigt, BVerfG, Beschluß vom 24.11.1981, BVerfGE 59, 119 (124 ff.). 264 BVerfG, Beschluß vom 15.2.1967, BVerfGE 21, 200 (202); BVerfG, Beschluß vom 24.11.1981, BVerfGE 59, 119 (122). 265 BVerfG, Beschluß vom 15.2.1967, BVerfGE 21, 200 (205 ff.); BVerfG, Beschluß vom 24.11.1981, BVerfGE 59, 119 (124 ff.). 266 Zitiert nach dem auszugsweisen Abdruck bei OVG Münster, Urteil vom 14.2.1962, JZ 1962, 767 (770). 267 OVG Münster, a.a.O. (769 ff.).

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

gleichen Ergebnis, indem es sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV, den „Zusammenhang der allgemeinen Vorschriften des Grundgesetzes" sowie Art. 5 GG stützte. 268 In einem anderen Fall hatten verschiedene Unternehmer anläßlich der Bundestagswahl 1983 in massiver Form zur Wahl der CDU aufgerufen. So forderte unter anderem ein Unternehmer brieflich seine Mitarbeiter zu einer entsprechenden Stimmenabgabe auf, da er bei einer Fortsetzung der von ihm als verfehlt angesehenen Wirtschaftspolitik der SPD „keine Möglichkeit [sehe], die Beschäftigtenzahl zu halten". 2 6 9 Ein anderer Unternehmer schrieb Lehrstellenbewerbern, er müsse ihre Bewerbungen bis nach der Wahl zurückstellen, da er bei einem Wahlsieg der SPD mit einer existenzvernichtenden Wirtschaftspolitik zu rechnen habe und daher nicht ausbilden könne. 2 7 0 Nach der Wahl wurde das Ergebnis verschiedentlich mit der Begründung angefochten, die Freiheit der Wahl sei durch diese Aufrufe verletzt worden. Dies wies der Wahlprüfungsausschuß des Deutschen Bundestags mit der Begründung zurück, zwar könne auch von privater Seite eine unzulässige direkte oder indirekte Einflußnahme auf die Entschließungsfreiheit des Wählers ausgeübt werden; diese müsse aber ein gewisses Ausmaß erreichen, das hier nicht vorgelegen habe. 2 7 1 Mit ähnlicher Begründung sah das Bundesverfassungsgericht die daraufhin erhobene Wahlprüfungsbeschwerde als unbegründet an. Denn die für eine unzulässige Beeinträchtigung des Art. 38 GG erforderliche Intensität, die § 108 Abs. 1 StGB verfassungskonform näher umschreibe, sei nicht erreicht, da in den genannten Fällen das eingesetzte Mittel objektiv untauglich gewesen sei, die Wähler zu dem angesonnenen Verhalten zu nötigen. 2 7 2 Auch in den hier genannten Fällen wird also von der Rechtsprechung die Möglichkeit einer Verletzung des Wahlrechts durch nicht-staatliche Institutionen dem Grundsatz nach bejaht und lediglich im konkreten Einzelfall verneint. (2) Faktische Beeinträchtigungen des Wahlrechts Schließlich lassen sich in der Rechtsprechung auch Fälle nachweisen, in denen das Bundesverfassungsgericht faktische Beeinträchtigungen des Wahlrechts angenommen hat. 268

BVerwG, Urteil vom 17.1.1964, BVerwGE 18, 14 (15 ff.). Zitiert nach dem Abdruck in BVerfG, Beschluß vom 10.4.1984, BVerfGE 66, 369 (374). 270 Zitiert nach BVerfG, a.a.O. (375). 271 Zitiert nach BVerfG, a.a.O. (376). 272 BVerfG, a.a.O. (380 ff.). 269

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

187

So hatte in einem Normenkontrollverfahren das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit einer Reihe von steuerrechtlichen Regelungen im Zusammenhang mit der Parteienfinanzierung zu befinden. Dabei entschied das Gericht, bestimmte Vorschriften, die eine steuerliche Absetzbarkeit von Spenden unter anderem an politische Parteien zuließen, verstießen in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen das - auch im Vorfeld der politischen Willensbildung Geltung beanspruchende - wahlrechtliche Gleichheitsgebot. Denn die Spende an eine politische Partei stelle in der Regel ein Bekenntnis zu den Zielen dieser Partei dar, ähnlich der Stimmabgabe für die Partei bei einer Wahl. Der Abzug dieser Parteispende von der Steuerschuld sei wegen der progressiven Besteuerung aber vor allem für einen Spender mit hohem Einkommen lohnend. Wenn dieser dadurch einen - absolut und relativ - höheren Betrag an Steuern erspare als der Bezieher eines kleinen Einkommens, sei das eine steuerliche Ungleichbehandlung der Einflußnahme auf die politische Willensbildung, und es werde „die politische Meinung des ersteren sozusagen prämiiert". 2 7 3 Aus diesem Grunde erklärte das Gericht die angegriffenen Normen für teilweise nichtig. Diese Entscheidung ist im vorliegenden Kontext deshalb bemerkenswert, weil die teilweise verfassungswidrigen Regelungen nicht das Wahlrecht als solches unmittelbar betrafen, sondern eher dessen faktische Bezüge. Der Gesetzgeber hatte mit den angegriffenen Regelungen ja nicht den Wert der Meinungskundgabe an sich bewertet und auch nicht die Äußerung einer bestimmten Meinung direkt bevorzugt, sondern eine Ungleichbehandlung und damit eine Wahlrechtsverletzung - stellte sich erst auf Umwegen ein. Erst die Gewährung einer Parteispende im Zusammenhang mit deren steuerlicher Absetzbarkeit vor dem Hintergrund eines progressiven Steuersatzes führte zu einer ungleichen Behandlung, die politisch vor allem relevant wäre, wenn Bezieher hoher Einkommen zu einer anderen politischen Richtung tendierten als Einkommensschwächere. 274 In mehreren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht diese Auslegung in der Folgezeit bestätigt. 275 c) Ergebnis zur Position der Rechtsprechung Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht zum einen die Eingriffsdogmatik auf dem Gebiet des Wahlrechts an273

BVerfG, Urteil vom 24.6.1958, BVerfGE 8, 51 (69). Derartiges ist elegant angedeutet in BVerfG, Urteil vom 3.12.1968, BVerfGE 24, 300 (358): „Die Regelung bevorzugte [...] die Parteien, die nach Programm und Tätigkeit vornehmlich kapitalkräftige Kreise ansprachen." 275 BVerfG, a.a.O. (360); BVerfG, Urteil vom 14.7.1986, BVerfGE 73, 40 (71 ff.); BVerfG, Beschluß vom 9.4.1992, DVB1. 1992, 764 (771 f.). 274

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

wendet. Zum anderen sieht die Rechtsprechung sogar die Möglichkeit indirekter Grundrechtsbeeinträchtigungen in diesem Bereich. 2. Die Position der Literatur zur Beeinträchtigung des Wahlrechts In der Literatur ist, wie bereits angedeutet, die Frage einer Übertragbarkeit der Eingriffssystematik auf das Wahlrecht bislang kaum erörtert worden. Jedoch finden sich vereinzelt sowohl begriffliche Ansätze, in denen von Eingriffen in das Wahlrecht bzw. von dessen Beeinträchtigung gesprochen wird, als auch Erörterungen der mittelbaren Beeinträchtigung des Wahlrechts durch private Dritte. a) „Eingriffe" in das Wahlrecht Ganz selbstverständlich, ohne dies zu problematisieren, wird in einigen Kommentierungen des Art. 38 GG die eingriffsrechtliche Terminologie für das Wahlrecht sowie die einzelnen Wahlgrundsätze verwendet. So ist dort des öfteren von „Beeinträchtigungen" des Wahlrechts 276 sowie von „Einschränkungen" einzelner Wahlgrundsätze 277 die Rede. Andere Autoren sprechen vom „Schutzbereich" der Wahlgrundsätze 278 und davon, daß Beeinträchtigungen einer „Rechtfertigung" bedürften. 279 Teilweise wird ein staatliches Verhalten sogar ausdrücklich als „Eingriff 4 gekennzeichnet. 280 Auch wenn, wie bei der Rechtsprechung, derartige begriffliche Beobachtungen nicht überbewertet werden dürfen, so ist die verwendete Terminologie doch ein erstes Indiz, das dafür spricht, die Eingriffssystematik auch auf dem Gebiet des Wahlrechts anzuwenden. b) Insbesondere indirekte Beeinträchtigungen des Wahlrechts Speziell zur Frage der indirekten Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgrundsätze finden sich des weiteren auch im wahlrechtlichen Schrifttum zahlreiche Stimmen. 276

So etwa Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 38; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 113; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 104. 277 Siehe z.B. Maunz, a.a.O.; BK-Badura, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rz. 8; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 61, 68 und 98. 278 So Meyer, in HdBStR II, § 38, Überschrift vor Rz. 20 ff. und Rz. 25; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 97. 279 Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 93. 280 Z.B. von Meyer, in HdBStR II, § 38, Rz. 26 und 41 (zur Gleichheit); v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, GG, Art. 38, Rz. 131 und 142 (ebenfalls zur Gleichheit).

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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(1) Mittelbare Beeinträchtigungen des Wahlrechts Wenn auch nur vereinzelt unter dieser Bezeichnung, 281 so aber doch der Sache nach, ist in der Literatur die Existenz lediglich mittelbarer Wahlrechtsbeeinträchtigungen anerkannt. Dabei ist es insbesondere - soweit ersichtlich - unstreitig, daß die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit sowie der Geheimheit der Wahl nicht nur gegen Beeinträchtigungen von Seiten des Staats schützen, sondern auch dann verletzt sind, wenn durch Private ein unzulässiger Druck auf die Freiheit der Entscheidung oder deren Offenbarung ausgeübt w i r d . 2 8 2 Insofern deckt sich diese Auffassung mit der oben 2 8 3 dargelegten Rechtsprechung. (2) Faktische Beeinträchtigungen des Wahlrechts Vergleichbares gilt für die faktischen Beeinträchtigungen. Insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Absetzbarkeit von Parteispenden ist jedenfalls im Grundsatz 284 auf allgemeine Zustimmung gestoßen. 285 281

Meessen, NJW 1994, 549 (550), sieht im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Fall „mittelbar das subjektiv-rechtliche Wahlrecht verletzt". 282 Siehe Meyer, in HdBStR II, § 38, Rz. 17 (zur Freiheit) bzw. Rz. 13 (zur Geheimheit); sowie die Kommentierungen von Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rz. 47 bzw. 54, der ausdrücklich von unmittelbarer Drittwirkung dieser Berechtigungen spricht; BK-Badura, GG, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rz. 29; v. Mangoldt/ Klein/Achterberg/Schulte, Art. 38, Rz. 123 bzw. 155; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 38, Rz. 18; v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 38, Rz. 34; H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 47 bzw. 51; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38, Rz. 88 bzw. 99; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 90 bzw. 109; sowie die Urteilsanmerkung von Th. L. Oppermann, JuS 1985, 519 (521 ff.). 283 Oben 1. b. (1). 284 Die vereinzelt geübte Kritik betrifft eher die „Schwankungen" in der Rechtsprechung (so etwa J. Ipsen, in Sachs, GG, Art. 21, Rz. 132) bzw. findet die dort gezogenen Grenzen noch zu weit (z.B. Preuß, in AK-GG, Art. 21 Abs. 1-3, Rz. 76). 285 Siehe etwa - ohne Hinweis auf gegensätzliche Auffassungen - Kunig, in HdBStR II, § 33, Rz. 74; BK-Henke, GG, Art. 21, Rz. 320 und 337; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 21, Rz. 20a f.; Preuß, in AK-GG, Art. 21 Abs. 1, 3, Rz. 76. Als weitere Möglichkeiten faktischer Beeinträchtigungen der politischen Grundrechte nennt Stephan Herren aus Schweizer Sicht behördliche Interventionen im Vorfeld oder bei der Durchführung der Wahl (Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 62 ff.). Ein Beispiel sei insbesondere die Erfassung und Speicherung von Daten über politische Ansichten und Tätigkeiten (Herren, a.a.O., S. 75 ff.), da das Bewußtsein dieser Datensammlung den Bürger veranlassen könne, bestimmte Ansichten nicht zu äußern. Fraglich ist allerdings, ob derartige Fälle in Deutschland nicht eher über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfaßt würden (dazu grundlegend BVerfG, Urteil vom 15.12.1983, BVerfGE 65, 1 [41 ff.]), so daß

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts c) Ergebnis zur Position der Literatur

Als Fazit ergibt sich damit aus dem Schrifttum, daß dort ganz selbstverständlich von der Geltung der Eingriffsdogmatik auch im Bereich des Wahlrechts ausgegangen wird. 3. Die Struktur

des Wahlrechts

Fraglich ist, ob dieses erste Ergebnis von Rechtsprechung und Literatur allgemeineren dogmatischen Erwägungen standhält. Hierfür könnte zunächst die Struktur des Wahlrechts sprechen. Denn im Rahmen einer systematischeren Herangehensweise als sie von der - notwendigerweise einzelfallbezogen arbeitenden - Rechtsprechung geleistet werden kann, ist nicht zu verkennen, daß die Grundrechtsberechtigungen im aktiven Status einen anderen Aufbau aufweisen als diejenigen des positiven Status, bei denen sich eine Übertragbarkeit der Eingriffsdogmatik als problematisch erwiesen hat. Hier geht es nicht so sehr oder jedenfalls nicht ausschließlich um staatliche Leistungen. Statt dessen geht es wie im negativen Status um Freiheitsbetätigungen des Einzelnen, wenn auch nicht außerhalb des staatlich geregelten Bereichs. a) Das Wahlrecht als Bereich konstituierter Staatsfreiheit Gerade für den Bereich des Wahlrechts gilt, daß dieses einen Bereich der Staatsfreiheit konstituiert, wie er auch bei den Abwehrrechten festzustellen ist. Zwar sind die Organisation, Ausgestaltung und Durchführung der Bundestagswahl Aufgaben des Staats, so daß der Staat hier kraft Verfassungsauftrags tätig werden muß. 2 8 6 Auch läßt sich das Wahlrecht als solches nicht aus der individuellen Freiheit im Sinne einer Abwesenheit von Zwang Λ Ο Π

ORR

erklären, ebensowenig, wie es vorstaatlich denkbar ist. Aber der inhaltliche Ablauf der Wahl, die durch die Wahl getroffene (Personal-) Entscheidung und die darin zum Ausdruck kommende Willensbildung des Volks sind staatsfrei. Denn die Willensbildung muß sich, wie es oft schlagwortartig heißt, „von unten nach oben" vollziehen 2 8 9 können. Hier darf der der Rückgriff auf das allenfalls faktisch beeinträchtigte Wahlrecht hier nicht erforderlich wäre. 286 Meyer, in HdBStR II, § 37, Rz. 3. 287 Murswiek, in HdBStR V, § 112, Rz. 14. 288 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 136; Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 18. 289 So die Formulierung des BVerfG, Urteil vom 23.10.1952, BVerfGE 2, 1 (40), zur innerparteilichen Demokratie.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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Staat gerade keinen Einfluß nehmen und muß sich jeder Tätigkeit enthalten. Entsprechendes gilt für den Bereich der grundgesetzlich gewährleisteten Wahlgrundsätze. Auch diese gewährleisten der Sache nach Freiräume im staatlichen Bereich, denn der Staat bedarf für einen Eingriff in die Wahlgrundsätze stets eines zwingenden rechtfertigenden Grundes. 290 Damit kann der Wahlberechtigte auch im Bereich des Wahlrechts den Staat aus einer so konstituierten Freiheitssphäre ausschließen. Zu Recht ist daher formuliert worden, bei diesen staatsbürgerlichen Rechten werde „der Staat zum Raum, in dem der einzelne seine Freiheit betätigen kann". 2 9 1 I m gleichen Sinne wird von der ,,politische[n] Freiheit des Aktivbürgers" 2 9 2 gesprochen, von der „Freiheit zum Staat". 2 9 3 Ein Freiheitsraum besteht daher auch hier; in dieser Hinsicht enthält das Wahlrecht abwehrrechtliche Komponenten. b) Das Wahlrecht als „Bewirkungsrecht" Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangt Sachs auf der Grundlage der von ihm vorgenommenen Grundrechtseinteilung. Neben den Abwehr- und Leistungsrechten nennt er als dritte Gruppe die „Bewirkungsrechte", unter denen er Rechte versteht, die es ihren Inhabern „ermöglichen, durch ihr Verhalten gezielt Änderungen der Rechtslage herbeizuführen". 294 Eine Sonderkategorie dieser Bewirkungsrechte seien die Wahl- und Stimmrechte, die sich als Mfwirkungsrechte zusammenfassen ließen. 2 9 5 Bei den Bewirkungsrechten, mithin auch beim Wahlrecht, sei zwar „für eine der Beeinträchtigung vergleichbare dogmatische Abstufung der Prüfung einer Rechtsverletzung kein Raum". 2 9 6 Jedoch ist nach Sachs dieser Bereich derart weitgehend von abwehr- und anspruchsrechtlichen Komponenten im Sinne der bereits dargestellten 297 Hilfs-, Neben- und Folgerechte geprägt, daß fraglich sei, wie eine Verletzung der Bewirkungsrechte überhaupt aussehen könne. 2 9 8 So bedeute 290 BVerfG, Urteil vom 5.4.1952; BVerfGE 1, 208 (248 f.); BVerfG, Beschluß vom 15.1.1985, BVerfGE 69, 92 (106), m.w.N.; BVerfG, Urteil vom 29.9.1990, BVerfGE 82, 322 (338). 291 Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 67. 292 Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 6. 293 Herren, a. a. Ο., unter Verweis auf Kägi. 294 Sachs, in Stern, StaatsR III/l, S. 571. 295 Sachs, a.a.O., S. 580. 296 Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 223; zur vergleichbaren Analyse der Leistungsrechte bei Sachs siehe oben III. 3. 297 Oben ΙΠ. 3. a. 298 Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 222 f.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

„die Aufhebung einer solchen Grundrechtsberechtigung" „die Beeinträchtigung der abwehrrechtlich geschützten Rechtsposition [...], Inhaber des Bewirkungsrechts zu sein [...]. Jeder Versuch, konstitutiv die Wirkungsmöglichkeiten des Bewirkungsrechts zu verkürzen, kommt einer (partiellen) Aufhebung des Rechts gleich, wäre mithin abwehrrechtlich zu erfassen". 299 Gleiches gelte für den Fall, daß ein Bewirkungsrecht dadurch entwertet würde, daß seine Ausübung unmöglich gemacht oder verboten oder mit nachteiligen Sanktionen belegt würde: Dies beträfe „die Freiheit, von dem Bewirkungsrecht Gebrauch zu machen [...], wäre also gegebenenfalls ein Fall der Beeinträchtigung eines Abwehrrechts". 300 Bedürfe es hingegen zur Ausübung des Bewirkungsrechts staatlicher Leistungen, könne insoweit „ein zusätzliches Leistungs(hilfs)recht" bestehen, „etwa beim Wahlrecht eines auf Durchführung der W a h l " . 3 0 1 Selbst die Nichtbeachtung der durch die Rechtsausübung herbeigeführten Rechtsänderungen stelle sich „als Nichterfüllung von an das Bewirkungsrecht anknüpfenden Leistungs(hilfs)rechten" dar. 3 0 2 Damit leugnet Sachs für den Bereich der Bewirkungsrechte nicht die Möglichkeit mittelbarer Grundrechtsbeeinträchtigungen. Denn nach seinem Ansatz stellt jede Verkürzung derartiger Rechtspositionen eine Verletzung (auch) von abwehrrechtlichen Komponenten dar, auf die - so ist zu ergänzen - die Eingriffsdogmatik ohne weiteres anwendbar wäre. Dabei ist vorliegend vor allem die Fallgruppe einer „Verkürzung der Wirkungsmöglichkeiten des Bewirkungsrechts" von Interesse, da die Kompetenzverlagerung vom Bundestag hin zu anderen Organen die Wirkungsmöglichkeiten des Wahlrechts berühren könnte. Weiter macht Sachs' differenzierte Analyse ebenfalls deutlich, daß eine strikte Trennung zwischen den einzelnen Grundrechtsfunktionen bei genauer Betrachtung möglicherweise gar nicht durchzuhalten sein kann, 3 0 3 wenn weite Teile der Bewirkungsrechte eher abwehr- bzw. leistungsrechtlich zu erfassen sind. Hieran läßt sich ablesen, daß die Zusammenfassung von Grundrechtsfunktionen zu verschiedenen Statusgruppen zwar zur dogmatischen Ausleuchtung sinnvoll sein kann, daß aber vielfältige Berührungspunkte zwischen den einzelnen Status bestehen und die Grenzen fließend sind. Demnach scheint eine Beschränkung der Eingriffsdogmatik auf lediglich den negativen Status schon aus logischen Gründen gar nicht möglich zu sein. 299

Sachs, a.a.O., S. 222. Sachs, a.a.O. 301 Sachs, a.a.O. 302 Sachs, a. a. O., S. 223, unter Verweis auf ein „Recht auf ordnungsgemäße Verwertung abgegebener Wahlstimmen". 303 Von einer „Verwischung der Grenzen zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung" spricht Bethge, Der Staat 24 (1985), 351 (366); ähnlich auch Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 88. 300

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

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c) Ergebnis zur Struktur des Wahlrechts Damit steht das Wahlrecht von der Struktur her in weiten Teilen den Abwehrrechten zumindest sehr nahe, da es wie diese einen Freiheitsraum gewährleistet. Nach dem Konzept von Sachs wären abwehrrechtliche Gewährleistungen sogar unmittelbar betroffen, da statt des Wahlrechts ein Hilfsrecht auf Abwehr der Beeinträchtigung einschlägig wäre. 4. Unterschiede zwischen Wahlrecht

und Abwehrrechten

Auf der anderen Seite gibt es freilich auch Unterschiede zwischen dem Wahlrecht und den Abwehrrechten. Als grundlegender, gerade „Status-begründender" Unterschied ist zunächst an die verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Status zu denken. Die Menschenrechte, sowohl in ihrer negativen als auch in ihrer positiven Statusausformung, sichern einen Bereich vom Staat abgetrennter Freiheit, während das Wahlrecht als Bürgerrecht die Betätigung des Bürgers in dem und für den Staat schützt. Dementsprechend ist das Wahlrecht auch nicht als vorrechtlich gedachtes Grundrecht denkbar, in dessen Schutzbereich der Einzelne ohne Berührung mit dem staatlich gesetzten Recht seinen Interessen nachgeht, sondern es bedarf zu seiner Wirksamkeit gerade der staatlichen Ausformung. Während die Freiheit von staatlichen Eingriffen vorrechtlich denkbar ist und so auf eine prinzipiell unbegrenzte Freiheit zurückzuführen sein könnte, kann das Wahlrecht von vornherein nur in inhaltlich bestimmtem Maße gewährt werden; Inhalt und Umfang sind insoweit definiert. 304 Gleiches gilt für den institutionellen Rahmen: Im Gegensatz zu den Freiheitsrechten erfolgt die Ausübung politischer Rechte in einem „institutionell gesicherten und vorgezeichneten A b l a u f ' . 3 0 5 Eine weitere Unterscheidung könnte an folgender Erwägung ansetzen: Das Wahlrecht gewährt (nach überkommener Auffassung) nur einen Anspruch auf Teilhabe an der Auswahl der Bundestagsabgeordneten. Der Wahlberechtigte hat lediglich die Möglichkeit, an der Entscheidung über die Zusammensetzung des Parlaments in der folgenden Wahlperiode mitzuwirken, sei es durch Ausübung seines aktiven Wahlrechts, sei es durch eine eigene Kandidatur im Rahmen des passiven Wahlrechts. Hierdurch kann er zwar die allgemeine Richtung der Regierungs- und Parlamentsarbeit (mit-) beeinflussen, aber die Regelung der Detailfragen, die ganz wesentlich über 304

Vgl. Murswiek, in HdBStR V, § 112, Rz. 3, für Teilhaberechte, zu denen er ausweislich der dortigen Rz. 14 auch das Wahlrecht zählt. 305 Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 40. 13 Soppe

194

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

seine konkreten Lebensumstände entscheiden, entzieht sich einer solchen Einflußnahme weitgehend. 306 Mithin kann er seine eigentlichen Interessen im Rahmen des staatlichen Handelns nicht unmittelbar durch Ausübung des Wahlrechts durchsetzen; der Wahlberechtigte kann die Politik nicht unmittelbar in dem Sinne beeinflussen, daß bestimmte Auffassungen oder Interessen von ihm in staatliches Handeln umgesetzt werden. Er ist vielmehr - im Rahmen des aktiven Wahlrechts - auf die Wahl von Personen beschränkt, deren politische Vorstellungen den seinigen möglichst nahekommen, um dieser Meinungsgruppe eine möglichst starke Gruppe von Fürsprechern im Bundestag zu sichern; nur auf diese Weise kann er die Position seiner eigenen Interessen im politischen „Meinungskampf 4 stärken und auf ihre Umsetzung hinwirken. Das Wahlrecht gewährleistet also über die Verfahrensteilhabe lediglich die Chance, eigene inhaltliche Vorstellungen mittelbar durchzusetzen. Demgegenüber könnte man argumentieren, daß die Menschenrechte die Verfolgung eigener Interessen unmittelbar ermöglichen: Wenn etwa die Meinungsfreiheit gewährleistet ist, kann sich der Einzelne ohne weiteres äußern, wie er es will. Einschränkungen bestehen dabei allenfalls in tatsächlicher, nicht aber in rechtlicher Hinsicht. 5. Gemeinsamkeiten zwischen Wahlrecht

und Abwehrrechten

Auf der anderen Seite gibt es aber auch weitreichende Gemeinsamkeiten, die über die ähnliche Struktur beider Grundrechtsarten hinausgehen. Das beginnt bereits bei dem zuletzt genannten Unterscheidungskriterium. Hierbei sollte nicht vernachlässigt werden, daß im Rahmen der Abwehrrechte ebenfalls noch zahlreiche (tatsächliche) Hindernisse einer inhaltlichen Interessenverfolgung durch den Einzelnen entgegenstehen können. 3 0 7 So sind viele Betätigungen davon abhängig, daß der Einzelne zu ihrer Ausübung finanziell oder institutionell in der Lage ist: Während die Freiheit, seine Meinung zu äußern, recht problemlos von jedermann wahrgenommen werden könnte - und insofern allenfalls die Wirkung und Reichweite der Kundgabe unterschiedlich sein wird - , hängt die Wahrnehmung der Rechte der Presse- und Rundfunkfreiheit davon ab, daß der Betreffende über ein entsprechendes Unternehmen verfügt. Auch die Eigentumsgarantie setzt zu ihrer effektiven Nutzung durch den Einzelnen voraus, daß dieser überhaupt Eigentum hat. In gleichem Maße mag die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit im Rahmen der Berufsfreiheit - rechtlich (!) - von bestimmten Zulassungsvoraussetzungen und -prüfungen abhängen. Damit gewährleistet auch für die Rechte im negativen Status die Anerkennung eines (Abwehr-) 306 307

Benda, in HdBVerfR, § 17, Rz. 154. Zu diesem Aspekt siehe etwa Murswiek,

in HdBStR V, § 112, Rz. 27.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

195

Rechts dem Einzelnen noch nicht, daß er seine Interessen tatsächlich umsetzen kann. Die oben getroffene Unterscheidung ist damit bei genauerer Betrachtung nicht zwingend und wenig ergiebig. Vor allem aber bestehen weitreichende Gemeinsamkeiten der verschiedenen Status: Bei allen d r e i 3 0 8 Status handelt es sich um jeweilige Teilaspekte grundrechtlicher Gewährleistungen. Alle drei beschreiben einen Teilbereich des Verhältnisses von Individuum und Staat und zwar, genauer, einen Teil des Bereiches, in dem der Einzelne gegenüber dem Staat grundrechtsberechtigt ist, so daß stets der Bezug zur Freiheit des Einzelnen vorhanden i s t . 3 0 9 Verfahrensrechtlich sind die Grundrechte aller Status durch ein einheitliches Instrument, die Verfassungsbeschwerde, abgesichert, bei der keinerlei Differenzierung nach der Einteilung der Gewährleistungen erfolgt. Alle drei Status hängen des weiteren inhaltlich eng zusammen und sind lediglich unterschiedliche Seiten des gleichen Rechtsinstituts. Das wird zum einen an der bereits vorgestellten 310 Analyse von Sachs deutlich, der in dem Bereich der von ihm so genannten Bewirkungsrechte bei Beeinträchtigungen der Grundrechtsgewährleistung sehr weitgehende Abwehr- und Leistungs(hilfs)rechte konstruiert und auf diese Weise sogar zu der Frage gelangt, wie Eingriffe in ein Bewirkungsrecht überhaupt aussehen könnten. 3 1 1 Zum anderen wird der Zusammenhang zwischen Abwehr- und Aktivrechten besonders deutlich bei den sogenannten politischen Freiheitsrechten: 312 Der Demokratiebezug insbesondere der Gewährleistungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ist wohl allgemein anerkannt, 313 seitdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Lüth-Urteil die Kommunikationsgrundrechte als „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung [...] schlechthin konstituierend" 314 bezeichnet hat. Damit zeigt sich, daß zumindest Teile der Abwehrgrundrechte eine Verbindung auch zur Teilhabe des Volks an der Ausübung staatlicher Macht aufweisen und damit ebenfalls - wie die Aktivrechte - nicht nur die negative Freiheit vom Staat, sondern auch die Freiheit im Staat sichern. Auf diese Weise konstituieren politische Freiheitsrechte und politische Rechte gemeinsam die politische Freiheit. 3 1 5

308

Der von Jellinek, System, S. 86, des weiteren benannte „passive Status" enthält gerade keine subjektiven Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern kennzeichnet das Individuum nur in dessen dem Staat unterworfener Rolle, so daß er hier außer Betracht zu bleiben hat. 309 Vgl. Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 69. 310 Oben 3. b. 311 Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 222 f. 312 Zum Begriff Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 28 ff. 313 Siehe lediglich Bleckmann, StaatsR II, § 26, Rz. 1, m.w.N. 314 BVerfG, Urteil vom 15.1.1958, BVerfGE 7, 198, 208. 315 Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 36. 13*

196

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts 6. Ergebnis zur Übertragbarkeit

Nach alledem zeigt sich, daß die anhand der Grundrechte des negativen Status entwickelte Eingriffsdogmatik nicht auf diesen Bereich zu beschränken, sondern auch auf das Wahlrecht als Teil des aktiven Status ausdehnbar ist. Zwar steht eine umfassende Untersuchung für den Bereich des Aktivstatus noch aus. Jedoch hat der Vergleich zwischen Wahlrecht und den Abwehrrechten sowie insbesondere die Analyse von Sachs deutlich gemacht, daß sich eine strikte Trennung zwischen den einzelnen Grundrechtsstatus nicht durchhalten läßt, diese vielmehr vielfältig miteinander verschränkt sind. Des weiteren sind die zugrundeliegenden Interessenlagen identisch. Auch beim Wahlrecht geht es, wie ausgeführt, um die Gewährleistung einer staatsfreien Sphäre, mithin um die Abwehr unberechtigter staatlicher Übergriffe. Genau wie bei den Menschenrechten im negativen Status können deshalb auch beim Wahlrecht etwaige Beeinträchtigungen unmittelbar durch den Staat erfolgen. Ebenso denkbar sind aber indirekte Beeinträchtigungen, sowohl mittelbarer Natur als auch solche rein faktischer Qualität. Zudem hat die Rechtsprechung die Eingriffsdogmatik unproblematisch auch für den Bereich des Wahlrechts angewendet.

C. Gegenthese: „Schutzbereichsausdehnung statt Eingriffserweiterung" Quasi als Gegenbewegung zu der dargestellten grundrechtsdogmatischen Tendenz, den Eingriffsbegriff weiter zu fassen, wird in der neueren Literatur vertreten, die zugrundeliegende Problematik ausreichenden Rechtsschutzes sei eher mit Hilfe eines angemesseneren Schutzbereichsverständnisses zu lösen. 3 1 6 Es wird darauf hingewiesen, „daß man weitgehend zu demselben Ergebnis gelangt, wenn man statt des Eingriffsbegriffs den Grundrechtsschutzbereich entsprechend erweitert". 3 1 7 Die wechselseitigen Bezüge zwischen Eingriff und Schutzbereich seien vielfältig: „Derselbe staatliche Akt wird je nach weiter oder enger Fassung des Schutzbereichs klassischer Eingriff oder sonstige Grundrechtsbeeinträchtigung sein". 318 Diese „Symbiose von Schutzbereich und Eingriffsbegriff 4 3 1 9 lasse sich besonders am Bereich der Pressefreiheit verdeutlichen: Wenn man den 316

Für eine „Abgrenzung des notwendigen Schutzumfangs" durch „Abgrenzung der abzuwehrenden Beeinträchtigungen" aber Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 53. 317 Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 53. 318 Weber-Dürler, WDStRL 57, 59 (82).

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

197

grundrechtlichen Schutzbereich dort nur auf den Vertrieb der Zeitungen bezöge, dann wäre eine Behinderung der dem Vertrieb vorangehenden, dafür notwendigen Handlungen nur eine mittelbare Verletzung der Pressefreiheit. Wenn man dagegen mit der herrschenden Meinung den Schutzbereich auf alle im Unternehmen zusammentreffenden Handlungen erstrecke, stelle jede Behinderung dieses Handelns einen unmittelbaren Eingriff dar. 3 2 0

I. Die Konzeptionen zur Reichweite der Schutzbereichsausdehnung Zu der Frage, wie weit der grundrechtliche Schutzbereich auszudehnen ist, gibt es verschiedene Konzeptionen, die sich aber allenfalls in Randbereichen unterscheiden. Gemein ist ihnen, daß sie in den Schutzbereich auch den Sinn und Zweck der Grundrechtsbetätigung einbeziehen wollen. Im einzelnen lassen sich etwa die folgenden Ansätze unterscheiden: 7. Die Lehre vom funktionalen

Schutzbereich

U. Ramsauer hat für das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG den grundrechtlichen Schutzbereich auf rein faktische Beeinträchtigungen ausgedehnt. In seiner Analyse spaltet er den Begriff des Schutzbereichs auf in einen subjektiven und einen objektiven Teil. Während der erstere festlege, wer grundrechtsverpflichtet und -berechtigt sei, 3 2 1 lasse sich der objektive Teil weiter unterteilen in ein sachliches und ein funktionales Element: „Der Schutzbereich kann hier von zwei Seiten aus beschrieben werden: Einmal vom materiellen Umfang der geschützten Befugnisse her, zum anderen von der Art bzw. Qualität der Beeinträchtigung her, gegen die die Befugnis geschützt werden soll. Das eine Mal lautet die Frage: Welche Befugnisse werden geschützt? Das andere Mal lautet sie: Wogegen werden diese Befugnisse geschützt? Diese unterschiedliche Sichtweise liegt der Unterscheidung von sachlichem und funktionalem Schutzbereich zugrunde. Während der sachliche Schutzbereich Auskunft über die im einzelnen geschützten Befugnisse gibt, zeigt sich im funktionalen Schutzbereich, ob und gegebenenfalls welche Beeinträchtigungsmodi vom Normbefehl ausgenommen sind." 322 319 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (380); Weber-Dürler, VVDStRL 57, 59 (82) spricht von einem „Konnex von Schutzbereich und Eingriff; ähnlich auch Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 51. 320 Beispiel nach Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 53; ähnlich Weber-Dürler, a.a.O., m.w.N. aus der Schweizer Rechtsprechung; für die Rundfunkfreiheit ähnlich auch Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 52. 321 Ramsauer, Faktische Beeinträchtigungen, S. 51 f. 322 Ramsauer, a.a.O., S. 53; im Grundsatz zustimmend insoweit Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (378) in dortiger FN 53.

198

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfang dieses funktionalen Schutzbereichs will Ramsauer die aus dem zivilrechtlichen Deliktsrecht bekannte Lehre vom Schutzzweck der Norm fruchtbar machen. Denn die Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Eingriff bzw. einer Beeinträchtigung gesprochen werden könne, sei letztlich eine Frage der Zurechnung: „Der Begriff »Zurechnung' kennzeichnet die Problematik von der Sicht des (potentiellen) Verursachers her. Aus der Sicht des Geschützten handelt es sich bei derselben Frage um die Frage des Schutzbereichs für seine Güter. Für beide ergeben sich etwaige Zurechnungs- bzw. Schutzbeschränkungen aus den Normen, die zwischen ihnen die rechtliche Beziehung schaffen (können). [...] Maßgebend für die Zurechnung ist daher immer der Schutzbereich der jeweils in Frage kommenden Norm in funktionaler Hinsicht." 323 Im weiteren Verlauf seiner Arbeit gelangt Ramsauer in Anwendung seiner Kriterien zu dem Ergebnis, daß sich aus Stellung und innerer Systematik des Grundgesetzes keine Anhaltspunkte für allgemeine Beschränkungen des funktionalen Schutzbereichs der Eigentumsgarantie ergäben. Vielmehr müsse die Frage, was wogegen geschützt sei, für jedes Grundrecht gesondert beantwortet werden. 3 2 4 Diese Konstruktion habe, so Sachs, den Vorteil, daß auf zusätzliche Schutzgegenstände jenseits des Verfassungstextes verzichtet werden könne und zudem sich „die Reichweite des Schutzes von der zentral geschützten Freiheit her auf das für ihre Effektivität Gebotene beziehen" lasse. 325 2. Die Lehre von den Kontext- und Umweltbezügen M i t einer anderen Begründung will Marion Albers den grundrechtlichen Schutzinhalt erweitern. Auch sie wendet sich kritisch gegen die Erweiterung des Eingriffsbegriffs, da aufgrund der dogmatisch aufeinander abgestimmten Inhalte von Grundrechtsgewährleistung und Grundrechtseingriff „ i m ersten Schritt eine Erweiterung des Blickfelds auf Seiten der Freiheitsverbürgung" erforderlich sei. 3 2 6 Tatsächliche und vermittelte Wirkungen erschlössen sich nämlich erst dann richtig, wenn man die individuellen Entfaltungsspielräume und -chancen nicht aus einer „rein individualistischen Perspektive" beschreibe, sondern ihren „Kontext, also das räumliche bzw. 323

Ramsauer, a.a.O., S. 54. Ramsauer, a.a.O., S. 121 f.; siehe auch Ramsauer, VerwArch 72 (1981), 89 (99 f.); zustimmend Kimminich, Der Staat 20 (1981), 469 (470 f.); kritisch wegen der fehlenden Unterscheidung Ramsauers zwischen mittelbaren und nicht-finalen Eingriffen Weyreuther, NJW 1980, 2566. 325 Sachs, in Stem, StaatsR ΠΙ/2, S.52 f. 326 Vgl. Albers, DVB1. 1996, 233 (237). 324

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

199

natürliche Umfeld oder die soziale Umwelt" mitdenke. 3 2 7 Werde dergestalt das Freiheitsverständnis erweitert, müsse auch grundrechtsdogmatisch der Gewährleistungsbereich anders ausgelegt werden. 3 2 8 Allerdings zeichne sich die überkommene Gewährleistungskonzeption dadurch aus, daß „der Schutzgehalt individualistisch formuliert" werde und Umweltbezüge ausklammere. „Ganz in Abgrenzung gegen den traditionellen Ansatz" sei deshalb nunmehr „eine überindividuelle und kontextbezogene Perspektive" einzunehmen und die jeweilige Grundrechtsnorm so zu interpretieren, „daß ihre objektivrechtlichen Aussagen und die individualrechtlichen Schutzgehalte Bezüge zu dem jeweils relevanten Kontext einschließen". 329 Inhaltlich käme hier insbesondere „sozialen Strukturen und Prozessen, die durch die Beteiligung Dritter oder auch staatlicher Stellen gekennzeichnet sind," Bedeutung z u ; 3 3 0 dogmatisch könnten dem Einzelnen jeweils nur Schutzpositionen gewährleistet sein, „deren Inhalt und Grenzen von den - ihrerseits normativ zu bestimmenden - überindividuellen Zusammenhängen und den Positionen Dritter geprägt sind". 3 3 1 Diese Sichtweise erläutert Albers dann an verschiedenen Beispielen. 332 3. Die Lehre von den faktischen Betätigungschancen Eine dritte Ansicht, hier zusammengefaßt als Lehre von den faktischen Betätigungschancen 333 will in den grundrechtlichen Schutzbereich mit verschiedener Begründung die Möglichkeit zur faktischen Betätigung der geschützten Freiheiten einbeziehen. Hierbei handele es sich, so Murswiek, um ein Schutzgut, das sich von der „Freiheit der Willensentschließung und ihrer Betätigung" unterscheide: 334 „Im Bereich der Berufsfreiheit ist es die Chance des Unternehmers, seine Produkte zu verkaufen, im Bereich der Religionsfreiheit die Chance, Anhänger für die eigene Religion [...] zu gewinnen." Denn „[d]ie individuelle Freiheit steht nicht isoliert für sich. Sie läßt sich oft nur im sozialen Kontakt verwirklichen. Die Freiheitsrechte setzen das Vorhandensein sozialer Interaktion voraus. [Das bedeutet,] daß der Staat die Freiheit beschränkt,

327

Albers, a.a.O. Albers, a. a. Ο. (238), auch zum folgenden. 329 Albers, a.a.O. 330 Albers, a.a.O. (238 f.). 331 Albers, a.a.O. (239). 332 Albers, a.a.O. (239 ff.). 333 Begriff nach Weber-Dürler, VVDStRL 57, 59 (83); Bethge, VVDStRL 57, 10 (20), spricht von einer „Anreicherung des Tatbestandes um den Sozialkontakt". 334 Murswiek, DVB1. 1997, 1021 (1026). 328

200

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

wenn er diese Möglichkeiten gezielt vernichtet, wenn er gezielt die Realisierung der Chance sozialer Interaktion vereitelt." 335 Dementsprechend sei, meinen Bleckmann/Eckhoff, der Entzug oder die Beschädigung der zur Freiheitsausübung erforderlichen rechtlichen oder tatsächlichen Mittel „also kein »mittelbarer 4 (im Sinne von nicht grundrechtsrelevanter) Eingriff in das zu eng interpretierte Grundrecht, sondern ein »unmittelbarer 4 (grundrechtsrelevanter) Eingriff in den richtig verstandenen Schutzbereich dieses Freiheitsrechts". 336 Diese „veränderte Optik", so Weber-Dürler, dränge sich freilich nur bei den Verhaltensfreiheiten auf, nicht hingegen bei Verletzungen der körperlichen Integrität. 337 4. Die Lehre von den „Nebenfreiheiten" Schließlich ist noch eine Auffassung zu erwähnen, deren Varianten sich dadurch auszeichnen, daß aus einer Grundrechtsnorm neben einer Hauptfreiheit noch weitere „Nebenfreiheiten" abgeleitet werden, welche die Hauptgewährleistung unterstützend absichern. Sie sollen „dem Ziel größtmöglicher Wirkungskraft der Grundrechte" dienen. 338 Sachs, der diese Auffassung referiert, 339 bezeichnet sie in Entsprechung zu den bereits oben dargestellten 340 „Hilfsrechten" als „Hilfsschutzgegenstände", 341 bei Bleckmann firmieren sie als „Annexrechte", 342 und bei Bleckmann/Eckhoff wird das zugrundeliegende Tun „Vorbereitungstätigkeit" genannt, letztlich allerdings der ausdrücklich so bezeichneten „Hauptfreiheit" zugerechnet. 343 „Hilfsschutzgegenstände" und „Annexrechte" haben gemein, daß sie bestimmte, mit dem „Kern" der grundrechtlichen Gewährleistung zusammenhängende Freiheitsbereiche absichern sollen. Bleckmann nennt als Beispiel die Beschaffung von Pinsel und Farben als Annex zur Kunstfreiheit, 344 und Sachs bezieht sich auf den „Schutz der Informationsbeschaffung" als Teil der Rundfunkfreiheit. 345 335 Murswiek, a.a.O., unter Verweis auf „den im Denkansatz instruktiven Beitrag" von Albers. 336 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (378). 337 Weber-Dürler, WDStRL 57, 59 (83). 338 Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 51, unter Verweis auf Thoma. 339 Vgl. Sachs, a.a.O., S. 52. 340 Oben B. III. 3. a. 341 Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 51, m.w.N. 342 Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 54. 343 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (378 f.). 344 Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 54. Das Beispiel des Erwerbs von Farbe und Leinwand zählen demgegenüber Bleckmann/Eckhoff, a. a. O. (378), zu den Vorbereitungshandlungen. 345 Sachs, in Stem, StaatsR III/2, S. 52.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

201

II. Gemeinsamkeiten der Konzeptionen Ohne daß im einzelnen noch tiefer in die vorgestellten Konzeptionen einzusteigen wäre, läßt sich doch erkennen, daß ihnen eine gemeinsame Argumentationslinie zugrunde liegt: In allen Fällen gehen die Autoren von der Auffassung aus, daß die jeweilige Grundrechtsnorm auch Schutz gegen indirekte Beeinträchtigungen bieten solle und stellen insoweit nur noch die Frage nach der Begründung dieses Ergebnisses. Sachs legt diese Zielvorstellung „größtmöglicher Wirkungskraft der Grundrechte" ausdrücklich offen; 3 4 6 aber auch den anderen Ansätzen liegt dieser Gedanke erkennbar zugrunde. Dieses Ziel wollen alle Autoren mit einer Anreicherung des Schutzbereichs erreichen, indem sie auch bislang nicht erfaßte Facetten grundrechtsrelevanten Handelns einbeziehen wollen. Dabei dürfte es im Ergebnis unerheblich sein, ob dieser Bereich in den Schutzbereich selbst hineingenommen wird, oder ob er als „Nebenrecht" formal neben dem ursprünglichen Schutzbereich bestehen bleibt, aber inhaltlich den gleichen Schutz genießt. Nicht zu verkennen ist aber auch, daß alle der vorgestellten Versuche sich ausschließlich auf den Bereich der Freiheitsrechte beziehen. Ramsauer beschränkt seine Untersuchung auf den Bereich des Art. 14 G G , 3 4 7 während Albers zwar unterschiedliche Grundrechtsverbürgungen beispielhaft aufzählt, sich hierbei aber ebenfalls auf abwehrrechtliche Gewährleistungen beschränkt. 348 Gleiches gilt für die bereits zitierten Beispiele der Kunstsowie Pressefreiheit.

III. Ergebnis zur These einer Schutzbereichsausdehnung Als Fazit bleibt damit festzuhalten, daß verschiedene Versuche existieren, eine Schutzbereichserweiterung bei den Freiheitsrechten zu begründen. Auf diese Weise sollen die Konstellationen erfaßt werden, die von der herrschenden Meinung mit der Erweiterung des Eingriffsbegriffs auf die faktischen Beeinträchtigungen aufgearbeitet werden.

346

Sachs, a.a.O. Das ergibt sich bereits aus dem Titel seiner Arbeit: „Faktische Beeinträchtigungen des Eigentums" (Hervorhebung vom Verfasser). 348 Albers, DVB1. 1996, 233 (239 ff), nennt die Art. 10 und 6 sowie insbesondere Art. 12 GG. 347

202

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

D. Abwägung: Eingriffserweiterung oder Schutzbereichsausdehnung? Für den weiteren Argumentationsverlauf entscheidend ist nun, welchem der beiden grundlegenden Ansätze - Eingriffserweiterung oder Schutzbereichsausdehnung - zu folgen ist. Dabei ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit beiden Ansätzen hier nicht erforderlich; vielmehr muß diese Frage vorliegend nur unter dem Blickwinkel ihrer Anwendbarkeit auf das Wahlrecht erörtert werden. Teilweise scheinen die zitierten Autoren davon auszugehen, daß es unerheblich sei, welche Seite - Schutzbereich oder Eingriff - erweitert werde. 3 4 9 Das erscheint aber zweifelhaft. Zwar mag bei einer rein ergebnisorientierten Betrachtung zutreffen, daß in der Mehrzahl der Fälle beide Ansätze eine Beeinträchtigung übereinstimmend bejahen oder verneinen mögen. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß der dogmatische Ansatzpunkt ein gänzlich anderer ist und dementsprechend eine andere Argumentation erfordert. Zudem könnten sich in besonderen Konstellationen eben doch unterschiedliche Resultate ergeben. Und schließlich rührt die Entscheidung, welchem Ansatz der Vorzug zu geben ist, auch an das Fundament des Grundrechtsverständnisses.

I. Argumente für die Erweiterung des Schutzbereichs Für die Konzeption einer Schutzbereichserweiterung, könnte zunächst sprechen, daß der Schutzbereich einer Grundrechtsgewährleistung die Grundlage der gesamten Grundrechtsdogmatik darstellt. Dementsprechend könnte man den Eingriff als der Gewährleistung nachgeordnet ansehen, 350 weshalb es sinnvoll sein könnte, an der Reichweite des Schutzbereichs anzusetzen. Zudem bliebe möglicherweise das vertraute Schema der Auslösung der Schrankensystematik besser erhalten. Daraus ließe sich zum einen eventuell als Folge ableiten, daß die Frage, wann ein Eingriff vorliegt, dann leichter zu beantworten wäre. Denn möglicherweise könnten befriedigende Ergebnisse dadurch erzielt werden, daß man im Rahmen des erweiterten Schutzbereichs nurmehr mit den Kriterien des unmittelbaren Eingriffs zu arbeiten hätte und so der nicht eben einfachen Handhabung des erweiterten Eingriffsbegriffs enthoben wäre. Zum anderen wird auch vertreten, daß die Definition des Tatbestandes der juristischen Rationalität „viel größere Chancen 349 So explizit Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 53: man gelange „weitgehend zu demselben Ergebnis"; ähnlich Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (379). 350 So Albers, DVB1. 1996, 233 (241).

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

203

für die Abwägung" gebe 3 5 1 und dergestalt willkürliche Ergebnisse verhindere. Denn, so ließe sich vielleicht argumentieren, die Feststellung einer indirekten Beeinträchtigung ist nicht nur objektiv schwierig, sondern sie ließe unter Umständen auch viel Raum zur Rechtfertigung erwünschter Ergebnisse, so daß weniger die dogmatische Stringenz als vielmehr die Durchsetzung verfassungspolitischer oder billigkeitsbezogener Erwägungen zu einem bestimmten Ergebnis führen könnte. Schließlich ließe sich für die vorliegende Fragestellung noch das Argument ins Feld führen, daß die Ausweitung des Schutzbereichs auch der bundesverfassungsgerichtlichen Konzeption des Art. 38 GG im MaastrichtUrteil entsprechen könnte, in dem ebenfalls eine materiellrechtliche Anreicherung des Schutzbereichs vorgenommen wurde. 3 5 2

Π. Argumente für die Erweiterung des Eingriffsbegriffs Auf der anderen Seite überwiegen aber die Gründe, die für eine Erweiterung des Eingriffsbegriffs auf der oben 3 5 3 skizzierten Linie der herrschenden Meinung und damit gegen die Ausweitung des Schutzbereichs sprechen. 1. Keine beliebige Erweiterbarkeit

des Schutzbereichs

Gegen die Ausweitung des Schutzbereichs spricht bereits die Erwägung, daß dieser nicht beliebig erweiterbar ist. Ungeachtet aller dogmatischen und rechtstechnischen Schwierigkeiten, aus einer oftmals lakonischen Grundrechtsformulierung 354 einen geschützten Bereich herauszudestillieren, 355 bleibt doch festzuhalten, daß die grundrechtlichen Gewährleistungen in einem systematischen Zusammenhang stehen, der nicht durch eine allzu unbefangene Erweiterung aufgeweicht werden darf. 3 5 6 Aus dieser Überlegung resultieren grundsätzliche Bedenken gegen den Ansatz jedenfalls von Albers, denn die Berücksichtigung einer ,,überindividuelle[n] und kontextbezogene [n] Perspektive" 357 bei einigen - oder allen? - Freiheitsrechten würde zu Verwerfungen an der Nahtstelle zu anderen Grundrechten führen. Eventuell würde auf diese Weise sogar das gesamte System der überkom351

Isensee, Redebeitrag, in WDStRL 57, 109, der dies allerdings als Argument für eine möglichst enge Schutzbereichsauslegung versteht; femer derselbe, in HdBStR V, § 111, Rz. 45. 352 Dazu Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (433). 353 Oben Β. I. 2. 354 Vgl. dazu Bethge, Der Staat 24 (1985), 351 (353 f.). 355 Siehe oben 2. Kapitel, A. 356 Ähnlich Lerche, in HdBStR V, § 121, Rz. 52. 357 So Albers, DVB1. 1996, 233 (238).

204

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

menen Grundrechtsdogmatik gesprengt, das mit seiner Konzentration auf den subjektiv-rechtlichen Individualbezug die von Albers vorgeschlagene überindividuelle, objektive Gegebenheiten einbeziehende Perspektive gerade nicht kennt. 2. Keine Vermengung von Schutzbereich und Eingriff Des weiteren ist zu beachten, daß in Rechtsprechung 358 und Literatur 3 5 9 des öfteren klargestellt worden ist, daß eingriffsorientierte Gesichtspunkte bei der Definition des grundrechtlichen Schutzbereiches keinen Platz beanspruchen dürfen. Auch wenn diese Aussage bislang vor allem für Begrenzungen des Schutzbereichs geltend gemacht wurde, so kann sie doch verallgemeinernd für den vorliegenden Bereich der Erweiterung eines grundrechtlichen Schutzbereichs ebenfalls angeführt werden. Denn ihr liegt eine grundsätzliche Erwägung zugrunde: Die Betrachtung des Schutzbereichs ist rechtslogisch vorrangig vor der daran erst anschließenden Betrachtung von Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung bzw. Schranken. 360 Erst wenn klar ist, welches individuelle Verhalten auf welche Weise geschützt ist, kann über die Frage einer vom Staat ausgehenden Beeinträchtigung und deren Rechtmäßigkeit nachgedacht werden. Dementsprechend ist auch „begriffliche Disziplin [...] gegen ein Zusammenrühren von Schutzbereich und Schranke, [...] von grundrechtskonturierenden und -eingreifenden Normen" eingefordert worden. 3 6 1 Gegen dieses Prinzip scheinen aber einige der Ansätze einer Schutzbereichserweiterung zu verstoßen, wenn sie mit einem Blick auf ein bestimmtes staatliches Handeln den Schutzbereich des dadurch „irgendwie berührten" Grundrechts kurzerhand so erweitern, daß dieser das staatliche Handeln ohne weiteres auffängt. Die Blickrichtung ist bei dieser Vorgehensweise von vornherein nicht nur auf das individuelle Verhalten gerichtet, sondern schielt quasi mit einem Auge stets auf das staatliche Tun, das als abzuwehrend angesehen wird. Zumindest aber pendelt, vorsichtiger formuliert, der Blick zwischen dem Verhalten des Einzelnen - das klassischerweise in den Schutzbereich gehört - und dem Handeln des Staats - das den Eingriff bilden kann - hin und her. Damit wird im Ergebnis schon auf der Ebene des Schutzbereichs festgelegt, welche konkreten Handlungsformen des Staats abzuwehren sein sollen. Dies zu erkennen ist aber Aufgabe des Eingriffsbegriffs, der in der Form der oben 3 6 2 dargestellten Erweiterung dazu auch durchaus in der Lage erscheint. 358 BVerfG, Beschluß vom 25.3.1992, BVerfGE 85, 386 (397); ähnlich bereits BVerfG, Beschluß vom 13.10.1971, BVerfGE 32, 54 (72). 359 Z.B. Bethge, VVDStRL 57, 10 (20), m.w.N. 360 Vgl. Isensee, in HdBStR V, § 111, Rz. 45. 361 Lerche, in HdBStR V, § 121, Rz. 52.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs 3. Unterschiede zwischen Abwehrrechten

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und Wahlrecht

Hinzu kommen mehrere grundlegende Unterschiede zwischen den als Beispiel für die Schutzbereichserweiterung angeführten Grundrechtsnormen einerseits und speziell dem Wahlrecht andererseits, die auch dann gegen eine Übertragung dieser Ansätze sprächen, wenn man diese für den Bereich der Abwehrrechte akzeptieren wollte. Zum einen liegt gerade dem vorliegend zu analysierenden Wahlrecht ein historisch gewachsenes Verständnis dessen zugrunde, was zum Schutzbereich dazuzuzählen ist und was nicht. Seine weit über die Verabschiedung des Grundgesetzes hinausreichenden historischen Wurzeln mögen dies veranschaulichen. Das Wahlrecht als solches ebenso wie die einzelnen Wahlgrundsätze sind verfassungsgeschichtlich deutlich älter als das Grundgesetz. 363 „[Allgemeine und direkte Wahlen mit geheimer Abstimmung" wurden bereits in Art. 20 der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 gewährleistet, 364 und die Wahlrechtsgrundsätze waren in ihrem heutigen Umfang dann in Art. 22 in Verbindung mit Art. 125 WRV enthalten. 365 Anders als bei jüngeren Gewährleistungen, deren Reichweite im Einzelfall weniger trennscharf abgegrenzt sein mag, ist das Wahlrecht in seinen Grundzügen deshalb heute inhaltlich recht stark verfestigt. Zudem ist es als ein auf ein staatliches Verfahren bezogenes Recht auch weniger abhängig von technischen oder gesellschaftlichen Veränderungen als etwa die Grundrechte der Presse- und Rundfunk- bzw. Meinungsfreiheit. Letztere sind geradezu darauf angelegt, auch neue Entwicklungen zu erfassen und grundrechtlich aufzufangen, 366 und erlauben deshalb auch eine offenere Schutzbereichsinterpretation als beim geschichtlich geprägten Wahlrecht. Zum anderen betreffen die in der Literatur genannten Beispiele eines erweiterten Schutzbereichs auch vielfach Grundrechtsnormen, die zugleich zu einer Einrichtungsgarantie verfestigt sind und so einen besonderen Schutz vor staatlichen Eingriffen genießen. 367 Das gilt nach wohl allgemeiner Ansicht für die Art. 6 und 14 G G 3 6 8 und nach der Rechtsprechung des Bun362

Oben Β. I. 2. Siehe zu den früheren deutschen Verfassungen deren Textabdruck bei v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 38, vor Rz. 1; zur geschichtlichen Entwicklung auch Morlok, in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 1 ff. 364 v. Münch, a. a. Ο. 365 Morlok in Dreier, GG, Art. 28, Rz. 12. 366 Zu diesem Aspekt insbesondere der Rundfunkfreiheit siehe etwa Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. I und II, Rz. 216 ff. 367 Dazu Stern, in HdBStR V, § 109, Rz. 52; kritisch zu den Einrichtungsgarantien Waechter, Die Verwaltung 1996, 47 ff.: „dogmatische Fossilien". 368 Zur Institution „Ehe" siehe etwa Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 6, Rz. 6; zur Einrichtungsgarantie des Eigentums Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rz. 11, m.w.N. 363

206

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

desVerfassungsgerichts auch für die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 G G . 3 6 9 Hier steht der objektiv-rechtliche Gehalt der Institutsgarantie neben dem subjektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt und unterstützt dessen Wirkung zusätzlich. 3 7 0 Eine derartige doppelte Absicherung ist für die Verbürgung des Wahlrechts nicht ersichtlich; hier ist - neben der stets vorhandenen - objektiv-rechtlichen Wirkung der Grundrechte 371 nur der subjektiv-rechtliche Schutz der Wahltätigkeit gegeben. Ferner ist der Wortlaut beim Wahlrecht enger. Während eine freie Presse und eine freie Rundfunkberichterstattung ebenso wie das Eigentum vom grundgesetzlichen Normtext „gewährleistet" werden und die Ehe ausdrücklich sogar „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" steht, heißt es beim Wahlrecht lediglich, die Abgeordneten würden nach einer bestimmten Grundsätzen genügenden Wahl gewählt. Aus den beiden erstgenannten Formulierungen kann problemlos auf eine Tätigkeit des Staats geschlossen werden, die über ein rein formales Nichtantasten des Schutzbereichs hinausgeht, da sowohl in der „Gewährleistung" als auch in dem „besonderen Schutze" ein aktives, positives und förderndes Handeln des Staats enthalten ist. Eine materiell-rechtliche Anreicherung ist dort bereits vom Wortlaut her leichter zu begründen als bei dem in Art. 38 Abs. 1 GG nur formal angesprochenen Wahlrecht, bei dem derartiges in keiner Weise angelegt ist. Alle diese Unterschiede sprechen ebenfalls dafür, beim Wahlrecht mit höherer Vorsicht an eine Ausweitung des grundrechtlich geschützten Bereichs zu denken, als dies bei den beispielhaft zitierten Einrichtungsgarantien gerechtfertigt sein mag. 4. Die fehlende inhaltliche Begründung einer Schutzbereichserweiterung Wie schließlich gerade die Betrachtung der dem Maastricht-Urteil nachfolgenden Dogmatisierungsversuche gezeigt hat, bedürfte ein Bruch mit der überkommenen Auslegung des Wahlrechts ferner einer besonderen inhaltlich-dogmatischen Begründung. 372 Eine solche wird jedoch auch durch das Postulat eines angemessenen Schutzbereichs nicht erbracht, zumal, wie 369

Für diesen Charakter der Pressefreiheit BVerfG, Teilurteil vom 5.8.1966, BVerfGE 20, 162 (175); BVerfG, Beschluß vom 25.1.1984, BVerfGE 66, 116 (133); ähnlich auch BVerfG, Beschluß vom 6.6.1989, BVerfGE 80, 124 (133), a.A. etwa Stern, in HdBStR V, § 109, Rz. 53. 370 Vgl. Stern, a.a.O., Rz. 52; siehe auch Waechter, Die Verwaltung 1996,47 (51). 371 Dazu Stern, StaatsR III/l, S. 890 ff. 372 Zur Kritik am Maastricht-Urteil, dort fehle eine grundlegende dogmatische Begründung der neuen Auslegung des Art. 38 GG, siehe oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. I.

3. Kap.: Lösungsvorschlag: Erweiterung des Eingriffsbegriffs

207

oben dargelegt, 373 dessen Vertreter möglicherweise nur ein von vornherein erwünschtes Ergebnis begründen wollen. In diesem Sinne würde sich auch eine Argumentation mit der Zielvorstellung größtmöglicher Wirkungskraft der Grundrechte dem Vorwurf „eines hohen verfassungspolitischen Impet u s " 3 7 4 aussetzen. Zwar wäre eine Argumentation mit einem erweiterten Eingriffsbegriff von diesem Begründungserfordernis ebenfalls nicht frei. Andererseits ist aber nicht zu verkennen, daß hierbei eher allseits konsentierte Strukturen und Argumentationsmuster fruchtbar gemacht werden. Denn, wie oben dargelegt, 375 handelt es sich bei der Figur des indirekten Grundrechtseingriffs - jedenfalls für den Bereich der Abwehrrechte - um grundrechtsdogmatisches Allgemeingut, und für die Übertragung auf das Gebiet des Wahlrechts sprechen sowohl die in Rechtsprechung und Literatur bereits behandelten Fallgruppen als auch der dortige Sprachgebrauch als auch allgemeine dogmatische Erwägungen. Damit stellt der Rückgriff auf den erweiterten Eingriffsbegriff letztlich weniger eine mit einem Begründungszwang belastete Neuerung als vielmehr den Transfer einer bereits anerkannten Argumentationsfigur dar. 5. Die „größere Aufrichtigkeit"

einer Eingriffserweiterung

Des weiteren ist der folgende Gesichtspunkt zu berücksichtigen: Bei einer Erweiterung des Schutzbereichs würde zunächst mehr vom Schutzbereich erfaßt, als dann im Ergebnis tatsächlich geschützt werden könnte. Denn der Schutzbereichsausdehnung müßte auch eine Schrankenerweiterung korrespondieren. Dadurch könnte, zugespitzt formuliert, dem Grundrechtsträger zunächst mehr versprochen werden, als dann im Ergebnis zu halten wäre. Diese Technik mag man als übliche Form der Abschichtung von Grundrechtsfragen begrüßen. 376 Nicht zu verkennen ist aber, daß dadurch übersteigerte Erwartungen in den tatsächlichen Schutzumfang geweckt werden können. Denn ebensowenig wie im Bereich der allgemeinen Handlungsfreiheit tatsächlich letztlich jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt - insoweit zieht die verfassungsmäßige Ordnung ja zu Recht umfassende Grenzen - , dürfte im Ergebnis jede Kompetenzverlagerung des Bundestags bereits als eine Beeinträchtigung des Wahlrechts gewertet werden. Demgemäß scheint es dogmatisch aufrichtiger, den Schutzbereich nicht zu weit zu fassen 373

Zur insoweit erhobenen Kritik am bundesverfassungsgerichtlichen MaastrichtUrteil oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. 374 So Pauly, AöR 123 (1998), 232 (281), zu dem Ansatz von Epiney; dazu oben 4. Teil, 6. Kapitel, D. II. 375 Oben Β. I. 2. 376 Derartiges klingt an bei Sachs, in Stern, StaatsR III/2, S. 221.

208

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

und diese Erweiterung dann durch enge Schranken sogleich wieder zurückzunehmen. Sondern es ist vorzuziehen, den überkommenen Schutzbereichsumfang beizubehalten und auf der Eingriffsebene anzuerkennen, daß auch indirekte Beeinträchtigungen diese Gewährleistung entwerten können. 6. Die klarere Konturierung

des erweiterten

Eingriffsbegriffs

Angesichts der geschilderten Bedenken gegen eine Schutzbereichserweiterung beim Wahlrecht verdient schließlich der Aspekt der dogmatischen Aufarbeitung noch einmal besondere Hervorhebung. M i t der Figur des erweiterten Eingriffsbegriffs steht ein rechtlich-dogmatisch ausgearbeitetes und zumindest in den Grundzügen mittlerweile unstreitiges Rechtsinstitut zur Verfügung, das zur Bewältigung der vorliegenden Fragestellung allein schon aus diesem Grunde besser geeignet erscheint. Für die Antwort auf die Frage, wann eine indirekte Beeinträchtigung vorliege, kann, wie bereits gezeigt, auf eine umfangreiche Rechtsprechung und Literatur zurückgegriffen werden. Das Argument größerer Rationalität der getroffenen Entscheidung, das für die Schutzbereichserweiterung sprechen könnte, 3 7 7 verfängt nicht, da nach beiden Ansätzen die Frage, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, letztendlich irgendwie entschieden werden muß; insoweit geht es bei der Entscheidung für die eine oder andere Ansicht lediglich um die Frage des Prüfungsstandorts. Und der Punkt, ob die Schutzbereichserweiterung der bundesverfassungsgerichtlichen Konzeption im Maastricht-Urteil entspricht, ist letzten Endes unerheblich, da dort, wie gezeigt, 378 eine Begründung gerade ausgeblieben und nunmehr erst zu entwickeln ist. Ungeachtet aller Unschärfen am Rande, insbesondere für die oben 3 7 9 erwähnten Grenzfälle, in denen fraglich sein mag, ob eine Beeinträchtigung schon zu bejahen oder gerade noch zu verneinen ist, ist die Erweiterung des Eingriffsbegriffs damit zumindest für die Fälle gravierender Grundrechtsberührung hinreichend klar konturiert. Deshalb kann mit diesem Instrument dogmatisch sauber gearbeitet werden. Im Unterschied zu den Schutzbereichserweiterungen läßt es sich auch unschwer mit dem derzeitigen Stand der Grundrechtsdogmatik vereinbaren und stößt dementsprechend auf keine grundlegenden Bedenken.

377 378 379

Vgl. Isensee, Redebeitrag, in WDStRL 57, 109. Oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. I. Oben Β. I. 2. b. (2). (c).

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

209

ΠΙ. Ergebnis der Abwägung Damit ist im Ergebnis die Lehre von der Schutzbereichserweiterung in allen ihren Varianten hier nicht zugrunde zu legen. Vielmehr ist der erweiterte Eingriffsbegriff im Grundsatz auch auf dem Gebiet des Wahlrechts anzuwenden. 4. Kapitel

Die parlamentarische Kompetenzabgabe als indirekte Wahlrechtsbeeinträchtigung Wendet man nun die oben abstrakt dargestellten Grundsätze auf die vorliegend zu untersuchende konkrete Konstellation an, so könnte sich die Abgabe von Kompetenzen durch den Bundestag als eine indirekte Beeinträchtigung des Wahlrechts darstellen. Insoweit wurde bereits ausgeführt, 380 daß ein unmittelbarer Eingriff in den Schutzbereich des Wahlrechts (nach überkommenem Verständnis) darin nicht gesehen werden kann. Auf der anderen Seite ging das Bundesverfassungsgericht in dem Maastricht-Urteil und den Euro-Entscheidungen - und mit ihm ein Teil des Schrifttums davon aus, daß das Wahlrecht dadurch doch „irgendwie" betroffen ist. 3 8 1

A. Die fehlende Mittelbarkeit des Eingriffs Allerdings wird man bei genauerer Analyse nicht von einem mittelbaren Eingriff 3 8 2 ausgehen können. Denn der Anknüpfungspunkt einer eventuellen Beeinträchtigung kann allein in der Kompetenzabgabe durch den Bundestag, mithin in einem unmittelbaren staatlichen Verhalten, liegen. Eine Mittelbarkeit im Sinne eines Zwischenschritts zwischen staatlicher Handlung und (etwaiger) Grundrechtsbeeinträchtigung liegt damit nicht vor.

B. Die Einstufung als faktischer Eingriff Jedoch könnte ein faktischer Eingriff gegeben sein. Denn zumindest bei weitreichenden Kompetenzabgaben durch den Bundestag würden sich die Rahmenbedingungen und das „soziale Umfeld", der „soziale Sinngehalt" 380

Oben 3. Kapitel, A. Selbst Bieber räumt in der von ihm verfaßten Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments (vom 29.3.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 472) ein, daß die Effizienz des Wahlrechts „indirekt vermindert" sein könnte. 382 Im Sinne der hier verwendeten Terminologie. 381

14 Soppe

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

210

des Wahlrechts verändern. Wahlen wären, jedenfalls bei einer (nahezu) vollständigen Entleerung der Bundestagsbefugnisse, dann im Ergebnis sinnl o s : 3 8 3 Weder könnte der Wahlberechtigte weiter an der demokratischen Legitimation der übrigen Staatsorgane teilhaben, wenn diese nicht mehr vom Parlament bestellt und diesem gegenüber nicht mehr verantwortlich wären. Noch besäße er mit dem Wahlrecht weiterhin die Möglichkeit, jedenfalls mittelbar seine politischen Vorstellungen für den Bereich des staatlichen Handelns einzubringen. Die Wahlentscheidung bliebe (weitgehend) ohne Auswirkungen und liefe damit leer.

I. Weitere Fälle einer Sinnentleerung grundrechtlicher Positionen Gerade für derartige Konstellationen, in denen staatliches Handeln die Grundrechtsausübung zwar formal nicht behindert, aber der Sache nach entwertet, ihr also den Sinn nimmt und sie damit leerlaufen läßt, ist das Vorliegen eines faktischen Eingriffs in Rechtsprechung und Literatur verschiedentlich anerkannt worden. 1. Art. 14 GG und die Figur des enteignenden Eingriffs Eine erste Fallgruppe läßt sich für das Gebiet der Eigentumsgewährleistung nachweisen. Die Eigentumsgarantie kann nämlich nach allgemeiner Ansicht nicht nur durch ziel- und zweckgerichtete Eingriffe - Enteignungen i m Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG - beeinträchtigt werden, sondern auch durch unbeabsichtigte oder sogar unvorhersehbare Nebenwirkungen staatlichen Handelns. 3 8 4 Derartige enteignende Eingriffe zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, daß sie, ohne eine eigentumsrechtlich geschützte Position formal zu entziehen, so nachhaltig auf diese einwirken, daß diese entwertet wird oder zumindest an Wert verliert. 3 8 5 Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 386 sind etwa schädigende Auswirkungen staatlicher Bautätigkeit an Straßen, 387 U-Bahnanlagen 388 oder Denkmälern, 389 insbesondere durch diese Arbeiten verur383

Ähnlich im Ergebnis, wenn auch mit anderer Begründung Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (569); Schröder, DVB1. 1994, 316 (319). 384 Vgl. oben 3. Kapitel, Β. I. 2. 385 Vgl. nur Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rz. 695. 386 Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 228, attestiert dem BGH eine VorreiterTolle bzw. „Initiativfunktion" für die Durchsetzung der Erkenntnis in der Rechtsprechung, daß der klassische Eingriffsbegriff nicht derjenige des Grundgesetzes sein kann. 387 Vgl. BGH, Urteil vom 30.4.1964, MDR 1964, 656 f.; BGH, Urteil vom 10.11.1977, BGHZ 70, 212 (221 ff.).

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

211

sachte Behinderungen des Zugangs zu Gewerbebetrieben, die deshalb Umsatzrückgänge erleiden. Eine weitere Fallgruppe sind hoheitliche Immissionen, beispielsweise Geräuschimmissionen durch den Betrieb eines Militärflughafens, 390 Geruchsimmissionen durch eine kommunale Kläranlage 391 oder auch Staub- und Schmutzimmissionen beim Bau einer Fußgängerpassage, durch welche die Waren eines Kaufhauses verschmutzt werden. 3 9 2 Als ein Sonderfall sind hier auch die Verkehrsimmissionen zu nennen, die von einer öffentlichen Straße ausgehen und auf die anliegenden Grundstücke einwirken. 3 9 3 Die genannten Fälle haben gemeinsam, daß die rechtlich-formale Zuordnung der „irgendwie" betroffenen Eigentumsposition nicht berührt ist: Den Berechtigten bleiben ihre Rechte (theoretisch) voll erhalten. Jedoch wird in verschiedener Weise tatsächlich auf die Eigentumsposition eingewirkt: Im ersten Fall ist der Zugang nurmehr beschränkt gewährleistet; im zweiten Fall ist ein Grundstück Immissionen ausgesetzt, die seine Verwertbarkeit für Eigennutzung oder Vermietung bzw. Verpachtung empfindlich einschränken. Und für den Fall der Verkehrsimmissionen gilt das gleiche, wenn auch mit der Besonderheit, daß die eigentlichen Störungen erst durch den - privaten - Verkehr geschehen, der seinerseits aber wiederum Folge der hoheitlichen Widmung ist. Damit sind bereits Konstellationen angesprochen, in denen ein staatliches Handeln indirekt den „Sinngehalt" eines Grundrechts entwertet. 394 Denn rechtslogisch ist die formal gewährleistete Position, das Eigentum, zum Beispiel an einer Sache, dogmatisch streng von deren Wert zu trennen. 3 9 5 Zum einen erfaßt der Eigentumsbegriff des Art. 14 GG nach herr388 Vgl. BGH, Urteil vom 5.7.1965, NJW 1965, 1907 ff.; BGH, Urteil vom 20.12.1971, BGHZ 57, 359 ff. 389 Vgl. BGH, Urteil vom 26.9.1975, DVB1. 1977, 34 f. 390 Vgl. BGH, Urteil vom 10.11.1972, BGHZ 59, 378 ff.; BGH, Beschluß vom 30.1.1986, NJW 1986, 2423 f.; BGH, Urteil vom 25.3.1993, BGHZ 122, 76 ff.; BGH, Urteil vom 16.3.1995, BGHZ 129, 124 ff. 391 Vgl. BGH, Urteil vom 29.3.1984, BGHZ 91, 20 ff. 392 Vgl. BGH, Urteil vom 5.7.1971, DVB1. 1972, 115 ff. 393 Vgl. dazu BGH, Urteil vom 20.3.1975, BGHZ 64, 220 ff.; BGH, Urteil vom 6.2.1986, BGHZ 97, 114 ff.; BGH, Urteil vom 17.4.1986, NJW 1986, 2421 ff. 394 Im durchaus buchstäblichen Sinne einer „Ent-Wertung". 395 Das BVerfG, Beschluß vom 15.7.1981, BVerfGE 58, 300 (323), unterscheidet insoweit zwischen einer „Bestands-" und einer „Wertgarantie"; zustimmend Böhmer, NJW 1988, 2561 (2563 f.); ähnlich Leisner, in HdBStR VI, § 149, Rz. 81 f.; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rz. 8 ff. Die dort jeweils genannten Fallkonstellationen betreffen allerdings Enteignungen im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG, bei denen der hier vorzustellende Aspekt zumeist nicht ganz so deutlich sichtbar wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht etwa, wie 14*

212

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

sehender Auffassung nämlich nur das Eigentum im Sinne der formalen Zuordnung eines konkreten Gegenstandes 396 zu einem Rechtssubjekt. Das - wirtschaftlich zu ermittelnde - Vermögen, mithin der ökonomische Wert aller einer Person gehörenden Gegenstände, wird nicht geschützt. 397 Diese Differenzierung zeigt sich zum anderen auch in der strikten zivilrechtlichen Trennung zwischen (primären) Herausgabeansprüchen einerseits und (sekundären) Schadensersatzansprüchen andererseits. Der Eigentümer kann von dem Besitzer seiner Sache zunächst nur deren Herausgabe verlangen, § 985 BGB. Erst wenn diese nicht (mehr) möglich ist, kann Schadensersatz nach §§ 989 ff. BGB begehrt werden. Wenn nun aber die rechtliche Zuordnung eines Gegenstandes zu einer Person durch ein staatliches Handeln nicht berührt wird, bleibt die eigentumsrechtliche Gewährleistung, strenggenommen, unangetastet. Der Eigentümer behält (auf dem Papier) seine Position; er kann (theoretisch) weiterhin, wie es § 903 Satz 1 BGB formuliert, „mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen". In den genannten Beispielen könnten etwa die Anlieger weiterhin ihre Gewerbe betreiben, weiterhin auf ihren Grundstücken wohnen oder diese weiterhin vermieten. Die allgemeine Ansicht, 3 9 8 die trotz dieses Befundes - zu Recht - eine Beeinträchtigung der Eigentumsgewährleistung durch einen enteignenden Eingriff bejaht, kann sich darum aus logischen Gründen nicht darauf beschränken, auf die Gewährleistung einer formalen Eigentumszuordnung abzustellen. Vielmehr muß sie den materiellen Gehalt des Eigentums in ihre Betrachtung einbeziehen. Erst indem auf den Sinn und Zweck, den sozialen

in seinem Urteil vom 10.3.1981, BVerfGE 56, 249 (260), die hoheitlich angeordnete Belastung privater Grundstücke mit Dienstbarkeiten zugunsten der öffentlichen Hand als Enteignungen gemäß Art. 14 Abs. 3 GG ansieht, da dem Eigentümer hierdurch Befugnisse entzogen würden, ist die rechtliche Begründung nicht ganz eindeutig. Einerseits könnte man hierin ein Abstellen auf den Sinngehalt des Eigentums sehen, da die formalrechtliche Position des Grundeigentums nach dem zivilrechtlichen Sachenrecht nicht entzogen, sondern lediglich belastet wird (hierauf weist Leisner, a.a.O., Rz. 169, hin). Andererseits ist nicht zu übersehen, daß auch rechtlich die Position des Eigentümers geschmälert wird, da sein Grundeigentum, aus dem Grundbuch für jedermann ersichtlich, eben mit einer Dienstbarkeit belastet und insoweit auch de iure eingeschränkt ist. Für die Veranschaulichung der hier vertretenen These einer Berücksichtigung des eigentumsbezogenen Sinngehalts durch die Betrachtung der rein tatsächlichen Gegebenheiten sind daher die Fälle des enteignenden Eingriffs besser geeignet, da bei ihnen eine „auch-rechtliche" Beschwer nicht gegeben ist. 396 Im Sinne von Sachen und Rechten. 397 Siehe nur Bryde, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 14, Rz. 23, m.w.N. 398 Siehe neben der bereits dargestellten Rechtsprechung aus dem Schrifttum etwa Papier, in HdBStR VI, § 157, Rz. 65; Ossenbühl, StaatshaftungsR, S. 276; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rz. 699.

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

213

Sinngehalt des Eigentums abgestellt wird, läßt sich die Figur des enteignenden Eingriffs rechtfertigen. Dieser soziale Sinngehalt des Eigentums liegt nun, deutlich erkennbar, in der Tatsache, daß sich Eigentumspositionen, jedenfalls in aller Regel, dadurch auszeichnen, daß sie nicht nur um ihrer selbst willen bestehen, sondern - vor allem oder zumindest zugleich - einen bestimmten Nutzen haben und in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung auch einen bestimmbaren wirtschaftlichen Wert besitzen. 399 Bei den Wirtschaftsgütern ist das offensichtlich, aber auch bei fast allen sonstigen Gegenständen wird allgemein davon ausgegangen, daß sie einen objektiv ermittelbaren Wert „am Markt" haben. Auf dieser Annahme beruht das gesamte Schadensersatz- und Entschädigungsrecht; 400 eine bloße Geldzahlung als Ersatz oder Entschädigung wäre sonst nicht zu rechtfertigen. 401

399

Damit soll nicht behauptet werden, daß jeder Gegenstand nur um seines finanziellen Wertes willen geschätzt würde und nur aus seinem „Preis" sein „Wert" abzuleiten wäre. Selbstverständlich gibt es eine Unzahl von eigentumsrechtlichen Positionen, deren „Wert" für ihren Inhaber gerade nicht in ihrem „Preis" (im Sinne von „Marktwert") besteht, sondern die aus anderen Gründen geschätzt werden, seien diese etwa religiöser Art oder hervorgerufen durch persönliche Zuneigung oder auch nur Sammelleidenschaft oder Sentimentalität. Derartige ideelle Gründe werden im Zivilrecht mit dem leicht pejorativ mißzuverstehenden Begriff des „Affektionsinteresses" gekennzeichnet. Die vorliegende Betrachtung kann sich aber auf diejenigen Fälle beschränken, in denen eine Eigentumsposition auch einen „objektiven", d.h. einen am Markt ermittelbaren wirtschaftlichen Wert hat. Dies ergibt sich daraus, daß die Annahme eines enteignungsgleichen Eingriffs stets als Vorfrage einer finanziellen Entschädigung erfolgt. Mit anderen Worten: In den Fällen, in denen ein enteignender Eingriff angenommen wird, ist das Ziel der Kläger gerade, eine finanzielle Entschädigung zu erlangen. In den Fallgruppen rein ideellen Wertes geht es demgegenüber nicht um eine derartige Entschädigung. Damit taucht der Begriff des enteignungsgleichen Eingriffs von vornherein nur in solchen Konstellationen auf, in denen der Ersatz eines wirtschaftlichen Nachteils gefordert wird. 400 § 249 Satz 1 BGB scheint hier mit dem dort enthaltenen Grundsatz der Naturalrestitution entgegenzustehen. Danach müßte ein Schädiger ja den ursprünglichen Zustand als solchen wiederherstellen, ohne daß hierfür - z.B. bei der Beschädigung einer in fremdem Eigentum stehenden Sache - eine bloße Geldzahlung ausreichen würde. Jedoch wird § 249 Satz 1 BGB durch § 249 Satz 2 und §§ 250 ff. BGB vielfach verdrängt und in der Praxis ohnehin kaum angewendet (so, statt aller, Larenz, SchuldR I, § 28 II a.E.). 401 Als Beleg wäre gegebenenfalls noch an den sozialen Sinn eines Kaufvertrages - Übereignung eines Gegenstandes gegen den Erhalt eines durch den Kaufpreis verkörperten Wertes - zu denken. Hierbei besteht allerdings die Besonderheit, daß sich die Vertragspartner einig darüber sind, daß der Verkaufsgegenstand einen bestimmten wirtschaftlichen Wert hat. Die Beispiele aus dem Schadensersatz- und Entschädigungsrecht zeigen indes, daß einem Gegenstand ein wirtschaftlicher Wert auch ohne oder sogar gegen den Willen des Eigentümers zugemessen werden kann.

214

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Für die Fallgruppe des enteignenden Eingriffs bedeutet das, daß erst die Betrachtung dieses wirtschaftlichen Wertes für den Eigentümer den Blick auf die beeinträchtigende Qualität des staatlichen Handelns eröffnet. Erst dadurch, daß hier eine Beeinträchtigung des sozialen Sinngehalts der rechtlichen Eigentumsgewährleistung angenommen wird, läßt sich eine indirekte Beeinträchtigung des Eigentums bejahen, denn formal-juristisch ändert sich, wie gezeigt, an der Eigentumslage gerade nichts. 2. Art. 12 GG und die Erhebung erdrosselnder

Abgaben

Eine andere Fallgruppe, in der die Rechtsprechung und ihr folgend die ganz herrschende Lehre unbefangen auf den sozialen Sinngehalt eines Grundrechts abstellen, findet sich in dem Bereich der Berufsfreiheit. Auch hier wird in bestimmten Fällen eine Beeinträchtigung bejaht, obwohl nicht die Freiheitsgewährleistung als solche, sondern ausschließlich deren praktischer Sinngehalt betroffen ist. So wandte sich in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ein Gastwirt gegen seine Heranziehung zu einer kommunalen Schankerlaubnissteuer, die er entrichten sollte, als ihm die zuständige Behörde die Erlaubnis zur Eröffnung einer Gastwirtschaft erteilte. Er rügte, die Erhebung dieser Steuer stelle „einen »motivationsbestimmenden4 Eingriff in das Recht auf freie Berufswahl" dar, der ihm den Zugang zum Beruf des Gastwirts zwar nicht unmittelbar versperre, aber doch durch die Verknüpfung mit finanziellen Nachteilen erheblich erschwere. 402 Das Bundesverfassungsgericht lehnte im Ergebnis eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG ab, bejahte aber ausdrücklich eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit: „Eine Steuernorm, die an die Erlangung der Erlaubnis zur Ausübung eines bestimmten Berufes anknüpft, kann an Art. 12 Abs. 1 GG gemessen werden. [...] Der Schutz des Einzelnen vor Beschränkungen seiner freien Berufswahl wäre [...] nur unvollkommen gewährleistet, wollte man nur solche Vorschriften am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich prüfen, die die berufliche Betätigung unmittelbar zum Gegenstand haben. Der besondere Freiheitsraum, den Art. 12 Abs. 1 GG sichern will, kann auch durch Vorschriften berührt werden, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Freiheit der Berufswahl mittelbar zu beeinträchtigen, obwohl sie keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter tragen. Auch steuerliche Vorschriften können solche Wirkungen nach sich ziehen. Sie sind an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, wenn sie infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes stehen und - objektiv - eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lassen."403 Eine „Rückwirkung auf die freie Berufswahl" sei allerdings, was für den dortigen Fall verneint wurde, erst gegeben, wenn eine Steuer es ihrer objek402 403

BVerfG, Beschluß vom 30.10.1961, BVerfGE 13, 181 (183). BVerfG, a.a.O. (184 ff.).

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

215

tiven Gestaltung und Höhe nach den von ihr betroffenen Berufsbewerbern in aller Regel wirtschaftlich unmöglich mache, „den gewählten Beruf zur Grundlage ihrer Lebensführung zu machen". 4 0 4 In einer späteren Entscheidung hat das Gericht dies anschaulich als „Mißbrauch" bezeichnet, „wenn das Steuergesetz dem ihm begrifflich zukommenden Zweck, Steuereinnahmen zu erzielen, geradezu zuwiderhandelte, indem es ersichtlich darauf ausginge, die Erfüllung des Steuertatbestands praktisch unmöglich zu machen, also in diesem Sinne eine »erdrosselnde* Wirkung auszuüben". 405 Der Bundesfinanzhof hat sich in mehreren zoll- und abgabenrechtlichen Verfahren der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen. 4 0 6 Verschiedene Verwaltungsgerichte haben für dieses Rechtsgebiet die Interpretation ebenfalls übernommen, 407 und auch das Bundesverfassungsgericht hat seine Auffassung in diesem Bereich wiederholt bestätigt. 408 Darüber hinaus hat diese Rechtsprechung auch im Schrifttum breite Zustimmung gefunden. 409 Allen diesen Entscheidungen ist gemeinsam, daß in den ihnen zugrundeliegenden Fällen eine unmittelbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit nicht gegeben war. Weder hatte der Staat Hürden gegen den Zugang zu einem bestimmten Beruf errichtet, noch war unmittelbar die Ausübung der beruflichen Tätigkeit geregelt worden. Der Einzelne konnte trotz der Steuerund Abgabenpflicht seinen Beruf (theoretisch) frei wählen und ausüben. 410 Die Rechtsprechung hat jedoch zu Recht im Grundsatz anerkannt, daß eine Abgabe, die eine „erdrosselnde Wirkung" aufweist, eine Beeinträchtigung 404

BVerfG, a.a.O. (187). BVerfG, Urteil vom 22.5.1963, BVerfGE 16, 147 (161). 406 Siehe etwa BFH, Urteil vom 10.7.1968, NJW 1969, 388 (391); BFH, Beschluß vom 21.2.1990, BStBl. 1990 II, 510 (513 f.); BFH, Urteil vom 25.6.1996, BStBl. 1997 II, 202 (206), m.w.N.; BFH, Urteil vom 26.6.1996, BStBl. 1996 II, 538 (541). 407 Siehe nur OVG Münster, Beschluß vom 22.2.1989, NVwZ 1989, 588 (589); BVerwG, Beschluß vom 9.9.1992, Az.: 8 Β 70/92, zitiert nach BVerfG, NVwZ 1997, 573 (574); jeweils zu kommunalen Spielautomatensteuem. 408 BVerfG, Beschluß vom 17.7.1974, BVerfGE 38, 61 (85 f.), zur Besteuerung des Güterfernverkehrs; BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluß vom 1.3.1997, NVwZ 1997, 573 (575), zur Spielautomatensteuer, m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 11.10.1977, BVerfGE 47, 1 (21), zur steuerlichen Behandlung der Aufwendungen für Haushaltshilfen, m.w.N.; BVerfG, Beschluß vom 7.11.1995, BVerfGE 93, 319 (351 f.), zu landesrechtlichen Wasserentnahmeabgaben. 409 Siehe beispielsweise Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rz. 415 f.; Bleckmann, StaatsR II, § 33, Rz. 55 ff.; Rittstieg, in AK-GG, Art. 12, Rz. 110; Tettinger, in Sachs, GG, Art. 12, Rz. 72 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 12, Rz. 23, m.w.N. 410 In den entschiedenen Fällen konnte er es, nebenbei bemerkt, auch in tatsächlicher Hinsicht noch, da die jeweils angegriffene finanzielle Belastung nicht hoch genug war, um ein ernsthaftes Hindernis darzustellen. 405

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

der Berufsfreiheit darstellt. Denn der Sinn der Berufsfreiheit liegt darin, daß der Einzelne frei entscheiden können soll, welche Tätigkeit er „zur Grundlage seiner Lebensführung" machen w i l l . 4 1 1 Ähnlich wie bei der Eigentumsgewährleistung der Sinngehalt in dem wirtschaftlichen Wert der Eigentumspositionen und dessen Nutzbarkeit liegt, 4 1 2 besteht der soziale Sinn der Berufsfreiheit darin, dem Einzelnen die Möglichkeit zum eigenverantwortlichen Erwerb des Lebensunterhalts zu geben. Diese Freiheit liefe aber leer, wenn der Beruf nicht sinnvoll ausgeübt werden könnte, weil der dabei erwirtschaftete Gewinn (nahezu) vollständig durch Abgaben entzogen werden würde. Das Individuum wäre zwar frei, seinen Beruf auszuüben. Von dieser Freiheit hätte es aber im Ergebnis keinen Nutzen, da der Staat ihm seinen Gewinn (weitgehend) wieder entziehen würde. Der Einzelne könnte seinen Lebensunterhalt dann (unterstelltermaßen) nicht mehr erzielen, unabhängig davon, ob er seinen Beruf nun tatsächlich ausüben würde oder nicht. Die Entscheidung über die Berufsausübung wäre damit ihres sozialen Sinngehalts beraubt, und die dem Einzelnen grundgesetzlich gewährte Freiheit liefe leer; sie wäre nicht sinnvoll nutzbar. 3. Art. 12 GG und die wirtschaftliche Verhinderung des Arbeitsplatzwechsels Dieser für das Gebiet der Abgabenpflicht entwickelte Gedankengang läßt sich auch in anderen Bereichen der Berufsfreiheit nachweisen. So hat die Rechtsprechung eine faktische Beeinträchtigung der Berufsfreiheit angenommen, wenn aufgrund bestimmter Regelungen ein Arbeitnehmer für den Fall eines Arbeitsplatzwechsels gravierende wirtschaftliche Nachteile zu erwarten hätte. In einer jüngeren Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Regelung über die betriebliche Altersversorgung wegen Verstoßes unter anderem gegen Art. 12 Abs. 1 GG für nichtig. In dem zugrundeliegenden F a l l 4 1 3 enthielt das Gesetz die Bestimmung, daß bei Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die vorzeitig aus dem Dienstverhältnis ausschieden, die Höhe einer bis dahin erdienten Versorgungsanwartschaft anders als bei sonstigen Arbeitsverhältnissen zu ermitteln sei. Durch diese Berechnungsweise 414 hätten Arbeitnehmer zum Beispiel bei Ableistung von dreißig Dienstjahren mit anschließender eigener Kündigung nur eine Zusatzrente von lediglich 12% des letzten Gehalts erhalten, während 411

BVerfG, Urteil vom 11.6.1958, BVerfGE 7, 377 (397); zustimmend etwa Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rz. 18. 412 Dazu oben 1. 413 Sachverhalt nach BVerfG, Beschluß vom 15.7.1998, BVerfGE 98, 365 (367 ff.).

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

217

sie bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses erst mit Erreichen der Altersgrenze einen Anspruch auf eine Versorgung in Höhe von etwa 60% gehabt hätten. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin einen Eingriff in Art. 12 GG. Denn wenn im Falle vorzeitigen Ausscheidens dieser Arbeitnehmer aus dem öffentlichen Dienst die Versorgungsanwaltschaften nur einen Bruchteil dessen betrügen, was die Beschäftigten nach einem Ausscheiden erst bei Erreichen der Altersgrenze zu bekommen hätten, beeinträchtige dies die Arbeitnehmer faktisch in ihrer freien Wahl des Arbeitsplatzes. Hierdurch würden sie tatsächlich an der Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses gehindert, da sie anderenfalls erhebliche Einbußen ihrer Altersversorgung - teilweise in der Größenordnung mehrerer Jahresgehälter - hinzunehmen hätten, die mit fortgeschrittenem Alter auch nicht mehr zu kompensie415

ren waren. Auf dieser Linie sieht das Bundesarbeitsgericht - ohne daß dies wegen der hier auftretenden Problematik der Drittwirkung der Grundrechte im folgenden weiter vertieft werden soll - bestimmte faktische Erschwerungen von Arbeitnehmerkündigungen, etwa durch Vertragsstrafen, Kautionsverluste, Verpflichtungen zur Rückzahlung von Ausbildungskosten, Gratifikationen oder Prämien als mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar a n . 4 1 6 Auch in diesen Fällen bleibt die Berufsfreiheit theoretisch erhalten, so daß eine Beeinträchtigung der (formalen) Gewährleistung an sich nicht zu begründen wäre. Denn der betroffene Arbeitnehmer wäre ja rechtlich nicht an einer Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gehindert. Erst die Betrachtung des „sozialen Sinngehalts" der Berufsfreiheit, erst die Erwägung, daß die Entschließung zu einem Wechsel des Arbeitsplatzes nicht per se wirtschaftlich sinnlos und damit faktisch ausgeschlossen sein darf, erschließt den beeinträchtigenden Charakter der angegriffenen Regelungen. Die Freiheit bleibt theoretisch erhalten, aber sie ist tatsächlich durch die Veränderung ihrer Rahmenbedingungen sinnlos geworden. 414

Deren technische Einzelheiten für die vorliegende Fragestellung unerheblich sind und daher nicht im einzelnen dargestellt werden; näher dazu Hanau/Goertz, ZBR 1999, 361 ff. 415 BVerfG, Beschluß vom 15.7.1998, BVerfGE 98, 365 (397 f.). Zustimmend zum Beispiel Schoden, ArbuR 1999, 149 (150); Hanau/Goertz, ZBR 1999, 361 (364 und 367 f.); siehe auch Kühling, ZRP 1999, 260. 416 Und entsprechende arbeitsvertragliche Vereinbarungen damit als nichtig gemäß § 134 BGB; siehe etwa BAG, Urteil vom 29.6.1962, BAGE 13, 168 (177 ff.); BAG, Urteil vom 24.1.1963, AP Nr. 29 zu Art. 12 GG; BAG, Urteil vom 27.7.1972, BAGE 24, 377 (382); BAG, Urteil vom 12.10.1972, AP Nr. 77 zu § 611 BGB-Gratifikation; BAG, Urteil vom 24.2.1975, WM 1975, 1093 (1094). Zustimmende Anmerkungen zu dieser Rechtsprechung finden sich etwa von Hueck, AP Nr. 25 zu Art. 12 GG; Nordemann, NJW 1963, 73 (74); wohl auch Blomeyer, AP Nr. 50 zu Art. 12 GG.

218

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts 4. Die Übertragbarkeit

auf die wahlrechtliche

Problematik

Betrachtet man nun die weitreichenden Kompetenzabgaben des Bundestags und ihre Auswirkungen auf das Wahlrecht, so werden deutliche Parallelen zu den eben zitierten Beispielen zur Eigentums- und Berufsfreiheit erkennbar. Auch hier ist das formale Wahlrecht nicht betroffen, ebensowenig die gesondert gewährleisteten Wahlgrundsätze. Jedoch wäre es im Ergebnis sinnlos, einen Bundestag zu wählen, der seine Kompetenzen politischer Gestaltungsmacht weitestgehend abgegeben hat. 4 1 7 M i t der Wahlentscheidung könnte die politische Lenkung und Führung des Staats praktisch nicht mehr beeinflußt werden. Eine in der Gesellschaft vorhandene Auffassung über den einzuschlagenden Weg der Politik könnte im Ergebnis nicht umgesetzt werden, und auch der Einzelne wäre von jeglicher Einflußnahme auf die Gestaltung zukünftiger Politik ausgeschlossen. Auch wenn dies von der überkommenen Reichweite des wahlrechtlichen Schutzbereichs selbst nicht erfaßt sein mag, ist dies doch dessen Grundlage und der soziale Sinn des Wahlrechts. 418 Denn hierdurch sollen ja nicht bloß demoskopische Daten der Zustimmung oder Ablehnung betriebener Politik abgefragt werden, an denen sich die politischen Entscheidungsträger dann orientieren könnten. Durch die Wahl soll vielmehr eine verbindliche Auswahl der mit politischer Verantwortung zu betrauenden Personen getroffen werden. Eine Selbstentmachtung des Bundestags würde gerade diesen Sinn des Wahlrechts, die (wahren) Entscheidungsträger demokratisch zu legitimieren und eine Willensbildung „von unten nach oben" zu garantieren, entstellen. Alles dies wäre nur noch formal gewährleistet, ohne daß es tatsächlich umgesetzt werden könnte. Das Wahlrecht wäre zu einer rein papiernen Veranstaltung ohne jeden sozialen Sinngehalt, zu einem „quasi nudum i u s " 4 1 9 verkommen. Auf diesen Befund ist deshalb die soeben nachgezeichnete Erkenntnis, daß die tatsächliche Sinnentleerung eine faktische Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt, anzuwenden. An der grundsätzlichen Übertragbarkeit von den abwehrrechtlichen Gewährleistungen der Eigentums- und Berufsfreiheit auf das Wahlrecht als Grundrecht des Aktivstatus bestehen aufgrund der oben 4 2 0 dargelegten Erwägungen keine Bedenken. Und für die konkrete Konstellation ist diese Übertragung durch die aufgezeigten Parallelen beider Fallgruppen gerechtfertigt. 417 Vgl. D. Grimm, Der Spiegel 43/1992, 57: „Parlamentarische Formen gewährleisten noch keine demokratische Substanz." 418 Vgl. Böckenförde, in HdBStR II, § 30, Rz. 15; vgl. auch oben 3. Teil, 1. Kapitel. 419 Bleckmann/Pieper, RIW 1993, 969 (973). 420 Oben 3. Kapitel, Β. IV.

4. Kap.: Die parlamentarische Kompetenzabgabe

219

Damit können die für die faktische Sinnentleerung anderer Grundrechtsgewährleistungen bereits anerkannten Ergebnisse auf das Wahlrecht übertragen werden. In der weitgehenden Kompetenzabgabe durch den Bundestag ist somit eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts zu sehen.

II. Sinnlose Wahlen als staatlich inszenierte Farce Hinzu kommt noch ein zusätzlicher Aspekt. Im Unterschied zu sonstigen Grundrechten würde das Wahlrecht durch eine faktische Entwertung nicht nur stillschweigend aufgegeben mit der Folge, daß eine Grundrechtsnorm in der Praxis leerliefe und durch die anderweitige Staatspraxis möglicherweise irgendwann derogiert würde. 4 2 1 Beim Wahlrecht käme noch hinzu, daß bei jedem Wahltermin diese Entwertung in das öffentliche Bewußtsein gerückt werden würde. Vor jeder Wahl würden Kandidaten ihre Vorstellungen erläutern, die politische Lage analysieren und Wahlversprechen machen, ohne daß diese realistischerweise im Rahmen ihrer späteren parlamentarischen Arbeit verbindlich umgesetzt werden könnten. Der - jedenfalls bislang 4 2 2 mit enormem logistischen und finanziellen Aufwand betriebene Wahlkampf würde augenscheinlich sinnlos und die anschließende Wahl als eine staatlich organisierte Farce empfunden werden. 423 Das wäre für die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat überaus abträglich. 424

ΠΙ. Die Veränderung des „rechtlichen Umfelds" des Wahlrechts Darüber hinaus bliebe es ferner nicht bei einer Veränderung des sozialen Umfelds der Grundrechtsausübung, wenn man unter „sozialem Umfeld" die eher tatsächlichen Bezüge des Wahlrechts zur Verfassungswirklichkeit versteht. Denn durch eine Entleerung würde, wie eine systematische Betrachtung ergibt, auch das quasi rechtliche Umfeld des Wahlrechts gestört.

421

Zu derartigem Gewohnheitsrecht siehe etwa Stern, StaatsR II, S. 581 f. Nach einer Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 2.12.1999, S. 6, gab der Bund im Jahre 1999 für die - rechtlich weitgehend auf Wahlkampfkostenerstattung basierende - Parteienfinanzierung 200,46 Mio. DM aus. Die Neue Zürcher Zeitung vom 13.1.2000, S. 5, spricht sogar von einem Gesamtbetrag von 245 Mio. DM, der für die Parteien jährlich zur Verfügung stehe, zuzüglich der Gelder für die Fraktionen und parteinahen Stiftungen. 423 Ganz ähnlich H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7): „Das Wahlrecht zu einem Deutschen Bundestag, der sämtlicher substantieller Kompetenzen entkleidet wäre, müßte von jedem Wahlberechtigten geradezu als eine Farce empfunden werden." 424 Vgl. auch Benda, in HdBVerfR, § 17, Rz. 164, zur Enttäuschung der Bürger, wenn grundgesetzlich verankerte, aber unrealistische soziale Versprechungen nicht eingehalten werden können. 422

220

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Anders als bei den Menschenrechten, deren Existenz letztlich allein der Verwirklichung der Menschenwürde dient, also - bezogen auf ihre Funktion - eindimensional zu begründen ist, dient das Wahlrecht mehreren Zwecken. Zum einen enthält es als Grundrecht ebenfalls Bezüge zur Menschenwürde. 4 2 5 Zum anderen aber - und über diese erste Dimension hinaus dient es auch der verfahrensmäßigen Umsetzung der Volkssouveränität und der Verwirklichung des Demokratieprinzips. 426 Durch die Wahlen sollen ebenso diese objektiv-rechtlichen Aspekte des Grundgesetzes realisiert werden, so daß das Wahlrecht auch hiermit eng verbunden ist. Das Wahlrecht ist also mehrdimensional begründbar: Erstens 427 zur Sicherung der Menschenwürde und zweitens zur prozeduralen Umsetzung der fundamentalen Staatsstrukturentscheidungen. Auch der letztgenannte Aspekt, die Realisierung der objektiv-rechtlichen Grundsätze der Volkssouveränität und der Demokratie, 428 entfiele durch eine faktische Entwertung des Wahlrechts. Das Volk als solches wäre nicht mehr souverän und besäße keine Teilhabe mehr an der Ausübung der Staatsgewalt. Zwar ist nicht zu verkennen, daß es sich hierbei nicht um subjektiv-rechtliche Gehalte des Wahlrechts handelt. Jedoch dürfen, wie dies bei den Abwehrrechten ebenfalls anerkannt ist, die Rahmenbedingungen des Wahlrechts nicht außer Acht gelassen werden. Dazu gehören beim Wahlrecht eben nicht „nur" Menschenwürdeaspekte, sondern darüber hinaus auch solche der Volkssouveränität und Demokratie. Eine Entwertung des Wahlrechts hätte also in dieser Hinsicht noch weitergehende Folgen als die Verletzung eines „normalen" Menschenrechts. Das spricht unter systematischen und teleologischen Aspekten ebenfalls dafür, die Eingriffsschwelle nicht höher als bei den Abwehrrechten anzusetzen.

C. Ergebnis zum 4. Kapitel Nach dem Vorgesagten handelt es sich bei der weitgehenden Abgabe von Befugnissen durch den Deutschen Bundestag somit um eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts. Hiermit wird der Schutzbereich des Wahlrechts nicht - wie es in einer Rezension zum Maastricht-Urteil hieß - „materiell demokratisch aufgela425

Diesen Aspekt betonen die Konzeptionen von Meyer und Häberle (oben 4. Teil, 4. Kapitel, A. bzw. B.). 426 Vgl. dazu Böckenförde, in HdBStR II, § 30, Rz. 15. 427 Ohne daß aus dieser Reihenfolge eine Abstufung nach der Bedeutung der Funktionen abzuleiten wäre. 428 Vgl. auch Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 18: „Das (nationale) Demokratieprinzip und die aus ihm abzuleitenden Befugnisse des Deutschen Bundestages basieren vorrangig in der Regelung des Art. 38 GG".

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

221

d e n " ; 4 2 9 erst recht nicht wird ein völlig neues Grundrecht kreiert. Stattdessen wird bei einem anerkannten Grundrecht das Augenmerk darauf gerichtet, daß Eingriffe in seinen Gewährleistungsgehalt auch durch indirekte Beeinträchtigungen erfolgen können. Das ist die neue Dimension der hier vertretenen Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG, bei der nicht der Schutzbereich ausgedehnt, sondern der Eingriffsbegriff erweitert wird. Hält man sich diesen dogmatischen Ursprung bewußt, so erscheint es aus Gründen sprachlicher Vereinfachung zulässig, diese Konstellation auch im folgenden mit dem Ausdruck „subjektives Recht auf Demokratie" zu kennzeichnen. Darunter ist also kein „neues" Grundrecht zu verstehen, sondern das Recht des Wahlberechtigten, indirekte Beeinträchtigungen seines Wahlrechts durch parlamentarische Kompetenzverlagerungen abzuwehren. In dieser Hinsicht ist das „Recht auf Demokratie" ein Ausschnitt des Wahlrechts aus Art. 38 GG. 5. Kapitel

Mögliche Gegenargumente Allerdings sind gegen dieses Ergebnis Gegenargumente denkbar, die teilweise schon gegen die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend gemacht worden sind. Insbesondere Gassner hat gegen das Urteil neben den bereits oben 4 3 0 dargestellten Bedenken einen ganzen Strauß von Gegengründen aufgefächert. Diese Kritikpunkte sollen i m folgenden - für die hier entwickelte Konzeption - auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden.

A. „Unterscheidung von Volkswillensbildung und Staatswillensbildung44 In einem ersten Kritikpunkt mahnt Gassner an, die Unterscheidung von Volkswillensbildung und Staatswillensbildung beizubehalten. 431 Gegen den vom Bundesverfassungsgericht eröffneten „Durchgriff' auf die Art und Weise der parlamentarischen Entscheidungsfindung spreche, daß das Volk nach dem Grundgesetz nur an der Kreation, nicht aber an der Repräsentation beteiligt sei. „Einzig i m Wahlakt" fielen „Volks- und Staatswillen punktuell zusammen". 432 Dies belegt Gassner mit einer Verweisung auf das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung. 433

429 430 431

So die Formulierung von Kokott, AöR 119 (1994), 207 (211). Siehe oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (437 f.).

222

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch, daß die von ihm zitierte Verfassungsgerichtsentscheidung seine Aussage nicht stützt. Dort ging es nämlich nicht darum, den Einfluß der Volkswillensbildung auf die staatliche Willensbildung zu verhindern oder zumindest zu beschränken. 434 Sondern in der Entscheidung behandelte das Bundesverfassungsgericht die Frage, inwieweit eine allgemeine Finanzierung der Parteien aus staatlichen Mitteln zulässig sei. In diesem Zusammenhang wandte sich das Gericht - mit gerade umgekehrter Argumentationsrichtung als Gassner suggeriert - gegen eine Einflußnahme der Staatsorgane auf den Bereich der Volkswillensbildung. Dementsprechend lautet der von Gassner in Bezug genommene Satz des Gerichts vollständig: „Nur dann, wenn das Volk als Verfassungs- oder Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen selbst die Staatsgewalt ausübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), fällt die Äußerung des Volkswillens mit der Bildung des Staatswillens zusammen (vgl. BVerfGE 8, 104 [113])." 435 Geradezu als Antithese zu Gassners Ausführungen lesen sich darüber hinaus die nächsten beiden Sätze in der von ihm zitierten Entscheidung: „Das Volk bringt jedoch seinen politischen Willen nicht nur durch Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck. Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung . . . " 4 3 6 Damit ist das von Gassner zitierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht geeignet, das von ihm postulierte „Distanzprinzip" 4 3 7 zwischen Volksund Staatswillensbildung zu stützen. 438 Darüber hinaus verfängt sein Argument auch inhaltlich nicht, selbst wenn man aus der grundsätzlichen Trennung beider Bereiche eine solche Distanz ableiten wollte. 4 3 9 Denn es geht nicht, wie Gassner befürchtet, um „einen erheblichen Eingriff in die eigengesetzliche Sphäre staatlicher Willensbildung". 4 4 0 Sondern es werden zum einen, formal gesehen, nur die ohnehin 432

Gassner, a.a.O. (437), mit Verweis auf BVerfG, Urteil vom 19.7.1966, BVerfGE 20, 56 (98). 433 BVerfG, a.a.O. 434 Wie hier auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 92. 435 BVerfG, Urteil vom 19.7.1966, BVerfGE 20, 56 (98). 436 BVerfG, a.a.O. 437 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (441). 438 Ebenso A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 91 ff. 439 Was im übrigen wohl kaum vertreten wird. Siehe neben der bereits untersuchten Entscheidung des BVerfG den von Gassner zum Beleg seiner These auch zitierten Schmitt-Glaeser, in HdBStR II, § 31, Rz. 30, der - anders als Gassneri - ebenfalls eine „Verschränkung von Volks- und Staatswillensprozeß" ausdrücklich anerkennt.

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

223

bestehenden objektiv-rechtlichen Grenzen einer Kompetenzübertragung aktualisiert. Wie bereits dargestellt, 441 zieht ja schon das objektive Verfassungsrecht dem Bundestag Schranken bei der Frage einer Kompetenzentsagung; eine solche wäre deshalb bereits objektiv-rechtlich allenfalls in engen Grenzen zulässig. Deshalb darf das Parlament, was Gassner übersieht, ohnehin nicht schrankenlos agieren. Zugleich kann das subjektive Recht des Einzelnen nicht weiter gehen als das objektive Recht. 4 4 2 Somit wird im Ergebnis der Handlungsbereich des Bundestags nicht weiter eingeschränkt als bisher, sondern es wird lediglich - prozessual - die Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Frage erstreckt, ob diese Grenzen eingehalten wurden, wenn auch dem Einzelnen eine entsprechende Klagebefugnis 443 eingeräumt wird. Zum anderen kann auch inhaltlich von einer Bindung des Bundestags an den Volkswillen 4 4 4 keine Rede sein. Denn in dem vorliegenden Bereich geht es nicht um eine inhaltliche Vorgabe an den Bundestag, die der Einzelne vor Gericht geltend machen könnte. Sondern Inhalt des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG kann allenfalls, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung, 445 eine Art Verfahrenssicherung (im weitesten Sinne) sein. Der Anspruch kann sich von vornherein nur darauf richten, die Behandlung der - auch zukünftigen - Sachfragen durch den parlamentarischen Gesetzgeber sicherzustellen. Damit wird keinerlei inhaltliche Beeinträchtigung der parlamentarischen Entscheidungsfreiheit vorgenommen, sondern lediglich die objektiv-rechtlich ohnehin bestehende Pflicht des Parlaments zur eigenverantwortlichen Befassung mit den politischen Sachfragen aktualisiert. Schlagwortartig formuliert: Nur die Frage des „Wer entscheidet?" ist - im Rahmen der objektiv-rechtlich existierenden Grenzen - justitiabel, nicht aber die Frage „Was oder worüber wird entschieden?", also die Frage, mit welchen Themen sich der Bundestag befassen solle. Erst recht nicht justitiabel ist die Frage „Wie wird entschieden?". Das Wahlrecht kann schon aufgrund seiner Anknüpfung an der politisch indifferenten Bestimmung des Art. 38 Abs. 1 GG keinerlei inhaltliche Vorgaben machen, welche Entscheidung das Parlament inhaltlich zu treffen habe. Aus ihm läßt sich nicht einmal ableiten, 446 in welchem Verfahren rechtstechnisch das Parlament zu entscheiden habe. 4 4 7 440 441 442 443

D. II.

444

445 446

So aber Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (438). Oben 2. Teil, 2. Kapitel. Näher unten 7. Teil, 3. Kapitel, D. V. 3. a. Bzw. Verfassungsbeschwerdebefugnis, näher dazu unten 9. Teil, 1. Kapitel, Vgl. aber Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (438). Dazu unten 7. Teil. Näher zum Inhalt des subjektiven Rechts unten 7. Teil, 3. Kapitel.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Damit erweist sich letztlich, daß, entgegen der Befürchtung Gassners, die Rolle des Bundestags als Inhaber der staatlichen Willensbildungsfunktion nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt wird. Denn entgegen allen Tendenzen etwa zur Verstärkung plebiszitärer Elemente in der Verfassung wird als Konsequenz des subjektiven Rechts auf Demokratie dem Bundestag gerade eine starke Stellung eingeräumt, wenn die Entscheidungsmacht über alle relevanten Fragen bei ihm konzentriert wird. Ein Primat der Volkswillensbildung über die staatliche Willensbildung steht also entgegen Gassner nicht zu befürchten.

B. „Verstoß gegen die Freiheit des parlamentarischen Mandats" Weiter kritisiert Gassner, das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung im Maastricht-Urteil führe zu einem Verstoß gegen die Freiheit des parlamentarischen Mandats, wie es in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankert sei. 4 4 8 In dem ,,latente[n] Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des parlamentarischen Mandats und dem subjektiven Wahlrecht" würden so „die Gewichte einseitig zu Lasten der Abgeordneten" verschoben. 449 Dagegen spricht ebenfalls der bereits herausgearbeitete Gedanke, daß das Wahlrecht - auch nach der hier vertretenen Konzeption - keine inhaltliche Präjudizierung der parlamentarischen Entscheidungsfindung leisten soll oder auch nur kann. Denn es geht lediglich um die Frage, wer zur Entscheidung berufen sein soll. Auf diese Weise kann letztlich die inhaltliche Freiheit des Abgeordnetenmandats sogar gerade gestärkt werden. Denn eine Kompetenzabgabe durch das Parlament beschneidet ja zugleich die politische Gestaltungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten, indem sie bestimmte Materien seinem Einfluß entzieht. Zudem würde eine Kompetenzverlagerung lediglich eine Mehrheit im Parlament erfordern, 450 so daß einem Abgeordneten, der gegen die Verlagerung wäre, diese Einschränkung seiner Rechte sogar gegen seinen Willen auferlegt werden könnte. In diesem Falle liefen die auf die Sicherung der parlamentarischen Kompetenzen gerichteten Interessen des Wahlberechtigten und die des Minderheitsabgeordneten parallel. Darüber hinaus würde die Freiheit des Mandats auch schon deshalb nicht eingeschränkt, weil, wie gezeigt, 451 nach objektivem Recht eine weitge447

Was man ebenfalls als eine Facette des „Wie wird entschieden?" verstehen könnte, nämlich als „Auf welche Weise wird entschieden?". 448 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (438 ff.). 449 Gassner, a.a.O., (438 f.). 450 Ohne daß es einen prinzipiellen Unterschied bedeutete, ob dies eine einfache oder eine - wie auch immer - qualifizierte Mehrheit wäre. 451 Oben 2. Teil, 2. Kapitel.

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

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hende Kompetenzabgabe ohnehin ausgeschlossen ist. An diese Rechtslage sind die Abgeordneten ebenfalls gebunden, so daß ihre Mandatsfreiheit von vornherein nur innerhalb dieser Grenzen besteht. Die Freiheit des Mandats ist also keine Freiheit zur Selbstentmachtung. Und auch nach überkommener Rechtslage konnten diese Grenzen verfassungsgerichtlich überprüft werden. Jedenfalls in einem Normenkontrollverfahren war eine derartige Kontrolle möglich; 4 5 2 denkbar erschien zudem ein Organstreitverfahren eines Minderheitsabgeordneten gegen den Bundestag mit der Rüge, sein freies Mandat sei verletzt worden. Somit wird auch in dieser Hinsicht nicht die materielle Rechtslage verändert, sondern lediglich der Kreis derjenigen ausgeweitet, die eine Rechtsverletzung auf diesem Gebiet geltend machen könnten. 4 5 3 Auf diese Weise fördert die hier vertretene Auslegung des Wahlrechts letztlich den Prozeß demokratischer Auseinandersetzung dadurch, daß mit ihrer Hilfe der Einzelne einen solchen Prozeß erzwingen kann, wo er verfassungswidrig verhindert wird.454

C. „Verrechtlichung des unverbindlichen Repräsentationsdialogs44 Ein weiterer Punkt, den Gassner anspricht, setzt an der Repräsentationsrolle des Bundestags an. Das Parlament repräsentiere das Staatsvolk in formeller und inhaltlicher Hinsicht. Zur Rückkoppelung an den Souverän stehe es mit dem Volk in einem ständigen Dialog, der freilich als „ein reiner Kommunikations- und Interaktionsprozeß ohne rechtliche Bindungswirkung" ausgestaltet sei. 4 5 5 „Wäre nun aber der Stimmbürger berechtigt, von den Volksvertretern die Aufrechterhaltung des Status quo an parlamentarischen Zuständigkeiten im Wege der Verfassungsbeschwerde einzufordern, würde der offene Repräsentationsdialog 452

Ähnlich auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 89. E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (274 f.), hat deshalb die dem Einzelnen durch das Maastricht-Urteil eingeräumte Position mit der „Indienststellung" des Marktbürgers durch die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Gemeinschaftsrecht verglichen. Dort sei, so E. Klein, durch den „Marktbürgereinsatz" eine ,„neue Sanktionskategorie4 zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts" geschaffen worden. Vergleichbares gelte für das Maastricht-Urteil, durch das der Einzelne „mitten hinein in die Verantwortung für das Gemeinwesen und seine Verfassungsordnung gestellt" werde - „allerdings nur als Initiant von Rechtskontrolle, nicht als politischer Gestalter". Zur „objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde" und dem Einzelnen als „Wächter für die objektive Verfassungsordnung" siehe auch E. Klein, DÖV 1982, 797 (803 f.). 454 Vgl. Schachtschneider, JR 1970, 401 (404), zu dem von ihm postulierten weiten Anspruch auf Demokratie. 455 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (441 f.). 453

15 Soppe

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

zwischen Repräsentanten und Repräsentierten insoweit seines unverbindlichen Charakters entkleidet. Auch das moderne Repräsentationskonzept vom Kommunikationsprozeß zwischen Wählern und Abgeordneten geht von der Vorstellung aus, daß nur faktisch Einfluß auf das Abstimmungsverhalten im Parlament genommen werden soll und kann. Anderenfalls wäre die Instruktionsfreiheit des Abgeordneten als Kernstück der Repräsentation nicht mehr gewährleistet." 456 Auch in diesem Punkt übersieht Gassner, daß mit der Zuerkennung einer subjektiven Berechtigung des Einzelnen keine inhaltliche Einflußnahme auf die parlamentarische Entscheidung verbunden ist, sondern es lediglich darum geht, eine solche Entscheidung überhaupt zu sichern. Der „Repräsentationsdialog" wird dadurch nicht zu einem rechtlich verbindlichen Weisungsverhältnis zwischen Volk und Abgeordneten. Vielmehr bleibt die sachlich-inhaltliche Seite dieses Dialogs völlig unberührt. Durch das subjektive Recht wird lediglich verhindert, daß sich die Abgeordneten einem derartigen Dialog entziehen. Mithin sichert das hier vertretene Verständnis des Wahlrechts letztlich die Existenz dieser demokratischen Struktur. Somit wird, zugespitzt formuliert, der „unverbindliche Repräsentationsdialog" nicht abgeschafft, sondern überhaupt erst gesichert.

D. „Zuweisung der Aufgaben an den Bundestag in Art. 70 ff. GG" Ein weiteres Argument gegen die im Maastricht-Urteil begründete neue Interpretation leitet Gassner aus einer systematischen Betrachtung her: Art. 38 GG spreche gegen eine Auslegung, die dem Bundestag bestimmte Befugnisse zuweise. Denn diese seien anderenorts im Grundgesetz, vor allem in dessen VII. Abschnitt, detailliert geregelt. 457 Auch dieses Argument verkennt freilich, was das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG leisten kann und soll. Dort geht es nicht um die Zuweisung bestimmter Kompetenzen an den Bundestag, etwa derart, dem Bund für bestimmte Gebiete eine bislang nicht vorhandene Gesetzgebungskompetenz zu verschaffen, die dann vom Bundestag zur politischen Gestaltung genutzt werden könnte. Ebensowenig geht es um die Frage, welche Kompetenz im einzelnen abgegeben werden könne oder nicht. Demgemäß hat es auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung vermieden, einen Katalog von gegebenenfalls nicht übertragbaren Bundestagsbefugnissen aufzustellen. 458 Vielmehr soll, ausgehend von einer rein formalen Betrachtungsweise, verhindert werden, daß der Bundestag in Sachbereichen, in denen er nach der grundgesetzlichen Konzeption an der 456 457 458

Gassner, a.a.O. (442). Gassner, a.a.O. (447). Hierauf weist A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 95, zu Recht hin.

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

227

Entscheidungsfindung mitzuwirken hat, sich einer eigenen Willensbildung und damit der Verantwortung entzieht. Damit sollen dem Art. 38 GG keine inhaltlichen Aufgaben des Bundestags entnommen werden, sondern der Grad der parlamentarischen Beteiligung an der Entscheidungsfindung soll (in Grenzen) subjektiv-rechtlich justitiabel werden. Dies aber ist kein Problem der Ausgestaltung der dem Bundestag zustehenden Einzelkompetenzen, sondern diese Frage knüpft anderweitig, an Demokratieprinzip und Wahlrecht, an. 4 5 9

E. „Recht aus Art. 38 G G neben Art. 23 GG nicht möglich" Des weiteren wird eingewandt, für das subjektive Recht aus Art. 38 GG sei neben Art. 23 GG kein Platz. 4 6 0 Denn eine Sperre gegen einen Verlust an demokratischer Legitimation enthalte bereits die Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG, und für den europäischen Integrationsprozeß werde dasselbe in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG noch einmal gesondert ausgesprochen. Dann aber bleibe kein Raum mehr für die „Herleitung einer inhaltlich völlig identischen Sperre" aus Art. 38 Abs. 1 G G . 4 6 1 Gegen dieses Argument sprechen allerdings gleich mehrere Gesichtspunkte. Zunächst ist Gassners Vergleich mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verfehlt. Diese Vorschrift regelt nämlich, wie sich insbesondere aus Satz 2 von Art. 23 Abs. 1 GG ergibt, die Frage der Übertragung von Hoheitsrechten. Damit ist also das Problem der völkerrechtlichen Souveränität angesprochen. Für eine derartige, im Rahmen der europäischen Integration eventuell erforderliche Souveränitätsübertragung stellen dann die Struktursicherungsklausel 4 6 2 des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der Satz 3 der Norm bestimmte Schranken auf. 4 6 3 Demgegenüber berührt das in Art. 38 Abs. 1 GG 459

Ähnlich A. Wolf, a.a.O. Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (448); deutlich vorsichtiger Cremer, NJ 1995, 5 (7), der nicht - wie Gassner, a.a.O., in seiner FN 107 mit der Formulierung „Ebenso Cremer" suggeriert - wie Gassner behauptet, für Art. 38 GG sei neben Art. 79 Abs. 3 GG kein Platz. Cremer sagt lediglich, aufgrund der objektivrechtlichen Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG sei es auch ohne Zuerkennung eines subjektiven Rechts aus Art. 38 GG den deutschen Staatsorganen nicht erlaubt, an einer „Selbstaufgabe" der Bundesrepublik als Staat mitzuwirken. Aus dieser Formulierung läßt sich entgegen Gassner nur herleiten, Art. 38 GG sei neben Art. 79 Abs. 3 GG nicht zwingend erforderlich. Das ist jedoch etwas völlig anderes als die von Gassner aufgestellte Behauptung. 461 Gassner, a.a.O. 462 Begriff bei Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 54. 463 Siehe etwa Scholz, a.a.O., Rz. 78; Streinz, in Sachs, GG, Art. 23, Rz. 83; Schmalenbach, Europaartikel, S. 100; Kirchner/Haas, JZ 1993, 760 (763). 460

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

verankerte Wahlrecht die Frage nach dem Demokratieprinzip. Dieses hat aber mit dem Souveränitätsprinzip, wie oben gezeigt, 4 6 4 nichts zu tun; beide Prinzipien betreffen unterschiedliche Problemkreise und sind strikt zu trennen. Die Regelungsbereiche der Art. 38 Abs. 1 GG einerseits und des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG andererseits überschneiden sich somit nicht. Mithin kann, ganz unabhängig von der Frage, wie das subjektive Wahlrecht in dem Bereich der Kompetenzverlagerungen nach außen im einzelnen zu verstehen sein mag, 4 6 5 jedenfalls ein „Konkurrenzverhältnis", bei dem die eine Norm die andere verdrängt, nicht bestehen. Vergleichbares gilt für die Behauptung Gassners, für das Recht aus Art. 38 GG bestehe neben Art. 79 Abs. 3 GG kein Raum mehr. Denn eine Frage mag schon allgemein im Grundgesetz unter verschiedenen Blickwinkeln geregelt sein können. 4 6 6 Zudem hat Art. 79 Abs. 3 GG die Funktion, bestimmte Entscheidungen des Verfassungsgebers, die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegt sind, gesondert abzusichern. Gassners Argumentation liefe somit, auf die Gewährleistungen der Art. 1 und 20 GG übertragen, auf die absurde Aussage hinaus, daß die gerade dort niedergelegten Grundsätze in diesen Normen nicht selbst enthalten sein könnten, da hierfür neben Art. 79 Abs. 3 GG kein Platz mehr sei. Des weiteren ist bei dem subjektiv-rechtlichen Charakter des Wahlrechts ohnehin keine Identität mit der rein objektiv-rechtlichen Norm des Art. 79 GG gegeben. Denn selbst wenn die Gewährleistungen des Wahlrechts einerseits und der „Ewigkeitsgarantie" andererseits ansonsten den gleichen Inhalt hätten, so würden sie sich jedenfalls in der Frage der subjektiven Rechtsqualität unterscheiden und wären damit eben doch nicht identisch. Dann aber ist ohne weiteres für beide Normen nebeneinander Platz. Sinnvoll diskutieren ließe sich allenfalls über die These, das subjektive Recht aus Art. 38 GG sei neben der ohnehin bestehenden objektiv-rechtlichen Bindung der Staatsorgane an Art. 79 Abs. 3 G G 4 6 7 nicht notwendig. Das Argument fehlender Notwendigkeit ist jedoch kein rechtlich-dogmatisches, sondern betrifft rechtspolitische Kategorien. Demgemäß kann im Rahmen der vorliegenden, dogmatisch orientierten Arbeit keine ausführliche Auseinandersetzung damit erfolgen. An dieser Stelle soll daher nur darauf verwiesen werden, daß eine erweiterte Möglichkeit gerichtlicher Verfahrenseinleitung durchaus für diejenigen Fälle sinnvoll erscheint, in denen sich alle die für den Staat handelnden Personen darin einig sind, daß eine verfassungsgerichtliche Kontrolle ihres Vorhabens nicht erfolgen solle. 464 465 466 467

Oben 1. Kapitel, C. Dazu im einzelnen unten 7. Teil, 4. Kapitel. Vgl. A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 97. Vgl. H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7).

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

229

Gerade der Einzelne könnte ein derartiges Meinungskartell dann zugunsten einer verfassungsrechtlichen Beurteilung aufbrechen. 468

F. „Recht aus Art. 38 GG neben Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG nicht erforderlich" Vergleichbares läßt sich dem weiteren Einwand Gassners entgegenhalten, das subjektive Recht aus Art. 38 GG sei nicht erforderlich, da der Bundestag bereits an den Parlamentsvorbehalt und den Bestimmtheitsgrundsatz gebunden sei, was mittels des subjektiven Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG auch vom Einzelnen prozessual durchgesetzt werden könne. 4 6 9 Auch hier gilt, daß eine weite subjektiv-rechtliche Berechtigung gerade in politisch umstrittenen Fragen sinnvoll sein kann. Daneben spricht noch eine dogmatische Erwägung gegen diesen Kritikpunkt. Mit Hilfe des Art. 2 Abs. 1 GG kann der Einzelne bei einer parlamentarischen Selbstentmachtung eine Verletzung des objektiv-rechtlichen Parlamentsvorbehalts und des Bestimmtheitsgrundsatzes erst dann geltend machen, wenn er in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen ist. Bei einer bloßen Kompetenzverlagerung auf der staatsorganisatorischen Ebene wird dies in der Regel erst durch einen hiervon zu unterscheidenden gesonderten Akt geschehen. Erst in diesem Rahmen kann dann im Wege einer lediglich mittelbaren Kontrolle - wie auch Gassner richtig sieht 4 7 0 - eine Entscheidung über die Kompetenzabgabe eingeholt werden. Ob und wann ein derartiger nachfolgender Akt erlassen wird, kann aber durchaus zweifelhaft sein, so daß eine erst später zu initiierende verfassungsgerichtliche Prüfung schon zu spät kommen kann. Das gilt insbesondere bei Kompetenzverlagerungen „nach außen", bei denen die Bindungswirkung eines völkerrechtlichen Vertrages durch eine nachträglich erfolgende Inzidentkontrolle nicht mehr aufgehoben werden könnte. 4 7 1 Hinzu kann kommen, daß der nachfolgende hoheitliche Akt unter Umständen verfassungsgerichtlich gar nicht justitiabel i s t , 4 7 2 zum Beispiel, weil es sich um die Äußerung einer 468

Gerade das Maastricht-Verfahren bietet hierfür ein gutes Beispiel, da sowohl die Regierungsfraktion, als auch alle im Parlament vertretenen Oppositionsparteien augenscheinlich ohne Bedenken von der Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Gesetzesneuregelungen ausgingen. Deshalb wäre es ohne die Initiative Einzelner zu einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht gekommen. Wie hier auch Hecker, AöR 123 (1998), 577 (586); ähnlich Dörr, ZUM 1995, 14 (16); allgemein auch E. Klein, DÖV 1982, 797 (804). 469 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (448 f.). 470 Gassner, a.a.O. (448). 471 Dazu bereits oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. V.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

internationalen oder supranationalen Institution handelt. Demgegenüber sichert das Recht aus Art. 38 GG eine zeitnahe und effiziente Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Kompetenzabgabe.

G. „Klageflut führt zu Überlastung des Bundesverfassungsgerichts" Ein eher faktisch orientiertes Argument gegen ein derartiges subjektives Recht aus Art. 38 GG könnte schließlich lauten, daß das Bundesverfassungsgericht durch die eventuell anschwellende Zahl der Verfassungsbeschwerden überlastet werden könnte. „Es ist wahrscheinlich, daß bei einer Ausweitung der Subjektivierung über das hinaus, was jetzt anerkannt wird, zunächst nicht nur die Zahl der erhobenen Verfassungsbeschwerden, sondern auch die Zahl der vom Senat zu entscheidenden Verfassungsbeschwerden zunehmen wird." 4 7 3 Gegen eine solche Sichtweise spricht aber, daß dies kein dogmatisches, sondern ein tatsächliches Argument ist, das zur Umgrenzung der inhaltlichen Reichweite eines subjektiven Rechts nicht geeignet ist. Soweit die Verfassung subjektive Rechte gewährt, ist es Aufgabe des Staats, wie sich aus dem Justizgewährungsanspruch des Einzelnen aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt, für die wirksame gerichtliche Durchsetzbarkeit zu sorgen. 474 Dementsprechend darf nicht unter Hinweis auf knappe Rechtsprechungsressourcen der Gewährleistungsbereich eines Grundrechts verkürzt werden. Sofern derartiges durch ein Gericht geschähe, wäre dies eine (gesonderte) Grundrechtsverletzung. 475 Im übrigen dürfte sich das damit angesprochene Problem in dieser Schärfe letztlich gar nicht stellen. 476 Denn die Zahl der Verfassungsbeschwerden dürfte sich auf einem niedrigeren Niveau einpendeln, sobald durch erste Präjudizien die Reichweite des „neuen" Rechts konkretisiert worden i s t . 4 7 7 Dies zeigte sich bereits bei den auf eine Verletzung des 472

Hierauf weist A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 98 f., hin. So, in einem anderen Zusammenhang, Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (67). 474 Vgl. Papier, in HdBStR VI, § 154, Rz. 75 ff. 475 Vgl. die Rechtsprechung sowohl des BVerfG (z.B. Beschluß vom 22.1.1987, DB 1987, 1722) als auch des EGMR (etwa Urteil vom 29.5.1986, EuGRZ 1988, 20 [29 f.]), nach denen bereits eine überlange Verfahrensdauer eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt. Was für eine solche Verzögerung gilt, muß erst recht für die komplette Versagung gelten. 476 Auch in Rezensionen des Maastricht-Urteils ist des öfteren zu lesen, eine „Flut neuer Verfassungsbeschwerden" sei wohl nicht zu erwarten, siehe die Nachweise oben 4. Teil, 5. Kapitel, B. 477 Vgl. Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (67), in einem anderen Zusammenhang. 473

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

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Art. 2 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden, die das Verfassungsgericht ebenfalls nicht in dem Maße überschwemmt haben, wie zunächst hätte befürchtet werden können. 4 7 8

H. „Popularverfassungsbeschwerde" Ein weiterer Kritikpunkt, der schon deshalb ernst zu nehmen ist, weil er von zahlreichen Rezensenten der Maastricht-Entscheidung geteilt wurde, ist ferner der Vorwurf, mit der Anerkennung eines derartigen subjektiven Rechts sei der Sache nach die Popularverfassungsbeschwerde eingeführt worden. 4 7 9 Auch diese Kritik geht jedoch aus mehreren Gründen fehl. Zum einen ist bereits konstruktiv eine Popularverfassungsbeschwerde, bei welcher der Einzelne Rechte geltend macht, die nicht ihm, sondern der Allgemeinheit zustehen, 480 nicht gegeben. Denn aufgrund der Anknüpfung an das Wahlrecht, bei der eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs bejaht wurde, ist jeder Wahlberechtigte durch die Kompetenzverlagerung selbst in seinem eigenen Wahlrecht betroffen. 481 Unabhängig von der Zahl der ebenfalls in ihrem Recht betroffenen Mitberechtigten ist bei dem klagenden Einzelnen festzustellen, daß in das ihm selbst zustehende Recht auf Teilnahme an den Bundestagswahlen faktisch eingegriffen wird. Die für die Maastricht-Entscheidung vertretene gegenteilige Auffassung ist augenscheinlich von zwei Besonderheiten jenes Falles mitbestimmt. Zum einen ist bei einer Kompetenzverlagerung durch den Bundestag tatsächlich eine Vielzahl von potentiellen Klägern gegeben. Da, wie oben dargelegt, 4 8 2 insoweit allein das Kriterium der Wahlberechtigung maßgeblich ist, sind gegebenenfalls etliche Millionen Personen 483 in ihrem Wahlrecht betroffen. Dieser Befund darf aber nicht dazu führen, daß eine individuelle Betroffenheit des Einzelnen verneint wird. Genausowenig wie derartiges angenommen werden könnte, wenn staatliches Handeln statt einer einzigen Person zum Beispiel zehn, hundert, tausend oder zehntausend Personen an ihrer Gesundheit schädigen würde, kann in der vorliegend zu untersuchen478

Vgl. Schachtschneider, JR 1970, 401 (404). Siehe die oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. II. geführten Nachweise. 480 So die Definition einer Popularklage, siehe etwa Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 38. 481 So im Ergebnis auch H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7); A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 40. 482 Oben 1. Kapitel, D. 483 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren bei der Bundestagswahl 1998 60.762.800 Personen wahlberechtigt (Statistisches Jahrbuch 1999, S. 89). 479

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

den Konstellation die individuelle Betroffenheit unter Hinweis auf die große Zahl der ebenfalls Betroffenen geleugnet werden. Jede andere Auffassung würde zu dem widersinnigen Ergebnis führen, daß ein staatlicher Akt, der nur einen einzelnen Grundrechtsträger verletzt, wirksam angefochten werden könnte, während ein Verhalten, das sehr viele Individuen verletzt, mithin - bei Addition der einzelnen Grundrechtsverletzungen - „noch viel verfassungswidriger" ist, nicht vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden dürfte. Der Staat, der bei Grundrechtsverletzungen „klotzen statt kleckern" würde, würde für dieses Verhalten auch noch belohnt werden. Der Satz „Wo Millionen Bürger in ihrem Grundrecht [... betroffen] sind, können individuelle Betroffenheiten nicht mehr ausgemacht werden", 4 8 4 kann zudem aus logischen Gründen nicht meinen, daß in den Fällen, in denen alle Individuen einer Klasse betroffen sind, nicht jedes einzelne Individuum betroffen sei. Denn letzteres folgt logisch aus dem ersteren. 485 Gemeint sein kann lediglich, daß die einzelnen Individuen nicht allein, sondern zusammen mit anderen betroffen sind. Damit ist aber die Verletzung subjektiver Rechte der Einzelnen nicht ausgeschlossen,486 denn der klagende Einzelne wird dann nicht für die Allgemeinheit tätig, sondern zur Durchsetzung seiner eigenen Rechte. 487 Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise auch zu Recht die Verfassungsbeschwerde gegen das Volkszählungsgesetz 1983 4 8 8 nicht an dem Kriterium der Selbstbetroffenheit der Beschwerdeführer scheitern lassen. 489 Somit sind die Fälle der Popularklage von denjenigen zu unterscheiden, in denen - wie hier viele Personen in ihren eigenen Grundrechten selbst betroffen und damit auch selbst beschwerdebefugt sind. 4 9 0 Zum anderen ist nicht zu verkennen, daß in einer derartigen Konstellation einer Kompetenzabgabe durch das Parlament auch staatsorganisatorische Fragestellungen berührt sind, die in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren dann ebenfalls behandelt werden müßten. Dieser Bezug sogar zur Allgemeinheit aller Deutschen könnte ebenfalls zur Annahme einer Popularklage verleiten; gegenüber dem bundesverfassungsgerichtlichen Maas484

Den Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (7), für den Bereich des Atomrechts postuliert hat (Hervorhebung im Original); weitere Nachweise dieser Auffassung bei Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 217 in dortiger FN 159. 485 So Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (66), für ein Beispiel aus dem Bereich der Rundfunkfreiheit. 486 Alexy, a.a.O., m.w.N. 487 Vgl. Alexy, a.a.O. 488 Vgl. BVerfG, Urteil vom 15.12.1983, BVerfGE 65, 1 (36). 489 Hierauf weist Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 218 in dortiger FN 163, hin. 490 Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 20.1.1982, NJW 1983, 65 (in einem atomrechtlichen Verfahren); Hermes, a.a.O., S. 217 f., m.w.N.; Weber-Dürler, WDStRL 57, 59 (65), in dortiger FN 42.

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

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tricht-Urteil ist vereinzelt sogar, wie bereits dargestellt, 491 der Vorwurf einer Prozeßstandschaft erhoben worden. Auch diese Kritik überzeugt allerdings nicht; die Grundrechtsbetroffenheit des Einzelnen wird durch den staatsorganisatorischen Bezug nicht aufgehoben. Auch hier wäre sonst das oben geschilderte widersinnige Ergebnis die Folge, daß der Einzelne gegen eine schwerere Verfassungsverletzung weniger Rechtsschutz besäße als gegen eine einfache Grundrechtsverletzung. Der Einzelne wird zudem mit seiner Verfassungsbeschwerde allenfalls mittelbar Befugnisse des Bundestags oder der Allgemeinheit wahrnehmen; 4 9 2 unmittelbar hat er, wie stets, eine Verletzung in eigenen Rechten darzulegen. Eine solche Konstellation ist aber in gerichtlichen Verfahren nicht ungewöhnlich. Bereits in „normalen" fachgerichtlichen Verfahren mag es vorkommen, daß auch formal am Prozeß nicht beteiligte Dritte ein erhebliches Interesse an seinem Ausgang haben, so etwa, wenn es sich um einen Musterprozeß für parallele Fälle handelt oder wenn ihre eigenen Regreßmöglichkeiten vom Verfahrensausgang abhängen. In den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist dieser Bezug zu den Interessen der Allgemeinheit meist noch viel stärker ausgeprägt. So hat jede erfolgreiche Rechtssatzverfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung einer Norm führt, Auswirkungen auf (potentiell) alle Normadressaten. 493 Vergleichbares gilt für Verfassungsbeschwerden, die auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden. Sofern ein hoheitlicher Akt den Beschwerdeführer in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit beschränkt, wird inzidenter auch die zugrundeliegende Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft und im Falle eines Verfassungsverstoßes aufgehoben, was wiederum alle Normadressaten betrifft. Schließlich ist gerade für den Bereich des Wahlrechts der Bezug auch zu den Rechten des Bundestags noch deutlicher zu erkennen. Denn im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde gemäß Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG kann der Einzelne bei Vorliegen eines gravierenden Wahlfehlers, gestützt auf sein Wahlrecht, im Extremfall die gesamte Bundestagswahl im ganzen Bundesgebiet für ungültig erklären lassen. 494 Hier wird der Einzelne 491

Oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. II. Siehe für die Befugnisse des Bundestags und der „Aktivbürgerschaft" A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 85 ff. 493 Weshalb A. Wolf a.a.O., S. 39, - insoweit allerdings zumindest mißverständlich - von einer „De-facto-Popularklage" spricht. Siehe auch E. Klein, DÖV 1982, 797 (803 f.), der wegen des vom BVerfG in Anspruch genommenen umfassenden Prüfungsmaßstabs bei einer zulässigen Verfassungsbeschwerde meint, „materiell gesehen ist der Beschwerdeführer längst [...] zum Popularkläger geworden." 494 Dies ergibt sich aus § 44 Abs. 1 BWahlG und § 1 Abs. 2 WahlprüfungsG; siehe auch Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 48, Rz. 40; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 GG, Rz. 26; jeweils zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Fehlerfolgen. 492

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

somit geradezu als Wächter über den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl 495 eingesetzt. Nach alledem bleibt festzuhalten, daß der Einzelne durch eine parlamentarische Kompetenzverlagerung in seinem (jeweiligen) Wahlrecht betroffen sein kann, unabhängig von der Anzahl etwaiger Mitbetroffener sowie der Bezüge zu den Kompetenzen des Bundestags. Damit greift der Einwand der Popularklage gegen die weite Auslegung des subjektiven Wahlrechts ebensowenig durch wie der Vorwurf, hierdurch werde eine Prozeßstandschaft begründet. 496

I. „Ersatzgesetzgebung durch Verfassungsgericht" In der verfassungsrechtlichen Diskussion ist ferner in der letzten Zeit verstärkt 4 9 7 gerügt worden, das Bundesverfassungsgericht nehme immer mehr die Rolle eines „Ersatzgesetzgebers" e i n . 4 9 8 Polemische Bezeichnungen für das Gericht wie beispielsweise „Oberregierung" 499 oder „Vormund des Bundestages" 500 finden sich ebenso wie sachlichere Analysen der Problemat i k . 5 0 1 Indem das Bundesverfassungsgericht die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG bestehende Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte kontrolliere und damit notwendigerweise zugleich konkretisiere, schaffe es, so heißt es in einer Betrachtung der Rechtsprechungsentwicklung, seinerseits Bindungen für den eigentlichen Gesetzgeber, das Parlament. 502 „Das Ergebnis ist eine Veränderung der Zuordnung der Gewalten und eine Verlagerung des Schwerpunkts zwischen ihnen. Es vollzieht sich ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat."503 495

Vgl. H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 42, Rz. 19, nach dem für die Wahlprüfungsbeschwerde keine Beschwer erforderlich ist. 496 So im Ergebnis auch H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7); A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 40; siehe auch Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (66): „In einem Staat, der den einzelnen ernst nimmt, können diesem Rechte nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil deren Erfüllung in einem verfassungsgemäßen Verhalten des Staats besteht, das auch anderen und der Allgemeinheit zugute kommt." 497 Obwohl nicht zu verkennen ist, daß diese Kritik letztlich bereits so alt ist wie das Bundesverfassungsgericht selbst; siehe dazu die Nachweise bei Knies, FS Stem, S. 1155, mit der dortigen FN 1. 498 Siehe etwa die Kritik von Großfeld, NJW 1995, 1719 ff.; fundierter und zugleich inhaltlich zurückhaltender Knies, FS Stem, S. 1155 ff., m.w.N. 499 Großfeld, NJW 1995, 1719; siehe auch die weiteren von Simon, in HdBVerfR, § 34, Rz. 29, referierten Bezeichnungen. 500 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (447 f.). 501 Rechtsvergleichend etwa Doehring, FS Stem, S. 1059 ff. 502 Vgl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (25).

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

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Gerade im Anschluß an die Maastricht-Entscheidung ist dieser Kritikpunkt des öfteren wiederholt worden. 5 0 4 Eine genauere Betrachtung ergibt jedoch, daß zumindest für die prozessuale Komponente des Urteils, der Anerkennung einer Klagebefugnis aus dem subjektiven Wahlrecht, dieser Vorwurf nicht zutrifft. 5 0 5 Zwar wird, indem die Eingriffsqualität auch einer derartigen faktischen Beeinträchtigung des Wahlrechts anerkannt wird, der Bereich der bundesverfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsgewalt zunächst erweitert. Und es können Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergehen, die dem Willen der Bundestagsmehrheit zuwiderlaufen, wenn beispielsweise eine in einem Gesetz enthaltene Kompetenzübertragung vom Gericht als verfassungswidrig erkannt würde. Jedoch wird in allen diesen Fällen im Ergebnis die Rolle des Parlaments gerade gestärkt werden. Wie bereits an anderer Stelle dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, 5 0 6 geht es bei dem subjektiven Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG letztlich um eine Verfahrenssicherung zugunsten des Bundestags. In anderem Zusammenhang wurde in der Literatur zu Recht bemerkt, die „Ordnung der parlamentarischen Verantwortung" sei „keine »political question4, die verfassungsgerichtliche Zurückhaltung begründen könnte, als vielmehr eine »question of the constitution of politics'". 5 0 7 M i t der vorliegend betrachteten Gewährleistung soll sichergestellt werden, daß der parlamentarische Gesetzgeber seine Aufgaben auch in Zukunft wahrnimmt und sich seiner diesbezüglichen Verantwortung nicht entzieht. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich dabei auf die Sicherung der parlamentarischen Entscheidungsbefugnis. Sachbezogene Vorgaben über Inhalt und Ausmaß der vom Bundestag zu treffenden Entscheidung können - aufgrund des Wahlrechts 508 - vom Bundesverfassungsgericht nicht getroffen werden.

503 Böckenförde, a.a.O.; siehe auch Knies, FS Stern, S. 1155 (1157); von einem „totale[nl Rechtsstaat" und einem „totalen Richterstaat" spricht Bettermann, Hypertrophie, S. 14 504 Vgl. die Nachweise oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. I und II. 505 In dem Rahmen der vorliegenden Arbeit kann eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Aussagen des Maastricht-Urteils zur integrationsrechtlichen Situation, zum Verhältnis der Einzelstaaten zur EU und zur Relation zwischen EuGH und BVerfG naturgemäß nicht erfolgen. Insofern muß auf das umfangreiche Schrifttum zu diesen Fragen verwiesen werden. 506 Oben A. 507 Greifeid, Der Staat 23 (1984), 501 (518). 508 inwieweit eine inhaltliche Vorgabe aufgrund anderer Verfassungsnormen im Einzelfall zulässig oder gar geboten ist, kann hier nicht generell beantwortet werden, da dies vom jeweiligen Sachgebiet und der jeweiligen konkreten Fallkonstellation abhängt.

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5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Das „Was" und das „Wie" der parlamentarischen Entscheidungen bleiben frei, nur über das „Wer" wird entschieden. 509 Hinzu kommt, daß über die Frage „Wer entscheidet" in einem bewahrenden, gewissermaßen „konservativen" Sinn entschieden wird. Ein Wahlberechtigter könnte ja, gestützt auf sein Wahlrecht, nicht geltend machen, daß statt des Bundestags das Organ X oder die Institution Y besser zur politischen Entscheidung geeignet wäre, mit der Folge, daß das Bundesverfassungsgericht dem Parlament Kompetenzen entziehen und diese dann anderen zuweisen könnte. Rügefähig wäre allein der Punkt, eine vom Bundestag beschlossene Selbstentmachtung sei verfassungswidrig. 510 Dementsprechend könnte das Bundesverfassungsgericht allein hierüber entscheiden. Nur in den Fällen, in denen der Bundestag eine weitergehende Verlagerung von Befugnissen gewollt hätte, als nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung zulässig wäre, könnte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundestags aufheben. Durch diesen Ausspruch würde das Gericht dem Bundestag dann seine Kompetenzen lediglich „wiedergeben", das parlamentarische Gewicht im politischen Prozeß mithin gerade (wieder) stärken. Aus diesem Grund findet letztlich auch kein „Verlust an Legitimationsniveau" durch eine Entscheidung des nur mittelbar demokratisch legitimierten Verfassungsgerichts gegen den Bundestag statt. 5 1 1 Die Gewichte zwischen diesen Staatsorganen verschieben sich im Ergebnis nicht. Vergleichbares gilt auch im Verhältnis zwischen dem einzelnen Kläger und der Gesamtheit derjenigen Wahlberechtigten, die mit einer parlamentarischen Kompetenzabgabe eventuell sogar einverstanden wären. Der Anspruch des Einzelnen auf Demokratie und seine Geltendmachung widersprechen nicht dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Denn dadurch würden nicht etwa individualistische Interessen durchgesetzt, sondern es würden, ganz im Gegenteil, demokratische Entscheidungsstrukturen gesichert werden, die einerseits die Herrschaft der Mehrheit ermöglichen, andererseits aber auch der Minderheit die Chance geben, zur Mehrheit zu erstarken. 512 Demgemäß streitet der Einzelne auch nicht gegen die Mehrheit, sondern er gibt nur den Anstoß, diese Strukturen vor Beeinträchtigungen zu schützen. 513 Diesen Schutz zu gewährleisten, gehört zum grundgesetzlichen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts.

509

Siehe oben A. Im einzelnen dazu unten 7. Teil, 2. Kapitel, Β. I. 511 So aber Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (448); gegen Gassner insoweit auch A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 107 f. 512 Vgl. Schachtschneider, JR 1970, 401 (404), für den von ihm postulierten weiten Anspruch auf Demokratie. 513 Vgl. Schachtschneider, a.a.O. 510

5. Kap.: Mögliche Gegenargumente

237

J. „Handlungsfähigkeit des Staats bei bloßen Organisationsakten" Bedenken könnten noch insoweit bestehen, als die Handlungsfähigkeit des Staats nicht über Gebühr beeinträchtigt werden darf. Bleckmann schreibt, diese Handlungsfähigkeit erfordere möglicherweise, daß bei bestimmten Rechtsakten des Staats die Annahme einer Grundrechtsverletzung auszuscheiden habe. 5 1 4 Dem ist für den Bereich der vorliegend zu untersuchenden Konstellation freilich zu entgegnen, daß das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG diese Handlungsfähigkeit des Staats gerade sicherstellen soll. Anders als in den von Bleckmann angeführten Beispielsfällen der staatlichen Organisation etwa einer Schule oder Behörde, 515 geht es vorliegend genau darum zu verhindern, daß das Parlament als Staatsorgan handlungsunfähig wird. Hier soll - und insoweit ist erneut nach oben zu verweisen 516 - keine inhaltliche Vorgabe an das Parlament erwirkt werden, wie dessen Entscheidung in einer bestimmten Frage auszusehen habe. Sondern es soll die Handlungsfähigkeit gesichert und erhalten werden. Damit liegt hier kein Gegensatz zwischen dem Staat und dem Grundrechtsberechtigten vor, sondern man kann sogar von diesbezüglich gleichlaufenden Interessen von beiden sprechen. Hinzu kommt ein weiteres: Im Unterschied zu den von Bleckmann genannten Fällen soll vorliegend nicht mit Hilfe eines grundrechtlichen Abwehrrechts ein bestimmtes materiellrechtliches Handeln des Staats verhindert werden. Vielmehr wird hier auf das ohnehin der Staatsorganisation zugehörige Wahlrecht zurückgegriffen, um eine formale Regelung, nämlich eine übermäßige Kompetenzabgabe, zu verhindern, damit der Staat - in Form des Bundestags - weiterhin materiellrechtlich eigenständig handeln kann. Mithin ist sowohl das Ziel des Rechtsschutzes ein anderes - Sicherung des Sinngehalts des Wahlrechts hier, Ausdehnung eines subjektiven Freiheitsbereichs oder eines Anspruchs auf staatliche Leistungen dort - , als auch das hierfür in Anspruch genommene Mittel - bürgerrechtliches Wahlrecht hier, menschenrechtliches Grundrecht dort.

K. „Grundrechtsinflation" Schließlich ist als letzten erkennbaren Einwand auf das Problem einer möglicherweise unvertretbaren Ausweitung der Grundrechte einzugehen.

514 515 516

Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 50. Bleckmann, a.a.O. Oben A.

238

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

In dem Maße, in dem Rechtsprechung und Literatur den Geltungsbereich der Grundrechte entfaltet haben, sind nämlich immer wieder Stimmen laut geworden, die vor einer „Grundrechtsinflation", 517 einer „Hypertrophie der Grundrechte", 518 gar einem „Grundrechtstotalitarismus", 519 mit anderen Worten, vor einer unangemessen weiten Auslegung der Grundrechte warnen. „Wucherungen" und Wildwuchs" werden unter anderem „bei den besonderen Gewaltverhältnissen", „in der sogenannten Drittwirkung", „bei der Erhöhung der Grundrechte zu Grundwerten", „bei der sozialstaatlichen Verformung zu Teilhaberechten" und „bei der Umformung zu Privilegien" erblickt. 5 2 0 In der Tat mutet beispielsweise ein „Grundrecht auf Autofahren", wie es in der Literatur postuliert wurde, 5 2 1 als kaum aus der Verfassung ableitbar und damit als in gewisser Weise „inflationär" a n . 5 2 2 Fraglich ist aber, ob auch dem hier untersuchten subjektiven Recht dieser Einwand entgegengehalten werden kann. Hiergegen spricht bereits, daß damit zwar das überkommene Verständnis des Wahlrechts ausgeweitet wird, indem nunmehr auch dessen faktische Beeinträchtigungen vom Einzelnen abgewehrt werden können. Jedoch wird dieses Ergebnis nicht „aus dem Zusammenschütten zahlreicher Grundrechte" 523 hergeleitet, sondern folgt aus der strikten Anwendung allgemein konsentierter grundrechtlicher Argumentationsfiguren. Vor allem 5 2 4 aber wird dadurch der Bereich der Grundrechte wesentlich weniger ausgeweitet, als dies bei „hypertrophen" Gewährleistungen der Fall ist. Denn zum einen wird hier kein Abwehrrecht von seiner negatorischen Aussage umgedeutet in ein derivatives oder gar originäres Leistungsrecht, was, dogmatisch gesehen, stets ein großer Schritt wäre. Sondern eine Gewährleistung des Aktivstatus bleibt als solche erhalten. Vom Schutzbereich her betrachtet, bleibt sie sogar unverändert. Hier werden lediglich faktische Eingriffe in das Grundrecht als relevante Beeinträchtigungen anerkannt, was für das Gebiet anderer Gewährleistungen grundsätzlich längst gesicherte Erkenntnis ist. Zudem wird hier nicht eine Grundrechtsverbürgung ausgedehnt auf ein bislang ungeregeltes Feld, mit der Folge einer weiteren Verrechtlichung bisher nicht normierter Lebensbereiche. Sondern hier wird eine ohnehin bereits bestehende (objektiv-) rechtliche Bindung des Parlaments nur um eine subjektiv-rechtliche Absicherung 517

Bethge, Der Staat 24 (1985), 351 (352), m.w.N. So der Titel einer „Streitschrift" von Bettermann. 519 Starck, JuS 1981, 237 (244). 520 Alle Zitate dieses Satzes von Bettermann, Hypertrophie, S. 5. 521 So Ronellenfitsch, DAR 1992, 321 ff.; derselbe, DAR 1994, 7 ff. 522 Siehe auch Sendler, NJW 1995, 1468 f. 523 So Sendler, a.a.O. (1469), zum „Grundrecht auf Autofahren". 524 Und neben der vorherigen Aussage, die vielleicht des Vorwurfs dogmatischen Eigenlobes nicht ganz unverdächtig ist. 518

6. Kap.: Zusammenfassung der Ergebnisse

239

ergänzt. 525 Materiellrechtlich gesehen, ändert sich also nichts. Damit ist der Staat zu keinem anderen Verhalten verpflichtet, als er es - nach objektivem Recht - auch bislang schon gewesen ist. Soweit Hintergrund der Kritik an einer „Inflation der Grundrechte" also die Sorge ist, die Gestaltungsfreiheit des Staats werde über Gebühr eingeschnürt, 526 so trifft das, wie bereits dargelegt, 5 2 7 hier deshalb nicht zu, weil die parlamentarische Gestaltungsmacht gerade gesichert werden soll. Des weiteren ist das Wahlrecht in einem Bereich angesiedelt, der bereits nach traditionellem Verständnis in besonderem Maße grundrechtlich geprägt ist: dem unmittelbarem Verhältnis von Bürger 5 2 8 und Staat, die sich bei der Wahl nicht nur gegenübertreten, sondern, da der Staatsbürger als Teil des Staatsvolks Teil des Souveräns i s t , 5 2 9 quasi verschmelzen. 530 Damit wird hier von vornherein nicht ein Gebiet berührt, das staatsfrei auch nur vorstellbar ist und möglicherweise von jeglicher staatlicher Einmischung frei bleiben sollte, wie dies etwa für bestimmte Freiheitsbereiche gelten mag. Sondern das Wahlrecht gehört mit seinen aktivrechtlichen Gewährleistungen von jeher zu den Feldern, in denen Bürger und Staat besonders eng verbunden sind und die deshalb zu Recht mit umfangreichen Grundrechtsberechtigungen erschlossen sind. Zugespitzt formuliert, könnte man fragen, wo sonst, wenn nicht beim Wahlrecht, der Einzelne in einem der Volkssouveränität verpflichteten Staatswesen Grundrechte haben sollte. Nach alledem trifft der Vorwurf einer übermäßigen Grundrechtsausdehnung auf die hier vertretene Auslegung des Wahlrechts nicht zu. 6, Kapitel

Zusammenfassung der Ergebnisse zur innerstaatlichen Kompetenzabgabe Zusammenfassend haben die bisherigen Betrachtungen damit folgendes ergeben: Der einzelne Wahlberechtigte ist bei parlamentarischen Kompetenzverlagerungen im innerstaatlichen Bereich grundsätzlich in seinem individuellen Wahlrecht betroffen. Die Berührung des Wahlrechts ergibt sich nicht, wie 525

Vgl. oben A. 526 ygi etwa Bettermann, Hypertrophie, S. 5 f. 527 Oben A. 528 Im Sinne von citoyen. 529 Vgl. Häberle, in HdBStR I, § 20, Rz. 65. 530 Laut BVerfG, Urteil vom 19.7.1966, BVerfGE 20, 56 (98), „fällt [bei den Wahlen] die Äußerung des Volkswillens mit der Bildung des Staatswillens zusammen".

240

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

in der Literatur teilweise vertreten, aus einer - wie auch immer zu begründenden - materiell-rechtlichen Anreicherung des wahlrechtlichen Gewährleistungsbereichs. Stattdessen liegt in der Kompetenzabgabe durch das Parlament eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts, da dessen sozialer Sinngehalt, an der Auswahl der Personen in den Organen der Staatsleitung unmittelbar oder mittelbar teilzuhaben, berührt wird. Denn ein weitgehend entmachteter Bundestag wäre nicht mehr als tatsächliches Organ der Staatsleitung anzusehen; die Beteiligung an Wahlen zu ihm wäre sinnlos. Durch diese Konstruktion wird eine für den Bereich der Abwehrrechte seit langem konsentierte Rechtsfigur für den Bereich des Wahlrechts als Grundrecht im Aktivstatus fruchtbar gemacht. Die gegen die Zulässigkeitsentscheidung im Maastricht-Urteil erhobenen Bedenken greifen gegenüber der hier vertretenen Auffassung nicht durch. 7. Kapitel

Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen44 an EG-Organe Besonderheiten ergeben sich freilich, wenn der Bundestag eigene Kompetenzen nicht im innerstaatlichen Binnenraum des Grundgesetzes abgibt, sondern sie „nach außen", an außerdeutsche Institutionen überträgt. Bereits oben 5 3 1 wurde herausgearbeitet, daß es sich hierbei nur um Internationale Organisationen, nicht aber um ausländische Staaten handeln kann. Bei solchen Kompetenzabgaben „nach außen" treten dann Berührungspunkte mit der (äußeren) Souveränität auf, die im innerstaatlichen Raum nicht existieren. Zudem bestehen Sonderregeln für die „Übertragung von Hoheitsrechten", die möglicherweise auch für die vorliegende Frage zu berücksichtigen sind. Schließlich ist nicht zu verkennen, daß diese Konstellation besondere praktische Relevanz besitzt. Fraglich ist also, was für das subjektive Recht aus Art. 38 GG gilt, wenn die Kompetenzverlagerung vom Bundestag auf eine internationale oder gar supranationale Institution erfolgt. Aufgrund der besonderen Position, welche die Europäische Union mittlerweile einnimmt - sie ist nach allgemeiner Ansicht inzwischen nicht nur eine internationale, sondern wegen ihrer Möglichkeit zum Durchgriff in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine supranationale Organisation 532 - ist der Prozeß der europäischen Integration von der „normalen" internationalen Zusammenarbeit im Rahmen sonstiger Internationaler Organisationen zu unterscheiden. Diese

531 532

Oben 1. Kapitel, A. Vgl. statt aller Th. Oppermann, EuropaR, Rz. 890.

7. Kap.: Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen" an EG-Organe 241 Differenzierung spiegelt sich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Behandlung beider Organisationsformen im Grundgesetz (Art. 23 bzw. 24 GG) wider. Gemäß ihrer besonderen praktischen Bedeutung ist die Frage einer Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaft im folgenden als erstes zu untersuchen.

A. Die deutsche Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union Nach allgemeiner Ansicht enthält das Grundgesetz mit der in der Präambel verankerten Grundentscheidung für die europäische Einigung einen Auftrag an die Verfassungsorgane, an dieser Einigung mitzuwirken. 5 3 3 Dieser Prozeß immer weiterer Vergemeinschaftung bleibt freilich nicht ohne Auswirkungen auf die Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten; dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Das Phänomen, daß durch die „Übertragung von Hoheitsrechten" auf die Europäische Gemeinschaft die Verfassungsordnung des Grundgesetzes seit längerem einem „Erosionsproz e ß " 5 3 4 ausgesetzt ist, der unter anderem die mitgliedstaatliche Souveränität und das Demokratieprinzip betrifft, ist bereits des öfteren beschrieben worden. 5 3 5 Nicht zuletzt diese Bedenken führten zur Einfügung des neuen Art. 23 in das Grundgesetz. 536 In Abs. 1 der Vorschrift wird der Integrationsprozeß rechtlich abgestützt, wenn es im dortigen Satz 1 heißt, die Bundesrepublik wirke ,,[z]ur Verwirklichung eines einheitlichen Europas [...] bei der Entwicklung der Europäischen Union mit". Gemäß Satz 2 kann „der Bund" hierzu „Hoheitsrechte übertragen". Satz 3 verlangt für bestimmte Regelungen ausdrücklich die Beachtung des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG.

I. Art. 23 Abs. 1 GG als souveränitätsbezogene Norm Bereits der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 läßt erkennen, daß die europäische Einigung dort in erster Linie im Hinblick auf die souveränitätsrechtliche Problematik erfaßt ist. Insbesondere ergibt sich das aus dem Begriff der „Hoheitsrechte", der aus dem älteren Art. 24 Abs. 1 GG übernommen wurde. 5 3 7 In dem dortigen Rahmen werden „Hoheitsrechte" definiert als 533 534 535 536 537 16 Soppe

Siehe nur Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 36. Huber, Symposium Badura, S. 105 (112). Siehe nur Huber, a.a.O., m.w.N. in dortiger FN 36. Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Schmalenbach, Europaartikel, S. 32 ff. Vgl. Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 45 und 49.

242

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

„Bestandteile der staatlichen Hoheitsgewalt"; 538 die Gesamtheit der „Hoheitsrechte [...] macht die Hoheitsgewalt aus". 5 3 9 Auch die etwas spezifischere Umschreibung der „Hoheitsrechte" als „(vertraglich eingeräumte) Befugnisse einer zwischenstaatlichen Einrichtung zum Erlaß von Rechtssätzen und Einzelfallregelungen, deren Adressaten unmittelbar die Rechtssubjekte und Rechtsanwendungsorgane der staatlichen Rechtsordnung sind", 5 4 0 läßt den Bezug zur staatlichen Souveränität deutlich erkennen, da die Befugnis zur Setzung von Rechtssätzen und Einzelfallregelungen Teil der (inneren) Souveränität ist. Für den Bereich des Art. 23 GG ist von der gleichen Bedeutung des Begriffs „Hoheitsrechte" auszugehen. 541

II. Der Demokratiebezug in Art. 23 Abs. 2 und 3 GG Nach dem Vorgesagten wird die Problematik der Verlagerung von staatlichen Befugnissen auf die gemeinschaftliche Ebene in Abs. 1 des Art. 23 GG ausschließlich als Souveränitätsproblem begriffen, nicht aber als demokratisches Problem. Auch die Kautelen der Absätze 4-7 dienen nicht der Sicherung des demokratischen Einflusses des Bundestags, sondern sollen einen unkontrollierten Souveränitätsverlust der Bundesländer verhindern. Daneben ist in den Absätzen 2 und 3 auch das Demokratieprinzip insoweit berücksichtigt worden, als dem Bundestag Informations- und Mitwirkungsrechte gegenüber der Bundesregierung gewährt werden. Auf diese Weise soll das Parlament in die Lage versetzt werden, auch auf die Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtssetzungsakten der Europäischen Union Einfluß zu nehmen. Hierzu zählt jeder förmliche Beschluß des Rates, der - als Sekundärrecht - Rechtswirkungen erzielt, mithin Verordnungen und Richtlinien der EG, aber auch Beschlüsse im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. 542 An der „Übertragung von Hoheitsrechten" im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Primärrechts, das heißt durch die Schließung oder Änderung eines entsprechenden (völkerrechtlichen) Vertrags, ist der Bundestag ohnehin beteiligt, da hierfür gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 2 GG ein förmliches Gesetz - und damit ein Gesetzesbeschluß des Bundestags - erforderlich i s t . 5 4 3 538

Mosler, in HdBStR VII, § 175, Rz. 33. Mosler, a.a.O., Rz. 28. 540 Randelzhofer, in Maunz/Dürig, GG, Art. 24 Abs. I, Rz. 30; zustimmend Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 49; ähnlich Streinz, in Sachs, GG, Art. 23, Rz. 53 f. 541 Scholz, a.a.O.; Streinz, a.a.O., Rz. 53. 542 Streinz, a.a.O., Rz. 99. 539

7. Kap.: Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen" an EG-Organe 243

B. Die Rolle des Art. 38 GG im Geltungsbereich des Art. 23 G G Auch wenn damit der Bundestag theoretisch auf alle Übertragungen von Hoheitsrechten Einfluß nehmen kann, sei es direkt durch Gesetzesbeschluß im Rahmen des Primärrechts, sei es indirekt durch Konsultation und „Mitwirkung" im Bereich des Sekundärrechts, folgt hieraus nicht, daß jede dieser Übertragungen den Einzelnen in seinem Wahlrecht aus Art. 38 GG berühren würde.

I. „Übertragung von Hoheitsrechten" versus „Übertragung von parlamentarischen Kompetenzen" Denn es ist zu differenzieren zwischen der „Übertragung von Hoheitsrechten" im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG einerseits und der „Übertragung von parlamentarischen Kompetenzen" im hier zu untersuchenden Sinne andererseits. Diese Unterscheidung rührt daher, daß der erstgenannte Begriff souveränitätsbezogen 544 ist und auf die Rechte des Völkerrechtssubjekts „Bundesrepublik Deutschland" abstellt. Demgegenüber bezeichnet der für das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG allein maßgebliche Begriff der „Abgabe von parlamentarischen Kompetenzen" den Verlust an Kompetenzen des Verfassungsorgans „Deutscher Bundestag". Sofern die übertragenen Hoheitsrechte ausschließlich aus Kompetenzen des Bundestags bestehen, so zum Beispiel, wenn ausschließlich gewisse Legislativbefugnisse übertragen werden, ist der Umfang von übertragenen Hoheitsrechten und übertragenen Parlamentskompetenzen freilich - entsprechend der Prämisse - identisch. Dennoch dürfen beide Begriffe auch hier nicht vermengt werden: „Hoheitsrechte" bezeichnen die souveränitätsrelevante Zuordnung zu einem bestimmten Völkerrechtssubjekt, während „Parlamentskompetenzen" bestimmen, welches Organ innerhalb des Völkerrechtssubjekts zuständig ist. Deutlicher werden die Unterschiede, wenn die zu übertragenden Hoheitsrechte nicht ausschließlich oder gar nicht aus Bundestagskompetenzen bestehen. Denn es sind Fälle denkbar, in denen ein Hoheitsrecht im Sinne des Art. 23 GG übertragen wird, ohne daß der Bundestag eine Einbuße an eigenen Kompetenzen zu verzeichnen hätte. Ein mögliches Beispiel wäre etwa die Verlagerung von Aufgaben der Rechtsprechung auf die europäische 543

Zur Rolle des Art. 59 GG im Rahmen der europäischen Integration (allerdings vor dem Inkrafttreten des Art. 23 GG n.F.) Randelzhofer, in Maunz/Dürig, GG, Art. 24, Rz. 63. 544 Zur Abgrenzung zwischen Souveränitätsprinzip und Demokratiegrundsatz siehe oben 1. Kapitel, C. 16*

244

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Ebene: Da die Ausübung von Rechtsprechung Teil der staatlichen Hoheitsgewalt ist, läge hierin eine Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 23 Abs. 1 G G . 5 4 5 Weil aber die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit nicht der Kontrolle des Bundestags unterliegt, dieser mithin auf diesem Gebiet keine Befugnisse hat, wäre eine entsprechende Übertragung andererseits keine Einschränkung der parlamentarischen Kompetenzen. Vergleichbares gilt grundsätzlich - mit Einschränkungen, die daraus resultieren, daß aufgrund der ministeriellen Weisungskette hier Eingriffsmöglichkeiten des Bundestags bestehen können, 5 4 6 - für Übertragungen im Bereich der Exekutive. Auch hier verliert das Parlament im Grundsatz keine eigenen Befugnisse.

II. Das Erfordernis: Übertragung parlamentarischer Kompetenzen Anders verhält es sich somit nur, wenn der Bundestag - wie im Maastricht-Vertrag 547 - (auch) eigene Kompetenzen an Gemeinschaftsorgane abgibt: Dann ist ein Kompetenzverlust des Bundestags zu konstatieren, der den Schutzbereich des subjektiven Wahlrechts mittelbar tangiert. Nach dem Vorgesagten ist es daher nicht möglich, von einer festgestellten Übertragung von Hoheitsrechten reflexhaft auf eine Beeinträchtigung des Wahlrechts des Einzelnen zu schließen. Anders ausgedrückt ist die Übertragung von Hoheitsrechten i m Bereich des Art. 23 GG eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer Wahlrechtsbeeinträchtigung. Vielmehr ist auch hier stets darauf abzustellen, ob eine Übertragung (auch) parlamentarischer Kompetenzen erfolgt ist oder nicht. Nur soweit dies zu bejahen ist, kommt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts in Betracht.

545

Vgl. Randelzhofer, in Maunz/Dürig, GG, Art. 24, Rz. 33, nach dem die „Handlungsformen sämtlicher Funktionen der Staatsgewalt von dem Begriff erfaßt [sind], d.h. Normsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung". 546 Außer Acht gelassen wird hier der - nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes sogar die Regel bildende - Fall, daß eine Kompetenz der landeseigenen Verwaltung betroffen ist (vgl. Art. 30, 83 GG). 547 Dort handelte es sich um weitreichende Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik, Befugnisse im Zusammenhang mit der neu errichteten Unionsbürgerschaft sowie um Aufgaben der (allerdings teilweise den Ländern unterstehenden) Bereiche Bildungs-, Berufsbildungs-, Kultur- und Gesundheitspolitik, Verbraucherschutz sowie transeuropäische Netze; zitiert nach BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (159 ff.).

7. Kap.: Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen" an EG-Organe 245

C. Exkurs: Der Einzelne und die Übertragung von Hoheitsrechten Aus dem gerade Dargelegten läßt sich freilich nicht nur ableiten, daß der Einzelne sich auch im Anwendungsbereich des Art. 23 GG gegen übermäßige 5 4 8 Kompetenzabgaben des Bundestags wehren kann. Die Differenzierung zwischen Hoheitsrechten einerseits und parlamentarischen Kompetenzen andererseits verdeutlicht zugleich, gegen was sich der Einzelne - jedenfalls unter Berufung auf sein Wahlrecht - nicht wenden kann: die Übertragung von Hoheitsrechten als solche. Der Einzelne hat aus Art. 38 GG keinen Anspruch darauf, daß „der B u n d " 5 4 9 keine Hoheitsrechte übertrage. Das ergibt sich aus der Verankerung seines subjektiven Rechts im Wahlrecht. Soweit die zu übertragenden Hoheitsrechte ausschließlich aus Bundestagskompetenzen bestünden, könnte der Einzelne das Vorhaben nur unter dem Gesichtspunkt der Abgabe von Bundestagskompetenzen angreifen; der äußere Gleichlauf beider Übertragungsakte darf hier nicht zu einer inhaltlichen Vermengung führen. Soweit die geplante Übertragung von Hoheitsrechten neben etwaigen Bundestagsbefugnissen noch Kompetenzen anderer Staatsfunktionen beinhalten würde, wäre der Einzelne diesbezüglich von vornherein nicht in seinem Recht aus Art. 38 GG verletzt, sondern auf die Rüge der Abgabe von Bundestagskompetenzen beschränkt. Soweit schließlich die Übertragung von Hoheitsrechten keinerlei Bundestagsbefugnisse erfassen würde, käme eine Verletzung des Art. 38 GG gar nicht in Betracht. Auch wenn nicht zu verkennen ist, daß aufgrund der bereits gegebenen oder vorstellbaren Konstellationen einer Kompetenzabgabe an EG-Organe beide Teilfragen tatsächlich nur schwer auseinander zu halten sein werden, ist doch aus dogmatischen Gründen an der dargestellten Trennung beider Aspekte festzuhalten. Nur so lassen sich nämlich rechtlich „saubere" Abgrenzungen des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG vornehmen und willkürliche Ergebnisse vermeiden. Nur die Beachtung dieser Differenzierung zwischen der Übertragung von Hoheitsrechten bzw. derjenigen von Bundestagskompetenzen wird schließlich auch der oben 5 5 0 zitierten Kritik am Maastricht-Urteil gerecht, dort würden Demokratieprinzip und Souveränität miteinander vermengt. Denn unabhängig von der Frage, ob diese Kritik am Urteil im einzelnen berechtigt w a r , 5 5 1 zeigt sich doch, daß damit ein wich548 Zu der Frage, wie weit das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG reicht, mit anderen Worten, wann eine Kompetenzverlagerung den Einzelnen verletzt, unten 7. Teil. 549 Im Sinne der Formulierung des Art. 23 Abs. 1 GG, gemeint ist das Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik Deutschland. 550 Oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. III.

246

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

tiger Aspekt in diesem Bereich angesprochen ist. In der Tat läßt sich, wie die kritischen Anmerkungen für den Maastricht-Fall zu Recht herausgestellt haben, nach dem Vorgesagten aus Art. 38 GG kein subjektives Recht des Einzelnen unmittelbar auf „Aufrechterhaltung der nationalen Souveränit ä t " 5 5 2 entnehmen. Der Anspruch des Einzelnen umfaßt nur - aber immerhin - den Schutz vor demokratieverletzenden Kompetenzabgaben des Bundestags.

D. Ergebnis zur Kompetenzabgabe an EG-Organe Damit ist auch im Geltungsbereich des Art. 23 GG stets auf die Übertragung von Bundestagskompetenzen abzustellen. Für das subjektive Recht aus Art. 38 GG bestehen insoweit jedenfalls im Grundsatz 553 keine Besonderheiten gegenüber der rein innerstaatlichen Rechtslage.

8. Kapitel

Der Sonderfall der Kompetenzabgabe „nach außen44 an völkerrechtliche Institutionen An verschiedenen Stellen dieser Arbeit ist bereits behauptet worden, daß die hier zu vertretene Auslegung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG auch dann einschlägig sein kann, wenn es um die Übertragung von Bundestagskompetenzen auf Internationale Organisationen außerhalb des von Art. 23 GG erfaßten Bereichs der europäischen Integration geht. Da dies vereinzelt wohl anders gesehen w i r d , 5 5 4 soll diese These nunmehr belegt werden (dazu Α.). Ferner ist zu untersuchen, ob bei derartigen Ermächtigungen Besonderheiten gegenüber den rein binnenstaatlichen Konstellationen bestehen (B.).

551

Nach dem Vorgesagten erscheint sie jedenfalls nicht völlig verfehlt. Erst recht verschwimmen die Begriffe „Hoheitsrechte" und „parlamentarische Kompetenzen" freilich in der Verfassungsbeschwerde Brunners, in der an einer Stelle sogar „ein Recht auf einen nationalen Gesetzgeber" postuliert wird (Schachtschneider, Erwiderung I des Verfassungsbeschwerdeführers Brunner vom 29.3.1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 381; Hervorhebung im Original). 552 So die - kritische - Formulierung von Fromont, JZ 1995, 800 (801). 553 Zur inhaltlichen Reichweite des subjektiven Rechts im Bereich des Art. 23 siehe unten 7. Teil, 4. Kapitel. 554 Nicht ganz eindeutig A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 256: eine Übertragbarkeit auf diesen Bereich sei „wohl eher zu verneinen".

8. Kap.: Kompetenzabgabe „nach außen" an völkerrechtliche Institutionen

247

A. Das subjektive Recht und die Ermächtigung völkerrechtlicher Institutionen Da das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil die Geltung des neu „entdeckten" subjektiven Rechts aus Art. 38 GG lediglich für den „Anwendungsbereich des Art. 23 GG" postulierte, 555 bedarf eine Ausdehnung auf den Bereich der sonstigen internationalen Zusammenarbeit, mithin auf den Anwendungsbereich des Art. 24 GG, einer genaueren Analyse. Für rein innerstaatliche Kompetenzverlagerungen ist eine derartige Ausdehnung weithin unstreitig und auch dogmatisch fundiert begründbar. 556

I. Vereinzelt geäußerte Zweifel an der Übertragbarkeit Für den Bereich des Art. 24 GG sind vereinzelt Zweifel angemeldet worden; hier sei „eine Reihe von Gesichtspunkten anders gelagert und können [sie!] insofern gegen eine - zumindest unmodifizierte - Übertragung angeführt werden". 5 5 7 Im Bereich „klassischer" Internationaler Organisationen 558 sei den Organen in der Regel „keine Ermächtigung zu unmittelbaren Durchgriffen mit Grundrechtsauswirkung" erteilt. 5 5 9 Zudem beanspruchten diese Organisationen, anders als die Europäischen Gemeinschaften, nicht, »„supranationales' Recht mit einem (zumindest Anwendungs-) Vorrang gegenüber nationalem Recht setzen zu können". 5 6 0 Diese Bedenken werden auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr gestützt, in der „sich die Frage nach den Grenzen der Übertragung von Hoheitsbefugnissen nicht stelle, da hier keine Zuweisung von Hoheitsbefugnissen mit unmittelbarer Wirkung im innerstaatlichen Bereich gegeben sei". 5 6 1

555

S. 155. 556

BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (182), sowie Leitsatz 1 auf

Näher oben 1. Kapitel, B. A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 255. 558 Unter dem Begriff „klassische Internationale Organisationen" werden im folgenden Internationale Organisationen verstanden, die, wie es dem klassischen Völkerrecht entspricht, rein zwischenstaatlich aufgebaut sind und im Gegensatz zur EG keine supranationalen Befugnisse aufweisen. Beispiele derartiger Organisationen sind etwa die Vereinten Nationen mit ihren Unter- und Sonderorganisationen, die NATO oder die WEU. 559 A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 255. 560 A. Wolf, a.a.O. 561 A. Wölf, a.a.O., unter Verweis auf BVerfG, Urteil vom 12.7.1994, BVerfGE 90, 286 (346). 557

248

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

Π. Die fehlende Berechtigung dieser Zweifel Gegenüber dieser Argumentation ist allerdings nicht zu übersehen, daß mit dem zitierten Bundesverfassungsgerichtsurteil lediglich ein einzelner Fall herangezogen wird, um eine allgemein gehaltene These zu begründen. Dies überzeugt bereits aus logischen Gründen nicht, da gegenüber diesem Beispielsfall ohne weiteres Gegenbeispiele denkbar sind, in denen es zu einem Durchgriff der Internationalen Organisation unmittelbar auf den einzelnen Grundrechtsträger kommen kann. So sind schon in dem zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts Hinweise auf derartige Durchgriffsbefugnisse zu finden, wenn dort für den Bereich der NATO unterschiedlich weit reichende Kommandobefugnisse identifiziert werden, 5 6 2 die lediglich aufgrund der besonderen Konstellation im dortigen Fall nicht gegeben waren. 5 6 3 Im Falle ihres Vorliegens hätte eine Pflicht der deutschen Soldaten bestanden, die unmittelbar von der NATO erteilten Befehle zu befolgen. 5 6 4 Des weiteren hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in seinen Entscheidungen zur Raketenstationierung in der Zustimmung der Bundesregierung, US-amerikanische Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper in Deutschland zu stationieren, eine Übertragung von Hoheitsrechten an die NATO gesehen, 565 die ebenfalls unmittelbar zu Grundrechtsberührungen führte. 5 6 6 Zudem sind gerade i m Rahmen der deutschen Mitarbeit in der NATO zahlreiche weitere Konstellationen vorstellbar, in denen den in das Bündnis integrierten deutschen Soldaten Weisungen von NATO-Stellen erteilt werden, die Grundrechtsrelevanz aufweisen. Ferner verfängt die Argumentation mit dem fehlenden (Anwendungs-) Vorrang des Rechts klassischer Internationaler Organisationen nicht.

562 BVerfG, a.a.O. (308), zitiert folgende Begriffe: „Full Command" als umfassende Befehlsgewalt des nationalen militärischen Führers für alle militärischen Bereiche; „Operational Command" als die einem Befehlshaber übertragene Befugnis, nachgeordneten Befehlshabern Aufgaben zuzuweisen usw.; „Operational Control" als die Befugnis zur Durchführung bestimmter Aufträge etc. 563 BVerfG, a.a.O. (351 ff.). 564 Ungeachtet der Frage nach dem besonderen Gewaltverhältnis, in dem sich Soldaten nach überkommener Auffassung befinden, hätte hierin wegen der Leibesund Lebensgefahr etwaiger Einsätze eine Grundrechtsberührung gelegen. 565 BVerfG, Urteil vom 18.12.1984, BVerfGE 68, 1 (93 ff.). 566 Die auf das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gestützten Anträge auf einstweilige Anordnungen scheiterten lediglich daran, daß, so das BVerfG, die behauptete Grundrechtsgefährdung der Bundesrepublik Deutschland nicht zugerechnet werden könne und gegen Akte nicht-deutscher öffentlicher Gewalt die Verfassungsbeschwerde nicht zulässig sei, BVerfG, Beschluß vom 16.12.1983, BVerfGE 66, 39 (57 ff.).

8. Kap.: Kompetenzabgabe „nach außen" an völkerrechtliche Institutionen

249

Es ist bereits fraglich, was ein Anwendungs- oder auch Geltungsvorrang mit der Frage zu tun hat, ob das subjektive Recht im hiesigen Verständnis auch bei der Verlagerung von parlamentarischen Kompetenzen auf völkerrechtliche Institutionen außerhalb der Europäischen Gemeinschaften anwendbar ist. Denn es sind, wie gerade gezeigt wurde, ganz unabhängig davon Fälle denkbar, in denen auch solche Organisationen unmittelbar auf deutsche Grundrechtsträger durchgreifen können. Die Frage nach dem Bestehen eines Normenvorrangs gegenüber dem deutschen Recht ist damit für die Frage der Übertragbarkeit der Argumentation auf die Fälle des Art. 24 GG unerheblich. Zum anderen dürfte dieser Punkt aus den folgenden Gründen ohnehin obsolet sein: Ein - wie auch immer gearteter - Vorrang würde voraussetzen, daß es überhaupt zu einem Normenkonflikt zwischen deutschem Recht einerseits und dem Recht einer Internationalen Organisation andererseits kommt. Das wird aber allenfalls ganz ausnahmsweise gegeben sein. Fälle unterschiedlicher Normaussagen dürften in diesem Bereich äußerst selten sein, da die Internationalen Organisationen klassischen Zuschnitts eine wesentlich geringere Normsetzungstätigkeit entfalten, als dies die Europäische Gemeinschaft tut. Die Gefahr eines - dem Sekundärrecht der EG vergleichbaren - selbst gesetzten Rechts der Organisation, das mangels Beteiligung oder Zustimmung eines Mitgliedstaats dessen innerstaatlicher Rechtsordnung widerspricht, ist damit von Anfang geringer als im Bereich der europäischen Integration. In den - dem gemeinschaftlichen Primärrecht entsprechenden - Fällen einer ausdrücklichen mitgliedstaatlichen Ermächtigung an eine Internationale Organisation dürften, da die Ermächtigung als solche durch den deutschen Gesetzgeber überschaubar ist, jedenfalls im Grundsatz keine gegenläufigen deutschen Rechtsnormen bestehen. Vielmehr wird der Gesetzgeber in den übertragenen Bereichen nicht selbst (anderweitige) Regeln aufstellen. Sofern derartige Bereiche innerstaatlich doch geregelt sein sollten, dürfte eine ausdrückliche Kollisionsregel existieren, die den Vorrang der einen oder der anderen Norm festlegt. Soweit im Zusammenhang mit den geschilderten Zweifeln an der Übertragbarkeit des subjektiven Rechts auf den Bereich des Art. 24 GG schließlich darauf abgestellt wird, daß das Bundesverfassungsgericht auch bei der Beurteilung der Rechtsfortbildung der Gründungsverträge zwischen der EG einerseits und den Fällen sonstiger internationaler Zusammenarbeit andererseits differenziere, 567 bleibt unerfindlich, was dies mit dem subjektiven Wahlrecht zu tun haben soll. Dies ist eine objektiv-rechtliche Fragestellung ohne erkennbaren Bezug zum Wahlrecht des Einzelnen.

567

A. Wolf,

Prozessuale Probleme, S. 255 f.

250

5. Teil: Grundlegung des subjektiven Rechts

III. Ergebnis zur Frage der Anwendbarkeit Damit ist das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG im Grundsatz auch dann anwendbar, wenn der Bundestag Kompetenzen an Internationale Organisationen abgibt.

B. Die Rolle des Art. 38 GG im Geltungsbereich des Art. 24 G G Nachdem soeben die grundsätzliche Übertragbarkeit des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG auf den Bereich des Art. 24 GG bejaht wurde, ist nunmehr zu klären, ob auf diesem Gebiet Besonderheiten gegenüber der rein innerstaatlichen Anwendung bestehen. Denn auch hier spielen - wie bei Art. 23 G G 5 6 8 - Fragen der Souveränität mit hinein, die im binnenstaatlichen Raum nicht auftreten. Zudem enthält auch Art. 24 Abs. 1 GG eine besondere Ermächtigung an den Bund zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Des weiteren darf der Bund gemäß Abs. 2 unter Umständen in „Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen". Bereits im Rahmen der Untersuchung des Art. 23 GG wurde allerdings herausgestellt, daß der Begriff der „Hoheitsrechte" souveränitätsrechtlich geprägt ist und mit dem Terminus der parlamentarischen (Organ-) „Kompetenzen" nicht verwechselt werden darf. 5 6 9 Vielmehr sind beide auseinanderzuhalten, so daß auch die Zulässigkeit der jeweiligen Übertragungsvorgänge strikt zu unterscheiden ist. Da der in Art. 23 GG verwendete Ausdruck „Hoheitsrechte" demjenigen des Art. 24 GG entspricht, 570 können die Ausführungen zu Art. 23 GG im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG entsprechend herangezogen werden, so daß an dieser Stelle auf sie verwiesen werden kann. Auch i m Bereich des Abs. 2 von Art. 24 GG gelten keine Besonderheiten gegenüber Art. 23, da auch hier der Begriff „Hoheitsrechte" souveränitätsrechtlich zu verstehen ist und damit die Organkompetenzen des Bundestags nicht unmittelbar betrifft.

C. Ergebnis zur Kompetenzabgabe an völkerrechtliche Institutionen Nach alledem ist das subjektive Recht aus Art. 38 GG auch im Anwendungsbereich des Art. 24 GG anwendbar. Gegenüber der binnenstaatlichen Rechtslage bestehen - wie bei Art. 23 GG - im Grundsatz keine Besonderheiten. 568 569 57 0

Dazu oben 7. Kapitel. Oben 7. Kapitel, Β. I. Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rz. 49.

. Teil

Subjektives Recht auf Demokratie Rechtsvergleichung und Völkerrecht Nach der dogmatischen Betrachtung im fünften Teil, die allein die grundgesetzliche Rechtslage zugrunde legt, soll nun ein kurzer Blick über die Grenzen des deutschen Rechts geworfen werden. 1 Objekt einer solchen Betrachtung sollen zum einen ausgewählte ausländische Rechtsordnungen sein (dazu das 1. Kapitel). Durch eine derartige rechts vergleichende Betrachtungsweise kann allgemein die Rechtsfindung verbessert werden; 2 zum Teil wird deshalb die Rechtsvergleichung bereits als „fünfte Auslegungsmethode" bezeichnet.3 Unabhängig von der Frage, wie weit die Rechtsvergleichung tatsächlich Rückschlüsse auf die Rechtslage unter dem deutschen Grundgesetz erlaubt, läßt sich mit einem solchen Blick ins Ausland zudem gerade für die vorliegende Fragestellung klären, ob das oben gefundene Ergebnis einen deutschen Sonderweg darstellt, oder ob in anderen Rechtsordnungen ähnliche Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen bestehen. Ferner soll der Blick auf das Völkerrecht gerichtet werden (dazu im 2. Kapitel). Hier sind - dies sei der ausführlichen Betrachtung vorweggenommen - in verschiedenen internationalen Übereinkommen Regelungen anzutreffen, die unmittelbar geltende Rechte des Einzelnen enthalten, welche dem vorliegend untersuchten subjektiven Recht sehr eng verwandt sind. Aufgrund ihrer innerstaatlichen Geltung in der Bundesrepublik Deutschland stellen diese Berechtigungen eine weitere Stütze für das subjektive Recht aus Art. 38 GG dar.

1

Allgemein für eine solche Betrachtung benachbarter Rechtsordnungen H.-P. Schneider, NJW 1999, 1497 (1503). 2 Vgl. Sommermann, DÖV 1999, 1017 (1020). 3 Häberle, JZ 1989, 913 (916 ff.).

252

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht 1. Kapitel

Rechtsvergleichung A. Die zu untersuchende Fragestellung I. Die Formulierung der Fragestellung Bei der rechtsvergleichenden Analyse ist zu berücksichtigen, daß es wenig erfolgversprechend wäre, die für das Grundgesetz entfaltete Argumentation „ i m Maßstab eins zu eins" auf ausländische Rechtsordnungen zu übertragen. Die Frage, in welchen anderen Rechtsordnungen außerhalb Deutschlands der einzelne Wahlberechtigte sich ebenfalls i m Wege der Verfassungsbeschwerde gegen eine durch übermäßige parlamentarische Kompetenzabgaben verursachte mittelbare Beeinträchtigung seines Wahlrechts zur Wehr setzen könnte, wäre aus mehreren Gründen zu eng gestellt. Sie würde zum einen voraussetzen, daß in anderen Rechtsordnungen der spezifische Rechtsbehelf einer Verfassungsbeschwerde, möglichst zu einem besonderen Verfassungsgericht, existiert. Zum anderen würden zahlreiche materiellrechtliche Voraussetzungen auf das fremde Rechtssystem übertragen, von der Anknüpfung an ein im jeweiligen Verfassungstext ausdrücklich geregeltes Wahlrecht bis hin zu der - in Deutschland außerordentlich weit ausdifferenzierten - Systematik mittelbarer Grundrechtsbeeinträchtigungen. Stattdessen muß die Frage weiter, funktional, gefaßt werden. Das zu untersuchende Problem muß „erbarmungslos von den Systembegriffen der eigenen Rechtsordnung gereinigt" 4 und allgemeingültig beschrieben werden, ehe an die Erarbeitung einer Antwort aus fremden Rechtssystemen gedacht werden kann. Entscheidend hierfür ist somit die abstrahierte Herausarbeitung der eigentlichen Problemstellung. Freilich darf die zu untersuchende Frage nicht so gestellt werden, daß sie in Beliebigkeit zerfasert. Wesentliche Elemente der vorliegenden Problemstellung sind daher die Existenz einer Volksvertretung (Parlament), die Delegation wesentlicher parlamentarischer Befugnisse auf andere (innerstaatliche oder auswärtige) Entscheidungsträger und die Möglichkeiten des Individuums, sich dagegen zu wenden. Sinnvollerweise sollte der Kreis der untersuchten Individuen von Anfang an auf den Kreis der (jeweiligen) Staatsbürger begrenzt werden. Demgemäß lautet die zu beantwortende Frage unter Vermeidung einer sprachlichen und inhaltlichen Anknüpfung an das Grundgesetz etwa wie folgt: In welchem Maße kann sich der einzelne Staatsbürger dagegen 4

Kötz, RabelsZ 54 (1990), 203 (209); zustimmend Starck, JZ 1997, 1021 (1027).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

253

wehren, daß das Parlament in weitreichendem Maße eigene Kompetenzen an andere Organe oder Institutionen abgibt?

II. Die grundsätzlichen Möglichkeiten individueller Berechtigung Eine derartige Rechtsschutzmöglichkeit des Individuums ist grundsätzlich auf verschiedenen Wegen vorstellbar. Die theoretischen Möglichkeiten reichen von einer ausdrücklichen materiellen subjektiven Berechtigung bis hin zu einer rein prozessual begründeten Rechtsposition, die dem Einzelnen ermöglicht, etwaige Kompetenzverlagerungen des Parlaments gerichtlich überprüfen zu lassen. Ausgehend von dieser Unterscheidung sind im folgenden die Systeme verschiedener Staaten zu analysieren. Von besonderem Interesse sind dabei aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft zu Deutschland die Verhältnisse in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein. Weiter sollen das Vereinigte Königreich und Frankreich herangezogen werden, da beide Länder, auch wenn sie hier wohl nicht als Beispiele für ihren jeweiligen Rechtskreis 5 angesehen werden können, doch interessante Beispiele bilden, wie die vorliegende Fragestellung verfassungsrechtlich behandelt werden kann. Ferner ist noch auf zwei Sonderfälle einzugehen: Dänemark und Portugal.

B. Der deutschsprachige Raum: Schweiz, Liechtenstein und Österreich Zunächst soll der übrige deutschsprachige Raum untersucht werden, innerhalb dessen, nicht zuletzt aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft, engere Verbindungen und stärkere wechselseitige Beeinflussungen als mit fremdsprachigen Rechtsordnungen bestehen.

I. Schweiz und Liechtenstein Eine ausdrückliche Antwort auf die hier zu untersuchende Frage findet sich in der Schweiz und in Liechtenstein zwar nicht. Auch gab es - soweit ersichtlich - bislang keine Rechtsprechung, die mit der Zulässigkeitsentscheidung im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil vergleichbar wäre. 5 Die Unterscheidung verschiedener Rechtskreise stammt ursprünglich aus der ZiRechtsvergleichung, S. 62 ff., die vilrechtsvergleichung - siehe etwa Zweigert/Kötz, im europäisch-atlantischen Raum zwischen romanischem, deutschem, anglo-amerikanischem und nordischem Rechtskreis unterscheiden sie ist aber auch auf den Bereich der Verfassungsvergleichung übertragbar, vgl. Starck, JZ 1997, 1021

(1026).

254

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

Jedoch findet sich ein interessantes Verständnis des Begriffs der „politischen Rechte", das im folgenden näher zu betrachten ist. 1. Das Stimmrecht als Organkompetenz Nicht nur in Deutschland ist inzwischen anerkannt, daß die Grundrechte nicht lediglich subjektiv-rechtliche Gewährleistungen enthalten, sondern auch eine objektiv-rechtliche Dimension aufweisen. 6 Vor diesem Hintergrund hat sich für den Bereich der politischen Grundrechte insbesondere in der Schweiz und in Liechtenstein eine besondere Spielart objektiv-rechtlicher Komponenten entwickelt, die, soweit ersichtlich, in Deutschland in der heutigen Diskussion nicht mehr vertreten wird: 7 Nach verbreiteter Auffassung in der dortigen Rechtsprechung 8 und Literatur 9 nimmt der Wahlberechtigte mit der Ausübung seines Wahl- und Stimmrechts zugleich Organkompetenzen wahr, sogenannte dualistische Theorie. 10 So heißt es für das Stimmrecht des Schweizers in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten, dieses habe eine „doppelte Natur"; 1 1 neben einem subjektiven Recht sei es auch eine „staatliche Funktion": „Als Träger von Mitwirkungsrechten bei der Ausübung der Staatsgewalt stellt der Stimmberechtigte ein Teilorgan des Staates dar; die Gesamtheit der Stimmberechtigten bildet das oberste Staatsorgan. Als Organ des Staates trägt der Stimmberechtigte eine Verantwortlichkeit; er ist grundsätzlich verpflichtet, seine Organfunktion zu erfüllen." 12

6

Für Deutschland statt aller Stern, StaatsR III/l, S. 751 ff.; für die Verbreitung dieser Auffassung in anderen Rechtsordnungen siehe ebenfalls Stern, a.a.O., S. 891 ff., allerdings mit Betonung der insoweit zurückhaltenden österreichischen Rechtsprechung. 7 Nowak, Grundrechte, S. 154, verweist für die Organtheorie, die - insoweit noch radikaler als die dualistische Theorie - das Wahlrecht ausschließlich als Organkompetenz ansieht, auf Georg Jellinek als deren Begründer. 8 Siehe etwa StGH Liechtenstein, Gutachten vom 11.12.1979, LES 1981, 116 (117). 9 Fleiner/Giacometti, BundesstaatsR, S. 428 ff.; Auhert, Droit Constitutionnel, II, § 1101; Nowak, Grundrechte, S. 158, jeweils für die Schweiz; Höfling, Grundrechtsordnung, S. 55 und 148; Batliner, Volksrechte, S. 47 f., jeweils für Liechtenstein. 10 Ausführlich zur Theorie der politischen Grundrechte Nowak, a.a.O., S. 150 ff. 11 Häfelin/Haller, BundesstaatsR, Rz. 592 f.; ähnlich Aubert, Droit Constitutionnel, II, § 1101; Batliner, Volksrechte, S. 48. 12 Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 593.

1. Kap.: Rechtsvergleichung

255

2. Rechtsschutz gegen Kompetenzbeeinträchtigungen? Auf der Grundlage dieses Verständnisses der politischen Rechte (auch) als Kompetenzen eines staatlichen Organs liegt es nahe, ihren Inhalt besonders effektiv zu schützen. Es ließe sich argumentieren, daß die politischen Rechte des Einzelnen auch gegen eine inhaltliche Aushöhlung gesondert gesichert werden müßten, da anderenfalls nicht lediglich eine Verletzung in subjektiven Rechten vorläge, sondern auch ein Übergriff in eine Kompetenz zugelassen würde. Dies beträfe dann nicht mehr nur den Bereich des Individualrechtsschutzes, sondern auch denjenigen der Verteilung der Organkompetenzen, mithin den der Staatsorganisation. Auch in der Schweiz und in Liechtenstein sind aber Übergriffe eines Staatsorgans in den Kompetenzbereich eines anderen Organs unzulässig. 13 Dieser Aspekt könnte dafür sprechen, dem Einzelnen auch in diesen Staaten die Möglichkeit zu geben, sich gegen indirekte Beeinträchtigungen seiner politischen Rechte durch parlamentarische Kompetenzabgaben zu wehren. Die Qualifikation der politischen Rechte als Organkompetenzen könnte gegenüber der deutschen Rechtslage eine Verstärkung der Position des Individuums begründen, da der Einzelne in seiner subjektiven Rechtsposition und in seiner Organstellung betroffen wäre. Ein solcher Schritt ist in der Schweiz und Liechtenstein allerdings, soweit erkennbar, noch nicht gemacht worden. Er wäre mit dem dortigen Verständnis der politischen Rechte und dem Rechtsschutzsystem wohl auch nicht vereinbar. Denn in der Schweiz dient die staatliche Funktion der politischen Rechte in erster Linie dazu, eine Pflicht des Bürgers zur Wahrnehmung dieser Rechte zu begründen, 14 bis hin zur Frage eines Stimmzwangs. 15 Besondere Rechtsschutzmöglichkeiten sind, soweit erkennbar, damit nicht verbunden. Vielmehr knüpfen diese an das subjektive Recht des Einzelnen an; 1 6 das gilt selbst dann, wenn nicht dessen persönliche Rechtsstellung betroffen ist, sondern wenn es um eher objektiv-rechtliche Fragen geht, wie etwa die Annullierung einer Volksinitiative, die unterbliebene Volksabstimmung über

13

Vgl. die Mechanismen zur Lösung von Kompetenzkonflikten im Schweizer Verfassungsrecht, dargestellt etwa von Häfelin/Haller, BundesstaatsR, Rz. 1757 ff.; Hangartner, StaatsR I, S. 139 f. 14 Vgl. Hangartner, StaatsR II, S. 239; Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 593; deutlich Auhert, Droit Constitutionnel, II, § 1102: „Une fonction n'est pas une simple faculté, c'est un devoir. En général, un organe n'est pas libre d'exercer ou de ne pas exercer sa fonction". 15 Häfelin/Haller, a.a.O.; Aubert, a.a.O., § 1104. 16 Vgl. Hangartner, StaatsR II, S. 267 f.; Aubert, a.a.O., § 1101; Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 592.

256

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

ein Gesetz oder sogar die Art und Weise, wie eine Volksbefragung organisiert ist. 1 7 In diesen Fällen ist in der Schweiz nach Art. 85 lit. a OG die sogenannte Stimmrechtsbeschwerde zum Bundesgericht möglich. 1 8 Damit ist in der Schweiz mit der Ausdehnung der politischen Rechte hin zu einer staatsorganisatorischen Kompetenz keine Ausweitung der individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten verbunden. Dies entspricht der Rechtslage in Liechtenstein. 19

Π. Österreich In Österreich findet sich ebenfalls keine ausdrückliche Regelung der hier aufgeworfenen Frage. Auch eine dem bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil vergleichbare Stellungnahme der Rechtsprechung oder Literatur ist nicht ersichtlich. Zudem kann die soeben für die Schweiz und Liechtenstein entfaltete Argumentation für Österreich keine Geltung beanspruchen. Zwar bezeichnet Höfling 20 die dargestellte dualistische Theorie als herrschend „für den gesamten deutschsprachigen Raum", was an sich - neben derjenigen in Deutschland - die Rechtslage in Österreich mit einbezöge. Jedoch ist in den von ihm geführten Nachweisen 21 keine deutsche oder österreichische Rechtsprechung oder Literatur enthalten. Sie ist für Deutschland auch sonst nicht ersichtlich. An anderer Stelle formuliert Höfling denn auch schon vorsichtiger: „Namentlich in der Schweiz, aber auch in Österreich und in Liechtenstein" finde ein solches Verständnis weitgehende Zustimmung. 22 Allerdings ist ein Nachweis über die Verbreitung dieses Verständnisses in Österreich ebenfalls nicht zu finden, 23 zumal Höfling selbst hierfür keine Belege liefert. 17

Beispiele nach Aubert, a. a. O. Näher Häfelin/Haller, BundesstaatsR, Rz. 1707 ff.; siehe auch Hangartner; StaatsR II, S. 267 f. 19 Vgl. Batliner, Volksrechte, S. 203. Siehe auch StGH Liechtenstein, Urteil vom 30.4.1984, LES 1985, 65 (68), der die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen das Verbot einer Initiative allein aus den „politischen Rechten" - und damit subjektivrechtlich - herleitet. 20 Höfling, Grundrechtsordnung, S. 55. 21 Höfling, a.a.O., dortige FN 99. 22 Höfling, Der Staat 33 (1994), 493 (504). 23 Vgl. etwa die ausführliche Betrachtung der politischen Rechte in der österreichischen Bundesverfassung von Koja in ÖJZ 1963, 645 ff., in der ein dualistisches Verständnis nicht erwähnt wird. Ebenfalls unergiebig sind insoweit die Ausführungen zu den politischen Rechten im österreichischen Verfassungsrecht von Adamovich, VerfR, S. 472 f.; Walter/Mayer, BundesverfR, Rz. 305 ff.; Ermacora, Menschenrechte, Rz. 837. Auch Stern, StaatsR III/l, S. 891 f., betont die Zurückhaltung speziell der österreichischen Rechtsprechung bei der Anerkennung objektiver Grundrechtswirkungen. 18

1. Kap.: Rechtsvergleichung

257

C. Vereinigtes Königreich Bereits in einigen Besprechungen des Maastricht-Urteils wurde hervorgehoben, daß im Vereinigten Königreich ein subjektives Recht des Einzelnen, wie es das Bundesverfassungsgericht aus Art. 38 GG hergeleitet hat, nicht denkbar wäre. 24 Dieser Befund besteht im Ergebnis zu Recht. Er ergibt sich aus einem grundlegend anderen Verfassungsverständnis in Großbritannien, welches freilich auch dazu führt, daß Parallelen zum deutschen Grundgesetz kaum zu ziehen sind und Verweisungen auf die Rechtslage im Vereinigten Königreich kaum Rückschlüsse auf die deutsche Verfassungslage zulassen. I. Die Anerkennung eines „locus standi44 Zunächst ist festzuhalten, daß - anders als dies in einigen Urteilsanmerkungen anklingt 25 - in der britischen Rechtsordnung dabei Probleme der zulässigkeitsrechtlichen Klagebefugnis keine entscheidende Rolle spielen. Die für das Verfahren eines „judicial review" 2 6 erforderliche Prozeßführungsbefugnis („standing" oder „locus standi") 27 verlangt seit einer Reform des Prozeßrechts im Jahre 1977 28 lediglich das Vorliegen eines „sufficient interest". 29 Ein derartiges „ausreichendes Interesse" des Antragstellers wird von der Rechtsprechung eher großzügig bejaht. 30 Zudem handelt es sich beim „sufficient interest" nicht um eine echte Tatbestandsvoraussetzung in dem Sinne, daß eine inhaltliche Befassung mit dem gestellten Antrag nur in Betracht kommt, wenn seine Voraussetzungen zweifelsfrei vorliegen; vielmehr ist die zugrundeliegende Norm so formuliert, daß eine richterliche Entscheidung zugunsten des Antragstellers nicht ergehen soll, sofern dieser 24

Vgl. etwa Kokott, AöR 119 (1994), 207 (211); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (451). 25 So bei Kokott, a.a.O. (212); Gassner, a.a.O.; wohl auch Steinberger; FS Bernhardt, S. 1313 (1318). 26 Zu diesem Verfahren etwa Pollard/Parpworth/Hughes, Constitutional Law, S. 528. 27 Zum Begriff näher Craig, Administrative Law, S. 685 ff. 28 RSC Order 53, zitiert in der Entscheidung des House of Lords „Inland Revenue Commissioners ν. National Federation of Self-Employed and Small Businesses Ltd." (im folgenden: IRC-Fall), [1981] 2 All E.R. 93 (116). 29 Jetzt gesetzlich verankert im Supreme Court Act 1981, s. 31 (3), abgedruckt etwa in Halsbury's Statutes of England and Wales, 4. Ed., Vol. 11, 1991 Reissue, S. 966 (992); vgl. zur Übernahme der RSC Order in den Act Craig, Administrative Law, S. 694. 30 Näher sogleich. Vgl. auch den diesbezüglich grundlegenden IRC-Fall (vorletzte FN), [1981] 2 All E.R. 93 (H.L.); hierzu auch Craig, Administrative Law, S. 695 ff. 17 Soppe

258

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

kein ausreichendes Interesse an einem diesbezüglichen Antrag hat. 3 1 Hieraus wird gefolgert, daß das Gericht ein weites Ermessen hat, ob ein solches Klägerinteresse gegeben ist. 3 2 Dementsprechend hat die Queen's Bench im britischen Maastricht-Verfahren, 33 in dem der frühere „Times"-Herausgeber Lord Rees-Mogg verschiedene Aspekte des britischen Zustimmungsverfahrens zum MaastrichtVertrag beanstandet hatte 34 den Antrag nicht a-limine mangels Prozeßführungsbefugnis abgewiesen. Vielmehr hat das Gericht das - übrigens von keiner Seite angezweifelte - „sufficient interest" des Lords mit der simplen Erwägung bejaht, Rees-Mogg betreibe das Verfahren „aufgrund seines aufrichtigen Interesses an Verfassungsfragen". 35 Der Antrag scheiterte erst an einem späteren Punkt. 3 6 Vergleichbare Entscheidungen finden sich ferner bereits in zwei Verfahren gegen den britischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1971 37 bzw. über die Frage des britischen Beitrags zur Gemeinschaftsfinanzierung aus dem Jahre 1984. 38 Auch hier hatten jeweils Individuen geklagt, denen die Befugnis zur Prozeßführung nicht abgesprochen wurde.

31

Supreme Court Act 1981, s. 31 (3) lautet „... and the court shall not grant leave to make such an application unless it considers that the applicant has a sufficient interest in the matter to which the application relates". 32 Vgl. die Ausführungen von Richter Slade im Fall „R. v. HM Treasury, ex parte Smedley", [1985] 1 All E.R. 589 (C.A.): „If the Court had taken the view that [... the] application was of a frivolous nature, the wide discretion given to it by RSC Ord 53 would have enabled it to dispose of it appropriately" (Hervorhebung vom Verfasser). 33 R. v. Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte Rees-Mogg (im folgenden: Rees-Mogg-Fall), [1994] 1 All E.R. 457 (Q.B.). 34 Eine kurze Zusammenfassung des Verfahrens findet sich bei Hölscheidt/Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 62. 35 Der berichterstattende Richter Lloyd schreibt (Rees-Mogg-Fall, [1994] 1 All E.R. 457 [461]): „There is no dispute as to the applicant's locus standi [...] we accept without question that Lord Rees-Mogg brings the proceedings because of his sincere concern for constitutional issues." 36 Dazu unten II. 37 Blackburn v. Attorney General, [1971] 2 All E.R. 1380 (C.A.); auf S. 1383 formuliert der berichterstattende Richter Lord Denning : „A point was raised whether Mr. Blackburn has any standing to come before the court. This is not a matter which we need rule on today. He says that he feels very strongly and that it is a matter in which many persons in this country are concerned. I would not myself rule him out on the ground that he has no standing." 38 R. v. HM Treasury, ex parte Smedley, [1985] 1 All E.R. 589 (C.A.). Während der eine Richter es nicht für notwendig erachtet, über diesen Punkt überhaupt zu entscheiden (vgl. Richter Sir Donaldson, a.a.O., S. 594), leitet ein anderer Richter das „sufficient interest" schlicht daraus ab, daß der Kläger britischer Steuerzahler ist (vgl. die Ausführungen des Richters Slade auf der dortigen S. 595).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

259

In dieser Hinsicht erweist sich das britische Prozeßrecht mithin als deutlich „großzügiger" als das deutsche Verfassungsprozeßrecht mit seiner starken Betonung des Erfordernisses einer individuellen Beschwer. 39 Aus der britischen Maastricht-Entscheidung ein Argument jedenfalls gegen die prozessualen Konsequenzen des bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteils herzuleiten, erscheint damit nicht möglich.

II. Die Lehre der „sovereignty of parliament" Der eigentliche Grund, warum im Vereinigten Königreich die Klage in dem dortigen Maastricht-Verfahren abgewiesen wurde, liegt tiefer. Er berührt das grundlegende Verständnis, wer Inhaber der Souveränität im Staat ist. Denn anders als in den kontinentaleuropäischen Verfassungsordnungen kennt das Vereinigte Königreich nicht den Grundsatz der Volkssouveränität. 4 0 Vielmehr lautet die in den Machtkämpfen zwischen Krone und Parlament im 17. Jahrhundert entwickelte Kompromißformel, Träger der inneren Souveränität sei „crown in parliament". 41 Unter Verwendung eines weiten Parlamentsbegriffs 42 bzw. unter Betonung der starken Rolle des Parlaments auch gegenüber der Krone 4 3 wird entsprechend formuliert, es gelte der Grundsatz der „sovereignty of parliament". 44 Demgemäß stellen sich die auf dem Kontinent verbreiteten Fragen nach den Grenzen der Repräsentation, mit denen geklärt werden soll, welche Verfassungsaspekte nicht mehr von den Repräsentanten, sondern nur von der Konstituante behandelt werden dürfen, 45 im Vereinigten Königreich nicht. Das dortige Parlament

39

Das zeigt sich auch in der Formulierung von Lord Denning im Fall „R. v. Greater London Council, ex parte Blackburn", [1976] 3 All E.R. 184 (C.A.) auf S. 192: „ I regard it as a matter of high constitutional principle that if there is good ground for supposing that a government department or a public authority is transgressing the law, or is about to transgress it, in a way which offends or injures thousands of Her Majesty's subjects, then any one of those offended or injured can draw it to the attention of the courts of law and seek to have the law enforced, and the courts in their discretion can grant whatever remedy is appropriate." Zustimmend Lord Diplock im IRC-Fall, [1981] 2 All E.R. 93 (104). 40 Vgl. de Witte, MJ 2 (1995), 145 (147). 41 Siehe Starck, JZ 1997, 1021 (1028). 42 Dicey, Constitution, S. 39, meint, „Parliament means, in the mouth of a lawyer [...], the Queen, the House of Lords, and the House of Commons; these three bodies acting together may be aptly described as the ,Queen in Parliament4, and constitute Parliament". 43 Dazu etwa Jones/Thompson, Administrative Law, S. 9. 44 Zum Teil auch als „supremacy of parliament" bezeichnet. Ausführlich dazu Dicey, Constitution, S. 39 ff.; Barnett, Constitutional Law, S. 197 ff.; Jones/ Thompson, a.a.O., S. 7 ff.; siehe auch Pollard/Parpworth/Hughes, Constitutional Law, S. 29 ff. 17*

260

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

ist nach überkommener Auffassung grundsätzlich frei, jede beliebige Entscheidung zu treffen. 46 Zusammen mit der Tatsache, daß es keine geschriebene Verfassung gibt, der ein Vorrang vor dem einfachgesetzlichen Recht zukäme, 47 führt dies dazu, daß ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber parlamentarischen Akten nicht existiert. 48 Sowenig wie die Akte eines souveränen Monarchen durch ein (anderes) Staatsorgan überprüfbar sind, sowenig sind die Gesetze des souveränen Parlaments dem richterlichen Prüfungsrecht oder einer formellen Normenkontrolle unterworfen. 49 Eingeschränkt wird dies lediglich durch den Grundsatz, daß kein Parlament das nachfolgende zu binden vermöge, da eben auch dieses in seinen Entscheidungen souverän sein müsse. 50 In den letzten Jahren ist zudem für den Bereich der europäischen Integration anerkannt, daß - was dem überkommenen Verständnis diametral zuwiderläuft - das Parlament in seiner Entscheidungsfreiheit durch das Gemeinschaftsrecht und dessen Auslegung durch die Gemeinschaftsorgane beschränkt und insoweit nicht mehr völlig souverän ist. 5 1 Auf der Grundlage der dargestellten Theorie von der „sovereignty of parliament" hat die britische Rechtsprechung wiederholt entschieden, daß Entscheidungen des Parlaments, 52 mit denen Befugnisse auf Gemeinschaftsorgane übertragen wurden, einer richterlichen Nachprüfung nicht zugänglich sind. 53 Im Maastricht-Verfahren konnte insoweit bereits auf eine gefestigte Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Dabei wurde das Argument, daß dieses Prinzip in denjenigen Fällen keine Geltung beanspruchen könne, in 45

Zu diesem Fragenkomplex für den Bereich des Grundgesetzes etwa Murswiek, Der Staat 32 (1993), 161 ff. 46 Siehe etwa Dicey, Constitution, S. 39 f.; Barnett, Constitutional Law, S. 214 ff.; Weber-Panariello, Parlamente, S. 23. 47 Vgl. Starck, JZ 1997, 1021 (1028). 48 Barnett, Constitutional Law, S. 233 ff.; Jones/Thompson, Administrative Law, S. 7 ff.; Pollard/Parpworth/Hughes, Constitutional Law, S. 31 ff. (jeweils mit Nachweisen auch der für gewisse Sonderfalle vereinzelt vertretenen Gegenauffassung); Weber-Panariello, Parlamente, S. 23. 49 Starck, JZ 1997, 1021 (1028). 50 Barnett, Constitutional Law, S. 219; Henrichs, DÖV 1994, 368 (371); Smith/ Hix, in Battis et al., Integration, S. 183 (187). 51 In der Entscheidung „Factortame Ltd. and others v. Secretary of State for Transport (No. 2)", [1991] 1 All E.R. 70, erkannte das House of Lords den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nachfolgendem nationalen Gesetzesrecht an; dazu De Witte, MJ 2 (1995), 145 (160); MacCormick, JZ 1995, 797 f. (der allerdings in der dortigen FN 3 nicht auf die hier zitierte Entscheidung des H.L., sondern auf die des EuGH verweist). Siehe auch Smith/Hix, in Battis et al., Integration, S. 183 (194). 52 Es handelte sich um völkerrechtliche Verträge, die formell von der Krone abgeschlossen werden, aber der Sache nach parlamentarischer Zustimmung bedürfen; vgl. zu diesem Verfahren Smith/Hix, a.a.O. (193).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

261

denen die Kompetenzen des Parlaments eingeschränkt würden und damit dessen Souveränität beschnitten würde, in allen Fällen ausdrücklich zurückgewiesen; eine derartige Unterscheidung sei inakzeptabel. 54 Demgemäß lehnten die Gerichte eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit des Parlamentsbeschlusses kategorisch ab.

III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung Für die vorliegende Frage ergibt sich damit folgendes Bild: Im Vereinigten Königreich besteht ein Recht des Einzelnen, sich gegen parlamentarische Kompetenzverlagerungen zu wehren, nicht. Dies ist allerdings kein Fall eines fehlenden „Standing". Sondern das Ergebnis findet seinen Grund darin, daß parlamentarische Entscheidungen aufgrund der „sovereignty of parliament" generell nicht justitiabel sind. Damit sind, so ist ergänzend hinzuzufügen, nicht nur individuelle Rechtsbehelfe gegen derartiges Parlamentshandeln ausgeschlossen, sondern zugleich auch jede Art von Normenkontrolle auf Antrag eines anderen staatlichen Organs. 55

D. Frankreich Im Ergebnis ähnlich, wenn auch mit anderer Begründung, stellt sich die Rechtslage in Frankreich dar. Auch hier ist, wie im Vereinigten Königreich, ein subjektives Recht des Einzelnen, sich gegen Kompetenzübertragungen des Parlaments zu wenden, nicht ersichtlich. Das ergibt sich zum einen aus der Tatsache, daß eine gerichtliche Überprüfung von Gesetzgebungsakten bereits nach objektivem Recht nur sehr eingeschränkt zulässig ist (dazu I.). Zum anderen folgt dies daraus, daß zur Einleitung eines derartigen Verfahrens nur Staatsorgane berufen ist; hierzu zählt nicht der Einzelne (dazu II.).

I. Die gerichtliche Überprüfbarkeit von Legislativakten Anders als das Grundgesetz, das in Art. 93 Abs. 1 einen weiten Katalog von Zuständigkeiten zur Kontrolle auch von Legislativakten enthält, 56 kennt 53 Blackburn v. Attorney General, [1971] 2 All E.R. 1380 (C.A.); Maclaine Watson & Co Ltd. v. Department of Trade and Industry, [1989] 3 All E.R. 523 (H.L.); Rees-Mogg-Fall, [1994] 1 All E.R. 457 (Q.B.). 54 Siehe die Nachweise in der vorigen FN. 55 Ähnlich Starck JZ 1997, 1021 (1028). 56 Als verfassungsprozessuale Instrumente zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm kommen gemäß Art. 93 Abs. 1 GG in Betracht: Organstreit (Nr. 1), abstrakte Normenkontrolle (Nr. 2 und Nr. 2a), Verfassungsbeschwerde (Nr. 4a) sowie die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG.

262

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

die französische Verfassung nur zwei Verfahren zur Überprüfung der Verfassungskonformität: Nach Art. 54 frz. Verf. 57 kann der Verfassungsrat („Conseil Constitutionnel") auf Antrag bestimmter Staatsorgane über die Verfassungskonformität völkerrechtlicher Verträge entscheiden. Nach Art. 61 frz. Verf. 58 hat der Verfassungsrat Gesetze in der Regel auf Antrag bestimmter Staatsorgane auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Beiden Verfahren ist unter anderem gemein, daß sie eine Verfassungskontrolle ausschließlich präventiv zulassen, das heißt bei völkerrechtlichen Verträgen vor ihrer Ratifikation und bei Gesetzen vor ihrer Verkündung. Auf diese Weise soll eine Inkompatibilität mit der Verfassung a priori erkannt und ein Regelungskonflikt schon im Ansatz vermieden werden; zudem wird der Eingriff in die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers als geringer angesehen.59 Der Verfassungsrat beschränkt sich dabei auf die Überprüfung, welche Verfassungsnormen der geplanten Regelung entgegenstehen. Der Verfassungsgesetzgeber ist im Falle eines völkerrechtlichen Vertrags dann frei - wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 54 frz. Verf. ergibt - den festgestellten Normenkonflikt durch eine entsprechende Verfassungsänderung auszuräumen. 60 Bei Art. 61 frz. Verf. hat der Gesetzgeber grundsätzlich nur die Möglichkeit, auf die Verkündung des Gesetzes ganz oder teilweise, das heißt ohne die verfassungswidrigen Dispositionen, zu verzichten oder den Gesetzesvorschlag insgesamt zu überarbeiten. 61 57 Art. 54 der Verfassung der Republik Frankreich vom 4.10.1958 lautet: „Wenn der vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren angerufene Verfassungsrat erklärt hat, daß eine internationale Verpflichtung eine verfassungswidrige Klausel enthält, so kann die Ermächtigung zu deren Ratifrzierung oder Zustimmung erst nach Verfassungsänderung erfolgen." (zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., München, 1996, S. 144). 58 Art. 61 der frz. Verfassung lautet auszugsweise (zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, a.a.O., S. 145): „Die verfassungsausführenden Gesetze müssen vor ihrer Verkündung und die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrer Anwendung dem Verfassungsrat vorgelegt werden, der über ihre Verfassungsmäßigkeit befindet. Zum gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung dem Verfassungsrat vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten der Nationalversammlung oder dem des Senats oder von 60 Abgeordneten oder 60 Senatoren zugeleitet werden. [...]". 59 Vgl. Lavroff, Droit Constitutionnel, S. 208. 60 Vgl. etwa die Entscheidungsformel des Conseil Constitutionnel in seinem Urteil „Maastricht I" vom 9.4.1992: „Art. 1 er . - L'autorisation de ratifier en vertu d'une loi le traité sur l'Union européenne ne peut intervenir qu'après révision de la Constitution.", J.O. vom 11.4.1992, S. 5354 (5358); deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 187 (192); zu diesem Punkt auch Walter, EuGRZ 1993, 183 (186 f.); Hecker, AöR 123 (1998), 577 (590). Allgemein zu den insgesamt drei Entscheidungen des Conseil Constitutionnel Hofmann, FS Mahrenholz, S. 943 (946 ff.).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

263

Eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit durch den Verfassungsrat nach dem Inkrafttreten einer internationalen Verpflichtung bzw. eines innerstaatlichen Gesetzes ist in der französischen Rechtsordnung nicht vorgesehen. 6 2 Ein dem deutschen Organstreit oder der abstrakten Normenkontrolle vergleichbares Verfahren existiert in Frankreich nicht. 6 3 Dahinter steht die Konzeption, daß angesichts des stabilen Bestandes demokratischer und rechtsstaatlicher politischer Traditionen ein verfassungsgerichtliches Wächteramt als stärker entbehrlich erscheint, 64 als dies etwa in der bewußt als Verfassungsstaat angelegten Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. 6 5 Zudem verhindert die überkommene Theorie der „souveraineté de la loi" die Ausbildung stärkerer verfassungsgerichtlicher Strukturen; 66 es gilt der Grundsatz „le pouvoir constituant est souverain", so daß grundsätzlich die Verfassung vollkommen geändert werden darf. 67

II. Keine Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen Sind nach dem Vorgesagten damit bereits die Möglichkeiten, überhaupt zu einer gerichtlichen Überprüfung von Legislativakten zu gelangen, wesentlich enger als in Deutschland, so werden die Unterschiede beider Rechtsordnungen für die vorliegende Fragestellung noch deutlicher, wenn der Kreis der Antragsbefugten betrachtet wird. In Frankreich können die beiden genannten Verfahren vor dem Verfassungsrat ausschließlich von Staatsorganen eingeleitet werden. 68 Die französische Verfassung nennt jeweils nur den Staatspräsidenten, den Premierminister, den Präsidenten einer der beiden Kammern (Nationalversammlung oder Senat) sowie ein Quorum von je sechzig Abgeordneten bzw. Senatoren als Antragsbefugte. 69 Eine Verfassungsbeschwerde mit der Möglichkeit des Einzelnen, eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einzuleiten, existiert demgegenüber 61 Lavroff, Droit Constitutionnel, S. 216 f., zu der Ausnahme einer durch ein Urteil veranlaßten Verfassungsänderung auf S. 226 f.; siehe auch Fromont, DÖV 1999, 493 (494). 62 Vgl. Fromont, in Starck/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 309 (322); Lavroff, a.a.O., S. 208 ff.; Pactet, Institutions, S. 489, auch zur Kritik an dieser Regelung. 63 Vgl. Fromont, a.a.O. (323); für den Organstreit auch Koenig, in Koenig/ Rüfher, Kontrolle, S. 1 (16 f.). 64 Hecker, AöR 123 (1998), 577 (580). 65 Dazu aus französischer Sicht Koenig, in Koenig/Rüfner, Kontrolle, 1 (5 f.). 66 Vgl. Hecker, AöR 123 (1998), 577 (580). 67 Fromont, DÖV 1999, 493 (496). 68 Näher Drago, Contentieux, S. 282; Pactet, Institutions, S. 490 f.; Lavroff, Droit Constitutionnel, S. 171 f. 69 Siehe die Belege zu Art. 54 und 61 frz. Verf. oben I.

264

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

nicht. 7 0 Ebensowenig ist es möglich, im Wege eines „normalen" Rechtsschutzverfahrens incidenter eine als verfassungswidrig angesehene Norm anzugreifen, denn die Gerichte sind weder befugt, eine Norm selbst für verfassungswidrig zu erklären, noch können sie diese Frage dem Verfassungsrat vorlegen. 71 Das Instrument der konkreten Normenkontrolle gibt es in Frankreich somit ebenfalls nicht.

III. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung Nach alledem hat der Einzelne in Frankreich keine Möglichkeit, eine Kompetenzverlagerung des Parlaments direkt oder incidenter durch ein Gericht überprüfen zu lassen. 72 Dies liegt zum einen daran, daß der Conseil Constitutionnel ohnehin nur in eng umgrenzten Fällen Legislativakte überprüfen darf; zum anderen stellt das französische Recht dem Einzelnen für die Geltendmachung eines solchen Anliegens kein prozessuales Instrument zur Verfügung.

E. Dänemark Ein für die vorliegende Fragestellung besonders interessanter Ansatz findet sich in der dänischen Rechtsordnung. Nachdem die Ratifikation des Maastricht-Vertrags in Dänemark bereits auf der politischen Ebene mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen war - über diese Frage gab es zwei Volksabstimmungen, von denen die erste bekanntlich mit einer Ableh70

Lavrojf, Droit Constitutionnel, S. 172; Drago , Contentieux, S. 282; Fromont , in Starck/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 309 (323); vgl. auch Hecker, AöR 123 (1998), 577 (585 f.); Fromont, DÖV 1999, 493 (499). Unzutreffend daher Henrichs, DÖV 1994, 368 (370) im Text zur dortigen FN 19, der für die französischen Maastricht-Verfahren von „zwei weiteren Verfassungsbeschwerden" spricht; tatsächlich handelte es sich im Verfahren „Maastricht II" um einen Antrag von 70 Senatoren nach Art. 54 frz. Verf., während „Maastricht III" auf ein Normenkontrollverfahren nach Art. 61 frz. Verf. zurückging, das von 63 Abgeordneten der Nationalversammlung eingeleitet worden war, siehe Hölscheidt/Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 37 f.; Walter, EuGRZ 1993, 183 (184). 71 Vgl. Koenig, in Koenig/Rüfner, Kontrolle, S. 1 (10). 72 Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die Aussage A. Wolfs, Prozessuale Probleme, S. 113, erschüttert, der ein rechts vergleichendes Argument zugunsten eines subjektiven Rechts daraus gewinnen will, daß in Art. 3 frz. Verf. in Abs. 1 die „nationale Souveränität" und in Abs. 3 und 4 das Wahlrecht geregelt und so „ein denkbar enger Zusammenhang zwischen dem objektiven Demokratieprinzip und dem subjektiven Wahlrecht hergestellt" wird. Dies ist sowohl im Ausgangspunkt als auch im Ergebnis zu undifferenziert, um daraus irgendwelche konkreten Folgerungen ableiten zu können. Denn was heißt „enger Zusammenhang", und was für Konsequenzen sollten daraus erwachsen?

1. Kap.: Rechtsvergleichung

265

nung endete und erst die zweite die Teilnahme Dänemarks an der Europäischen Union ermöglichte 73 - , beschäftigte er noch Jahre nach seinem Inkrafttreten mehrfach die dänischen Gerichte, 74 die sich dementsprechend intensiv mit den verfassungsrechtlichen Implikationen auseinanderzusetzen hatten.

I. Die dänischen Maastricht-Entscheidungen - Überblick Ähnlich wie in dem deutschen Maastricht-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 75 wandten sich auch in Dänemark mehrere Staatsbürger unmittelbar gegen den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union. 7 6 Sie machten insbesondere geltend, daß der Beitritt gegen § 20 Abs. 1 dän. Verf. verstoße, der - als Integrationsnorm insoweit den Art. 23 und 24 GG vergleichbar - die Übertragung von Befugnissen durch Gesetz „ i n näher bestimmtem Umfang" auf gewisse zwischenstaatliche Behörden zuläßt. 77 Denn, so die Kläger, der Vertrag von Maastricht bringe eine Souveränitätsübertragung mit sich, deren Umfang nicht mehr „näher bestimmt" sei. 78 Zunächst wurde die Klage freilich vom 0stre Landsret, dem Landgericht Ost, als unzulässig abgewiesen, da kein konkretes und gegenwärtiges Rechtsverhältnis bestehe, das die Kläger berechtige, die zur Entscheidung gestellten Fragen durch ein Gericht klären zu lassen. 79 Diese Entscheidung hob der H0jesteret (Oberste Gerichtshof) mit der - noch näher zu analysierenden 80 - Begründung auf, wegen der allgemeinen und tiefgreifenden Bedeutung des Beitrittsgesetzes hätten die Kläger ein wesentliches Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung. 81 Zugleich wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung i n der Sache an das Landgericht Ost zurückverwiesen. Dieses wies am 27.6.1997 die Klage als unbegründet ab. 8 2 Der H0jesteret hielt mit 73 Zu den zwei dänischen Referenden sowie den politischen Anstrengungen der dänischen Regierung, die Zustimmung zum EU-Vertrag zu sichern, siehe etwa Hölscheidt/Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 51 ff. 74 Die abschließende Entscheidung des H0jesteret, des dänischen Obersten Gerichtshofs, datiert vom 6.4.1998. 75 Auf die Parallelen der Entscheidung des H0jesteret zum bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil weist auch H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (81), hin. 76 Zur prozessualen Seite des Klageantrags Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (882 f.). 77 § 20 Abs. 1 dän. Verf. zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., München, 1996, S. 40. 78 Zitiert nach Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (882). 79 Vgl. 0stre Landsret, Urteil vom 30.6.1994, UfR 1996, 1300 ff. 80 Dazu sogleich unten II. 81 H0jesteret, Urteil vom 12.8.1996, zitiert nach Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (887). 82 Vgl. Thomas, a.a.O. (890); H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80.

266

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

seinem Urteil vom 6.4.1998 diese landgerichtliche Entscheidung in der Sache aufrecht; 83 § 20 dän. Verf. sei, wie im Urteil näher ausgeführt wurde, 84 (noch) nicht verletzt. Damit stand ungefähr viereinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Maastricht-Vertrages dessen Übereinstimmung auch mit der dänischen Verfassung fest. 85

II. Die Zulässigkeitsentscheidung des H0jesteret vom 12.8.1996 Eine genauere Betrachtung verdient hier die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Zulässigkeit der Klage. Denn diese stellt für das dänische Recht eine „nahezu revolutionäre" 86 Änderung dar, die insoweit durchaus mit der Zulässigkeitsentscheidung im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil vergleichbar ist. 1. Die Klagebefugnis

nach überkommenem Verständnis

In Dänemark ist, anders als in Frankreich, 87 anerkannt, daß Akte der Legislative gerichtlich auf ihre Verfassungskonformität überprüfbar sind. 88 Jedoch ist für Klagen von Privaten - wie auch in Deutschland - eine besondere Klagebefugnis erforderlich. Diese ist vor einer Entscheidung in der Sache vom Gericht positiv festzustellen, 89 und sie setzte nach überkommenem Verständnis voraus, daß der Kläger „ein substantielles und individuelles Interesse am Ausgang des Falles haben" müsse. 90 Das generelle Inter83 H0jesteret, Urteil vom 6.4.1998, UfR 1998, 800 ff. Eine (inoffizielle) englische Übersetzung befindet sich auf der Intemetseite des dänischen Außenministeriums unter http://www.um.dk/udenrigspolitik/europa/domeng; auf deutsch ist die Entscheidung auszugsweise wiedergegeben in ZaöRV 58 (1998), 901 ff., sowie in EuGRZ 1999, 50 ff. 84 H0jesteret, Urteil vom 6.4.1998, zitiert nach der deutschen Übersetzung in ZaöRV 58 (1998), 901 (903 ff.). 85 Vgl. dazu auch die Äußerung des dänischen Premierministers vom 6.4.1998 (http://www.um.dk/udenrigspolitik/europa/domeng/prerel.html .). 86 So Jensen, EPL 3 (1997), 295 (298): „almost revolutionary". Siehe auch H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (87): „exceptional"; ähnlich Hofmann, EuGRZ 1999, 1: „fundamentale Bedeutung für die künftige Entwicklung des dänischen Verfassungs- und Prozeßrechts". 87 Dazu oben D. 88 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung dieses Gedankens in Dänemark Jensen, EPL 3 (1997), 295 f. 89 Vgl. Jensen, a.a.O. (296). 90 Jensen, a.a.O. (297): „a demand, that the plaintiff have a substantial and individual interest in the outcome of the case". Ähnlich Svenningsen, MJ 4 (1997), 101: „... prove that the act in question affects them in a sufficiently concrete and direct way"; Hofmann, EuGRZ 1999, 1 (2): „konkretes und aktuelles Interesse".

1. Kap.: Rechtsvergleichung

267

esse, Unrecht in der Gesellschaft zu verhindern, genügt für eine Befassung der Gerichte nicht. 9 1 Dementsprechend wurden in den Jahren 1972 92 und 1973 93 Individualklagen gegen den Beitritt Dänemarks zu den (damaligen) Europäischen Gemeinschaften als unzulässig abgewiesen, da die Kläger durch das Beitrittsgesetz nicht besonders oder individuell betroffen würden und somit nicht klagebefugt seien. Ganz auf dieser Linie verneinte auch im Maastricht-Verfahren das 0stre Landsret zunächst die Zulässigkeit der Klage. Denn es bestehe „kein konkretes und gegenwärtiges Rechtsverhältnis", 94 das die Kläger berechtige, die aufgeworfenen Fragen durch ein Gericht klären zu lassen. 2. Die neue Interpretation

durch den H0jesteret

Diese letztgenannte Entscheidung wurde, wie bereits angedeutet, nachfolgend vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Dieser führte aus, 95 für die Frage der Zulässigkeit sei hier von besonderer Bedeutung, daß die Beteiligung an der EU eine Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen in Bereichen von allgemeiner und wesentlicher Bedeutung mit sich bringe. Schon dadurch sei die Kompetenzübertragung für das gesamte dänische Volk von tiefgreifender Bedeutung. Hierdurch unterscheide sich der vorliegende Fall von gewöhnlichen Klagen auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Wegen dieser allgemeinen und tiefgreifenden Bedeutung des Beitrittsgesetzes hätten die Kläger ein wesentliches Interesse daran, ihre Behauptungen gerichtlich überprüfen zu lassen. I m Unterschied zu dem Verfahren aus dem Jahre 1973 lägen unter diesen Umständen keine ausreichenden Gründe dafür vor, als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung zu verlangen, daß die Kläger beweisen könnten, durch den Unionsvertrag oder darauf beruhenden Rechtsakten in ihren Rechtsverhältnissen konkret und gegenwärtig berührt zu sein. Im übrigen sei eine solche Zulässigkeitsvor91

Jensen, a.a.O. H0jesteret, Urteil vom 26.9.1972, UfR 1972, 903 ff.; im folgenden zitiert nach H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (87 f.), i.V.m. dortiger FN 35. 93 H0jesteret, Urteil vom 28.6.1973, UfR 1973, 694 f.; im folgenden zitiert nach Jensen, EPL 3 (1997), 295 (297). 94 Vgl. 0stre Landsret, Urteil vom 30.6.1994, UfR 1996, 1300 (1302): „Da der ikke foreligger noget konkret eller aktuelt retforhold..."; wie hier Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (886). Ring/Olsen-Ring, EuZW 1998, 589 (590) sehen darin eine Klageabweisung wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses; ebenso Hofmann, EuGRZ 1999, 1. 95 Im folgenden zitiert nach Thomas, a.a.O. (887), der die Argumentation des H0jesteret ausführlich nachzeichnet. Eine wörtliche Übersetzung der zitierten Urteilspassage ins englische findet sich bei Svenningsen, MJ 4 (1997), 101 (103), sowie bei Jensen, EPL 3 (1997), 295 (298). 92

268

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

aussetzung nicht geeignet, eine Klärung der aufgeworfenen Frage nach den Grenzen zulässiger Kompetenzübertragungen zu sichern. Auch seien keine ausreichenden Gründe dafür ersichtlich, die Anträge als für eine gerichtliche Überprüfung ungeeignet zu erachten. Dementsprechend bejahte der H0jesteret vorliegend die Klagebefugnis der Kläger und damit auch die Zulässigkeit ihrer Klage. 3. Die Bedeutung dieser Neuinterpretation M i t dieser Argumentation eröffnet der Oberste Gerichtshof für bestimmte Konstellationen eine echte Popularklage, 96 wenn auch ausdrücklich beschränkt auf Fälle „allgemeiner und tiefgreifender Bedeutung". 97 Private können nunmehr in gewissen Konstellationen ohne Nachweis eines eigenen „konkreten und gegenwärtigen" Interesses Legislativakte gerichtlich überprüfen lassen. Zu diesen zählen - und das ist vorliegend von besonderem Interesse - auch Kompetenzübertragungen des Parlaments. Im Unterschied zu der oben 98 herausgearbeiteten weiten Auslegung des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG gehören in Dänemark allerdings nicht nur die Wahlberechtigten zu den potentiell Klagebefugten. Aufgrund der Anknüpfung an eine „tiefgreifende Bedeutung für das dänische Volk in seiner Gesamtheit" wird vielmehr die dänische Staatsangehörigkeit ausreichend sein. 99 Da der H0jesteret nicht auf das Wahlrecht abstellt, wird in Zukunft jeder dänische Staatsbürger in derartigen Fällen klagebefugt sein. Freilich hat der Oberste Gerichtshof deutlich gemacht, daß nicht jedes Gesetz zukünftig mit der Popularklage angreifbar i s t . 1 0 0 Die beiden wesentlichen Kriterien, die auch in zukünftigen Fällen erfüllt sein müssen, sind vielmehr eine „tiefgreifende Bedeutung für das dänische Volk in seiner Gesamtheit" sowie die „Eignung der Klage zur Klärung der materiell-rechtlichen Probleme". 101 Dies wird nur bei ganz grundlegenden Fragestellungen der Fall sein. 1 0 2

96

Ring/Olsen-Ring EuZW 1998, 589 (590), meinen, das Gericht „näherte sich de facto - der Anerkennung einer abstrakten Normenkontrolle"; ähnlich Hofmann, EuGRZ 1999, 1: „faktisch ein von Bürgern angestrengtes Normenkontrollverfahren". 97 So auch H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (88); Jensen, EPL 3 (1997), 295 (299). 98 Oben 5. Teil. 99 Sie wird aber auch ein notwendiges Kriterium sein. 100 Ebenso H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (88 f.); zweifelnd auch Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (899), m.w.N. 101 Vgl. Thomas, a.a.O. (887).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

269

4. Die Rezeption der Neuinterpretation im dänischen Schrifttum Erstaunlicherweise hat, soweit ersichtlich, diese bedeutende Änderung der bisherigen Rechtsprechung in der Literatur offenbar kaum Kritik erfahr e n 1 0 3 - im Gegensatz etwa zur deutschen Diskussion um das bundesverfassungsgerichtliche Maastricht-Urteil, in welchem, wie dargelegt, 104 eine Popularklage noch nicht einmal eröffnet wird. Vielmehr wird in Dänemark die dortige Ausdehnung der Jurisdiktion von verschiedenen Autoren ausdrücklich begrüßt 105 und von anderen kritiklos referiert. 106 Dies verwundert um so mehr, als die weitreichenden Folgen einer Einbindung des bislang weitestgehend unangefochten handelnden Parlaments in ein echtes konstitutionalistisches System durchaus gesehen werden 1 0 7 und obendrein der Präsident des Obersten Gerichtshofes eine „aktivere Rolle" der Rechtsprechung gegenüber der Legislative in einem Zeitungsinterview vorab angekündigt hatte. 1 0 8

ΙΠ. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in Dänemark der einzelne Staatsbürger befugt ist, in Ausnahmefällen auch ohne Betroffenheit in eigenen rechtlichen Interessen eine Kompetenzübertragung durch das Parlament von den Gerichten auf die Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Der Anspruch ist damit in doppelter Hinsicht weiter als die hier vertretene Auslegung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 G G : 1 0 9 Zum einen ist in Dänemark nicht nur der Wahlberechtigte erfaßt, und zum anderen ist keinerlei Bezug zu eigenen subjektiven Rechten erforderlich.

102

Vgl. Hofmann, EuGRZ 1999, 1 (2); weniger vorsichtig wohl Ring/OlsenRing, EuZW 1998, 589 (590). 103 Siehe die Äußerung von Jensen, EPL 3 (1997), 295 (299): „the decision [...] was generally praised by scholars and politicians alike". 104 Oben 5. Teil, 5. Kapitel, H. 105 So etwa von Jensen, EPL 3 (1997), 295 (299). 106 Siehe beispielsweise Svenningsen, MJ 4 (1997), 101 (103 f.); H0egh, E.L.Rev. 24 (1999), 80 (87 f.). Aus deutscher Sicht Ring/Olsen-Ring, EuZW 1998, 589 (590); Hofmann, EuGRZ 1999, 1 f. 107 Siehe die Nachweise bei Thomas, ZaöRV 58 (1998), 879 (888 und 899 f.). 108 Vgl. Thomas, a.a.O. (900); Jensen, EPL 3 (1997), 295 (299). 109 Zu der Frage, ob auch in Deutschland das subjektive Recht lediglich in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht kommt, siehe unten 7. Teil.

270

6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

F. Portugal Als letztes ist hier eine Rechtsordnung mit einer recht jungen Verfassung zu betrachten, die eine für die hiesige Fragestellung sehr interessante Gewährleistung enthält.

L Die Gewährleistung des Art. 48 Abs. 1 port Verf. Art. 48 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung von 1976/1982 110 lautet: „Alle Bürger haben das Recht, direkt oder über gewählte Vertreter am politischen Leben und an der Wahrnehmung der öffentlichen Angelegenheiten des Landes teilzunehmen."111 Dies könnte als ein subjektives Recht auf effiziente Teilhabe an der Staatsgewalt zu verstehen sein, das auch eine Aushöhlung durch Kompetenzabgaben der Volksvertretung verbieten könnte. Bereits der Wortlaut der zitierten Norm, die klassisch subjektiv-rechtlich formuliert ist, läßt ein umfangreiches politisches Teilhaberecht erkennen, 112 das über das bloße Wahlrecht hinausgeht, welches in der portugiesischen Verfassung zudem gesondert gewährleistet i s t . 1 1 3 Dieser Befund wird gestützt durch die Tatsache, daß die Überschrift des entsprechenden Abschnitts der Verfassung lautet Rechte, Freiheiten und Garantien der politischen Beteiligung"} 14

110 Die aktuelle portugiesische Verfassung wurde nach dem Sturz Salazars 1976 geschaffen und 1982 grundlegend überarbeitet. Siehe zur Verfassung von 1976 und den Umständen ihrer Erarbeitung Thomashausen, EuGRZ 1981, 1 (2 f.) einerseits, Canotilho/Ferreira da Silva, DuR 1981, 436 ff. andererseits; zur Verfassungsrevision von 1982 Thomashausen, JöR 32 (1983), 443 ff. 111 Zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., München, 1996, S. 416. Der portugiesische Originaltext lautet: „Todos os cidadäos têm ο direito de tornar parte na vida politica e na direcçao dos assuntos piiblicos do pais, directamente ou por intermèdio dereprésentantes livremente eleitos" (zitiert nach Ribeiro , Constituiçâo, S. 84). 112 Ähnlich bereits H.-tì. Rupp in seinem Plädoyer im deutschen Maastricht-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Rupp, Plädoyer in der mündlichen Verhandlung am 1./2. Juli 1993, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 544; näher oben 4. Teil, 1. Kapitel, D.). 113 Seit der Verfassungsrevision von 1982 in Art. 49 port. Verf.; vorher Art. 48 Abs. 2 und 3. 114 Zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., München, 1996, S. 416 (Hervorhebung vom Verfasser).

1. Kap.: Rechtsvergleichung

271

Π. Die Anwendungspraxis des Art. 48 Abs. 1 port. Verf. Allerdings scheint die Regelung in der portugiesischen Verfassungswirklichkeit ein Schattendasein zu führen. Soweit ersichtlich, sind bislang in der Praxis aus dieser Bestimmung keine subjektiven Rechte des Einzelnen hergeleitet worden. Jedenfalls findet sich in deutschsprachigen Publikationen zur Verfassung Portugals 115 zu Art. 48 Abs. 1 nichts. Und auch in den - erreichbaren - portugiesischen Kommentierungen der Norm werden häufig, wenn überhaupt, 116 Ausführungen nur zu allgemeinen Aspekten gemacht, 117 wie etwa zu den direkten und indirekten Formen der Demokratie, zum Wahlrecht nebst seinen Regelungen, zu politischen Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften oder zu weiteren Rechten auf Beeinflussung der politischen Entscheidungen wie Petitionsrecht und Demonstrationsfreiheit. Vereinzelt heißt es dort zwar, die Vorschrift behandle die Bürger als „direkte Subjekte des politischen Lebens". 1 1 8 Jedoch werden hieraus, soweit erkennbar, keine weitergehenden Folgerungen abgeleitet.

ΙΠ. Ergebnis für die vorliegende Fragestellung Damit zeigt sich, daß der interessante Ansatz in Art. 48 Abs. 1 port. Verf. bislang nicht zu einer dem hier entwickelten Recht entsprechenden Gewährleistung ausgebaut worden ist. Eine derartige Entwicklung scheint angesichts der Wortlauts der Norm aber - bei aller gebotenen Vorsicht einer Prognose aus der Sicht eines ausländischen Betrachters - gut möglich.

G. Ergebnis zur Rechtsvergleichung Nach alledem ergibt sich aus dem Blick auf die untersuchten Rechtsordnungen ein uneinheitliches Bild. Teilweise ist dort, wie in Frankreich, ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung parlamentarischer Akte nicht vorgesehen, und der Einzelne hätte zudem ohnehin keine Möglichkeit, ein ver115

Herangezogen wurden, in der Reihenfolge ihres Erscheinens: Schmid , AöR 103 (1978), 204 ff.; Thomashausen, Verfassung; Thomashausen, EuGRZ 1981, 1 ff.; Canotilho/Ferreira da Silva, DuR 1981, 436 ff.; Thomashausen, JöR 32 (1983), 443 ff. 116 Keinerlei Kommentierung außer dem kargen Hinweis, daß die geltende Fassung auf die Verfassungsänderung von 1982 zurückzuführen ist, sowie Verweisen auf thematisch verwandte Normen enthält beispielsweise Ribeiro, Constituiçâo, S. 84 f. 117 Siehe etwa Canotilho/Moreira, Constituiçâo, S. 132; Morais/De Almeida./ Leite Pinto, Constituiçâo, S. 99. 118 Canotilho/Moreira, a.a.O.: „O presente artigo trata [...] dos cidadäos corno sujeitos directos da vida politica."

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6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

fassungsgerichtliches Verfahren zu initiieren. Ein dementsprechender Klageantrag wäre dort von vornherein unzulässig und unbegründet. Teilweise wird dem Individuum sehr frei der Rechtsweg eröffnet, ohne daß freilich in der Sache Chancen auf eine gerichtliche Prüfung bestünden. Das ist der Fall im Vereinigten Königreich, wo ein „standing" des Klägers eher unproblematisch angenommen wird, aber die Gerichte aufgrund der „sovereignty of parliament" Legislativakte grundsätzlich nicht überprüfen. Ein grundlegend anderes Ergebnis findet sich in Dänemark, wo in dem zitierten ersten Maastricht-Urteil der Oberste Gerichtshof ein Institut entwickelt hat, das der hier vertretenen Konzeption durchaus nahe kommt. Quasi zwischen diesen beiden Positionen stehen Rechtsordnungen, in denen sich Ansätze finden, die - soweit erkennbar - ohne allzu großen dogmatischen Aufwand zu einem subjektiven Recht im vorliegend untersuchten Sinne ausgebaut werden könnten, ohne daß sich ein derartiges Verständnis aber bereits konkret nachweisen ließe. Hierzu zählen Liechtenstein und die Schweiz mit dem dort anzutreffenden Verständnis des Wahlrechts (auch) als einer Organkompetenz. Zudem ist hier Portugal mit seiner weiten Gewährleistung auf Teilhabe des Bürgers an der Staatsgewalt zu nennen. Angesichts dieser Inhomogenität der gefundenen Lösungen ist es schwierig, ein Fazit zu ziehen, ob das hier entwickelte subjektive Recht von dem Blick auf die anderen Rechtsordnungen gestützt wird. Anhand einer Betrachtung allein der britischen und französischen Rechtslage ließe sich ein solcher Nachweis sicher nicht führen. Jedoch erlaubt der Blick auf die anderen untersuchten Staaten die vorsichtige These, daß in denjenigen Rechtsordnungen, die - wie die Bundesrepublik - eine umfassende Rechtskontrolle von Legislativakten kennen, ein derartiges subjektives Recht des Einzelnen möglich erscheint, zumal in Dänemark ein Pendant bereits existiert. 2. Kapitel

Völkerrechtliche Gewährleistungen Nach dem nationalen Recht anderer Staaten ist nun das zwischenstaatliche Recht kurz zu beleuchten. Hier finden sich in mehreren multilateralen Menschenrechtsinstrumenten Bestimmungen, die ein umfangreiches politisches Teilhaberecht des Einzelnen gewährleisten. In der Formulierung ähneln sie größtenteils der bereits vorgestellten Regelung in Art. 48 der portugiesischen Verfassung; tatsächlich läßt sich ein starker Einfluß der völkervertraglichen Menschenrechtsgewährleistungen auf diese Nationalverfassung nachweisen. 119 119 Vgl. nur Art. 16 Abs. 2 der port. Verf.: „Die Auslegung und Anwendung der die Grundrechte betreffenden Verfassungs- und Rechtsvorschriften erfolgt in Uber-

2. Kap.: Völkerrechtliche Gewährleistungen

273

A. Art. 21 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Die historisch gesehen erste Verbürgung, auf die hier einzugehen ist, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedet wurde. Art. 21 Abs. 1 lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung öffentlicher Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen."120 Diese Gewährleistung enthält ein politisches Recht, das untrennbar Teil der Idee und Praxis der Demokratie i s t . 1 2 1 Dabei beschränkt sie sich nicht auf die Garantie demokratischer Wahlen, denn diese werden in Art. 21 Abs. 3 gesondert angesprochen. Vielmehr ist mit der zitierten Bestimmung mehr gemeint, nämlich die Versubjektivierung des in Abs. 3 im 1. Halbsatz ausgesprochenen Prinzips, daß der Wille des Volks die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt bilde. Abs. 1 stellt klar, daß der Einzelne insoweit eigene subjektive Rechte hat. 1 2 2 Freilich entfaltet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als solche völkerrechtlich keine Bindungswirkung. Denn sie ist kein Vertrag zwischen Völkerrechtssubjekten, die sich auf die rechtliche Verbindlichkeit des verabschiedeten Textes geeinigt hätten. Stattdessen stellt sie, formal betrachtet, nur die Erklärung eines Organs einer Internationalen Organisation dar. 1 2 3 Andererseits spiegelt sie in vielerlei Hinsicht die Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen wider, ist zudem mit der Autorität der Generalversammlung der Vereinten Nationen versehen und nachfolgend auch oft von Völkerrechtssubjekten zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht worden. Des weiteren wird sie vielerorts als Auslegungskriterium herangezogen 124 und entfaltet so indirekte Wirkung. 1 2 5 Schließlich ist die Erklärung Vorbild für zahlreiche nachfolgende Instrumente mit unbestrittener Rechtsqualität geworden, 126 so daß ihren Gewährleistungen mitteinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung." (Zitiert nach: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl., München, 1996, S. 406). 120 Zitiert nach der deutschen Übersetzung in Sartorius, Bd. II, Nr. 19. 121 So Meron, Human Rights, S. 192: „inextricably part of the idea and practice of democracy". 122 In diesem Sinne auch Meron , a. a. O. 123 Zum ganzen Stern, StaatsR III/1, S. 256 f. 124 Auch die Organe der Bundesrepublik orientieren sich gelegentlich an der Erklärung, siehe Geiger, GG und VölkerR, § 34 III. 125 Vgl. Stern, StaatsR III/l, S. 257. 126 So z.B. für die Europäische Menschenrechtskonvention und den Internationalen Pakt über bürgerliche Rechte, siehe Frowein, in HdBStR VII, § 180, Rz. 1. 18 Soppe

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6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

lerweile zu Recht doch ein rechtlich verbindlicher Charakter beigemessen wird.127

B. Art. 25 lit. a des Int. Pakts über bürgerliche und politische Rechte Eines dieser völkerrechtlichen Instrumente mit nahezu universaler Geltung ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966. Hierbei handelt es sich um einen echten völkerrechtlichen Vertrag mit rechtlicher Bindungswirkung, der mittlerweile von 140 Staaten ratifiziert worden i s t , 1 2 8 darunter auch der Bundesrepublik Deutschland. 129 Sein Art. 25 lautet auszugsweise: „Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Art. 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen [...]."

I. Der Inhalt der Gewährleistung Auch aus dieser Regelung ergibt sich, wie bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, daß die Ausübung staatlicher Macht auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhen muß. 1 3 1 Wie dieses „Recht auf Ausübung der Volkssouveränität" 132 konkret auszugestalten ist, hängt allerdings vom politischen System des jeweiligen Vertragsstaats ab; Art. 25 lit. a des Pakts enthält insofern nur ein den verschiedenen Staaten „gemeinsames Minimum". Wohl auf der Grundlage des überkommenen Verständnisses von Art. 38 GG wurde in Deutschland vereinzelt vertreten, Art. 25 lit. a des Pakts habe „keinen konkreten Inhalt". 1 3 3 Verständlich wird diese Aussage nur, wenn es um die Abwehr von Forderungen nach einem Recht auf plebiszitäre Einrichtungen geht. 1 3 4 Anderenfalls wäre diese Ansicht kaum zu halten. Denn 127

Carrillo Salcedo, in EPIL, S. 922 (925 f.). Stand 31.12.1998, siehe BGBl. 1999 II, Fundstellennachweis Β vom 22.1.1999, S. 465 ff. 129 Siehe das Zustimmungsgesetz vom 15.11.1973, BGBl. 1973 II, S. 1533. 130 Zitiert nach der amtlichen Übersetzung in BGBl. 1973 II, S. 1534 (1544). 131 So ausdrücklich Nowak, UNO-Pakt, Art. 25, Rz. 11; siehe auch Stöcker, Der Staat 31 (1992), 495 (499). 132 Nowak, a.a.O., Rz. 12; auch zum folgenden. 133 So Guradze, JIR 15 (1971), 242 (262); Stern, StaatsR III/l, S. 264, zählt zu den vom Pakt gesicherten Rechten lediglich „die überkommenen politischen Mitwirkungsrechte, insbesondere das Wahlrecht". 128

2. Kap.: Völkerrechtliche Gewährleistungen

275

sowohl die Systematik des Art. 25 - eine Nennung in lit. a noch vor dem Wahlrecht, das in lit. b genannt ist, und dem Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (lit. c) - als auch der Wortlaut, der eine grundlegende Berechtigung in dem oben genannten Sinne nahelegt, als auch die Tatsache, daß diese Gewährleistung noch in weiteren völkerrechtlichen Dokumenten auftaucht und es sich somit, in der Terminologie der Vereinten Nationen, um „agreed language" handelt, sprechen dagegen. 135 Schließlich wird dort - wie in den vergleichbaren Gewährleistungen der Menschenrechtserklärung sowie in sonstigen Übereinkommen 136 - der politische Status des Staatsbürgers nicht lediglich über das Wahlrecht, sondern über eine wesentlich weitergehende Formulierung definiert. 137 Inhaltlich beschränkt sich die Gewährleistung im Pakt des weiteren nicht auf die objektiv-rechtliche Gewährleistung der Volkssouveränität, sondern statuiert ausdrücklich ein subjektives Recht des Staatsbürgers auf Teilnahme daran. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Formulierung in Art. 25 lit. a sowie der ganzen Zielrichtung des Pakts, der bestimmte Individualrechte bürgerlicher und politischer Natur garantieren soll. 1 3 8 Zudem zeigt das Begriffspaar „das Recht und die Möglichkeit", daß dieses Recht nicht nur „auf dem Papier", sondern auch tatsächlich gewährleistet sein muß. Dies spricht besonders deutlich gegen die Zulässigkeit einer faktischen Aushöhlung. 139 Eine völkerrechtliche Besonderheit jedenfalls auf der universellen Ebene ist ferner, daß der Pakt für die Fälle einer Verletzung dieser Rechte in seinem (ersten) Fakultativprotokoll die Möglichkeit einer Individualbeschwerde an den nach Teil I V des Pakts eingerichteten Ausschuß für Menschenrechte vorsieht. 140 Der Einzelne ist damit ausnahmsweise nach einer völkerrechtlichen Norm parteifähig. Allerdings läßt sich in der Praxis bislang kein Fall nachweisen, in dem eine parlamentarische Kompetenzabgabe als ein Verstoß gegen Art. 25 gerügt worden wäre. Vielmehr betrafen die vom Menschenrechtsausschuß entschiedenen Fälle, soweit ersichtlich, stets Konstellationen, in denen Individuen ihr Wahlrecht nicht ausüben konnten oder durften. 141 134

Darauf will Guradze, a.a.O., offenbar hinaus. Letztlich räumt Guradze, a.a.O., dies selbst ein, wenn er schreibt, Art. 25 des Pakts ginge unter anderem in lit. a noch über die Gewährleistungen der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle hinaus. Dies ist nur möglich, wenn lit. a eben doch einen eigenen konkreten Inhalt hat. 136 Dazu sogleich. 137 Vgl. Steinberger, FS Bernhardt, S. 1313 (1320), in dortiger FN 22. 138 Vgl. dazu Beyerlin, LdR/VR, S. 209 (210). 139 Näher zu diesem Aspekt Nowak, UNO-Pakt, Art. 25, Rz. 8 ff. 140 Die Bundesrepublik hat das Fakultativprotokoll 1992 ratifiziert, siehe Frowein, in HdBStR VII, § 180, Rz. 34. Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten näher etwa Cohen-Jonathan, in EPIL, S. 915 (919 f.). 135

18*

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6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

Dennoch dürfte, ohne daß dies in dem vorliegenden Rahmen abschließend geklärt werden könnte, die Gewährleistung im Pakt nach Wortlaut und Systematik auch auf die hier zu untersuchenden Situationen anwendbar

Π. Die Berechtigung der deutschen Staatsbürger Mit dem Zustimmungsgesetz vom 15.11.1973 hat die Bundesrepublik die Gewährleistungen des Pakts praktisch unverändert 143 in das innerstaatliche Recht inkorporiert. 144 Diese Regelungen gelten daher in der deutschen Rechtsordnung mit dem Inhalt, der ihnen im Pakt zugesprochen w i r d . 1 4 5 Da Art. 2 Abs. 1 des Pakts die Vertragsstaaten verpflichtet, „die in diesem Pakt anerkannten Rechte [...] zu gewähren", und wegen der durchgehend subjektiv-rechtlichen Formulierung der einzelnen Bestimmungen bedeutet das, daß nicht nur objektiv-rechtliche Garantien übernommen wurden, sondern

141

Vgl. die Nachweise bei Nowak, UNO-Pakt, Art. 25, Rz. 10 und 14. Ähnlich wohl Steinberger, FS Bernhardt, S. 1313 (1320), dortige FN 22, der Art. 25 des Pakts in Beziehung setzt zur Maastricht-Entscheidung des BVerfG. 143 Die dabei erklärten Vorbehalte betreffen andere Gewährleistungen und können vorliegend vernachlässigt werden. 144 Dies gilt unabhängig von der Frage, ob der Transformations- oder der Vollzugstheorie zu folgen ist; dazu etwa Bernhardt, in HdBStR VII, § 174, Rz. 28. 145 Die Einzelheiten sind hier umstritten, ohne daß sich dies allerdings im Ergebnis auswirken würde. Teilweise wird vertreten, nur unmittelbar anwendbare Regelungen würden überhaupt ins innerstaatliche Recht übernommen (so die überkommene Lehre; siehe etwa die Nachweise bei Geiger, GG und VölkerR, § 32 II 3 a; Stern, StaatsR I, S. 505 f.). Nach anderer Ansicht werden alle Regelungen in das nationale Recht übernommen; die Frage der (unmittelbaren) Anwendbarkeit sei dem logisch nachgeordnet und hänge allein vom Inhalt des Vertrages ab (so Geiger, a.a.O.; Stern, a.a.O., S. 506, m.w.N.). Vorliegend kommt es auf diesen Punkt deshalb nicht an, weil jedenfalls Art. 25 lit. a des Pakts dem Einzelnen subjektive Rechte zuspricht, die nicht noch einer weiteren Umsetzung bedürfen, so daß die Norm unmittelbar anwendbar ist. Quer zu dieser Diskussion liegt die gelegentlich erörterte - aber nicht immer hinreichend klar formulierte - Frage, inwieweit der Pakt anwendbar ist, soweit er nicht in das nationale Recht inkorporiert worden ist (vgl. etwa die Ausführungen von Ritterband, Menschenrechtsschutz, S. 204 ff.; Nowak, UNO-Pakt, Art. 2, Rz. 50; Stern, StaatsR III/l, S. 263 f.) Dieser Punkt betrifft nicht die deutsche Rechtslage, sondern stellt insbesondere auf den anglo-amerikanischen und den skandinavischen Rechtskreis ab, die beide eine Inkorporation nicht kennen. Hier wird unter Hinweis auf den Willen der Vertragsstaaten des Pakts eine generelle unmittelbare Anwendbarkeit zumeist bezweifelt oder verneint (siehe etwa Nowak, a.a.O.; Ritterband, a.a.O., S. 206; Stern, a.a.O.), was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß die Gewährleistungen des Pakts jedenfalls in der Bundesrepublik aufgrund der hier gegebenen Inkorporation geltendes Recht sind (in diesem Sinne auch Guradze, JIR 15 [1971], 242 [254]; ähnlich Beyerlin, LdR/VR, S. 209 [210]). 142

2. Kap.: Völkerrechtliche Gewährleistungen

277

daß der Einzelne auch die in dem Pakt vorgesehenen subjektiven Rechte hat. 1 4 6 Damit steht dem deutschen Staatsbürger das Recht auf politische Teilhabe gegenüber der deutschen Staatsgewalt zu.

III. Die faktische Bedeutung der Gewährleistung Allerdings stehen alle Gewährleistungen des Pakts - und damit auch das Recht auf politische Teilhabe - lediglich im Rang eines einfachen Gesetzes, 1 4 7 weil für die Rangposition auf das Zustimmungsgesetz abzustellen ist, mit dem sie in die deutsche Rechtsordnung übernommen wurden. 1 4 8 Somit ließen sich diese Gewährleistungen auf der rein innerstaatlichen Ebene gegen einen entschlossen handelnden Gesetzgeber letztes Endes wohl nicht durchsetzen. Gerade in Fällen der vorliegend zu untersuchenden Art, in denen das Parlament bewußt Kompetenzen übertragen will, wäre ein effektiver Schutz des Einzelnen mit einer Norm von lediglich einfachgesetzlichem Rang kaum zu erreichen. Denn die völkerrechtlichen Verbürgungen des Pakts sind nicht gesetzesfest. Der deutsche Gesetzgeber wäre jedenfalls von Verfassungs wegen nicht gehindert, ein Gesetz zu erlassen, das den - hier nur einfachgesetzlich geschützten - völkerrechtlichen Gewährleistungen widerspräche und sich innerstaatlich gemäß der Lex-posteriorRegel gegenüber diesen auch durchsetzen würde. 1 4 9 Zwar wäre dieses dem Staat zuzurechnende Verhalten des Gesetzgebers auf internationaler Ebene völkerrechtswidrig, da Deutschland damit die von ihm übernommene Verpflichtung, bestimmte Rechte des Einzelnen zu garantieren, verletzen würde. 1 5 0 Das könnte aber auf dieser Ebene vom Einzelnen grundsätzlich nicht gerügt werden. Sofern, wie beim Pakt, im Rahmen eines speziellen völkerrechtlichen Übereinkommens ein besonderer Rechtsschutzmechanismus existiert, 151 der dem Individuum eine eigene völkerrechtliche Rechtsschutzmöglichkeit zugesteht, dürfte dieser mit seinen Beschränkungen auf bloße Stellungnahmen eines Ausschusses ohne Vollstreckungsgewalt kaum zu einem effektiven Individualschutz führen. 1 5 2

146 Plastisch Guradze, a.a.O. (245), der von einem „dritten Grundrechtskatalog" neben dem von GG und EMRK spricht. 147 Mißverständlich für die Rangfrage daher die Formulierung von Guradze, a.a.O. 148 Vgl. allgemein statt aller Bernhardt, in HdBStR VII, § 174, Rz. 29; Geiger, GG und VölkerR, § 32 II 4. 149 Vgl. Bernhardt, in HdBStR VII, § 174, Rz. 29, auch zur Vermeidung von Normkonflikten durch völkerrechtsfreundliche Auslegung. 150 Vgl. Geiger, GG und VölkerR, § 32 II 4. 151 Für den Pakt siehe dazu oben I. 152 Vgl. etwa die Darstellung von Frowein, in HdBStR VII, § 180, Rz. 34 f.

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6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

C. Art. 5 lit. c des Int. Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung Eine weitere Gewährleistung dieser Art findet sich im Internationalen Übereinkommen vom 7.3.1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Art. 5 lit. c der Konvention, der mittlerweile 153 Staaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, 153 angehören, 154 lautet, soweit vorliegend von Interesse: „Im Einklang mit den in Artikel 2 niedergelegten grundsätzlichen Verpflichtungen werden die Vertragsstaaten [...] das Recht jedes einzelnen [...] auf Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten; das gilt insbesondere für folgende Rechte: [...] c) die politischen Rechte, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht auf der Grundlage allgemeiner und gleicher Wahlen, das Recht auf Beteiligung an der Regierung und an der Führung der öffentlichen Angelegenheiten auf jeder Ebene sowie das Recht auf gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Dienst [...]." 1 5 5 Diese Formulierung entspricht inhaltlich derjenigen in Art. 25 lit. a des Pakts über bürgerliche und politische Rechte. 156 Ein Unterschied besteht zwar in der Schutzrichtung beider Übereinkommen: Während der Pakt die politischen Rechte erst definiert, werden sie in der Konvention gegen Rassendiskriminierung bereits als bestehend vorausgesetzt, und es wird „nur" die hierauf bezogene Diskriminierung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse verboten. Jedoch spiegelt sich auch in dieser Formulierung die Rechtsüberzeugung („opinio iuris") der Unterzeichnerstaaten wider, daß den Individuen in den beteiligten Staaten ein derartiges politisches Teilhaberecht zusteht. Aufgrund des Beitritts der Bundesrepublik zu dieser Konvention kann sich der Einzelne auch in Deutschland auf ihre Gewährleistungen berufen.

D. Art. 7 lit. b des Übereinkommens gegen Frauendiskriminierung Vergleichbares gilt schließlich für das Übereinkommen vom 18.12.1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Dieser Konvention gehören zur Zeit 163 Staaten an, 1 5 7 die Bundesrepublik Deutschland 153

S. 961.

Das ergibt sich aus dem Zustimmungsgesetz vom 9.5.1969, BGBl. 1969 II,

154 Stand 31.12.1998, siehe BGBl. 1999 II, Fundstellennachweis Β vom 22.1.1999, S. 461 f. 155 Zitiert nach der amtlichen Übersetzung in BGBl. 1969 Π, S. 962 (966 f.); Hervorhebung vom Verfasser. 156 Vgl. Nowak, UNO-Pakt, Art. 25, Rz. 11.

2. Kap.: Völkerrechtliche Gewährleistungen

279

hat sie am 25.4.1985 ratifiziert. 1 5 8 Art. 7 lit. b des Übereinkommens lautet auszugsweise: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im politischen und öffentlichen Leben ihres Landes und gewährleisten insbesondere allen Frauen in gleicher Weise wie den Männern [...] b) das Recht auf Mitwirkung an der Ausarbeitung der Regierungspolitik und deren Durchführung sowie auf Bekleidung öffentlicher Ämter und auf Wahr: 1 aller öffentlichen Aufgaben auf allen Ebenen staatlicher Tätigkeit Auch in dieser Regelung 1 6 0 wird ein Recht auf politische Teilhabe bereits als bestehend vorausgesetzt und lediglich seine Geltung auch für Frauen besonders betont, so daß auf die entsprechenden Ausführungen zur Konvention gegen Rassendiskriminierung verwiesen werden kann. 1 6 1

E. Sonstige Übereinkommen als „völkerrechtlicher Hintergrund" Nach den obigen Ausführungen ist zu konstatieren, daß verschiedene völkerrechtliche Instrumente ein subjektives Recht des Einzelnen auf Ausübung der Volkssouveränität bereits kennen. Für die vorliegende Fragestellung nach der deutschen Rechtslage stellen die internationalen Gewährleistungen damit einen zumindest phänotypisch vergleichbaren Hintergrund dar, vor dem sich die hier dogmatisch aufgearbeitete innerstaatliche Berechtigung als weit weniger revolutionär ausnimmt, als es zunächst den Anschein haben mochte. Dieses Hintergrundbild läßt sich weiter verdichten, wenn man den Blick abschließend noch kurz auf einige weitere Deklarationen und Konventionen richtet, denen die Bundesrepublik nicht beigetreten ist. Auch hier finden sich vergleichbare Bestimmungen.

157 Stand 31.12.1998, siehe BGBl. 1999 II, Fundstellennachweis Β vom 22.1.1999, S. 570. 158 Siehe das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 25.4.1985, BGBl. 1985 II, S. 647. 159 Zitiert nach der amtlichen Übersetzung in BGBl. 1985 II, S. 648 (652). 160 Zur Vergleichbarkeit mit den Vorschriften der anderen Instrumente vgl. Nowak, UNO-Pakt, Art. 25, Rz. 11. 161 ObenC.

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6. Teil: Rechtsvergleichung und Völkerrecht

I. Art. XX der Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen Vergleichbar der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1 6 2 hat auch die Organisation Amerikanischer Staaten im Jahre 1948 auf ihrer Neunten Internationalen Konferenz eine Allgemeine Deklaration zu den Menschenrechten verfaßt. 1 6 3 Ihr Art. X X lautet in der englischen Fassung: 164 „Every person having legal capacity is entitled to participate in the government of his country, directly or through his representatives, and to take part in popular elections, which shall be by secret ballot, and shall be honest, periodic and free."

Π. Art. 23 Abs. 1 lit. a der Amerikanischen Menschenrechtskonvention Des weiteren ist hier die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969 zu nennen, die am 18.7.1978 in Kraft getreten i s t 1 6 5 und derzeit 25 Mitglieder umfaßt. 1 6 6 Ihr Art. 23 Abs. 1 lautet in Auszügen wie folgt: „Jeder Staatsbürger muß die folgenden Rechte und Möglichkeiten haben: a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen [...]." 1 6 7 Hier wird, deutlich erkennbar, die Gewährleistung aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte übernommen, 168 so daß inhaltlich auf die dortigen Ausführung e n 1 6 9 Bezug genommen werden kann.

III. Art. 13 Abs. 1 der Banjul-Charta Schließlich ist auf die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker zu verweisen, die sich gemäß ihrer Präambel „BanjulCharta" nennt. Sie wurde von der Organisation für Afrikanische Einheit am 162

Dazu oben A. Text in Buergenthal/Shelton, Human Rights, S. 612 ff. 164 a.a.O. (614); eine deutsche Fassung war Zitiert nach Buergenthal/Shelton, nicht zu finden. 165 Frowein, EuGRZ 1980, 442. 166 Stand 31.12.1998, siehe K. Ipsen, VölkerR, § 49, Rz. 16. 167 Zitiert nach der inoffiziellen Übersetzung in EuGRZ 1980, 435 (437). 168 Vgl. Buergenthal/Shelton, Human Rights, S. 509; siehe auch Frowein, EuGRZ 1980, 442. 169 Oben A. bzw. B. 163

2. Kap.: Völkerrechtliche Gewährleistungen

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27.6.1981 verabschiedet und ist seit dem 21.10.1986 in Kraft. Sie umfaßt derzeit 51 Mitglieder. 1 7 0 Ihr Art. 13 Abs. 1 lautet: „Jeder Staatsbürger hat das Recht, sich frei an der Leitung öffentlicher Angelegenheiten seines Staates zu beteiligen, entweder unmittelbar oder durch Vertreter, die unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften frei gewählt worden sind." 171 Hinsichtlich Inhalt und Reichweite sei auch hier auf die Erläuterungen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1 7 2 verwiesen.

F. Ergebnis zum Völkerrecht Nach alledem läßt sich aus der Betrachtung der völkerrechtlichen Ebene das folgende Fazit ziehen: In zahlreichen zwischenstaatlichen Deklarationen und Konventionen ist ein subjektives Recht des Einzelnen auf Teilnahme an der Ausübung der Volkssouveränität anerkannt. Reichweite und Inhalt sind zwar häufig vage gehalten, insbesondere ist kein Fall ersichtlich, in dem eine parlamentarische Kompetenzabgabe als Verletzung dieses Rechts gerügt worden wäre. Jedoch kommt angesichts des weitgefaßten Wortlauts aller dieser Regelungen eine derartige Subsumtion in Betracht. Hierfür spricht auch der Regelungszweck der Normen, in denen ein Individualrecht auf politische Teilhabe niedergelegt werden soll. Aufgrund des Beitritts gelten die entsprechenden Gewährleistungen insbesondere des Pakts über bürgerliche und politische Rechte auch in der Bundesrepublik Deutschland, so daß der einzelne Staatsbürger hier einen einfachgesetzlichen Anspruch auf Ausübung der Volkssouveränität hat. Da dieser Anspruch nicht gesetzesfest ist und auch seine inhaltliche Reichweite unklar ist, macht er ein subjektives Recht aus Art. 38 GG nicht entbehrlich, läßt jedoch eine derartige Gewährleistung als weniger revolutionär erscheinen, als es zunächst den Anschein haben mochte.

170 171 172

Stand 31.12.1997, siehe K. Ipsen, VölkerR, § 49, Rz. 20. Zitiert nach der deutschen Übersetzung in EuGRZ 1986, 677 (678). Oben A. bzw. B.

. Teil

Die Reichweite dieses subjektiven Rechts 1. Kapitel

Die Problemstellung Während oben im 5. Teil versucht wurde, eine grundsätzliche dogmatische Begründung für das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG zu entwickeln, und nach dem vergleichenden Blick auf andere Rechtsordnungen als das deutsche Grundgesetz im 6. Teil, soll in diesem Teil der Arbeit versucht werden, die inhaltliche Reichweite der subjektiv-rechtlichen Gewährleistung abzustecken. Die Reichweite ergibt sich nämlich nicht ohne weiteres aus der rechtlichen Grundlegung. Vielmehr eröffnet die dogmatische Begründung einen zunächst recht weiten Bereich, der durch differenziertere Überlegungen möglicherweise weiter einzugrenzen ist. So wurde im Anschluß an die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Frage aufgeworfen, ob sie bedeute, „daß auf diese Weise die Beachtung des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verlangt werden kann, so daß Art. 38 Abs. 1 und 2 GG ein Recht auf Einhaltung des objektiven Maßes demokratischer Legitimation von Staatsgewalt zu entnehmen ist? Oder aber muß der entwickelte Durchgriff des citoyen auf die Ausübung von Hoheitsgewalt in irgendeiner Form eingegrenzt werden?"1 Für einen Sonderfall hat schon das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil eine solche Eingrenzung vorgenommen; auf die dortigen Erwägungen wird im Rahmen des 4. Kapitels noch näher einzugehen sein. Für die übrigen Konstellationen, wie sie bereits oben 2 bei der dogmatischen Grundlegung untersucht wurden, steht eine derartige Analyse, soweit ersichtlich, noch weitgehend aus. Sie soll im folgenden unternommen werden. Dabei können freilich nur Leitlinien entwickelt werden; eine eingehende Betrachtung aller denkbaren Einzelfälle erscheint nicht möglich. Möglich ist hingegen, besonders wichtige, in der jeweiligen Einzelabwägung stets zu berücksichtigende Gesichtspunkte herauszuheben und absolute Grenzen aufzuzeigen. 1 2

Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (573). Oben 5. Teil, 3.-6. bzw. 8. Kapitel.

2. Kap.: Die Rechtsnatur der Gewährleistung

283

Im folgenden soll zunächst die Rechtsnatur des hier entwickelten subjektiven Rechts beschrieben werden (dazu im 2. Kapitel), bevor im Anschluß daran die inhaltliche Reichweite zu analysieren ist. Da nicht auszuschließen ist, daß aufgrund der Art. 23 und 24 GG unterschiedliche Beschränkungen für Kompetenzverlagerungen nach innen, nach außen an EG-Organe und nach außen an Internationale Organisationen bestehen, soll insoweit differenziert werden (3., 4. bzw. 5. Kapitel). Abschließend ist noch der Sonderfall zu erörtern, inwieweit eine eigene demokratische Legitimation des ermächtigten Organs eine Wahlrechtsbeeinträchtigung bei der Ermächtigung ausschließt (dazu das 6. Kapitel).

2. Kapitel

Die Rechtsnatur der Gewährleistung Im Anschluß an die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde im Schrifttum erörtert, wie das in dem Urteil erstmals postulierte subjektive Recht aus Art. 38 GG dogmatisch einzuordnen sei. Vertreten wurde, dies stelle „gleichsam eine institutionelle Garantie" dar. 3 Andere sprachen von einem „politischen Teilhaberecht". 4 Dritte hingegen meinten, das aus Art. 38 GG zu entnehmende Recht gehe „doch erheblich weiter als eine institutionelle Garantie oder ein Teilhaberecht"; letztlich stehe hiermit dem Bürger „ein Abwehrrecht gegen jegliches staatliche Verhalten, das die Kompetenzen des Bundestages aushöhlt und damit sein Wahlrecht sinnlos macht, zu". 5 An anderer Stelle heißt es, das Recht aus Art. 38 GG bilde „sozusagen die subjektivrechtliche Garantie des objektivrechtlichen Gehalts des in Art. 20 GG verankerten Demokratieprinzips". 6 Diese Diskussion spiegelt die Unsicherheit über die Herleitung des Rechts aus Art. 38 GG wider, da das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil keine dogmatische Begründung geliefert hatte. Freilich sind die genannten Einordnungsversuche ebenfalls kaum weiterführend. Denn es wird zum einen nicht geklärt, was konkreter Inhalt der angeblichen institutionellen Garantie sein soll. Die im dortigen Zitat unmittelbar anschließende Aussage, ,,[v]erbürgt werde nämlich auch der grundlegende demokratische Gehalt des Rechts, an der Legitimation der staatlichen Organträger teilzu3

Tomuschat, EuGRZ 1993, 489; kritisch dazu aber E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (274). 4 Bleckmann/Pieper, RIW 1993, 969 (973); ebenso BK-Badura, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rz. 4; wohl auch Henneke, der landkreis 1993, 544 (545): „Teilnahmerecht". 5 So Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (579). 6 Epiney, Cahiers de l'IDHEAP 123, S. 11.

284

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

nehmen und auf die Ausübung der Staatsgewalt Einfluß zu nehmen", 7 hilft kaum weiter. Welches Institut eigenständig garantiert sein soll, bleibt offen. Sofern hier auf das Wahlrecht als solches abgestellt werden soll, läge eine institutionelle Garantie des Wahlrechts vor, mithin eines kompletten Grundrechts. Das erscheint wenig sinnvoll, 8 da es bereits als solches grundrechtlich geschützt ist. 9 Zudem läge dies quer zum üblichen Verständnis derartiger Garantien, mit denen sonst stets festumrissene soziale Gebilde, wie etwa die Ehe oder das Eigentum, besonders geschützt werden sollen. Zum anderen wird der Begriff des „politischen Teilhaberechts" ebenfalls nicht erläutert. Das wäre jedoch erforderlich, da zwar der Begriff des „Teilhaberechts" eingebürgert ist, aber die Verbindung mit dem Adjektiv „politisch" offensichtlich eine neue Komponente beschreiben soll, die - soweit ersichtlich - bislang nicht zum grundgesetzdogmatischen Allgemeingut gehört. Deshalb bleibt auch diese Einstufung unklar. Demgegenüber erscheint der dritte Ansatz zunächst weiterführend, wenn er eine Festlegung auf schlagwortartige Begriffsbildungen zu vermeiden sucht. Freilich ist ihm die Frage entgegenzuhalten, ob die Aufgliederung einer einzelnen Grundrechtsbestimmung in die verschiedenen Funktionen abwehrrechtlicher und sonstiger Gewährleistungen nicht allzu ausdifferenziert ist. 1 0

A. Die Rechtsnatur des subjektiven Rechts nach dem hiesigen Ansatz Auf der Grundlage des hier entwickelten Verständnisses lassen sich derartige Schwierigkeiten der dogmatischen Einordnung vermeiden. Denn wegen der Nutzung bereits anerkannter Grundrechtsstrukturen kann auch insoweit auf die überkommenen Begriffe rekurriert werden. Wenn hier also vertreten wird, eine parlamentarische Kompetenzverlagerung sei gegebenenfalls als ein faktischer Eingriff in das Wahlrecht zu begreifen, dann läßt das den Charakter dieses individuellen Grundrechts unverändert. Denn es wird, wie bereits an anderer Stelle hervorgehoben wurde, 11 nicht der Schutzbereich des Art. 38 GG erweitert, sondern das Augenmerk wird auf die Eingriffsseite gerichtet; diese wird auch für indirekte Beeinträchtigungen geöffnet. 7

Tomuschat, EuGRZ 1993, 489. Allgemein kritisch zum Institut der Einrichtungsgarantien Waechter, Die Verwaltung 1996, 47 ff. 9 Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (579), versteht dies als Hinweis auf die »„Institution4 der Wahl". 10 Siehe auch die Bewertung von E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (274 f.), der einzelne Bürger werde „damit sehr deutlich aus seiner von den Freiheitsrechten geprägten »Abwehrecke4 mitten hinein in die Verantwortung für das Gemeinwesen und seine Verfassung gestellt." 11 Oben 5. Teil, 3. und 4. Kapitel. 8

2. Kap.: Die Rechtsnatur der Gewährleistung

285

Demgemäß bleibt es für die vorliegende Konstellation unproblematisch bei der Einstufung des Wahlrechts als einem Bürgerrecht des Aktivstatus. 12 Das hat den Vorteil, daß keine neue begriffliche oder dogmatische Kategorie eingeführt werden muß, sondern daß auf Vertrautes zurückgegriffen werden kann, um die Stellung dieser Gewährleistung in der Rechtsordnung zu beschreiben.

B. Folgerungen aus dieser dogmatischen Einordnung Tatsächlich lassen sich aus diesem Befund bereits zwei erste, noch recht allgemeine Folgerungen ableiten, von denen die eine an den Schutzbereich und die andere an den Eingriffsbegriff anknüpft.

I. Die Schutzbereichsseite: Das Aktivrecht als „bewahrendes" Recht Zum einen schließt es diese Einordnung auf der Schutzbereichsseite aus, das subjektive Recht aus Art. 38 GG als ein „Anspruchsrecht auf möglichst viel Demokratie" zu (miß-) deuten. Denn als Bürgerrecht des Aktivstatus enthält es nicht die originären Leistungselemente eines Menschenrechts im positiven Status. 13 Das heißt, daß dieses Recht weder auf einen Kompetenzzuwachs des Bundestags gerichtet sein kann, noch auf Einführung vermeintlich demokratischerer Entscheidungsformen. Mithin kann hier von vornherein keine Neuordnung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung verlangt werden, denn als Recht des Aktivstatus ist das Wahlrecht insoweit nur auf Teilhabe am bereits Bestehenden gerichtet. Der Wahlberechtigte könnte nur eine Selbstentmachtung des Bundestags rügen, nicht aber geltend machen, ein Staatsorgan X oder eine Institution Y wäre zur Ausübung einer bestimmten Kompetenz besser geeignet als das Parlament; in diesem Sinne hat das Recht im Aktivstatus einen bewahrenden, „konservativen" Charakter. 14 Gleiches gilt für den Umfang der Teilnahme des Individuums an der Staatsleitung. Aus Art. 38 GG als aktivrechtlicher Gewährleistung kann nicht die Einführung plebiszitärer Bürgerbeteiligung oder die Einrichtung von Formen unmittelbarer Demokratie hergeleitet werden. Stattdessen kann allenfalls verlangt werden, daß ein bestimmtes, vorgefundenes Niveau parlamentarischer Befugnisse beibehalten wird.

12

Näher oben 3. Teil, 1. Kapitel. Zur Unterscheidung der verschiedenen Status siehe bereits oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. II. 14 Siehe bereits oben 5. Teil, 5. Kapitel, I. 13

286

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

II. Die Eingriffsseite: Qualifizierte Beeinträchtigung erforderlich Zum anderen folgt aus der hier vertretenen Auffassung bei Betrachtung der Eingriffsseite, daß nicht bereits jede faktische Berührung des wahlrechtlichen Schutzbereichs als Eingriff bewertet werden kann. So ist für die Grundrechte des negativen Status jedenfalls im Ergebnis unstreitig, daß nicht jede indirekte Berührung des Schutzbereichs als Eingriff zu deuten ist, wenn auch über die anzulegenden Kriterien, die für eine Qualifikation als Eingriff im Einzelfall zu fordern sind, keine Einigkeit besteht. 15 Im Rahmen der Übertragung der Eingriffsdogmatik ist auch dieser Aspekt für die subjektiven Rechte des Aktivstatus zu übernehmen. Demnach ist auch hier eine qualifizierte Beeinträchtigung zu fordern, um einen Eingriff in das Wahlrecht annehmen zu können. Das bedeutet konkret, daß nicht jede parlamentarische Bevollmächtigung eines anderen Organs oder einer anderen Institution bereits als ein vom Einzelnen abwehrbarer Wahlrechtseingriff angesehen werden kann. Dies wird vielmehr nur in besonderen, qualifizierten Fällen möglich sein. Wie diese Qualifikation inhaltlich auszusehen hat, kann aus dem Charakter des Wahlrechts als aktivrechtliche Grundrechtsgewährleistung jedoch nicht erschlossen werden, sondern hängt von anderen Kriterien ab. 3. Kapitel

Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum Zunächst ist im folgenden die Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG im innerstaatlichen Raum zu untersuchen.

A. Die denkbaren Anwendungsbereiche Als praktische Fälle, in denen diese Gewährleistung relevant werden könnte, werden im Schrifttum des öfteren Kompetenzabgaben an weisungsfrei arbeitende Verwaltungsorgane genannt. 16 Beispiele hierfür wären neben den in jüngerer Zeit vermehrt geschaffenen „Beauftragten" für be15

Näher dazu oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 2. b. (2). So etwa von H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7); Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 (433); ähnlich E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (273); siehe auch Steinberger, FS Bernhardt, S. 1313 (1320) in dortiger FN 24, der freilich eine „Bindung von Rechtsetzung" politisch für „nicht sehr wahrscheinlich" hält. 16

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

287

stimmte Verwaltungsbereiche, 17 die bislang eher geringe rechtliche Kompetenzen haben 18 - staatliche Organe, die mit fachlicher Unabhängigkeit versehen sind, wie etwa die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder 19 oder die (frühere) Bundesbank. 20 Darüber hinaus werden aber auch die folgenden Fallgestaltungen genannt: „Der Bundestag delegiert (materielle) Gesetzgebungsbefugnisse an die Exekutive. Der Gesetzgeber unterläßt es, in einem Gesetz wichtige Entscheidungen zu treffen[,] bzw. die gesetzlichen Bestimmungen sind nicht bestimmt genug, so daß der Exekutive und ggf. der Judikative ein weiter Auslegungsspielraum bleibt und sie die entsprechenden Lücken füllen können bzw. müssen. Die Exekutive überschreitet ihre Befugnisse, indem sie die Grenzen der Delegation nicht beachtet. In einem Gesetz werden Hoheitsbefugtiisse an private oder an autonome Einrichtungen wie etwa die Bundesbank übertragen. Verwaltungsvorschriften konkretisieren gesetzliche Verweisungsbegriffe, wie z.B. jeweiliger Stand der Wissenschaft und Technik'." 21 Fraglich ist nun, ob in allen diesen Konstellationen der Wahlberechtigte geltend machen können soll, sein subjektives Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG sei verletzt. 22

B. Die zu berücksichtigenden Spannungspole Bereits bei unbefangener Betrachtung erschließt sich, daß die Reichweite des subjektiven Rechts im Prinzip höchst unterschiedlich sein kann. Als Extrempositionen kommen eine äußerst grundrechtsfreundliche Auslegung im Grundsatz ebenso in Betracht wie eine besonders restriktive Auffassung. Im ersteren Fall würde dem Wahlberechtigten eine sehr weitgehende Position zugestanden; im letzteren Fall würde demgegenüber ein sehr weitreichender parlamentarischer Gestaltungsspielraum gesichert. Verallgemeinernd ließe sich auch formulieren, daß auf der einen Seite eher das subjektive Recht des Individuums gefördert würde und auf der anderen Seite die Entscheidung stärker zugunsten der objektiv-rechtlichen Parlamentsmacht ausfiele. 17

Zu denken ist beispielsweise an Datenschutzbeauftragte, Umweltschutzbeauftragte, Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragte, Ausländerbeauftragte und ähnliches. 18 Zum „Verwalten durch Beauftragte" und zu deren Kompetenzen näher Fuchs, DÖV 1986, 363 ff. 19 Für den Bundesrechnungshof vgl. die in § 1 Satz 1 BundesrechnungshofG festgelegte Stellung als „unabhängiges Organ der Finanzkontrolle", das „nur dem Gesetz unterworfen" ist. 20 Vgl. hierzu § 12 Satz 1 BundesbankG. 21 Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (572 f.); z.T. ähnlich Meessen, NJW 1994, 549 (550 f.). 22 Auch Epiney, a.a.O. (573), sieht, „daß die Bandbreite möglicher hoheitlicher Akte, durch die der status activus des citoyen potentiell verletzt sein könnte, außerordentlich weit ist".

288

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

Damit einher ginge notwendigerweise eine stärker oder schwächer ausgeprägte Justitiabilität, eine stärkere oder schwächere Rolle des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Bundestag. Zwischen diesen beiden Polen muß ein Ausgleich gefunden werden, indem das subjektive Recht mit einer Reichweite entwickelt wird, die mit den Grundentscheidungen der Verfassung vereinbar ist und die sich nach Möglichkeit in die bestehende Dogmatik einfügen läßt. Aus diesen Überlegungen folgt allerdings schon, daß die beiden Extrempositionen einer nur einseitigen Betonung der subjektiven Berechtigung bzw. der parlamentarischen Gestaltungsmacht zu Lasten der jeweils anderen Seite im Ergebnis nicht in Betracht kommen. Denn bereits die Anerkennung des subjektiven Rechts als solche bedeutet in gewisser Weise eine Einschränkung für den parlamentarischen Prozeß, wenn dergestalt verfassungsrechtliche Grenzen gezogen oder auch nur - aufgrund der drohenden Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch das Individuum - faktisch aktualisiert werden können. Auf der anderen Seite folgt aus der hier vertretenen Konstruktion eines nur indirekten Wahlrechtseingriffs das Erfordernis einer Eingriffsqualifikation, wie immer diese im einzelnen aussehen möge.

C. Die Vorschläge im bisherigen Schrifttum In der Literatur sind zu dieser Frage bislang nur vereinzelt Erwägungen angestellt worden, die zudem naturgemäß von den - oben 23 als insgesamt nicht überzeugend bewerteten - jeweiligen dogmatischen Herleitungen des subjektiven Rechts beeinflußt sind. Diese Ansätze sollen im folgenden überblicksartig dargestellt und kurz bewertet werden.

I. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG Ein erster Ansatz, einen Maßstab für die Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG zu gewinnen, könnte an der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG ansetzen. Diese Norm wurde bereits von Schachtschneider in der Verfassungsbeschwerde Brunners im Maastricht-Fall ins Spiel gebracht, wenn er dort meinte, die „demokratische Legitimation der Gesetzgebung" sei „analog Art. 19 Abs. 2 GG unantastbar". 24 Später, insbesondere in seiner umfangreichen Arbeit „Res publica res populi", hat Schachtschneider diesen Gedanken, soweit ersichtlich, nicht weiter ausge23

Oben 4. Teil, 6. Kapitel. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde des 18.12.1992, bei Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 117. 24

Manfred

Brunner

vom

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 2 8 9 führt; jedoch wurde der Gedanke in der Folgezeit von anderen Autoren noch einmal aufgegriffen. 25 Freilich ist bereits das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung diesem Ansatz nicht gefolgt. Obwohl es der Sache nach gerade um einen inhaltlichen Bestand des Wahlrechts ging, kommt die Argumentation des Gerichts ohne einen Verweis auf Art. 19 Abs. 2 GG aus. 26 Zudem wurde oben 2 7 bereits dargelegt, daß die Wesensgehaltsgarantie nicht geeignet ist, ein dogmatisches Fundament für das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG zu legen. Letztlich sprechen die dort aufgezeigten Argumente auch dagegen, für die Frage der Reichweite auf Art. 19 Abs. 2 GG abzustellen. Denn die festgestellte Unsicherheit über den Inhalt der Wesensgehaltsgarantie schlägt auch bei der Bestimmung der Reichweite der vorliegend zu untersuchenden Gewährleistung durch. Solange „das Wesen des Wesens" unbekannt ist, hilft der Hinweis auf die Garantie des Wesensgehalts nicht weiter. Für einen Rückgriff hierauf müßte zunächst dessen Inhalt geklärt werden. Freilich besteht hierüber schon seit langem Streit zwischen „absoluten" und „relativen" Theorien 28 - zum Teil wird gar vertreten, Art. 19 Abs. 2 GG spreche nur deklaratorisch aus, was sich aus einer sachgerechten Auslegung des jeweiligen Grundrechts ohnehin ergebe und sei somit letzten Endes eine „leerlaufende Verfassungsnorm" 29 - , ohne daß eine Klärung dieser Frage zu erkennen wäre. Solches kann auch in dem hiesigen Rahmen nicht geleistet werden. Deshalb kann eine Argumentation mit Art. 19 Abs. 2 GG hier nicht zu konkreten Ergebnissen führen. Auch die genannten Autoren haben daher keine trennscharfen Folgerungen aus ihrer Argumentation mit der Wesensgehaltsgarantie herleiten können.

II. Das Konzept des „judicial activism" Da A. Wolf eine Übertragbarkeit des subjektiven Rechts auf rein innerstaatliche Konstellationen leugnet, 30 finden sich bei ihm konsequenterweise für diese Fallgruppe auch keine Ausführungen zur Reichweite der Gewährleistung. 25

H.-J. Cremer, NJ 1995, 5 (7); ihm folgend A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 105 f. 26 Siehe oben 4. Teil, 1. Kapitel, F. III. 27 Oben 4. Teil, 6. Kapitel, C. II. 28 Vgl. die Nachweise bei Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. II, Rz. 1 ff. 29 Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 234 f. 30 A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 256. Soppe

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

290

ΙΠ. Der status activus des Wahlberechtigten Ausführlich erörtert hingegen Astrid Epiney diese Frage. 1. Die Argumentation von Astrid Epiney Zunächst stellt sie fest, daß eine Beeinträchtigung der Kompetenzen des Bundestags bei fast allen gesetzlichen oder auch sonstigen hoheitlichen Maßnahmen „zumindest potentiell" gegeben sei, „so daß die Anerkennung eines so formulierten, nicht näher präzisierten subjektiven Rechts es dem citoyen letztlich ermöglichte, fast alle staatlichen Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit - zumindest soweit die Einhaltung des Demokratieprinzips betroffen ist - überprüfen zu lassen". 31 Ein so weitgehender Ansatz stoße aber in doppelter Hinsicht auf Bedenken: Zum einen entspräche das dann gegebene Recht des Bürgers auf eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle staatlicher Entscheidungen nicht den Grundsätzen des deutschen Normen- und Rechtsschutzsystems. Zum anderen gehe es sehr weit, aus Art. 38 GG ein Recht auf Beachtung des gesamten Demokratieprinzips abzuleiten, da das Wahlrecht nur eine von mehreren Konkretisierungen des Art. 20 GG darstelle. 32 Entsprechend ihrem dogmatischen Ansatz will Epiney dann auf den Sinn des Wahlrechts abstellen. Denn das subjektive Recht aus Art. 38 GG beruhe darauf, daß der Wahl durch den Staatsbürger ein Sinn zukomme. Ein solcher sei nur dann nicht (mehr) gegeben, wenn die Befugnisse des Bundestags so weit beeinträchtigt würden, „daß wesentliche Teile der Ausübung hoheitlicher Gewalt nicht mehr auf ihn zurückgeführt werden können". 33 Dies sei regelmäßig nicht schon dann der Fall, wenn ein einzelner Hoheitsakt die Befugnisse des Parlaments nicht beachte. Notwendig sei hierfür eher ein „Paket von Maßnahmen in verschiedenen Bereichen", es sei denn, eine bestimmte einzelne Handlung führe „ i m Zusammenhang mit anderen, schon bestehenden Maßnahmen" dazu, daß die Befugnisse des Parlaments entwertet würden. 34 Der angesichts dieser Erwägungen bestehende „Auslegungsspielraum" für die genaue Formulierung des subjektiven Rechts sei unvermeidbar. 35

31 32 33 34 35

Epiney, Epiney, Epiney, Epiney, Epiney,

Der Staat 34 (1995), 557 (574). a.a.O. (575). a.a.O. (576). a.a.O. (577 f.). a.a.O. (577).

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

291

2. Die Bewertung dieses Ansatzes fiir die vorliegende Frage Uneingeschränkt zuzustimmen ist Epiney zunächst in ihrer Diagnose, das subjektive Recht aus Art. 38 GG bedürfe einer gewissen Einschränkung. Zu Recht rügt sie, eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle gehe viel zu weit und entspreche nicht dem deutschen Normen- und Rechtsschutzsystem. Damit würde in der Tat das Erfordernis der Beschwer in eigenen Rechten fallengelassen und der Sache nach eine Popularklage eingeführt, wie sie für die dogmatische Herleitung des subjektiven Rechts noch verneint werden konnte. 36 Ebenfalls zutreffend weist Epiney darauf hin, daß Art. 38 GG nur einen Teil des in Art. 20 GG enthaltenen Demokratieprinzips schütze, so daß eine Versubjektivierung des gesamten Demokratieprinzips nicht angemessen wäre. Eine das ganze Demokratieprinzip erfassende Rüge wäre nicht einmal bei direkten Eingriffen in das subjektive Wahlrecht möglich, da dessen Reichweite auf die Gewährleistung einer demokratischen Wahl beschränkt ist. Um so weniger erscheint dies bei rein faktischen Beeinträchtigungen möglich, bei denen, wie dargelegt, 37 lediglich eine bestimmten einschränkenden Qualifizierungen genügende Beeinträchtigung in Betracht kommen kann. Demgegenüber muß die Bewertung von Epineys Ausführungen zu den Grenzen der Gewährleistung zwiespältig ausfallen. Zu Recht betont sie, in letzter Konsequenz sei auf den Sinn des Wahlrechts abzustellen. Das entspricht im Grundsatz dem hier vertretenen Standpunkt, daß der wahlrechtliche Schutzbereich umfassend geschützt sein muß - mithin auch gegen indirekte Beeinträchtigungen - , wenn seine Aushöhlung wirksam verhindert werden soll. Gleichwohl ist fraglich, ob ausreichend konkrete Ergebnisse zu erzielen sind, wenn lediglich pauschal auf den Sinn und Zweck des Wahlrechts abgestellt wird. Damit wird ausschließlich ein sehr allgemeines Kriterium als Ansatzpunkt gewählt. Epiney selbst räumt „einen gewissen Auslegungsspielraum" ein 3 8 und gelangt nur zu recht generellen Aussagen. Von ihrem dogmatischen Ausgangspunkt aus scheinen detailliertere Festschreibungen freilich kaum möglich, da alle Abgrenzungen nur auf den allgemeinen Sinn des Wahlrechts bezogen sein können und so quasi freischwebend entwickelt werden müssen. Hier bleibt zu fragen, ob nicht durch den Rückgriff auf konkretere Grundrechtsstrukturen schärfere Abgrenzungskriterien zu finden sind. Zusammenfassend läßt sich daher sagen, daß Epineys Ansatz in die richtige Richtung geht, die richtigen Fragen stellt, in seinen Antworten aber 36 37 38 19*

Vgl. oben 5. Teil, 5. Kapitel, H. Oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 2. b. (2). Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (577).

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

wie bereits bei der dogmatischen Grundlegung - hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Fehlte bei der Begründung des subjektiven Rechts 39 das entscheidende Argument für das „Umschlagen" in eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung, so fehlt bei der Erörterung der Reichweite der Einstieg in einen genaueren Maßstab, um exaktere Abgrenzungen zu erzielen.

IV. Die Wesentlichkeitstheorie Schließlich könnte noch kurz an die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie als Maßstab für die Reichweite des subjektiven Rechts zu denken sein. 40 Nach dieser Lehre müssen wesentliche Entscheidungen vom Parlament als dem förmlichen Gesetzgeber getroffen werden. 41 Gegen die Übertragung dieser Lehre auf die vorliegende Fragestellung sprechen jedoch die gleichen Bedenken, die bereits gegen den Rückgriff auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG geltend gemacht wurden. 42 Denn letztlich würde hiermit, da die Wesentlichkeitstheorie Ausfluß des Art. 20 GG ist, jeder Verstoß gegen diese Norm vom Wahlberechtigten gerügt werden können und so das Demokratieprinzip in toto versubjektiviert. Das würde mit den von Epiney zutreffend herausgearbeiteten Grundsätzen kollidieren und in der Sache auch zu weit gehen.

D. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen Nachdem sich die dargestellten Ansätze aus der Literatur als nicht überzeugend dargestellt haben, ist im folgenden zu untersuchen, ob - wie bereits bei der dogmatischen Grundlegung - auch für die Ermittlung der Reichweite des subjektiven Rechts auf die Dogmatik zurückgegriffen werden kann, welche für die indirekten Grundrechtseingriffe entwickelt wurde. Dies böte gegebenenfalls auch hier den Vorteil, daß eine bereits entwickelte Systematik vorliegend nutzbar gemacht werden könnte.

39

Dazu oben 4. Teil, 6. Kapitel, D. I. Vgl. Meessen, NJW 1994, 549 (551), der, ohne dies zu problematisieren, in seiner Besprechung des Maastricht-Urteils diesen Maßstab verwendet. 41 Näher dazu oben 2. Teil, 2. Kapitel, Β. I. 42 Dazu oben I. 40

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

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I. Die in Betracht kommenden Qualifikationsmerkmale Freilich ist auch bei den indirekten Beeinträchtigungen der Abwehrrechte noch keineswegs abschließend geklärt, welche Kriterien heranzuziehen sind, um diejenigen Konstellationen festzustellen, die so qualifiziert sind, daß sie den direkten Eingriffen in das Grundrecht gleichzustellen sind und dementsprechend den Rechtsschutz des Einzelnen auslösen können. 43 Insbesondere die Rechtsprechung, 44 aber auch die überwiegende Literatur 45 arbeiten hier mit mehreren Kriterien, die teils nebeneinander, teils einander ausschließend angewendet werden. Dabei handelt es sich um die Gesichtspunkte der Finalität, Unmittelbarkeit und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung. 46 Teilweise wird daneben noch auf die Vorhersehbarkeit der Beeinträchtigung abgestellt. 47 Allerdings zeigt sich bei genauerer Analyse, daß in der vorliegenden Fallgestaltung eines faktischen Eingriffs in das Wahlrecht die meisten dieser Kriterien nicht weiterführend sind. Zunächst ist hier der Gesichtspunkt der Finalität zu nennen, der auf die subjektive Sicht des für den Staat Handelnden abstellt und fragt, ob dieser zielgerichtet in ein Grundrecht eingreifen w i l l . 4 8 Aus dieser Frage werden sich vorliegend keine konkreten Erkenntnisse ergeben. Denn im Gegensatz zu den Fallgruppen, für welche dieses Merkmal entwickelt wurde - behördliche Warnungen vor bestimmten, als gesundheitsschädlich eingestuften Verbrauchsgütern 49 oder vor als jugendgefährdend angesehenen Sekten 50 - , ist es wohl ausgeschlossen, daß das Parlament bestimmte Kompetenzen allein deshalb abgibt, um in das subjektive Wahlrecht faktisch einzugreifen. Ein derartiges Handeln nur mit dem Ziel, ein bestimmtes Verhalten des Indivi43

Vgl. Weber-Dürler, VVDStRL 57, 59 (85). BVerfG, Beschluß vom 12.10.1977, BVerfGE 46, 120 (137 f.); BVerfG, Beschluß vom 12.6.1990, BVerfGE 82, 209 (223 f.); siehe auch die Nachweise oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 2. b. (2). (a). 45 Discher, JuS 1993, 463 (465 ff.); Di Fabio , JZ 1993, 689 (695 ff.); siehe auch Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (380). 46 So Weber-Dürler, VVDStRL 57, 59 (85), m.w.N.; ähnlich Bleckmann/Eckhoff, a.a.O. 47 Vgl. Discher, JuS 1993, 463 (465); weitere Zurechnungskriterien nennt W. Roth, Faktische Eingriffe, S. 34 ff. und 48 ff. 48 Di Fabio, JZ 1993, 689 (695). 49 Siehe etwa BVerwG, Urteil vom 18.10.1990, BVerwGE 87, 37 ff.; LG Stuttgart, Urteil vom 23.5.1989, NJW 1989, 2257 ff.; OLG Stuttgart, Urteil vom 21.3.1990, NJW 1990, 2690 ff. 50 BVerwG, Urteil vom 23.5.1989, BVerwGE 82, 76 ff.; BVerfG (1. Kammer des 1. Senats), Beschluß vom 15.8.1989, NJW 1989, 3269 ff.; BVerwG, Beschluß vom 13.3.1991, NJW 1991, 1770 ff.; BVerwG, Urteil vom 27.3.1992, BVerwGE 90, 112 ff. 44

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

duums auf indirektem Wege zu unterbinden, ist nicht vorstellbar. Vielmehr wird eine Kompetenzabgabe stets anderen Zielen dienen als der Verhaltenssteuerung der Wahlberechtigten. Finalität ist demnach hier nie gegeben. Ebenso unergiebig, wenn auch aus anderen Gründen, ist vorliegend das Merkmal der Vorhersehbarkeit, das ebenfalls auf die subjektive Sicht des für den Staat Handelnden abstellt. Entwickelt wurde es vor allem für komplexe Kausalketten, bei denen ein staatliches Handeln erst durch das Dazwischentreten verschiedener anderer Faktoren Auswirkungen auf die Rechtsposition des Einzelnen hat und diese Folge möglicherweise vom staatlichen Akteur gar nicht abzusehen war. 5 1 Relevant wird dies insbesondere bei den mittelbaren Eingriffen, bei denen erst das Handeln eines Dritten die Grundrechtsposition des Einzelnen berührt. Um die Handlungsfreiheit des Staats nicht über Gebühr einzuschränken, sollen diese Auswirkungen, die konkret von ihm nicht vorhergesehen wurden und abstrakt auch nicht vorhersehbar waren, nicht als Grundrechtsbeeinträchtigungen gewertet werden. 52 Diese Fallgruppe ist freilich mit der vorliegend zu untersuchenden nicht identisch. Denn hier gibt es, wie bereits festgestellt, 53 keine mittelbaren Beeinträchtigungen, bei denen ein staatliches Handeln lediglich ein Agieren eines privaten Dritten hervorruft, das dann erst seinerseits den Wahlberechtigten in seinem Grundrecht beeinträchtigt. Ebensowenig gibt es hier sonstige Zwischenschritte auf dem Weg vom staatlichen Handeln zur grundrechtlichen Betroffenheit des Individuums. Damit berührt die parlamentarische Kompetenzverlagerung das Wahlrecht unmittelbar, ohne weitere Zwischenstationen. Dementsprechend ist auch die gegebenenfalls festzustellende Grundrechtsbeeinträchtigung unmittelbar vom Staat verursacht. Eine derartige direkte Folge ihres Verhaltens ist für die staatlichen Akteure jedoch stets vorhersehbar; Vorhersehbarkeit ist demnach hier stets gegeben. Deshalb führt das Kriterium der Vorhersehbarkeit vorliegend nicht zu weiterführenden Differenzierungen. Aus den gleichen Gründen erweist sich schließlich der Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit als unergiebig. Denn die vorliegend zu betrachtende Fallgruppe zeichnet sich stets dadurch aus, daß der Staat durch die parlamentarische Kompetenzabgabe unmittelbar das Wahlrecht des Einzelnen berührt. Dreipolige Konstellationen, in denen erst das staatlich induzierte Handeln eines privaten Dritten die individuelle Grundrechtsgewährleistung berührt, sind hier nicht denkbar; Unmittelbarkeit ist demnach hier stets gegeben. Deshalb kann dieses Kriterium ebenfalls nicht zu einer Differenzierung zwi51 Näher Discher, JuS 1993, 463 (465 f.); Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (381). Allgemein zur Gesetzesfolgenabschätzung durch das Parlament C. Grimm, ZRP 2000, 87 ff. 52 Vgl. dazu Stern, StaatsR III/1, S. 1207; Bleckmann/Eckhoff, a.a.O. 53 Oben 5. Teil, 4. Kapitel, A.

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

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sehen Grundrechtsbeeinträchtigungen und bloßen Grundrechtsberührungen herangezogen werden.

Π. Insbesondere: Das Kriterium der Intensität der Beeinträchtigung Demgegenüber erweist sich möglicherweise die Frage, wie intensiv das Wahlrecht faktisch beeinträchtigt wird, als weiterführend. Denn sie stellt darauf ab, welche Wirkung ein staatliches Verhalten auf eine Grundrechtsgewährleistung hat, ohne daß die Form des Staatshandelns entscheidend ist. 5 4 Dieses Kriterium der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ist erstens, im Unterschied zu den eben untersuchten anderen drei Aspekten, nicht schon von vornherein aus logischen Gründen ausgeschlossen. Denn auch in den vorliegenden Fallgruppen ist eine Differenzierung nach der Eingriffsintensität möglich, da hier unterschiedlich weit reichende Kompetenzabgaben durch das Parlament möglich sind. An dieses Staatshandeln kann die Frage angelegt werden, wie intensiv es faktisch auf das Wahlrecht einwirkt, wie weit es dessen Sinngehalt beeinträchtigt. Die Antwort auf diese Frage richtet sich danach, in welchem Umfang der Bundestag Kompetenzen abgibt. Es liegt auf der Hand, daß eine weitgehende Selbstentmachtung des Bundestags das Wahlrecht in ganz anderem Maße faktisch berührt als eine Kompetenzverlagerung in geringem Umfang. Zudem erscheint das Kriterium der Intensität als das sachlich angemessene zur Beantwortung der vorliegenden Fragestellung. Denn zur Klärung der Frage, ob das individuelle Wahlrecht tatsächlich in seinem sozialen Sinngehalt betroffen ist, kommt es maßgeblich darauf an, welche Befugnisse der Bundestag in welchem Umfang auf andere Organe übertragen hat. Hier können nun geringfügige Übertragungen das Wahlrecht völlig unberührt lassen, während weitreichende Kompetenzabgaben dieses Recht vollständig sinnlos werden lassen können. Der Umfang der Delegation von Befugnissen ist bei einer verfassungsrechtlichen Bewertung ohnehin genau zu klären, 55 so daß es des weiteren auch praxisnah erscheint, hier die Grenze zwischen zulässigem und unzulässigem Parlamentshandeln anzusiedeln.

54

Näher Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 252 f. Der Umfang der Kompetenzverlagerung muß nicht immer eindeutig sein, sondern wird sich manchmal erst aufgrund einer genaueren Untersuchung herausstellen, vgl. etwa die mehrseitigen Ausführungen des BVerfG im Maastricht-Urteil zu der Frage, ob die Mitgliedstaaten in Art. F Abs. 3 des EU-Vertrages (jetzt Art. 6 Abs. 4 in der Fassung des Amsterdamer Vertrages) der Europäischen Union eine Kompetenz-Kompetenz übertragen (BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 [194-199]). 55

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

Schließlich hat die Heranziehung des Kriteriums der Eingriffsintensität den dogmatischen Vorteil, daß auch die Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG von der Eingriffsseite her bestimmt werden kann. Das entspricht der hier entwickelten Argumentation zur dogmatischen Begründung dieses Rechts. Diese baut ebenfalls nicht auf einer Schutzbereichserweiterung auf, sondern konzentriert sich auf den Eingriffsbegriff und soll auf diese Weise den überkommenen und unverändert übernommenen Schutzbereich gegen alle Arten von Beeinträchtigungen absichern. Insbesondere gegenüber einer Argumentation, die für die Reichweite der Gewährleistung darauf abstellt, wie weit der Schutzbereich zu ziehen ist, indem etwa ein Schutz nur in dem von Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Umfang anerkannt wird, 5 6 hat eine Begründung mit Hilfe des Eingriffsbegriffs somit den Vorzug größerer dogmatischer Konsequenz.

III. Zwischenergebnis Damit ist im folgenden für die Bestimmung der Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG das Kriterium der Intensität der faktischen Wahlrechtsbeeinträchtigung heranzuziehen.

IV. Die Formeln der Rechtsprechung zu indirekten Beeinträchtigungen der Abwehrrechte Als wenig ergiebig erweisen sich dabei freilich die Formeln, anhand derer die Rechtsprechung eine indirekte Beeinträchtigung des Individuums in einem Grundrecht des negativen Status ermittelt. 57 Formulierungen, wie zum Beispiel, indirekte Eingriffe in ein Grundrecht müßten „schwer und unerträglich" sein, 58 um die gleiche Relevanz wie ein unmittelbarer staatlicher Eingriff zu haben, bieten zwar den Vorteil, daß mit ihnen mittlerweile eine gerichtliche Spruchpraxis verbunden ist, die zu einer gewissen Konkretisierung geführt hat. 5 9 Andererseits sind die hierfür verwendeten Kriterien im Schrifttum nicht ohne Widerspruch geblieben. 60 Vor allem aber sind 56 Zu einer derartigen Argumentation, die derjenigen des BVerfG im MaastrichtUrteil entspricht, näher unten V. 3. e. 57 Dazu näher oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 2. b. (2). (a). 58 So beispielsweise BVerwG, Urteil vom 13.6.1969, BVerwGE 32, 173 (178 f.), zum mittelbaren Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG. 59 Siehe z.B. die auf das in der vorigen FN zitierte Urteil des BVerwG folgenden Entscheidungen BVerwG, Urteil vom 26.3.1976, BVerwGE 50, 282 (286 ff.); BVerwG, Urteil vom 14.4.1978, DVB1. 1978, 614 (617); siehe auch BVerwG, Urteil vom 29.7.1977, BVerwGE 54, 211 (222). Ähnlich wie hier Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 255. 60 Kritisch etwa Schulte, DVB1. 1988, 512 (517); Eckhoff, a.a.O., S. 262 ff.

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 2 9 7 diese Abgrenzungsformeln stets speziell auf diejenige Grundrechtsnorm zugeschnitten, für die sie entwickelt wurden. 61 Selbst innerhalb der Abwehrrechte gibt es somit keine allgemeine Abgrenzungsformel; die jeweiligen Kriterien unterscheiden sich deutlich voneinander. Demgemäß erscheint es nicht möglich, eine bestimmte dieser Formulierungen ohne Veränderung ihres Inhalts auf das als Grundrecht des Aktivstatus dogmatisch noch weiter entfernte Wahlrecht zu übertragen. 62 Damit ist es für das subjektive Recht aus Art. 38 GG ausgeschlossen, die im Bereich der Abwehrrechte von der Rechtsprechung erarbeiteten Abgrenzungsformeln zu übernehmen.

V. Die Intensität der faktischen Wahlrechtsbeeinträchtigung im einzelnen Dennoch lassen sich mit dem Kriterium der Beeinträchtigungsintensität weiterführende Erkenntnisse entwickeln. 1. Die relative Beeinträchtigungsintensität Dafür ist zunächst darauf abzustellen, wie intensiv das Bundestagswahlrecht faktisch beeinträchtigt wird. Das hängt wiederum davon ab, in welchem Umfang das Parlament Kompetenzen an andere Organe abgibt. Hier ergibt sich ein gleitender, stufenloser Übergang zwischen den Extremen einer geringfügigen Übertragung einerseits und einer weitreichenden Abgabe andererseits. Jeder dieser verschiedenen Grade parlamentarischer Kompetenzdelegation führt zu einem unterschiedlichen Maß an Berührung mit dem subjektiven Wahlrecht. Insoweit gilt die Formel: Je mehr Kompetenzen abgegeben werden, desto intensiver ist die Berührung des Sinngehalts des Wahlrechts, desto wahrscheinlicher ist eine faktische Beeinträchtigung. Hiermit ist eine erste Abgrenzung gewonnen. Es gilt die Vermutung, daß der Einzelne desto eher in seinem Wahlrecht betroffen ist, je umfassender die parlamentarische Kompetenzverlagerung ausfällt. 63 Denn eine umfas61

Vgl. die oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 2. b. (2). (a). referierten unterschiedlichen Formulierungen. 62 Für eine Differenzierung nach den unterschiedlichen Schutzbereichen der Grundrechte auch Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (381). 63 Ein vergleichbares Argumentationsmuster weist Lincke, EuGRZ 1986, 60 ff., für die Rechtsprechung des BVerfG zu der Frage nach, in welchem Umfang das BVerfG zur Nachprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen befugt ist. Für die Annahme einer Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts" - auf deren Vorliegen das BVerfG besteht, um nicht zur Superrevisionsinstanz zu werden - stelle das Gericht,

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

sende Kompetenzabgabe durch den Bundestag greift - relativ gesehen intensiver in das subjektive Wahlrecht ein als eine nur geringfügige. In diesem Zusammenhang ist übrigens festzuhalten, daß auch Übertragungsakte des Parlaments, die in bezug auf die Reichweite der Ermächtigung unklar sind, bei denen also nicht genau bestimmt ist, welche Kompetenzen in welchem Umfang unter welchen Bedingungen auf wen übertragen werden, anhand der hier entwickelten allgemeinen Regeln zu beurteilen sind. Eine im Schrifttum vorgeschlagene Trennung zwischen „zu unbestimmten" Ermächtigungen einerseits und „zu weitgehenden" Ermächtigungen andererseits 64 erscheint wenig sachgerecht. Denn eine inhaltlich zu unbestimmte Kompetenzabgabe ist zumindest potentiell zu weitgehend, weil ihr Adressat die Unklarheit zu seinen Gunsten ausnutzen und sich auf diese Weise Befugnisse nach der am weitesten reichenden Auslegung anmaßen kann. Damit ist auch für die Beurteilung der Zulässigkeit der unbestimmten Kompetenzübertragung von dieser weitestreichenden Interpretation auszugehen. Diese ist dann nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen, wonach zunächst eine Berührung des Wahlrechts um so wahrscheinlicher ist, je mehr Bundestagsbefugnisse übertragen werden. 2. Das Erfordernis

einer weiteren, absoluten Strukturierung

Freilich ist diese Formel der relativen Eingriffsintensität noch recht allgemein und erlaubt kaum detaillierte Aussagen. Sie läßt nämlich offen, ab welcher Intensität eine Beeinträchtigung konkret vorliegt, an welcher Stelle genau das erforderliche „Legitimationsniveau" 65 unterschritten und mithin eine bloße Grundrechtsbelästigung umschlägt in eine rechtlich relevante Beeinträchtigung. Stellt man sich diese Beziehung eines „je mehr ..., desto wahrscheinlicher . . . " als ein mathematisches Koordinatensystem vor, so ist mit der bisherigen Formel lediglich geklärt, daß auf beiden Achsen steigende Werte abzutragen sind. Unklar ist aber, ob eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts an einem Punkt Β anzunehmen ist, oder erst an einem höheren Punkt C oder schon an einem niedrigeren Punkt A. Diese Unsicherheit resultiert daraus, daß allein aufgrund des Satzes „je mehr ..., desto wahrscheinlicher . . . " keine konkrete Einteilung der Achsen möglich ist. Die Formulierung läßt lediglich die relative Aussage zu, daß eine Wahlso Lincke, maßgeblich auf die Schwere des durch z.B. eine zivilgerichtliche Verurteilung verursachten Grundrechtseingriffs, mithin auf die Eingriffsintensität, ab. Hier gelte der Satz, , je intensiver der Eingriff, desto eingehender die Prüfung" durch das BVerfG (Lincke, a.a.O. [69]). 64 Vgl. A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 199 f. 65 Diesen Begriff prägte, soweit ersichtlich, das BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (182).

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

299

rechtsbeeinträchtigung an Punkt Β wahrscheinlicher ist als an dem niedrigeren „ A " , und an „ C " wiederum wahrscheinlicher als an „B". Der absolute Wert, an dem eine Beeinträchtigung vorliegt, könnte - in Zahlen ausgedrückt - bei „1", „10" oder „100" liegen. Deshalb ist zu fragen, ob mit Hilfe anderer Kriterien auf dieser bislang unstrukturierten Skala Punkte festgelegt werden können, an denen eine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung eindeutig zu bejahen oder zu verneinen ist. Dadurch würde die anderenfalls unendliche Skala erst handhabbar werden, indem die eindeutigen Fälle fixiert werden könnten. Auf diese Weise könnte festgestellt werden, daß etwa - um in obigem Beispiel zu bleiben - bei „10" noch keine Wahlrechtsbeeinträchtigung vorläge, aber jedenfalls bei „100". Auch mit dieser Methode ließen sich freilich nicht alle Grauzonen ausleuchten. Trotz dieser Fixpunkte blieben nämlich Zweifelsfälle bestehen, über die hier keine Aussage getroffen werden würde. Ob, um das Beispiel noch einmal aufzugreifen, das erforderliche Legitimationsniveau bei dem Wert 40, 50 oder 60 unterschritten wird, wird sich durch eine Fixierung allein der Punkte 10 und 100 nicht beantworten lassen. Dieses Problem stellt sich aber letztlich bei jeder Abwägung: Solange Weitungen vorgenommen werden müssen, ist eine solche Sicherheit des Urteils nicht zu erreichen, 66 so daß die Forderung nach einer abstrakten Beurteilung aller denkbaren Fallgestaltungen ohnehin nicht umzusetzen wäre. Deshalb soll im folgenden die oben skizzierte Eingrenzung versucht werden. 3. Absolute Strukturvorgaben

durch das objektive Recht

Als maßgebliches Eingrenzungskriterium bietet sich hier das objektive Recht an, das recht genau festlegt, welche Funktionen und Kompetenzen das Parlament hat und unter welchen Voraussetzungen es sie delegieren darf. 67 Mit Hilfe der objektiv-rechtlichen Vorgaben kann das Kriterium der relativen Eingriffsintensität deshalb näher strukturiert werden. Dabei ist im Rahmen der vorliegenden Fragestellung als Besonderheit zu berücksichtigen, daß aus dem Wahlrecht grundsätzlich keine Vorgaben abgeleitet werden können, wie der Bundestag seine Kompetenzen wahrzunehmen habe. Denn das Wahlrecht dient ausschließlich dazu, ein funktionsfähi66 Vgl. Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 255. Siehe auch Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (577), die für ihren Begründungsansatz ebenfalls konstatiert: „Diese Eingrenzung läßt zwar für die genaue Formulierung des dem citoyen zustehenden Rechts einen gewissen Auslegungsspielraum offen. Dies ist jedoch [...] nicht zu vermeiden". 67 Näher oben 2. Teil, 2. Kapitel.

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

ges Parlament zu kreieren. 68 Aufgrund des freien Mandats der Abgeordneten kann eine bestimmte Art und Weise der Kompetenzwahrnehmung, eine bestimmte Richtung der Politik vom Einzelnen während der laufenden Wahlperiode nicht verlangt werden. 69 Insofern wird zu Recht darauf bestanden, daß „Kreation" - durch die Wähler - und „Repräsentation" - durch die Abgeordneten - nicht vermengt werden dürfen. 70 Als Einschränkung des parlamentarischen Handelns läßt sich aus dem subjektiven Wahlrecht lediglich herleiten, daß der Bundestag dieses Recht nicht faktisch dadurch beeinträchtigen darf, daß er sich durch weitreichende Kompetenzübertragungen auf andere Organe selbst so weit entmachtet, daß das individuelle Wahlrecht sinnlos wird. a) Objektiv-rechtlich verfassungskonforme Kompetenzübertragungen als Fälle unterhalb der Beeinträchtigungsschwelle Freilich ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß eine derart weite Selbstentmachtung noch im Rahmen eines rechtmäßigen parlamentarischen Handelns erfolgen könnte. Denn wie oben 71 herausgearbeitet wurde, darf der Bundestag nach objektivem Verfassungsrecht seine Kompetenzen nur in eng umgrenzten Fällen ruhen lassen oder an andere Organe delegieren. Das objektive Verfassungsrecht steckt hier - ohne auf die subjektiv-rechtliche Gewährleistung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgreifen zu müssen enge Grenzen ab. Weitreichende Abgaben parlamentarischer Funktionen sind damit verfassungswidrig. In allen Fällen, in denen eine solche Delegation verfassungsrechtlich zulässig ist, etwa im Rahmen einer Verordnungsermächtigung nach Art. 80 G G , 7 2 wird man wiederum andererseits nicht davon sprechen können, daß bereits der Sinngehalt des Wahlrechts faktisch entwertet werde. Demgemäß scheidet eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts aus, solange sich der Bundestag bei etwaigen Kompetenzabgaben im Rahmen des formell und materiell verfassungsrechtlich Zulässigen bewegt; rechtmäßige Kompetenzabgaben unterschreiten das Legitimationsniveau nicht. Damit liegt eine Wahlrechtsbeeinträchtigung allenfalls dann vor, wenn die Kompetenzverlagerung durch den Bundestag auch nach objektiv-rechtlichen Verfassungsvorgaben rechtswidrig ist. 68

Vgl. oben 3. Teil. Das ergibt sich direkt aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden" sind. 70 Gassner, Der Staat 34 (1995), 429 ff.; vgl. auch Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (566 f.). 71 Oben 2. Teil, 2. Kapitel. 72 Dazu näher oben 2. Teil, 2. Kapitel, Β. II. 1. 69

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 3 0 1 Mit anderen Worten: Objektiv-rechtlich verfassungskonforme Kompetenzübertragungen liegen stets unterhalb der Schwelle, ab der eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts angenommen werden kann. Damit gilt, daß die objektiv-rechtliche Verfassungskonformität hinreichende Bedingung ist, eine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung auszuschließen. Umgekehrt ist die Verfassungswidrigkeit nach objektivem Recht jedoch nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung einer derartigen Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts . 7 3 Die hier vertretene Ansicht führt dazu, daß dem Bundestag keine Beschränkungen seiner Handlungsfreiheit auferlegt werden, die ihn nicht ohnehin schon binden würden. Der Einzelne kann damit vom Parlament nichts verlangen, zu dem dieses nicht ohnehin, nach objektivem Verfassungsrecht, verpflichtet ist. Aus diesem Grunde sind die von Teilen des Schrifttums gegenüber der Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil vorgetragenen Bedenken, der parlamentarische Gestaltungsspielraum werde über Gebühr verengt, 74 unberechtigt. Der Unterschied zur überkommenen Rechtslage besteht demgemäß allein darin, daß nunmehr auch der einzelne Wahlberechtigte sich in gewissem Umfang auf diese Grenzen der parlamentarischen Delegationsbefugnis berufen und diese gegebenenfalls in einem Rechtsbehelfsverfahren aktualisieren kann. 75 b) Die Übertragung parlamentarischer Grundfunktionen als Fälle oberhalb der Beeinträchtigungsschwelle Aus dem Vorgesagten kann allerdings nicht geschlossen werden, daß immer schon dann, wenn eine parlamentarische Kompetenzdelegation gegen objektiv-rechtliche Verfassungsbestimmungen verstößt, zugleich das subjektive Wahlrecht faktisch beeinträchtigt wird. Ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird nämlich für zahlreiche Konstellationen auszuschließen sein, in denen die Kompetenzabgabe nach objektivem Verfassungsrecht bereits rechtswidrig ist. Sofern beispielsweise eine Verordnungsoder Satzungsermächtigung lediglich mit einem - objektiv-rechtlich zu beurteilenden - Verfahrensfehler behaftet ist, wird darin regelmäßig keine faktische Entwertung des subjektiven Wahlrechts liegen. 76 Vielmehr wird dies in aller Regel nur eine objektive Grundgesetzwidrigkeit zur Folge haben, die der Einzelne, bei sonstiger Betroffenheit in eigenen Rechten, im

73 74 75 76

Näher dazu sogleich unten b. Vgl. oben 4. Teil, 5. Kapitel, Α. II. Zur prozessualen Durchsetzung dieses Rechts näher unten 9. Teil. Ähnlich wie hier im Ergebnis Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (576).

302

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

Rahmen eines abwehrrechtlich, subsidiär auch mit Art. 2 Abs. 1 GG begründeten Rechtsschutzverfahrens rügen kann. Das Wahlrecht bleibt demgegenüber hiervon in aller Regel unberührt, da eine intensive Einwirkung auf dieses Recht auszuschließen sein wird. (1) Der Rückgriff

auf die parlamentarischen

Grundfunktionen

Demgemäß kann eine solche Wahlrechtsbeeinträchtigung allgemein nur in besonders gravierenden Fällen rechtswidriger Kompetenzabgaben durch den Bundestag angenommen werden. 77 Für ein Beispiel einer derartigen, qualifiziert rechtswidrigen Kompetenzabgabe ist dabei auf die eingangs dieser Arbeit 7 8 näher herausgearbeiteten objektiv-rechtlichen Strukturen zurückzugreifen. Dort wurde für die Frage, ob der Bundestag zur Nichtausübung oder Delegation von Kompetenzen befugt ist, nach den verschiedenen Parlamentsfunktionen unterschieden. Hierzu zählen Wahlfunktion, Willensbildungsfunktion, Kontrollfunktion, Öffentlichkeitsfunktion, Gesetzgebungsfunktion und Budgetfunktion des Bundestags. Diese bilden gemeinsam die einem demokratisch-rechtsstaatlichen Parlament westeuropäischer Prägung gemeinhin zukommenden Befugnisse. 79 Je für sich betrachtet, umreißt jede Funktion einen elementaren Bereich parlamentarischer Aufgaben; demgemäß handelt es sich hierbei um die Grundfunktionen einer Volksvertretung. (2) Der Verlust einer parlamentarischen

Grundfunktion

Jeder Verlust einer dieser Parlamentsfunktionen aufgrund einer Delegation der entsprechenden Befugnisse würde nun die Stellung des Bundestags im Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen erheblich verändern. Dadurch würde zum einen das System der checks-and-balances im kompetenziellen Verfassungsgefüge deutlich abgewandelt. Zum anderen verlöre das Element der Volkssouveränität, der demokratischen Rückbindung aller Staatsgewalt an das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, stark an Gewicht, da von allen Verfassungsorganen nur der Bundestag unmittelbar demokratisch legitimiert ist und insofern ein „Vertretungsmonopol" innehat. 80 Aus diesen Gründen ist, wie oben 81 dargelegt, der Bundestag zu einer eigenständigen Wahrnehmung der mit den Funktionen näher verbundenen Befugnissen verpflichtet. Jede Übertragung einer derartigen Grundfunktion wäre eklatant verfassungswidrig. 77 78 79 80 81

Im Ergebnis ähnlich Epiney, a. a. O. Oben 2. Teil. Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel, C. Dazu H.-P. Schneider, in AK-GG, Art. 38, Rz. 5. Oben 2. Teil, 2. Kapitel.

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 3 0 3 Dieser Befund rechtfertigt es, jedenfalls immer dann eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts anzunehmen, wenn eine parlamentarische Kompetenzabgabe zu einem Verlust einer oder mehrerer der genannten Grundfunktionen führt. Denn wenn, wie ausgeführt, 82 das Wahlrecht den Sinn hat, eine funktionierende Volksvertretung hervorzubringen, dann muß diese ihre Aufgaben wenigstens in den Grundzügen wahrnehmen (können). Tut sie dies nicht mehr, beeinträchtigt das den einzelnen Wahlberechtigten in seinem Aktivstatus. Eine vollwertige Repräsentation des Volks fände bei Verlust der Grundfunktionen nicht mehr statt. Besonders augenfällig wird das bei einem Verlust der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz. Eine Volksvertretung ohne die Befugnis, Gesetze zu erlassen, verdiente kaum ihren Namen; sie wäre nicht in der Lage, die Aufgaben der Staatsleitung stellvertretend für das Volk in einer rechtlich verbindlichen Form wahrzunehmen. Das subjektive Wahlrecht zu einem derart in seinen Kompetenzen beschränkten Bundestag wäre deutlich beeinträchtigt. Vergleichbares gilt für die Wahlfunktion des Bundestags: Könnte dieser nicht mehr die Besetzung der übrigen Verfassungs- und sonstigen Staatsorgane beeinflussen, so wäre die demokratische Legitimation dieser weiteren, ebenfalls staatliche Gewalt ausübenden Organe gekappt. Vor allem aber wäre das subjektive Wahlrecht des Einzelnen beeinträchtigt, da dieser - weil eine direkte Wahl der Bundesregierung oder auch nur des Bundeskanzlers vom Grundgesetz nicht vorgesehen ist - mit seiner Stimmabgabe bei der Bundestagswahl vor allem in den Kampf um die Regierung eingreifen w i l l . 8 3 Diese, die Wahlentscheidung maßgeblich beeinflussende Komponente entfiele vollständig; darin läge eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts. Des weiteren läßt sich, aufgrund der eminenten politischen Bedeutung, welche die Entscheidung über die Verteilung der finanziellen Mittel besitzt, für die parlamentarische Budgetfunktion ebenfalls feststellen, daß ihre Verlagerung auf ein anderes staatliches Organ das Wahlrecht des Einzelnen faktisch beeinträchtigen würde. Schließlich zöge auch die Delegation der parlamentarischen Willensbildungs-, der Öffentlichkeits- oder der Kontrollfunktion einen deutlichen Verlust an Einfluß des Volks auf die Staatsleitung nach sich, so daß auch hier das Wahlrecht des Einzelnen faktisch beeinträchtigt wäre. Nach alledem ist bei jedem Verlust einer der sechs parlamentarischen Grundfunktionen durch weitreichende Kompetenzabgaben eine faktische Beeinträchtigung des individuellen Bundestagswahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG anzunehmen. Dieser Maßstab ist weiter als das Abstellen auf jedwede Verletzung des Demokratieprinzips, 84 bei der nicht stets das erforderliche Legitimationsniveau unterschritten wird. 82 83

Oben 3. Teil, 1. Kapitel a.E. Vgl. hierzu Meyer, in HdBStR II, § 37, Rz. 6.

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

(3) Kompetenzabgaben ohne Berührung der Grundfunktionen Aus der eben dargestellten Fallgestaltung folgt im Umkehrschluß, daß Kompetenzabgaben ohne Berührung der genannten parlamentarischen Grundfunktionen keine Wahlrechtsbeeinträchtigung zur Folge haben. Diese Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, daß der Bundestag Befugnisse, die nicht zu den Grundfunktionen gehören, auf andere Organe delegiert. Derartige Kompetenzen gehören nicht zum demokratisch geforderten Kernbestand parlamentarischer Verantwortung, auch wenn sie unter Umständen zum Parlamentsrecht im engeren Sinne gehören mögen. Deshalb haben sie keinen unmittelbaren Bezug zum subjektiven Wahlrecht des Individuums, so daß sich der Einzelne hierauf nicht berufen kann. Als ein Beispiel können alle diejenigen Maßnahmen genannt werden, die den Status der Bundestagsabgeordneten betreffen. Obwohl dieser Status verfassungsrechtlich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, mithin in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wahlrecht geregelt ist, hat er dazu keine direkte Verbindung. Sofern also der Bundestag - um eine aktuelle Fragestellung aufzugreifen - beschlösse, die Höhe der Abgeordnetenentschädigung durch eine „unabhängige Stelle oder Einrichtung" festsetzen zu lassen, 85 bedeutete dies zwar ein Abgeben von Kompetenzen, welche bislang vom Parlament in eigener Verantwortung wahrgenommen wurden. 86 Jedoch würde dadurch keine parlamentarische Grundfunktion im oben genannten Sinne betroffen, und dementsprechend bliebe das Wahlrecht des Einzelnen unberührt. 87 Diese Argumentation läßt sich ausdehnen auf weitere Fälle, in denen die parlamentarischen Grundfunktionen nicht berührt werden.

84

(576). 85

Dieser Maßstab wäre auch zu eng, vgl. Epiney, Der Staat 34 (1995), 557

So etwa der Vorschlag von BK-Henke, Art. 21, Rz. 322. Unter der Geltung von § 11 Abs. 1 AbgeordnetenG a.F. wurde die Höhe der monatlichen Abgeordnetenentschädigung in regelmäßigen Abständen vom Bundestag selbst durch Gesetz geändert. Daran hat sich letztlich durch die Neufassung der Vorschrift nichts geändert, weil die Bezüge von Bundesrichtern und kommunalen Wahlbeamten, an welche die Abgeordnetenentschädigung nunmehr gekoppelt ist, ebenfalls vom Bundestag durch Änderung der Anlage IV zum Bundesbesoldungsgesetz geändert werden können. 87 Unabhängig von der Frage, ob eine derartige Änderung des Abgeordnetengesetzes im übrigen verfassungskonform wäre und somit bereits aufgrund objektiv rechtmäßigen Bundestagshandelns eine Beeinträchtigung des Wahlrechts ausschiede (siehe oben a.). 86

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

305

(4) Zwischenergebnis Damit erweist sich der Bezug zu einer der parlamentarischen Grundfunktionen als ein weiteres Kriterium, das für die Frage nach einer faktischen Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts relevant ist. c) Zweifelsfälle Neben diesen Konstellationen, die sich Gestaltung recht deutlich zuordnen lassen, che Zweifelsfälle, die eine differenzierte Fälle sollen im folgenden näher dargestellt

anhand der objektiv-rechtlichen verbleiben freilich noch zahlreiLösung erfordern. Zwei dieser werden.

(1) Die bloße Beeinträchtigung einer parlamentarischen

Grundfunktion

So ist nach dem Vorgesagten zum einen fraglich, ob eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts auch dann schon vorliegt, wenn eine der parlamentarischen Grundfunktionen aus Sicht des Bundestags nicht vollständig verloren ist, sondern ihrerseits lediglich beeinträchtigt ist. Hier verbietet sich jede schematische Lösung. Abzustellen ist vielmehr auf den Umfang der Funktionsbeeinträchtigung. Sofern eine der Funktionen durch weitreichende Kompetenzverlagerungen nahezu vollständig ausgehöhlt wird, kann dies einem völligen Funktionsverlust gleichgestellt werden, zumal der genaue Umfang jeder der genannten Funktionen abstrakt ohnehin kaum trennscharf festzustellen sein wird. Sofern eine der parlamentarischen Grundfunktionen durch Kompetenzabgaben hingegen nur leicht oder „mittelschwer" beeinträchtigt wird, werden sich allgemeine Antworten kaum geben lassen. Hier ist stets eine Betrachtung des konkreten Einzelfalls unter Berücksichtigung der individuellen Umstände erforderlich, aber auch angemessen. Denn letztlich müssen dabei die widerstreitenden Interessen parlamentarischer Gestaltungsfreiheit einerseits und subjektiv-rechtlicher Wahlrechtsgewährleistung andererseits in Einklang gebracht werden. Dies kann immer nur im konkreten Fall geschehen, nicht aber abstrakt. Nur so wird sich ferner eine Grenze bei einem schleichenden Übergang von parlamentarischen Befugnissen, einer Kompetenzverlagerung in zahlreichen, für sich genommen jeweils kleinen Schritten ziehen lassen. 88 Insoweit lassen sich lediglich allgemeine Kriterien für die verfassungsrechtliche Prüfung aufstellen.

88

Für den Bereich der europäischen Integration plastisch Ossenbühl, DVB1. 1993, 629 (632): „Tropfen, der das Kompetenzfaß der Europäischen Gemeinschaft zum Überlaufen bringt"; ähnlich Murswiek, Der Staat 32 (1993), 161 (173): „Salamitaktik"; ähnlich Heintzen, AöR 119 (1994), 564 (569), m.w.N. in dortiger FN 21. 20 Soppe

306

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

So ist jeweils zu fragen, ob die parlamentarische Kompetenzverlagerung zu einer faktischen Beeinträchtigung des Wahlrechts führt. Hierbei muß in einem ersten Schritt analysiert werden, welche konkreten Befugnisse der Bundestag in welchem Umfang aufgibt. Dann ist zu prüfen, wie stark diese Delegation in den vorherigen Bestand an parlamentarischen Kompetenzen hineinwirkt, bevor - in einem dritten Schritt - zu untersuchen bleibt, welches Gewicht die Kompetenzabgabe für das individuelle Wahlrecht hat, mit welcher Intensität sie hierauf einwirkt. Hier mag sich dann zeigen, daß bestimmte parlamentarische Grundfunktionen in ihrer konkreten Ausgestaltung für das individuelle Wahlrecht wichtiger sind als andere, oder daß bestimmte Formen oder Kombinationen von Kompetenzdelegationen das Wahlrecht empfindlicher treffen als andere. Letztlich verbleibt man hier aber - ausgehend von einer abstrakt-dogmatischen Sichtweise - in der bereits angesprochenen Grauzone, in der allgemeine Erwägungen wenig weiterführend sind. (2) Kompetenzabgaben unter Überschreitung

der Delegationsbefugnis

Zum anderen wird eine weitere Fallgruppe aus denjenigen Konstellationen gebildet, in denen das Parlament die verfassungsrechtlichen Grenzen einer im Bereich seiner Grundfunktionen an sich gegebenen Delegationsbefugnis überschreitet. Im Gegensatz zur oben 89 untersuchten Fallgruppe einer objektiv-rechtlich verfassungskonformen Kompetenzübertragung handelt die Volksvertretung hier nicht mehr rechtmäßig, sondern verläßt den Rahmen der zulässigen Delegation, zum Beispiel von Gesetzgebungskompetenzen. Demgemäß kann die oben entwickelte Argumentation in diesen Fällen keine Gültigkeit beanspruchen. Dennoch wird - im Bereich der Gesetzgebung - nicht in jedem Verstoß gegen Art. 80 GG bzw. die entsprechenden grundgesetzlichen Satzungsermächtigungen eine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung des Individuums zu sehen sein. Analog zu den Fällen einer (bloßen) Beeinträchtigung parlamentarischer Grundfunktionen 90 verläßt man hier den Bereich allgemeingültiger Aussagen. Stattdessen ist auch in den vorliegenden Konstellationen eine Einzelfallbetrachtung notwendig, bei der die verschiedenen Besonderheiten des konkreten Falls zu berücksichtigen sind. Auch hier ist somit die Frage zu stellen, ob durch die rechtswidrige Verordnungs- oder Satzungsermächtigung das subjektive Wahlrecht faktisch beeinträchtigt wird. Dies kann in manchen Konstellationen zu verneinen sein, insbesondere etwa in Siehe allgemein zu „kumulativen Grundrechtseingriffen" auch den Diskussionsbeitrag von Hufen, WDStRL 57, 131 ff. 89 Oben a. 90 Dazu oben (1).

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen Raum

307

den Fallgestaltungen, in denen lediglich ein geringfügiger Verfahrensverstoß vorliegt. 91 In anderen Fällen, beispielsweise bei einem gravierenden Verstoß gegen die Schrankentrias des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnungsermächtigung im formellen Gesetz bestimmt werden müssen, kann eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts hingegen vorliegen. Auf dieser Linie ist etwa im Anschluß an das bundesverfassungsgerichtliche Maastricht-Urteil in der Literatur das sogenannte Ermächtigungsgesetz von 1933, 92 das der Reichsregierung quasi unbeschränkte Rechtssetzungsbefugnisse verlieh, 93 als „Archetyp" einer Verletzung des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG bezeichnet worden. 94 Auch diese Argumentation läßt sich auf den Bereich der sonstigen parlamentarischen Grundfunktionen übertragen. d) Zwischenergebnis Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß die relative Eingriffsintensität mit Hilfe objektiv-rechtlicher Regelungen weiter strukturiert werden kann. Dabei gilt, daß in einer objektiv-rechtlich verfassungskonformen Kompetenzübertragung keine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung liegen kann. Gleiches gilt für die Fälle der Übertragung von Kompetenzen außerhalb der sechs näher skizzierten Grundfunktionen des Parlaments. Hingegen bedeutet der weitgehende oder gar vollständige Verlust einer dieser Grundfunktionen eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts. Bei weniger weitreichenden Kompetenzverlagerungen oder der Überschreitung der Grenzen einer an sich gegebenen Delegationsbefugnis kann eine derartige Beeinträchtigung unter Umständen ebenfalls vorliegen, was im jeweiligen Einzelfall abwägend zu prüfen ist.

91

Eventuell weitergehend E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (273), der aus dem bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil einerseits herausliest, „im nationalen Bereich" eröffne „die Gleichstellung von subjektivem Recht und notwendiger demokratischer Substanz das Recht der Bürger auf Einhaltung der durch Art. 80 Abs. 1 GG und die Wesentlichkeitstheorie gezogenen Grenzen parlamentarischer Delegationsbefugnis", andererseits aber (erst) das Ermächtigungsgesetz von 1933 (dazu sogleich im Text) als einen Anwendungsfall ansieht. 92 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3.1933, RGBl. 1933 I, S. 141. 93 Art. 1 Satz 1 des Gesetzes lautete: „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." 94 Meessen, NJW 1994, 549 (551); zustimmend E. Klein, GS Grabitz, S. 271 (273), in dortiger FN 9. 20*

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7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts e) Sonderfall: Handeln des Verfassungsgesetzgebers

Diese maßgeblich auf die parlamentarischen Grundfunktionen abstellende Differenzierung wird allerdings keine Geltung beanspruchen können, wenn statt des „einfachen" Gesetzgebers der Verfassungsgesetzgeber, also der mit verfassungsändernder Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG beschließende Gesetzgeber, handelt. Denn dieser ist zu einer auch verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Bereichs demokratischer Volksvertretung befugt, und er ist damit freier als der normale Gesetzgeber, welcher die ihm von der Verfassung vorgegebenen Grenzen zu beachten hat. Die inhaltlichen Grenzen der Gestaltungsmacht des Verfassungsgesetzgebers ergeben sich unter dem Grundgesetz erst aus Art. 79 Abs. 3 GG. (1) Die objektiv-rechtliche

Bindung (nur) an Art. 79 Abs. 3 GG

Das bedeutet vorliegend, daß dem Verfassungsgesetzgeber nach objektivem Recht lediglich verwehrt ist, „die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" zu berühren. Für die Frage nach der grundgesetzlichen Ausprägung der Volkssouveränität und der Teilhabemöglichkeit des Einzelnen an der demokratisch-parlamentarischen Entscheidungsfindung ergeben sich die objektiv-rechtlichen Grenzen mithin aus dem in Art. 20 GG verankerten Demokratiegrundsatz, soweit dieser von der „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist. Wie weit dieser Schutz reicht, ist in vielen Einzelfragen ungeklärt und möglicherweise abstrakt auch kaum zu beantworten. In der Kommentarliteratur werden insbesondere die folgenden Aspekte genannt: Volkssouveränität, Abhaltung von Wahlen, Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. 9 5 Diese sehr allgemeinen Aussagen lassen deutlich werden, daß selbst eine grundlegende Umgestaltung des derzeitigen Systems parlamentarischer Volksvertretung dem Verfassungsgesetzgeber nicht verwehrt wäre, sofern er sich nur innerhalb der durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen hielte. 96 (2) Art. 79 Abs. 3 GG auch als Grenze des subjektiven Rechts Ein Rückgriff auf die parlamentarischen Grundfunktionen wie bei einem Handeln des einfachen Gesetzgebers erscheint damit nicht angemessen. Oben 9 7 wurde nämlich herausgearbeitet, daß die subjektive Berechtigung 95 96

Siehe etwa Lücke, in Sachs, GG, Art. 79, Rz. 39 ff. Vgl. Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 (211).

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 3 0 9 des Einzelnen nicht weiter reichen kann, als die nach objektivem Recht bestehenden Beschränkungen für den Gesetzgeber. Dies hat auch für das Handeln des Verfassungsgesetzgebers zu gelten, da diesem vom Grundgesetz, wie dargelegt, ein besonders weitreichender Gestaltungsspielraum zugestanden wird, der nicht unter Rückgriff auf unangemessen weite Grundrechtsgewährleistungen unzulässig beschnitten werden darf. Hieraus ergibt sich, daß erst der - an sich objektiv-rechtliche - Gehalt des Art. 79 Abs. 3 GG, soweit er sich auf das Demokratieprinzip bezieht, zugleich als Grenze einer subjektiven Berechtigung des Individuums anzusehen ist. Der Einzelne kann, mit anderen Worten, bei einem Handeln des Verfassungsgesetzgebers allenfalls insoweit eigene subjektive Rechte ins Feld führen, als letzterer die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG, bezogen auf das Demokratieprinzip, überschreitet. Auf der anderen Seite ist das aber nicht nur die notwendige Bedingung einer faktischen Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts durch den Verfassungsgesetzgeber, sondern bedingt dies zugleich hinreichend. Denn mit den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG ist ein derart weiter Spielraum eröffnet, daß eine noch weiter zurückgezogene subjektive Individualberechtigung nahezu konturenlos sein müßte. Zudem fehlen jenseits der Ewigkeitsgarantie verfassungsrechtliche Maßstäbe, mit denen die Reichweite der subjektiven Gewährleistung noch beschrieben werden könnte, da Art. 79 Abs. 3 GG die weitesten Grenzen vorsieht, die das Grundgesetz einem Staatshandeln überhaupt zieht. Der Verfassungsgesetzgeber ist hier nämlich nur an die Beachtung einiger ganz grundlegender Verfassungsprinzipien gebunden, während gemäß Art. 20 Abs. 3 GG der einfache Gesetzgeber die gesamte verfassungsmäßige Ordnung beachten muß und die Zweite und Dritte Gewalt sogar an „Gesetz und Recht" gebunden sind. Demnach stellt jede Verletzung des auf das Demokratieprinzip bezogenen Art. 79 Abs. 3 GG eine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung dar, so daß hier, im Unterschied zum Handeln des einfachen Gesetzgebers, 98 kein Unterschied zwischen objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtlichen Grenzen für den Verfassungsgesetzgeber besteht. (3) Der Maßstab im Maastricht-Urteil Dieser Maßstab, der bei einem Handeln des Verfassungsgesetzgebers auf Art. 79 Abs. 3 GG abstellt, soweit dieser sich auf das Demokratieprinzip bezieht, entspricht im Ergebnis demjenigen, den das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil an eine parlamentarische Kompetenz97 98

Oben a. Dazu oben a. bis d.

310

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

abgabe an Organe der Europäischen Gemeinschaft angelegt h a t . " Diese Entscheidung wurde bereits oben 1 0 0 eingehend dargestellt, so daß es an dieser Stelle genügt, die beiden entscheidenden Absätze des Urteil noch einmal in Erinnerung zu rufen: „Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird. Das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 38 GG kann demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, daß die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden." 101 „ I m Anwendungsbereich des Art. 23 GG", wie er der dortigen Entscheidung zugrundelag - gemeint ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, mithin der Fall des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 GG - , handelt stets der Verfassungsgesetzgeber. Dabei greift das Bundesverfassungsgericht für die Bestimmung der Reichweite des subjektiven Rechts auf „das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt," zurück. Dementsprechend prüft es in seiner Entscheidung Bedeutung und Reichweite der Regelungen des Maastricht-Vertrages, um auf diese Weise die Verfassungsmäßigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes festzustellen. 102 Auch wenn dieser Zugriff im dortigen Fall dogmatisch ganz offensichtlich durch die Regelung des Art. 23 GG motiviert ist, dessen Abs. 1 Satz 3 für die Begründung der Europäischen Union ausdrücklich auf die Grenzen von Art. 79 Abs. 2 und 3 GG verweist, so kann die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch für den innerstaatlichen Bereich herangezogen werden, soweit hier ebenfalls der Verfassungsgesetzgeber tätig wird. Die Bedenken, die in der Literatur an dem im Maastricht-Urteil verwendeten Zugriff geltend gemacht wurden, 1 0 3 bezogen sich, wie dargelegt, weniger 99

Vgl. auch Breuer, NVwZ 1994, 417 (421), der im Hinblick auf das Maastricht-Urteil meint, ,,[d]iese staatsrechtlichen Grenzen [seien] dem neuen Art. 23 GG sowie jedem verfassungsändernden Gesetz gezogen" (Hervorhebung im Original). 100 Siehe oben 4. Teil, 1. Kapitel. 101 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (172). 102 Diese demnach vom dogmatischen Ausgangspunkt des Gerichts gebotene Vorgehensweise befürwortet auch z.B. Epiney, Cahiers de l'IDHEAP 123, S. 11, gegenüber vereinzelt im sonstigen Schrifttum geäußerter Kritik.

3. Kap.: Die Reichweite dieses Rechts im innerstaatlichen R a u m 3 1 1 auf die Reichweite des vom Bundesverfassungsgericht angenommenen subjektiven Rechts, als vielmehr auf dessen Konstruktion einer Schutzbereichserweiterung bei Art. 38 Abs. 1 GG bzw. auf das Fehlen einer dogmatischen Begründung. Aber diese Argumente verfangen vorliegend nicht, weil zum einen nach dem hier vertretenen Ansatz einer faktischen Beeinträchtigung des wahlrechtlichen Schutzbereichs die Probleme einer materiellrechtlichen Anreicherung dieses Schutzbereichs entfallen und weil zum anderen mit diesem Verständnis zugleich eine dogmatische Grundlegung geliefert werden konnte. (4) Zwischenergebnis Nach alledem ist für die Fallgestaltung, daß eine Verlagerung parlamentarischer Kompetenzen durch den Verfassungsgesetzgeber erfolgt, die Reichweite des subjektiven Rechts durch Art. 79 Abs. 3 GG vorgezeichnet: Bei einem Überschreiten der hierdurch gezogenen Grenzen ist der Einzelne zugleich faktisch in seinem subjektiven Wahlrecht beeinträchtigt. 4. Ergebnis zur Beeinträchtigungsintensität Insgesamt ist die Frage, ob eine parlamentarische Kompetenzverlagerung zugleich eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts darstellt, somit nach dem Kriterium der Beeinträchtigungsintensität zu beantworten. Für deren Bewertung gilt zum einen die Formel, daß der Einzelne desto eher in seinem Wahlrecht betroffen ist, je umfassender die parlamentarische Kompetenzabgabe ausfällt. Zum anderen ist auf eine Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände der konkreten Fallgestaltung zurückzugreifen. Absolute Grenzen können dabei nur näherungsweise aufgezeigt werden: So stellt ein objektiv rechtmäßiges Parlamentshandeln jedenfalls noch keine faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung dar; andererseits liegt eine solche Beeinträchtigung sicher vor, wenn parlamentarische Grundfunktionen übertragen werden. Besonderheiten gelten, wenn die Kompetenzverlagerungen vom Verfassungsgesetzgeber beschlossen werden: Das subjektive Wahlrecht des Einzelnen ist dann erst bei Überschreiten der objektiv-rechtlichen Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG faktisch beeinträchtigt.

103

Dazu ausführlich oben 4. Teil, 5. Kapitel, A. sowie 5. Teil, 5. Kapitel.

312

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts 4. Kapitel

Die Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an EG-Organe Nachdem soeben im dritten Kapitel die rein binnenstaatlichen Konstellationen betrachtet wurden, ist im folgenden die Reichweite des subjektiven Rechts in denjenigen Fällen zu untersuchen, in denen im Rahmen der europäischen Integration Bundestagskompetenzen an Organe der Europäischen Gemeinschaft abgegeben werden. Hier könnten sich aus der Regelung des Art. 23 GG Besonderheiten ergeben.

A. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts Im Unterschied zu den innerstaatlichen Fallgestaltungen liegen für den Bereich des europäischen Integrationsprozesses mit dem Maastricht-Urteil und dem Euro-Beschluß bereits Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor. In seiner Entscheidung über den Maastricht-Vertrag, mit dem die Europäische Union gegründet wurde, stellte das Bundesverfassungsgericht, wie in dieser Arbeit bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurde, 1 0 4 für die Reichweite des subjektiven Rechts maßgeblich auf „das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt," 1 0 5 ab. Diese Konzeption hat das Gericht in seinen EuroEntscheidungen bestätigt. 106

B. Die Vorschläge im bisherigen Schrifttum In dem an das Maastricht-Urteil anschließenden Schrifttum sind vereinzelt noch über die bereits oben 1 0 7 wiedergegebenen Aussagen hinaus Vorschläge zur Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 GG gemacht worden.

I. Die „Übergewichts-Formel" von U. Karpenstein In einer Betrachtung des Amsterdamer Vertrags äußert sich Karpenstein zur Reichweite des im Maastricht-Urteil vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Gebots substantieller Mitwirkung 4 ": 104 105 106 107

Siehe oben 4. Teil, 1. Kapitel. BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (172). Näher dazu oben 4. Teil, 7. Kapitel, A. Oben 3. Kapitel, C.

4. Kap.: Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an EG-Organe 313 „Eine parlamentarische Selbstentäußerung wäre nach der Maastricht-Entscheidung ebenso unzulässig wie eine Selbstbeschränkung auf Residualkompetenzen (sog. ,Übergewichts-Former). Legt man diese Formel zugrunde, so wird die verfassungsrechtliche Grenze für weitere Hoheitsübertragungen dort zu ziehen sein, wo der überwiegende Teil der in Art. 73 bis 75 GG genannten Sachzuständigkeiten dem deutschen Gesetzgeber qualitativ entzogen ist. Hierzu können ausschließliche Gemeinschaftskompetenzen ebenso beitragen, wie die Inanspruchnahme konkurrierender EG-Befugnisse oder intergouvernementale Beschlüsse, die an eine Ratifikation nach Art. 59 Abs. 2 GG nicht gebunden sind." 108 ' Diese Formel scheint auf den ersten Blick den Vorteil zu haben, praktikable Abgrenzungen zu ermöglichen. Denn wann das Übergewicht der genannten Sachzuständigkeiten dem deutschen Gesetzgeber entzogen ist, scheint verhältnismäßig einfach feststellbar zu sein. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, daß der dabei verwendete Maßstab nicht überzeugen kann. Denn zum einen wird bereits die Feststellung, wann das Übergewicht der in den Art. 73-75 GG genannten Sachzuständigkeiten dem deutschen Gesetzgeber entzogen wird, im konkreten Fall erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen. Denn es ist unklar, wie dieses Kriterium zu bemessen ist: Sollen die in den genannten Artikeln enthaltenen Gesetzgebungsgegenstände rein zahlenmäßig addiert und durch zwei dividiert werden, so daß das Übergewicht erreicht wäre, wenn mehr als die Hälfte dieser Gegenstände auf die EG überginge? Oder soll ein qualitatives Element mit zu berücksichtigen sein, etwa dergestalt, daß „Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung" (Art. 73 GG) mehr zählten als die in Art. 75 GG genannten Rahmenvorschriften? Oder soll nach inhaltlichen Sachverhalten unterschieden werden, beispielsweise dergestalt, daß die „Staatsangehörigkeit im Bunde" (Art. 73 Nr. 2 GG) höher zu bewerten wäre als die „Statistik für Bundeszwecke" (Art. 73 Nr. 11 GG)? Auch bei Anwendung der „ÜbergewichtsFormel" wäre mithin eine wertende Betrachtung wohl nicht entbehrlich. Zum anderen leidet diese Formel mit ihrer Beschränkung auf die Gesetzgebungsbefugnisse an grundlegenden konzeptionellen Schwächen. Denn sie betrachtet weniger die parlamentarischen Kompetenzen - wie es auch für das bundesverfassungsgerichtliche Verständnis erforderlich wäre - , sondern sie legt die Regelungen über die Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes gegenüber denen der Länder zugrunde. Das ist jedoch kein Kriterium des Demokratiegrundsatzes, sondern betrifft das Bundesstaatsprinzip sowie die vertikale Gewaltenteilung. Zudem wird damit einerseits nicht beachtet, daß hierbei der Bundesrat als Ländervertretung die Befugnisse des Bundestags in unterschiedlichem Maße einschränkt, je nachdem, ob ein Gesetz zustimmungspflichtig ist oder nur der Mitwirkung des 108

Karpenstein, DVB1. 1998, 942 (950).

314

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

Bundesrats bedarf. 109 Die Bundestagskompetenzen sind hier durchaus unterschiedlich. Andererseits - und das ist der gravierendste Einwand - beschränken sich die parlamentarischen Befugnisse nicht auf die Funktion der Gesetzgebung, wie es die „Übergewichts-Formel" suggeriert. Stattdessen umfassen sie zahlreiche weitere Funktionen, 110 die bei der vorliegenden Betrachtung nicht unter den Tisch fallen dürfen. Denn das Parlament kann sich auch durch weitreichende Abgabe etwa seiner Kontroll- und Budgetfunktion selbst entmachten. Der von Karpenstein vorgeschlagene Blick auf die Gesetzgebungsfunktion allein reicht für eine brauchbare Abgrenzung mithin nicht aus.

Π. Das Konzept des „judicial activism" Demgegenüber findet sich bei A. Wolf als Vertreter eines „judicial activism" auch für diesen Bereich keine eigenständige Konzeption hinsichtlich der Reichweite. Trotz seines eigenen Begründungsansatzes 111 lehnt sich A. Wolf für die Ausgestaltung und Reichweite des subjektiven Rechts eng an die bundesverfassungsgerichtliche Argumentation im Maastricht-Urteil a n . 1 1 2 Insoweit erläutert er lediglich die dort entwickelten Kriterien, ohne dabei aufgeworfene Fragen selbst zu beantworten. 113

ΙΠ. Die Betonung der Steuerhoheit bei E. Steindorff In seiner Stellungnahme zur Maastricht-Entscheidung entwickelt schließlich Steindorff zwar keine eigene Konzeption zu Begründung und Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG. Er wirft aber die Frage auf, „ob bei Fortdauer des gegenwärtigen tatsächlichen Demokratiezustands in der Gemeinschaft gewisse Aufgaben und Befugnisse wegen Art. 38 GG überhaupt nicht auf die Gemeinschaft übertragbar sind. Dazu könnte namentlich das Recht der Steuererhebung gehören. Die »Steuerhoheit4 des Staatsvolkes muß im Rahmen des Art. 38 GG eine besondere Rolle spielen, weil sich die Bürger nur so gegen die mit der Vermehrung von Gemeinschaftsaufgaben verbundene Lawine zusätzlicher Politikkosten wehren können." 114 109 Nur am Rande, weil nicht zum eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit gehörend, sei erwähnt, daß die „Übergewichts-Formel" vor allem auch die Länderkompetenzen völlig übergeht. Wäre etwa eine Übertragung aller Kompetenzen der deutschen Bundesländer auf die EG nicht ein Verstoß (auch) gegen das Demokratieprinzip? 110 Näher oben 2. Teil, 1. Kapitel, C. 111 Dazu oben 4. Teil, 6. Kapitel, B. 112 Vgl. A. Wolf Prozessuale Probleme, S. 223 ff. 113 Siehe etwa A. Wolf a.a.O., S. 224 f., zur Schwelle einer „Entleerung" des Art. 38 GG.

4. Kap.: Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an EG-Organe 315 Dieser Gedanke entspricht im Grundsatz der hier bereits für den binnenstaatlichen Bereich entwickelten These, daß - jedenfalls bei einem Tätigwerden des einfachen Gesetzgebers - auf die parlamentarischen Grundfunktionen abzustellen ist und demnach „gewisse Aufgaben und Befugnisse wegen Art. 38 GG überhaupt nicht" vom Bundestag abgegeben werden dürfen. Die mit dem Zitat besonders hervorgehobene „Steuerhoheit" stellt des weiteren einen wesentlichen Teil der parlamentarischen Budgetfunktion dar, die als für ein funktionierendes Parlament unverzichtbar anzusehen i s t 1 1 5 und deren Verlust im innerstaatlichen Bereich stets eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts des Einzelnen bedeutet. 116 Demgemäß ist diesem Ansatz jedenfalls für den einfachen Gesetzgeber im Ergebnis grundsätzlich zuzustimmen, wenngleich vor dem Hintergrund des hier vertretenen Ansatzes nicht zu verkennen ist, daß der Verfassungsgesetzgeber gemäß Art. 79 Abs. 3 GG eventuell weiterreichende Möglichkeiten hat. Zudem ist das von Steindorff zur Begründung gelieferte Argument wohl eher rechtspolitischer Natur und kann als solches dogmatisch nur bedingt überzeugen.

C. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen Vor diesem Hintergrund bietet sich auch für den Bereich der Übertragung parlamentarischer Kompetenzen auf EG-Organe die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtseingriffen an. Danach wäre auch dort stets zu fragen, ob eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts vorliegt.

I. Die grundsätzliche Geltung des oben entwickelten Maßstabes I m Grundsatz ergeben sich in diesen Konstellationen zunächst keine Besonderheiten gegenüber dem soeben analysierten binnenstaatlichen Bereich. Auch hier ist daher mit Hilfe des Kriteriums der Eingriffsintensität zu prüfen, ob das Wahlrecht faktisch beeinträchtigt ist. Auch hier ist dabei von der relativen Formel auszugehen, nach der ein Eingriff desto wahrscheinlicher ist, je mehr Kompetenzen das Parlament auf eine europäische Institution überträgt. Auch hier ist schließlich im Einzelfall grundsätzlich anhand einer Abwägung zu prüfen, ob das subjektive Wahlrecht faktisch beeinträchtigt wird.

114 115 116

Steindorff, EWS 1993, 341 (344). Siehe oben 2. Teil, 1. Kapitel, C. VI. Dazu oben 3. Kapitel, D. V. 3. b.

316

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

II. Besonderheiten aus der Ermächtigungsnorm des Art. 23 GG? Aber auch für die Eingrenzung dieser relativen Formel mit Hilfe absoluter Kriterien kann auf die obigen Ausführungen zu den innerstaatlichen Konstellationen 117 zurückgegriffen werden. Die dort herausgearbeiteten Fallgruppen, in denen eine Wahlrechtsbeeinträchtigung einerseits sicher ausgeschlossen oder andererseits mit Gewißheit angenommen werden kann, gelten auch hier. 1. Bei objektiv rechtmäßigen Kompetenzübertragungen? Das gilt zum einen für die Fallgestaltung, daß das Parlament objektiv rechtmäßig handelt. Dann ist der Einzelne nicht in seinem subjektiven Wahlrecht beeinträchtigt, da dieses keine Vorgaben an den Bundestag enthält, wie dieser seine Kompetenzen auszuüben habe. 1 1 8 2. Bei Übertragungen durch den Verfassungsgesetzgeber? Zum anderen ist auch im Bereich der europäischen Integration der Verfassungsgesetzgeber objektiv-rechtlich allein an die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Das stellt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG - deklaratorisch119 - klar. Dementsprechend kann auch dort der Einzelne nur dann in seinem subjektiven Wahlrecht beeinträchtigt sein, wenn der Verfassungsgesetzgeber diese letzten Grenzen, welche ihm die Ewigkeitsgarantie für das Demokratieprinzip auferlegt, überschreitet. 120 Das entspricht dem vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil und in den Euro-Entscheidungen angelegten Maßstab. 121 3. Bei Übertragungen durch den einfachen Gesetzgeber? Fraglich könnte allerdings sein, ob die oben 1 2 2 für den einfachen Gesetzgeber entwickelten Grenzen für den Bereich des Art. 23 GG weiter zu fassen sind als im innerstaatlichen Bereich. Denn Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ermächtigt ihn ausdrücklich zur Übertragung von „Hoheitsrechten", was als Ermächtigung zu weiterreichenden Kompetenzabgaben unter Zurückdrän117 118 119 120 121 122

Oben 3. Kapitel, D. V. 3. Ähnlich Biskup, ThürVBl. 1999, 49 (54). Näher oben 5. Teil, 5. Kapitel, I. Vgl. Breuer, NVwZ 1994, 417 (422), m.w.N. So bereits für den binnenstaatlichen Bereich oben 3. Kapitel, D. V. 3. e. Vgl. oben 4. Teil, 1. Kapitel bzw. 4. Teil, 7. Kapitel, A. Oben 3. Kapitel, D. V. 3. a.^d.

4. Kap.: Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an EG-Organe 317 gung der subjektiven Individualrechte verstanden werden könnte. Zudem ließe sich hier argumentieren, daß die außenpolitische Gewalt einen größeren Freiraum benötigte, um in Verhandlungen mit anderen Staaten flexibler handeln zu können. 1 2 3 Schließlich könnte argumentiert werden, daß bei jeder Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf supranationale Organisationen „das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwendig an Einfluß auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß" verliere, was andererseits aber dadurch kompensiert werden könne, daß der „Mitgliedstaat - und mit ihm seine Bürger - [...] auch Einflußmöglichkeiten durch die Beteiligung an der Willensbildung der Gemeinschaft" gewönne. 1 2 4 Diese Argumente könnten dafür sprechen, im außenpolitischen Bereich, speziell im Rahmen der europäischen Integration, das demokratisch erforderliche Legitimationsniveau gegenüber den rein innerstaatlichen Konstellationen etwas abzusenken. Parlamentarische Kompetenzübertragungen, die im innerstaatlichen Bereich „gerade eben" zu einer Unterschreitung des erforderlichen Legitimationsniveaus führen würden, wären im Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG daher hinzunehmen. Auf der anderen Seite sind mit dem in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG verwendeten Begriff „Hoheitsrechte", wie bereits an anderer Stelle in dieser Arbeit nachgewiesen wurde, 1 2 5 nicht die parlamentarischen Kompetenzen gemeint, sondern die Hoheitsbefugnisse im Sinne der souveränitätsrechtlichen Terminologie. Dementsprechend ermöglicht diese Vorschrift eine Souveränitätsbeschränkung, nicht aber eine Einschränkung der ^/^Souveränität und des Demokratiegrundsatzes. Die Bundestagsbefugnisse sind damit, nicht per se von der Norm erfaßt, sondern nur, soweit sie Teil des staatlich-hoheitlichen Handelns sind. Nur insoweit kann Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG eine Ermächtigung zur Übertragung entnommen werden. Ferner wäre eine Aufgabe der parlamentarischen Grundfunktionen durch den Bundestag nicht mehr eine bloß geringfügige Unterschreitung des im innerstaatlichen Raum erforderlichen Legitimationsniveaus. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß ein solches Verhalten nach objektivem Recht eklatant rechtswidrig wäre und die Grundlagen des Parlamentarismus berühren würde. Zur Gewinnung außenpolitischer Flexibilität erscheint eine derart weitgehende Absenkung des Legitimationsniveaus nicht angemessen, zumal die daraus resultierende faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung nicht durch die Vorteile aufgewogen würde, die sich durch die mitgliedstaatlichen Einflußmöglichkeiten auf die Willensbil123 Dementsprechend hat das BVerfG speziell in Fragen der Außenpolitik schon früh Zurückhaltung bei der Überprüfung (auch) politischer Entscheidungen geübt, vgl. etwa Blumenwitz, DVB1. 1976, 464 (469). 124 So BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (182 f.). 125 Zur Abgrenzung siehe oben 5. Teil, 1. Kapitel, C.

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

318

dung der Gemeinschaft bieten könnten. Der Preis einer Abgabe der parlamentarischen Grundkompetenzen wäre grundrechtlich hierfür zu hoch. Damit ist für den Bereich der europäischen Integration das erforderliche Legitimationsniveau gegenüber den rein innerstaatlichen Kompetenzverlagerungen etwas abzusenken. Eine Abgabe der parlamentarischen Grundfunktionen wäre aber auch hier eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts.

D. Ergebnis zu den Kompetenzabgaben an EG-Organe Nach alledem ist auch für die Abgabe parlamentarischer Kompetenzen an die europäischen Institutionen im Grundsatz auf die für den binnenstaatlichen Bereich entwickelten Eingrenzungskriterien 126 zurückzugreifen. Lediglich bei einem Handeln des einfachen Gesetzgebers ist aufgrund der Ermächtigungsnorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG das erforderliche Niveau demokratischer Legitimation etwas niedriger anzusetzen als bei Kompetenzabgaben im Binnenraum der Verfassung. 5. Kapitel

Die Reichweite dieses Rechts bei Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen Schließlich sind eventuelle Kompetenzabgaben des Bundestags an völkerrechtliche Institutionen daraufhin zu untersuchen, in welchen Fällen sie zu einer faktischen Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts des Individuums führen.

A. Die bisherige Rechtsprechung und Literatur Bislang haben sich, soweit ersichtlich, Rechtsprechung und Literatur, noch nicht mit dieser Frage befaßt.

B. Eigener Vorschlag: Die Übernahme der Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit entwickelten Konzeption ist in den „internationalen" Fallgestaltungen im Geltungsbereich des Art. 24 GG ebenfalls auf die dogmatische Figur der indirekten Grundrechtseingriffe zu126

Oben 3. Kapitel, D. V.

6. Kap.: Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten

319

rückzugreifen. Auch für die Reichweite kann im Grundsatz auf die oben 1 2 7 gemachten Ausführungen zu den innerstaatlichen Konstellationen verwiesen werden: Ob eine faktische Beeinträchtigung vorliegt, bestimmt sich zum einen nach der Formel, daß dies um so wahrscheinlicher ist, je mehr Kompetenzen übertragen werden, zum anderen nach einer Einzelabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falls. Auch die dort herausgearbeiteten Fallgruppen, in denen eine Wahlrechtsbeeinträchtigung einerseits sicher ausgeschlossen oder andererseits mit Gewißheit angenommen werden kann, können im Grundsatz übernommen werden. Rechtmäßiges parlamentarisches Handeln beeinträchtigt das subjektive Wahlrecht daher ebensowenig wie ein Handeln des Verfassungsgesetzgebers in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG. Aufgrund der Ermächtigung in Art. 24 Abs. 1 GG, „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen" zu übertragen, die im wesentlichen der Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG für die europäische Integration entspricht, sind ferner die oben 1 2 8 zu Art. 23 GG entwickelten Erwägungen auch auf die vorliegende Fallgestaltung anzuwenden. Das bedeutet, daß bei einem Handeln des einfachen Gesetzgebers das erforderliche demokratische Legitimationsniveau zwar etwas niedriger anzusetzen ist als bei rein innerstaatlichen Kompetenzverschiebungen, andererseits aber jedenfalls die parlamentarischen Grundfunktionen nicht abgegeben werden dürfen.

C. Ergebnis zu den Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen Damit entspricht die Reichweite des subjektiven Rechts bei parlamentarischen Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen derjenigen i m Anwendungsbereich des Art. 23 GG.

6. Kapitel

Sonderproblem: Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten für den Einzelnen? Besonderheiten könnten sich schließlich ergeben, wenn dem Einzelnen anstelle des faktisch beeinträchtigten Wahlrechts anderweitige Möglichkeiten politischer Teilhabe an der Staatsleitung eröffnet würden. Dadurch könnte die Wahlrechtsbeeinträchtigung eventuell ausgeglichen werden. 127 128

Oben 3. Kapitel, D. V. Oben 4. Kapitel, C. II.

320

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

A. Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament als Parallelproblem? Eine möglicherweise vergleichbare Argumentation wird insbesondere im Bereich der europäischen Integration für das Europäische Parlament des öfteren vertreten. Hier wird untersucht, ob das Europaparlament über eine eigene demokratische Legitimation verfügt und dementsprechend eine solche Legitimation an andere EG-Organe vermitteln kann. Das wäre grundsätzlich denkbar, weil das Europäische Parlament in eigenen Wahlen vom Volk bestimmt wird. Auf dieser Linie findet sich bereits im bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil die Formulierung, bei zunehmender Integration müsse eine weitere „demokratische Abstützung" durch ein europäisches Parlament erfolgen. 129 Zudem finden sich zu dieser Frage zahlreiche Äußerungen im Schrifttum. 1 3 0

B. Die fehlende Vergleichbarkeit Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings, daß dieser Themenkomplex mit der vorliegenden Fragestellung nicht identisch ist.

I. Demokratieprinzip und Volkssouveränität einerseits ... Denn dort geht es um die Frage, inwieweit das Demokratieprinzip aus Art. 20 GG im allgemeinen oder der Grundsatz der Volkssouveränität aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG im besonderen eine Kompensation für die verringerte, vom Bundestag vermittelte demokratische Legitimation durch eine eigene Legitimation des Ermächtigten erfordern. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß das, was dem Bundestag an demokratischer Legitimationswirkung entzogen wird, durch die eigenständige Legitimation des ermächtigten Organs bzw. der ermächtigten Institution aufgewogen werden könnte. Demgemäß könnte man dort, so die befürwortende Ansicht, um das erforderliche Legitimationsniveau zu erreichen, die Legitimationswirkungen der unterschiedlichen Legitimationsträger sozusagen saldieren; die Ab- und Zuflüsse demokratischer Legitimation bei den verschiedenen Legitimationsträgern könnten quasi verrechnet werden, 1 3 1 da das Legitimationsniveau „von

129

BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (184). Siehe etwa König, ZaöRV 54 (1994), 17 (39); Kahl, Der Staat 33 (1994), 241 (248 f.); Penski, ZRP 1994, 192 (195); H.-J. Cremer, EuR 1995, 21 (33 ff.); D. Grimm, JZ 1995, 581 (586 f.); Fink, DÖV 1998, 133 (137); Huber, Symposium Badura, 105 (120 ff.); Magiera, FS Everling, S. 789 (794 ff.); Brosius-Gersdorf, EuR 1999, 133 ff. 130

6. Kap.: Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten

321

dem die Legitimation vermittelnden parlamentarischen Organ grundsätzlich unabhängig" sei. 1 3 2

I I . . . . Bundestagswahlrecht andererseits Vorliegend ist nach dem hier vertretenen Ansatz hingegen die Frage zu stellen, ob die faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG dadurch ausgeglichen werden könnte, daß dem Einzelnen andere Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die Staatsleitung eröffnet würden. Hierauf kann aber die oben angedeutete Diskussion nicht übertragen werden. Da Art. 38 Abs. 1 GG das individuelle Wahlrecht nur zum Bundestag regelt und auf diese Weise ausschließlich auf den Bundestag als Vermittler demokratischer Legitimation abstellt, erscheint eine Betrachtung anderer (potentieller) Legitimationsträger wie des Europäischen Parlaments, welche eventuell ebenfalls demokratische Legitimation vermitteln könnten, in diesem Rahmen nicht unmittelbar möglich. Weil Art. 38 Abs. 1 GG ausschließlich den Bundestag betrifft, scheidet eine direkte Saldierung mit den Legitimationsbeiträgen anderer Organe bzw. Institutionen aus. Denn das Bundestagswahlrecht wird durch die parlamentarische Kompetenzabgabe gegebenenfalls 133 beeinträchtigt, weil und soweit sein sozialer Sinngehalt beeinträchtigt wird. Für diese Feststellung kommt es zunächst nicht darauf an, ob eine demokratische Legitimation anderweitig hergestellt werden kann. Aus dem gleichen Grund stellen auch sonstige Mitwirkungsmöglichkeiten in anderen Organen oder Institutionen für den Einzelnen keine direkte Kompensation seines beeinträchtigten Bundestagswahlrechts dar. Damit kann nach dem hier vertretenen Ansatz eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag nicht ohne weiteres dadurch kompensiert werden, daß andere Organe oder Institutionen demokratische Legitimationsbeiträge leisten. Das schließt freilich nicht aus, daß aus einer Norm, die das Wahlrecht zum ermächtigten Organ bzw. zur ermächtigten Institution betrifft und die insoweit der Regelung des Art. 38 Abs. 1 GG für den Bundestag entspricht, ein vergleichbares „subjektives Recht auf Demokratie" - bezogen auf das betroffene Organ bzw. die Institution - entwickelt werden kann. Ein solches Recht wäre dann bei der (objektiv-rechtlichen!) Fragestellung zu berücksichtigen, ob die Prinzipien der Volkssouveränität und der Demokratie eine Ermächtigung des betreffenden Organs bzw. der Institution durch den Bundestag zulassen. Damit würde die Frage sozusagen an das objektive Recht zurückgegeben, mit der Konsequenz, daß 131

H. H. Klein, Maastrichter Vertrag, S. 9, spricht einprägsam von einem „Verhältnis kommunizierender Röhren". 132 So Meessen, NJW 1994, 549 (552). 133 Zu den hier herausgearbeiteten Fallgruppen siehe oben 3. Kapitel, D. V. 21 Soppe

322

7. Teil: Die Reichweite dieses subjektiven Rechts

nach dem hier vertretenen Standpunkt eine Beeinträchtigung in subjektiven Rechten ausscheidet, sofern die objektiv-rechtlichen Anforderungen erfüllt sind.

ΠΙ. Sonderfall Maastricht-Urteil Die vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil vorgenommene Prüfung einer von einem europäischen Parlament zu leistenden „demokratischen Abstützung" erklärt sich schließlich aus dem dortigen Ansatz des Gerichts, das Wahlrecht materiellrechtlich anzureichern und dabei letzten Endes das Demokratieprinzip innerhalb bestimmter Grenzen subjektivrechtlich überprüfbar zu machen. Dort wird also letztlich auf das Demokratieprinzip rekurriert, nicht aber auf das Bundestagswahlrecht; „die Geltungsdimension des Art. 38 GG als solche [wird] überschritten". 134 Auch die hier vertretene Ansicht schließt freilich nicht aus, daß ein Verstoß gegen das - objektiv-rechtliche - Demokratieprinzip durch anderweitige demokratische Legitimation vermieden werden könnte; lediglich eine Beeinträchtigung des Bundestagswahlrechts, solange es in dieser Form existiert, wäre hierdurch nach den obigen Ausführungen nicht auszuräumen.

C. Ergebnis zur Kompensation durch anderweitige Mitwirkungsmöglichkeiten für den Einzelnen Damit ist eine faktische Beeinträchtigung des Bundestagswahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG nicht ohne weiteres dadurch ausgeschlossen, daß dem Einzelnen sonstige Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet werden. Eine Kompensation ergibt sich deshalb nicht daraus, daß das vom Bundestag ermächtigte Organ bzw. die ermächtigte Institution mit eigener demokratischer Legitimation versehen sind. Hierfür wäre ein „subjektives Recht auf Demokratie" auch gegenüber diesen Organen oder Institutionen erforderlich.

134

Steinberger,

in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 25 (28).

8. T e i l

Die Rechtfertigung von Eingriffen? Der klassische grundrechtliche Prüfungsaufbau geht von dem Dreischritt „Schutzbereich", „ E i n g r i f f und „Rechtfertigung" aus; ein Grundrecht ist demnach verletzt, wenn sein Schutzbereich eröffnet ist, hierin eingegriffen wurde und der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. 1 Dementsprechend wäre an dieser Stelle - im Anschluß an die Untersuchung des wahlrechtlichen Schutzbereichs sowie des Eingriffs in Form einer faktischen Beeinträchtigung - an sich der Ort für eine genauere Betrachtung etwaiger Rechtfertigungstatbestände, aufgrund derer die eventuelle faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre. Vorliegend ergeben sich jedoch gleich mehrere Schwierigkeiten bei der Suche nach möglichen Rechtfertigungstatbeständen, seien diese nun Eingriffsermächtigungen oder Grundrechtsschranken. 2 Zum einen wurde dieses dreiteilige Prüfungsschema, wie überhaupt die gesamte grundrechtliche Eingriffsdogmatik, für die Abwehrgrundrechte des negativen Status entwickelt, während vorliegend das Wahlrecht als Grundrecht des aktiven Status betroffen ist. 3 Dieser Befund schlösse zwar nicht aus, die Rechtfertigungsdogmatik auf die Grundrechte im Aktivstatus zu übertragen, wie dies auch oben 4 für den Eingriffsbegriff entwickelt wurde. Jedoch ist zumindest in der hiesigen Fallgestaltung die dafür erforderliche Vergleichbarkeit der beiden unterschiedlichen Grundrechtsstatus nicht gegeben. Denn bereits oben 5 wurde herausgearbeitet, daß eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts lediglich in solchen Konstellationen in Betracht kommt, in denen das staatliche Handeln nach allein objektivem Recht längst rechtswidrig ist. Das liegt daran, daß das Wahlrecht dem parlamenta1

Hinzu kommen noch die allgemeinen Kriterien wie die Beachtung des Art. 19 Abs. 1 GG sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. Bleckmann, StaatsR II, § 12, Rz. 6. 2 Zu der von ihm als „in besonderem Maße uneinheitlich und diffus" bewerteten Terminologie und den verschiedenen Fallkonstellationen ausführlich Sachs, in Stern, StaatsR ΙΠ/2, S. 225 ff. 3 Näher zu dieser Einteilung der Grundrechte oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. II.; zur Entwicklung der Eingriffsdogmatik oben 5. Teil, 3. Kapitel, Β. I. 4 Oben 5. Teil, 3. Kapitel. 5 Oben 7. Teil, 3. Kapitel, D. V. 3. b. 21*

324

8. Teil: Die Rechtfertigung von Eingriffen?

rischen Handeln hier keine eigenständigen Grenzen zieht und auf diese Weise eine Delegation bestimmter Befugnisse untersagt, die sonst, dächte man das Wahlrecht hinweg, zulässig wäre. 6 Sondern vorliegend zeichnet die Wahlrechtsgewährleistung lediglich - auf einer zurückgezogenen Linie - bestimmte objektiv-rechtlich ohnehin bestehende Grenzen der Zulässigkeit parlamentarischer Kompetenzabgaben nach und macht diese (auch) subjektiv-rechtlich einforderbar. Sie versubjektiviert mithin nur ein bestimmtes Minimum der verfassungsrechtlichen Vorgaben an das Parlament. Die daneben bestehenden Grenzen nach rein objektivem Recht 7 reichen jedoch deutlich weiter. Aus diesem Grund ist eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung im Sinne eines Erlaubnistatbestandes in der vorliegenden Fallgestaltung nicht denkbar. Zum anderen handelt es sich hier nicht um direkte Grundrechtseingriffe, bei denen der staatliche Akteur zuvor nach Eingriffsermächtigungen sucht, um die Verfassungsmäßigkeit seines Verhaltens sicherzustellen. Sondern hier geht es um regelmäßig nicht beabsichtigte faktische Auswirkungen eines parlamentarischen Handelns, welches letztlich anderen Zielen dient. In derartigen Fällen, in denen ein staatliches Handeln ein Grundrecht lediglich indirekt beeinträchtigt, wird jedoch auch bei den Abwehrrechten keine Rechtfertigungsnorm geprüft. 8 Vielmehr werden hier - zumindest der Sache nach - die Grenzen einer erlaubten Grundrechtsbeeinträchtigung über die Eingriffsdefinition abgesteckt: Der Eingriffsbegriff wird so gefaßt, daß ihm ausschließlich Schutzbereichsberührungen unterfallen, die so schwerwiegend sind, daß andere Verfassungsgüter, die im Rahmen der Schranken oder auch nur der „praktischen Konkordanz" zu berücksichtigen wären, kaum durchgreifen und eine Rechtfertigung des Eingriffs dadurch kaum mehr möglich erscheint. Leichtere Schutzbereichsberührungen, die an sich verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden könnten, werden gar nicht erst als Grundrechtseingriff qualifiziert. Dies gilt in besonderem Maße für die hier vertretene Konzeption, nach der bei jeder faktischen Beeinträchtigung auch ein Verstoß gegen sonstiges, objektives Recht gegeben sein wird.

6

Zu den nach objektivem Recht bestehenden Grenzen näher oben 2. Teil, 2. Kapitel, B. 7 Das heißt solche, die nicht von den - nach h.M. in ihrer Gesamtheit freilich ebenfalls eine objektive Wertordnung bildenden - Grundrechten gezogen werden. 8 Vgl. etwa die den Erweiterungen des klassischen Eingriffsbegriffs gewidmeten Monographien von Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen; Ramsauer, Faktische Beeinträchtigungen; Eckhoff, Grundrechtseingriff; aus Schweizer Sicht Herren, Faktische Beeinträchtigungen; für die Leistungsgrundrechte Lübbe-Wolff, Grundrechte. Alle diese Autoren gehen auf die Frage einer etwaigen Rechtfertigung des erweiterten Eingriffs nicht ein.

8. Teil: Die Rechtfertigung von Eingriffen? Nach alledem kommt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer faktischen Beeinträchtigung des Wahlrechts durch die Abgabe parlamentarischer Kompetenzen nicht in Betracht.

. Teil

Die prozessuale Durchsetzung dieses Rechts Während in den vorherigen Teilen die materielle Verfassungsrechtslage untersucht wurde, soll im folgenden noch ein Blick auf das Verfassungsprozeßrecht und die davon abhängige Art und Weise der Durchsetzung des subjektiven Rechts geworfen werden. Dabei ist insbesondere das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf etwaige Besonderheiten zu untersuchen (dazu das 1. Kapitel). Ferner ist der Sonderfall zu betrachten, daß ein Dritter sich parlamentarische Kompetenzen anmaßt, ohne daß es zu einer ausdrücklichen Befugnisdelegation durch den Bundestag gekommen wäre (dazu das 2. Kapitel). 1. Kapitel

Das Verfassungsbeschwerdeverfahren Da in einer parlamentarischen Selbstentmachtung eine faktische Beeinträchtigung des Bundestagswahlrechts aus Art. 38 GG liegen kann, welches ein grundrechtsgleiches Recht darstellt, und da diese Beeinträchtigung von der öffentlichen Gewalt herrührt, steht dem Einzelnen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hiergegen der Rechtsweg offen. Welcher Rechtsbehelf statthaft ist und welche Voraussetzungen im einzelnen erfüllt sein müssen, ergibt sich aus dieser Vorschrift freilich nicht. Dieser Frage ist im folgenden nachzugehen.

A. Die Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde Da eine parlamentarische Selbstentmachtung gegebenenfalls eine von der öffentlichen Gewalt zu verantwortende Verletzung des in Art. 38 GG enthaltenen Rechts darstellen kann, ist die Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG statthaft. Ihre Statthaftigkeit wird insbesondere nicht durch das Wahlprüfungsverfahren gemäß Art. 41 GG ausgeschlossen. Zwar ist dieses in seinem Anwendungsbereich vorrangig und schließt dort jeden anderen Rechtsbehelf aus;1 insbesondere steht dem Bürger dann die Verfassungsbeschwerde nicht

1. Kap.: Das Verfassungsbeschwerdeverfahren

327

zur Verfügung. 2 Jedoch ist der Anwendungsbereich der Bestimmung vorliegend nicht eröffnet. Denn das Wahlprüfungsverfahren betrifft die Gültigkeit der Wahl als solche, wie sich aus § 1 Abs. 1 WahlprüfungsG ergibt, das heißt diejenigen „Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen", § 49 BundeswahlG.3 Diese sind hier jedoch nicht betroffen, denn parlamentarische Kompetenzabgaben sind jederzeit, nicht nur während einer Wahl, denkbar, und sie beziehen sich auch inhaltlich nicht auf das Wahlverfahren als solches. Stattdessen wirken sie faktisch auf das Wahlergebnis sowie den Gewährleistungsgehalt zukünftiger Wahlen ein. Damit unterfallen sie nicht dem Anwendungsbereich des Wahlprüfungsverfahrens, so daß die Verfassungsbeschwerde nicht verdrängt ist. 4

B. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde Neben der Statthaftigkeit sind ferner die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde zu beachten, die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG niedergelegt sind. Dabei ist im folgenden nur auf Besonderheiten einzugehen, die sich in der vorliegend analysierten Fallgestaltung ergeben können.

I. Insbesondere die Beschwerdefahigkeit Erste Voraussetzung ist die Beschwerdefähigkeit. Dieser, weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausdrücklich enthaltene Begriff 5 umschreibt das Erfordernis, daß der Verfassungsbeschwerdeführer überhaupt Träger des angeblich verletzten Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts sein kann. 6 Dementsprechend richtet sich die Beschwerdefähigkeit nach dem materiellen Verfassungsrecht. 7 1

Siehe etwa Pestalozzi VerfProzeßR, § 5, Rz. 2, m.w.N. BVerfG, Beschluß vom 11.10.1972, BVerfGE 34, 81 (94); BVerfG, Beschluß vom 14.3.1984, BVerfGE 66, 232 (234); Kretschmer, in Schneider/Zeh, ParlamentsR, § 13, Rz. 47, m.w.N.; kritisch dazu Meyer, in HdBStR II, § 38, Rz. 66. 3 Meyer, a.a.O., Rz. 61, meint sogar, nach der restriktiven Rechtsprechung des BVerfG diene das Wahlprüfungsverfahren letztlich ausschließlich der Kontrolle der richtigen Zusammensetzung des Parlaments. 4 So auch im Ergebnis, ohne das zu problematisieren, BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 ff. 5 Wohl aus diesem Grunde ist die Terminologie umstritten. Pestalozza, VerfProzeßR, § 12, Rz. 17 ff., spricht - offenbar in Anlehnung an § 61 VwGO - von „Bein Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 20, teiligtenfähigkeit"; Schmidt-Bleibtreu, nennt dies - in offensichtlicher Anlehnung an § 50 ZPO - „Parteifähigkeit". „Beschwerdefähigkeit" ist jedoch am nächsten am Wortlaut des BVerfGG, so auch Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rz. 514, in dortiger FN 13. 2

328

9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

In den hier zu untersuchenden Fallgestaltungen kommt die Beschwerdefähigkeit nur den Wahlberechtigten zu, da nur diese von Art. 38 Abs. 1 GG materiell berechtigt werden. 8 Damit sind ausschließlich die Inhaber des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag in der vorliegenden Konstellation verfassungsbeschwerdefähig. 9

II. Insbesondere die Beschwerdebefugnis Das Kriterium der Beschwerdebefugnis setzt voraus, daß der Beschwerdeführer behaupten kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein. 10 Die behauptete Verletzung muß ihn selbst, unmittelbar und gegenwärtig treffen. 11 Zu dieser Zulässigkeitsvoraussetzung sind einige kurze Ausführungen zu machen. Da in der Regel 1 2 die Kompetenz Verlagerung auf einem parlamentarischen Akt beruhen wird, ist ein Handeln der öffentlichen Gewalt dann unproblematisch zu bejahen. Die (schlüssige) Behauptung einer Rechtsverletzung setzt voraus, daß eine Rechtsverletzung nicht von vornherein ausgeschlossen ist, mithin mindestens möglich erscheint. 13 Sie kann nach der hier entwickelten Konzeption bei parlamentarischen Kompetenzverlagerungen größeren Ausmaßes in einer faktischen Beeinträchtigung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG liegen. Das Kriterium der Selbstbetroffenheit soll Popularklagen und Prozeßstandschaften ausschließen.14 Bereits oben wurde dargelegt, daß eine weit6

Vgl. Zuck, a.a.O., Rz. 516; ähnlich Schmidt-Bleibtreu, a.a.O., Rz. 20; Kley/ Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 7, jeweils m. w. N. 7 Kley/Rühmann, a.a.O. 8 Dazu bereits oben 5. Teil, 1. Kapitel, D. 9 Pestalozza, VerfProzeßR, § 12, Rz. 18, will offenbar eine „allgemeine" Beschwerdefähigkeit trennen von der Frage, ob der Einzelne gerade im Hinblick auf ein bestimmtes, von ihm als verletzt gerügtes Grundrecht beschwerdefähig ist, und letzteres erst als eine Frage der Beschwerdebefugnis behandeln. Die überwiegende Literatur prüft aber schon bei der Beschwerdefähigkeit, ob der Beschwerdeführer als Träger des von ihm als verletzt gerügten Grundrechts konkret in Betracht kommt, so etwa Β Κ-Stern, Art. 93, Rz. 420 ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rz. 518; Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 8, jeweils für in Maunz et al., BVerfGG, § 90, die Deutschengrundrechte; Schmidt-Bleibtreu, Rz. 20, für Grundrechte eines Personalratsvorsitzenden. Wegen der unterschiedlichen persönlichen Schutzbereiche der Grundrechte erscheint dies angemessen. 10 Vgl. Pestalozza, a.a.O., Rz. 27. 11 Siehe Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 46. 12 Zu Ausnahmen unten 2. Kapitel. 13 Vgl. Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 61.

1. Kap.: Das Verfassungsbeschwerdeverfahren

329

reichende Abgabe parlamentarischer Befugnisse jeden Wahlberechtigten in seinem eigenen subjektiven Wahlrecht - mithin „selbst" - betrifft. „Unmittelbare" Betroffenheit in diesem Sinne meint, daß die Maßnahme ohne einen weiteren vermittelnden Akt auf den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt. 1 5 Hierdurch sollen Konstellationen ausgeschlossen werden, in denen erst noch ein gesonderter Vollzugsakt ergehen muß, der gegebenenfalls getrennt anzugreifen wäre. 16 Auch dieses Merkmal wird in der vorliegend zu betrachtenden Fallgestaltung regelmäßig bejaht werden können. Denn ein Parlamentsakt, der eine Abgabe von Kompetenzen auf ein anderes Organ oder eine andere Institution zum Inhalt hat, wird in der Regel keiner besonderen Umsetzung mehr bedürfen, sondern aus sich selbst heraus Geltung beanspruchen. Doppeldeutig ist der Aspekt der „gegenwärtigen" Betroffenheit des Einzelnen. Hierdurch sollen Fälle ausgeschieden werden, in denen der Beschwerdeführer entweder nicht mehr oder noch nicht betroffen ist. 1 7 An dieser Stelle meint „noch nicht betroffen" nicht den zeitlichen Eintritt der konkreten Belastung, 18 sondern soll die aktuelle, hinreichend absehbare Betroffenheit des Einzelnen von einer lediglich möglicherweise in Zukunft eintretenden, „virtuellen" Betroffenheit abgrenzen; 19 die bloße Möglichkeit einer späteren Betroffenheit reicht hierfür nicht aus. Sofern der parlamentarische Übertragungsakt dem Ermächtigten die Kompetenzen direkt überträgt, wird auch das Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit in den vorliegenden Fällen anzunehmen sein.

III. Insbesondere das Gebot grundsätzlicher vorheriger Rechtswegerschöpfung Weiter ist gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erforderlich, daß vor einer Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg zu den Fachgerichten ausgeschöpft wird, sofern ein solcher Rechtsweg eröffnet ist. Die Fachgerichte sollen gegebenenfalls der Beschwer abhelfen. 20 Eine solche Abhilfe ist freilich nur dort möglich, wo die Fachgerichte überhaupt zur Aufhebung der angegriffe14

Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 95. So Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 50, auch zur hiervon zu trennenden, anderen Bedeutung des Begriffs „unmittelbar betroffen" als Gegenstück zur „mittelbar faktischen Beschwer". 16 Vgl. Kley/Rühmann, a.a.O. 17 Vgl. Pestalozza, VerfProzeßR, § 12, Rz. 44. 18 Das ist eine Frage des allgemeinen Rechtsschutzinteresses, dazu unten IV. 19 So, deutlich, Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rz. 591; ähnlich Pestalozza, VerfProzeßR, § 12, Rz. 44 f. 20 Pestalozza, a.a.O., Rz. 46. 15

330

9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

nen Maßnahme befugt sind. Das ist in der Regel dann nicht der Fall, wenn die Beschwer in einem formellen Gesetz liegt, da die Fachgerichte zu dessen Aufhebung nicht befugt sind. 21 Derartige Gesetzesverfassungsbeschwerden sind ohne vorheriges Beschreiten des fachgerichtlichen Rechtswegs zulässig. In der vorliegend zu analysierenden Konstellation wird in aller Regel ein solches formelles Gesetz des Bundestags vorliegen, in dem die Kompetenzübertragung auf andere staatliche Organe oder auf außerstaatliche Institutionen enthalten ist. In diesen Fällen ist eine Verfassungsbeschwerde dann ohne die vorherige Anrufung der Fachgerichte zulässig. 22

IV. Insbesondere das allgemeine Rechtsschutzinteresse Beim allgemeinen Rechtsschutzinteresse, das gegeben ist, wenn der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an der begehrten gerichtlichen Entscheidung hat, bestehen vorliegend keine Besonderheiten. So muß eine in einem Gesetz enthaltene Kompetenzverlagerung in aller Regel bereits verkündet und in Kraft getreten sein. 23 Insbesondere für die Fälle einer Kompetenzübertragung nach außen, auf völkerrechtliche oder gemeinschaftsrechtliche Organe, ist freilich zu beachten, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechtsmittel bereits vor Verkündung des Vertragsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG zulässig sind. 24 Dies wird damit gerechtfertigt, daß nach Abschluß des Ratifikationsvorgangs die Vertragsbestimmungen völkerrechtliche Bindungswirkung entfalten und eine einseitige Aufhebung dann nicht mehr zulässig wäre. 25

V. Insbesondere die Beschwerdefrist Keine Besonderheiten ergeben sich bei der Beschwerdefrist; sie beträgt gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG ein Jahr und beginnt mit dem Inkrafttreten oder dem Erlaß des Gesetzes.

21

Vgl. etwa Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 76. So im Ergebnis auch BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 ff. 23 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 89. 24 So schon BVerfG, Urteil vom 30.7.1952, BVerfGE 1, 396 (410 ff.); BVerfG, Urteil vom 25.6.1968, BVerfGE 24, 33 (53 f.); aus der Literatur etwa Kley/Rühmann, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rz. 71. 25 BVerfG, Urteil vom 30.7.1952, BVerfGE 1, 396 (410 ff.). 22

1. Kap.: Das Verfassungsbeschwerdeverfahren

331

C. Der Maßstab der Begründetheitsprüfung Von jeher hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz in Anspruch genommen, die in einer zulässigen Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akte öffentlicher Gewalt nicht nur im Hinblick auf die darin gerügten Grundrechte, sondern unter jedem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. 26 Das entspricht der ständigen Rechtsprechung beider Senate 27 und ist auch im Schrifttum überwiegend auf Zustimmung gestoßen.28 Vor diesem Hintergrund hat die Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil, das Gericht könne „die Einräumung von Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften hier nur am Maßstab des Art. 38 GG [...] prüfen", 29 für Überraschung in der Literatur gesorgt. 30 Nicht zu Unrecht wurde angemerkt, diese Selbstbeschränkung stelle einen Widerspruch zur früheren Rechtsprechung dar, in der eine umfassende Prüfungskompetenz in Anspruch genommen wurde, wenn die Zulässigkeitshürde genommen war. 3 1 Vereinzelt ist diese Einschränkung des Prüfungsmaßstabs sogar als eine vom Gericht bewußt gezogene Grenze gegen eine übermäßige Ausweitung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens angesehen worden. 32 Für eine derartige Eingrenzung findet sich allerdings keine Begründung. Weder im Maastricht-Urteil noch - soweit ersichtlich - an anderer Stelle haben das Bundesverfassungsgericht oder das Schrifttum versucht, diese Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung zu begründen. Eine derartige dogmatische Begründung wäre wohl auch kaum zu finden: Insbesondere aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG kann eine solche Beschränkung der Prüfungsbefugnis nicht hergeleitet werden, da diese Vorschriften lediglich die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde regeln, nicht aber den Maßstab der Begründetheitsprüfung, 33 zumal der Gesetzgeber den weiten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts aner26 Siehe etwa BVerfG, Beschluß vom 4.6.1985, BVerfGE 70, 138 (162); BVerfG, Beschluß vom 12.5.1987, BVerfGE 76, 1 (74), jeweils m.w.N. 27 Dazu Träger, FS Geiger (1989), 762 (763 ff.); Müller-Franken, DÖV 1999, 590 ff. 28 Siehe etwa Träger, a.a.O. (767 ff.), mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Müller-Franken, a.a.O. (597); Pestalozza, VerfProzeßR, § 12, Rz. 32; SchmidtBleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 39; BK-Stern, Art. 93, Rz. 670. 29 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (181). 30 So z.B. Steinberger, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Staatenverbund, S. 25 (27). 31 H.-J. Cremer, EuR 1995, 21 (22), in dortiger FN 8; Hobe/Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 f. 32 A. Wolf, Prozessuale Probleme, 230. 33 Träger, FS Geiger (1989), 762 (768).

332

9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

kannt hat. 3 4 Mit seiner Stellung als Gericht wäre auch nicht vereinbar, wenn das Bundesverfassungsgericht den ihm eröffneten Prüfungsmaßstab frei verkürzen könnte, wenn, mit anderen Worten, dieser Prüfungsbefugnis keine Prüfungspflicht entspräche. 35 Des weiteren wäre eine derartige Einschränkung auch nicht erforderlich, da zum einen der vom Gericht in Anspruch genommene weite Prüfungsmaßstab sich für die Fortbildung des objektiven Verfassungsrechts bewährt hat und zum anderen das hier vertretene Verständnis des Art. 38 GG nicht zu einer unangemessenen Ausweitung des Individualrechtsschutzes führt. Nach alledem ist deshalb auch in den hier zu untersuchenden Fallgestaltungen das Bundesverfassungsgericht berechtigt und verpflichtet, eine auf eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts gestützte zulässige Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Begründetheit unter jedem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. 2. Kapitel

Sonderfall: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit Neben der bislang in dieser Arbeit zugrunde gelegten Fallgestaltung, daß eine Kompetenzverlagerung auf einem parlamentarischen Übertragungsakt beruht, ist abschließend noch die Konstellation zu behandeln, in der ein anderer sich Befugnisse des Bundestags anmaßt und das Parlament diese Kompetenzanmaßung (lediglich) duldet. In der Literatur sind in dieser Hinsicht Fälle angesprochen worden, in denen „europäische Organe" oder die Bundesregierung „Befugnisse in Anspruch nehmen, die ihnen nicht zukommen"; 3 6 ein Beispiel hierfür sei „eine Vertragsauslegung durch den EuGH nach den Prinzipien der dynamischen Auslegung, mit denen [sie!] er die vom BVerfG markierte Scheidelinie von zulässiger Vertragsauslegung zu unzulässiger Vertragserweiterung überschreiten könnte". 3 7 Als weiteres Beispiel läßt sich die von der Bundesregierung gegenüber der NATO oder den Vereinten Nationen bekundete Bereitschaft zur Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen dieser Organisationen anführen, ohne daß eine solche zuvor vom Bundestag beschlossen oder mit diesem abgestimmt wurde. 38 34

Vgl. Träger, a.a.O. (770 ff.). Träger, a.a.O. (772 f.). 36 So A. Wolf, Prozessuale Probleme, S. 201; allgemein auch Epiney, Der Staat 34 (1995), 557 (576), in dortiger FN 87. 37 A. Wolf, a.a.O. 38 Zu der staatsrechtlichen Problematik dieser Fallgestaltung ausführlich Hillgruber, FS Leisner, S. 53 ff. 35

2. Kap.: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit

333

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem derartigen Fall klargestellt, daß solche außenpolitischen Abreden der Exekutive nicht aus dem parlamentarischen Verantwortungsbereich herausfallen dürfen. 39 In derartigen Fallgestaltungen besteht die Besonderheit, daß kein aktives Handeln des Bundestags vorliegt, das Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein könnte. Vielmehr verhält sich das Parlament, das einen solchen Kompetenzübergriff duldet, rein passiv gegenüber einem expansiven, in den parlamentarischen Befugnisbereich hineingreifenden Handeln des anderen Organs bzw. der sonstigen Institution. Im Ergebnis liegt freilich auch hier eine Kompetenzverlagerung vor, so daß für dogmatische Begründung und Reichweite der faktischen Wahlrechtsbeeinträchtigung auf die bisherigen Ausführungen verwiesen werden kann. Prozessual jedoch führt diese Konstellation zu der Schwierigkeit, daß ein mit der Verfassungsbeschwerde angreifbarer - und gegebenenfalls vom Bundesverfassungsgericht aufzuhebender - parlamentarischer Akt zunächst nicht ersichtlich ist. Stattdessen könnte entweder nur der - aktive - Kompetenzübergriff des Handelnden Anknüpfungspunkt für einen Individualrechtsschutz aus Art. 38 GG sein. Oder der Einzelne könnte auf die Rüge zu verweisen sein, daß der Bundestag sich gegen diesen Eingriff in seine Befugnisse nicht (ausreichend) zur Wehr gesetzt hätte. Vor diesem Hintergrund ist deshalb fraglich, in welchem Umfang der einzelne Wahlberechtigte auch hier Rechtsschutzmöglichkeiten besitzt.

A. Die Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch deutsche Organe Keine grundlegenden Besonderheiten bestehen bei einer Kompetenzanmaßung durch deutsche Organe, das heißt in denjenigen Fallgestaltungen, in denen Organe der Exekutive, aber auch der Judikative oder gar der Legislative eigenmächtig Befugnisse des Bundestags wahrnehmen und auf diese Weise das Parlament von einer eigenen Entscheidung ausschließen. Aufgrund der umfassenden Bindung aller drei Staatsgewalten an die grundrechtlichen Gewährleistungen in Art. 1 Abs. 3 GG dürfen alle Organe dem Bundestag nicht Befugnisse in einem Umfang entziehen, in dem das Parlament selbst sie nicht übertragen dürfte. Auch ein derartiger Übergriff in den Kompetenzbereich des Bundestags läßt sich dogmatisch darum als faktische Beeinträchtigung des subjektiven Bundestagswahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG auffassen. Für die Begründung und die Reichweite der hier vertretenen Interpretation kann auf die bisherigen Ausführungen verwiesen werden. 39

BVerfG, Urteil vom 12.7.1994, BVerfGE 90, 286 (376).

334

9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

Verfassungsprozessual bestehen insoweit ebenfalls keine Besonderheiten: Dem einzelnen Wahlberechtigten kann im Einzelfall die Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf sein Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG eröffnet sein, soweit auch hier eine Grundrechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG möglich erscheint. Beschwerdegegenstand ist hier der Akt, mit dem das andere staatliche Organ in den Befugnisbereich des Bundestags übergreift.

B. Die Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch außerdeutsche Institutionen I. Die Problemstellung Eine differenzierte Betrachtung erfordert demgegenüber die Fallgestaltung, in der eine außerdeutsche 40 Institution eigenmächtig Befugnisse des Bundestags an sich zieht und auf diese Weise den parlamentarischen Kompetenzbereich beschneidet. Denn hier fehlt ein aktives Tätigwerden des Bundestags oder sonstiger deutscher Organe, das mit der Verfassungsbeschwerde direkt angreifbar wäre. Da zudem außerdeutsche Rechtsprechungsinstitutionen, beispielsweise der Europäische Gerichtshof - sofern sie überhaupt vom Einzelnen angerufen werden können 41 - als Maßstab richterlicher Kontrolle selbstverständlich nicht Art. 38 Abs. 1 GG zugrunde legen, kommt auch ein durch diese Institutionen vermittelter Rechtsschutz nicht in Betracht. Überhaupt bestehen Zweifel an der Grundrechtsverpflichtung einer außerdeutschen Institution. Denn die Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG erstreckt sich wegen der auf das „Gefüge der deutschen Staatsorganisation" begrenzten Geltung des Grundgesetzes 42 grundsätzlich nur auf die deutschen Staatsgewalten;43 die Rechtsweggarantie gegenüber der „öffentlichen Gewalt" in Art. 19 Abs. 4 GG erfaßt im Grundsatz ebenfalls nur ein Handeln deutscher Organe; 44 und auch die Verfassungsbeschwerde richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG grundsätzlich ausschließlich gegen die deutsche „öffentliche Gewalt". 4 5 Das hat zur Folge, 40

Das Adjektiv „außerdeutsch" erscheint hier zur Kennzeichnung besser geeignet als „ausländisch", da von ihm auch Eingriffe internationaler bzw. supranationaler Organisationen erfaßt werden und ein Handeln eines ausländischen Staats ohnehin kaum in Betracht kommen dürfte; vgl. dazu näher oben 5. Teil, 1. Kapitel, Α., für parlamentarische Kompetenzübertragungen. 41 Im Falle des EuGH vgl. Art. 230 IV EGV. 42 BVerfG, Beschluß vom 18.10.1967, BVerfGE 22, 293 (297); BVerfG, Beschluß vom 23.6.1981, BVerfGE 58, 1 (26). 43 Stern, StaatsR m/1, S. 1229, m.w.N. 44 BVerfG, Beschluß vom 23.6.1981, BVerfGE 58, 1 (26 f.); BVerfG, Beschluß vom 10.11.1981, BVerfGE 59, 63 (85 f.).

2. Kap.: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit

335

daß ein Akt einer außerdeutschen Institution im Prinzip nicht vom Bundesverfassungsgericht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden kann. Dieser Befund gilt unstreitig für ein Handeln internationaler Organisationen: Deren Handeln kann vom Bundesverfassungsgericht nicht an den grundgesetzlichen Grundrechten gemessen werden. Eine hierauf gestützte Verfassungsbeschwerde ist unzulässig 46

II. Sonderfall: Handeln von EG-Organen Unklar war nach dem bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteil jedoch zunächst, inwieweit das Bundesverfassungsgericht sich für befugt erachtete, Akte der EG-Organe an den deutschen Grundrechten zu prüfen. Diese Unsicherheit ging zurück auf die folgende Textpassage in der genannten Entscheidung: „Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 [57]). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem »Kooperationsverhältnis4 zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (vgl. BVerfGE 73, 339 [387]) beschränken kann." 47 1. Die Position des Schrifttums Ein Teil der Literatur verstand dies dahin, daß das Bundesverfassungsgericht mit dieser Aussage eine Kompetenz zur Prüfung von EG-Rechtsakten am Maßstab der grundgesetzlichen Grundrechte in Anspruch nehme. 48 Für 45

BVerfG, Beschluß vom 11.10.1951, BVerfGE 1, 10 (11); BVerfG, Beschluß vom 6.11.1956, BVerfGE 6, 15 (18); BVerfG, Beschluß vom 6.6.1967, BVerfGE 22, 91 (92); BVerfG, Beschluß vom 18.10.1967, BVerfGE 22, 293 (295); BVerfG, Beschluß vom 29.5.1974, BVerfGE 37, 271 (283). 46 Vgl. Stern, StaatsR m/1, S. 1236. 47 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, BVerfGE 89, 155 (175). 48 So z.B. Gersdorf, DVB1. 1994, 674; Höfling, in Sachs, GG, Art. 1, Rz. 82; Horn, DVB1. 1995, 89 (92); Schmidt-Aßmann, FS Bernhardt, S. 1283 (1303); Zuck/ Lenz, NJW 1997, 1193 (1194); zurückhaltend aber Frowein, ZaöRV 54 (1994), 1 (2 f.): es werde „der Eindruck erweckt, als ob das Bundesverfassungsgericht sich

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9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

die vorliegend zu untersuchende Fallgestaltung würde das bedeuten, daß das Gericht sich ausnahmsweise als befugt ansähe zu prüfen, ob das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG durch ein die Befugnisse des Deutschen Bundestags verletzendes Handeln von EG-Organen beeinträchtigt würde. Die ganz herrschende Auffassung im Schrifttum verneint demgegenüber eine solche Befugnis des Bundesverfassungsgerichts 49 und würde somit eine Prüfungskompetenz des Gerichts auch für die vorliegende Konstellation ablehnen. 2. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht selbst meint nunmehr freilich, nach wie vor von den in seiner Solange-II-Entscheidung 50 entwickelten Grundsätzen auszugehen, in denen es eine Zurücknahme seiner Gerichtsbarkeit über in Deutschland wirkende EG-Akte angekündigt hatte. Bereits 1997 formulierte das Gericht, es komme nicht darauf an, „welcher grundrechtliche Maßstab auf abgeleitetes Gemeinschaftsrecht anwendbar ist". 5 1 Diese Äußerung wurde in der Literatur als ein erstes vorsichtiges Abrücken von der Formulierung in der Maastricht-Entscheidung gewertet. 52 Dezidiert gegen die ihm vom Schrifttum teilweise zugeschriebene Kompetenz sprach sich das Bundesverfassungsgericht dann in einem Beschluß aus dem Jahre 2000 aus. In einem Normenkontrollverfahren über die Frage, ob die EG-Bananenmarktordnung mit ihren teilweise prohibitiven Zollsätzen für Bananen bestimmter Herkunftsländer mit den deutschen Grundrechten vereinbar ist, erklärte das Gericht die Vorlage für unzulässig. Die vielerorts als überraschend angesehene53 Begründung lautete, die Vorlage des Verwaltungsgerichts Frankfurt beruhe schlicht „auf einem Mißverständnis des Maastricht-Urteils": 54 eine Nachprüfungsbefugnis im Einzelfall vorbehalte"; ähnlich Pernice, GS Grabitz, S. 523 (533): „Eine neue Art von Verwerfungskompetenz [...] scheint sich jetzt freilich aus der Maastricht-Entscheidung des BVerfG zu ergeben". Auf dieser Linie auch Streinz, in Sachs, GG, Art. 23, Rz. 50; Tietje, JuS 1994, 197 (199 f.). 49 Siehe nur Frowein, a.a.O. (4 f.); Graf Vitzthum, JZ 1998, 161 (162); Schröder, DVB1. 1994, 316 (323); Schwarze, NJ 1994, 1 (3); Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (490); vgl. daneben auch die vor dem Maastricht-Urteil verfaßten Kommentierungen von Papier, in HdBStR VI, § 154, Rz. 23; Schmidt-Aßmann, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 19 Abs. IV, Rz. 46 ff.; Stern, StaatsR III/l, S. 1236; Wassermann, in AK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rz. 43, jeweils m.w.N. In der Einschätzung der Literatur wie hier Horn, DVB1. 1995, 89. 50 BVerfG, Beschluß vom 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 (387). 51 BVerfG, Beschluß vom 22.1.1997, DVB1. 1997, 548 (549). 52 Vgl. etwa Graf Vitzthum, JZ 1998, 161 (163), in dortiger FN 21. 53 So etwa Kerscher, Süddeutsche Zeitung, Nr. 176 vom 2.8.2000, S. 21.

2. Kap.: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit

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„Das vorlegende Gericht meint, das Bundesverfassungsgericht übe seine Prüfungsbefugnis nach dem Maastricht-Urteil entgegen der Solange II-Entscheidung ausdrücklich wieder aus, wenn auch in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof. Diese Aussage kann dem Maastricht-Urteil nicht entnommen werden. Der Senat zitiert an der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Stelle ausdrücklich seine Solange II-Entscheidung mit den Ausführungen, welche die beschränkte Ausübung seiner Gerichtsbarkeit formulieren. Dass der Senat im Maastricht-Urteil weder an dieser noch an anderer Stelle seine in BVerfGE 73, 339 niedergelegte Auffassung über die Abgrenzung der Rechtsprechungszuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht und umgekehrt aufgegeben hat, wird auch an den vorausgehenden Erwägungen (BVerfGE 89, 155 ) deutlich. Schließlich erörtert der Senat diese Fragen im Abschnitt über die Zulässigkeit des Verfassungsrechtsbehelfs, nicht hingegen in dem über die Begründetheit (BVerfGE 89, 155 ). Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Annahme eines Widerspruchs zwischen den Entscheidungen Solange II und Maastricht ohne tragfähige Grundlage."55 Unabhängig von der Frage, was von dem Argument des Bundesverfassungsgerichts zu halten sein mag, die Zuschreibung seiner Kompetenz zur Überprüfung von EG-Akten an den deutschen Grundrechten beruhe lediglich auf einem Mißverständnis des Maastricht-Urteils, 56 ist festzuhalten, daß das Gericht in dem Beschluß eine umfassende Prüfungsbefugnis nicht in Anspruch nimmt, sondern weiterhin dem im „Solange-II-Beschluß" entwikkelten Maßstab folgt. Der auf die zitierte Textpassage der Maastricht-Entscheidung gestützten, weitergehenden Auffassung in Teilen der Literatur ist damit der Boden entzogen.

3. Folgerungen für die hiesige Fragestellung Im Ergebnis bleibt es daher bei der vor dem Maastricht-Urteil wohl allgemein konsentierten Formel der Solange-II-Entscheidung. Dort hieß es, es sei ein Schutz zu gewährleisten, „der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt". 57 Damit wird einerseits lediglich ein Kernbereich der Grundrechte verfassungsrechtlich geschützt, 58 mithin nicht jede Grundrechtsgewährleistung in ihrem vollen 54

BVerfG, Beschluß vom 7.6.2000, NJW 2000, 3124. BVerfG, a.a.O. (3125). 56 Verwundert über diese Begründung etwa Kerscher, Süddeutsche Zeitung, Nr. 176 vom 2.8.2000, S. 4. 57 BVerfG, Beschluß vom 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 (387). 58 So ausdrücklich Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193 (1195): „Dabei wird man keinen Millimetermaßstab anlegen können"; ähnlich Pernice , GS Grabitz, S. 523 (534): 55

22 Soppe

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9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

Umfang. Andererseits erfolgt diese Gewährleistung auch nur „generell", das heißt nicht in jedem Einzelfall, 59 sondern nur unter der Voraussetzung, daß der Europäische Gerichtshof die „Grundrechte schlechthin und generell nicht anzuerkennen oder zu schützen bereit und in der Lage und daß damit das vom Grundgesetz geforderte Maß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten" 60 ist. Angesichts dieser doppelten Einschränkung des Grundrechtsschutzes wird die hier zugrunde gelegte Fallgestaltung einer Anmaßung von Bundestagskompetenzen durch ein EG-Organ von dem zurückgezogenen Maßstab des Bundesverfassungsgerichts nicht erfaßt. Mithin hat der Einzelne keine Möglichkeit, ein derartiges Handeln eines Gemeinschaftsorgans unter Berufung auf sein subjektives Wahlrecht gerichtlich überprüfen zu lassen. 4. Zwischenergebnis Damit scheidet eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Kompetenzanmaßung von EG-Organen zu Lasten des Bundestags aus.

ΙΠ. Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Bundestags Kann somit nach alledem ein individueller Rechtsschutz nicht an den Akt der außerdeutschen Institution selbst anknüpfen, so ist zu fragen, ob der Einzelne vom Parlament verlangen kann, daß dieses sich seinerseits gegen die Beschneidung seiner Befugnisse zur Wehr setze. In diesem Fall würde ein Rechtsbehelf des Wahlberechtigten daran ansetzen, daß der Bundestag gegen den Übergriff in seine Kompetenzen untätig bleibt und diesen Eingriff im Einzelfall sogar billigen mag. Im Wege der Verfassungsbeschwerde könnte der Einzelne möglicherweise die parlamentarische Untätigkeit rügen und so den Bundestag verpflichten, seine Befugnisse selbst auszuüben oder zurückzuholen. Falls das Parlament dieses Tätigwerden ablehnte, könnte der Wahlberechtigte gegen die Ablehnung gegebenenfalls die oben 61 dargestellten allgemeinen Rechtsbehelfe ergreifen. „... auf Extremfälle beschränkt, deren Eintreten [...] tatsächlich kaum zu erwarten ist". 59 Vgl. Frenz, Der Staat 34 (1995), 586 (588); Graf Vitzthum, JZ 1998, 161 (163); ausführlich Huber, EuZW 1997, 517 (519 f.). 60 BVerfG, Beschluß vom 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 (387); ähnlich Pernice, GS Grabitz, S. 523 (545): Kontrolle durch das BVerfG setze erst dann an, „wenn deutlich wird, daß Grundrechte durch die Gemeinschaft generell und in ihrem Wesen evident mißachtet werden"; siehe auch Horn, DVB1. 1995, 89 (91). 61 Oben 1. Kapitel.

2. Kap.: Entmachtung des Parlaments bei dessen Untätigkeit

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Für einen derartigen Individualrechtsschutz, der mit seiner Rechtsfolge im Ergebnis 62 eine gerichtliche Verpflichtung des Staatsorgans zum Tätigwerden unter Beachtung der Auffassung des Gerichts - entfernt an die verwaltungsrechtliche Bescheidungsklage nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO erinnert, spricht zunächst, daß auf diese Weise eine Rechtsschutzlücke geschlossen wird. Denn der Einzelne kann, wie oben dargelegt, 63 sofern ein Beschluß des Bundestags über die Kompetenzverlagerung fehlt, die faktische Beeinträchtigung seines Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG gegenüber der handelnden Institution nicht geltend machen. Mangels Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts 64 über den außerdeutschen Hoheitsakt wäre der Wahlberechtigte insoweit schutzlos. Zudem bestünde die Möglichkeit des Parlaments, eine Kompetenzverlagerung nicht ausdrücklich zu beschließen, sondern - um den dagegen bestehenden Individualrechtsschutz auszuhebeln - einen entsprechenden Kompetenzübergriff des zu Ermächtigenden schlicht zu dulden und so einer am Wahlrecht anknüpfenden verfassungsgerichtlichen Überprüfung von vornherein den Boden zu entziehen. Auch diese Gefahr wäre durch das Institut einer Verfassungsbeschwerde gegen die parlamentarische Untätigkeit gebannt. Aus dogmatischer Sicht könnte hiergegen freilich einzuwenden sein, daß es sich um eine bloße Hilfskonstruktion handele, die am falschen Punkt anknüpfe. Der Schwerpunkt der faktischen Beeinträchtigung des Wahlrechts liege hier, so ließe sich eventuell argumentieren, im aktiven Übergriff der außerdeutschen Institution und nicht in der bloßen Untätigkeit des Parlaments. Es könnte deshalb eine Verbindung zu den Fallgestaltungen - etwa im Bereich des Umweltrechts - zu ziehen sein, in denen der Einzelne zum Schutz seiner Rechtsgüter (Gesundheit, Leben, aber auch Eigentum) ein Tätigwerden des staatlichen Gesetzgebers verlangt, anstatt gegen einen (potentiellen) Schädiger selbst vorzugehen. Klagen, die auf bestimmte Maßnahmen des Gesetzgebers gerichtet werden, 65 sind dort häufig erfolglos. 62 Prozessual würde das BVerfG gegebenenfalls freilich nur feststellen, daß das Unterlassen des Bundestags eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG darstellt; vgl. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG: „... festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche [...] Unterlassung sie verletzt wurde." Für die Fälle einer Beschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen ebenso Rentiert, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 95, Rz. 39; Mosti, DÖV 1998, 1029 (1039). Die Verpflichtung des Parlaments, den als verfassungswidrig erkannten Zustand zu beseitigen, ergibt sich hier aus der allgemeinen Regel des § 31 Abs. 1 BVerfGG, vgl. Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 95, Rz. 42 a.E. 63 Siehe oben II. 64 Oder auch jedes anderen Rechtsprechungsorgans, vgl. oben I. 65 Beispielsweise auf die generelle Einführung von Höchstgeschwindigkeiten für Kraftfahrzeuge (dazu etwa BVerfG [2. Kammer des 1. Senats], Beschluß vom 26.10.1995, NJW 1996, 651 f.); die Festsetzung bestimmter Immissionsgrenzwerte als Voraussetzung für Verkehrsverbote (dazu etwa BVerfG [1. Kammer des 1. Se22*

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9. Teil: Die prozessuale Durchsetzung dieses Recht

Einer solchen Argumentation läßt sich jedoch folgendes entgegenhalten: Generell kann ein Unterlassen nur dann mit einem juristischen Vorwurf verknüpft werden, wenn eine rechtliche Pflicht zum Handeln besteht. Ein solcher Grundsatz besteht im Strafrecht, 66 im Zivilrecht 6 7 und auch im Verfassungsrecht. 68 Dementsprechend ist in den Fällen, in denen ein gesetzgeberisches Eingreifen verlangt wurde, stets versucht worden, eine entsprechende Handlungspflicht des Staats aus der Verfassung abzuleiten. Da die Rechtsprechung mit der Annahme konkreter, aus dem Grundgesetz folgender Handlungspflichten für den Gesetzgeber jedoch zu Recht zurückhaltend ist, 6 9 waren hierauf gerichtete Klagen oftmals erfolglos. Vorliegend besteht jedoch die Besonderheit, daß eine Pflicht des Parlaments zur Wahrnehmung seiner Kompetenzen tatsächlich besteht und eine Parallele zu den oben genannten Fällen einer vom Gesetzgeber begehrten Tätigkeit mithin ausscheidet. Denn der Bundestag ist, wie oben 7 0 im einzelnen ausgeführt, zur eigenständigen Wahrnehmung seiner Befugnisse verpflichtet. Eine übermäßige Delegation von Kompetenzen ist ihm ebenso untersagt wie der schlichte Ausübungsverzicht. Diese Pflicht des Parlaments ist des weiteren nicht allein objektiv-rechtlich ausgeprägt, sondern sie besteht, weil ein Verstoß gegen sie zugleich eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG bedeuten kann, auch gegenüber dem einzelnen Wahlberechtigten. Dieser ist daher auch befugt, sie (verfassungs-) gerichtlich einzufordern. Der mögliche Verweis auf die unterschiedlich gelagerte Situation bei anderen Grundrechten überzeugt deshalb nicht. Das gleiche gilt von dem denkbaren Hinweis auf eine möglicherweise unrichtige Anknüpfung. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren sind Verfahrensgegenstand alle jeweils grundrechtsverletzenden Handlungen des Staats. So richtet sich beispielsweise eine Verfassungsbeschwerde gegen ein bestimmtes Verwaltungshandeln nach der - laut § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erforderlichen - erfolglosen Erschöpfung des Rechtswegs sowohl gegen das Exekutivhandeln als auch gegen die klageabweisenden Entscheidungen der angerufenen Fachgerichte. 71 Soweit demgegenüber in der vorliegenden Konstellation das Handeln der außerdeutschen Institution - wie dargelegt 72 nats], Beschluß vom 29.11.1995, NJW 1996, 651); zu weiteren Entscheidungen des BVerfG und zur Dogmatik ausführlich Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 43 ff.; zur verfassungsprozessualen Seite Möstl, DÖV 1998, 1029 ff. 66 Vgl. § 13 Abs. 1 StGB. 67 Siehe etwa zum Schadensersatzrecht allgemein Larenz, SchuldR I, § 27 III c; zum Deliktsrecht Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 76 III 3. 68 Vgl. nur Stern, StaatsR III/1, S. 1285, mit umfangreichen Nachweisen. 69 Siehe etwa BVerfG, Beschluß vom 14.1.1981, BVerfGE 56, 54 (80 ff.). 70 Oben 2. Teil, 2. Kapitel. 71 Schmidt-Bleibtreu, in Maunz et al., BVerfGG, § 90, Rz. 179. 72 Oben II.

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- einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung entzogen ist, ist kein Grund ersichtlich, warum das zugleich für das (unterbliebene) Handeln des Bundestags gelten soll. Dieses bleibt nach den allgemeinen Regeln verfassungsgerichtlich justitiabel. Schließlich hat die hier vertretene Lösung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Bundestags integrationspolitisch den Vorteil, daß ein rechtlicher Kompetenzkonflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der handelnden internationalen bzw. europäischen Institution vermieden wird. Denn entgegen der vom Verfassungsgericht im Maastricht-Urteil angeblich in Anspruch genommenen Kompetenz, EG-Akte gerichtlich für unanwendbar zu erklären, wird das Gericht nach der hiesigen Lösung zurückhaltender tätig. Eine Verletzung der völkerrechtlich übernommenen oder gemeinschaftsrechtlich bestehenden Pflichten dadurch, daß der Akt der Internationalen Organisation oder der EG durch Nichtdurchführung oder verfassungsgerichtliche Aufhebung 73 mißachtet würde, wird so vermieden. Stattdessen stellt das Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls lediglich fest, daß der Bundestag mit seiner Untätigkeit das Grundrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG verletzt hat. Wenn auf diese Weise der Bundestag dann der Sache nach verpflichtet wird, den Eingriff in seine Kompetenzen abzuwehren oder rückgängig zu machen, wird er dies mit politischen Mitteln tun, etwa die Bundesregierung zu einem entsprechenden (Abstimmungs-) Verhalten in der betreffenden internationalen oder europäischen Institution auffordern oder direkt auf diese Einrichtung zur Korrektur ihres Akts einwirken. 7 4 Auf diese Weise bleibt dem Parlament die Entscheidung darüber erhalten, wie es seiner grundgesetzlichen Pflicht nachkommen w i l l . 7 5 Zudem lassen sich nur so die jeweiligen Rechtspflichten der deutschen Staatsgewalt - Grundrechtsbindung einerseits, Völker- bzw. gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen andererseits - harmonisieren. Originär politische Zuständigkeitskonflikte zwischen Bundestag und außerdeutscher Institution könnten schließlich auf politischem Wege gelöst werden; das Recht bleibt auf die Überwachung der rechtlichen Grenzen beschränkt und gibt erforderlichenfalls nur einen Anstoß zum politischen Handeln. 76 73

Vgl. Stern, StaatsR III/l, S. 1237. Vgl. Stern, a.a.O., auch zum folgenden; ferner Frenz, Der Staat 34 (1995), 586 (601). 75 Vgl. BVerfG, Urteil vom 16.10.1977, BVerfGE 46, 160 (164): „Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung [...] erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden." Zum „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum" der Staatsorgane auch Möstl, DÖV 1998, 1029 (1037 f.). 76 Eine im Ergebnis ähnliche Lösung schlägt Hillgruber, FS Leisner, S. 53 (74), für den Fall vor, daß das BVerfG in einem vom Bundestag eingeleiteten Organstreitverfahren feststellt, „der Ermächtigungsrahmen eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag sei überschritten und deshalb Art. 59 Abs. 2 Satz 1 74

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IV. Ergebnis zur Wahrnehmung von Bundestagsbefugnissen durch außerdeutsche Institutionen Nach alledem kann der Einzelne, sofern eine außerdeutsche Institution, deren Handeln bundesverfassungsgerichtlich nicht justitiabel ist, in die Befugnisse des Parlaments eingreift und dadurch das Wahlrecht des Art. 38 Abs. 1 GG faktisch beeinträchtigt, vom Bundestag verlangen, daß dieser den Übergriff in seine Kompetenzen abwehre bzw. rückgängig mache.

C. Ergebnis zum 2. Kapitel Somit stehen dem Einzelnen auch dann Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung, wenn das Parlament durch einen Übergriff anderer Organe oder Institutionen in seine Befugnisse entmachtet wird, ohne selbst eine Kompetenzverlagerung beschlossen zu haben. Beim Handeln eines deutschen Organs ist dieses selbst Grundrechtsadressat des Art. 38 Abs. 1 GG, so daß sein Übergriff vom Wahlberechtigten nach den allgemeinen Regeln angefochten werden kann. Bei einem Eingriff durch außerdeutsche Institutionen kann der Einzelne vom Bundestag die Abwehr oder Rückabwicklung dieser Kompetenzverletzung verlangen.

GG verletzt". Dies „zwingt die Bundesregierung mittelbar dazu, eine Vertragsrevision zu initiieren; sie gegen den Willen der anderen Vertragspartner zu erzwingen, steht nicht in ihrer Macht. Gelingt es ihr nicht, einen Konsens über eine »klarstellende4 Vertragsänderung herbeizuführen, muß sie aus verfassungsrechtlichen Gründen abseits stehen, sobald der bisherige Vertragsrahmen verlassen wird. Das mag »beteiligte Staaten und Organisationen befremden 4, muß aber verfassungsrechtlich um der zu schützenden Integrität der Verfassung willen hingenommen werden."

10. T e i l

Thesen Im folgenden sollen die Ergebnisse der Arbeit in Thesenform überblicksartig zusammengefaßt werden. A. Die Frage, inwieweit parlamentarische Kompetenzverlagerungen den Einzelnen in seinem in Art. 38 Abs. 1 GG grundrechtsgleich gewährleisteten Wahlrecht verletzen, ist bereits mehrfach Gegenstand von Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gewesen. B. Dabei ist für die vorliegende Fragestellung einerseits zu berücksichtigen, daß der Bundestag nach objektivem Recht grundsätzlich zur Wahrnehmung seiner Kompetenzen verpflichtet ist und sie nur in eng begrenzten Ausnahmen auf andere Organe übertragen darf. Andererseits zeigt eine Betrachtung des überkommenen Schutzbereichs von Art. 38 Abs. 1 GG, daß subjektive Rechte des Einzelnen an einer grundgesetzkonformen Ausübung der parlamentarischen Befugnisse bislang nicht gesehen wurden. C. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 anerkannt, daß Art. 38 Abs. 1 GG es „ i m Anwendungsbereich des Art. 23 GG" ausschließt, „die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird". Diese Auslegung hat das Gericht in mehreren nachfolgenden Entscheidungen ausdrücklich bestätigt. D. Eine Analyse dieser Rechtsprechung ergibt freilich, daß weder den Gründen noch der Verfahrensgeschichte des Maastricht-Urteils noch den folgenden Entscheidungen eine dogmatische Begründung für das vom Gericht anerkannte „subjektive Recht auf Demokratie" zu entnehmen ist. E. Auch die vorherige Rechtsprechung sowie die frühere Lehre bieten keine gesicherte Ausgangsbasis für die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Anreicherung des Schutzbereichs von Art. 38 Abs. 1 GG. F. Wohl auch deshalb ist insoweit die Maastricht-Entscheidung in weiten Teilen des europa- und verfassungsrechtlichen Schrifttums auf Kritik gestoßen. Neben der fehlenden dogmatischen Absicherung wurde dort insbeson-

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10. Teil: Thesen

dere die Weite der Auslegung samt ihrer angeblichen verfassungsprozessualen Auswirkungen („Zulassung der Popularklage") kritisiert. G. Im Anschluß an das Maastricht-Urteil wurde trotz einer Flut von Stellungnahmen lediglich vereinzelt versucht, die in der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung fehlende dogmatische Aufarbeitung nachzuholen. Die dazu entwickelten Ansätze können jedoch nicht überzeugen: Entweder sprengen sie das überkommene Verhältnis der Staatsorgane zueinander, wenn dem Bundesverfassungsgericht, etwa mit dem Postulat eines „judicial activism", eine überragende Machtposition zugeschrieben wird. Oder sie gehen von Prämissen aus, die ihrerseits unsicher sind, das entscheidende Argument für das „Umschlagen" in eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung vermissen lassen bzw. das Verhältnis der einzelnen Grundrechtsgewährleistungen zueinander mißdeuten. H. Auch eine grammatische und historische Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG erweist sich als nicht weiterführend, ebenso der Versuch einer extensiven Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze oder die Untersuchung etwaiger Parallelen zu anderen Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen. I. Nach alledem ist eine materiellrechtliche Aufladung des wahlrechtlichen Schutzbereichs dogmatisch überzeugend wohl nicht zu begründen. Vielmehr ist nach dem hier zu entwickelnden Lösungsvorschlag an der Eingriffsseite anzusetzen. Dabei zeigt sich, daß die Delegation von Kompetenzen durch den Bundestag eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG darstellen kann. J. Denn der dem Verwaltungsakt korrespondierende klassische Eingriffsbegriff wurde in den letzten Jahrzehnten von Rechtsprechung und Lehre in allen seinen Merkmalen ausgeweitet, so daß heute anerkannt ist, daß auch indirekte Eingriffe im Sinne von faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigungen den Schutzbereich eines Grundrechts berühren können. K. Diese Erweiterung des Eingriffsbegriffs wurde freilich zunächst für die abwehrrechtlichen Gewährleistungen des status negativus entwickelt. Während es in der Literatur Versuche gibt, dies auch auf den Bereich der Leistungsgrundrechte im positiven Status zu übertragen, steht eine grundlegende Betrachtung der Eingriffsdogmatik im Bereich des Aktivstatus soweit erkennbar - bislang aus. L. Jedenfalls für das Wahlrecht als einen Teil der aktivrechtlichen Gewährleistungen im Grundgesetz finden sich allerdings Formulierungen in Rechtsprechung und Literatur, die auf die Möglichkeit indirekter Beeinträchtigungen des subjektiven Wahlrechts hindeuten. Auch die Struktur des Wahlrechts und die weitreichenden Gemeinsamkeiten zwischen Wahlrecht

10. Teil: Thesen und Abwehrrechten sprechen dafür, den erweiterten Eingriffsbegriff auf diesen Fall einer Grundrechtsgewährleistung im Aktivstatus anzuwenden. M. Zwar gibt es in der neueren Literatur Ansätze, die Fallgruppe indirekter Grundrechtseingriffe nicht durch eine Erweiterung des Eingriffsbegriffs, sondern durch eine Ausdehnung des Schutzbereichs zu erfassen, indem etwa ein „funktionaler Schutzbereich" postuliert wird oder bestimmte Umweltbezüge in den Schutzbereich hineingelesen werden. Jedenfalls für das Wahlrecht, dessen historisch gewachsener Schutzbereich nicht beliebig ausgedehnt werden kann, ist das jedoch abzulehnen. N. Läßt sich somit abstrakt die Dogmatik des erweiterten Eingriffsbegriffs auf das Wahlrecht übertragen, so zeigt sich, daß auch konkret die parlamentarische Kompetenzabgabe eine indirekte Wahlrechtsbeeinträchtigung darstellen kann. Denn wenn die Kompetenzdelegation einer parlamentarischen Selbstentmachtung gleichkommt, wird dem dann nurmehr rein formal gewährleisteten Wahlrecht der Sinn entzogen. Das entspricht der aus der Dogmatik zu Art. 14 GG bekannten Konstellation des enteignenden Eingriffs, bei der ein hoheitliches Handeln faktisch derart auf eine Eigentumsposition einwirkt, daß diese zwar nicht formal betroffen ist, aber tatsächlich entwertet wird. Auch für Art. 12 GG sind vergleichbare Fallgestaltungen anerkannt, wenn etwa bestimmte Abgabenregelungen eine „erdrosselnde Wirkung" haben und so die Ausübung eines bestimmten Berufs wirtschaftlich sinnlos machen oder wenn die freie Berufswahl dadurch faktisch unmöglich gemacht wird, daß ein Wechsel des Arbeitsplatzes zu rechtlich angeordneten, gravierenden wirtschaftlichen Nachteilen führt. Hinzu kommt im Bereich des Art. 38 Abs. 1 GG, daß sinnentleerte Wahlen eine staatlich inszenierte Farce bedeuten würden und die parlamentarische Selbstentmachtung zudem das „rechtliche Umfeld" des Wahlrechts stark beeinträchtigen würde. O. Gegenüber diesem Lösungsansatz greifen die gegen das bundesverfassungsgerichtliche Maastricht-Urteil in der Literatur geltend gemachten Bedenken nicht durch. Insbesondere wird hierdurch keine Popularklage eröffnet, da jeder Wahlberechtigte - nur solche kommen als Grundrechtsträger in Betracht - in seinem Wahlrecht selbst betroffen ist. Ferner werden dem Bundestag keine Einschränkungen auferlegt, denen er nach objektivem Recht nicht ohnehin bereits unterworfen ist, mithin findet auch keine Machtverschiebung von der Legislative zur Judikative statt. P. Diese hier zunächst für den rein innerstaatlichen Raum entwickelte Konzeption läßt sich auch auf Konstellationen übertragen, in denen der Bundestag Kompetenzen nicht auf andere deutsche Organe, sondern auf Institutionen der Europäischen Union überträgt; aus Art. 23 GG folgen insoweit keine Besonderheiten.

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10. Teil: Thesen

Q. Gleiches gilt für die Fälle einer parlamentarischen Kompetenzabgabe an völkerrechtliche Institutionen; aus Art. 24 GG ergeben sich ebenfalls keine besonderen Einschränkungen. R. Gegenüber dieser rein grundgesetzlichen Betrachtungsweise kommt eine rechtsvergleichende Betrachtung der Verfassungslage in ausgewählten anderen europäischen Staaten zu uneinheitlichen Ergebnissen. In Frankreich kommt mangels verfassungsrechtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen ein „subjektives Recht auf Demokratie" ebensowenig in Betracht wie im Vereinigten Königreich, wo der Einzelne zwar in weitem Umfang zur Klage berechtigt ist, aber das Parlament souverän und nicht an unübersteigbare Verfassungsschranken gebunden ist. Demgegenüber wird in der Schweiz und Liechtenstein das Wahlrecht teilweise auch als Organkompetenz aufgefaßt, was allerdings weniger eine Verstärkung der individuellen Rechtsposition, als vielmehr eine Pflichtenstellung des Einzelnen zur Folge hat. Hingegen gibt es in Portugal eine umfassende verfassungsrechtliche Gewährleistung, unter welche die hiesige Fragestellung subsumiert werden könnte. Und in Dänemark schließlich hat der Oberste Gerichtshof im dortigen Maastricht-Verfahren dem Einzelnen sehr weitgehend ein Rechtsschutzbedürfnis zuerkannt, wenn es um Fragen von allgemeiner und tiefgreifender Bedeutung für das gesamte Volk geht. S. Auf der völkerrechtlichen Ebene lassen sich ferner einige Abkommen nachweisen, in denen - großenteils auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland - sehr weitreichende Teilhaberechte des Einzelnen an der Ausübung der staatlichen Gewalt verankert sind, die einem subjektiven Recht auf Demokratie sehr nahekommen. Hier ist insbesondere auf Art. 25 lit. a des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechts hinzuweisen. T. Für die Reichweite des subjektiven Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG liefern die bisherigen Ansätze im Schrifttum ebenfalls keine überzeugenden Antworten. Jedoch lassen sich Erkenntnisse daraus gewinnen, daß - entsprechend der dogmatischen Grundlegung - auch hier auf die Dogmatik von den indirekten Grundrechtsbeeinträchtigungen zurückgegriffen wird. Dabei erweist sich insbesondere das Kriterium der Beeinträchtigungsintensität als maßgeblich: Je mehr Kompetenzen das Parlament abgibt, desto intensiver ist die Berührung des Sinngehalts des Wahlrechts, desto wahrscheinlicher ist eine faktische Beeinträchtigung. U. Absolute Schwellenwerte der Beeinträchtigungsintensität sind demgegenüber schwieriger festzulegen. Hier kann nur eine näherungsweise Betrachtung erfolgen, bei der maßgeblich auf die eingangs dieser Arbeit dargestellten Vorgaben des objektiven Rechts zurückzugreifen ist. Denn das Wahlrecht selbst macht dem Bundestag keine Vorgaben, wie er seine Be-

10. Teil: Thesen fugnisse inhaltlich auszuüben habe; die Grenzen der Parlamentskompetenzen ergeben sich vielmehr allein aus den Grundsätzen der Demokratie, des Rechtsstaats sowie der Gewaltenteilung. Demgemäß zeigt sich hier einerseits, daß objektiv-rechtlich verfassungskonforme Kompetenzübertragungen nicht als Beeinträchtigungen des subjektiv-rechtlichen Wahlrechts gewertet werden können. Andererseits ist (jedenfalls) dann eine faktische Beeinträchtigung des Wahlrechts anzunehmen, wenn das Parlament eine seiner Grundfunktionen abgibt. Die notwendigerweise verbleibenden Zweifelsfälle zwischen diesen beiden Extremkonstellationen können nur im Wege einer Einzelfallbetrachtung unter Abwägung aller Umstände beantwortet werden. V. Besonderheiten bestehen bei einem Handeln des Verfassungsgesetzgebers. Entsprechend seiner objektiv-rechtlichen Bindung nur an die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG kann auch eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Wahlrechts erst dann angenommen werden, wenn diese letzte Schranke überschritten wird. W. Dieser Maßstab gilt auch für die Fälle einer Übertragung von Kompetenzen auf EG-Organe; aus Art. 23 GG ergibt sich nichts anderes. Keine Besonderheiten bestehen ferner bei der Ermächtigung völkerrechtlicher Institutionen; auch Art. 24 GG führt hier nicht zu Besonderheiten. X. Da Art. 38 Abs. 1 GG das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag gewährleistet, kommt eine Kompensation einer etwaigen faktischen Wahlrechtsbeeinträchtigung durch andere Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen - wie zum Beispiel eine anderweitige demokratische Legitimation des ermächtigten Organs - nicht unmittelbar in Betracht. Y. Aufgrund des hier entwickelten Maßstabes, nach dem eine faktische Beeinträchtigung des subjektiven Rechts erst dann anzunehmen ist, wenn die parlamentarische Kompetenzverlagerung zugleich einen Verstoß gegen objektives Recht darstellt, kann der Eingriff in das Wahlrecht ferner - entgegen dem üblichen Dreischritt „Schutzbereich/Eingriff/Rechtfertigung" nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Z. Schließlich bestehen bei der prozessualen Durchsetzung des subjektiven Rechts im Grundsatz keine Besonderheiten; in der Regel wird die Verfassungsbeschwerde gegen die parlamentarische Kompetenzübertragung der statthafte Rechtsbehelf sein. Sofern deutsche Organe sich parlamentarische Kompetenzen ohne ausdrückliche Ermächtigung des Bundestags anmaßen, ist die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Verhalten zu richten. Sofern außerdeutsche, mithin nicht vom Grundgesetz gebundene Institutionen eine derartige „Kompetenzanmaßung" begehen, kommt ausnahmsweise eine Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Bundestags in Betracht.

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Zitiert wird, wenn nicht anders vermerkt, der Name des Autors, verbunden - bei selbständigen Veröffentlichungen - mit einem Kurztitel bzw. - bei Zeitschriftenaufsätzen - mit der Fundstelle.

averzeichnis Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 273 Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen 280 Amerikanische Menschenrechtskonvention 280 Banjul-Charta 280 Berufsfreiheit - Erhebung erdrosselnder Abgaben als faktischer Grundrechtseingriff 214 - wirtschaftliche Verhinderung des Arbeitsplatzwechsels als faktischer Grundrechtseingriff 216 Bundesrat - Äußerung im Maastricht-Verfahren 69 Bundesregierung - Äußerung im Maastricht-Verfahren 68 Bundesstaatsprinzip 160 Bundestag 39 - Äußerung im Maastricht-Verfahren 69 - Aufgaben 41 - Budgetfunktion 44, 50 - Gesetzgebungsfunktion 44, 49 - Kontrollfunktion 48 - Öffentlichkeitsfunktion 43, 48 -Wahlfunktion 41,46 - Willensbildungsfunktion 42, 43, 47 - Auflösung 59 - Kompetenzdelegation 50 - Kompetenzen 39 - Organsouveränität 41 - Pflicht zur Aufgabenwahrnehmung 45

- Vertretungsmonopol 41 - Volksvertretung 39 Bundesverfassungsgericht - Ersatzgesetzgebung durch 234 - Maastricht-Urteil 62 Bürgerrechte 176 Dänemark 264 Demokratie - allgemeiner Demokratierechtsschutz des Bürgers 79 - Menschenwürde und Demokratie 78 - Volkssouveränität und individuelle Rechte 79 Demokratie, subjektives Recht auf 62 - aktiver Status 290 - Beeinträchtigungsintensität 295 - bewahrender Charakter 285 - Handeln des Verfassungsgesetzgebers 308 - judicial activism 289 - prozessuale Durchsetzung 326 - qualifizierte Beeinträchtigung des Wahlrechts 286 - Rechtsnatur 283 - Reichweite 282 - bei Kompetenzabgaben an EGOrgane 312 - bei Kompetenzabgaben an völkerrechtliche Institutionen 318 - im innerstaatlichen Raum 286 - sonstige Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen 319 - Strukturvorgaben durch das objektive Recht 299 - Übergewichtsformel 312

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Sachverzeichnis

- Übertragung parlamentarischer Grundfunktionen 301 - Untätigkeit des Parlaments 332 - Wesensgehaltsgarantie 288 - Wesentlichkeitstheorie 292 Demokratieprinzip und subjektive Rechte 112 Eigentumsgrundrecht, enteignender Eingriff als faktischer Grundrechtseingriff 210 Elfes-Urteil 118 Euro-Entscheidungen des BVerfG 122 Europäische Union 240 Europäisches Parlament 31, 320 - demokratische Abstützung des Integrationsprozesses 320 - Stellungnahme der deutschen sozialdemokratischen MdEP im MaastrichtVerfahren 70 Ewigkeitsgarantie 308 Frankreich 261 Frauendiskriminierung, Übereinkommen gegen 278 Freiheit des parlamentarischen Mandats 224 Gemeindeparlamente 32 Grundrecht auf Autofahren 238 grundrechtlicher Berechtigungskomplex, Lehre vom 180 Grundrechtseingriff -Begriff 164 - Drittbetroffene 168 - Eingriffserweiterung und Schutzbereichsausdehnung 202 - faktisch 168 - faktische Bestätigungschancen, Lehre von den 199 - faktischer durch Sinnentleerung 210 - funktionaler Schutzbereich, Lehre vom 197 - indirekt 166, 167, 296

- klassischer Eingriffsbegriff 166 - Erweiterung 166, 203 - Kontext- und Umweltbezüge, Lehre von den 198 - mittelbar 167 - Nebenfreiheiten, Lehre von den 200 - positiver Status 177 - Schutzbereichsausdehnung 196 - sonstige Einwirkungen 169 - unmittelbar 165 -Wahlrecht 182 Grundrechtsinflation 237 Grundrechtsstatus 172 - aktiver Status 176 - negativer Status 175 - positiver Status 175 Handlungsfreiheit, allgemeine 118 Hilfsrechte 180 Hoheitsrechte - Übertragung 243 - Übertragung parlamentarischer Kompetenzen 244 Internationale Organisationen 246 - quasi-parlamentarische Organe 32 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 274 judicial activism 102 Kommunale Volksvertretungen 32 Kompetenzen (Begriff) 36 Kompetenzverlagerung - Adressaten 133 - auf EG-Organe 240,312 - auf völkerrechtliche Institutionen 246 Kompetenzverlagerung (Begriff) 36 Landesparlamente 30 Liechtenstein 253

Sachverzeichnis Maastricht-Entscheidung - Bundesverfassungsgericht 62, 71, 309, 321 - Kritik im Schrifttum 82 - Rezeption im Schrifttum 81 - Rezeption in der Rechtsprechung 129 - Zustimmung im Schrifttum 90 - Conseil Constitutionnel 262 - H0jesteret 266 - Queen's Bench 258 Menschenrechte 174 Menschenrechte, Allgemeine Erklärung der 273 Normanwendungsschutz 178 Normbestandsschutz 178 Österreich 256 Parlamentssuprematie 41 Popularklage 84 Popularverfassungsbeschwerde 231 Portugal 270 Rassendiskriminierung, Internationales Übereinkommen gegen 278 Rechtsstaatsprinzip 161 Rechtsvergleichung 251 - als fünfte Auslegungsmethode 251 - Dänemark 264 - Frankreich 261 - Liechtenstein 253 - Österreich 256 - Portugal 270 - Schweiz 253 - Vereinigtes Königreich 257 Rechtsverordnungen 52 Republikprinzip 161 Res publica res populi 92 Satzungsautonomie 53 Schweiz 253 24 Soppe

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Selbstverwaltungskörperschaften 33 Souveränitätsprinzip 138 - Abgrenzung zur Volkssouveränität 140 - äußere Souveränität 139 - innere Souveränität 140 sovereignty of parliament 259 Sozialstaatsprinzip 154 Staatsstrukturprinzipien 153 Staatsziel, „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" 158 Statuslehre 173 Vereinigtes Königreich 257 Vereinte Nationen 273 Verfassungsbeschwerde 326 - Begründetheitsprüfung 331 - Beschwerdebefugnis 328 - Beschwerdefähigkeit 327 - Maastricht-Verfahren 62 - Rechtsschutzinteresse 330 - Rechtswegerschöpfung 329 - Statthaftigkeit 326 - Untätigkeit des Bundestags 338 Völkerrecht 272 völkerrechtliche Institutionen 246 Volkssouveränität 140 - und Demokratie 141 Volkswillensbildung und Staatswillensbildung 221 Wahlrecht 55 - Abwehrrechte und Wahlrecht 193, 205 - Auslegung - extensive Auslegung einzelner Wahlrechtsgrundsätze 151 - grammatische Auslegung 148 - historische Auslegung 148 - Bereich konstituierter Staatsfreiheit 190 - Bewirkungsrecht 191 - Eingriffsdogmatik 182, 188

370

Sachverzeichnis

- Eingriffsdogmatik gung 323

und

Rechtferti-

- Europäische Einigung und Wahlrecht 243

-

- Grundrechtsträger 142 184,

-

und

-

des Staates und

-

- indirekte 188

Beeinträchtigungen

- internationale Zusammenarbeit Wahlrecht 247 - Organisationsakte Wahlrecht 237

- parlamentarische Kompetenzabgabe als indirekte Wahlrechtsbeeinträchtigung 209 - Schrifttum nach dem MaastrichtUrteil 92 - Schrifttum vor dem Maastricht-Urteil 77 - Schutzbereich 55

-

- Rechtsprechung des BVerfG vor dem Maastricht-Urteil 75 Sicherung der Bundestagskompetenzen 224, 235 sinnlose Wahlen als Farce 219 Souveränitätsprinzip und Wahlrecht 138 status activus und subjektive Rechte 109 venire contra factum proprium 143 Veränderung des rechtlichen Umfelds 219 Vertrauensschutz 143 Volksentscheide und Wahlrecht 57 Wahlberechtigter und Bundestag 59 Wahlberechtigung 142 Wahlrechtsgrundsätze 58, 151, 152 Wesensgehalt und subjektive Rechte 106