Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht?: Dargestellt am Beispiel selektiver Vertriebssysteme [1 ed.] 9783428517428, 9783428117420

Ziel der Arbeit ist es, anhand eines Vergleichs der bisherigen europäischen Entscheidungspraxis zu selektiven Vertriebss

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German Pages 366 Year 2005

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Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht?: Dargestellt am Beispiel selektiver Vertriebssysteme [1 ed.]
 9783428517428, 9783428117420

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Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Band 34

Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht? Dargestellt am Beispiel selektiver Vertriebssysteme

Von

Petra Reinhardt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PETRA REINHARDT

Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht?

Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nürnberg durch Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider

Band 34

Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht? Dargestellt am Beispiel selektiver Vertriebssysteme

Von

Petra Reinhardt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 3-428-11742-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern und meinem Bruder

Eine Klage über die Schärfe des Wettbewerbs ist in Wirklichkeit nur eine Klage über den Mangel von Einfällen. W. Rathenau

Vorwort Die Arbeit ist im Sommersemester 2004 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover als Dissertation angenommen worden. Mit ihr möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass das Wettbewerbsprinzip in der sich erweiternden Gemeinschaft nicht an Bedeutung verliert. Ich möchte herzlich meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Wolfgang Kilian für die Betreuung meiner Arbeit danken. Seine fachliche und menschliche Unterstützung waren mir eine sehr wertvolle Hilfe. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Dr. Peter Salje für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Ich danke der Deutschen Vereinigung für Gewerblichen Rechtsschutz e. V. für die großzügige und unbürokratische Gewährung einer Druckbeihilfe. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die zu jeder Phase mein Vorhaben finanziell unterstützt haben. Ihnen und meinem großen Bruder Frank danke ich von Herzen für die große Liebe, die sie mir entgegenbringen. Von Herzen danke ich auch Herrn Dipl.-Ing. Alexander Grabowski für sein großes Verständnis und für die vielen Ideen und Gedanken, die er in mein Leben gebracht hat. Großer Dank gilt auch Frau Julia Meyer, M.A. für die Geduld und die Fröhlichkeit, mit der sie mich auf diesem Weg begleitet hat. Frau Rechtsanwältin Maren Müller und Herrn Rechtsanwalt Tobias Hiller danke ich für die tatkräftige Hilfe vor allem in der Schlussphase meiner Arbeit. Schließlich möchte ich meinem Großvater dafür danken, dass er mich gelehrt hat, nicht aufzugeben. Hannover, im April 2005

Petra Reinhardt

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1. Teil Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept? § 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Absatz- und marketingpolitische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung der Distribution im Rahmen der Marketingpolitik . . . . . . II. Vertriebssysteme als Form des vertikalen Kontraktmarketings. . . . . . B. Juristische Präzisierung des selektiven Vertriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Formen der Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertikale Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Horizontale Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Qualitative Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Quantitative Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Vertragliche Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Machtverhältnisse im Absatzkanal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Festlegung und Sicherung des Distributionsweges . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertriebsbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönliche Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Marktstufenspezifische Kundenbindung. . . . . . . . . . . . . . . . bb) Marktstufenindifferente Kundenbindung . . . . . . . . . . . . . . . b) Räumliche Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gebietsbindungen im engeren Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Standortklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausgleichszahlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Marktverantwortungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Absatzbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönliche Absatzbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Räumliche Absatzbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezugsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bezugsbindungen hinsichtlich Vertragswaren . . . . . . . . . . . . . . . b) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren. . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gebietsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 24 24 26 28 30 30 31 32 33 34 36 37 38 38 39 40 40 41 42 42 43 43 43 44 44 45 46 46 47

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Inhaltsverzeichnis IV. Bindungen hinsichtlich der Absatzgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absatzverhaltensbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verkaufsstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kundendienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Lagerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sortiment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertriebsförderungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Informations-, Kontroll- und Kooperationsbindungen . . . . . . . . . . a) Informationsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontrollbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kooperationsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konkurrenzverbote im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Preis- und Markenbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Koppelungsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 48 48 49 50 50 50 51 51 52 52 53 54 55 55 55 56

§ 2 Die ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die klassische Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Von der Preistheorie zum Leitbild der vollständigen Konkurrenz. . . . . . . C. Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Theorie der Wettbewerbsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Die Chicago School of Antitrust Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Industriepolitische Konzeptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 57 59 61 64 66 70 74 75

§ 3 EG-rechtliche Grundlagen für selektive Vertriebssysteme . . . . . . . . . . . . . A. Die Zielrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stellung des Wettbewerbsprinzips. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zu anderen Gemeinschaftspolitiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Allgemeine Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . IV. Der Gemeinsame Markt als besonderes Ziel der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76 77 78 81

§ 4 Bestandsaufnahme: Die bisherige Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach Art. 81 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der selektive Vertrieb im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG . . . . . . . . . . . . . I. Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinbarung, Beschluss oder abgestimmte Verhaltensweise . . . . . . . 1. Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgestimmte Verhaltensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 90 90 91 91 92 93 99

Inhaltsverzeichnis

11

III. Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Verhinderung, Einschränkung, Verfälschung des Wettbewerbs . . . 101 2. Inhalt der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Selbständigkeitspostulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Schützenswerter Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Umfassender Schutzbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Insbesondere: Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb . . . . . . . 108 4. Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . 110 5. Einordnung selektiver Vertriebssysteme als Wettbewerbsbeschränkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Offene Vertriebssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Einfache Fachhandelsbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Formale Wettbewerbsbeschränkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) „Lehre“ des nicht schützenswerten Wettbewerbs. . . . . . . . 118 cc) Rule of Reason. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (1) Abwägung zwischen positiven und negativen Auswirkungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (2) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse. . . . . . . . . . . . . 124 dd) Die „An-Sich-Wettbewerbsbeschränkung“. . . . . . . . . . . . . . 126 c) Qualifizierte Fachhandelsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Quantitative Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 6. Konkrete Bewertung des Vertragswerks selektiver Vertriebssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Grundsatz der Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) Produkteigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . 142 (1) Fachliche Anforderungen an den Händler und sein Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 (2) Lage und Gestaltung der Verkaufsräume . . . . . . . . . . . 144 (a) Äußere Aufmachung des Geschäfts . . . . . . . . . . . . 145 (b) Innere Aufmachung des Geschäfts . . . . . . . . . . . . . 147 (3) Kundendienst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (4) Lagerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (5) Sortiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (6) Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Verhältnismäßigkeit der einzelnen Vertragsklauseln . . . . . 155 (1) Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (a) Persönliche Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . 156 (b) Räumliche Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (2) Absatzbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

12

Inhaltsverzeichnis (3) (4) (5) (6)

IV. V. VI. C. Der I. II.

III.

IV.

Bezugsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absatzverhaltensbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertriebsförderungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informations-, Kooperations- und Kontrollbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Informations- und Kooperationsbindungen . . . . . (b) Kontrollbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Preisbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsatz der Nichtdiskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfahren zur Zulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren zum Ausschluss anerkannter Händler . . . . . . . . d) Kumulative Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenstaatlichkeitsklausel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spürbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . selektive Vertrieb im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . Grundsystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten der Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einzelfreistellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gruppenfreistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung . . . . . . . . . . . 2. Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn . . . . . . . . 3. Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung. . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nichtausschaltung wesentlichen Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Klauseln selektiver Vertriebssysteme und deren Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freistellungsfähige Klauseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertriebsförderungspflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lagerhaltungsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sortimentsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Mindestumsatz und Mindestabnahmemengen . . . . . . . . . . dd) Mitwirkung an Werbeveranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Pflicht zum Aufbau/Verstärkung des Vertriebsnetzes beizutragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sprunglieferungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Absatzbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verfahren zur Zulassung und zum Ausschluss. . . . . . . . . . . . . . f) Aktivverkaufsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ausgleichszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161 162 162 163 163 164 166 166 168 169 170 174 176 179 181 181 182 182 184 185 186 187 189 191 194 196 197 197 197 198 199 200 200 201 201 202 204 205 206

Inhaltsverzeichnis

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h) Quantitative Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Nicht-freistellungsfähige Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Bezugsbindungen hinsichtlich Vertragswaren . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren. . . . . . . . . . . . . . . . . 208 d) Pflicht, Umsatz vor allem mit Produkten zu erzielen, zu denen auch die Vertragsware gehört . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3. Quasi-per-se-Verbotsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a) Marktaufteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b) Querlieferungs- und Rücklieferungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 c) Preisbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 V. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

2. Teil Die Beurteilung des selektiven Vertriebs nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

214

§ 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 A. Entstehungsgeschichte der Vertikal-GVO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 B. Ursachen für die Neuregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 C. Neue Regelungssystematik der Vertikal-GVO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Abhilfe der Ursachen für die Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Überblick über den Aufbau der Vertikal-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 § 2 Die Behandlung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO . . . 222 A. Anwendungsbereich der Vertikal-GVO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Sachlicher Anwendungsbereich, Art. 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Quantitativer Anwendungsbereich, Art. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Anzahl und Höhe der Marktanteilsschwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Marktanteilsberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Tauglichkeit des Marktanteilkriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Marktanteil als Kriterium zur Bestimmung der Marktstärke . . 231 b) Marktanteil als Quelle der Rechtsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . 231 B. Kernbeschränkungen, Art. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 I. Zusammenhang zwischen der Vertragsklausel und den Kernbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 II. Preisbindungen, Art. 4 lit. a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Unmittelbare oder mittelbare Preisbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Höchstpreise und Preisempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Meistbegünstigungsklauseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4. Verhältnis zum deutschen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 III. Gebiets- und Kundenbeschränkungen, Art. 4 lit. b . . . . . . . . . . . . . . . . 238

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Inhaltsverzeichnis 1. Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung zwischen Aktiv- und Passivverkauf . . . . . . . . . . . b) Exklusive Händlerzuweisung bzw. Selbstvorbehalt des Lieferanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme der grundsätzlichen Unzulässigkeit des Passivverkaufsverbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich, Sprunglieferungsverbote. . . . . . . . . . 3. Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich, persönliche Vertriebsbindungen . . . a) Definition selektiver Vertriebssysteme, Art. 1 lit. d . . . . . . . . . aa) „Verpflichtung des Lieferanten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Unmittelbarer oder mittelbarer Verkauf“. . . . . . . . . . . . . . cc) Auswahl der Händler aufgrund „festgelegter Merkmale“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abschied von der Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Selektion . . . . . . . . . . . . (2) Abschied von der Nichtdiskriminierung . . . . . . . . . . . dd) „Verpflichtung des Händlers“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Abschied von der Produkteigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zulässigkeit persönlicher Vertriebsbindungen . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundsatz des Art. 4 lit. b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verkaufsbeschränkungen in selektiven Vertriebssystemen, Art. 4 lit. c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zu Art. 4 lit. b 1. und 2. Spiegelstrich . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbindung selektiver Vertrieb und Alleinvertrieb . . . . . . . . . . . . . a) Auf der Einzelhandelsstufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf der Großhandelsstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkungen hinsichtlich des Standortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Querlieferungsverbote in selektiven Vertriebssystemen, Art. 4 lit. d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Unwirksame Klauseln, Art. 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wettbewerbsverbote während der Vertragslaufzeit, Art. 5 lit. a . . . . 1. Wettbewerbsverbote i. S. d. Art. 1 lit. b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formen von Wettbewerbsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmittelbare und mittelbare Verpflichtungen des Käufers . . . 2. Zeitliche Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Insbesondere Mindestabnahmeverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nachvertragliche Wettbewerbsverbote, Art. 5 lit. b . . . . . . . . . . . . . . . III. Individualisierte Wettbewerbsverbote, Art. 5 lit. c . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Bestimmter konkurrierender Lieferanten“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Nicht zu verkaufen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung der Neuregelungen für den selektiven Vertrieb. . . . . . E. Verfahrensrechtliche Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238 238 239 240 241 242 242 243 245 246 246 247 248 248 250 251 253 253 254 254 255 256 257 258 258 259 259 260 261 261 262 263 263 264 264 265 267

Inhaltsverzeichnis

15

I.

Entzug der Freistellung durch die Kommission, Art. 6 . . . . . . . . . . . . 267 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Entzug der Freistellung durch nationale Behörden, Art. 7. . . . . . . . . . 270 1. Rechtsgrundlage und Hintergrund der Neuregelung . . . . . . . . . . . . 270 2. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Zuständigkeitsverteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Erklärung der Nichtanwendung der Vertikal-GVO, Art. 8. . . . . . . . . . 273 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 F. Das der Vertikal-GVO zugrunde liegende Wettbewerbskonzept. . . . . . . . . 275 I. Neue Zielrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik? . . . . . . . . . . 275 II. Neubewertung des Verhältnisses Interbrand- und IntrabrandWettbewerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 III. Der Marktanteil als Voraussetzung für die Anwendbarkeit . . . . . . . . . 278 IV. Kernbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Preisbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 V. Unwirksame Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 VI. Verfahrensrechtliche Änderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 § 3 Die Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 A. Rechtscharakter der Leitlinien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 B. Nicht von Art. 81 Abs. 1 EG erfasste selektive Vertriebssysteme . . . . . . . 285 C. Von Art. 81 Abs. 1 EG erfasste selektive Vertriebssysteme . . . . . . . . . . . . 286 I. Verzicht auf das Erfordernis der Anmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 II. Rückwirkung der Freistellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 III. VO Nr. 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 IV. Bewertungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Teil Systemwechsel in der EG?

292

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 A. Vereinbarkeit mit der ErmächtigungsVO Nr. 19/65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 B. Vereinbarkeit mit Art. 81 Abs. 3, 83 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 I. Vertikalvereinbarungen als „Gruppe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 II. Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung . . . . . . . . . . . . 295 2. Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn . . . . . . . . . 296

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Inhaltsverzeichnis 3. Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung. . . . . . . . . . . . . . . . 297 4. Nichtausschaltung wesentlichen Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 C. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

§ 2 Vereinbarkeit der „verfahrensrechtlichen“ Änderungen mit dem EG-Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Verfahrensrechtliche Vorgaben durch Art. 81 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verbotsprinzip des Art. 81 Abs. 1 EG und seine verfahrensmäßige Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Legalausnahme oder Erlaubnisvorbehalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsgeschichte des Art. 81 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wortlaut des Art. 81 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erklärung der Nichtanwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Differenzierung zwischen Einzel- und Gruppenfreistellung . . 3. Wortlaut des Art. 84 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wortlaut des Art. 83 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 83 Abs. 2 lit. a EG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 83 Abs. 2 lit. b EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Konsequenzen für die Änderungen der VO Nr. 17. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Konsequenzen für die VO Nr. 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Vom Verbotsprinzip zum Missbrauchsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Vertikal-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Schirm“-Gruppenfreistellungsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausweitung der Entzugsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Änderungen der VO Nr. 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verzicht auf die Anmeldung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rückwirkende Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die VO Nr. 1/2003. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Verbots- und Missbrauchsprinzip“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbotsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Missbrauchsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wettbewerbspolitische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschwächung des Verbotsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelnde Effizienz des Legalausnahmesystems . . . . . . . . . . . . . . 3. Informationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mangelnde Einwirkungsmöglichkeit im Vorfeld der Praktizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtssicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Negative Signalwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 301 301 303 303 304 304 305 306 306 307 307 308 309 309 310 311 311 312 313 313 313 314 314 314 315 316 317 317 318 319 320 320 321 323

Inhaltsverzeichnis

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I. Ursachen für die Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 II. Unrechtsgehalt des in Art. 81 Abs. 1 EG normierten Verbotsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 III. Der neue „ökonomische“ Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 IV. Industriepolitisches Einfallstor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

4. Teil Thesenartige Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

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Anhang 1: Vertragliche Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme . . . . . . . . . 340 Anhang 2: Die bisherige Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach Art. 81 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Anhang 3: Die Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Abkürzungsverzeichnis a. a. O. ABl. Abs. a. E. a. F. AG AnwBl Art. BB BVerfG DB ders. d.h. dies. Diss. DStR DZWiR EG EGKSV EGV EuGeI EuGH EuR EuZ EuZW EWG EWGV EWS f. ff. Fn. FS GRUR

am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bzw. Amtsblatt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Absatz am Ende alte Fassung Die Aktiengesellschaft Anwaltsblatt Artikel Betriebsberater Bundesverfassungsgericht Der Betrieb derselbe das heißt dieselbe, dieselben Dissertation Deutsches Steuerrecht Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung von Amsterdam Europäisches Gericht Europäischer Gerichtshof der ersten Instanz Europarecht Europäische Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgend fortfolgende Fußnote Festschrift Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht

Abkürzungsverzeichnis GRUR Int. GVO GWB Hrsg. hrsg. v. i. V. m. JZ KMU Komm. lit. MA m. E. m. w. N. NJW Nr. ORDO RabelsZ Rdnr. RIW Rs. S. Sec. Slg. sog. Tab. Tz. USA v. vgl. VO VRG wbl WiSt WRP WuW z. B. ZgStW ZHR Ziff. ZvglRWiss

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Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Herausgeber herausgegeben von in Verbindung mit Juristenzeitung kleinere und mittlere Unternehmen Europäische Kommission litera Der Markenartikel meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Rabels Zeitschrift für ausländisches und inländisches Privatrecht Randnummer Recht der internationalen Wirtschaft Rechtssache Seite Section Sammlung sogenannte Tabelle Textziffer United States of America vom, von vergleiche Verordnung Vertical Restraints Guidelines Wirtschaftsrechtliche Blätter Wirtschaftswissenschaftliches Studium Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb zum Beispiel Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft

Einleitung Das europäische Kartellrecht befindet sich in einer Phase der konzeptionellen Umgestaltung. Mit vielfältigen Maßnahmen will die Europäische Kommission die Gemeinschaft für die Herausforderungen der künftigen Erweiterung und der Globalisierung der Wirtschaft rüsten. Am auffälligsten treten Änderungen stets durch den Erlass neuer Vorschriften in Erscheinung. Im Zeitraum 1999 bis 2002 wurden durch die Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 2790/99 über die Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen1, die Leitlinien für vertikale Beschränkungen2, die Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 81 EG auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit3 und die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 EG niedergelegten Wettbewerbsregeln4 wesentliche Weichenstellungen in der europäischen Wettbewerbspolitik vorgenommen. Weniger offensichtlich vollzieht sich hingegen ein möglicher Wandel bei der Frage, von welchen wettbewerbstheoretischen Prämissen die Gemeinschaftsorgane bei der Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften ausgehen. Der seit 1957 unverändert gebliebene Wortlaut des Art. 81 EG bietet aufgrund seiner weiten, undifferenzierten Fassung erheblich Raum für einen wettbewerbspolitischen Wandel, ohne das Primärrecht ändern zu müssen. Die Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe führt dazu, dass die konkrete Umsetzung entscheidend von dem wettbewerbstheoretischen Verständnis der Kommission und des EuGH abhängen. Anhand dieses herauszuarbeitenden Verständnisses soll der Paradigmenwechsel bei der Behandlung wettbe1 Verordnung (EG) Nr. 2790/99 der Komm. v. 22.12.1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, ABl. L 336/21. Im Folgenden wird diese als Vertikal-GVO bezeichnet. 2 Mitteilung der Kommission vom 13.10.2000, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. C 291/1. Im Folgenden werden diese als Leitlinien bezeichnet. 3 Bekanntmachung der Kommission vom 06.01.2001, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. C 3/2. 4 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1.

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Einleitung

werbsbeschränkender Vereinbarungen in der folgenden Untersuchung nachgewiesen werden. Geführt werden soll dieser Nachweis anhand der Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane gegenüber selektiven Vertriebssystemen. Zum einen kommt dem Vertriebssektor in der EG eine enorme Bedeutung zu: Mit rund 4,5 Millionen dort tätigen Unternehmen und annähernd 22 Millionen Beschäftigten macht dieser Bereich 12,9% der gesamten Wertschöpfung in der EG aus.5 Zum anderen stellt die bisherige Praxis zu dieser Vertriebsform mangels eigener gesetzlicher Regelungen eine ausgesprochene Einzelfalljustiz dar. Diese kann insbesondere zur Gewinnung wettbewerbstheoretischer Aussagen fruchtbar gemacht werden. So enthalten beispielsweise die Saba und Metro-Entscheidungen6 sowie die Parfum-Fälle7 zahlreiche Hinweise auf ein wettbewerbstheoretisches Verständnis der Gemeinschaftsorgane. Dies beruht auf dem höchst ambivalenten Charakter selektiver Vertriebssysteme. So kommen ihnen gleichermaßen wettbewerbsbeschränkende wie -fördernde Wirkungen zu. Ferner stehen sie stets im Spannungsverhältnis zwischen der Vertriebsgestaltungsfreiheit der Hersteller und der Freiheit der Händler an einer autonomen Gestaltung ihrer Geschäftspolitik. Schließlich hat der selektive Vertrieb durch die Vertikal-GVO erstmalig eine sekundärrechtliche Regelung erfahren, die einem Vergleich zu der bisherigen Entscheidungspraxis besonders zugänglich ist. Im ersten Teil werden zunächst die Grundlagen des selektiven Vertriebs dargestellt, um die Thematik in das richtige betriebswirtschaftliche, begriffliche und systematische Umfeld einordnen zu können. Wesentlich für das Verständnis selektiver Vertriebssysteme ist insbesondere die konkrete vertragliche Ausgestaltung dieser Vertriebsform. Im Anschluss werden die wesentlichen ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik dargestellt, anhand derer die Frage nach einem ordnungspolitischen Konzept der Gemeinschaftsorgane beantwortet werden soll. Der Nachweis eines wettbewerbstheoretischen Wandels setzt denknotwendig den Vergleich zwischen der bisherigen Entscheidungspraxis und 5 Grünbuch der Komm. zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen, Dok. KOM (96), 721 endg. v. 22.01.1997, Tz. 15. Im Folgenden wird dieses als Grünbuch bezeichnet. 6 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19; Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41; EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875; EuGH 22.20.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021. 7 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24; Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11; EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851; EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg 1996, II-1961.

Einleitung

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dem neuen Rechtsrahmen voraus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere die europäische Wettbewerbspolitik nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern stets im Zusammenhang mit den Implikationen des EG-Vertrages zu verstehen ist. Daher wird zunächst die übergeordnete Ebene, die allgemeine Zielrichtung der Wettbewerbspolitik, dargestellt und im Hinblick auf das Zugrundeliegen eines einheitlichen Konzeptes analysiert. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für die Untersuchung der bisherigen Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane bei der Beurteilung selektiver Vertriebssysteme im Rahmen des Art. 81 EG. Hierbei wird vor allem darauf eingegangen, wie die generalklauselartige Fassung des Verbots- und des Freistellungstatbestandes in der konkreten Anwendung ausgelegt wird, um derart wettbewerbstheoretische Rückschlüsse ziehen zu können. Der erste Teil steht daher im Zeichen der Prinzipiengewinnung der zu selektiven Vertriebssystemen bereits ergangenen Entscheidungen. Der zweite Teil widmet sich ganz der Vertikal-GVO und damit der Neuregelungen für den selektiven Vertrieb. Hier ist insbesondere von Interesse, welche Änderungen in Bezug auf die bisherige Praxis vorgenommen wurden und ob diese Ausdruck eines neuen wettbewerbstheoretischen Verständnisses der Kommission sind. Auch hier wird nach dem der Vertikal-GVO zugrunde liegenden Wettbewerbskonzept gefragt. Der dritte Teil dient dem konkreten Nachweis des Systemwechsels anhand der Vertikal-GVO, der in diesem Zusammenhang erfolgten Änderungen8 der VO Nr. 179 und schließlich der VO Nr. 1/2003. Bei all diesen Maßnahmen stellt sich zuvorderst die Frage nach deren Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag. Insbesondere sind diese aber auch dazu geeignet, die Frage, ob ein Paradigmenwechsel bei der Behandlung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen im Rahmen des Art. 81 EG vorliegt, zu beantworten.

8 Verordnung (EG) Nr. 1216/1999 des Rates vom 10.06.1999, Änderung der VO Nr. 17: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. L 148/5. 9 Verordnung Nr. 17 des Rates vom 06.02.1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. EG 204/62.

1. Teil

Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept? § 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs A. Absatz- und marketingpolitische Grundlagen Eine Darstellung selektiver Vertriebssysteme bliebe unvollständig, würde man nicht auch versuchen, die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Insofern soll zunächst ein Überblick über die absatz- und marketingpolitischen Grundlagen dieser Vertriebsform gegeben werden. I. Bedeutung der Distribution im Rahmen der Marketingpolitik Der selektive Vertrieb ist eine Möglichkeit des Herstellers, seine Erzeugnisse gezielt zu vertreiben. Im Anschluss an die Erschaffung eines neuen Produktes muss sich der Unternehmer überlegen, auf welche Art und Weise er die Kluft zwischen ihm und dem Endverbraucher bestmöglichst überwinden kann. Hiermit beschäftigt sich die Distributionspolitik. Diese ist neben der Preis-, Produkt- und Kommunikationspolitik ein wichtiger Teilbereich im Rahmen des Marketing-Konzeptes einer jeden Unternehmung. So bezeichnet Böcker die Distributionspolitik neben dem Produkt als das „konstitutive Element des Marketings“.1 Diesen Rang in der Marketingwelt hat die Frage um die effiziente Verteilung der Waren vom Produzenten bis hin zum Verbraucher aber erst mit zunehmender Zeit erlangt. Verantwortlich hierfür ist vor allem die Entwicklung in der Absatzwirtschaft.2 Vor und während des 2. Weltkrieges lag das größte Problem darin, überhaupt Güter zu produzieren. Erst der Übergang von der Knappheitswirtschaft (Nachfrageüberhang, Verkäufermärkte) zur Überflusswirtschaft (Angebotsüberhang, Käufermärkte) bewirkte, dass der Marketinggedanke immer mehr Eingang in die betriebspolitischen Entscheidungen der Unternehmen fand. Nachdem produktionstechnische Hemmnisse überwunden wa1

Böcker, S. 28. Vgl. hierzu ausführlich: Ulmer, S. 23 ff.; Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 14 ff.; Martinek, S. 2 ff. 2

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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ren, das Pro-Kopf-Nettoeinkommen der Verbraucher gestiegen und der Erstbedarf weitgehend gedeckt war, wurde schnell deutlich, dass sich im Anschluss an die geringe Produktionskapazität ein neuer Engpass für die Wirtschaftsunternehmen bildete: die Nachfrage.3 Mit der Möglichkeit zur Massenproduktion ging eine bis dahin nicht geahnte Angebotsvielfalt an Konsumgütern einher, welche die Konkurrenz zwischen den Herstellern schnell intensivierte. Schlagwortartig wird diese Entwicklung als der „Kampf um den Regalplatz“ bezeichnet. Dies verdeutlicht, welchen Wert fortan der Distributionsweg für ein Unternehmen haben sollte. So wird mit der unternehmerischen Entscheidung für einen bestimmten Vertriebsweg unmittelbar auf den Absatzmarkt eingewirkt, indem seine Tiefe4 und Breite5 den Grad der Marktdurchdringung entscheidend mitbestimmt.6 Die Absatzkanalstrategie ist aber auch noch aus weiteren Gründen für den Hersteller von existentieller Bedeutung. Die Distributionspolitik stellt im Rahmen der betrieblichen Entwicklung einen erheblichen Kostenfaktor dar. Dieser übersteigt in vielen Branchen den Anteil an den Gesamtkosten, der auf die Produktion fällt.7 Dies muss insbesondere für den europäischen Raum gelten, da der Lebensstandard sehr hoch ist.8 Zudem prägen die absatzpolitischen Weichenstellungen andere wichtige Unternehmensbereiche. So entscheidet der gewählte Distributionsweg darüber, inwieweit der Lieferant im Absatzkanal noch Einfluss auf das Produkt (Preisgestaltung, Präsentation usw.) ausüben kann. Überdies enthalten distributionspolitische Entscheidungen langfristige Elemente, die nur schwer zu korrigieren sind9 – zum einen aufgrund der Dauerhaftigkeit von Vertriebsverträgen, zum anderen wegen des hohen finanziellen und zeitlichen Aufwands, der mit dem Aufbau einer Vertriebsorganisation verbunden ist. 3

Martinek, S. 2. Die Tiefe des Absatzkanals bezieht sich auf die ein- oder mehrstufige Auslegung für den Fluss von Waren, also auf die Anzahl der unterschiedlichen Handelsbetriebstypen (vgl. Ahlert, S. 155). 5 Die Breite des Absatzkanals betrifft die innerhalb der einzelnen Handelsbetriebstypen beteiligte Anzahl der Absatzorgane, vgl. Ahlert, S. 115. 6 Böcker, S. 20. 7 Ahlert, S. 14. Zumindest nimmt der Anteil der Produktionskosten an den Gesamtkosten laufend ab, während der Anteil der Vertriebskosten entsprechend steigt, Batzer/Laumer, S. 19 f. Vgl. ausführlich zu den Vertriebskosten: Geist, S. 78 ff. 8 Nach Klein-Blenkers, in: Tietz, 473 (478) steigt der Anteil der Distributionskosten an den Gesamtkosten der Wirtschaftstätigkeit mit dem Lebensstandard einer Volkswirtschaft. 9 Meier I, S. 33 f.; Pawlikowski, S. 12; Mann, in: MA 1960, 357 (382 f.). 4

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

II. Vertriebssysteme als Form des vertikalen Kontraktmarketings Die Intensivierung der Herstellerkonkurrenz und vor allem die Konzentrationsprozesse im Handel10 bewirken bei den Lieferanten, dass sie sich neben der Produktion auch verstärkt um den gesamten Weg der Erzeugnisse bis hin zum Konsum durch den Endverbraucher widmen. Um einen anhal^^tenden Markterfolg erzielen zu können, wurden in der Industrie mittels vertikalen Marketings Strategien entwickelt, die eine Gestaltung der Beziehungen zu der vor- und/oder nachgelagerten Wirtschaftsstufe zum Gegenstand haben. Ziel des vertikalen Marketings ist, eine bessere Ausschöpfung der Endkäufernachfrage durch eine wechselseitige Abstimmung der Marketing-Aktivitäten auf den einzelnen Stufen im Absatzkanal bei ökonomisch rationalerer Arbeitsweise zu erreichen.11 Mittels aktiver Einwirkung auf die Entscheidungsprozesse der vor- oder nachgelagerten Stufe will der Hersteller nicht nur die nächstfolgende, sondern mehrere Abnehmerstufen in seine Marketing-Konzeption einbeziehen.12 Ziel ist es, die eigenen absatzpolitischen Vorstellungen auf den gesamten Distributionskanal zu übertragen, um ein möglichst homogenes Auftreten aller beteiligten Absatzmittler gegenüber dem Endverbraucher zu erreichen.13 Diese vertikale Vorwärtsintegration führte dazu, dass die Hersteller in zunehmendem Maße versuchten, auf Funktionen Einfluss zu nehmen, die einst zum ausschließlichen Aufgabenbereich des Handels zählten. Dadurch sind vielfältige neue Vertriebsformen entstanden, die alle eine Stufenverwischung des klassischen Absatzgefüges zur Folge haben.14 Als effektives Mittel zur vertikalen Vorwärtsintegration eignen sich Vertriebsverträge. Diese dienen der rechtlichen Absicherung des in Bezug auf den Absatzkanal verfolgten Strategiekonzeptes. Werden nicht nur isoliert Vertriebsverträge mit einzelnen Unternehmen geschlossen, sondern durch inhaltlich gleichlautende Verträge eine Mehrzahl von Absatzinstitutionen gebunden, liegt ein Vertriebssystem vor.15 Für diese Strategie wurde als weiterer Begriff das Kontraktmarketing geprägt.16 Kontraktmarketing kenn10

Vgl. hierzu ausführlich: Dingeldey, S. 53 ff. Meffert, in: Ahlert, 99 (100); Engelhardt, S. 11; Kunkel, S. 7. 12 Kunkel, S. 6. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass es auch Formen des rückwärts gerichteten Marketings gibt. Im Rahmen dieser Untersuchung gewinnt jedoch nur die vorwärts gerichtete vertikale Marketingstrategie Bedeutung. 13 Dabei erschöpft sich die Aufgabe des vertikalen Marketings aber nicht allein auf die Distributionspolitik, sondern auch auf andere Marketing-Instrumente, wie z. B. Innovationsprozesse im Rahmen der Produktpolitik, vgl. Meffert, S. 606 f.; Irrgang, S. 18 ff. 14 Martinek, S. 4. 15 Böni, S. 7. 11

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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zeichnet den Absatz von Waren unter Abstützung auf Verträge, die sich nicht auf einen Verkaufsakt beziehen, sondern für eine Periode oder eine Anzahl von Fällen gelten und die Dauerhaftigkeit des Absatzes fördern.17 Ein Vertriebssystem geht also sowohl hinsichtlich seiner Intensität als auch seiner Dauerhaftigkeit des Kontaktes der Systembeteiligten über das normale Maß einer Geschäftsbeziehung hinaus. Die wohl treffendste und im Schrifttum keinen Widerspruch findende Definition liefert Ahlert18: „Vertragliche Vertriebssysteme begründen eine planmäßige, auf Dauer angelegte und durch individualvertragliche Vereinbarungen (Bindungen) im Zusammenhang mit Austauschverträgen geregelte Zusammenarbeit bzw. Verhaltensabstimmung (Kooperation) zwischen grundsätzlich selbständig bleibenden Industrie- und Handelsunternehmen.“ Aus dieser Bergriffsbestimmung ergibt sich ein Begrenzungspunkt im Rahmen dieser Untersuchung. Die hier zu interpretierenden Vertragswerke stellen vertikale Kooperationsabsprachen zwischen Unternehmen aufeinanderfolgender Wirtschaftsstufen dar. Diese Kooperation setzt denknotwendig voraus, dass die beteiligten Unternehmen unabhängig voneinander agieren.19 Daher bleiben alle Formen der herstellereigenen Absatzinstitutionen, insbesondere der Vertrieb über zwar rechtlich selbstständige, aber wirtschaftlich abhängige Tochtergesellschaften und der über eigene Filialen, unberücksichtigt. Schließlich ebenfalls nicht behandelt wird der zweigleisige Vertrieb, bei dem der Absatz der Waren zum einen durch herstellereigene und zum anderen durch herstellerfremde Absatzorgane erfolgt. Somit bleibt der direkte Absatz, d.h. der Vertrieb der Produkte unter Ausschaltung des Groß- und Einzelhandels20 – unabhängig, ob dieser ausschließlich oder aber in Form des dualen Vertriebs erfolgt – außer Betracht. Eine weitere Möglichkeit des Absetzens von Waren, die hier ausgeklammert wird, ist die Einschaltung von Absatzhelfern21 in den Distributionspro16 Vgl. Tietz/Mathieu, „Das Kontraktmarketing als Kooperationsmodell“ (1979). Verwendet wird dieser Begriff auch von Martinek, S. 115; Ganal, S. 10; Ahlert, S. 18; Ebenroth/Parche, in: BB 1988 Beil. 10, 1 (3); Kapp, S. 26. 17 Tietz/Mathieu, S. 19. 18 Ahlert, in: WRP 1987, 215 (216); Ahlert, in: ZfB 52. Jg. (1982), 62 (66); Ahlert, in: Ahlert, 45. 19 Die Unabhängigkeit beinhaltet sowohl die rechtliche als auch wirtschaftliche Selbstständigkeit der Unternehmen. Vgl. hierzu näher: Tietz/Mathieu, S. 9 ff.; Ebenroth/Parche, in: BB 1988, Beil. 10, 1 (3). 20 Coltzau, S. 3. 21 Synonym wird im Schrifttum auch der Begriff des Handelsvermittlers verwendet, vgl. etwa Meffert, S. 632; Ebenroth/Parche, in: BB 1988, Beil. 10, 1 (5); Tietz/ Mathieu, S. 29; Ganal, S. 17.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

zess. Diese sind zwar als unternehmensfremde Vertriebsorgane22 zu qualifizieren, da sie rechtlich selbstständige Gewerbetreibende sind, ihnen ist jedoch gemein, dass sie einem Weisungsrecht des Herstellers bzw. Lieferanten unterliegen23 und mehr oder weniger stark von diesem wirtschaftlich abhängig sind. Außer Betracht bleiben daher Verträge mit Handelsvertretern, Kommissionären, Kommissionsagenten und Maklern. Ihr wesentlicher Unterschied zu Eigenhändlern24 liegt in der Rechtsstellung der Vertragsparteien. Während Absatzhelfer kein Eigentum an der Ware erwerben und auf fremde Rechnung absetzen, geschieht dies bei Eigenhändlern unter Eigentumserwerb auf eigene Rechnung. Letztere tragen somit das volle absatzwirtschaftliche Risiko.25 Als Untersuchungsgegenstand verbleiben damit die vertraglichen Beziehungen zwischen einem Hersteller bzw. Lieferanten und selbständigen Eigenhändlern, d.h. den Groß- und Einzelhändlern.

B. Juristische Präzisierung des selektiven Vertriebs Im Anschluss an den kurzen Überblick über den betriebswirtschaftlichen Hintergrund von Vertriebssystemen ist nunmehr eine juristische Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes vorzunehmen. Im Kontext der Distributionspolitik als Teil der übergeordneten Marketingstrategie des Unternehmens ist auch der selektive Vertrieb zu verstehen. Bisher unterlag der selektive Vertrieb im europäischen Recht keiner expliziten gesetzlichen Regelung, sodass es an einer einheitlichen Definition für den selektiven Vertrieb mangelte. Während sich für den Alleinvertrieb in der GVO 1983/8326, den Alleinbezug in der GVO 1984/8327 sowie das Franchising in der GVO 4087/8828 eine Legaldefinition fand, musste man sich für selektive Vertriebssysteme mit der umfangreichen Entscheidungspraxis der zuständigen EG-Organe zufrieden geben. 22 Als distributionseigener Absatzhelfer ist vor allem der angestellte Reisende zu nennen, der im Gegensatz zum Handelsvertreter nicht selbstständig ist. 23 Vgl. beispielsweise für den Handelsvertreter § 86 HGB. 24 Gleichbedeutend mit dem Eigenhändler wird der Begriff des Absatzmittler verwandt; vgl. z. B. Veelken, in: ZvglRWiss 89 (1990), 358. 25 Im Gegensatz zu den Absatzhelfern, welchen mangels Eigentumserwerb lediglich das Provisionsrisiko obliegt. 26 Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1983/83 vom 22.06.1983 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinvertriebsvereinbarungen, ABl. L 173/1. 27 Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83 vom 22.06.1983 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinbezugsvereinbarungen, ABl. L 173/5.

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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Daher sind im juristischen Schrifttum auch vielfältige Versuche unternommen worden, den selektiven Vertrieb fachsprachlich zu erfassen.29 Allen Definitionen ist gemein, dass sie als Kerngehalt des selektiven Vertriebs auf die Geschäftsverweigerung gegenüber nicht erwünschten Abnehmern abstellen.30 Darüber hinaus wollen Teile des Schrifttums diese Umschreibung noch um weitere Elemente erweitert sehen. So nehmen Meier31, Pawlikowski32 und Martinek33 zusätzlich einen räumlichen Bezug in die Definition mit auf, da die Ermittlung der Absatzstellenanzahl allein nicht ausreiche, um eine Absatzorganisation als selektiven Vertrieb zu qualifizieren. Dies ergebe sich erst aus der Verbindung mit räumlichen Marktgrenzen.34 Ein weiteres Kriterium soll nach Hefermehl35 und Messer36 gelten: die vertragliche Absicherung der Händlerauslese mittels der Verpflichtung des Großhandels, nur in bestimmte Absatzgebiete oder nur an bestimmte oder nach bestimmten Kriterien bezeichnete Einzelhandelsgeschäfte weiterzuliefern.37 Ähnlich, nur in leicht abgeschwächter Form, definiert auch Emmerich den selektiven Vertrieb.38 Zu der Beschränkung des Abnehmerkreises träte in der Regel noch die Verpflichtung der ausgewählten Abnehmer, bestimmte Vertriebswege einzuhalten und Lieferungen an solche Händler zu unterlassen, die vom Hersteller nicht zugelassen sind. An den zuletzt genannten Definitionen wurde kritisiert, dass sie eine Vermischung des absatztheoretischen Begriffs mit der notwendigen juristischen Ausgestaltung des Systems darstellen würden.39 Im Ergebnis ist als kleinster gemeinsamer Nenner festzuhalten, dass sich selektiver Vertrieb juristisch dadurch auszeichnet, dass nicht alle abnahmewilligen Händler beliefert werden, sondern der Hersteller bewusst bestimmte Absatzmittler auswählt, um sie mit dem Vertrieb der betreffenden 28 Art. 1 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EWG) Nr. 4087/88 vom 30.11.1988 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Franchisevereinbarungen, ABl. L 359/46. 29 Vgl. hierzu ausführlich Meier I, S. 65 ff.; Pawlikowski, S. 29 ff. 30 Kirchhoff, S. 15; Sölter, Kooperative Absatzwirtschaft, S. 47; Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 1; Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 34; Emmerich, in: I/M, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 178. 31 Meier I, S. 68 f. 32 Pawlikowski, S. 31 f. 33 Martinek, S. 9. 34 Meier I, S. 68 f. 35 Hefermehl, in: GRUR 1975, 275. 36 Messer, in: WRP 1977, 378. 37 Hefermehl, in: GRUR 1975, 275. 38 Emmerich, in: Dauses, H. I § 1, Rdnr. 273. 39 Meier I, S. 69; Pawlikowski, S. 31.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Ware zu betrauen. Stets werden zu der Selektion korrespondierende Verpflichtungen zwischen den Parteien eingegangen, da andernfalls das selektive Vertriebssystem nicht funktionsfähig wäre. Entscheidend für die juristische Definition ist aber die Geschäftsverweigerung gegenüber solchen Händlern, die das Selektionskonzept des Herstellers nicht erfüllen. Im zweiten Teil der Untersuchung gestaltet sich die begriffliche Erfassung hingegen leichter, da die Vertikal-GVO in Art. 1 lit. d erstmalig eine Definition selektiver Vertriebssysteme gesetzlich verankert hat.

C. Formen der Selektion Im Anschluss an die juristische Präzisierung selektiver Vertriebssysteme erfolgt ein kurzer Überblick über die Erscheinungsformen der Selektion. Dabei wird zum einen zwischen der vertikalen und der horizontalen und zum anderen zwischen der qualitativen und der quantitativen Selektion unterschieden. I. Vertikale Selektion Die erste im absatzpolitischen Schrifttum zu findende Differenzierung ist die nach der vertikalen und horizontalen Selektion. Diese steht aber nur im mittelbaren Zusammenhang mit dem selektiven Vertrieb als solchem, da diese Unterscheidung ganz allgemein die Festlegung der Absatzkanalstruktur betrifft und somit einen Bereich darstellt, von dem jedes Unternehmen – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Vertriebssystems – betroffen ist. Zu Beginn stellt sich für jeden Hersteller die Frage, welche Marktstufen seine Erzeugnisse von der Produktion bis hin zum Konsum passieren sollen. Daher muss im Rahmen der vertikalen Selektion40 festgelegt werden, welche Absatzstufen in den Vertrieb einzubeziehen sind. Mit dieser Entscheidung wird die erste Weiche gestellt, in dem damit der direkte oder indirekte Vertriebsweg der Ware vorgezeichnet wird. Die vertikale Selektion bestimmt damit die Länge des Absatzkanals; je mehr Zwischenhandelsstufen an der Verteilung der Produkte beteiligt sind, desto länger gestaltet sich dieser. Im Rahmen des selektiven Vertriebs kann nach der bei der vertikalen Selektion vorhandenen Anzahl der Marktstufen zwischen ein-, zwei- und mehrstufigen Modellen unterschieden werden.41 40 Diese wird im Schrifttum zum Teil auch als stufenspezifische Selektion bezeichnet, vgl. Pawlikowski, S. 15 f.; Meier I, S. 52. 41 Diese Einteilung gilt ebenso für andere Vertriebssysteme.

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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Einstufiger selektiver Vertrieb42 liegt vor, wenn sich der Hersteller zwecks Verteilung seiner Ware ausschließlich eines Zwischenhändlers bedient. Beim zweistufigen selektiven Vertrieb43 liegt hingegen die klassische Absatzkette Hersteller – Großhandel – Einzelhandel vor. Vom mehrstufigen selektiven Vertrieb44 kann hingegen gesprochen werden, wenn neben dem Groß- und Einzelhandel noch eine weitere Zwischenhandelsstufe eingeschaltet wird.45 Beim zwei- bzw. mehrstufigen Vertrieb kann dabei die Selektion auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Zum einen kann der Hersteller den Großhändler anweisen, nur die konkret von ihm ausgesuchten und bezeichneten Einzelhändler zu beliefern; oder aber er kann es dem Großhandel überlassen, sich seine Abnehmer entsprechend des von dem Hersteller aufgestellten Kriterienkatalogs auszusuchen. Beiden Vorgehensweisen ist gemein, dass sie es dem Hersteller ermöglichen, sein Selektionskonzept bis hin zur letzten Absatzstufe durchzusetzen. Sie wird daher auch als durchlaufende Selektion bezeichnet.46 Neben dieser kurzen Aufzählung an unterschiedlichen Modellen eines Selektionskonzeptes gibt es noch zahlreiche Mischformen. So kann der Hersteller schließlich dem Großhändler ein Alleinvertriebsrecht einräumen und diesen dann mit der Errichtung des selektiven Vertriebssystems beauftragen. Diese Vorgehensweise ist besonders für die Erschließung ausländischer Märkte zweckdienlich, da ein in dem betreffenden Land ansässiger Großhändler beispielsweise die sprachlichen Barrieren besser zu überwinden weiß als der nationale Hersteller. II. Horizontale Selektion Im Anschluss an die Auswahl zwischen den Absatzstufen folgt die horizontale Selektion47. Diese betrifft die Auswahl innerhalb der einbezogenen 42 Das ist der sog. indirekte verkürzte Absatzweg, vgl. Ahlert, S. 155 und wird zum Teil auch als Selektion der ersten Stufe bezeichnet, vgl. Frignani, in: WuW 1978, 365 (370). 43 Das ist der sog. unverkürzte indirekte Absatzweg, vgl. Ahlert, S. 155 und wird zum Teil auch als Selektion der zweiten Stufe bezeichnet, wobei von diesem Begriff auch die Fälle erfasst werden sollen, in denen mehr als zwei Zwischenhändler eingeschaltet sind, vgl. Frignani, in: WuW 1978, 365 (370). 44 Es wird hier oftmals sprachlich nicht strikt getrennt, sondern auch der zweistufige Vertrieb als mehrstufiger Vertrieb bezeichnet, vgl. z. B. Heidmeier, S. 5. 45 So z. B. in den seltenen Fällen, in denen zuerst der Spezial-, dann der Sortimentsgroßhandel und schließlich der Einzelhandel in der Verteilerkette involviert ist. 46 Ahlert, in: ZfB 1982, 62 (79). 47 Pawlikowski, S. 16 bezeichnet diesen Vorgang als stufeninterne Selektion.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Marktstufen und legt damit Tiefe und Breite48 des Absatzkanals fest. Mit der Entscheidung, welche und wie viele unterschiedliche Handelsbetriebstypen einer Stufe zugelassen werden, wird die Distributionsintensität festgelegt. Hierbei können entsprechend dem Distributionsgrad drei unterschiedliche Formen unterschieden werden: Die intensive Distribution (Universalvertrieb) bewirkt einen hohen Distributionsgrad und folgt dem Prinzip der vollständigen Markterfassung. Geeignet ist diese Art des Vertriebs vor allem für Güter des täglichen Bedarfs („convenience goods“), um für diese eine Überallerhältlichkeit (Ubiquität) zu bewirken. Eine Exklusion von Absatzmittlern ist daher nicht im Sinne des Herstellers.49 Im Mittelfeld der Intensitätsskala des Distributionsgrades befindet sich die selektive Distribution. Hier wird die Anzahl der Absatzmittler nach zuvor festgelegten Kriterien, die es von den Zwischenhändlern zu erfüllen gilt, bestimmt. Diese Vertriebsform ist vor allem für den Absatz von Markenartikeln geeignet, wenn die Absatzstraffung der Absatzförderung dient und spezifische Vertriebsleistungen der Händler erforderlich sind.50 Praktiziert wird der selektive Vertrieb daher vor allem bei „shopping goods“, d.h. für hochwertigere Gebrauchsgüter des aperiodischen Bedarfs.51 Der niedrigste Distributionsgrad wird mit der exklusiven Distribution angestrebt. In diesem Fall werden die Abnehmer neben der qualitativen Anforderungskriterien zusätzlich quantitativ beschränkt. Diese Distributionsform wird primär bei besonders hochwertigen Markenwaren des aperiodischen Bedarfs angewandt.52 III. Qualitative Selektion Im Zusammenhang mit selektiven Vertriebssystemen stellt die Unterscheidung nach den für die Händlerauswahl maßgeblichen Kriterien den weitaus wichtigeren und wettbewerbsrechtlich relevanteren Bereich dar. Sowohl die Europäische Kommission53 als auch der EuGH54 differenzieren von jeher zwischen der qualitativen und der quantitativen Selektion. 48

Vgl. zur Tiefe und Breite des Absatzkanals bereits oben unter 1. Teil, § 1, A. I. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn der Hersteller über die Exklusion seine Preisvorstellungen auf der Handelsstufe durchsetzen möchte. 50 Sölter, in: MA 1965, 303 (321). 51 Pawlikowski, in: MA 1982, 492. 52 So beispielsweise bei besonders hochwertiger Bekleidung und Möbeln, vgl. Meffert, S. 617. 53 III. Wettbewerbsbericht (1973), S. 20 (Tz. 7); Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19. 49

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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Bei der qualitativen Selektion wählt der Hersteller mittels der Aufstellung eines seinem übergeordneten Marketingkonzept entsprechenden, objektiven Kriterienkatalogs unter den abnahmewilligen Groß- bzw. Einzelhändlern diejenigen aus, die diese Selektionskriterien erfüllen und damit einen homogenen Standard nach außen gewährleisten können. Nach der Kommission gelten als qualitative Kriterien55 solche, die Anforderungen an die fachliche Qualifikationen der Vertriebshändler bzw. dessen Personal und technische und funktionelle Anforderungen an eine anerkannte Verkaufsstätte stellen.56 Beispiele hierfür sind etwa der Standort (Zentrum, „grüne Wiese“) und die Ausstattung des Ladengeschäfts (Einrichtung, Angebotsdarbietung), die Serviceleistungen vor (Fachberatung, Vorführung) und nach (Reparatur-, Garantie- und Kundendienst) dem Kauf, die Sortimentsgestaltung (Warenhaus, Fachgeschäft) und die Gewährleistung einer ausreichenden Lagerhaltung. Dabei können die Selektionskriterien je nach Stufenzugehörigkeit unterschiedlich ausfallen; an einen Großhändler werden andere Anforderungen gestellt als an einen Einzelhandelsbetrieb. Bei ersterem spielt weniger die konkrete Ausstattung des Verkaufsraumes eine Rolle, als beispielsweise vielmehr die ausreichende und sachgerechte Lagerung der Vertragsware. Charakteristisch für eine Selektion nach qualitativen Kriterien ist, dass die Aufnahme in das Vertriebssystem ausschließlich von der Erfüllung der aufgestellten Kriterien durch den Händler abhängt und somit der konkrete Grad der Selektion nicht a priori feststeht. IV. Quantitative Selektion Im Gegensatz zur qualitativen Selektion liegt es bei der quantitativen Selektion nicht in der Dispositionsfähigkeit des Händlers, ob er die Aufnahme in das Vertriebssystem zu bewirken vermag oder nicht. Die Auswahl nach quantitativen Kriterien beschränkt von vornherein die Anzahl der aufzunehmenden Vertriebspartner in einem bestimmten geographischen Gebiet. Aufgrund der vorher festgesetzten mengenmäßigen Begrenzung wird daher selbst den grundsätzlich fachlich geeigneten Händlern die Partizipation am Vertriebssystem verwehrt. 54 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875; EuGH 22.20.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021; EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996, II-1961. 55 Anschaulich insoweit auch die Aussagen der Kommission in dem Bericht über die Funktionsweise der VO 1475/95 für den Kfz-Vertrieb. Dort werden in Tz. 14 die qualitativen Anforderungen auch als leistungsbezogene Kriterien bezeichnet. 56 Grünbuch, Tz. 128 i). Vgl. auch in den Leitlinien, Tz. 185.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Die Auswahl nach quantitativen Gesichtspunkten findet stets im Anschluss an die qualitative Selektion statt, da andernfalls fachlich unqualifizierte Absatzmittler in den entscheidungserheblichen Kreis der potentiellen Systemangehörigen geraten würden. Dabei kann die konkrete Festlegung der Anzahl der vertriebsangehörigen Groß- bzw. Einzelhändler auf unterschiedliche Weise erfolgen. Zum einen kann eine Quote pro Region festgelegt werden, beispielsweise die Zulässigkeit nur eines Händlers in einer Stadt, oder die Händleranzahl wird nach Einwohnern berechnet. Des Weiteren kann auf die vorhandene oder potentielle Nachfrage nach den gebundenen Produkten oder auf die Kaufkraft57 in einem bestimmten Gebiet abgestellt werden.58 Bei der quantitativen Selektion kann weiterhin nach einer unmittelbaren und einer mittelbaren Auswahl der Absatzmittler differenziert werden. Eine unmittelbare Selektion liegt vor, wenn mittels absoluter Höchstzahlen die Anzahl der Systemangehörigen festgelegt wird. Eine zahlenmäßige Begrenzung kann aber auch mittelbar, beispielsweise durch die Festlegung von Mindest- oder Höchstumsätzen, erfolgen.59 Es wird deutlich, dass eine strikte Trennung zwischen qualitativen und quantitativen Zulassungsbeschränkungen nicht stets vorgenommen werden kann. So sind beispielsweise die Grenzen zwischen einer unter hohen fachlichen Erfordernissen durchgeführten qualitativen Selektion und einer mittelbar quantitativen Selektion fließend. Einer qualitativen Selektion ist stets auch eine zahlenmäßige Begrenzung des Abnehmerkreises immanent, da mit Erhöhung des Anforderungsprofils stets auch ein Ausscheiden der grundsätzlich in Betracht kommenden Zwischenhändler einhergeht.60 Daher kann ein Hersteller bereits bei der qualitativen Selektion durch die Festlegung der relevanten Kriterien grob kalkulieren, wie viele Absatzmittler dem Vertriebssystem schließlich angehören werden.

D. Vertragliche Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme In den wenigsten Fällen gelingt es dem Hersteller, als Systemzentrale seine ausgesuchten Zwischenhändler allein durch faktischen Zwang zur Einhaltung des Absatzweges und seiner vorgegebenen Marketingkonzeption zu bewegen. Dies gilt umso mehr, je länger sich der Distributionskanal gestaltet. Zum Zweck der Sicherstellung, dass die eigenen marketing-politischen Vorstellungen über mehrere Marktstufen bis hin zum Endverbraucher fort57 58 59 60

Grünbuch, Tz. 128 iii). Kirchhoff, S. 15 f. Leitlinien, Tz. 185. Meier I, S. 56; Duijm, S. 23.

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gesetzt werden, strebt der Hersteller an, seine Absatz- und Selektionspolitik auf ein rechtliches Fundament zu stellen. Hierfür bedient er sich unterschiedlichster Vertragsklauseln, deren Gesamtheit zusammen mit dem systematischen Abschluss einer Vielzahl inhaltlich gleichlautender Verträge das Vertriebssystem bilden. Es muss also zwischen dem einzelnen Bindungstatbestand einer Vertragsklausel und dem aus der Vielzahl der Klauseln entstehenden Bindungssystem unterschieden werden.61 Die konkreten Ausgestaltungsmöglichkeiten eines Vertriebssystems sind äußerst facettenreich; zur Verfügung stehen eine Vielzahl unterschiedlicher rechtlicher Bindungsvarianten. Daher kann auch nicht von einem selektiven Vertriebssystem als solchem gesprochen werden. Jedem System liegt vielmehr ein eigenes Regelungswerk an Vertragsklauseln zugrunde, das sich je nach den marketingpolitischen Bedürfnissen der Parteien voneinander unterscheiden lässt. Einprägsam formuliert Ahlert den Charakter eines vertraglichen Vertriebssystems „als individuelles Bauwerk der Marketing-Praxis, von denen jedes im Grunde einzigartig ist“.62 Die im Folgenden genannten Vertragsklauseln sind als Bausteine anzusehen, mittels derer Zusammenfügung ein individuelles System der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit aufgebaut werden kann. Je nach Akzentuierung der übergeordneten Marketingkonzeption wird auf die ein oder andere Klausel mehr oder weniger Gewicht gelegt.63 Hinsichtlich der Terminologie der einzelnen Bindungstatbestände herrscht im Schrifttum eine verwirrende Uneinheitlichkeit.64 Ursächlich hierfür sind die unterschiedlichen Anwendungs-, Ausgestaltungs- und Kombinationsmöglichkeiten jeder einzelnen Vertragsklausel innerhalb jeder Form von vertikalen Kooperationssystemen.65 Im Folgenden sollen daher die typischerweise in selektiven Vertriebssystemen vorkommenden Bindungstatbestände begrifflich fixiert und systema61 Vgl. auch Ahlert, in: Ahlert, 45 (46); ders., in: ZfB 1982, 62 (67). Hier wird sehr treffend zwischen drei Betrachtungsebenen unterschieden: Die Absatzkanalstrategie des Herstellers determiniert die Entscheidung für ein bestimmtes Vertriebssystem, das wiederum aus den einzelnen Vertragsklauseln besteht. 62 Ahlert, in: Ahlert, 45 (46). 63 Geht es dem Hersteller um den Vertrieb eines Luxusproduktes, wird er mehr Wert auf die Ausgestaltung der Geschäftsräume legen. Will er hingegen die Serviceleistungen, beispielsweise bei technischen Geräten, durch den Handel sicherstellen, bedient er sich anderer Bindungstypen. 64 Diese begrifflichen Diskrepanzen betreffen vor allem das Bindungssubjekt und die Klassifizierung von Bindungen in Kategorien. 65 Vgl. hierzu auch Ahlert, in: Ahlert, 45 (46); Ahlert, in: ZfB 1982, 62 (67); Heidmeier, S. 3.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

tisiert werden.66 Hierbei wird das Hauptaugenmerk darauf gelegt, wer im Einzelfall als Bindender und wer als Gebundener anzusehen ist. I. Die Machtverhältnisse im Absatzkanal Vor Darstellung der Vertragsklauseln soll zunächst untersucht werden, welcher der Systempartner als Bindungssubjekt in die Pflicht genommen wird. Selektive Vertriebssysteme beruhen auf dem Prinzip der vertikalen Kooperation, sodass durch das Vertragswerk sowohl Rechte als auch Pflichten für die beteiligten Parteien begründet werden. Jeder verzichtet auf einen Teil seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wer ein Mehr an wirtschaftlicher Freiheit aufgibt. Hierüber entscheidet die jeweilige Marketingführerschaft im Absatzkanal. Marketingführer67 ist, wer aufgrund eines Machtübergewichts den Vertriebskanal beherrscht und dabei die anderen Systembeteiligten derart zu beeinflussen vermag, dass sie ihre Entscheidungen seinem vorgegebenen Marketing-Konzept anpassen.68 Dabei kann dem Grunde nach sowohl der Hersteller als auch der Absatzmittler die Marketingführerschaft innehaben; dies hängt von den Aktivitäten der Marktpartner und den Marktgegebenheiten des jeweils relevanten Marktes ab.69 Bei Produkten des täglichen Bedarfs, die universal vertrieben werden und denen das Prinzip der Ubiquität zugrunde liegt, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass der Handel die Marketingführerschaft hält. Dieses liegt zum einen an der größeren Nähe zum Verbraucher und zum anderen an der Reaktion des Handels auf den durch die vertikale Vorwärtsintegration immer stärker werdenden Einfluss der Herstellerunternehmen. So hat auch der Handel durch horizontale Kooperationsformen seine Machtposition verstärkt und eine Nachfragemacht gebildet, die in vielen Branchen den Hersteller daran hindert, das Vertriebssystem nach seinem Belieben zu kontrollieren. Daher wird im Schrifttum auch von einem neuen „Geist der Partnerschaft“70 gesprochen, womit nichts anderes gemeint ist, als dass nunmehr die Interessen des Handels mehr als zuvor berücksichtigt werden müssen. 66 Vgl. hierzu das sich im Anhang 1 befindende Schema zu der vertraglichen Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme. 67 Gleichbedeutend hiermit werden die Begriffe Leitunternehmer oder channel leader verwandt. 68 Sölter, Kooperative Absatzwirtschaft, S. 50; Meffert, S. 607 f.; Kunkel, S. 27 f. 69 Sölter, Kooperative Absatzwirtschaft, S. 49; Meffert, S. 608. 70 Vgl. Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 25.

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Obwohl sich das Machtgefüge in den vergangenen Jahren zugunsten des Einzelhandels verschoben hat71, ist die Situation bei Produkten, die nicht nach dem Prinzip der vollständigen Markterfassung abgesetzt werden, eine andere. In diesen Fällen hat zumeist der Hersteller die Marketingführerschaft inne. Bei einem Unternehmen, das erfolgreich in der Lage ist, bestimmte Abnehmerkreise von dem Vertrieb seiner Erzeugnisse auszuschließen, kann von einem hinreichenden Machtübergewicht ausgegangen werden. Dieses resultiert in der Regel aus der vorhandenen Stärke des Produktkonzeptes.72 Innerhalb selektiver Vertriebssysteme ist in der Regel der Hersteller als Leitunternehmer anzusehen, da von diesem das Marketingkonzept der Selektion und damit die Beschränkung des Abnehmerkreises ausgeht.73 Verdeutlicht wird dies durch die Zusatzleistungen, die der Handel bereit ist, als Gegenleistung für die Belieferung mit dem Produkt zu erbringen. Insofern wird meist mehr der Händler in seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit eingeschränkt als der Hersteller. Festzuhalten bleibt daher, dass der Hersteller aufgrund der von ihm ausgehenden Selektion eher seine Partner bindet als durch diese gebunden wird. Durch den Abschluss einer Vielzahl gleichlautender Verträge mit der nachgelagerten Stufe entsteht quasi ein Spinnennetz; die Händler weben als einzelne Glieder der Absatzkette das Netz, in welches die Endverbraucher zwecks Gewinnmaximierung eingefangen werden sollen. II. Selektion Dem Grunde nach stellt die Selektion der geeigneten Absatzmittler durch den Hersteller lediglich einen faktischen Entscheidungsprozess dar, dessen es keiner gesonderten vertraglichen Fixierung bedarf.74 Die Selektion ist der erste Schritt, welcher dann durch den zweiten Schritt – dem systematischen Abschluss inhaltlich gleichlautender Verträge – abgesichert werden soll. Schließlich soll der nach den marketingpolitischen Vorstellungen des Herstellers bereinigte Absatzkanal über mehrere Absatzstufen hinweg etabliert, aufrechterhalten und abgesichert werden. 71

Grünbuch, Tz. 233. Meffert, S. 608. Eine solche Stellung eines Unternehmens kann sich aber auch aus der Auferlegung verbotener Absprachen ergeben. 73 So auch Sölter, in: MA 1965, 303 (306 f.); Sölter, Kooperative Absatzwirtschaft, S. 47 f.; Meier I, S. 111 f.; Meffert, S. 608. 74 Obwohl natürlich eine rechtliche Bindung des Herstellers denkbar ist, durch die er sich zur Einhaltung der festgesetzten Kriterien verpflichtet (Absatzbindung). Hier geht es jedoch zunächst nur um den Vorgang der Selektion als Geschäftsverweigerung gegenüber den abnahmewilligen Zwischenhändlern. 72

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Die Selektion kann aber gleichwohl auch ausdrücklicher Vertragsbestandteil sein, und zwar in all den Fällen, in denen nicht der Hersteller die Zwischenhändler auswählt75, sondern er diese Aufgabe auf die Großhändler delegiert.76 Diese Vorgehensweise bietet sich vor allem an, wenn neue Märkte erschlossen werden sollen, die von dem Herkunftsland des Herstellers verschieden sind. Der europäische Markt ist nach wie vor von ganz unterschiedlichen kulturellen Verbrauchgewohnheiten in den verschiedenen Staaten geprägt77, sodass es einem ortsansässigen Händler oftmals besser gelingen wird, ein Vertriebssystem aufzubauen. III. Festlegung und Sicherung des Distributionsweges Den wesensbestimmenden Vertragsbestandteil selektiver Vertriebssysteme bilden Klauseln, die den Distributionsweg festlegen und sicherstellen. Diese Bindungstatbestände bestimmen, welche Marktstufen die Waren auf ihrem Weg zum Endverbraucher durchlaufen und welche eben gerade nicht. All diesen Klauseln ist gemein, dass sie auf unterschiedliche Weise versuchen, die vorbestimmten Absatz- bzw. Bezugskanäle einzuhalten, die Lückenlosigkeit des Vertriebssystems sicherzustellen und somit die Absatzkanalstrategie des Herstellers zu wahren. 1. Vertriebsbindungen Der Aufbau und Fortbestand eines selektiven Vertriebssystems ist ohne die Verwendung von Vertriebsbindungen undenkbar.78 Allgemein versteht man unter Vertriebsbindungen die Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Absatzwege.79 Mit dieser beschränkt der Lieferant seinen Abnehmer darin, die gebundene Ware an beliebige Dritte abzugeben80; der Händler verliert damit seine Freiheit bei der Wahl seines Vertragspartners.81 Eine kartellrechtlich relevante Vertriebsbindung liegt nur dann vor, wenn die Pflicht zur Beschränkung der Absatzmöglichkeiten vertraglich fixiert ist und nicht 75

Diese Form der Selektion kann als zentralisiert bezeichnet werden, vgl. Pawlikowski, S. 24, v. a. Fn. 85. 76 Diese Delegation der Selektionsentscheidung wird von Pririou, in: GRUR Int. 1980, 321 (325) als dezentralisiertes Vertriebsnetz bezeichnet. 77 Vgl. hierzu Grünbuch, Tz. 26. 78 Zutreffend bezeichnet Kapp, S. 31 Vertriebsbindungen als die „Transmissionsriemen“ selektiver Vertriebssysteme. 79 Lehmpfuhl, in: Ahlert, 437. 80 Vgl. Wortlaut des § 16 Nr. 3 GWB. 81 Damit handelt es sich bei Vertriebsbindungen um Abschlussbindungen, vgl. Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 60; Ahlert, in: ZfB 1982, 62 (72).

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ein bloßer auf Freiwilligkeit basierender Verzicht auf den Geschäftsverkehr vorliegt. Damit der Hersteller bei mehrstufigen selektiven Vertriebssystemen den Absatzweg seiner Waren bis zum Endverbraucher kontrollieren kann, bedarf er durchlaufender Vertriebsbindungen: Diese gewährleisten, dass der Absatzmittler seinem jeweiligen Abnehmer dieselben Vertriebsbindungen auferlegt. Charakteristisch und für die Funktionsfähigkeit eines selektiven Vertriebssystems unerlässlich ist die Lückenlosigkeit des Systems. Die vom Hersteller angestrebte Kanalisierung der Distributionswege kann nur erreicht werden, wenn allen Abnehmern dieselben Bindungen auferlegt werden und somit systemunbeteiligte Unternehmen definitiv vom Bezug der Vertragsware ausgeschlossen sind.82 Entsprechend ihres Inhalts kann man zwischen persönlichen und räumlichen Vertriebsbindungen unterscheiden.83 a) Persönliche Vertriebsbindungen84 Die persönlichen Vertriebsbindungen begrenzen den Absatz auf bestimmte Abnehmerkreise85: Es wird festgelegt, welche Handelsstufen bzw. -formen beliefert werden dürfen und an welche systemfremde Unternehmen die Abgabe der Vertragsware unterbunden werden soll.86 Die Kundenbindung ist damit das Mittel des Herstellers, sein verfolgtes Selektionskonzept auf die nachfolgende(n) Stufe(n) des Absatzkanals zu übertragen.87 Bei persönlichen Vertriebsbindungen kann sich der Inhalt der Verpflichtung nach der Stufenzugehörigkeit des potentiellen Abnehmers richten oder aber von dieser unabhängig sein. Dies ermöglicht eine weitere Unterscheidung zwischen der marktstufenspezifischen und der marktstufenindifferenten Kundenbindung.88

82

Kapp, S. 31 Fn. 32. Diese Unterscheidung entspricht derjenigen des amerikanischen Rechts in „customer restrictions“ und „territorial restrictions“. 84 Gleichbedeutend mit der persönlichen Vertriebsbindung kann der Begriff der Kundenbindung verwendet werden. 85 Meffert, S. 635; Kapp, S. 27. 86 Pawlikowski, in: MA 1982, 492 (496). 87 Nach Kapp, S. 31 wird das Vertriebssystem durch die Kundenbindung „wasserdicht“. 88 Vgl. hierzu insbes. Meier I, S. 194 ff.; Pawlikowski, S. 212 ff. 83

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

aa) Marktstufenspezifische Kundenbindung Bei der marktstufenspezifischen Kundenbindung ist die Erlaubnis zur Belieferung eines Abnehmers allein an dessen Marktstufenzugehörigkeit geknüpft. Damit werden Händler ausschließlich wegen ihrer Stellung im Vertriebsweg vom Absatz der Vertragswaren ausgeschlossen. Besonders geläufige Spielarten dieser Form von Vertriebsbindungen sind Sprunglieferungs-, Rücklieferungs- und Querlieferungsverbote. Diese sollen den vom Hersteller vorbestimmten Lauf der Ware optimal kanalisieren. Das Sprunglieferungsverbot legt den Abnehmern auf, jeweils nur die nächstfolgende Marktstufe zu beliefern und damit keine Stufe der Absatzkette zu „überspringen“, d.h. dem Großhändler wird beispielsweise verboten, private Endverbraucher zu beliefern. In die andere Richtung des Warenlaufprozesses wirkt das Rücklieferungsverbot. Hierbei wird dem Händler untersagt, die Vertragswaren an die vorgelagerten Wirtschaftsstufen abzusetzen. Der Einzelhändler darf damit nur an den Endverbraucher verkaufen und nicht an den Großhändler „zurückliefern“. Während die beiden zuerst dargestellten marktstufenspezifischen Kundenbindungen den vertikalen Lauf der Ware betreffen, schränkt das Querlieferungsverbot die horizontale Warenbewegung ein. Hierbei wird dem Händler untersagt, systemangehörige Unternehmen derselben Marktstufe mit der Vertragsware zu beliefern. Unterbunden wird so beispielsweise, dass ein Einzelhändler einem anderen Einzelhändler die gebundene Ware zu einem geringeren Preis „querliefert“. bb) Marktstufenindifferente Kundenbindung Im Gegensatz zur marktstufenspezifischen erfolgt die marktstufenindifferente Kundenbindung unabhängig von der Stufenzugehörigkeit des Abnehmers. Sie richtet sich ausschließlich nach qualitativen Kriterien.89 Diese Form der persönlichen Kundenbindung macht den „Kerngehalt“90 selektiver Vertriebssysteme aus, da sie die Fortsetzung der vom Hersteller verfolgten Selektionspolitik im gesamten91 Absatzkanal darstellt. Damit ist Sinn und Zweck derartiger marktstufenindifferenter Kundenbindungen evident: Es 89

Kirchhoff, S. 26. Meier I, S. 197. 91 Für den Hersteller ist es natürlich erstrebenswert, sein Konzept auf den gesamten Absatzkanal bis hin zum Verbraucher zu projizieren. Um dies sicherzustellen, muss er sich mehrstufiger Vertriebsbindungen bedienen. 90

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soll die Anwendung der vorbestimmten Kriterien durch die Absatzmittler gewährleistet werden, um ein Eindringen systemfremder Unternehmen in das Distributionsnetz zu verhindern. Als oberste Maxime für alle an dem Netz beteiligten Wirtschaftssubjekte stellt sich daher die Nichtbelieferung von Außenseitern dar, damit die Geschlossenheit des Vertriebssystems nach außen sichergestellt ist. Die verbreitetste Art der marktstufenindifferenten Kundenbindung ist die Fachhandelsbindung. Mittels dieser wird den Abnehmern auferlegt, nur Fachhändler zu beliefern und bestimmte Betriebsformen (z. B. Discounter, SB-Märkte) vom Vertrieb der Vertragsware auszuschließen. Dennoch ist nicht jede Kundenbindung als Fachhandelsbindung aufzufassen und dieser gleichzusetzen, da bei der Festlegung der Kriterien durch den Hersteller auch andere Faktoren als die der Fachhandelseigenschaft eine Rolle spielen können.92 Weiterhin ist die Kundenbindung gebräuchlich, um dem Hersteller selbst einen gewissen Kundenkreis zu sichern. Bei diesen so genannten Vorbehaltskunden, wie z. B. private oder staatliche Großabnehmer, ist es den Absatzmittlern untersagt, Geschäftsbeziehungen mit dieser besonderen Abnehmergruppe aufzunehmen. b) Räumliche Vertriebsbindungen93 Räumliche Vertriebsbindungen bestimmen das territoriale Gebiet, in dem sich der Absatzmittler betätigen darf; d.h. ihm wird ein Bezirk zugewiesen, innerhalb dessen es ihm erlaubt ist, die Vertragswaren abzusetzen. Der Abschluss einer Vielzahl derartiger Gebietsbindungen versetzt den Hersteller in die Lage, einen geographischen Raum nach seinen betriebswirtschaftlich rationalen Vorstellungen und in Bezug auf die Konkurrenzunternehmen sinnvoll aufteilen zu können. Für den Absatzmittler hat das System der einzelnen Gebietsbindungen einen Gebietsschutz zur Folge.94 Ähnlich wie bei der durchlaufenden Kundenbindung kann auch hier der Hersteller seine Absatzmittler verpflichten, ihrerseits den eigenen Abnehmern Gebietsbindungen aufzuerlegen, um somit die territoriale Aufteilung über mehrere Marktstufen hinweg fortzupflanzen. Bei räumlichen Vertriebsbindungen kann man nach der Intensität der den Absatzmittlern auferlegten Verpflichtungen unterscheiden.95 92

Ahlert, in: Ahlert, 45 (77). Gleichbedeutend mit der räumlichen Vertriebsbindung wird der Begriff der Gebietsbindung verwendet. 94 Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 61. 93

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aa) Gebietsbindungen im engeren Sinne96 Gebietsbindungen im engeren Sinne verbieten dem Absatzmittler, die gebundene Ware an Abnehmer zu verkaufen, die außerhalb ihres zugewiesenen Gebietes ansässig sind. Insofern sind Gebietsbindungen im engeren Sinne in ihrer Beschränkungswirkung am weitgehendsten. Dabei kann es sich bei dem Vertragsgebiet um einen Landesteil, um ein ganzes Land oder auch um eine Ländergruppe handeln. Wird ein Vertragsgebiet mit den Grenzen eines Staates gleichgesetzt, so handelt es sich um ein Exportverbot.97 Dieses verhindert den Verkauf der gebundenen Ware außerhalb der Staatsgrenzen und schottet damit die einzelnen nationalen Märkte voneinander ab. bb) Standortklausel98 Standortklauseln weisen den Händlern bestimmte Verkaufslokale zu, von welchen die Vertragswaren ausschließlich abzusetzen sind; die Errichtung und Unterhaltung von Niederlassungen oder Auslieferungslagern außerhalb des Vertragsgebietes ist nicht gestattet. Verbunden wird hiermit häufig ein Verbot der Werbung außerhalb des Vertragsgebietes (Akquisitionsverbot). Die Belieferung außerhalb des Gebietes ansässiger Kunden bleibt jedoch möglich, sodass die Standortklausel von der Intensität weniger beschränkend als die Gebietsbindungen im engeren Sinne ist.

95 Zum Teil werden diese räumlichen Vertriebsbindungen nicht unter dem Oberbegriff der Gebietsbindungen behandelt, sondern als dessen Surrogate, so z. B. bei Meier I, S. 222 ff. 96 Auch „closed territorial agreements“ oder „airtight territorial restrictions“. Kirchhoff, S. 25 bezeichnet diese Form der räumlichen Vertriebsbindung als absolute Gebietsbindung. Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 61 nennt diese „strikte Gebietsbindungen“. Die hier verwandte Terminologie ist gewählt, um eine Verwechslung mit dem absoluten Gebietsschutz zu vermeiden und findet sich auch bei Kapp, S. 28. 97 Auch hier gibt es terminologische Unsicherheiten, da z. T. keine Einigkeit darüber besteht, aus wessen Sichtweise (Verkäufer oder Käufer) die Verpflichtung zu verstehen ist. So bestimmt Sölter, S. 12 das Exportverbot aus Verkäufersicht. Wie hier sieht auch die Europäische Kommission das Exportverbot aus dem Blickwinkel des gebundenen Absatzmittlers, Komm. v. 21.12.1976, ABl. 1977 L 30/10 (12, Tz. 17). Vgl. ausführlich zu diesem Problembereich, Meier I, S. 216 ff., v. a. Fn. 308. 98 „Location clause“. Auch hier ist die Terminologie uneinheitlich. So wird von Kapp, S. 29 die Standortklausel als Akquisitionsverbot bezeichnet. Dieses ist jedoch nur ein möglicher Bindungstyp innerhalb der Standortklausel bzw. ist dieses Verbot auch unabhängig von einer Standortklausel einsetzbar.

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cc) Ausgleichszahlungen99 Auch bei der Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen ist der Verkauf außerhalb des Vertragsgebietes zulässig. Dafür hat der in ein anderes Territorium liefernde Händler jedoch dem jeweilig ansässigen Absatzmittler eine Provision zur Entschädigung der erfolgten Gebietsdurchbrechung zu zahlen. Dabei nimmt mit der konkreten Höhe der zu entrichtenden Ausgleichszahlung die Tauglichkeit der Provisionsklausel als Ersatz für eine Gebietsbindung im engeren Sinne zu. dd) Marktverantwortungsbereiche100 Mit der Marktverantwortungsklausel wird dem Absatzmittler ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, das er vornehmlich zu erschließen, zu bearbeiten und zu betreuen hat. Dabei werden ihm seitens des Herstellers bestimmte Absatzziele vorgeschrieben, deren Nichterreichung den Entzug der Verkaufslizenz zur Folge haben kann.101 Hierdurch soll der Absatzmittler dazu motiviert werden, primär sein eigenes Vertragsgebiet optimal zu bearbeiten. In diesem Sinn werden dem Händler nicht die außerhalb seines Bezirks getätigten Umsätze auf die von dem Hersteller aufgestellten Absatzziele angerechnet.102 Da eine Tätigkeit in einem fremden Vertragsgebiet nicht unterbunden wird, kann die Marktverantwortungsklausel als mildestes Mittel zur territorialen Aufspaltung eines geographischen Raumes angesehen werden. 2. Absatzbindungen Absatzbindungen stellen das Gegenstück zu den Vertriebsbindungen dar; gebunden wird hierbei nicht der Abnehmer, sondern der Hersteller. Letzterer wird durch die Absatzbindung verpflichtet, bestimmte Absatzwege bei der Distribution seiner Erzeugnisse einzuhalten. Auch hier sind persönliche und räumliche Absatzbindungen zu unterscheiden.

99 „Profit-pass-over-clause“. Kapp, S. 29 bezeichnet diese in Ahnlehnung an das amerikanische Schrifttum als Übergrenzprovisionsklauseln. Bei Stumpf, 2. Auflage, III Rdnr. 44 heißt diese „Übergrenzvergütung“. Wie hier Kirchhoff, S. 26; Meier I, S. 223. 100 „Area of primary responsibility“. 101 Kirchhoff, S. 26. 102 Meier I, S. 225 unter Hinweis auf diese vornehmlich in den USA praktizierte Bindungsform.

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a) Persönliche Absatzbindungen Die persönliche Absatzbindung hat ebenso wie die Kundenbindung zum Inhalt, nur an Kunden zu liefern, die aufgrund ihrer Vertriebseigenschaft geeignet sind.103 Der Unterschied besteht ausschließlich in dem Bindungssubjekt: Hier wird der Hersteller verpflichtet, die vorbestimmten Absatzkanäle einzuhalten. Auch hier kann nach einer marktstufenspezifischen und einer marktstufenindifferenten Variante differenziert werden. Die marktstufenspezifische Absatzbindung verpflichtet den Hersteller, bei der Belieferung seiner Abnehmer das Einhalten bestimmter Marktstufen innerhalb der Distributionskette zu beachten und keine Stufe auszulassen oder zu überspringen.104 Als Beispiel hierfür dient das Direktverkaufsverbot des Herstellers, wonach er seine Waren nicht direkt – unter Ausschaltung der Handelsstufe – an die Endverbraucher absetzen darf.105 Bei der marktstufenindifferenten Form bindet sich der Hersteller selbst, die von ihm aufgestellten qualitativen Kriterien bei der Belieferung seiner Abnehmer zu beachten und gewährleistet so den anderen systemangehörigen Absatzmittlern, dass die Vertragsware ausschließlich über Händler vertrieben wird, die einen bestimmten qualitativen Standard erfüllen. b) Räumliche Absatzbindungen Das Korrelat zu Gebietsbindungen sind räumliche Absatzbindungen, da auch hier die Verpflichtung besteht, nur innerhalb eines bestimmten Absatzgebietes tätig zu werden. Der Hersteller verpflichtet sich, nur eine bestimmte Anzahl von Abnehmern innerhalb eines geographischen Raumes zu beliefern. Die häufigste Erscheinungsform der räumlichen Absatzbindung ist das Alleinvertriebsrecht. Die Einräumung eines Alleinvertriebsrechts bindet den Hersteller, innerhalb eines bestimmten Territoriums ausschließlich einen einzigen Händler mit seinen Produkten zu beliefern.106 Es handelt sich somit um ein regiona103

Ulmer, S. 121. Meier I, S. 171; Pawlikowski, S. 221. 105 Die Direktbelieferung (insbesondere für Großabnehmer) behält sich der Hersteller in der Regel jedoch durch eine persönliche marktstufenindifferente Vertriebsbindung vor, vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 1. a) aa). Vgl. hierzu auch Ulmer, S. 122. 106 Auch bei dem Alleinvertriebsrecht handelt es sich um ein in der Praxis des selektiven Vertriebs sehr stark verbreitetes Element des Vertriebssystems. Dieses ist von der eigenständigen Kategorie der Alleinvertriebsverträge zu unterscheiden. Letztere enthalten wiederum eine Vielzahl von unterschiedlichen vertikalen Bindungen, vgl. hierzu Schluep; Ahlert, in: Ahlert, 45 (82 ff.). 104

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les Ausschließlichkeitsrecht.107 Liegt lediglich eine solche räumliche Absatzbindung vor, so kann auch von einem offenen Alleinvertriebsrecht gesprochen werden.108 Bei geschlossenen Alleinvertriebsrechten109 verpflichtet sich der Hersteller hingegen über die Absatzbindung hinaus, um das dem Händler eingeräumte exklusive Recht zusätzlich zu sichern. Hierfür bindet er seine weiteren systemzugehörigen Absatzmittler, sich auf ihre Region zu beschränken und damit nicht in andere Gebiete zu liefern.110 Diese Kombination von Alleinvertriebsrecht und Vertriebsbindung gewährt dem einzelnen Absatzmittler Gebietsschutz und bewahrt ihn innerhalb seines Vertragsgebietes vor dem Wettbewerb mit anderen Händlern der gleichen Produkte. Wird dem Absatzmittler ein Alleinvertriebsrecht eingeräumt und zugleich den anderen Händlern Gebietsbindungen im engeren Sinne auferlegt, hat man einen absoluten Gebietsschutz vor sich. 3. Bezugsbindungen Allgemein liegen Bezugsbindungen vor, wenn der Hersteller seine Abnehmer verpflichtet, bestimmte Waren nur von konkret festgelegten Lieferanten zu beziehen. Der Händler wird also beim Einkauf der Produkte in seiner Wahlfreiheit bezüglich seines Lieferanten beschränkt. Alle Formen von Bezugsbindungen dienen dem Zweck, den vom Hersteller bestimmten Distributionsweg auch von dieser Seite abzusichern, indem sie das beschaffungspolitische Verhalten der Händler verbindlich festlegen. Bei Bezugsbindungen kann man anhand der gebundenen Produkte nach solchen unterscheiden, die sich auf die herstellereigenen Vertragswaren beziehen und nach solchen, die vertragsfremde, d.h. von einem konkurrierenden Hersteller produzierte Waren betreffen.111

107

Ganal, S. 31; Sölter, S. 14. Dieser Terminologie stammt aus dem französischen Recht und wird ebenso von Meier I, S. 180 verwendet. 109 Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 69 nennt diese dann „qualifizierte Alleinvertriebsvereinbarung“. 110 Stumpf, 2. Auflage, II Rdnr. 10. Hierbei handelt es sich um die bereits oben dargestellten Arten der persönlichen und vor allem räumlichen Vertriebsbindungen, vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 1. a) und b). 111 Zum Teil wird eine derartige Differenzierung nicht vorgenommen, sondern unter dem Begriff der Bezugsbindung nur die Beschränkung des Händlers hinsichtlich vertragsfremder Waren gefasst. So z. B. Kapp, S. 33. 108

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a) Bezugsbindungen hinsichtlich Vertragswaren Diese Art der Bezugsbindung schreibt dem Händler verbindlich vor, wo er die Vertragswaren zu erwerben hat. Während Vertriebsbindungen den Fluss der Waren beim Absatz lenken, kultivieren Bezugsbindungen das Beschaffungsverhalten der eingeschalteten Absatzmittler. Bei diesen kann erneut nach persönlichen und räumlichen Bindungen differenziert werden. Die persönlichen Bezugsbindungen entscheiden darüber, welche qualitativen Anforderungen an den Lieferanten zu stellen sind, um von diesem beziehen zu können. Bei der marktstufenspezifischen Variante wird auf die Stufenzugehörigkeit des Vertragspartners abgestellt112, bei der marktstufenindifferenten Bezugsbindung hingegen allein auf die individuellen Betriebseigenschaften. Durch die räumliche Bezugsbindung wird dem Händler vorgeschrieben, von wo er die Vertragswaren zu beziehen hat. Auch hier steht wiederum die Beachtung geographisch festgelegter Vertragsgebiete im Vordergrund. Die wichtigste Fallgruppe ist das Importverbot113, durch welches der gebundene Abnehmer darin gehindert wird, die Vertragsware von einem ausländischen Lieferanten zu beziehen. b) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren Die wichtigste Art der Bezugsbindung hinsichtlich Fremdwaren ist das so genannte Konkurrenzverbot.114 Danach ist es dem Händler untersagt, Produkte eines anderen Herstellers zu beziehen. Bei diesem Verpflichtungstatbestand versucht der Hersteller sogar, Einfluss auf den Warenfluss von Konkurrenzerzeugnissen zu nehmen. Dabei kann sich das Verbot entweder auf Waren beziehen, welche die Vertragsware substituieren können, oder aber auch generell auf herstellerfremde Produkte. Im letzteren Fall liegt dann eine Alleinbezugsbindung vor.115 Diese begründet spiegelbildlich zur 112

Z. B. ausschließlicher Bezug des Großhandels über den Hersteller. Das Importverbot wird im Schrifttum selten im Zusammenhang mit den Bezugsbindungen erörtert, sondern in der Regel bei den Vertriebsbindungen genannt (vgl. z. B. Pawlikowski, S. 215. Dies ist aufgrund der Wirkungsweise von Importverboten vertretbar, dennoch nicht ganz exakt, da sie aus Sichtweise des gebundenen Abnehmers diesen in seinen grenzüberschreitenden Bezugsmöglichkeiten einschränken. Das Importverbot wird nur von Kirchhoff, S. 29 im Zusammenhang mit Bezugsbindungen erläutert. 114 Auch hier besteht keine einheitliche Terminologie. So wie hier Ulmer, S. 115; Stumpf, 2. Auflage, III, Rdnr. 32; Belke, S. 210 f.; Meffert, S. 637. 115 Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 57. 113

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Alleinvertriebsbindung ein Ausschließlichkeitsrecht nicht auf der Abnehmerseite, sondern auf der Beschaffungsseite.116 Eine ähnliche Wirkung wie Bezugsbindungen haben Mindestabnahmepflichten. So kann der Hersteller die Quote der abzunehmenden Vertragsware derart hoch ansetzen, dass sämtliche Händlerkapazitäten gebunden werden, wodurch der Fremdwarenbezug unmöglich wird. Gleiches gilt für Gesamtbedarfdeckungsverträge, die den Händler verpflichten, seinen gesamten (mengenmäßig unbestimmten) Bedarf während der Vertragslaufzeit ausschließlich beim Hersteller zu decken. 4. Gebietsschutz117 Der Gebietsschutz stellt keinen den Vertriebs-, Absatz- oder Bezugsbindungen vergleichbaren Bindungstypus dar, sondern wird mittels der jeweils räumlichen Variante dieser Vertragsklauseln zwischen den Parteien vereinbart.118 Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Gebietsschutzes innerhalb selektiver Vertriebssysteme sei dennoch erneut darauf hingewiesen, dass sowohl der Hersteller als auch der Händler Gebietsschutz schulden können.119 Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass im Fall der räumlichen Absatzbindung der Hersteller das Bindungssubjekt ist, da dieser sich verpflichtet, seinen Absatzmittlern Vertriebsbindungen aufzuerlegen.120 In diesem Fall geht es darum, die den Händlern zugewiesenen Gebiete abzusichern. Durchaus gängiger sind jedoch die Fälle, in denen der Absatzmittler der Gebundene ist. Im Rahmen räumlicher Vertriebs- und Bezugsbindungen ist es dem Händler untersagt, außerhalb eines bestimmten Gebietes die Vertragswaren abzusetzen bzw. zu beziehen. Alle gebietsschützenden Klauseln versuchen, einzelne Märkte voneinander abzuschotten. IV. Bindungen hinsichtlich der Absatzgestaltung Über diese unmittelbar den Warenfluss lenkenden Bindungen hinaus werden eine weitere Fülle typischerweise in selektiven Vertriebssystemen auferlegten Verpflichtungstatbestände von den Parteien vereinbart. Im Gegensatz 116

Martinek, in: Martinek/Semler, § 2, Rdnr. 57. Vgl. hierzu ausführlich Meier I, S. 214 ff. 118 Auch hier herrscht eine verwirrende Unklarheit, was genau unter einem „Gebietsschutz“ zu verstehen ist. Vgl. hierzu Meier I, S. 214, Fn. 294a. 119 Meier I, S. 214. 120 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 2. b). 117

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zu den oben dargestellten Klauseln, welche die Absatz- und Bezugskanäle festlegen und damit den Distributionsweg sicherstellen wollen, haben die im Folgenden darzustellenden Vertragsklauseln gemeinsam, dass sie die näheren Modalitäten des Austauschverhältnisses festlegen, ohne dabei jedoch den Geschäftsverkehr mit Dritten unmittelbar zu untersagen. Damit wird der vor allem durch Vertriebsbindungen vorgegebene Rahmen des Warenlaufs im Inneren ausgefüllt. Grundsätzlich kann unterschieden werden zwischen Klauseln, die die Geschäftsbeziehung zwischen dem Hersteller und seinem systemzugehörigen Händler betreffen (parteiinternes Verhältnis) und solchen, welche die Vertragsabwicklung zwischen diesem Absatzmittler und einem Dritten regeln (partei-externes Verhältnis).121 Auch die Bindungen hinsichtlich der Absatzgestaltung können als Bausteine eines umfassenden Vertragswerks angesehen werden und beliebig miteinander kombiniert werden. 1. Absatzverhaltensbindungen Absatzverhaltensbindungen betreffen solche Verpflichtungen des Händlers, welche die Vorgehensweise beim Absatz der Herstellerprodukte regeln. Hierbei ist Absatz im weitesten Sinne zu verstehen, d.h. der Hersteller bindet seinen Abnehmer nicht nur für den zeitlich nachfolgenden konkreten Verkauf des Produkts an einen Dritten, sondern auch in der Zeit vor und nach diesem Absatz. Die Absatzverhaltensbindungen füllen daher den soeben dargestellten Bereich der vertriebswegesichernden Klauseln aus. Dabei verlaufen diese dem Abnehmer auferlegten Verpflichtungen parallel zu den vom Hersteller entwickelten Selektionskriterien. Schließlich will die Systemzentrale sicherstellen, dass die für die Auswahl ausschlaggebenden qualitativen Eigenschaften des Abnehmers auch in Zukunft gewährleistet werden.122 Daher umfasst der Bereich dieser den Zwischenhändlern123 auferlegten Verpflichtungen das gesamte Spektrum der vorher durch den Hersteller angewandten Selektionskriterien. a) Verkaufsstätte Als Bindungsinhalte kommen daher vor allem diejenigen Verpflichtungen in Betracht, die eine der Vertragsware adäquate Einrichtung und Ausstat121

Meier I, S. 266. Pawlikowski, S. 233; Meier I, S. 202. 123 Soweit hierbei (ausnahmsweise) auch Bindungen des Herstellers vorzufinden sind, werden diese aufgrund des funktionellen Zusammenhangs ebenfalls dargestellt. 122

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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tung des Ladengeschäfts inklusive der Schaufenster verlangen. Dem Hersteller kann es entweder auf die für die Darbietung des Produkts technischen Erfordernisse oder aber auch auf das Prestigeerlebnis für die Kunden während des Einkaufs ankommen. Oftmals umfasst diese Art von Bindungen die Verpflichtung, die Vertragsware in einem branchenspezifischen, repräsentativen und gehobeneren Warenumfeld zu präsentieren. Dies kann auch beinhalten, dass in der Verkaufsstelle keine Produkte verkauft werden dürfen, die durch den räumlichen Zusammenhang ein negatives Licht auf die Vertragsware werfen könnten. Nicht selten werden dabei zudem durch den Hersteller die Anteile der Verkaufs- und/oder Schaufensterfläche festgelegt, die der Händler für die gebundenen Produkte freizuhalten verpflichtet ist. Zudem finden sich Klauseln, die zur Herausstellung der Herstellermarke verpflichten. b) Kundendienst Vertragsklauseln in selektiven Vertriebssystemen, die den Kundendienst betreffen, können sowohl den Hersteller als auch den Händler binden. Der Hersteller kann sich verpflichten, selbst Kundendienst zu leisten, indem er insbesondere die Zwischenhändler berät oder informiert. Die bedeutsamste Form der herstellerseitigen Bindung dieser Art ist die Übernahme und Durchführung der Garantiearbeiten. Weitaus häufiger und inhaltlich umfassender werden in der Praxis aber die Händler hinsichtlich des Kundendienstes in die Pflicht genommen. Einem selektiven Vertriebssystem ist oftmals immanent, dass dem Absatzmittler, insbesondere dem Einzelhändler, weitreichende Verpflichtungen hinsichtlich der Art und Weise des durchzuführenden Kundendienstes auferlegt werden. Diese Art von Klauseln betreffen die klassischen Leistungen, die der Fachhandel zu erbringen hat. Sie beziehen sich sowohl auf die Zeit vor dem Kauf des Produktes124, indem eine fachgerechte Beratung und Information des Kunden durch den Händler zu erfolgen hat, als auch auf den nachverkauflichen Service.125 Dieser für den Händler sehr kostenintensive Bereich betrifft die Durchführung von Garantie-, Service- und Reparaturarbeiten. Mit der Auferlegung derartiger Bindungen wird zum Teil auch die Verwendung von bestimmten technischen Ausrüstungen, Werkzeugen sowie Ersatzteilen vorgeschrieben.

124 125

So genannte „post-sale-service“ oder „before-sale-service“. So genannte „pre-sale-service“ oder „after-sale-service“.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

c) Personal Eng mit dieser Kategorie von Bindungen verwandt sind die dem Händler hinsichtlich des Personals auferlegten Verpflichtungen. Diese können zunächst seine eigene Person betreffen, indem er selbst einen gewissen Qualifikationsstandard zu erfüllen hat, den er auch in Zukunft durch geeignete Maßnahmen beizubehalten bzw. weiterzuentwickeln hat. Der andere Bereich stellt Anforderungen an die Anzahl und Art der bei den Zwischenhändlern beschäftigten Personen.126 So wird oftmals eine gewisse Sachkunde an die Mitarbeiter gestellt, die durch eine nachgewiesene spezifische Berufsausbildung belegt werden muss und durch Fortbildungsmaßnahmen auf dem neuesten Stand der Entwicklung zu sein hat.127 Zusätzlich wird dem Händler vorgeschrieben, welche konkrete Anzahl von qualifiziertem Fachpersonal sich während der Öffnungszeiten in dem Ladengeschäft aufzuhalten hat. d) Lagerhaltung Bindungen des Händlers hinsichtlich der Lagerhaltung können aus unterschiedlichen Gründen für den Hersteller eine große Bedeutung haben. Zum einen kann die sachgerechte Lagerung der Vertragsware Bestandteil der Qualitätspolitik des Herstellers sein.128 Zum anderen kann er durch das Befinden der Waren vor Ort eine Verkürzung der Lieferfristen bewirken wollen, um so seinen Produkten den Ruf der schnellen Lieferbarkeit beizulegen. Schließlich kann sich der Hersteller aber selbst lagermäßig und finanziell entlasten wollen, indem er bestehende Nachfrageschwankungen auf die nachfolgenden Stufen des Absatzkanals verlagert.129 Außerdem sind Lagerhaltungsbindungen vortreffliche Mittel, um sachliche und räumliche Kapazitäten der Handelsstufe für die Konkurrenz zu blockieren. e) Sortiment Eine ähnliche Wirkung haben Bindungen des Händlers mit dem Inhalt, ein hinreichend breites und tiefes Sortiment vorrätig zu halten. Hierbei wird 126

Dabei beziehen sich die Bindungen auf das Verkaufs- und/oder Werkstattper-

sonal. 127 Eine Leistung des Herstellers kann hierbei sein, dass er dem Personal des Händlers diese Weiterbildungsmaßnahmen ermöglicht, indem er selbst Seminare hinsichtlich seiner Produkte hält bzw. die Fortbildung finanziell unterstützt. 128 Dies gilt vor allem bei der adäquaten Lagerung verderblicher Ware. 129 Das in der Praxis weit verbreitete Mittel hierzu ist die Festlegung eines Mindestlagerbestandes.

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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des Öfteren eine Trennung nach der Funktion des Zwischenhändlers im Absatzkanal seitens des Herstellers vorgenommen: Während dem Großhändler auferlegt wird, das komplette Sortiment zu führen, kann es beim Einzelhändler als ausreichend erachtet werden, einen repräsentativen Querschnitt der Angebotspalette vorzuhalten. f) Werbung Vertragsklauseln, welche die Werbung betreffen, können zwei Bindungssubjekte haben; sowohl Hersteller als auch Händler können Verpflichteter sein. Der Hersteller kann sich beispielsweise bereit erklären, Werbematerial zur Verfügung zu stellen oder sich finanziell an den entstandenen Werbeaufwendungen des Händlers zu beteiligen. Weitaus bedeutsamer sind aber auch hier die Händlerbindungen. Diese können in zwei Richtungen wirken. Einerseits kann der Händler verpflichtet werden, umfangreiche Werbemaßnahmen durchzuführen. Andererseits kann es ihm aber auch untersagt werden, Werbung zu betreiben.130 Hinsichtlich der von dem Händler vorzunehmenden Werbemaßnahmen sind vielfältige Bindungen vorstellbar. Diese können allgemeiner gehalten sein, indem lediglich die Höhe eines durch den Händler aufzubringenden Werbeetats bestimmt wird. Denkbar sind aber auch Anweisungen, die konkret den Inhalt der Werbung festlegen, indem Art, Ort, Ausmaß und Form vorbestimmt sind. Der Händler kann beispielsweise verpflichtet sein, die vom Hersteller zur Verfügung gestellten Werbematerialien zu benutzen oder aber in bestimmten Medien zu werben. Oftmals wird ihm auch auferlegt, sich an den Werbeaktionen des Herstellers zu beteiligen. 2. Vertriebsförderungspflichten Mittels Vertriebsförderungspflichten versucht der Hersteller seine Händler dazu anzuhalten, sich vermehrt auf den Absatz seiner Produkte zu konzentrieren. Nicht von den Vertriebsförderungspflichten werden die allgemeinen – klassischen – Leistungen des Fachhandels erfasst. Hierunter fallen vielmehr nur solche Pflichten, die über die regelmäßig an einen Händler gestellten Anforderungen hinausgehen.131 130 So wird dem Händler z. B. untersagt, in einem bestimmten territorialen Gebiet Kunden zu akquirieren. 131 Im Schrifttum werden diese Verpflichtungen oftmals unter der qualifizierten Fachhandelsbindung erwähnt; vgl. z. B. I/M/Emmerich, Art. 85 Abs.1, Rdnr. 212 f.; Emmerich, in: Dauses, H. I § 1, Rdnr. 279.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Dabei können die Vertriebsförderungspflichten ganz allgemein vertraglich fixiert sein132 oder aber näher durch einzelne Verpflichtungsklauseln durch den Hersteller konkretisiert werden. Als Bindungstatbestände kommen insbesondere die Pflicht zur Erzielung eines Mindestumsatzes, die Pflicht zur Mindestabnahme, die Abnahme fester monatlicher Teilmengen der Jahresbestellung, die Haltung eines Mindestlagerbestandes, der Bezug des vollständigen Sortiments sowie die Pflicht zur Errichtung und Entwicklung eines Vertriebsnetzes beizutragen, in Betracht. Insbesondere am Beispiel der Mindestlagerhaltungsklauseln wird deutlich, dass die Grenzen zu den soeben erläuterten Absatzverhaltensbindungen fließend sein können. Mit der Pflicht des Händlers zur Vorhaltung eines bestimmten Lagerbestandes kann der Hersteller entweder den Zweck verfolgen, Kundenwünsche zeitnah befriedigt sehen zu wollen. Andererseits können durch Mindestlagerbestandsregelungen aber auch erhebliche Kapazitäten zugunsten des Herstellers gebunden werden und es dadurch anderen Produzenten erschwert bzw. unmöglich gemacht werden, den Markt zu erschließen. Weiterhin wird zum Teil durch die Hersteller versucht, mittels Organisationsbindungen tiefgreifend in den internen Ablauf seiner Abnehmer einzugreifen. Hierfür verpflichtet er sie beispielsweise, vorgegebene Buchhaltungs- und/oder Bilanzierungsunterlagen zu verwenden oder die Bestellung mittels eines umfassenden Netzwerks vorzunehmen. Denkbar sind auch Vorschriften hinsichtlich des Betriebskapitals und der Finanzierungsmöglichkeiten des Absatzmittlers.133 3. Informations-, Kontroll- und Kooperationsbindungen Die Informations-, Kontroll- und Kooperationsbindungen sind für den Hersteller unerlässlich, um sein selektives Vertriebssystem für die Zukunft lückenlos zu gestalten. Dabei sind sowohl hersteller- als auch händlerseitige Verpflichtungen denkbar, wobei auch hier letztere überwiegen. a) Informationsbindungen Der Erfolg des Herstellers ist direkt von der Nachfrage durch die Konsumenten abhängig. Da der Hersteller meist keinen unmittelbaren Kontakt mit 132

Vgl. Pawlikowki, S. 246 f.; Meier I, S. 164 f. Zur allgemeinen Interessenwahrnehmungspflicht des Händlers: Ulmer-Eifort, in: Stumpf, Rdnr. 213 ff.; Ulmer, S. 73 f. und 80 f. 133 Meier I, S. 210.

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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den Endverbrauchern hat134, ist es für ihn von besonderer Bedeutung, welche Erfahrungen die Händler beim Verkauf seiner Produkte machen. Um Kenntnis von diesen Daten zu erlangen, legt der Hersteller den Händlern unterschiedliche Informationspflichten auf. Die naheliegendsten Informationspflichten des Händlers beziehen sich dabei auf Daten, die die eigene Absatzstelle betreffen. So kann er verpflichtet werden, Informationen über den Verlauf seiner Geschäfte zu offenbaren. Diese können beispielsweise Meldungen über die Absatz- und Marktlage (inkl. der voraussichtlich im näheren Zeitraum zu erwartenden Absatzmengen/Nachfrage), den Lagerbestand, den erzielten Umsatz unter Vorlage der Jahresbilanz des letzten Jahres bis hin zu Angaben über die eigene Liquidität beinhalten. Eine weitere, nicht unmittelbar an die Absatzstelle als solche anknüpfende Informationspflicht kann sich aus dem Informationsvorsprung135 des Handels ergeben. Beispielsweise liefert das Scanning der Ware beim Verkauf dem Handel Erkenntnisse, die insbesondere auch für den Hersteller im Hinblick auf die Marktentwicklung und das Nachfrageverhalten von Bedeutung sind. Der Produzent strebt daher an, den Händler zu verpflichten, ihm diese Daten zugänglich zu machen. Der Hersteller geht in der Regel vergleichsweise geringe Informationspflichten ein; Betriebsinterna werden dabei nicht offengelegt. Er ist häufig lediglich dazu verpflichtet, die Händler über auftretende Produktions- und/ oder Lieferschwierigkeiten zu unterrichten. In seinem eigenen Interesse hat er seine Abnehmer über Produktions- und Preisänderungen in Kenntnis zu setzen. Zum Teil findet sich in Vertriebsverträgen auch die Verpflichtung des Herstellers, den Händlern Direktverkäufe mitzuteilen. b) Kontrollbindungen Zur Sicherung des Distributionsweges auf die durch ihn vorbestimmten Absatzkanäle ist der Hersteller als Systemzentrale auf die Unterstützung der Händler angewiesen, da er allein nicht imstande ist, den Weg der gebundenen Waren in allen Einzelheiten zu verfolgen und zu überwachen. Neben allgemein formulierten Kontrollbindungen136 ist die Nummernkontrolle ein gängiger Vertragsbestandteil selektiver Vertriebssysteme. Der 134 Abgesehen von dem Kontakt, welchen der Hersteller mit seinen Vorbehaltskunden hat. 135 Vgl. hierzu: Meffert, S. 612. 136 Wie etwa das Gebot, alle Maßnahmen des Herstellers zwecks Sicherung und Überwachung des Vertriebssystems zu unterstützen.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Produzent kennzeichnet seine Ware mit Herstellernummern und legt den Händlern eine Registrierungspflicht auf. So hat er den Käufer, das Kaufdatum und die Nummern der gebundenen Produkte zu notieren und auf Anfrage diese Daten dem Hersteller zugänglich zu machen.137 Weiterhin wird den Händlern auferlegt, im Vorfeld des Weiterverkaufs der Systemware eine Netzzugehörigkeitsprüfung ihrer Abnehmer durchzuführen. Dabei kann die Zulassung des Käufers zum Vertriebssystem entweder anhand einer durch den Hersteller erstellten Händlerliste, durch direkte Rückfrage beim Hersteller oder aber mittels Vorlage des Vertriebsvertrages durch den Käufer überprüft werden.138 c) Kooperationsbindungen Es kann keine trennscharfe Differenzierung zwischen den Kooperationsbindungen und den Informations- und Kontrollbindungen vorgenommen werden, da letztere stets auch ein kooperatives Element enthalten. Aufgrund der großen Bedeutung für den Hersteller seien hier jedoch explizit die den Händlern oftmals auferlegten Markterforschungspflichten und -beobachtungspflichten genannt. Diese umfassen die Auskünfte über Markttrends, das Erkunden der Präferenzen der Endverbraucher, die Beobachtung der Konkurrenzprodukte und möglicherweise das Liefern von Ideen für Innovationen. Diese Form der Kooperationsbindung nimmt für den Produzenten noch an Bedeutung zu, wenn es gilt, einen neuen – ausländischen – Markt zu erschließen und zu bearbeiten. Hier ist die eigene Marktforschungstätigkeit des Herstellers erfahrungsgemäß geringer, sodass es meist dem Händler auferlegt wird, diese Aufgabe zu übernehmen.139 Auch hier sind die Kooperationsbindungen, die den Hersteller in die Pflicht nehmen, vergleichsweise schwach ausgeprägt. Der Hersteller sagt meist nur die bereits oben erwähnte Unterstützung der Händler bei der Durchführung werblicher Maßnahmen zu.140

137

Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 71. Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 71. 139 Dabei wird diese Art der Klausel im zwischenstaatlichen Handel oftmals im Zusammenhang mit einem Alleinvertriebsrecht erteilt. Dem Großhändler obliegt es dann, ein Vertriebsnetz aufzubauen. Hinzu kommen dann die bereits oben erwähnten Kontrollverpflichtungen, um das System funktionsfähig zu gestalten und aufrechtzuerhalten. 140 Z. B. durch die Überlassung von Werbematerial; vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. IV. 1. f). 138

§ 1 Die Grundlagen des selektiven Vertriebs

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4. Weitere Bindungen Schließlich finden sich in selektiven Vertriebssystemen eine Vielzahl von Klauseln, die auch in anderen Typen von Vertriebsverträgen Anwendung finden und somit nicht spezifisch auf diese zugeschnitten sind. a) Konkurrenzverbote im engeren Sinne Unter Konkurrenzverboten werden im Schrifttum zumeist die Bindungen des Händlers verstanden, neben der gebundenen Herstellerware keine Konkurrenzprodukte zu führen.141 Diese wurden hier terminologisch den Bezugsbindungen zugeordnet142, da sie den Händler unmittelbar in seiner Beschaffungsfreiheit einschränken.143 Bindungssubjekt der Konkurrenzverbote im engeren Sinne können sowohl der Händler als auch der Hersteller sein. Dabei verpflichten sich die Vertragspartner, das Tätigkeitsfeld des jeweils anderen zu respektieren und nicht in diesem aktiv zu werden, sodass die bestehende Arbeitsteilung zementiert wird. Der Hersteller darf nicht „vorwärts integrieren“, indem er die Funktionen des Groß- bzw. Einzelhandels übernimmt. Der Händler bindet sich, nicht „rückwärts zu integrieren“, indem er seinen Geschäftsbereich auf die Produktion herstellerähnlicher Waren ausweitet. b) Preis- und Markenbindungen Mittels der Preisbindung wird dem Händler durch den Hersteller ein Preis vorgegeben, zu welchem er die Produkte (mindestens/höchstens) zu verkaufen hat. Im Gegensatz zur Vertriebsbindung nimmt die Preisbindung keinen Einfluss auf die Wahl des Vertragspartners, sondern auf den Inhalt des Vertrages mit dem frei gewählten Geschäftspartner; sie ist somit Inhalts- und nicht Abschlussbindung. Die Preisbindung findet sich aufgrund der Vorschrift des Art. 81 Abs. 1 lit. a EG äußerst selten als ausdrückliche vertragliche Fixierung in den Vertriebsverträgen.144 Dennoch ist der Hersteller natürlich gewillt, auf den klassischen Wettbewerbsparameter Preis bestimmend einzuwirken. 141 So z. B. Ulmer, S. 115; Stumpf, 2. Auflage, III, Rdnr. 32; Belke, S. 210 f.; Sölter, S. 15. 142 Vgl. bereits oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 3. b). 143 Wie hier auch Meier I, S. 213; Kirchhoff, S. 28; Pawlikowski, S. 227. 144 Ausnahmen bestehen nur für die national ausnahmsweise zulässigen Preisbindungen, wie beispielsweise in der Bundesrepublik mit § 15 GWB für Verlagserzeugnisse.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Ähnliche Effekte können – ohne ausdrückliche Vereinbarung einer Preisbindung – auf unterschiedliche Weise erreicht werden. So kann der Händler bereits bei der Zulassung zum Vertriebssystem versuchen, auf das künftige Preisverhalten seines Abnehmers Einfluss zu nehmen. Beliebt ist es auch, Anreize für den Händler zu schaffen, um eine herstellerkonforme Preispolitik zu betreiben, indem Boni in Aussicht gestellt werden. Das Gegenstück hierzu ist die Androhung von Sanktionen, wenn zu weit von den Preisvorstellungen des Herstellers abgewichen wird. Die Marke betreffende Bindungen können entweder den Hersteller dazu verpflichten, die Benutzung dieser durch den Abnehmer zu dulden oder aber den Händler zu einem bestimmten Gebrauch bzw. Unterlassung der Verwendung der Marke verpflichten.145 c) Koppelungsbindungen Selten vorzufinden sind Koppelungsbindungen. Diese verpflichten den Abnehmer, neben der eigentlichen Hauptleistung eine andere Ware zusätzlich abzunehmen. Koppelungsbindungen stellen keinen elementaren Bestandteil selektiver Vertriebssysteme dar, weil es meist an dem Interesse des Herstellers fehlt, die Händler für sachlich unterschiedliche Produkte zu binden, da diese regelmäßig über unterschiedliche Vertriebskanäle abgesetzt werden.146

§ 2 Die ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik Im Folgenden werden die unterschiedlichen wettbewerbstheoretischen Konzeptionen dargestellt, um eine Bewertungsbasis für die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu gewinnen. Die Vielschichtigkeit der Thematik gebietet es, im Rahmen dieser Arbeit lediglich einen groben und vereinfachten Überblick der verschiedenen Konzeptionen zu gewähren.147 Dabei werden vor allem die wesentlichen Konfliktfelder dargestellt, auf welchen die hier relevanten Auseinandersetzungen stattfinden. 145

Vgl. hierzu: Meier I, S. 225 f.; Pawlikowski, S. 238 jeweils m. w. N. Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 56. 147 Erschwerend kommt dabei hinzu, dass sich die einzelnen Phasen der wettbewerbstheoretischen Entwicklung aufgrund ihres zeitgleichen Verlaufs nicht eindeutig voneinander trennen lassen, so dass die Einteilung teilweise Inhalte widerspiegeln kann, die den Vertretern der einzelnen Theorien nicht gerecht werden. Daher müssen die durchaus vorhandenen Unterschiede zwischen den Anhängern innerhalb desselben Konzeptes unberücksichtigt bleiben. Vgl. die eingehende Darstellung bei: Bartling; Mantzavinos; Schmidt; Olten. 146

§ 2 Die ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik

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Soweit innerhalb der einzelnen Konzepte Vorstellungen über die Behandlung von Vertikalvereinbarungen entwickelt wurden, erfolgt deren Darstellung im Anschluss an die grundsätzlichen Prämissen der jeweiligen Theorie. Fehlen hingegen explizite Stellungnahmen, kann nur anhand der allgemeinen wettbewerbspolitischen Aussagen versucht werden, dass Verhältnis der einzelnen Theorie zu vertikalen Vereinbarungen herauszuarbeiten. Die wettbewerbspolitischen Leitbilder können in zwei Bereiche aufgeteilt werden. Der normative Aspekt eines Konzeptes betrifft die Frage, welches Ziel mit dem Wettbewerb verfolgt und erreicht werden soll. Der theoretische Teil sucht hingegen nach wissenschaftlichen Erklärungen über den Wettbewerb, um zu prüfen, wie sich Veränderungen eines oder mehrerer Aktionsparameter auf die mit dem Wettbewerb verfolgten Ziele auswirken.

A. Die klassische Nationalökonomie Als ersten Versuch einer ganzheitlichen Erklärung des Wettbewerbsprozesses kann die im 18. Jahrhundert entwickelte klassische Nationalökonomie angesehen werden. Als bedeutendste Vertreter dieser Theorie sind die Engländer Adam Smith, David Ricardo, James Mill und der Franzose Jean Baptise Say zu nennen. Sowohl die ökonomischen als auch die politischen Vorstellungen dieser Theorie sind im historischen Zusammenhang zu sehen. So ist dieses System als Gegenbewegung zum im 18. Jahrhundert vorherrschenden Merkantilismus entstanden. Hieraus erklärt sich auch die wichtigste Prämisse dieses neuen Ansatzes: die Gewährleistung der Handlungsfreiheit des Individuums. Diese Handlungsfreiheit, gepaart mit dem natürlichen Egoismus der Menschen, soll den Antriebsmotor für eine wettbewerbliche Selbststeuerung der Märkte darstellen. Indem jedes Wirtschaftssubjekt seinen natürlichen Eigennutz zur Geltung zu bringen versuche, fördere es unbewusst auch den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand im Sinne einer optimalen Verwendung der Ressourcen bei bestmöglicher Erfüllung der Konsumentenbedürfnisse. Nach der klassischen Nationalökonomie entsteht durch dieses freie Spiel der Kräfte wie durch eine „invisible Hand“ eine allgemeine Harmonie der Interessen, die durch den Staat nur gestört werden kann.148 Dieses bekannte Bild der unsichtbaren Hand soll über den einzelwirtschaftlichen Wohlstand der Wirtschaftssubjekte zum Wohlstand der gesamten Nation führen. Normativ ist für die Klassiker der Wettbewerb das Instrument, durch das sich eine natürliche Ordnung in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit realisiert und das zugleich wirtschaftlichen Wohlstand produziert.149 Als größter Feind des Wettbewerbs sei der Staat anzusehen. 148 149

Smith, S. 170 ff. Herdzina, in: Herdzina, 15 (19).

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Wichtigste Voraussetzung für das Optimum an Wettbewerb stelle daher die Beseitigung der staatlichen Wettbewerbshindernisse (wie z. B. Schutzzölle und Steuerprivilegien) dar.150 Diese stark durch den Merkantilismus geprägte Skepsis gegenüber staatlicher Macht, zusammen mit dem großen Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes, führten dazu, dass sich dieser Ansatz für eine möglichst weitgehende Zurückhaltung des Staates im Bereich der Wettbewerbspolitik einsetzte. Dabei unterlag insbesondere Adam Smith aber nicht dem Irrglauben, dass eine Harmonie in allen Bereichen ohne staatliche Reglementierung im Sinne eines Laissez-faire-Modells zu erreichen ist. Obwohl die Wirtschaft sich dem Grunde nach mittels wettbewerblicher Prozesse selbst steuern würde, setzten sich die Vertreter des klassischen Liberalismus dennoch für eine staatliche Rahmenordnung ein, die möglichen Fehlentwicklungen entgegenwirken sollte.151 Aus diesem Grund formulierte Adam Smith folgende drei wesentliche Aufgaben des Staates: Die Pflicht, das Gemeinwesen gegen Gewalt zu schützen, also die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, die Zurverfügungstellung einer gewissen Infrastruktur und das Konstituieren einer Rechtsordnung, innerhalb derer sich das freie Spiel der Kräfte frei entfalten kann. Diese Rahmenordnung müsse die Gewährleistung des individuellen Eigentums, die Vertrags-, Berufs-, Gewerbe-, Niederlassungs- und Wettbewerbsfreiheit umfassen.152 Dabei wurde aber auch betont, dass optimale Marktergebnisse stets nur zu erreichen sind, wenn der Marktzutritt weder durch staatliche noch private Beschränkungen behindert wird. Der klassische Liberalismus beschäftigte sich nicht mit Vertikalvereinbarungen. Dies kann aufgrund der Blütezeit dieses Konzeptes im 18. Jahrhundert und den zu dieser Zeit vorherrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht verwundern. Die Problematik der Absprachen zwischen Herstellern und der nachgelagerten Marktstufen ist eng mit der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung in den europäischen153 Staaten zu sehen.154 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichte der technische und wissenschaftliche Fortschritt einen Wandel in der Wirtschafts- und Infrastruktur, sodass die Hersteller in Massen und Serien produzieren konnten. Das Warenangebot stieg um ein Vielfaches, und damit rückte zunehmend auch der 150

Smith, S. 397 ff.; Emmerich, S. 3. Bartling, S. 11. 152 Olten, S. 34. 153 Vorreiter für die Ausgestaltung organisierter Vertriebssysteme waren die USA, die schon im 19. Jahrhundert z. B. den Kfz-Vertrieb über Vertragshändlernetze organisierten. 154 Vgl. hierzu Kirchhoff, S. 338 ff. 151

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effiziente, flächendeckende und kontinuierliche Vertrieb in den Mittelpunkt unternehmerischen Interesses der Hersteller. Damit nahm die selbstständige Bedeutung des Handels zu. Während dessen vorrangige Aufgabe einst in der Beschaffung der Waren lag, wuchs mit der Massenproduktion und der Etablierung von Markenartikeln das Bedürfnis, den Einfluss auf die jeweils andere Wirtschaftsstufe auszudehnen.155 Der systematische Einsatz vertikaler Vereinbarungen für den Vertrieb der Herstellerwaren erfolgte in Deutschland allerdings erst nach 1920, im Auslandsabsatz Ende des 19. Jahrhunderts.156 Es wird deutlich, dass sich die organisierte Verwendung von Vertikalverträgen als Mittel der Distributionspolitik zeitlich erst nach den klassischen Wettbewerbstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts vollzog und damit nicht Gegenstand der Untersuchungen sein konnte. So wurde ausschließlich das Verhältnis zwischen Produzenten und Abnehmern betrachtet und erst Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich das wettbewerbsrechtliche Schrifttum mit mehrstufigen Märkten auseinander.157 Wesentlicher Verdienst der klassischen Nationalökonomie ist der Versuch, die Bedeutung des Wettbewerbs in einem marktwirtschaftlich orientierten System zu umschreiben. Dabei wird der Wettbewerb nicht als statischer, sondern als dynamischer Prozess aus vorstoßender Aktion und imitierender und überholender Reaktion verstanden. Während die Bedeutung der allgemeinen Aussagen über den Wettbewerb unumstritten ist158, wurde von den klassischen Nationalökonomen die Bedingungen, unter welchen diese erstrebenswerte Form entstehen, erhalten und gefördert bleiben können, nicht untersucht.

B. Von der Preistheorie zum Leitbild der vollständigen Konkurrenz Mangels Beantwortung der Frage, wie die wünschenswerten optimalen Wettbewerbsergebnisse erreicht werden können, wurde in der Folgezeit versucht, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Wettbewerb zu einem optimalen Marktgleichgewicht führt. Allen diesen Anspruch verfolgenden 155

Ulmer, S. 2; Kirchhoff, S. 340. Ulmer, S. 2. Eine Ausnahme gilt jedoch für den Brauereisektor. In diesem gab es schon im 18. Jahrhundert Absprachen über den Vertrieb, die als Vorläufer der Bierlieferungs- und Bierverlagsverträge anzusehen sind, vgl. hierzu ausführlich Ulmer, S. 50 ff. 157 Kirchhoff, S. 338 f. 158 Nach Bartling, S. 10 ist Smith möglicherweise immer noch der Autor, der zum Wesen des Wettbewerbs am meisten zu sagen hat. 156

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Konzepten ist gemein, dass ihnen nicht eine dynamische Betrachtungsweise der Märkte zugrunde lag, sondern diese von einer statischen Ausrichtung abgelöst wurde. Im entscheidenden Unterschied zu den Anhängern des Liberalismus, die von einem handlungsbezogenen, dynamischen Wettbewerbsprozess ausgingen, geriet nun der güterbezogene, statische Gleichgewichtszustand in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei führte die in verschiedenen Ländern parallel und unterschiedlich stark akzentuierte Entwicklung über die neoklassische Preistheorie zum Modell der vollkommenen Konkurrenz. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklungstendenzen kann die unter besonderen Einfluss des französischen Nationalökonoms A. A. Cournet stehende neoklassische Preistheorie angesehen werden. Diese setzte sich primär mit dem Endzustand völlig ausgereifter, keinem Wandel unterliegender Märkte auseinander. Hiernach werden aus speziell unterstellten Prämissen hinsichtlich der Marktstrukturen und Verhaltensmaximen quantitative Aussagen über die sich dann automatisch bildenden Preise und Gütermengen abgeleitet.159 Dabei blieben nahezu alle anderen Aktionsparameter des Wettbewerbs – außer der des Preises – unberücksichtigt. Die Vertreter des Konzeptes der vollständigen Konkurrenz nahmen die sich ständig im Wandel befindenden Marktbedingungen als gegeben hin und analysierten stattdessen Gleichgewichtslagen. Im Vordergrund dieses Konzeptes stand dabei die Aufstellung von Bedingungskatalogen, mittels welcher der Zustand der vollkommenen Konkurrenz erhalten werden kann. Zu diesen gehören, dabei wird je nach Autor eine andere Gewichtung und Betitelung vorgenommen, die völlige Homogenität der Güter, das Vorhandensein vieler kleiner Anbieter und Nachfrager, das Fehlen von Marktzutrittsschranken, völlige Markttransparenz und eine unendlich hohe Reaktionsgeschwindigkeit. Allein anhand dieser Bedingungen wird deutlich, dass das Modell der vollkommenen Konkurrenz nicht zu realisieren ist, weil die genannten Voraussetzungen – wenn überhaupt – nur auf wenigen Märkten als gegeben angesehen werden können. Aber auch die Vertreter des Modells der vollkommenen Konkurrenz wussten zumindest zum Teil um die Realitätsferne des Konzeptes, erhoben aber dennoch den Anspruch an eine staatliche Wettbewerbspolitik, diese Unvollkommenheiten zu beseitigen, um sich der vollkommenen Konkurrenz möglichst weit anzunähern. Sowohl die Preistheorie als auch das Modell der vollständigen Konkurrenz untersuchten ausschließlich einstufige Märkte, sodass Aussagen über Vertikalvereinbarungen nicht zu finden sind.

159

Bartling, S. 12.

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C. Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs160 Als Ausgangspunkt der Lösung von den unrealistischen Bedingungen der vollkommenen Konkurrenz kann der 1939 von John M. Clark verfasste Aufsatz „Toward a Concept of Workable Competition“ angesehen werden.161 Während die weitere Entwicklung der „Workability“-Konzepte in den USA von der Harvard School und der damit verbundenen Lehre der industrial organization angetrieben wurde, steht in Deutschland die Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs vor allem mit dem wohlfahrtsökonomischen Ansatz Kantzenbachs in Verbindung. Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie eine normative Lehre darstellen. So gab Kantzenbach fünf verschiedene ökonomische Funktionen vor, die durch den Wettbewerb als Instrument erreicht werden sollen.162 Auch die Anhänger der „Workability“Konzepte gehen davon aus, dass der Wettbewerb zur Erreichung teilweise recht heterogener gesamtwirtschaftlicher Ziele einzusetzen ist.163 Der Wettbewerb ist somit nicht Ziel an sich, sondern soll vielmehr im Sinne der vorgegebenen Zwecke instrumentalisiert werden. Als ökonomische Ziele werden dabei z. B. die Verteilungsgerechtigkeit, die Konsumentensouveränität, die optimale Faktorallokation und der technische Fortschritt angestrebt. Metaökonomisch soll die wirtschaftliche Macht dezentralisiert werden.164 Zu Beginn dieser neuen wettbewerbstheoretischen Phase in den 40er Jahren wurde sich noch an dem Idealbild der vollständigen Konkurrenz orientiert; hieraus wurden jedoch andere Konsequenzen gezogen. Dadurch, dass es vollkommene Märkte eben gerade nicht gäbe, sondern die Märkte von Unvollkommenheiten geprägt seien, müsste eine – gemessen an der vollständigen Konkurrenz – „second best solution“ gefunden werden, die nicht nur wünschenswert, sondern unter den vorhandenen Marktbedingungen auch realisierbar sei. Während die Vertreter der vollkommenen Konkurrenz die Aufgabe des Staates in der Bekämpfung der Unvollkommenheiten eines Marktes sahen, ging Clark davon aus, dass das Hinzutreten weiterer Unvollkommenheitsfaktoren den Wettbewerb unter bestimmten Bedingungen funk160 Workable competition. Als Hauptvertreter sind Clark, Mason sowie Bain und in Deutschland vor allem Kantzenbach zu nennen. Hier wurde aus Vereinfachungsgründen auf eine Trennung der Ansätze verzichtet. Vgl. hierzu, v. a. zu der unterschiedlichen historischen Entwicklung: Mantzavinos, S. 23 ff. 161 Dieser wurde ursprünglich als Rede vor der American Economic Association gehalten und später als Clark, „Toward a Concept of Workable Competition“, in: The American Economic Review, Bd. 30 (1940), S. 241–256 veröffentlicht (Abgedruckt, in: Herdzina, S. 143–160). 162 Kantzenbach, in: Herdzina, 194 (197 f.). 163 Cox/Hübener, in: Cox/Jens/Markert, 1 (28); Kantzenbach/Kallfass, in: Cox/ Jens/Markert, 103 (105). 164 Schmidt, S. 25 (Tab. 1).

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tionsfähiger machen kann.165 Daher müssten weitere Marktunvollkommenheiten geschaffen werden, die den Charakter eines „Gegengifts“ (remedial imperfections) hätten, um sich dem Wohlfahrtsmaximum anzunähern. Im Laufe der Zeit verdichtete sich die Kritik an dem statischen Gleichgewichtsmodell der vollkommenen Konkurrenz und führte schließlich zu einer völligen Lossagung von diesem Leitbild. An dessen Stelle trat die dynamische Theorie166 und „workable competition“ wurde zur „first best solution“. Danach wird Wettbewerb als dynamischer Prozess, der durch eine immerwährende Phase von Vorstößen und Verfolgung gekennzeichnet ist, verstanden. Dieser käme nie zum Erliegen, solange er frei sei. Vorübergehende Machtpositionen seien hinzunehmen, sofern nur der freie Marktzutritt gewährleistet sei. Als wichtigste Aufgabe der Wettbewerbspolitik erweise sich daher die Offenhaltung der Märkte.167 Theoretisch wird zum einen auf die aus dem preistheoretischen Monopolund Oligopolmodell stammende Marktmachtdoktrin zurückgegriffen.168 Danach bestimmt sich die Marktmacht als die Fähigkeit, den Preis beeinflussen zu können. Die entscheidende markttheoretische Grundlage dieses Konzepts des workable competition bildet der market structure-conduct-performance-approach, mit dessen Hilfe die Bedingungen für den funktionsfähigen Wettbewerb herausgearbeitet werden sollen. Es wurde davon ausgegangen, dass die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs anhand objektiver Kriterien und Normen gemessen und beurteilt werden kann. Das von den Anhängern des workable competition postulierte Paradigma stellt eine Kausalkette in der Form auf, dass ausgehend von bestimmten Marktstrukturen auf Verhaltensweisen geschlossen werden kann, welche dann zu gewissen Marktergebnissen führen.169 Grundgedanke dieses Ansatzes ist, dass bestimmte Marktstrukturen, wie etwa die Zahl der Anbieter (structure), ein bestimmtes Marktverhalten (conduct), z. B. die Neigung zu wettbewerbsbeschränkenden Verhalten, hervorrufen, welches wiederum zu bestimmten Marktergebnissen, also etwa zu hohen oder niedrigen Preisen, unterschiedlichen Konditionen, Qualitäten etc. (performance) führt.170 Der Wettbewerb wird dann als funktionsfähig angesehen, wenn die hervorgebrachten Ergebnisse zur Erfüllung der oben genannten Ziele beitragen 165 166 167 168 169 170

Clark, in: Herdzina, 143 (144). Clark, in: Herdzina, 269 ff. Emmerich, 8. Auflage, S. 7. Kilian, Rdnr. 405. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 114; Ahrns/Feser, S. 44. Väth, S. 19 f.

§ 2 Die ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik

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können. Ist nach diesem Test die Funktionsfähigkeit zu verneinen, werden wettbewerbspolitische Eingriffe notwendig. Diese sollen an den drei Ebenen des Paradigmas ansetzen: so kann der Staat Marktergebnisauflagen erteilen, z. B. durch das Verbot von Ausbeutungsmissbrauch; weiterhin können Marktverhaltensauflagen ausgesprochen werden, z. B. durch das Verbot von Absprachen. Schließlich kann auch in die Marktstruktur interveniert werden, etwa durch Entflechtungen.171 Der Staat soll also durch seine Politik die Marktstruktur so gestalten, dass die Funktionen des Wettbewerbs bestmöglich erfüllt werden können. Es wird deutlich, dass die Vertreter der workable competition dem Staat weitgehende Befugnisse einräumten und damit eine aktive Wettbewerbspolitik forderten. Als Hauptaufgabe des Staates wurde es nach diesem wohlfahrtsökonomischen Ansatz angesehen, wettbewerbsfeindliche Marktstrukturen zu verhindern bzw. zu beseitigen. Vertikale Absprachen standen nicht explizit im Mittelpunkt der Untersuchungen der „Workability“-Literatur. Aufgrund der allgemeinen wettbewerbspolitischen Aussagen kann jedoch festgestellt werden, dass sie weder einer per se-Legitimität noch einem per se-Verbot unterliegen. Vielmehr muss auch hier nach den bekannten Tests im Einzelfall entschieden werden, ob mittels der Vereinbarungen die gesteckten Ziele des Wettbewerbs besser oder eher erreicht werden können. Dabei kommt es nur auf das Ergebnis an, sodass selbst Wettbewerbsbeschränkungen hingenommen werden, sofern sie nur zur Erfüllung des Zielkataloges beizutragen imstande sind. Danach sind also Vertikalvereinbarungen als positiv zu betrachten, wenn sie etwa zu einer erhöhten Angebotsvielfalt beitragen oder den Marktzutritt von Newcomern erleichtern.172 Negativ werden vertikale Absprachen hingegen dann bewertet, wenn sie den Prozess der Innovation auf Hersteller- oder Händlerebene behindern, indem Marktzutrittsschranken entstehen oder Marktmacht abgesichert werden soll. So sahen die Vertreter der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs Vertikalvereinbarungen stets auch als Instrument zur Erlangung und Absicherung von Marktmacht an.173 Dabei wurden insbesondere die strukturellen Besonderheiten der einzelnen Wirtschaftsoder Industriezweige berücksichtigt. Letztlich ist also eine differenzierende Einzelfallbetrachtung vorzunehmen, bei der wettbewerbsfördernde und wettbewerbsbeschränkende Aspekte gegeneinander abzuwägen sind und danach untersucht werden muss, ob dasselbe Ergebnis nicht durch eine restriktivere Praktik erreicht werden kann. 171 172 173

Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 108. Duijm, S. 45; Joerges, in: GRUR Int. 1984, 222 (225). Kerber, S. 175 und 209.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

D. Ordoliberalismus Der Ordoliberalismus, als dessen Anhänger insbesondere der führende Repräsentant der Freiburger Schule der Nationalökonomie Walter Eucken, Franz Böhm sowie Alfred Müller-Armack zu nennen sind, stellt ein in der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg entstandenes Konzept dar, welches sich mit dem Zusammenhang zwischen staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung auseinandersetzt. So ist in der Nachkriegsgeschichte die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ideengeschichtlich stark von den Vorstellungen des Ordoliberalismus beeinflusst.174 Die wettbewerbspolitischen Aussagen der Ordoliberalen sind von dem Versuch geprägt, einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Liberalismus bzw. dem Kapitalismus, der daraus mit all seinen privaten Vermachtungserscheinungen entstanden war, einerseits, und Kollektivismus, Zentral-Planwirtschaft und autoritärem Sozialismus andererseits zu finden.175 Normativ als das oberste gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ziel deklarieren die Vertreter des Ordoliberalismus den Schutz der individuellen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit gegenüber der Macht sowohl privater Wirtschaftssubjekte als auch des Staates.176 Um den am Wirtschaftsleben Beteiligten einen optimalen Freiheitsspielraum zu verschaffen, müssten Eigentums- und Handlungsrechte garantiert und die prozesspolitischen Eingriffsmöglichkeiten des Staates beschränkt werden.177 In diesem Bereich berühmt und zusammenfassend sehr aussagekräftig ist die Formulierung Euckens: „Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein“.178 Zur Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen vom Staat solle dieser nicht in freie Marktprozesse intervenieren, sondern nur einen Ordnungsrahmen schaffen.179 Andererseits wurde aber unter dem Eindruck der Vermachtung der Märkte im Hitler-Regime eine starke Rolle des Staates zum Schutz der Handlungsfreiheit der Individuen gegenüber privater Macht verlangt. Zum einen soll der Marktprozess also frei sein, zum anderen muss aber zur Sicherung dieser Freiheit eine konsequente Ordnung als vom Staat zu schaffendes Rahmenwerk bestehen. So könne eine auf den Grundsätzen der Freiheit des Individuums und der Demokratie aufbauende Gesellschaftsordnung nur dann wirksam aufrechterhalten werden, wenn auch die 174 175 176 177 178 179

Ahrns/Feser, S. 28. Kartte/Holtschneider, in: Cox/Jens/Markert, 193 (197). Mestmäcker, in: ZgStW 1973, 89 (90); Eucken, S. 369. Peters, S. 151. Eucken, in: ORDO Bd. 2 (1949), 1 (93). Schlecht, in: FS Benisch, 49 (50).

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Wirtschaft wie die Gesellschaft strukturiert sei und größere Machtkonzentrationen ausgeschlossen seien.180 Daher soll der Staat eine aktiv gegen wirtschaftliche Macht vorgehende Wettbewerbspolitik betreiben.181 Als erforderliche Maßnahmen im Rahmen einer Antimonopolpolitik setzten sich die Anhänger des Ordoliberalismus für ein generelles Kartellverbot ohne Ausnahmebereiche, eine vorbeugende Fusionskontrolle, Entflechtungsgebote und die strenge Kontrolle mittels einer unabhängigen Monopolkommission ein.182 Theoretisch gingen die Ordoliberalen, beeinflusst durch die Thesen Schumpeters, von einem dynamischen Wettbewerb aus, der vorwiegend als ein Prozess von Innovation und Imitation angesehen wurde.183 Grundsätzlich stehen jedoch die konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung im Mittelpunkt des Konzeptes des Ordoliberalismus. Als solche gelten nach Eucken das Primat der Währungspolitik, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung und die Konstanz der Wirtschaftspolitik.184 Für das Verständnis der Ansicht der Ordoliberalen in Bezug auf Vertikalvereinbarungen sind vor allem die zu gewährleistenden Grundsätze der offenen Märkte und der Vertragsfreiheit von Interesse. Nach Eucken ist der Ausschluss des Mechanismus von Angebot und Nachfrage diejenige Methode, die am meisten angewandt wird, um die starke Tendenz zur Konkurrenz zu brechen oder zu behindern.185 Daher seien jegliche Arten des Behinderungswettbewerbs, zu denen Sperren jeder Form und vor allem auch die hier besonders relevanten Exklusivverträge zählen, zu verbieten.186 Weitere Grundvoraussetzung für Wettbewerb ist das Vorhandensein von Vertragsfreiheit, da ohne Wahlfreiheit der Wirtschaftssubjekte Konkurrenz offensichtlich nicht entstehen könne.187 Dabei wird aber auch betont, dass die Vertragsfreiheit auch dazu dienen kann, Wettbewerb zu beseitigen und monopolistische Positionen herzustellen, zu sichern und auszunutzen.188 Daher dürfe Vertragsfreiheit nicht zu dem Zwecke gewährt werden, um Verträge zu schließen, welche die Vertragsfreiheit beschränken oder beseitigen. 180

Eucken, in: ORDO Bd. 2 (1949), 1 (27). Rittner, § 5, Rdnr. 20. 182 Eucken, S. 294; ders., in: ORDO Bd. 2 (1949), 1 (65 ff.); Kartte/Holtschneider, in: Cox/Jens/Markert, 193 (197 und 199). 183 Schumpeter, in: Herdzina, 118 (119 f.); Eucken, S. 5. 184 Eucken, S. 254 ff. 185 Eucken, S. 264. 186 Eucken, S. 267. 187 Eucken, S. 275. 188 Eucken, S. 275 f. 181

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Aus diesen Aussagen wird deutlich, dass das ordoliberale Konzept eine sehr kritische und negative Haltung gegenüber Vertikalvereinbarungen einnimmt, da diese sowohl geeignet sein können, Märkte abzuschotten, als auch die Vertragsfreiheit der Beteiligten und dritter Unternehmen zu beschränken. Dementsprechend enthielt der Josten-Entwurf zum GWB, ebenso wie Art. 81 Abs. 1 EG und Sec. 1 Sherman Act, ein umfassendes Verbot sowohl für Horizontal- als auch für Vertikalvereinbarungen.189 Grundsätzlich sind daher vertikale Absprachen nach ordoliberalen Vorstellungen mit dem Ideal des ungehinderten Wettbewerbs auf jeder Handelsstufen unvereinbar.190

E. Theorie der Wettbewerbsfreiheit Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit ist in Deutschland als Gegenbewegung zur Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs entstanden. Dieses auch als systemtheoretischer Ansatz bezeichnete Konzept knüpft an die national-ökonomischen Klassiker an und stellt damit die Wettbewerbsfreiheit in den Mittelpunkt der Analyse. Dabei wird hier zum Zwecke der Vereinfachung unter dem Titel der Wettbewerbsfreiheit auch die österreichische Tradition dargestellt. Als bedeutsamste Vertreter dieser Theorien sind Hoppmann, von Hayek und Kirzner zu nennen. Kennzeichnend für diese Konzepte ist der Verzicht auf jegliche normative Ansätze. Die österreichische Schule lehnt mehr noch als der Ordoliberalismus die Instrumentalisierung des Wettbewerbs zur Erfüllung bestimmter Zielvorgaben ab und steht damit im krassen Gegensatz zu den „Workability“-Konzepten. Der Wettbewerb solle nicht als Mittel zum Zweck der Verwirklichung eines ganzen Maßnahmebündels eingesetzt werden. Die Wettbewerbsfreiheit sei vielmehr als Ziel an sich zu verstehen, durch welche ökonomisch vorteilhafte Ergebnisse erzielt werden können. Die Vertreter der Wettbewerbsfreiheit postulieren die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte zur zentralen Wettbewerbsfunktion.191 Damit Wettbewerb überhaupt stattfinden kann, müssten die Individuen frei sein; die Freiheit aller sei Grundvoraussetzung, um Innovationen stattfinden zu lassen.192 Als markttheoretische Fundierung dient die Hypothese, dass freier Wettbewerb ein Prozess ist, der das Marktsystem als Ganzes im Sinne eines 189 Brinker, S. 19; Kartte/Holtschneider, in: Cox/Jens/Markert, 193 (202 ff.); Möschel, in: FS Pfeiffer, 707 (717 f.). 190 Kirchhoff, S. 341 f. 191 Hoppmann, S. 23; Peters, S. 183. 192 Mantzavinos, S. 121.

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Selbststeuerungssystems funktionsfähig macht und dabei gleichzeitig gute, im Einzelnen aber nicht genau vorhersehbare Ergebnisse produziert.193 Es wird deutlich, dass nach diesem Ansatz ein Zielkonflikt zwischen der Wettbewerbsfreiheit und guten ökonomischen Ergebnissen prinzipiell nicht besteht, sondern dies „zwei Seiten derselben Medaille“194 darstellen. Dies ist Gegenstand der so genannten Non-Dilemma-These.195 Dabei wird auch bei beiden Konzepten der dynamische Charakter des Wettbewerbsprozesses betont und der Wettbewerb als ein Such- und Entdeckungsverfahren bezeichnet.196 Da Wettbewerb als evolutiver und hochkomplexer Prozess verstanden wird, der von Natur aus offen ist, sei es unmöglich, die konkreten Ergebnisse, die durch den Wettbewerb erzielt werden können, vorauszusagen.197 Aus diesem Grund wird das von der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs postulierte Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigma als falsch abgelehnt.198 An dessen Stelle soll nach Hoppmann der so genannte Test der Wettbewerbsfreiheit bzw. Marktmachttest gesetzt werden, um zu analysieren, ob und in welchem Ausmaß die Wettbewerbsfreiheit beschränkt sei. Dabei umfasst die Wettbewerbsfreiheit zum einen den so genannten Parallelprozess, der die Freiheit der Konkurrenten zu Vorstoß und Imitation auf horizontaler Ebene meint. Zum anderen wird der so genannte Austauschprozess in Form der Auswahlfreiheit der Marktgegenseite auf vertikaler Ebene erfasst. Dabei äußert sich die Wettbewerbsfreiheit sowohl in der Freiheit als Abwesenheit von Zwang durch Dritte (Entschließungsfreiheit) als auch in der Freiheit als Abwesenheit von Beschränkungen des Tauschverkehrs durch Marktteilnehmer (Handlungsfreiheit).199 Austausch- und Parallelprozess seien nicht als isoliert auftretende Elemente des Marktprozesses anzusehen, sondern sie würden zwei Dimensionen ein und derselben Freiheit darstellen. Daher müssten, um in einem kon193

Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 108. Hoppmann, in: Schneider, 9 (21). 195 Dies gilt zumindest uneingeschränkt für die individuelle ökonomische Vorteilhaftigkeit. Anders ist die Frage der Zielkompatibilität zu beantworten, wenn man Wettbewerb als Instrument für überpersönliche Zwecke ansieht, vgl. Hoppmann, in: Herdzina, 230 (233 f.). 196 v. Hayek, S. 3 ff. 197 Hoppmann, S. 20; v. Hayek, S. 3. 198 Hoppmann, S. 21 f. Ursache dieser Fehlannahme sei der Glaube, dem Marktsystem bestimmte Marktfunktionen zuweisen zu können. Dies sei aber unrichtig, da das Marktsystem kein Triumph menschlichen Geistes ist, sondern bloße nachträgliche Beschreibungen der Funktionsweise eines Systems, dessen Entstehen kein Mensch gewusst und geplant hat. 199 Vgl. zum Ganzen: Hoppmann, in: Herdzina, 230 (236 ff.). 194

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

kreten Marktprozess das Ausmaß an Wettbewerbsfreiheit zu diagnostizieren, sämtliche Dimensionen des Austauschprozesses und des Parallelprozesses getestet werden.200 Im Test der Freiheit des Austauschprozesses werden die Substituierbarkeiten und im Test des Parallelprozesses der potentielle, aktuelle, initiatorische und imitatorische Wettbewerbsspielraum geprüft.201 Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit ist von der Auffassung geprägt, dass die größte Gefahr zur Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit vom Staat ausgeht.202 Daher müsse der Staat darauf beschränkt sein, Spielregeln aufzustellen, in denen die Wettbewerbsfreiheit für die Marktteilnehmer erhalten bliebe.203 Es soll folglich nicht, wie vom Ordoliberalismus vorschlagen, aktiv in bestimmte Marktstrukturen eingegriffen werden, sondern ein per se-Verhaltensverbot entwickelt werden, das den Kartellbehörden keine großen Ermessensspielräume gewährt.204 Aus der Zielsetzung der Wettbewerbsfreiheit ergibt sich, dass den einzelnen Marktteilnehmern nicht positiv vorgeschrieben werden kann, wie sie zu handeln haben.205 In diesem Sinn muss der Ordnungsrahmen negativ, d.h. in Form von Verboten, ausgestaltet sein. Diese Verhaltensverbote müssen justitiabel formuliert, allgemein-abstrakt und universal anwendbar sein.206 Die Missbrauchskontrolle als Maßnahme zur Bekämpfung wettbewerbswidrigen Verhaltens wird aufgrund der damit zwangsläufig verbundenen Ermessens- und Interpretationsbefugnissen der entscheidenden Behörde abgelehnt. Ebenso haben staatliche Marktstruktureingriffe in diesem Konzept keinen Raum, da diese eine Prognose der zuständigen Wettbewerbsbehörde fordern, die aber aufgrund der Dynamik des Wettbewerbsprozesses unmöglich ist und zudem diskretionäre Entscheidungen erfordert. Auch ist mit dieser Ansicht daher eine an Zweckmäßigkeitserwägungen orientierte Politik unvereinbar, da diese Raum für dirigistische und totalitäre Eingriffe schafft. Allgemeine Regeln im Sinne von eindeutigen per se-Verhaltensverboten und die Vertragsfreiheit stellen damit die maßgeblichen Grundprinzipien dieses Konzeptes dar. Weder bei Hoppmann noch bei v. Hayek lassen sich ausdrückliche Aussagen über Vertikalvereinbarungen finden. Grundsätzlich vermögen vertikale Absprachen sowohl den Austausch- als auch den Parallelprozess zu 200

Hoppmann, in: Herdzina, 230 (235). Peters, S. 184; Bartling, S. 43. 202 Kerber, S. 181; Hoppmann, S. 14; Bartling, in: WuW 1993, 16 (23). 203 Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 292; Väth, S. 31 f.; Willeke, S. 34. 204 Olten, S. 100; Mantzavinos, S. 163. 205 Hoppmann, in: Herdzina, 230 (235). 206 Bartling, S. 47. 201

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beeinträchtigen. So kann der Austauschprozess beeinträchtigt werden, indem sich die Austauschbarkeit der Bezugs- und Absatzmöglichkeiten verringert. Aber auch der Parallelprozess kann, z. B. bei selektiven Vertriebssystemen, in Mitleidenschaft gezogen werden, sofern bestimmte Handlungen, beispielsweise preisgünstiger Verkauf, untersagt werden.207 Des Weiteren schränken Vertikalverträge evident die Handlungsfreiheit nicht nur einer beteiligten Seite, sondern auch diejenige Dritter ein. Hinzu kommt, dass Hoppmann die Verhinderung des Zugangs zu den Ressourcen als eine schwere Wettbewerbsbeschränkung ansieht.208 Ausschließlichkeitsbindungen können das Potential einer völligen Abschottung zu Bezugsquellen zur Folge haben und damit eine Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit darstellen. Aus all dem könnte geschlossen werden, dass Vertikalvereinbarungen unter ein per se-Verhaltensverbot fallen müssten. Duijm und Kerber werfen jedoch die Frage auf, ob ein solches Verbot nicht wiederum eine Verletzung der Vertragsfreiheit der Marktteilnehmer darstellt.209 Dem ist zu entgegnen, dass Hoppmann die Wettbewerbsfreiheit als relative Freiheit in dem Sinn verstanden hat, dass der Freiheitsbereich des einen im Freiheitsbereich der anderen seine Grenze findet.210 Zum Zwecke des Erhalts der Wettbewerbsfreiheit müsse daher durchaus auch in die Freiheiten der Marktteilnehmer wettbewerbspolitisch eingegriffen werden. Joerges meint, eine Annährung an die – im Anschluss darzustellenden – Thesen der Chicago School feststellen zu können.211 Dies muss zum einen aufgrund der Unvereinbarkeit mit der bei Vertikalverträgen stets einhergehenden Beschränkung der Handlungs- und Entschließungsfreiheit abgelehnt werden.212 Zum anderen differenziert Hoppmann sehr genau zwischen individueller und überpersönlicher ökonomischer Vorteilhaftigkeit213 und setzt dies nicht wie die Anhänger der Chicago School gleich.214 Letztlich kann das Konzept der Wettbewerbsfreiheit zumindest nicht für eine grundsätzliche Zulässigkeit von vertikalen Verträgen in jeglicher Form in Anspruch genommen werden.215

207 208 209 210 211 212 213 214 215

Duijm, S. 44. Hoppmann, S. 14 f. Duijm, S. 45; Kerber, S. 210. Hoppmann, in: Herdzina, 230 (231). Joerges, in: GRUR Int. 1984, 222 (225). So auch Kirchhoff, S. 345. Siehe hierzu Hoppmann, in: Herdzina, 230 (231 ff., v. a. 233). Hierzu im Anschluss. So auch Kirchhoff, S. 344.

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F. Die Chicago School of Antitrust Analysis216 Während sich in Deutschland als Gegenbewegung zum Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs die Theorie der Wettbewerbsfreiheit entwickelte, entstand in den USA Ende der 70er Jahre die Chicago School als Reaktion auf die Thesen der Harvard School. Unter der Regierung Reagans in den 80er Jahren übten die Lehren der Chicago School einen erheblichen Einfluss auf die amerikanische Antitrustpolitik aus.217 Die Chicago School kann als normative Ausprägung der ökonomischen Analyse des Rechts angesehen werden.218 Diese untersucht das Recht unter wirtschaftlichen Aspekten, indem sie sich mit der Interdependenz der Wirtschafts- und Rechtswissenschaft auseinandersetzt. In diesem Sinn geht die Chicago School entgegen der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs im normativen Bereich nur von einem219 Ziel aus, das durch die Wettbewerbspolitik erreicht werden soll: die ökonomische Effizienz im Sinne der maximalen Konsumentenwohlfahrt (maximization of consumer welfare).220 Diese wird durch zwei Effizienzkriterien determiniert: die allokative und die produktive Effizienz. Die allokative Effizienz fragt nach der optimalen Allokation der Ressourcen in den Unternehmen, die den größtmöglichen Output bewirkt. Im Rahmen der produktiven Effizienz wird auf die effiziente Ressourcenverwendung in den einzelnen Unternehmen abgestellt. Hierbei stehen vor allem Größen- und Verbundvorteile (economies of scale und economies of scope) im Mittelpunkt und werden oftmals zur Legitimierung von wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen herangezogen. Grundsätzlich stellt die ökonomische Effizienz den alleinigen Maßstab für die Beurteilung von wettbewerbsrelevantem Verhalten dar. Zur Feststellung, ob eine Wettbewerbspraktik dem Effizienzziel zu- bzw. abträglich ist, wird auf die neoklassische Preistheorie zurückgegriffen, wobei vollständige Konkurrenz und Monopol als Referenzsituation dienen.221 Einerseits wird 216

Als bedeutendste Vertreter sind Stigler, Posner, Bork und Demsetz zu nennen. Besonders deutlich wird dieser Einfluss in den Merger Guidelines von 1982/ 84 (vgl. hierzu Schmidt/Ries, in: WuW 1983, S. 525 ff.; Sandrock, S. 54 ff.) und den Vertical Restraints Guidelines von 1985 (vgl. hierzu Dreher, in: DB 1986, 93 ff.; Schmidt/Kirschner, in: WuW 1985, 781 ff.). Diese wurden 1993 unter der Clinton Regierung wieder aufgehoben. 218 Vgl. zur Ökonomischen Analyse des Rechts Kirchner, in: ZHR 144 (1980) 563 ff.; Ruffner, S. 8 ff.; Gayk, S. 13 ff.; Kirchhoff, S. 325 ff. 219 Der Zielpluralismus der „Workability“-Konzepte wird ausdrücklich abgelehnt. So wird explizit auf die Ziele des Schutzes des Mittelstandes und der Wettbewerbsfreiheit verzichtet, vgl. Bork, S. 7, 50 ff. und Bittlingmayer, in: WuW 1987, 709 (716 f.). 220 Olten, S. 103. 221 Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (284). 217

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zwar auf die statische Methode der Preistheorie zur Erklärung des Wettbewerbsphänomens abgestellt. Andererseits verstehen die Vertreter der Chicago School den Wettbewerb auch als dynamischen Prozess. Dieser Gegensatz wird durch die Annahme überbrückt, dass alle in der ökonomischen Realität beobachteten Preise und Mengen gute Annäherungen der langfristigen, wettbewerblichen Preise und Mengen sind.222 Das Marktstruktur-Marktverhaltens-Marktergebnis-Paradigma wird von der Chicago School strikt abgelehnt. Das Marktgeschehen wird als freies Spiel der Kräfte aufgefasst, in welchem die leistungsfähigsten Marktteilnehmer überleben.223 Hohe Marktanteile seien demnach ausschließlich auf die höhere Effizienz eines Unternehmens zurückzuführen.224 Aufgrund dieser Survivorthese würde sich langfristig stets die effizienteste Marktstruktur herausbilden. Insofern werde deutlich, dass nicht die Marktstruktur das Marktverhalten (und die Marktergebnisse) bestimme, sondern vielmehr das Verhalten am Markt die Marktstruktur (und die Marktergebnisse) beeinflusse.225 Das Konzept der Chicago School ist durch langfristige Betrachtungszeiträume gekennzeichnet. Da, ebenso wie in der klassischen Nationalökonomie, auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs vertraut wird, haben Interventionen des Staates in den Marktprozess und die Marktstruktur weitestgehend zu unterbleiben. Eingriffe der Wettbewerbspolitik werden als ineffizient und kontraproduktiv angesehen, da sie das freie Spiel der Kräfte behindern. Im Gegensatz zur Harvard School lehnen die Chicagoer vor allem Interventionen in die Marktstruktur ab. Insbesondere das Unternehmenswachstum – unabhängig davon, ob sich dieses intern oder extern vollzieht – wird als wettbewerbspolitisch unbedenklich angesehen und als legitimes Mittel zur Findung der optimalen Unternehmensgröße verstanden.226 Zusammenschlüsse würden zu einer Ausschöpfung der economies of scale führen und hochkonzentrierte Märkte seien Ausdruck überlegener produktiver Effizienz.227 Eine Gefahr gehe von Konzentrationstatbeständen nicht aus, da auf den durch potentielle Wettbewerber entstehenden Wettbewerbsdruck vertraut werden könne. Diese würden bei überhöhten Preisen in den Markt eindringen und könnten damit ein Sinken des Konzentrationsgrades bewirken. Lediglich Fälle, die 222

Mantzavinos, S. 43 f. Aberle, S. 41. Dieses Überlebensprinzip des „survival of the fittest“ wird als sog. Sozialdarwinismus bezeichnet, gegen diese Bezeichnung allerdings Väth, S. 35, v. a.Fn. 74. 224 Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (286). 225 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111. 226 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 112. 227 Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (286); Kallfass, in: WuW 1980, 596 (599). 223

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

zu einer direkten Monopolisierung führen, werden mit mehr Misstrauen betrachtet.228 Unternehmensentflechtungen und präventive Fusionskontrolle, die im Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs mögliche staatliche Maßnahmen darstellen, werden grundsätzlich abgelehnt. Während die strukturbedingte Konzentration nach Ansicht der Chicago School kaum Gefahren für den Wettbewerb in sich birgt, wird wettbewerbsbeschränkendes Verhalten der Unternehmen kritischer bewertet. Aber auch bei Eingriffen in das Marktverhalten sei äußerste staatliche Zurückhaltung geboten. Diese sollten nur dann erfolgen, wenn das Verhalten eindeutig zu Ineffizienzen führt. Dabei wird strikt nach horizontalen und vertikalen Verhaltensweisen differenziert. Bei horizontalen Absprachen, die eindeutig wettbewerbsbeschränkend sind, wie z. B. Preisabsprachen und Gebietsaufteilungen, haben staatliche Kontrollen stattzufinden, die gegebenenfalls in einem Verbot enden.229 Hierauf beschränkt sich sodann aber auch die Rolle des Staates, da Vertikalvereinbarungen einer gänzlich anderen Beurteilung unterliegen. Vertikale Verträge werden grundsätzlich als nicht schädlich für den Wettbewerbsprozess angesehen. Im Gegenteil, ihnen sei eine effizienzsteigernde Wirkung beizumessen, mit dem Ergebnis der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt.230 Die Bedenkenlosigkeit von Vertikalvereinbarungen wird mit unterschiedlichen Argumenten begründet. Zunächst werden sie als positiv betrachtet, da sie das free-rider-Problem zu lösen vermögen. Möchte ein Hersteller begleitend zu seinem Produkt bestimmte Beratungs- und Serviceleistungen durch die Händler durchführen lassen, muss gewährleistet sein, dass Billiganbieter (wie z. B. Discountmärkte), die diese Dienstleistungen nicht erbringen, aufgrund der Kostenersparnisse billiger anbieten und dadurch mehr verkaufen können als die Händler, die Serviceleistungen erbringen. Da der Absatzmittler nur motiviert sein wird, aktive Verkaufsförderung zu betreiben, wenn Trittbrettfahren nicht möglich ist, müssen vertikale Bindungsabsprachen getroffen werden. Des Weiteren wird mit der – vor allem von Williamson entwickelten – Transaktionskosten-Theorie argumentiert.231 Danach seien vertikale Verein228

Bork, S. 221; Mantzavinos, S. 48. Kantzenbach/Kallfass, in: Cox/Jens/Markert, 103 (119). Dabei wird den Anhängern der Chicago School aber zum Teil auch eine rein taktische Vorgehensweise attestiert, um nicht die amerikanische Antitrustpolitik in toto zurückzuweisen, so Schmidt, S. 22; Ruffner, S. 99. 230 Schmidt, S. 23. 231 Williamson, The Economic Institutions of Capitalism; ders., Transaktionskostenökonomik. 229

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barungen Ausdruck des Versuchs, Transaktionskosten zu senken. Sie würden damit effiziente Arrangements und nicht etwa Mittel zur Erhöhung der Marktmacht darstellen.232 Da der Hersteller durch derartige Vereinbarungen ausschließlich seinen Profit erhöhen wolle, sei er nicht an einer Beschränkung des Absatzes seiner Produkte interessiert und werde daher bei rationalem Verhalten keine Output-Verminderung anstreben, sondern vielmehr die distributive efficiency fördern.233 Daher würden Vertikalverträge vor allem der produktiven Gestaltung des Wirtschaftsablaufs dienen. Ein Unternehmen, das die Vertikalvereinbarungen aus Sicht der Chicago School irrational einsetzt, indem es z. B. die Preise künstlich erhöht, könne sich ohnehin nicht langfristig auf dem Markt behaupten, da die sodann neu erfolgenden Marktzutritte über dem Wettbewerbsniveau liegende Preise verhindern würden.234 Aufgrund dieses Vertrauens in den durch potentielle Konkurrenten entstehenden Wettbewerbsdruck wird davon ausgegangen, dass einseitige235 Maßnahmen eines Unternehmens nicht dazu geeignet sind, Monopolmacht zu erlangen oder auszubauen.236 Diese Überlegungen basieren auf der Grundüberzeugung, dass Marktzutrittsschranken nur in den wenigsten Fällen tatsächlich vorhanden sind und falls doch, dann nur, weil der Staat sie durch Maßnahmen wie Zulassungsbeschränkungen oder Schutzrechte errichtet hat. So seien etwa Betriebsgrößenvorteile und Produktdifferenzierungen wettbewerbsimmanent und würden keine Zutrittsschranken darstellen. Sie seien vielmehr ausschließlich auf die höhere ökonomische Effizienz zurückzuführen.237 Im Ergebnis wird auch hier die Thematik um die Marktzutrittsschranken mittels der Argumentation mit Effizienzkriterien als nicht problematisch angesehen.238 Daher würden auch vertikale Beschränkungen keine relevanten Marktzutrittsschranken begründen, da Hersteller wettbewerbsfähiger Produkte stets Händler in ausreichender Zahl vorfinden könnten.239 Zusammenfassend sieht die Lehre der Chicago School Vertikalvereinbarungen prinzipiell240 als unbedenklich an und spricht sich daher für eine per-se-Zulässigkeit derartiger Absprachen aus. 232

Kilian, Rdnr. 409; Kerber, S. 177. Bork, S. 289; Veelken, in: ZvglRWiss 97 (1998), 241 (251). 234 Dreher, in: DB 1986, 93 (94). 235 Einseitig in diesem Sinne meint: nicht mit Konkurrenten auf derselben Marktstufe abgesprochen. 236 Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (289). 237 Schmidt, S. 23. 238 Vgl. hierzu ausführlich die Ausführungen bei Kirchner, in: ZHR 144 (1980), 563 (575 ff.). 239 Bork, S. 325; Veelken, in: ZvglRWiss. 97 (1998), 241 (252). 233

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

G. Industriepolitische Konzeptionen Die in diesem Zusammenhang letztlich darzustellenden industriepolitischen Konzeptionen stellen keine Theorien im Sinne von wettbewerbspolitischen Leitbildern dar. Dennoch sind sie aufgrund deren großen praktischen Relevanz auf europäischer Ebene ebenso kurz darzustellen. Der Bedeutungsinhalt der Industriepolitik ist vielschichtig und wird uneinheitlich interpretiert.241 Hier wird von einer weiten, allgemeinen Definition ausgegangen. Danach ist unter Industriepolitik der Einsatz verschiedener interventionistischer wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur gezielten Beeinflussung der Industriestruktur einer Volkswirtschaft zu verstehen.242 Grundlage aller industriepolitischen Ansätze ist das instrumentalistische Verständnis des Wettbewerbs. Wettbewerb wird als Mittel angesehen, um das Ziel gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt zu realisieren, indem durch vollkommenen Wettbewerb auf allen Güter- und Faktormärkten eine optimale Allokation der Ressourcen und damit das Produktionsoptimum erreicht wird.243 Nur bei Realisierung des Pareto-Optimums ist eine von industriepolitischen Motiven geprägte Wirtschaftspolitik überflüssig. Da aber nach Ansicht der Vertreter der industriepolitischen Konzepte der sich selbst überlassene Wettbewerbsprozess nicht in der Lage ist, bestimmte wünschenswerte Marktergebnisse hervorzubringen244, werden industriepolitische Interventionen des Staates erforderlich. Es wird also nicht wie im klassischen Liberalismus oder der Chicago School auf die Selbstregulierungskräfte des Marktmechanismus vertraut. In diesem Sinne werden politische Ziele aufgestellt, die durch staatliche Interventionen erreicht werden sollen. Die Entwicklung der Unternehmensund Marktstrukturen, des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie seien zu wichtig, um sie dem Wettbewerb allein zu überlassen.245 Der Staat soll mittels gezielter Maßnahmen, wie z. B. durch Investitionshilfen und Steuerbegünstigungen, einzelne Industriebereiche und Unternehmen fördern.246 Die Rolle des Staates soll sich nicht auf die bloße Funktion des Schiedsrichters 240

Das beinhaltet insbesondere auch die Preisbindung der zweiten Hand und andere preisbezogene vertikale Absprachen, da gerade diese Maßnahmen das freerider-Problem lösen können. Vgl. hierzu Bittlingmayer, in: WuW 1987, 709 (714). 241 Vgl. zu den Definitionsproblemen ausführlich: Brösse, S. 9 ff. (v. a. S. 12 ff.). 242 Gabler, S. 1505 ff.; Winter, S. 16. 243 Oberender/Daumann, S. 7. 244 Kerber, S. 182 f. 245 Mestmäcker, in: EuR 1988, 349 (354). 246 Winter, S. 25.

§ 2 Die ökonomischen Leitbilder der Wettbewerbspolitik

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beschränken, sondern er soll Mitspieler sein.247 Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Unternehmenszusammenschlüsse müssen daher auch stets daraufhin untersucht werden, ob sie in der Lage sind, zur Erreichung anderer, außerwettbewerblicher Ziele, wie beispielsweise positive Auswirkungen auf die Beschäftigungslage oder den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt und viele andere Gemeinwohlziele beizutragen. Wettbewerbstheoretisch wird also in Anlehnung an Schumpeter von der Vorstellung ausgegangen, dass der technische und wirtschaftliche Fortschritt am ehesten und besten von Großunternehmen bzw. durch Kooperationen auf tendenziell konzentrierten Märkten hervorgebracht wird.248 Ein wesentlicher Unterschied zu der Theorie Schumpeters besteht aber insofern, als sich dieser dafür aussprach, die Rolle des Staates auf die Schaffung der Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu beschränken. Eine interventionistische Strukturpolitik wurde nicht gefordert. Eine einheitliche theoretische Fundierung der industriepolitischen Konzepte fehlt; sie setzt sich vielmehr aus unterschiedlichen konzeptionellen Bausteinen zusammen, die je nach Autor unterschiedlich festgelegt und gewichtet werden.249 In zunehmenden Maße Einfluss auf die industrie-politischen Konzepte übt die strategische Handelspolitik aus. Diese basiert auf der Annahme, dass ein Staat die nationale Wohlfahrt durch die Förderung von Industrien mit überdurchschnittlicher Faktorrente erhöhen kann.250 Die Industriepolitik soll also zu einer Erhöhung des gesamtwirtschaftlichen Wohlstandes beitragen und ist somit nicht marktprozessorientiert, sondern marktergebnisorientiert. Überträgt man diese allgemeinen Aussagen auf Vertikalvereinbarungen, so hängt deren Bewertung stets davon ab, ob sie in der betreffenden Situation Marktergebnisse verbessern oder nicht. Ist dies der Fall, sind sie als zulässig zu erachten, da sie die nationale Wohlfahrt erhöhen, auch wenn damit gleichzeitig eine Wettbewerbsbeschränkung einhergeht.

H. Zusammenfassung Bereits diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass erhebliche Unterschiede sowohl im theoretischen als auch im normativen Bereich zwischen den einzelnen Konzeptionen bestehen. Zum Teil haben sich Parallelitäten 247

Bletschacher/Klodt, S. 164. Schumpeter, S. 134 ff. 249 Auf eine Darstellung dieser verschiedenen Theorien muss im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden, vgl. hierzu: Brösse, S. 22 ff.; Winter, S. 18 ff. 250 Bletschacher/Klodt, S. 6. 248

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

ergeben, sei es in Detailfragen, aber auch zwischen den Ansätzen, die grundsätzlich von sehr unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Für den Gang der Untersuchung ist insbesondere das Verständnis der verschiedenen Theorien von Vertikalvereinbarungen von Interesse. In der Hochphase der klassischen Wettbewerbstheorie sind – mangels der technischen Möglichkeiten in Bezug auf Produktion und Infrastruktur – mehrstufige Märkte nicht untersucht worden. Erst mit Beginn des organisierten Vertriebs rückten daher Vertikalabsprachen in das Blickfeld der Ökonomen und Juristen. Eine einheitliche Bewertung vertikaler Wettbewerbsbeschränkung existiert nicht. Es wird nahezu alles vertreten: von einem grundsätzlichen Verbot (Ordoliberalismus) über eine Einzelfallbetrachtung (workable competition) bis hin zur gänzlichen Unbedenklichkeit und damit Zulässigkeit (Chicago School) von vertikalen Vereinbarungen. Bei der Frage nach wettbewerbspolitischen Handlungsempfehlungen spielt das grundsätzliche Vertrauen bzw. Misstrauen in staatliche Interventionen eine entscheidende Rolle. Auf dem Hintergrund dieses ungeheuren Schlachtfeldes251 soll im Folgenden die Vorgehensweise der zuständigen EG-Organe bei der Behandlung selektiver Vertriebssysteme im Rahmen des Art. 81 EG untersucht und wettbewerbstheoretisch hinterfragt werden.

§ 3 EG-rechtliche Grundlagen für selektive Vertriebssysteme A. Die Zielrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik Das Verständnis der Regelung des Art. 81 EG erschließt sich nicht ohne Berücksichtigung der durch den EG-Vertrag und den Gemeinschaftsorganen vorgezeichneten Gemeinschaftszielen und deren Verhältnis zueinander. Die Beurteilung der wettbewerbskonzeptionellen Vorstellungen der zuständigen EG-Organe kann nicht isoliert anhand der Untersuchung der Praxis zu einer einzigen Wettbewerbsregel vorgenommen werden, sondern muss vielmehr im Gesamtkontext des EG-Vertrages erfolgen. Dabei können zwei Themenbereiche auseinandergehalten werden. Zum einen geht es um den grundsätzlichen Rang des Wettbewerbsprinzips in der Gemeinschaft und zum anderen um die normativen Ziele, die mit der Wettbewerbspolitik verfolgt werden sollen. 251

Hoppmann, Normzwecke und Systemfunktionen, S. 12.

§ 3 EG-rechtliche Grundlagen für selektive Vertriebssysteme

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I. Stellung des Wettbewerbsprinzips Zunächst ist fraglich, welche Bedeutung dem Wettbewerbsprinzip als solchem durch den EG-Vertrag und durch die zuständigen EG-Organe beigemessen wird. Bereits die Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft enthielten mit den Art. 85–90 EWGV Regelungen, die den Wettbewerb betrafen. Die Mitgliedsstaaten wollten sich – im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik – nicht mit einer Koordinierung oder Harmonisierung der nationalen Wettbewerbspolitiken begnügen, sondern schufen aus integrationspolitischen Gründen ein einheitliches, gemeinsames Wettbewerbsrecht für grenzüberschreitende Aktivitäten.252 Überdies stellte die Wettbewerbspolitik den einzigen Bereich im Rahmen des europäischen Wirtschaftsrechts dar, in dem nicht nur eine legislative Tätigkeit vorgesehen wurde, sondern darüber hinaus der Gemeinschaft entsprechende Exekutivbefugnisse obliegen sollten. Unterstrichen wird diese von Anfang an zentrale Rolle der Wettbewerbspolitik durch die im EG-Vertrag kodifizierten Vorschriften. So findet der Wettbewerb bereits in der Präambel zum EG-Vertrag Erwähnung. Danach zielt die Gemeinschaft darauf ab, einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten. Art. 3 lit. g EG nennt als Aufgabe der Gemeinschaft die Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt. Schließlich macht Art. 4 Abs. 1 EG deutlich, dass die Tätigkeit der Gemeinschaft dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. Wiederholt wird dieser Wortlaut in den Art. 98 und Art. 105 EG, welche die Wirtschafts- und Währungspolitik betreffen. In Art. 154 Abs. 2 und Art. 157 Abs.1 EG wird die Formulierung eines „Systems offener und wettbewerbsorientierter Märkte“ gewählt. Allein diese Aufzählung verdeutlicht, dass dem Wettbewerbsprinzip durch den EG-Vertrag eine starke Stellung und Bedeutung im Gemeinschaftsrecht zugewiesen ist. Auch die Kommission als das zuständige Organ für Wettbewerbsfragen betonte bereits oft die Wichtigkeit des Wettbewerbsprinzips. So stimuliere der Wettbewerb die wirtschaftliche Aktivität am besten und sei in der Lage, für die Beteiligten den größten Freiheitsspielraum zu sichern.253 Der Wettbewerb sei darüber hinaus das beste Mittel der globalen Wirtschaftspolitik, um die Leistungsfähigkeit der Unternehmen und der Wirtschaft insgesamt zu steigern und dadurch die Voraussetzungen für die private und kollektive 252 253

Duijm, S. 59. I. Wettbewerbsbericht (1971), S. 11.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Bedürfnisbefriedigung zu schaffen. Dabei soll der Wettbewerb u. a. sicherstellen, dass sich Innovationen lohnen, Güter und Dienstleistungen so effizient wie möglich produziert werden und diese Effizienz den Verbrauchern in Form von niedrigen Preisen oder einem Mehr an Qualität, Auswahl oder Leistung zugute kommt.254 Der EuGH übt sich in Zurückhaltung bei der Frage, welche Bedeutung dem Wettbewerb als Faktor der Wirtschaftsordnung beizumessen ist.255 Der Gerichtshof geht viel mehr einen pragmatischen Weg und wendet je nach Einzelfall die betreffenden Vorschriften des Vertrages an.256 Obwohl sich der EuGH nicht auf ein ordnungspolitisches Konzept festlegt, führt das Einhaltgebieten und die Kontrolle der Interventionen der Gemeinschaftsorgane, der Mitgliedsstaaten und der privaten Unternehmen allgemein zu mehr Wettbewerb.257 So will auch der EuGH durch seine Rechtsprechung erheblich zu dessen Sicherung beitragen.258 Insofern stellt er fest, dass genügend Wettbewerb vorhanden sein muss, um die wesentlichen Forderungen des Vertrages zu erfüllen und um seine Ziele, insbesondere die Bildung eines einzigen Binnenmarktes, erreichen zu können.259 In keinem Fall darf der Wettbewerb vollständig ausgeschlossen werden. Das Höchstmaß an unverfälschten Wettbewerb könne also die Verwirklichung der Vertragsziele am besten gewährleisten. In der Zusammenschau lässt sich dem EG-Vertrag und der Praxis der Kommission und des EuGH entnehmen, dass dem Wettbewerbsprinzip eine große Bedeutung innerhalb der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft beigemessen wird. II. Verhältnis zu anderen Gemeinschaftspolitiken Während über die Notwendigkeit einer europäischen Wettbewerbspolitik unter den Mitgliedsstaaten grundsätzlich Einigkeit besteht, ist deren konkrete Ausgestaltung und Umsetzung von jeher umstritten. Hierbei geht es primär um das Spannungsverhältnis zwischen einer europäischen Industriepolitik und der Wettbewerbspolitik. Während das Wettbewerbsprinzip seit Beginn der EG in den Verträgen verankert ist, sucht man nach Regelungen über die Industriepolitik in den Gründungsverträgen vergeblich.260 Erst 254

XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 3. Vgl. hierzu die Aussagen Everlings, ehemaliger Richter am EuGH in EuR 1982, 301 ff. 256 Everling, in: EuR 1982, 301 (311). 257 Everling, in: EuR 1982, 301 (312). 258 Everling, in: EuR 1982, 301 (313). 259 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905). 255

§ 3 EG-rechtliche Grundlagen für selektive Vertriebssysteme

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1987 durch die Einheitliche Europäische Akte fanden industriepolitische Zielsetzungen in Form der Forschungs- und Technologiepolitik Eingang in den EWG-Vertrag.261 Einen Meilenstein in der Geschichte der europäischen Industriepolitik stellt der im Februar 1992 verabschiedete Vertrag von Maastricht dar. In diesem ist die Industriepolitik erstmals als Gemeinschaftsziel in Art. 3 lit. l EGV aufgenommen. Dieser beauftragt die Gemeinschaft mit der Entwicklung und Durchführung einer europäischen Industriepolitik. Art. 3 lit. l EGV ist dabei ebenso wenig wie das in Art. 3 lit. g EGV verankerte System unverfälschten Wettbewerbs bloßer Programmsatz, sondern der Industriepolitik kommt Verfassungsrang zu.262 Beide Ziele beanspruchen damit für sich formal den gleichen Rang. Ebenfalls durch die Vertragsrevision von Maastricht wurde der Industriepolitik mit dem Art. 130 EGV ein eigener Titel gewidmet. Diese erstmalige ausdrückliche Kodifizierung könnte daher – obwohl der Vertrag von Maastricht die Wettbewerbsregeln in ihrem Wortlaut unberührt lässt – mittelbar eine Schwächung der an sich starken Stellung des Wettbewerbsprinzips bewirken. Motiv für die Einfügung der industriepolitischen Vertragszusätze war die Einschätzung der Europäischen Gemeinschaft, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie mangelhaft sei.263 Auf europäischer Ebene geht man offensichtlich davon aus, dass die Sicherung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie nicht durch den freien unverfälschten Wettbewerb erreicht werden kann und soll, sondern vielmehr durch die durch Maastricht der EG und deren Mitgliedern zugewiesene Kompetenz zur Durchführung einer gemeinsamen Industriepolitik.264 Zwar wurde in Art. 130 Abs. 3 EGV ein Vorbehalt zugunsten der Wettbewerbspolitik in der Weise normiert, dass staatliche Fördermaßnahmen nicht Wettbewerbsverzerrungen verursachen dürfen. Eine enge Auslegung dieses, auf einen Kompromiss der von der Bundesrepublik und Großbritannien geführten Gruppe der Gegner einer autonomen Industriepolitik, zurückgehenden Wortlautes verbietet sich jedoch von vornherein: Staatliche Interventionen greifen stets in den Wettbewerbsprozess ein. Industriepolitik kann ohne diese aber nicht durchgeführt werden. 260 Vgl. zur historischen Entwicklung der europäischen Industriepolitik die Darstellungen bei Winter, S. 63 ff.; Brösse, S. 306 ff. 261 Art. 130 lit. f EWGV. 262 Schmidt/Schmidt, S. 105; van der Esch, in: WuW 1988, 563 (566); Möschel, in: ORDO 43 (1992), 415 (416 f.). 263 Fischer, S. 1. Vgl. zur konkreten Entstehungsgeschichte des Art. 157 EG (Art. 130 EGV a. F.) Hellmann, S. 14 ff. 264 In diesem Zusammenhang ist auch Art. 130 Abs. 1, 1. Spiegelstrich EG-Vertrag zu lesen. Danach sollen die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten die Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen erleichtern.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Die Kommission sieht die Rolle der Gemeinschaft im Rahmen der Industriepolitik wie folgt: Es gehe für die Gemeinschaft nicht darum, anstelle der Unternehmen zu handeln, sondern vielmehr will sie als Katalysator bei der Innovationsförderung und der Schaffung eines geeigneten, stabilen Umfeldes wirken.265 Eine derartige Aussage lässt lediglich die Vermutung zu, dass die beiden Extreme ausgeschlossen werden können. Es wird somit weder eine völlig interventionistische noch eine von jeglichen staatlichen Lenkungen frei bleibende Politik angestrebt. Zusätzlichen Auftrieb erhält die Diskussion durch den im Oktober 1997 verabschiedeten Vertrag von Amsterdam. Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt wurden die in Art. 2 EG genannten Ziele der Gemeinschaft um einige Komponenten erweitert.266 Die Aufnahme „eines hohen Grades an Wettbewerbsfähigkeit“ in Art. 2 EG steht im deutlichen Zusammenhang mit industriepolitischen Zielsetzungen, wodurch diese erneut eine Aufwertung erfahren.267 Dies gilt umso mehr, als das System des unverfälschten Wettbewerbs nicht bereits in Art. 2 EG, sondern erst in Art. 3 EG genannt wird. Überdies wurde durch die Revision von Amsterdam ein eigener Titel für die Beschäftigungspolitik in den EG-Vertrag aufgenommen.268 Der Wortlaut des Art. 127 Abs. 2 EG stellt unmissverständlich klar, dass das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus bei der Festlegung und Durchführung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen zu berücksichtigen ist. Diese sog. Querschnittsklausel269 bedeutet, dass im Rahmen der europäischen Wettbewerbspolitik beschäftigungspolitische Erwägungen in die Entscheidungen mit einzubeziehen sind. Im Ergebnis ist der Weg für unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen offen, wobei die Gefahr nach Maastricht und Amsterdam, dass die industriepolitischen Einflüsse auf die Anwendung der Wettbewerbsregeln größer werden, nicht übersehen werden kann. Damit geht unvermeidlich eine Schwächung des Wettbewerbsprinzips einher.270 265

XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 98 (Tz. 156). So werden nun die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität ausdrücklich in Art. 2 EG erwähnt. 267 So auch Schmidt, in: WuW 1999, 133 (134). 268 Vgl. Art. 125–130 EG. 269 Vgl. zu der Querschnittsklausel des Art. 130r Abs. 2, Satz 2 EG-Vertrag für den Umweltschutz: Scheuing, in: EuR 1989, 152 (176). 270 Anderer Ansicht insoweit Groger/Janicki, in: WuW 1992, 991 (993), die aufgrund der eindeutigen Ausrichtung des EG-Vertrages eine Schwächung des Wettbewerbsprinzips nicht annehmen. 266

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III. Allgemeine Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik Bei der Untersuchung der Frage, ob der europäischen Wettbewerbspolitik ein einheitliches Konzept zugrunde liegt, ist weiterhin von entscheidender Bedeutung, welche (weiteren)271 Ziele bei der Anwendung der Wettbewerbsvorschriften einbezogen werden sollen. Art. 2 EG normiert die Vertragsziele der Gemeinschaft. Aus dessen Wortlaut geht hervor, dass die in Art. 3 und 4 EG erwähnten Tätigkeiten der Gemeinschaft, und dort u. a. die Wettbewerbspolitik, als Mittel zur Verwirklichung der in Art. 2 EG normierten Vertragsziele eingesetzt werden sollen. Nach van Miert, dem ehemaligen Wettbewerbskommissar, kann die Wettbewerbspolitik als eine der wichtigsten Politiken der Gemeinschaft zur Erreichung ihrer Vertragsziele bezeichnet werden.272 Dabei finde die Wettbewerbspolitik nicht in einem Vakuum statt, sondern habe stets auch die Auswirkungen in anderen Politikbereichen wie eine Industrie-, Regional-, Sozial- und Umweltpolitik mit einzubeziehen.273 Bereits im I. Wettbewerbsbericht wurde die Instrumentalisierung zur Erreichung allgemeiner wirtschaftspolitischer Ziele wie folgt formuliert: „Die Wettbewerbspolitik kann sich nicht als Selbstzweck unabhängig von den Bemühungen auf anderen Gebieten entwickeln“.274 In einer Vielzahl von Wettbewerbsberichten betonte die Kommission immer wieder, dass die Wettbewerbspolitik ein Teil der Gesamtstrategie der Kommission für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung ist und ein Zusammenspiel mit anderen Politiken zur Verwirklichung der in Art. 2 EG niedergelegten Gemeinschaftszielen unerlässlich ist.275 Auch der EuGH geht davon aus, dass der EG-Vertrag die Wettbewerbsfreiheit nicht um ihrer selbst willen schützt, sondern in ihrer rechtlichen und ökonomischen Wirksamkeit.276 Den Einzelfallentscheidungen der Europäischen Kommission und den Berichten über die Wettbewerbspolitik lassen sich die unterschiedlichsten gemeinschaftlichen wirtschaftspolitischen Ziele, die mit der Wettbewerbspolitik erreicht werden sollen, entnehmen. 271

Neben der soeben erwähnten Industrie- und Beschäftigungspolitik. van Miert, in: Gerken, S. 219. 273 van Miert, in: WuW 1995, 553 (554). In diesem Sinne stellt van Miert ebenfalls unmissverständlich klar, dass die Durchsetzung wettbewerblicher Prinzipien nicht ein Zweck an sich ist, sondern ein Instrument zur Erreichung der grundlegenden Ziele der Gemeinschaft. 274 I. Wettbewerbsbericht (1971), S. 13. 275 IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 11; XV. Wettbewerbsbericht (1985), S. 15; XVI. Wettbewerbsbericht (1986); S. 18; XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 95 (Tz. 149); XXVI. Wettbewerbsbericht (1996), S. 11 (Tz. 2). 276 EuGH 16.12.1975, Suiker Unie u. a./Komm., Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73, Slg. 1975, 1663 (1965); EuGH 14.07.1981, Züchner/Bayerische Vereinsbank, Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 (2031). 272

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Hierzu zählen insbesondere die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen277, um eine starke europäische Industrie zu ermöglichen, die in der Lage ist, sich dem weltweiten Wettbewerb zu stellen.278 Im Rahmen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit soll die Chancengleichheit der am Wirtschaftsleben beteiligten Personen und Unternehmen aufrecht gehalten279 und kleine und mittlere Unternehmen mit Rücksicht auf ihre schwache Marktstellung gefördert werden.280 Zudem bemüht sich die Wettbewerbspolitik die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die europäische Forschung und Entwicklung in optimaler Weise zur Geltung kommt.281 Die Wettbewerbspolitik wurde auch schon vor der Einfügung der Art. 125 ff. EG als eine der Hauptpolitiken im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit angesehen.282 Überdies sollte sie beim Übergang zu einer einheitlichen Währung ihr Möglichstes beitragen.283 Neben diesen ökonomischen Zielen werden der Wettbewerbspolitik zusätzlich auch soziale Aufgaben zugewiesen. So sei sie den legitimen Interessen der Verbraucher (in Form des Verbraucherschutzes) und Arbeitnehmer verpflichtet284 und soll Solidarität und Gleichbehandlung bewahren helfen285. Es wird deutlich, dass die Wettbewerbspolitik zur Verwirklichung eines ganzen Katalogs von Zielvorstellungen instrumentalisiert werden soll.286 Dabei haben die Vertragveränderungen von Maastricht und Amsterdam die Tätigkeitsfelder zusätzlich erweitert. IV. Der Gemeinsame Markt als besonderes Ziel der europäischen Wettbewerbspolitik Während der Entscheidungspraxis des EuGH und der Kommission eine Fülle von zum Teil sehr heterogenen Zielen entnommen werden kann, zieht sich eine Komponente wie ein roter Faden durch die Argumentation der Gemeinschaftsorgane: Die Europäische Wettbewerbspolitik ist zuallererst Integrationspolitik.287 Die Wettbewerbsregeln werden in den Dienst der zent277

XXVII. Wettbewerbsbericht (1997), S. 5. XXVI. Wettbewerbsbericht (1996), S. 12 (Tz. 8). 279 IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 10. 280 IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 11; XXVII. Wettbewerbsbericht (1997), S. 29 (Tz. 36). 281 XV. Wettbewerbsbericht (1985), S. 12. 282 XXVII. Wettbewerbsbericht (1997), S. 6 f.; XXIII. Wettbewerbsbericht, Tz. 17, 19. 283 XXVIII. Wettbewerbsbericht (1998), S. 19 (Tz. 1). 284 IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 11. 285 XXVI. Wettbewerbsbericht (1996), S. 3. 286 So auch Schmidt, A., S. 163. 278

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ralen Aufgabe der Gemeinschaft, nämlich der Öffnung der Märkte der Mitgliedsstaaten durch Abbau der Handelsschranken im Gemeinsamen Markt, gestellt.288 Bereits in dem 1952 in Kraft getretenen Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl wurde als Hauptziel die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes für diese Produkte in Art. 4 lit. b und d EGKSV normiert. Primäres Motiv für die fünf Jahre später erfolgte Kodifizierung der Wettbewerbsregeln im EWG-Vertrag war der Wunsch nach Sicherstellung, dass privatwirtschaftliche Handelshemmnisse nicht an die Stelle staatlicher Handelshemmnisse treten würden.289 Seitdem wird an diesem Ziel der Schaffung eines einheitlichen Marktes konsequent festgehalten und die Wettbewerbsvorschriften der Gemeinschaft werden seit 1958 als ein für die Errichtung eines einheitlichen europäischen Marktes unerlässliches Instrument angesehen.290 Schon in dem 1966 ergangenen Urteil in der Sache Grundig/Consten legte der EuGH sein Augenmerk auf die Tatsache, dass die staatlichen Grenzen, die zwischen den Mitgliedsstaaten abgebaut worden sind, nicht durch private Vereinbarungen wieder indirekt eingeführt werden dürften.291 Während vor der Vollendung des Binnenmarktes zum 31.12.1992 die Schaffung292 eines Gemeinsamen Marktes als Ziel der europäischen Wettbewerbspolitik proklamiert wurde, geht das jetzige Bestreben mehr in Richtung Vertiefung293 und Verfestigung des Binnenmarktes. So fühlen sich die Kommission und der EuGH auch heute noch der integrationspolitischen Komponente verpflichtet und sehen es als ihre Aufgabe an, die Errungenschaften des Binnenmarktes vor wettbewerbsfeindlichen Praktiken zu verteidigen.294 Der Gemeinsame Markt ist mit Hilfe der Wettbewerbsregeln Realität geworden und Realität geblieben.295

287

van Miert, in: Gerken, S. 219. Everling, in: WuW 1990, 995 (1000). 289 XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 97 (Tz. 154). 290 XXVIII. Wettbewerbsbericht (1998), S. 8. 291 EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg 1966, S. 321 (388); vgl. auch XVI. Wettbewerbsbericht (1986), S. 14; XXVI. Wettbewerbsbericht (1996), S. 13 (Tz. 9). 292 Schlecht, in: FS Benisch, 49 (50); Everling, in: WuW 1990, 995 (1000). 293 XXVI. Wettbewerbsbericht (1996), S. 13 f. (Tz. 9 f.). 294 XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 13 (Tz. 3). 295 XXVIII. Wettbewerbsbericht (1998), S. 8. 288

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B. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse Fraglich ist, welche Rückschlüsse auf ein möglicherweise vorhandenes wettbewerbstheoretisches Konzept der zuständigen EG-Organe gezogen werden können. Bei der Frage nach der Rolle des Wettbewerbs wird zunächst betont, dass der wirksame Wettbewerb die wirtschaftliche Freiheit der Marktbürger sichert.296 Insofern bestehen deutliche Parallelen zu der Theorie der Wettbewerbsfreiheit und auch zum Ordoliberalismus. In diese Richtung weisen auch die Aussagen van Mierts.297 Dieser bekräftigt, dass die Wettbewerbspolitik in Bezug auf das freiheitliche Menschenbild mit ordoliberalen Gedanken völlig übereinstimmt. Des Weiteren wird zum Teil auf die dynamische, vorstoßende Komponente des Wettbewerbs, der für „Innovation“ und „Imitation“ und damit für ein Mehr an Leistung und Wachstum sorgt, abgestellt.298 Damit werden alle statischen Modelle, wie die Preistheorie und die vollkommenen Konkurrenz, abgelehnt und der insbesondere von v. Hayek vertretenen dynamischen Theorie wird der Vorzug gegeben. Andererseits wird aber auch anerkannt, dass den grundlegenden Erfordernissen der Gemeinschaft unter Umständen durch indirekte, fördernde Eingriffe besser gedient sein kann, als durch eine strikte Anwendung der Verbote.299 Dies steht wiederum im krassen Gegensatz zu dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit, da sich dessen Anhänger für ein striktes per se-Verbot einsetzten. Die einzelfallbezogene Vorgehensweise des EuGH eröffnet zu große Beurteilungsspielräume, die von den Anhängern der Wettbewerbsfreiheit als schädlich angesehen werden. Bei der Untersuchung der Frage, welche allgemeinen Zwecke mit der europäischen Wettbewerbspolitik erreicht werden sollen, hat sich gezeigt, dass ein ganzer Maßnahmekatalog mit zum Teil recht heteronomen Zielen aufgestellt wurde. Der Wettbewerb wird somit nicht als Wert an sich im Sinne des systemtheoretischen Ansatzes Hoppmanns300 verstanden, sondern vielmehr als Mittel zur Erfüllung vorgegebener gesamtwirtschaftlicher Zielfunktionen. Nach dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit reicht allein das Bestehen von Wettbewerbsfreiheit aus, damit alle Marktteilnehmer individuelle ökonomische Wettbewerbsvorteile realisieren können. 296

XV. Wettbewerbsbericht (1985), S. 11. van Miert, in: Gerken, 219. 298 XV. Wettbewerbsbericht (1985), S. 11. 299 EuGH 13.02.1969, Wilhelm/Bundeskartellamt, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 (14); EuGH 10.01.1973, Continental Can/Komm., Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 (245). 300 Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 240. 297

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Der europäische instrumentalistische Ansatz stimmt mit den Vorstellungen der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs überein, die ebenfalls fragt: „What do we want competition to do for us?“.301 Aber auch die industriepolitischen Konzepte wollen die Wettbewerbspolitik zwecks Erreichung außerwettbewerblicher Zielvorgaben eingesetzt sehen. Damit ist zugleich eine deutliche Absage an den Zielmonismus der Chicago-School verbunden, die als alleinigen Zweck die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt postuliert.302 Als eines der Hauptziele der europäischen Wettbewerbspolitik hat sich die Integration der nationalen Volkswirtschaften zu einem Gemeinsamen Markt erwiesen. Diese immer wieder kehrende Argumentation kann in zweierlei Hinsicht wettbewerbstheoretisch eingebettet werden. Zum einen kann die integrationspolitische Aufgabe der Öffnung der Märkte im Zusammenspiel mit den Grundfreiheiten in Richtung der ordoliberalen und wettbewerbsfreien Tradition interpretiert werden. Die Abschaffung staatlicher Handelshemmnisse steht zudem in der Tradition des klassischen Liberalismus, da sich der jedem Menschen innewohnende Eigennutz am besten in einem Raum entfalten könne, der vom Staat und dessen Beschränkungsmöglichkeiten (wie z. B. Schutzzölle) freigehalten wird. Im Rahmen der integrationspolitischen Argumentation wird stets betont, dass die aufgehobenen Handelshemmnisse nicht erneut durch private oder staatliche Schranken ersetzt werden dürfen. Dies entspricht der Auffassung Euckens, da „zum Gedanken der Freiheit es ebenso wie zur Idee der Ordnung gehört, dass die Freiheit ihre Grenzen hat, wo die Ordnung selber durch sie bedroht wird“.303 Somit darf sowohl nach europäischen als auch nach ordoliberalen Vorstellungen die neu gewonnene Freiheit nicht zur Abschaffung der Freiheit anderer missbraucht werden. Mit der Öffnung der voneinander getrennten Märkte sollen die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktkonzeptes gewährleistet werden. Unter diesem Aspekt tritt die Erleichterung des Marktzutritts und die Erweiterung der Handlungsfreiheit der beteiligten Wirtschaftssubjekte in den Vordergrund. Diese Argumentation entspricht den Vorstellungen der Anhänger des Konzeptes der Wettbewerbsfreiheit, welche die Wettbewerbsfreiheit als letztes und einziges Ziel ansehen. Zum anderen kann man die Schaffung eines einheitlichen Marktes als ein – wenn auch sehr wichtiges – Ziel aus dem aufgestellten Maßnahmebündel begreifen. Dies entspräche wiederum der Theorie des funktionsfähigen 301 302 303

Clark, in: Chamberlin, S. 317. Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (284). Eucken, S. 179.

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Wettbewerbs, deren Aufstellen eines ganzen Zielkataloges kennzeichnend für den instrumentalistischen Ansatz ist. Hierfür spricht auch, dass der Binnenmarkt als eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung einer effizienten und wettbewerbsfähigen Industrie gesehen wird. Somit steht hinter der Öffnung der Märkte ein wohlfahrtsökonomisches Ziel, welches insbesondere von den Anhängern der Harvard-School gefordert wird. Letztlich ist zu untersuchen, welche wettbewerbstheoretischen Schlüsse die Aussagen der Kommission über das Verhältnis einer europäischen Industrie- zu der Wettbewerbspolitik zu lassen. Dabei geht es um die Frage, inwieweit wirtschaftliche Freiheit eingeschränkt werden muss, um bestimmte ökonomische Ziele zu erreichen. In Art. 3 lit. m EG, der die Industriepolitik im weiteren Sinne und in Art. 163 Abs. 1 EG, der den Bereich der Forschung und technologischen Entwicklung betrifft, wird die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit explizit angesprochen und als Ziel festgeschrieben. Dadurch wird deutlich, dass der europäische Gesetzgeber davon ausgeht, dass zwischen der Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eines einzelnen Unternehmens Zielkonflikte auftreten können. Dies belegen die Querschnittsklauseln auf eindrucksvolle Weise. Damit wird sich an die Anhänger des Konzeptes des funktionsfähigen Wettbewerbs und der optimalen Wettbewerbsintensität angelehnt, welche die sog. Dilemmathese vertreten. Danach muss man gewisse Unternehmensgrößen, Marktunvollkommenheiten und auch bis zu einem gewissen Grad Wettbewerbsbeschränkungen zulassen, um gute ökonomische Ergebnisse zu erzielen.304 Dies steht im krassen Gegensatz zum klassischen Liberalismus und der Theorie der Wettbewerbsfreiheit, bei denen Konflikte zwischen den Zielkomplexen Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Vorteilhaftigkeit qua Werturteil nicht möglich sind305. Untermauert wird dies durch die Bereitschaft der Europäischen Kommission, Vereinbarungen, die eine Einschränkung der Aktionsfreiheit beinhalten, im Rahmen von Art. 81 EG zu genehmigen, wenn dies für die Erlangung von allgemein nützlichen technologischen Innovationen erforderlich ist.306 Somit geht sie nicht davon aus, dass der technologische Fortschritt durch den Wettbewerb erreicht werden kann. Zum anderen spricht die dauernde Betonung, dass die Wettbewerbspolitik im Zusammenhang mit anderen Gemeinschaftspolitiken auszuüben ist, für die Annahme, dass der Wettbewerb die ökonomischen Vorteile allein nicht zu erbringen vermag. So sieht die Kommission die Wettbewerbspolitik als einen unverzichtbaren Bestandteil der Industriepolitik an.307 304 305 306

Olten, S. 97. Schmidt, S. 34. XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 100 (Tz. 160).

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Aufgrund der weitgehenden Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes werden die integrationspolitischen Argumente immer mehr in den Hintergrund treten. So seien zwar noch nicht alle potentiell integrationsfähigen Märkte tatsächlich zu einem einheitlichen Binnenmarkt zusammengewachsen, dennoch würden neben der Integrationspolitik in zunehmendem Maße ebenfalls wirtschaftspolitische Ziele verfolgt.308 Die voraussichtliche Abnahme integrationspolitischer Begründungen könnte bedeuten, dass die sich allein am Wettbewerb orientierenden Konzeptionen weiter zurückgedrängt werden, zumal die Kommission nach eigenen Angaben keinesfalls gegen eine Industriepolitik eingestellt ist.309 Dies führt zu erneuten Konflikten mit dem Primat des Wettbewerbs. Das Verfolgen anderer, sich nicht an der Wettbewerbsfreiheit orientierender, wirtschaftlicher Ziele steht im deutlichen Widerspruch zu dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit und ist vielmehr der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs und industriepolitischen Ansätzen zuzuordnen. Zudem macht das Zuweisen eines ganzen Zielkatalogs deutlich, dass die zuständigen EGOrgane nicht auf die Selbstheilungskräfte des Marktes im Sinne der klassischen Nationalökonomie vertrauen, sondern ein Marktversagen für durchaus möglich halten. Der Wettbewerb ist stets der Gefahr der Selbstzerstörung ausgesetzt.310 Als Ursache hierfür sehen sie u. a. die übermäßige Konzentration wirtschaftlicher und finanzieller Macht, die zu strukturellen Veränderungen von derartigem Ausmaß führt, dass der Wettbewerb die ihm zugedachte Rolle, alle wirtschaftlichen Vorgänge zu steuern und zu regulieren, nicht mehr erfüllen kann.311 Dem lässt sich aber nicht nur eine Absage an die Laissez-faire-Konzepte entnehmen, sondern es tut sich auch ein deutlicher Widerspruch zu den Vorstellungen der Chicago School auf. Nach dessen Anhängern sei eine zunehmende Konzentration nur ein Ausdruck größerer unternehmerischer Effizienz und stelle keine Gefahren für den Wettbewerbsprozess dar, weil von der potentiellen Konkurrenz ein hinreichend großer Wettbewerbsdruck ausgehen würde. Als ein in neuerer Zeit häufig wiederholtes Ziel ist die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen im weltweiten Wettbewerb hervorzuheben. Dieses ist nunmehr ausdrücklich in Art. 2 EG normiert. Während ehemals insbesondere die „Elefantenhochzeiten“ als Ursache für die Vermachtung der Märkte und das Entstehen von Marktzutrittsschran307 308 309 310 311

XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 99 (Tz. 157). van Miert, in: Gerken, 219 (220 f.). XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 99 (Tz. 157). XI. Wettbewerbsbericht (1979), S. 10. XI. Wettbewerbsbericht (1979), S. 10.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

ken angesehen wurde312, drängt sich nunmehr der Eindruck auf, dass das Heranzüchten von „european champions“ forciert werden könnte, um sich den weltweiten Herausforderungen zu stellen. Dies ist ganz im Sinne der Anhänger der Chicago-School, welche die Vorteile in Form von economies of scale innerhalb größerer Unternehmen begrüßen. Gerade im Vergleich zu der als ältere Auffassung zu bezeichnende Ansicht bezüglich der Gefahren, die von großen Unternehmen ausgehen, zeichnet sich ein Wandel hin zu den Vorstellungen der Chicago School ab. In Zusammenschau mit den durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam ausgehenden möglichen Gefahren ist in Zukunft eine Politisierung der Entscheidungspraxis wahrscheinlicher als deren Verrechtlichung. Die Freiheit des Wettbewerbs droht der nicht mehr primär zu berücksichtigende Aspekt in der europäischen Wettbewerbspolitik zu sein, sondern außerwettbewerbliche – vor allem industriepolitische – Argumente könnten zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Eine Entscheidung in dem Konflikt zwischen einer an Wettbewerb oder aber an anderen industriepolitischen Zielen orientierten Politik kann erst im Folgenden bei der Untersuchung der Anwendungspraxis der Kommission zu Art. 81 EG entschieden werden. Im Ergebnis muss die Ausgangsfragestellung, ob der europäischen Wettbewerbspolitik ein einheitliches ordnungspolitisches Konzept zu Grunde liegt, eindeutig verneint werden. Diese kann unmöglich einem einzigen wettbewerbspolitischen Leitbild zugeordnet werden, sondern sie ist vielmehr von unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen geprägt, die an den verschiedensten Ansatzpunkten Eingang in die Praxis der zuständigen EG-Organe gefunden hat. Verwundern kann diese Konzeptionslosigkeit zumindest teilweise nicht. Die Europäische Gemeinschaft besteht (noch) aus 15 Mitgliedsstaaten. Jeder einzelne Staat ist durch seine eigene wettbewerbspolitische Tradition geprägt, welche wiederum die Prioritäten im Bereich der Wettbewerbs-, Industrie- und Strukturpolitik stark beeinflusst. Dabei vereinigen sich sowohl in der Europäischen Kommission als auch beim EuGH die Vorstellungen der eher wettbewerbsorientierten Länder wie Deutschland, England, Dänemark und den Niederlanden mit den industriepolitisch motivierten romanischen Mitgliedsländern wie Frankreich, Italien und Spanien.313 Eine gemeinsame natürlich gewachsene ordnungspolitische Konzeption besteht daher nicht. Auch wenn es pluralistische Zielvorstellungen im Rahmen der europäischen Integration bereits immer gegeben hat314, bleiben die Schwie312 313 314

XV. Wettbewerbsbericht (1985), S. 12. Schmidt/Schmidt, S. 121. Schmidt, in: WuW 1999, 133 (136).

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rigkeiten eines supranationalen Rechtssystems auch nach 45 Jahren weiterhin bestehen. Eine weitere Ursache für ein fehlendes einheitliches Konzept liegt in der Kompetenzaufteilung zwischen den einzelnen EG-Organen. Die Europäische Kommission nimmt die wettbewerbspolitischen Vollzugsaufgaben wahr und übt durch ihre Praxis einen entscheidenden Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik aus. Die Kommission ist aber, im Gegensatz zum Bundeskartellamt, keine von der Politik weitgehend unabhängige Behörde, sondern setzt sich aus 20 Mitgliedern315, die von den Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten entsannt werden316, zusammen und ist somit ein politisches Organ. Die fehlende institutionelle Trennung zwischen wettbewerblicher und politischer Instanz trägt von vornherein die Tendenz zu politisch motivierten Entscheidungen in sich.317 Obwohl die Kommission von Haus aus ein vielköpfiges, politisches Kollegialorgan ist, hat sie sich zwar bemüht, ihre Entscheidungen nicht als politische Eingriffe, sondern als Rechtsanwendung zu verstehen.318 Aber im Spiel der politischen Kräfte ist es besonders beschwerlich, ordnungspolitische Konsequenz zu bewahren; Kompromisse sind unvermeidbar.319 Somit sind die Entscheidungen auch dem Einfluss von Mitgliedsstaaten ausgesetzt, welche die Wettbewerbsregeln als ein Instrument zur Durchsetzung staatlich vorgegebener Ziele ansehen. Der EuGH als die wettbewerbliche Kontrollinstanz sieht sich ebenfalls mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die weit überwiegend aus Vertretern des Öffentlichen Rechts bestehenden Richter aus verschiedenen Mitgliedsstaaten mit ganz unterschiedlicher Geschichte, Kultur, wirtschaftlicher und sozialer Struktur und vor allem Rechtsordnung stammen, die ihre Tradition, Methoden und Wertvorstellungen in die Entscheidungen einbringen.320 Hinzu käme, dass der EuGH nicht die Funktion habe, ordnungspolitische Entscheidungen zu treffen, da dieses den politischen Instanzen obliege321, sondern vielmehr pragmatisch je nach Einzelfall zu entscheiden habe.322 Dem muss entgegnet werden, dass es für eine effektive Wettbe315

Vgl. Art. 213 EG. Vgl. Art. 214 Abs. 2 EG. 317 Zu der Streitfrage bezüglich eines unabhängigen Europäischen Kartellamtes vgl. Groger/Janicki, in: WuW 1992, 991 (997 f.). 318 Rittner, in: JZ 1996, 377 (378). Vgl. aber auch die durchaus vorhandene Kritik im Bereich des Beihilfen- und Fusionskontrollrechts bei Schmidt, in: WuW 1999, 133 (139 v. a. in Fn. 29). 319 Schlecht, in: FS Benisch, 49 (51). 320 Everling, in: WuW 1990, 995 (996). 321 Everling, in: EuR 1982, 301 (313). 322 Everling, in: WuW 1990, 995 (1009). 316

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

werbspolitik gerade von besonderer Bedeutung ist, dass den Einzelfallentscheidungen ein einheitliches wettbewerbstheoretisches Konzept zugrunde liegt. So wurde bereits in Frage gestellt, ob der EuGH sich überhaupt bewusst ist, dass er seinen Entscheidungen unterschiedliche Wettbewerbskonzeptionen zugrundelegt.323 Letztlich ist selbst die Wettbewerbstheorie in jüngerer Zeit nicht mehr in der Lage, eine große Hilfestellung zu leisten.324 So kann, wie bereits oben bei der Darstellung der einzelnen wettbewerbspolitischen Leitbilder gesehen, eine strikte Trennung der einzelnen Konzeptionen nicht mehr vorgenommen werden, sondern diese überschneiden und verwässern sich in zunehmenden Maße. Dies alles vermag dennoch nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass es einer einheitlichen ordnungspolitischen Konzeption dringend bedarf, damit die Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft im 21. Jahrhundert nicht in einer Sackgasse endet.

§ 4 Bestandsaufnahme: Die bisherige Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach Art. 81 EG A. Einleitung Vor dem Hintergrund der soeben herausgearbeiteten Grundlagen soll im Folgenden untersucht werden, wie selektive Vertriebssysteme bis zum Erlass der Vertikal-GVO in der Praxis behandelt wurden. Kernstück des wettbewerblichen Rechtsrahmens ist dabei Art. 81 EG, welcher über die Zulässigkeit selektiver Vertriebssysteme entschieden wurde. Art. 81 EG als Grundtatbestand für die Erfassung sowohl horizontaler als auch vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen ist von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt. Der inhaltlichen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe durch die zuständigen EG-Organe kommt somit entscheidende Bedeutung zu. Die Frage der konkreten Umsetzung des Art. 81 EG ist dabei von den wettbewerbskonzeptionellen Vorstellungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar abhängig. Für den selektiven Vertrieb gilt es also herauszuarbeiten, welche wettbewerbstheoretischen Vorstellungen in der Praxis bisher eine entscheidende Rolle bei der Behandlung dieser Vertriebsform gespielt haben. Dabei werden zu den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen des Art. 81 EG markante Entscheidungen 323 324

Oberender/Okruch, in: WuW 1994, 507 (519). So auch Everling, in: WuW 1990, 995 (997).

§ 4 Bestandsaufnahme

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der zuständigen Organe und die daraus deutlich werdenden Tendenzen herausgearbeitet. Diese Untersuchungsergebnisse dienen sodann als Grundlage für die Hypothese des neuen Umgangs mit dieser Vertriebsform.

B. Der selektive Vertrieb im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG Nach Art. 81 Abs. 1 EG sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen, die den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung, oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, verboten. Im Folgenden wird die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 81 Abs. 1 EG durch die Kommission und den EuGH analysiert, um so Rückschlüsse auf das vorherrschende Wettbewerbsverständnis zu ziehen. Problematisch bei der Bewertung selektiver Vertriebssysteme ist, dass sie in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen in der Praxis vorkommen und die einzelnen Klauseln vielfach miteinander kombinierbar sind.325 Dies stellt die zuständigen EG-Organe vor die Frage, wie die jeweilige Einzelklausel und zudem das gesamte Vertragssystem im Rahmen des Art. 81 EG zu berücksichtigen sind. Aufgrund der Begrenztheit des Raumes einer jeden Untersuchung wird im Folgenden das Hauptaugenmerk auf die konkrete Anwendung der einzelnen Tatbestandsmerkmale in Bezug auf selektive Vertriebssysteme gelegt. I. Unternehmen Das von Art. 81 Abs. 1 EG formulierte Verbot richtet sich an Unternehmen. Obwohl mittels dieses Tatbestandsmerkmals über den persönlichen Anwendungsbereich entschieden wird, findet sich im EG-Vertrag, anders als im EGKS-326 und im Euroatom-Vertrag327, keine Definition des „Unternehmens“begriffs. Um den Wettbewerbsregeln einen großen Anwendungsbereich zu verschaffen, wird „Unternehmen“ entsprechend extensiv ausgelegt.328 Nach 325 326 327 328

Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. Art. 80 EGKS-Vertrag. Art. 196 lit. b Euroatom-Vertrag. Emmerich, S. 385.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

allgemeiner Ansicht gilt im europäischen Recht ebenfalls wie im deutschen Recht des GWB329 der funktionale Unternehmensbegriff.330 Dies hat der EuGH jüngst erneut bestätigt, indem er die Begriffsbestimmung ausdrücklich im Rahmen des Wettbewerbsrechts vorgenommen sehen will.331 In diesem Sinn wird jede selbstständige, nicht rein private, d.h. auf Deckung des persönlichen Bedarfs beschränkte oder außerhalb des Erwerbslebens liegendem, auf den Austausch von Waren oder Dienstleistungen gerichtete Tätigkeit einer natürlichen oder juristischen Person ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform und die Absicht der Gewinnerzielung erfasst.332 Dieses Tatbestandsmerkmal bereitet in der Praxis zu selektiven Vertriebssystemen333 keine nennenswerten Probleme.334 Entweder wird die Unternehmenseigenschaft von Hersteller und Absatzmittler mit einem Satz bejaht335 oder auf diese wird überhaupt nicht eingegangen.336 II. Vereinbarung, Beschluss oder abgestimmte Verhaltensweise Als Mittel der Wettbewerbsbeschränkung kommen nach Art. 81 Abs. 1 EG die Vereinbarung, der Beschluss oder die abgestimmte Verhaltensweise in Betracht. Während der Wortlaut der Vorschrift eine klare Differenzierung zwischen den möglichen Formen der Kooperation hergibt, nehmen die Organe der EG in ihrer Praxis oft keine strikte Unterscheidung zwischen den Kooperationsformen vor. Zum Teil lapidar wird dieses Tatbestandsmerkmal mit den Worten bejaht, dass es dahinstehen könne, ob eine Vereinbarung vorläge, da zumindest eine Verhaltensabstimmung zwischen den Beteiligten anzunehmen sei.337 329

Wiedemann, in: Wiedemann, § 4, Rdnr. 9. FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Rdnr. 11; Emmerich, in: JuS 1990, 695 (698). 331 EuGH 23.04.1991, Höfner, Rs. C 41/90, Slg. 1991, I-1979 (2016); EuGH 11.12.1997, Job Centre, Rs. C-55/96, Slg. 1997, I-7119 (7147). 332 Emmerich, S. 385. 333 Eine ausführliche Behandlung der allgemein problematischen Fälle siehe FK/ Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Rdnr. 43 ff. 334 Vgl. zu den vereinzelt auftretenden Problemen bei Handelsvertretern und konzerninternen Absprachen ausführlich Meier II, S. 101 ff.; Pawlikowski, S. 275 ff. Diese mögliche Form des Absetzens bleibt im Rahmen dieser Untersuchung außer Betracht, vgl. oben unter 1. Teil, § 1, A. II. 335 Komm. v. 24.7.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (15, Tz. 2). 336 Komm. v. 10.12.1984, Ideal Standard, ABl. 1985 L 20/38 (41). 337 Komm. v. 13.07.1994, Karton, ABl. 1994 L 243/1 (41, Tz. 128); Komm. v. 21.10.1998, Fernwärmetechnik-Kartell, ABl. 1999 L 24/1 (49, Tz. 132). Der EuGeI scheint diese Vorgehensweise zu billigen, vgl. EuGeI 17.12.1991, Hercules Chemicals/Komm., Rs. T-7/89, Slg. 1991, II-1711 (1807). 330

§ 4 Bestandsaufnahme

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1. Vereinbarung Die Vereinbarung umfasst jede förmliche oder formlose, ausdrückliche oder stillschweigende Willenseinigung zwischen mindestens zwei natürlichen oder juristischen Personen, durch die das Marktverhalten wenigstens einer der Partner geregelt wird.338 Dabei geht der Inhalt einer Vereinbarung über den zivilrechtlichen Vertragsbegriff zwar hinaus339, schließt diesen aber mit ein.340 Die im Rahmen eines Vertriebssystems zwischen dem Hersteller und den Händlern getroffenen Absprachen stellen aufgrund ihres rechtlichen Bindungscharakters klassische Verträge dar und fallen damit unproblematisch unter die „Vereinbarung“ im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG.341 Aber nicht nur der gesamte Vertriebsvertrag, sondern auch dessen einzelne Klauseln können nach Ansicht der Europäischen Kommission und des EuGH eine Vereinbarung darstellen.342 Dies gilt insbesondere für den selektiven Vertrieb bei einseitigen Maßnahmen. Konstitutives Element einer Vereinbarung ist der zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Parteien hinsichtlich ihres wettbewerbsrelevanten Verhaltens.343 An diesem kollektiven Charakter mangelt es beispielsweise, wenn der Hersteller ausschließlich einseitig zwischen den in Betracht kommenden Absatzmittlern auswählt. In diesen Fällen liegt eine einfache Geschäftsverweigerung vor, die lediglich das eigene Absatzverhalten zum Gegenstand hat und nicht fremdbestimmend auf das Verhalten eines Dritten Einfluss nimmt. Die freie Auswahl des Geschäftspartners ist unabdingbare Voraussetzung eines freien Marktes344 und damit Ausdruck der allgemeinen Handlungs- und Vertragsfreiheit. 338

Komm. v. 21.12.1988, LDPE, ABl. 1989 L 74/21 (32, Tz. 37). So wird unter einer Vereinbarung jede Verständigung zwischen Unternehmen verstanden, die zu einer Willensübereinstimmung führt, vgl. I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 66. 340 Dabei ist inzwischen eindeutig durch den EuGH geklärt, dass der Begriff der Vereinbarung grundsätzlich unabhängig vom zivilrechtlichen Vertragsbegriff der nationalen Rechtsordnungen zu verstehen ist. Vgl. EuGH 30.01.1985, BNIC/Clair, Rs. 123/85, Slg. 1985, 391 (423); EuGH 11.01.1990, Sandoz, Rs. C-277/87, Slg. 1990, I-45 (45 f.). Ausführlicher zu diesem Problemkreis: Lübbig, in: WuW 1991, 561 (564 f.). 341 Exemplarisch hierfür die Entscheidung der Komm. v. 04.12.1996, Novalliance/Systemform ABl. 1997 L 47/11 (19, Tz. 52); Komm. v. 10.07.1987 – TippEx, ABl. L 222/1 (7, Tz. 48). 342 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1908); EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, 321 (392 f.). 343 EuGH 15.07.1970, Boehringer/Komm., Rs. 45/69, Slg. 1970, 769 (803); EuGH 14.05.1998, Mayr-Melnhof/Komm., Rs. T-347/94, Slg. 1998, II-1751 (1777); Komm. v. 13.07.1994, Karton, ABl. 1994 L 243/1 (40, Tz. 126). 344 Vgl. Belke, S. 1. 339

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Anders sind nach der Kommission und dem EuGH jedoch einseitige Maßnahmen zu beurteilen, die im Rahmen bereits bestehender Geschäftsbeziehungen getroffen werden. Namentlich handelt es sich hierbei um den Problemkreis der Behandlung der durch den Hersteller veranlassten Mitteilungen, Rundschreiben und sonstige auf den ersten Blick einseitige Anliegen. Für die Beurteilung derartiger Maßnahmen als Vereinbarung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG lässt sich folgende Entwicklung in der Praxis aufweisen: Die Entscheidungen der Europäischen Kommission offenbaren eine stark ergebnisorientierte Vorgehensweise. In nahezu allen Fällen ging es darum, den Versuchen der Hersteller Einhalt zu gebieten, gegenüber ihren Händlern Ausfuhrverbote durchzusetzen. Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die Kommission augenscheinlich darum bemüht war, den Vereinbarungstatbestand in irgendeiner Form zu konstruieren. Mal wurde mehr in einer Art Gesamtschau, ohne auf ein konkretes Tatbestandsmerkmal Bezug zu nehmen, auf den engen Zusammenhang einer Maßnahme mit einer bestehenden Vertriebsvereinbarung hingewiesen; kaum Beachtung fand dabei die möglicherweise fehlende, für Art. 81 Abs. 1 EG aber unabdingbare Willensübereinstimmung.345 In einem anderen Fall wurde die Hauptbegründungsarbeit dann doch im Hinblick auf das Vorliegen einer stillschweigenden Zustimmung des Abnehmers geleistet346. In einer weiteren Entscheidung wurde gar offen gelassen, ob eine Vereinbarung vorliegt, da zumindest eine abgestimmte Verhaltensweise anzunehmen sei.347 Eine Begründung zieht sich dabei formelmäßig durch alle Entscheidungen der Kommission: So stelle das Verhalten eines Unternehmens dann keine einseitige Maßnahme dar, wenn es sich in die vertraglichen Beziehungen einordne, die dieses Unternehmen zu seinen Händlern unterhalte.348 Exemplarisch für die Vorgehensweise der Kommission ist die Ford-Entscheidung zu nennen.349 345 Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (23 f., Tz. 57 ff., v. a. 59); Komm. v. 16.11.1983, Ford, ABl. L 327/31 (36 ff., Tz. 36 u. 42). 346 Komm. v. 13.07.1987, Sandoz, ABl. L 222/28 (32, Tz. 25 ff.). Vgl. hierzu auch die Ausführungen der Komm. im XX. Wettbewerbsbericht (1990), S. 130 (Tz. 155). 347 Komm. v. 10.07.1987, Tipp-Ex, ABl. L 222/1 (7, Tz. 50). 348 Komm. v. 10.07.1987, Tipp-Ex, ABl. L 222/1 (7, Tz. 49); Komm. v. 13.07.1987, Sandoz, ABl. L 222/28 (32, Tz. 25 f.); EuGH 17.09.1985, Ford/ Komm., Rs. 25 und 26/84, Slg. 1985, 2725 (2743); EuGH 25.10.1983, AEG/ Komm., Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151 (3195). 349 Komm. v. 16.11.1983, Ford, ABl. L 327/31.

§ 4 Bestandsaufnahme

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Ford Deutschland schickte an ihre Händler Rundschreiben mit dem Inhalt, dass sie in Zukunft keine Aufträge mehr für Kfz mit Rechtslenkung annehme und diese nur noch in Großbritannien verkauft werden würden. Eine mit diesem Anliegen in unmittelbarem Zusammenhang stehende Reaktion seitens der Händler erfolgte nicht. Da eine Maßnahme eines Unternehmens erst durch ein kooperatives Element kartellrechtlich Relevanz erlangt, ist dies auch und gerade für auf den ersten Blick einseitige Maßnahmen zu verlangen und dementsprechend zu erörtern. In der Sache „Ford“ argumentierte die Kommission primär mit der äußerst fragwürdigen Begründung, dass das Rundschreiben die vertraglichen Beziehungen zwischen Ford Deutschland und ihren Händlern ändere.350 Zumindest ging der EuGH noch auf eine möglicherweise stillschweigende Zustimmung der Händler ein.351 Aber ob diese nun wie vom Gerichtshof in der gewollten anfänglichen Eingliederung der Händler in das Vertriebssystem gesehen werden kann, ist äußerst fragwürdig. Es ist unbestritten, dass eine Vereinbarung auch stillschweigend zustande kommen kann352; dies ersetzt aber nicht die Voraussetzung, dass es einen dahingehenden Willen des Partners zu geben hat.353 An dieser Willensübereinstimmung muss in dem genannten Fall aber gezweifelt werden, da es dem Interesse des Händlers sehr wohl widersprechen kann, wenn ihm durch das einseitige Anliegen des Herstellers Absatzchancen genommen werden.354 So protestierten dann auch mehrere deutsche Ford-Händler gegen die Maßnahme, die Lieferung von Kfz mit Rechtslenkung an deutsche Händler einzustellen. Diesem möglicherweise entgegenstehenden Willen des Abnehmers entgegnen Kommission und EuGH in anderen Entscheidungen355 mit 350

A. a. O. Tz. 42. EuGH 17.09.1985, Ford/Komm., Rs. 25 und 26/84, Slg. 1985, 2725 (2743). 352 Komm. v. 11.12.1986, Belgische Vereinigung der Banken/Association Belge de Banques, ABl. 1987 L 7/27 (31, Tz. 36); EuGH 20.06.1978, Tepea/Komm., Rs. 28/77, Slg. 1978, 1391 (1414). 353 So hat der EuGH 08.02.1990, Tipp-Ex/Komm., Rs. C-279/87, I-261 (abgedr. in EuZW 1990, 93 ff. im Fall „Tipp-Ex“ zu Recht eine Vereinbarung angenommen, da hier der Händler dem Anliegen des Herstellers ausdrücklich zugestimmt hat. So hatte der Hersteller seinem französischen Alleinvertriebshändler per Rundschreiben mitgeteilt, dass die Lieferungen an Re-Exporteure nicht folgenlos bleiben würden. Zumindest dem EuGH lag in diesem Fall jedoch ein Fernschreiben des französischen Händlers vor, dass er dem Wunsch des Herstellers entsprechen werde. Insofern kann also von einem übereinstimmenden Willen ausgegangen werden; vgl. FK/ Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Rdnr. 96; Lübbig, in: WuW 1991, 561 (568). 354 Vgl. hierzu Lübbig, in: WuW 1991, 561 (567). 355 In der Sache „Ford“ wird der Protest in Tz. 25 zwar dargestellt, findet bei der wettbewerblichen Bewertung (Tz. 28 ff.) jedoch keine Berücksichtigung. 351

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

der Formulierung, dass es für die Annahme einer Vereinbarung nicht darauf ankomme, ob die Geschäftspolitik mit den Eigeninteressen der Händler übereinstimme oder nicht.356 Diesem kann man nur folgen, wenn man mit der Entscheidungspraxis der Kommission übereinstimmt, dass auch die unter wie auch immer geartetem Druck abgegebene Zustimmungserklärung zu einer Vereinbarung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG führt.357 Die Praxis zu einseitigen Maßnahmen verdeutlicht, dass vor allem die Kommission in ihrer Entscheidungspraxis an die Grenzen des Wortlauts des Art. 81 EG stößt.358 Zum Zwecke eines wünschenswerten Ergebnisses wird daher weniger genau gearbeitet, sondern vielmehr unter lapidarem Verweis auf andere Entscheidungen von einer Vereinbarung ausgegangen.359 Diese Praxis lässt zwar keinen Schluss auf einen konkreten Rückgriff auf eine bestimmte Wettbewerbstheorie zu, verdeutlicht aber eine Vorgehensweise, die einem bei der Auseinandersetzung mit den Entscheidungen von Kommission und EuGH des öfteren begegnet:360 den Willen der Organe, ein Tatbestandsmerkmal im Sinne der integrationspolitischen Ziele zu verstehen und dementsprechend auszulegen. Dabei ist äußerst zweifelhaft, ob in diesem Fall noch von einer Auslegung des Merkmals der Vereinbarung gesprochen werden kann, wenn die Grenze des sich aus dem Wortlaut ergebenden Möglichen überschritten ist. Den vorläufigen Höhepunkt dieser weiten Auslegung des Vereinbarungsbegriffs enthält die Adalat-Entscheidung der Kommission.361 In dieser ging es um das Arzneimittel „Adalat“ des Herstellerunternehmens Bayer. Aufgrund erheblicher Preisunterschiede in den einzelnen Mitgliedsstaaten führten Großhändler aus Spanien und Frankreich größere Mengen von „Adalat“ in das Vereinigte Königreich aus. Dies bewirkte erhebliche Umsatzeinbußen bei der britischen Tochtergesellschaft der Bayer 356 Komm. v. 10.07.1987, Tipp-Ex, ABl. L 222/1 (7, Tz. 49); Komm. v. 25.11.1980 – Johnson & Johnson, ABl. Nr. L 377/16 (23, Tz. 28). 357 Komm. v. 12.06.1982, Hasselblad, ABl. Nr. L 161/19 (26); Komm. v. 19.12.1984, Zellstoff, ABl. 1985 L 85/1 (23, Tz. 131). Vgl. hierzu mit guten Gründen, warum die Verhaltensautonomie für das Vorliegen einer Vereinbarung Voraussetzung sein sollte: FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Rdnr. 87. 358 Wie hier wohl auch Emmerich, S. 390; Charbonnier, in: DZWir 1996, 265 (268 f.); Lübbig, in: WuW 1991, 561 (566 ff.). 359 Komm. v. 10.07.1987 – Tipp-Ex, ABl 1987 L 222/1 (7, Tz. 49); EuGH 07.07.1994, Dunlop Slazenger/Komm., Rs. T-43/92, Slg. 1994, II-441 (468 f.). 360 Man könnte fast meinen, in dieser dogmatisch zweifelhaften Vorgehensweise liegt ein Faden, der sich durch die Praxis der zuständigen EG-Organe zieht. 361 Komm. v. 10.01.1996, Adalat, ABl. L 201/1.

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AG. Um die Parallelimporte zu unterbinden, änderte der Hersteller seine Lieferpolitik und erfüllte nicht mehr alle Bestellungen der spanischen und französischen Großhändler, sondern beschränkte den Lieferumfang auf die bis dahin üblichen Vorjahresmengen. Nichtsdestoweniger versuchten die betroffenen Händler über andere Quellen „Adalat“ zu beziehen, um es weiter exportieren zu können. Die EG-Kommission kam zu dem Ergebnis, dass in dem Verhalten von Bayer eine ständige Drohung mit der Reduzierung von Lieferungen für den Fall der Nichteinhaltung des Exportverbotes gelegen hätte. In dem Anpassen des Verhaltens der Großhändler an das Anliegen der Systemzentrale sah die Kommission deren stillschweigende Zustimmung und kam zu dem Ergebnis, dass eine Vereinbarung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG vorlag. Neu an dieser Entscheidung ist dabei vor allem, dass die Kommission eine Art Prüfungsschema für derartige auf den ersten Blick einseitige Maßnahmen entwickelte.362 Danach ist zunächst das Vorliegen einer Maßnahme (hier: Exportverbot) festzustellen, im nächsten Schritt muss diese als Teil der fortlaufenden Geschäftsbeziehungen zwischen Hersteller und Abnehmer zu qualifizieren sein. Innerhalb dieses Punktes wird sodann auf die Kenntnis des Käufers abgestellt, um den Nachweis führen zu können, dass er entweder ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat. Für Letzteres muss er seine eigene Geschäftstätigkeit nicht dem vom Hersteller gewünschten Verhalten offensichtlich anpassen363, sondern die bloße Nichtbeanstandung der Maßnahme wird als konkludente Zustimmung für ausreichend erachtet.364 Diese Entscheidung reiht sich nahtlos in die ergebnisorientierte Vorgehensweise der Kommission ein. Dieser Praxis wurde aber nun deutlichst durch das Gericht erster Instanz Einhalt geboten. In einem sich vortrefflich mit dem Problemkreis der einseitigen Maßnahmen auseinandersetzenden Urteil wurde die Adalat-Entscheidung der Europäischen Kommission aufgehoben.365 Dabei stellt das Gericht erster Instanz unmissverständlich heraus, dass der Vereinbarungstatbestand stets die Willensübereinstimmung der Parteien 362

In der Sache VW/Audi prüft die Kommission daher auch die von den Unternehmen getroffenen Maßnahmen nach diesem Schema, vgl. Komm. v. 28.01.1998, ABl. Nr. L 124/60 (124/76 ff.; v. a. Tz. 121 und 128). 363 So glaubte die Komm. v. 10.01.1996, Adalat, ABl. L 201/1 (50 f., Tz. 181 ff.) zumindest, dass die Großhändler ihr Verhalten an das von dem Bayer-Konzern Gewünschte anpassten. 364 Im Fall „Sandoz“ reichte hingegen das grundsätzlich hinnehmende Verhalten der Abnehmer aus (vgl. XX. Wettbewerbsbericht (1990), S. 130 (Tz. 155). 365 EuGeI 26.10.2000, Bayer/Komm., Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3378 ff.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

voraussetzt, sich in Zukunft in einer bestimmten Art und Weise auf dem Markt zu verhalten.366 Im Rahmen von einseitigen Maßnahmen ist streng danach zu unterscheiden, ob sie nur scheinbar einseitig sind oder aber wirklich, d.h. ohne stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung des anderen, von nur einem Vertragspartner ausgehen. Letztere fallen nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 81 EG, sondern können nur dann als unzulässig erklärt werden, wenn sie gemäß Art. 82 EG als missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren sind. Entscheidend ist also, ob eine einseitige Maßnahme des Herstellers die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung der Händler gefunden hat. An beiden Elementen fehlte es in der Sache „Adalat“. Zum einen konnte die Kommission nicht nachweisen, dass Bayer überhaupt ein Ausfuhrverbot gegenüber den Großhändlern ausgesprochen hat. Zum anderen konnte sie rechtlich nicht hinreichend begründen, dass die Grossisten ihr Verhalten an das Anliegen der Systemzentrale angepasst haben. Im Gegenteil zeigte deren tatsächliches Verhalten, nämlich der Versuch, über andere Wege an die Produkte zu gelangen, dass sie sich mit der neuen Lieferpolitik von Bayer nicht einverstanden erklärten. Ebenso wenig ist das Gericht erster Instanz der These der Kommission gefolgt, dass allein in der Beibehaltung der Geschäftsbeziehungen eine konkludente Einigung gesehen werden kann.367 Die Kommission gehe insofern zu weit, als dass die Willensübereinstimmung gerade in Bezug auf ein konkretes Verhalten vorliegen müsste. Die allgemeine Fortsetzung des bestehenden Vertragsverhältnisses reiche hierfür nicht aus. Schließlich geht das Gericht noch auf die bereits oben festgestellte, weite Ausdehnung des Vereinbarungsbegriffs durch die Kommission ein und lehnt diese Vorgehensweise ausdrücklich ab. So könne es nicht angehen, dass unter allen Umständen versucht werde, Parallelimporte zu schützen. Die Kommission dürfe daher nicht zwecks Erlangung eines wünschenswerten Ergebnisses, wie die Harmonisierung der Preise auf dem Arzneimittelmarkt, eine unzulässige Erweiterung der Verbotsnorm des Art. 81 EG vornehmen. Dies würde zudem zu einem Widerspruch mit der Vorschrift des Art. 82 EG führen, da selbst nach dieser einseitige Maßnahmen nur dann verboten seien, wenn sie von marktstarken Unternehmen missbräuchlich angewandt werden würden. Diese Entscheidung des EuGeI kann als wegweisende Klärung für die Behandlung scheinbar einseitiger Maßnahmen angesehen werden. Es bleibt 366 EuGeI 26.10.2000, Bayer/Komm., Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3378 (3408 ff., Tz. 67 ff.). 367 A. a. O., Tz. 171 ff.

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zu hoffen, dass der EuGH dieses Lehrstück an dogmatisch einwandfreier Rechtsprechung bestätigt.368 2. Abgestimmte Verhaltensweise369 Das Tatbestandsmerkmal der abgestimmten Verhaltensweise ist als Auffangtatbestand konzipiert, um all solchen Maßnahmen Herr zu werden, die nicht die Vereinbarungs- und Beschlussvoraussetzungen erfüllen.370 Nach der Kommission und dem EuGH stellt die abgestimmte Verhaltensweise jede Form der Koordinierung zwischen Unternehmen dar, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrages im eigentlichen Sinne gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt.371 Insbesondere bei horizontalen Vereinbarungen gewinnt die abgestimmte Verhaltensweise zwischen miteinander im Wettbewerb stehender Unternehmen an Bedeutung.372 In Bezug auf Vertikalverhältnisse spielt sie nur eine untergeordnete Rolle und soll daher nur kurz umrissen werden. Über den vertraglichen Unterbau selektiver Vertriebssysteme hinaus373 kann sich der Hersteller im außervertraglichen Bereich bestimmter Maßnahmen bedienen, um die von ihm eingesetzten Absatzmittler auf seinen marketingpolitischen Kurs zu bringen. Als derartige Mittel der Fühlungnahme374 bieten sich vor allem die Empfehlung, die Druckanwendung und eben die abgestimmte Verhaltensweise an.375 Während die ersten beiden durch eine einseitige Beeinflussung durch den Hersteller gekennzeichnet werden376, enthält die abgestimmte Verhaltensweise, ebenso wie die Vereinbarung oder der Beschluss, ein kooperatives 368

Die Europäische Kommission hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung des EuGeI eingelegt, vgl. Pressemitteilung v. 10.01.2001. 369 Mangels praktischer Bedeutung der Beschlüsse im Rahmen selektiver Vertriebssysteme wird auf die einschlägige Literatur verwiesen: FK/Roth/Ackermann, Grundfragen Art. 81 Abs. 1, Rdnr. 102 ff; I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 90 ff.; Grabitz/Hilf/Stockenhuber, Art. 81, Rdnr. 102 ff. 370 G/T/E/Schröter, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 38. 371 Komm. v. 23.04.1986, Polypropylen, ABl. 1986 L 230/1 (27 f., Tz. 87); EuGH 14.07.1972, ICI/Komm., Rs. 48/69, Slg. 1972, 619 (658). 372 FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Art. 81 Abs. 1, Rdnr. 113. 373 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. 374 In der Reihenfolge der zunehmenden Intensität der Händlerbeeinflussung dargestellt. 375 Vgl. hierzu ausführlich: Meier I, S. 152 ff. 376 Mit Ausnahme der soeben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1. dargestellten Fälle der nur scheinbar einseitigen Maßnahmen.

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Element: Hersteller und Händler kommen in irgendeiner Form überein, ihr Verhalten am Markt für die Zukunft gleichförmig zu gestalten.377 Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass diese Art von vertragsfreier Kooperation für die Wirtschaftssubjekte vor allem in den Bereichen relevant wird, in denen eine schriftliche oder auch mündliche Vereinbarung wegen offensichtlichen Verstoßes gegen die europäischen Wettbewerbsregeln unzulässig ist.378 Gerade im Rahmen von Vertriebssystemen weist die Bewertung einer Beeinflussung zwischen den Unternehmen als abgestimmte Verhaltensweise große Probleme auf. Sinn und Zweck eines selektiven Vertriebssystems ist es, gerade durch den Abschluss einer Vielzahl von inhaltlich gleichlautenden Verträgen ein möglichst homogenes Auftreten am Markt zu bewirken. Es stellt sich also die Frage, wann ein Verhalten lediglich Ausdruck dieses vertikalen Kontraktmarketings ist und wann es durch zusätzliche Kooperation über dieses hinausgeht und damit in den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG gelangt. Allein der systematische Abschluss gleichartiger Vertriebsverträge, die das Marktverhalten der Wiederverkäufer vereinheitlichen, ist nicht ausreichend, da es an einem bewussten und gewollten Zusammenwirken der Händler fehlt.379 Eine im Vertikalverhältnis klassische Form der abgestimmten Verhaltensweise ist die Praxis zwischen Hersteller und Händler der systematischen Meldung und Nachprüfung von Paralleleinfuhren380 oder die Kennzeichnung der Waren zwecks Verhinderung von Parallelimporten.381 Stets setzt aber das abgestimmte Verhalten neben der Erwartung eines bestimmten Verhaltens ein Minimum an gegenseitiger Verständigung voraus.382 Wesentlich ist dabei, dass sich der eine Teil (der Hersteller oder aber auch der Händler) die Wünsche des Vertragspartners zueigen macht und dementsprechend sein Verhalten anders ausfällt, als es ohne diese Fühlungnahme geschehen würde.383 377 Dabei kann die Kooperation nicht nur zwischen Hersteller und Händlern erfolgen, sondern auch zwischen den einzelnen Händlern (z. B. Informationsaustausch). Eine Verhaltensabstimmung zwischen Händlern liegt aber nicht vor, wenn das homogene Verhalten ausschließlich die Konsequenz netzweiter Individualvereinbarungen ist, vgl. Meier II, S. 116 m. w. N. 378 Z. B. Preisbindungen aller Art, sämtliche Formen der territorialen Absprachen, die einen absoluten Gebietsschutz bewirken. 379 Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 30; G/T/E/Schröter, Art. 85, Rdnr. 57. 380 Komm. v. 21.12.1994, Tretorn u. a., ABl. L 378/45 (49, Tz. 58): Komm. v. 02.12.1981, Hasselblad, ABl. 1982 L 161/18 (26 f., 48 ff.). 381 Komm. v. 21.12.1994, Tretorn u. a., ABl. L 378/45 (50, Tz. 59). 382 Böni, S. 30; Meier II, S. 115. 383 G/T/E/Schröter, Art. 85, Rdnr. 59.

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III. Wettbewerbsbeschränkung Eine Vereinbarung, ein abgestimmtes Verhalten oder ein Beschluss ist nur dann verboten, wenn eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt werden. Das Vorliegen einer solchen Wettbewerbsbeschränkung ist die zentrale und zugleich schwierigste Frage bei der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 1 EG. Bei der Untersuchung dieses Tatbestandsmerkmals treten die Konflikte zwischen den unterschiedlichen wettbewerbstheoretischen Auffassungen am deutlichsten hervor. Zunächst wird daher ein Überblick über die dem Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung innewohnende Problematik gegeben, die wettbewerbstheoretische Rückschlüsse zulassen. Im Anschluss folgt die Analyse der Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission und des EuGH in Bezug auf die konkrete Vorgehensweise gegenüber selektiven Vertriebssystemen. 1. Verhinderung, Einschränkung, Verfälschung des Wettbewerbs Art. 81 Abs. 1 EG nennt die Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung als Möglichkeit, den Wettbewerb zu beeinträchtigen. Nach dem Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG stehen diese drei Tatbestandsalternativen gleichberechtigt nebeneinander, sodass im Schrifttum vielfach versucht wurde, die Handlungsmodi definitorisch zu erfassen. Dabei wird unter der Verhinderung der völlige Ausschluss des Wettbewerbs verstanden, während die Einschränkungsalternative die teilweise Beseitigung der wettbewerbsrelevanten Handlungsfreiheit der Parteien meint.384 Ob daneben der Wettbewerbsverfälschung eine eigenständige Bedeutung zugemessen werden kann385, dieser als Oberbegriff fungiert, der die Verhinderungs- und Einschränkungsalternative umfasst386 oder aber die Verfälschung keine selb384 Stockmann, in: Wiedemann § 7, Rdnr. 17; Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 55; Koos, S. 19 ff. 385 So Zeitler, in: WuW 1963, 477 (480); Mestmäcker, S. 222 f.; Schluep, in: FS Kummer, 487 (494); Koos, S. 25. Diese wollen unter der Verfälschungsalternative alle Maßnahmen von Unternehmen subsumieren, die, ohne direkt eine Einschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit zu bewirken, dennoch zu einer künstlichen Veränderung der Wettbewerbsbedingungen in der Union führen. Entscheidend ist bei dieser Ansicht, dass sich die Merkmale der Wettbewerbseinschränkung und -verhinderung auf die Fälle des unmittelbaren Eingriffs der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen bezieht; während die Verfälschungsalternative die mittelbare Beeinträchtigung der unbeteiligten Marktteilnehmer erfassen soll. 386 Stockmann, in: Wiedemann, § 7, Rdnr. 17; Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 55; Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1) Rdnr. 118.

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ständige Bedeutung hat387, ist von jeher umstritten, aber hier nicht näher zu erläutern. In der Rechtsprechungspraxis des EuGH findet eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Tatbestandsalternativen jedenfalls nicht statt. Es wird viel mehr allgemein von einer Wettbewerbsbeschränkung388 ausgegangen oder sogar EG-vertragsfremde Begriffe, wie etwa die Störung389 oder die Beeinträchtigung390 des Wettbewerbs, verwendet. Mangels exakter und dogmatisch einwandfreier Abgrenzungsmöglichkeiten der Tatbestandsalternativen wird im Folgenden der Begriff der Wettbewerbsbeschränkung als der die drei Möglichkeiten umfassende Oberbegriff verwendet. 2. Inhalt der Wettbewerbsbeschränkung Wichtiger als die formale begriffliche Klärung der Tatbestandsalternativen ist die Frage, wann konkret eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt. Der EG-Vertrag schweigt sich hierzu aus. Eine Bewertung einer Handlung als Wettbewerbsbeschränkung ist ohne vorherige Definition des Wettbewerbs als das Objekt der Beschränkung nicht möglich.391 Bereits die Darstellung der unterschiedlichen Wettbewerbskonzeptionen hat gezeigt, dass eine in der Praxis handhabbare und aus theoretischer Sicht unangreifbare Definition des Wettbewerbs nahezu ausgeschlossen ist. Wohl daher findet sich auch weder in den Entscheidungen der Kommission noch in den Urteilen des EuGH eine Aussage darüber, was abstrakt generell unter einer Wettbewerbsbeschränkung verstanden werden kann. Auch in diesem Bereich wird ein pragmatisches Vorgehen im Einzelfall bevorzugt und die Festlegung auf ein bestimmtes Wettbewerbskonzept vermieden.392 Mangels Definition müssen daher einzelne unternehmerische Verhaltenskoordinierungen herausgearbeitet und als Wettbewerbsbeschränkungen cha387

Koch, in: Grabitz/Hilf, Altband, Art. 85 Rdnr. 76. EuGeI 15.09.1998, European Night Services u. a./Komm, Rs. T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94, Slg. 1998, II-3141 (3201); EuGH 28.04.1998, Javico, Rs. C-306/96, Slg. 1998, I-1983 (2002). 389 EuGH 21.01.1999, Bagnasco u.a, Rs. C-215/96 und C 216/96, Slg. 1999, I-161 (175); EuGH 28.05.1998, New Holland Ford/Komm., Rs. C-8/95 P, Slg. 1998, I-3175 (3222); EuGH v. 28.02.1991 – Delimitis/Henninger Bräu-Slg. 1991, I-935 (984, Tz. 14); EuGH 18.02.1971, Sirena/Eda, Rs. 40/70, Slg. 1971, 69 (83); EuGH v. 10.07.1980, Lancôme/Etos, Rs. 99/79, Slg. 1980, 2511 (2536). 390 EuGH 26.11.1975, Papiers Peints/Komm., Rs. 73/74, Slg. 1975, 1491 (1512); EuGH 21.02.1973, Continental Can, Slg. 1973, 215 (247); EuGH 29.10.1980, van Landewyck/Komm., Rs. 209–215 und 218/78, Slg. 1980, 3125 (3251). 391 Kilian, Rdnr. 426; Emmerich, in: Dauses Hb. II, H. I, Rdnr. 78. 392 Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1) Rdnr. 114; I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 145; Stockmann, in: Wiedemann, § 7, Rdnr. 12. 388

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rakterisiert werden. Anhaltspunkte hierfür bilden zunächst die in Art. 81 Abs. 1 lit. a bis e EG genannten Regelbeispiele.393 Bei Einschlägigkeit eines dieser aufgezählten Exempel geht die Praxis vom Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung aus, ohne dies näher zu erläutern.394 Die darüber hinausgehende inhaltliche Erfassung der Wettbewerbsbeschränkung ist nur mittels Auslegung zu erreichen. Für eine solche hat der EuGH festgestellt, dass sie anhand der Ziele des EG-Vertrages vorzunehmen ist.395 Als das wichtigste der zu berücksichtigenden Ziele ist hierbei die integrationspolitische Komponente als Eckpfeiler der europäischen Wettbewerbspolitik zu nennen.396 In diesem Sinn wird die Aufgabe dieser Vorschrift vor allem in dem Schutz des vom Vertrag konstituierten, grundsätzlich wettbewerblich organisierten Binnenmarktes vor privaten Beschränkungen gesehen.397 Sobald eine Vereinbarung das Entstehen bzw. die Vertiefung des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen droht, wird mit aller Entschlossenheit gegen diese vorgegangen. Daher findet sich auch häufig in den Entscheidungen die Begründung, dass eine Maßnahme der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes zuwider laufe und damit nicht zulässig sei.398 Bei der Beurteilung einer Vereinbarung durch die zuständigen Organe stehen dabei offensichtlich deren Auswirkungen auf den Binnenmarkt im Vordergrund. a) Selbständigkeitspostulat Daneben kommt dem sog. „Selbständigkeitspostulat“ eine überragende Rolle für die Erfassung der Wettbewerbsbeschränkung zu. Danach dürfen Vereinbarungen nicht die selbstständige Entscheidungsfreiheit der Unternehmen, welche Politik sie auf dem Gemeinsamen Markt betreiben und welche Mittel er zur Durchsetzung dieser Politik verwenden will, beeinträchtigen.399 Der EuGH betont, dass die Selbständigkeit bezüglich des unterneh393

Diese ist dabei keinesfalls abschließend, sondern der Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG, dass insbesondere die lit. a bis e als Wettbewerbsbeschränkungen anzusehen sind, verdeutlicht, dass die Nichtaufzählung einer Vereinbarung in dem Katalog diese allein deswegen nicht zulässig macht. 394 Vgl. hierzu exemplarisch das Urteil des EuGeI 20.04.1999, Limburgse Vinyl Maatschappij/Komm., Rs. T-305/94; T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und 335/94, Slg. 1999, II-931 (1137 f.) betreffend der Festsetzung von Preisen und Verkaufsmengen. 395 EuGH 13.06.1966, Italienische Republik/Komm., Rs. 32/65, Slg. 66, 457 (483). 396 Vgl. oben unter 1. Teil, § 3, A. IV. 397 EuGH 21.2.1973, Continental Can, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 (243 ff.); I/M/ Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 4. 398 EuGH 28.04.1998, Javico, Rs. C-306/96, Slg. 1998, I-1983 (1984 f.).

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merischen Entscheidungsprozesses als ein Grundgedanke der Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrages anzusehen ist.400 Aus der Praxis der Kommission und des EuGH geht hervor, dass in der Regel die Einschränkung der unternehmerischen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit mittels einer der in Art. 81 Abs. 1 EG genannten Maßnahmen auch den Kern der Wettbewerbsbeschränkung ausmacht.401 Die Betonung des Selbständigkeitspostulats hat zur Folge, dass die Wettbewerbsbeschränkung mit der Einschränkung der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der am Markt beteiligten Unternehmen gleichgesetzt wird.402 Dies führt zu einer ernormen Ausweitung des Anwendungsbereichs des Art. 81 Abs. 1 EG. Unter dieser Prämisse fällt nahezu jede, über den normalen Austauschvertrag hinausgehende Vereinbarung unter den Verbotstatbestand. b) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse Das Abstellen auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der am Wirtschaftsleben Beteiligten kann vorwiegend als in der Tradition des Ordoliberalismus stehend gesehen werden. Hierfür spricht zunächst, dass nach ordoliberalem Verständnis dem Schutz der individuellen unternehmerischen Handlungsfreiheit entscheidende Bedeutung zukommt. Die Sicherung der Freiheit der Unternehmen ist gleichfalls der Kerngedanke des Konzeptes der Wettbewerbsfreiheit. Ein wesentlicher Unterschied zum Ordoliberalismus besteht aber insofern, als vornehmlich die Vertragsfreiheit der beteiligten Wirtschaftssubjekte geschützt werden soll. Die Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH hat jedoch zur Folge, dass gerade durch deren Interventionen die Vertragsfreiheit der Parteien erheblich eingeschränkt werden kann, sodass in diesem Punkt eine Übereinstimmung zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit nicht besteht. Im klaren Gegensatz hierzu wird von den Anhängern des Ordoliberalismus die Ansicht vertreten, dass bei wettbe399 EuGH 14.07.1981, Züchner/Bayerische Vereinsbank, Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 (2031); EuGH 16.12.1975, Suiker Unie u. a./Komm., Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73, Slg. 1975, 1663 (1965); Komm. v. 23.04.1986, Polypropylen, ABl. L 230/1 (28, Tz. 87). 400 EuGH 28.05.1998, Deere/Komm., Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 (3163); EuGH 16.12.1975, Suiker Unie u. a./Komm., Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73, Slg. 1975, 1663 (1965). 401 EuGH 21.02.1984, Hasselblad/Komm., Rs. 86/82, Slg. 1984, 883 (908); EuGH 24.10.1995, BMW/ALD, Rs. C-70/93, Slg. 1995, I-3439 (3469); EuGH 28.04.1998, Javico, Rs. C-306/96, Slg. 1998, I-1983 (2002). EuGH 28.04.1998, Javico, Rs. C-306/96, Slg. 1998, I-1983 (2002). 402 Kritisch hierzu: Charbonnier, in: DZWir 1996, 265 (269).

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werbsbeschränkenden Vereinbarungen insbesondere auch die Auswirkungen und die damit verbundenen Einschränkungen für die sich vertraglich Bindenden selbst berücksichtigt werden müssen.403 Nach Eucken darf „der Mensch seine eigene Freiheit nicht selbst aufheben“.404 Fraglich ist allerdings, ob das europäische Selbständigkeitspostulat in diesem ordoliberalen Sinn zu interpretieren ist. Zum einen könnte man meinen, dass gerade die Erhaltung der Entscheidungsautonomie der Beteiligten (vor sich) selbst den Schutzzweck des Art. 81 Abs. 1 EG ausmacht. Andererseits kann aber das Abstellen auf die Handlungsfreiheit auch so verstanden werden, dass es weniger um den Schutz der Beteiligten selbst geht, als vielmehr um die allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne der vier Marktgrundfreiheiten des EG-Vertrages und dem damit verbundenen effektiven freien Wettbewerb. Für Letzteres spricht, dass aus dem Blickwinkel der Vertragsschließenden – zumindest im Horizontalverhältnis – kein Schutzbedürfnis besteht, da sie die Bindung von sich aus bewusst und freiwillig eingegangen sind, um sich umsatzsteigernde Vorteile zu verschaffen. Aus Sicht der österreichischen Schule beinhaltet der Freiheitsbegriff bereits aus logischen Gründen gerade auch die individuelle Wahlmöglichkeit, sich bestimmter Teile der Freiheit zu entledigen.405 Der Entscheidungspraxis der zuständigen EG-Organe kann überwiegend entnommen werden, dass es bei dem Selbständigkeitspostulat weniger um den Schutz der Beteiligten vor sich selbst geht, als vielmehr um die Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs. So steht nach dem EuGH das Selbständigkeitspostulat streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die bezweckt oder bewirkt, dass Wettbewerbsbedingungen entstehen, die im Hinblick auf die Art der Waren oder erbrachten Dienstleistungen, die Bedeutung und Zahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Bedingungen entsprechen.406 Hiermit wird unterstrichen, dass es primär um die Erhaltung funktionsfähiger Wettbewerbsbedingungen geht.407 403

Eucken, S. 175 ff. Eucken, S. 178. 405 Väth, S. 253. 406 EuGH 28.05.1998, Deere/Komm., Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 (3163). 407 Im Ergebnis so auch: FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1 EG, Grundfragen, Rdnr. 159. Zum anderen verdeutlichen diese Aussagen erneut, dass die europäische Wettbewerbspolitik die Wettbewerbsfreiheit nicht um ihrer selbst willen schützt, sondern in ihrer wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit. Damit tut sich erneut ein Unterschied zu den wettbewerbstheoretischen Vorstellungen Hoppmanns auf, wonach die Wettbewerbsfreiheit als Wert an sich zu schützen ist. Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 2, E. 404

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Andererseits stimmt der durch das Selbständigkeitspostulat geschaffene weite Anwendungsbereich der Verbotsnorm mit ordoliberalen Vorstellungen überein, da eine durch den Staat zu schaffende konsequente Ordnung für die Sicherung der individuellen Freiheit als unerlässliche Voraussetzung angesehen wird.408 Im krassen Widerspruch zu diesem weiten Anwendungsbereich des Kartellverbots stehen die wettbewerbstheoretischen Ansätze der Chicago School of Antitrust Analysis. Basierend auf dem Vertrauen in die langfristige Wirksamkeit des Marktmechanismus werden staatliche Aktivitäten im Bereich der Wettbewerbspolitik weitgehend abgelehnt. Gleiches gilt für die Theorie der Wettbewerbsfreiheit; zumal diese Praxis den Gemeinschaftsorganen einen viel zu weiten Ermessensspielraum eröffnet. Letzteres erfreut wiederum die Anhänger industriepolitischer Konzeptionen, da über diesen auch außerwettbewerbliche Zielvorstellungen in die Entscheidungen einfließen können. Im Ergebnis lassen sich aus dem Selbständigkeitspostulat aufgrund dessen freiheitssichernder Funktion sowohl Parallelen zum Ordoliberalismus als auch zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit feststellen. Andererseits haben sich jedoch zu beiden Ansätzen erhebliche Unterschiede aufgetan, die insbesondere in dem übergeordneten Zweck des Selbständigkeitspostulats, der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, zu sehen sind. Eine eindeutige Zuordnung der wettbewerbstheoretischen Vorstellungen der Europäischen Kommission und des EuGH kann also nicht vorgenommen werden. 3. Schützenswerter Wettbewerb Die Qualifikation einer Maßnahme als Wettbewerbsbeschränkung setzt denknotwendig voraus, dass das Schutzobjekt klar umrissen ist. Dabei geht es hier nicht um die (unmögliche) Definition des Phänomens „Wettbewerb“, sondern vielmehr um die Frage, welche Form von Konkurrenz durch Art. 81 Abs. 1 EG überhaupt geschützt werden soll. Ganz in der Tradition der bisher dargestellten tatbestandlichen Voraussetzungen wird auch hier durch die EG-Organe von einem umfassenden Schutzbereich ausgegangen: Die Wettbewerbsfreiheit gilt für alle Wirtschaftsstufen und für alle Erscheinungsformen des Wettbewerbs.409 Dieser Grundsatz kann anhand der bisher ergangenen Entscheidungspraxis konkretisiert werden.

408

Vgl. bereits oben unter 1. Teil, § 2, D. EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (390). 409

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a) Umfassender Schutzbereich Das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG schützt den Wettbewerb auf allen Wirtschaftsebenen. Es ist unerheblich, ob die Beteiligten auf ein und derselben Wirtschaftsstufe oder aber auf der vor- und nachgelagerten Ebene tätig sind; horizontale und vertikale Beschränkungen werden von der Verbotsnorm erfasst.410 Ebenso gilt der Allstufenschutz im europäischen Wettbewerbsrecht, das heißt es wird der Wettbewerb auf allen Marktstufen geschützt, unabhängig davon, ob die beschränkenden Maßnahmen auf der Hersteller- oder aber auf der Händlerebene einsetzen. Bereits dieser weitgehende Allstufenschutz macht deutlich, dass ein konsequentes Einschreiten auch und gerade gegen Vertikalvereinbarungen durch die Gemeinschaftsorgane vorgesehen ist.411 Der Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG setzt weiterhin nicht voraus, dass die Beteiligten in einem aktuellen Wettbewerbsverhältnis zu einander stehen. Unerheblich ist daher auch, ob die betreffende Maßnahme auf dem Markt bereits vorhandene Konkurrenz oder erst möglichen Wettbewerb beeinträchtigt; auch der potentielle Wettbewerb412 wird geschützt.413 Potentieller Wettbewerb liegt vor, wenn die Unternehmen technisch, organisatorisch und finanziell unter Berücksichtigung der Marktverhältnisse eine auch betriebswirtschaftlich nicht ganz fernliegende Möglichkeit haben, jederzeit oder doch wenigstens alsbald zueinander in Wettbewerb zu treten.414 Maßgeblich für die Bestimmung des potentiellen Wettbewerbs können hier – bei einer wirtschaftlich realistischen Betrachtungsweise415 – beispielsweise die für einen Marktzutritt notwendige Finanzkraft416, eine hinreichende fach410 EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (387); EuGH 13.07.1966, Italienische Republik/Komm., Rs. 32/65, Slg. 1966, 457 (485). 411 Anders kann ein Schutz des Hersteller- und Händlerwettbewerbs nicht realisiert werden, vgl. Belke, S. 296. 412 Wie die Entscheidung in der Sache Komm. v. 21.12.1992, Fiat/Hitachi, ABl. 1993 L 20/10 (12, Tz. 20) zeigt, soll Art. 81 Abs. 1 EG auch den Fall schützen, dass ein Unternehmen im Fall des Marktaustritts nicht mehr auf dem Markt tätig ist. 413 EuGH 21.02.1973, Continental Can, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 (244); EuGeI v. 27.10.1994, Fiatagri und New Holland Ford/Komm., Rs. T-34/92, Slg. 1994, II-905 (950 f.). 414 Komm. v. 13.07.1990, Elopak/Metal Box-Odin, ABl. L 209/15 (18, Tz. 22); Stockmann, in: Wiedemann, § 7, Rdnr. 13. 415 EuGeI 15.09.1998, European Night Services u. a./Komm, Rs. T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94, Slg. 1998, II-3141 (3197 ff.). 416 Komm. v. 13.07.1990, Elopak/Metal Box-Odin, ABl. L 209/15 (19, Tz. 25); Komm. v. 17.12.1975, Chiquita, ABl. 1976 L 95/1 (13).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

liche Qualifikation und Erfahrung417 oder etwa der Zugang zu den Vorprodukten und Vertriebswegen sein.418 Gleichermaßen von Art. 81 Abs. 1 EG werden sowohl der Angebots- als auch der Nachfragewettbewerb geschützt.419 Besonderes Gewicht wird zudem auf die Freiheit des Restwettbewerbs auf bereits vermachteten Märkten gelegt; diese noch bestehende Konkurrenz darf nicht auch noch beseitigt werden.420 Zudem wird nach der Europäischen Kommission und dem EuGH der freie Einsatz sämtlicher Wettbewerbsparameter geschützt. Damit fallen alle Formen der Konkurrenz, wie etwa Preis-, Produkt-, Qualitäts-, Service- und Werbungswettbewerb, in den Schutzbereich des Art. 81 Abs. 1 EG. Dabei werden die unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten gleichwertig geschützt; es gibt keinen Vorrang des Preiswettbewerbs.421 In den Schutzbereich der Verbotsnorm fällt unstreitig nur der rechtmäßige Wettbewerb422; Art. 81 Abs. 1 EG kann nicht die Freiheit zu gesetzwidrigem Marktverhalten schützen wollen.423 Daher kann eine negative Abgrenzung des Schutzbereichs in der Form erfolgen, dass der rechtswidrige, insbesondere der unlautere Wettbewerb nicht vom Verbotstatbestand erfasst wird.424 b) Insbesondere: Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb Für selektive Vertriebssysteme, schlechthin für alle Vertikalvereinbarungen, sind Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb von besonderer Bedeutung. 417

Komm. v. 13.07.1990, Elopak/Metal Box-Odin, ABl. L 209/15 (19, Tz. 25). Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 54; FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1, Grundfragen, Rdnr. 173 ff. Diese auch ausführlich zu dem Problem der Bestimmung des potentiellen Wettbewerbs und m. w. N. 419 Komm. v. 05.12.1983, VW-MAN, ABl. L 376/11 (13, Tz. 19); Komm. v. 14.07.1975, Intergroup, ABl. L 212/23 (25). 420 Komm. v. 16.12.1982, Toltecs-Dorcet ABl. L 379/19 (26); Komm. v. 15.07.1982,-S.S.I., ABl. L 232/1 (24 f.). 421 Grundlegend hierzu EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905). Es gäbe keinen Vorrang des Preiswettbewerbs, schon weil auf zahlreichen Märkten Wettbewerbsformen, wie der Produkt- oder Werbungswettbewerb, angesichts der dortigen Rahmenbedingungen im Vordergrund stehen. Hierzu ausführlicher sogleich unter 1. Teil, § 4, B. III. 5. b). 422 I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 179 ff.; Bunte, in: Lange/Bunte, Art. 85, Rdnr. 42 f.; Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81, Rdnr. 136 ff.; Stockmann, in: Wiedemann, § 7, Rdnr. 15 f.; Heidmeier, S. 140 f. 423 Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81, Rdnr. 136. 424 EuGH 22.01.1981, Dansk Supermarked/Imerco, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181 (194 f.; EuGH 11.07.1989, Belasco u. a./Komm., Rs. 246/86, Slg. 1989, 2117 (2186); Komm. v. 13.12.1989, Bayo-n-ox, ABl. 1990 L 21/71 (76). 418

§ 4 Bestandsaufnahme

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Interbrand-Wettbewerb ist der Wettbewerb zwischen Erzeugnissen verschiedener Anbieter und wird daher auch als produktexterner Wettbewerb oder Markenwettbewerb bezeichnet.425 Der Intrabrand-Wettbewerb umfasst hingegen die Konkurrenz zwischen den Produkten ein- und desselben Herstellers, sodass insofern auch von produktinternem Wettbewerb gesprochen werden kann. Letzterer kann denknotwendig erst auf der Händlerstufe stattfinden, da dann das Produkt aus der alleinigen Verfügungsgewalt des Produzenten entlassen wird und damit eine Mehrheit von Absatzmittlern um dieses konkurrieren können.426 Der Interbrand-Wettbewerb setzt hingegen schon auf der Produzentenebene ein und umfasst zudem auch die nachfolgenden Marktstufen. Der Markenwettbewerb findet somit – im Gegensatz zur produktinternen Konkurrenz – unabhängig von einer Marktstufe statt. Vom Intrabrand-Wettbewerb ist der netzinterne Wettbewerb innerhalb eines Vertriebssystems zu unterscheiden. Dieser umfasst ausschließlich die Konkurrenz netzzugehöriger Absatzmittler. Der Intrabrand-Wettbewerb ist weitgehender, weil er auch und gerade die wettbewerblichen Aktivitäten der Systemaußenseiter umfasst.427 Weiterhin müssen diese beiden produktorientierten428 Wettbewerbsformen vom Intertype-Wettbewerb abgegrenzt werden. Dieser bezeichnet die Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Betriebsformen des Handels (also Fachhandel, Supermärkte, Verbrauchermärkte).429 Da das europäische Wettbewerbsrecht umfassend die Konkurrenz auf allen Marktstufen gewährleisten will, genießen sowohl Interbrand-, Intrabrand- als auch der Intertype-Wettbewerb den Schutz des Art. 81 EG. Ob425 Vgl. hierzu grundlegend zu Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb: Kirchhoff, S. 5 ff.; Duijm, S. 35 ff. 426 Vgl. auch Ulmer, in: ZHR 130 (1968), 164 (180); Kirchhoff, S. 8; Meier I, S. 260 f. Unberücksichtigt bleiben hier die Ausnahmefälle, in denen IntrabrandWettbewerb auch zwischen dem Hersteller und seinen Absatzmittlern stattfindet, wenn sich ersterer für den dualen Vertrieb seiner Produkte entschieden hat. Vgl. zum zweigleisigen Vertrieb oben unter Teil 1, § 1, A. II. 427 Kirchhoff, S. 9. 428 Die Einteilung zwischen produkt- und marktstufenorientierter Sichtweise findet sich erstmals bei Meier I, S. 257 ff. und wurde von Kirchhoff, S. 5 übernommen. Die stufenorientierte Sicht betrifft die Frage, ob die beteiligten Unternehmen auf derselben oder aber auf unterschiedlichen Marktstufen tätig sind (Horizontaloder Vertikalverhältnis). Die produktorientierte Sicht knüpft hingegen an die Herkunft des Erzeugnisses an: im Interbrand-Wettbewerb geht es um die Konkurrenz eines Produktes verschiedener Hersteller; im Intrabrand-Wettbewerb stammt dies von demselben Hersteller, tritt jedoch in Konkurrenz mit verschiedenen Absatzmittlern (Groß- und/oder Einzelhändlern). 429 Duijm, S. 36.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

wohl die Beschränkungen im Markenwettbewerb auffälliger in Erscheinung treten, haben sowohl die Europäische Kommission als auch der EuGH dem Intrabrand-Wettbewerb von Beginn an eine große Bedeutung beigemessen.430 Schon in der grundlegenden Entscheidung Grundig-Consten/Kommission aus dem Jahre 1966 haben sie sich für einen selbständigen Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs ausgesprochen.431 Dabei wurde herausgestellt, dass es für die Annahme einer Wettbewerbsbeschränkung ausreiche, wenn die Handlungsfreiheit eines Vertriebspartners im Intrabrand-Wettbewerb eingeschränkt werde, und zwar unabhängig von einer damit einhergehenden Intensivierung des Interbrand-Wettbewerbs.432 Ob sich dieser angestrebte, umfassende Schutz aller Wettbewerbsformen in der Praxis hat umsetzen lassen, wird sich anhand der Analyse der Entscheidungen zeigen. 4. Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung Schließlich erfordert der Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG, dass die Unternehmen durch die Vereinbarung die Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken. Mit diesem Erfordernis regelt der Vertrag die Beziehung, die zwischen der Maßnahme und der Wettbewerbsbeschränkung bestehen muss.433 Während in der Bundesrepublik vor der 1998 erfolgten 6. Novelle des GWB eine lebhafte Diskussion um die Zweck-, Gegenstands- und Folgetheorie geführt wurde434, hat der europäische Gesetzgeber durch die Formulierung des Art. 81 Abs. 1 EG eindeutig klargestellt, dass die Wettbewerbsbeschränkung nicht Gegenstand der Vereinbarung sein muss. Aufgrund der Trennung der Begriffe durch das oder wird deutlich, dass es sich dabei um zwei selbstständige Alternativen des Verbotstatbestandes handelt.435 In weniger schwierig gelagerten Fällen grenzen weder der 430

Vgl. hierzu ausführlich: Duijm, S. 109 ff.; Kirchhoff, S. 239 ff. EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (387 f.). 432 EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (390). Dies bedeutet aber nicht, dass eine Vereinbarung, die den Wettbewerb zwischen den Verteilern beschränkt, schon deswegen nicht unter das Verbot des Art. 85 Absatz 1 fiele, weil sie den Wettbewerb zwischen Herstellern möglicherweise verstärkt. 433 Emmerich, in: Dauses Hb. II, H. I, Rdnr. 84. 434 Im Zuge der Rechtsangleichung an die europäischen Wettbewerbsregeln ist der Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG nun auch in § 1 GWB verankert. 435 Siehe bereits EuGH 30.06.1966, LTM/MBU, Rs. 56/65, Slg. 1966, 281 (303). 431

§ 4 Bestandsaufnahme

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EuGH noch die Kommission eindeutig die beiden Möglichkeiten voneinander ab, sondern stellen lediglich fest, dass eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt und bewirkt wurde.436 Für alle anderen Vereinbarungen hat sich in der Praxis eine Prüfungsreihenfolge entwickelt, die insgesamt als einheitlich angesehen werden kann. So wird zunächst grundsätzlich die Maßnahme daraufhin untersucht, ob ihr ein wettbewerbsbeschränkender Zweck innewohnt. Die Ermittlung des Zweckes ist zum einen anhand der wirtschaftlichen Funktion und zum anderen anhand des Inhalts der fraglichen Absprache vorzunehmen.437 Die Alternative des Bezweckens enthält keine subjektive Komponente438 im Sinne einer bösen Absicht der Beteiligten, sondern ist objektiv zu verstehen, das heißt es muss sich eine wettbewerbsbeschränkende Tendenz aus der Vereinbarung insgesamt oder aus einem ihrer Teile ergeben.439 Besonders leicht fällt es der Kommission und dem EuGH, den wettbewerbswidrigen Zweck einer Absprache zu bejahen, wenn es sich um offensichtliche Verstöße gegen die europäischen Wettbewerbsregeln handelt. So wird bei der Festsetzung von Mindestpreisen440 oder anderen Formen der Preisbindung441 und bei einer Absprache, durch welche die Abnehmer eines Lieferanten mittels Ausfuhrklauseln an Reimporten gehindert werden sollen442, der wettbewerbsbeschränkende Zweck schon „ihrem Wesen nach“ angenommen.443 Grundsätzlich keine Rolle bei der Prüfung des Zweckes spielt, ob die Beteiligten mit der Absprache noch weitere Zwecke verfolgt haben, die als solche nicht wettbewerbswidrig erscheinen.444 Ist der wettbewerbsbeschränkende Zweck festgestellt, so müssen nach ständiger Rechtsprechung bei der Anwendung des Art. 81 Abs. 1 EG die 436 Komm. v. 11.06.1993, EBU/Eurovisions-System, ABl. L 179/23 (31, Tz. 47); Komm. v. 29.04.1994, Stichting Baksteen, ABl. L 131/15 (18, Tz. 15); Komm. v. 28.01.1998, VW, ABl. L 124/60 (83, Tz. 146). 437 Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 57; G/T/E/Schröter, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 111. 438 Komm. v. 13.12.1989, Bayo-n-ox, ABl. 1990 L 21/71 (76, Tz. 45); Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81, Rdnr. 141. 439 Komm. v. 15.05.1974, IFTRA, ABl. L 160/1 (12). Dabei sind auch deren Begleitumstände zu berücksichtigen. 440 EuGH 30.01.1985, BNIC/Clair, Rs. 123/85, Slg. 1985, 391 (423 f.). 441 EuGH 17.01.1984, VBVB und VBBB/Komm., Rs. 43 und 63/82, Slg. 1984, 19 (66). 442 EuGH 28.03.1984, Cram und Rheinzink/Komm., Rs. 29 und 30/83, Slg. 1984, 1679 (1704). 443 EuGH 30.01.1985, BNIC/Clair, Rs. 123/85, Slg. 1985, 391 (423 f.); EuGH 01.02.1978, Miller/Komm., Rs. 19/77, Slg. 1978, 131 (148). 444 EuGH 27.01.1987, Verband der Sachversicherer/Komm., Rs. 45/85, Slg. 1987, 405 (457).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

tatsächlichen Auswirkungen einer Vereinbarung nicht mehr berücksichtigt werden.445 In diesem Fall ist die Anwendung der Verbotsnorm davon unabhängig, ob die bezweckte Wettbewerbsbeschränkung jemals zur Durchführung gelangt ist oder nicht. Einer Analyse des Marktes bedarf es insoweit also nicht. Liegt das Verfolgen eines wettbewerbswidrigen Zwecks nicht vor, muss die Vereinbarung im Hinblick auf ihre tatsächlichen Auswirkungen untersucht werden. Dabei wird in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH deutlicher als zuvor die eigenständige Bedeutung dieses Merkmals hervorgehoben.446 Auch die Alternative des Bewirkens einer Wettbewerbsbeschränkung wird von der Europäischen Kommission und dem EuGH weit interpretiert, sodass nicht nur die Folgen für die Beteiligten selbst, sondern auch die Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte berücksichtigt werden.447 In diesem Sinne werden auch die potentiellen Wirkungen einer Absprache berücksichtigt.448 Grundsätzlich müssen dabei die Folgen ursächlich auf die Vereinbarung, den Beschluss oder die Verhaltensweise zurückzuführen sein. Der wesentliche Unterschied zu der Alternative des Bezweckens ist, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine Wettbewerbsbeschränkung bewirkt wurde, stets eine umfassende wirtschaftliche Analyse erforderlich ist. So geht auch aus den Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane hervor, dass nach der Verneinung eines wettbewerbswidrigen Zweckes die Prüfung der Wirkungen einen erheblichen Raum in der Begründung einnimmt.449 Dabei werden die Wirkungen einer Vereinbarung im Hinblick auf den Wettbewerb geprüft, der auf dem Markt geherrscht hätte, wenn die Vereinbarung nicht ge445 EuGH 08.07.1999, Komm./Anic Partecipazioni, Rs. C-49/92 P, Slg. 1999, I-4125 (4197); EuGH 17.07.1997, Ferriere Nord/Komm., Rs. C-21995 P, Slg. 1997, I-4411 (4435). 446 EuGH 28.04.1998, Javico, Rs. C-306/96, Slg. 1998, I-1983 (1985 u. 2004 f.). 447 EuGeI 27.10.1994, Fiatagri und New Holland Ford/Komm., Rs. T-34/92, Slg. 1994, II-905 (947). Diese Ansicht wird auch überwiegend in der Literatur vertreten: Schröter, in: G/T/E, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 115; Stockmann, in: Wiedemann, § 7, Rdnr. 23; Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 85, Rdnr. 59. Kritisch hierzu: Emmerich, in: Dauses Hb. II, H. I, Rdnr. 86b und Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1), Rdnr. 154 ff. 448 EuGH 28.05.1998, New Holland Ford/Komm., Rs. C-8/95 P, Slg. 1998, I-3175 (3222); Komm. v. 24.07.1974, Advocaat Zwarte Kip, ABl L 237/12 (14). Danach ist es ausreichend, wenn die Auswirkungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft eintreten werden. 449 EuGH v. 28.02.1991, Delimitis/Henninger Bräu, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935 (984 ff.); EuGeI 08.06.1995, Langnese–Iglo/Komm., Rs. T-7/93, Slg. 1995, II-1533 (1571 ff.).

§ 4 Bestandsaufnahme

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troffen worden wäre.450 Diese Untersuchung wird nach ständiger Rechtsprechung anhand eines Vergleiches der Wettbewerbssituation, die sich durch die Absprache ergeben hat bzw. ergeben wird, mit dem Wettbewerb, der ohne die fragliche Maßnahme bestehen würde, vorgenommen.451 Für diesen Vergleich sind insbesondere die Art und Menge der den Gegenstand der Vereinbarung bildenden Erzeugnisse zu berücksichtigen. Ferner ist zu prüfen, welche Stellung und Bedeutung die Parteien auf dem Markt dieser Erzeugnisse innehaben und ob die Vereinbarung für sich allein steht oder Bestandteil einer Gesamtheit von Vereinbarungen ist.452 Weiterhin sind sowohl die tatsächlichen als auch potentiellen Auswirkungen auf den Gemeinsamen Markt in Betracht zu ziehen.453 Die Gegenüberstellung von dem tatsächlich vorherrschenden mit dem wahrscheinlich bestehenden Wettbewerb macht deutlich, dass die Kommission und der EuGH eine Bestimmung der hypothetischen Marktverhältnisse grundsätzlich für möglich halten. Die Vertreter dynamischer Theorien könnten diesem nicht folgen, da eine hypothetische Betrachtung der Wettbewerbsverhältnisse aufgrund der Dynamik des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren nicht möglich ist und Marktergebnisse a priori weder bekannt noch vorhersehbar sind.454 Die Vorgehensweise der zuständigen EG-Organe tendiert in Richtung des von den „Workability“-Konzepten postulierten Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma. Durch die vom EuGH durchgeführte Aufzählung der zu berücksichtigenden Kriterien wird mittelbar eine Kausalität zwischen Marktverhalten, Marktstruktur und Marktergebnis angenommen. Als letzter Punkt ist bei der Marktanalyse zu beachten, dass die in Frage stehende Vereinbarung nicht isoliert, sondern vielmehr in ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet werden muss.455 Danach ist stets neben der einzelnen fraglichen Maßnahme auch die Existenz gleichartiger Verträge zwischen den Beteiligten und Dritten456 zu berücksichtigen. Nach dieser sog. 450 EuGH v. 28.05.1998, Deere/Komm., Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 (3113); EuGH 10.07.1980, Lancôme/Etos, Rs. 99/79, Slg. 1980, 2511 (2536). 451 EuGH 21.01.1999, Bagnasco u. a., Rs. C-215/96 und 216/96, Slg. 1999, I-161 (175); EuGH 28.05.1998, New Holland Ford/Komm., Rs. C-8/95 P, Slg. 1998, I-3175 (3222); EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3792). 452 EuGH 10.07.1980, Lancôme/Etos, Rs. 99/79, Slg. 1980, 2511 (2536). 453 EuGH 28.05.1998, New Holland Ford/Komm., Rs. C-8/95 P, Slg. 1998, I-3175 (3222). 454 Hoppmann, S. 20 und S. 27 f. 455 EuGH 12.12.1967, Brasserie de Haecht/Wilkin u. Jansen, Rs. 23/67, Slg. 1967, 544 (555 f.); EuGH v. 27.04.1994, Almelo, Rs. C-393/92, Slg. 1994, I-1477 (1519).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Bündeltheorie kann eine als solche wirkungslose Maßnahme, im Zusammenhang mit einem Netz gleichartiger Vereinbarungen, eine erhebliche wettbewerbsbeschränkende Wirkung aufweisen. Diese spielt gerade im Rahmen selektiver Vertriebssysteme eine besondere Rolle und wird daher gesondert zu untersuchen sein.457 Die Analyse der Vorgehens- und Auslegungsweise der Gemeinschaftsorgane hat sowohl hinsichtlich des Zwecks als auch hinsichtlich der Wirkung der in Frage stehenden Maßnahme ergeben, dass sie weit interpretiert werden und damit ein frühzeitiges Einschreiten ermöglichen. 5. Einordnung selektiver Vertriebssysteme als Wettbewerbsbeschränkung Im Anschluss an diese allgemeingültigen Aussagen in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung soll nunmehr untersucht werden, wie sich der selektive Vertrieb in dieses System einordnen lässt. Die Gemeinschaftsorgane folgen der bereits oben kurz angerissenen Differenzierung zwischen den einzelnen Erscheinungsformen selektiver Vertriebssysteme.458 Dabei kann allgemein nicht nur zwischen qualitativer und quantitativer Selektion unterschieden werden, sondern es gibt zwischen dieser Grobeinteilung weitere Arten des selektiven Vertriebs. Hierfür haben sich die Begriffe der offenen Vertriebssysteme, der einfachen und der qualifizierten Fachhandelsbindung und der quantitativen Selektion eingebürgert. Eine trennscharfe Abgrenzung dieser verschiedenen Erscheinungsformen ist freilich nicht immer durchführbar, sondern ist im Gegenteil oftmals schwierig. Dennoch wird aus pragmatischen Gründen diese Einteilung der Analyse des Merkmals der Wettbewerbsbeschränkung zugrundegelegt. a) Offene Vertriebssysteme Innerhalb offener Systeme werden zwar – im Gegensatz zur einseitigen Auswahl der Absatzmittler durch den Hersteller459 – zwischen den Parteien 456

Hierbei ist unklar, ob die Parallelverträge auf der einen Seite immer von demselben Unternehmen abgeschlossen sein müssen oder ob auch Verträge zu berücksichtigen sind, die von und zwischen Dritten geknüpft worden sind. Vgl. hierzu ausführlich: Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1), Rdnr. 161; G/T/E/Schröter, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 115. 457 Vgl. hierzu unter 1. Teil, § 4, B. 6. d). 458 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, C. III. 459 Im Schrifttum wird die einseitige Auswahl der Absatzmittler durch den Hersteller oftmals im Zusammenhang mit den offenen Systemen erwähnt (vgl. bei-

§ 4 Bestandsaufnahme

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Regelungen hinsichtlich des Absatzes der Vertragsprodukte vereinbart; eine direkte Beschränkung des Abnehmerkreises besteht jedoch weder für den Hersteller noch für den Händler. Sie behalten also ihre Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Wahl ihres Abnehmers. Es fehlt also in einem offenen System an Vertriebs- und Absatzbindungen. Gegenstand offener Systeme ist zumeist nur die Verpflichtung des Händlers, bestimmte qualitative Anforderungen, wie etwa die Durchführung von Kundendienst, zu erfüllen. Nach Meinung der Europäischen Kommission führt die Vereinbarung eines offenen Systems nicht zu einer Wettbewerbsbeschränkung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG, da weder der Hersteller noch die Händler beim Absatz der Vertragsware irgendwelchen Beschränkungen unterliegen.460 Hiermit sei gewährleistet, dass nicht nur den systemangehörigen Absatzmittlern, sondern schlechthin allen Wiederverkäufern der Zugang zu den Vertragserzeugnissen möglich bleibe.461 Die den Händlern auferlegten Absatzförderungspflichten sieht die Kommission im Rahmen offener Systeme ebenfalls als unbedenklich an, soweit diese den systemangehörigen Händler nicht am Bezug und/oder am Absatz von Konkurrenzwaren hindern und damit den Wettbewerbern den Marktzutritt versperren.462 Bereits bei offenen Systemen wird die dem selektiven Vertrieb innewohnende Ambivalenz hinsichtlich der Auswirkungen auf den Wettbewerb deutlich. Einerseits wird der Intrabrand-Wettbewerb zwischen den Händlern beschränkt, da diese die einzelnen Parameter nicht mehr ausschließlich nach ihrem Belieben einzusetzen in der Lage sind. Andererseits ist diese Ausschlusswirkung nahezu einem jedem gegenseitigen Vertrag immanent. Völlig zu Recht billigt die Kommission hier das legitime Interesse des Herstellers, seine Produkte unter Einhaltung eines gewissen qualitativen spielsweise: Langen/Bunte/v. Stoephasius, Art. 85 Rdnr. 407; Jakob-Siebert/Jorna, in: G/T/E, Art. 85 – Fallgruppen, Rdnr. 161). Mangels kooperativen Elements fehlt es schon an einer tatbestandlichen Vereinbarung/abgestimmten Verhaltensweise, so dass die einseitige Selektion in Form der legitimen Geschäftsverweigerung bereits oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1. und 2. erläutert wurde. Zum Teil lassen sich hier sprachliche Unsicherheiten im juristischen Schrifttum finden. So wird bei Jakob-Siebert/Jorna, in: G/T/E das offene System mit der Fachhandelsbindung gleichgesetzt, Art. 85 – Fallgruppen, Rdnr. 161. Diese Einteilung entspricht nicht der üblichen und richtigerweise verwandten Differenzierung, da ein offenes System mangels Vertriebs- und/oder Absatzbindung hinsichtlich der Intensität der Freiheitsbeschränkung ein Weniger ist. 460 So bereits Komm. v. 30.06.1970, Kodak, ABl. L 174/24 (26, Tz. 21); Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26 (27 f., Tz. 12). 461 Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26 (27 f., Tz. 12). 462 Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26 (27 f., Tz. 12 ff.).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Standards den Nachfragern anzubieten. Dabei geht die Kommission trotz dieser zu befürwortenden Unbedenklichkeit offener System zudem auch auf die Handlungsfreiheit der Händler ein und lässt dabei offen, ob die kartellrechtliche Beurteilung anders ausfallen würde, wenn diesen beispielsweise durch Mindestumsatzverpflichtung die Freiheit genommen werden würde, sich für Verkauf von Konkurrenzerzeugnissen einzusetzen.463 Falls der Händler darüber hinaus mittels Koppelungs- und/oder Bezugsbindungen in seiner wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit beschränkt wird, sind diese nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen; mit den Bewertungsgrundlagen für selektive Vertriebssysteme hat dies nichts zu tun.464 Nach der Entscheidungspraxis der Kommission sind offene Systeme demnach grundsätzlich unbedenklich. Gleiches gilt für die innerhalb des Systems auferlegten Absatzförderungspflichten, soweit sie nicht die Handlungsfreiheit der systemangehörigen Händler zu sehr einschränken und den Konkurrenten den Marktzutritt verschließen. b) Einfache Fachhandelsbindung Kennzeichnend für die einfache Fachhandelsbindung ist die zwischen den Parteien vereinbarte Beschränkung hinsichtlich der zukünftigen Abnehmerschar; sie enthalten also Warenlaufbindungen. Der Vertragspartner kann nicht frei gewählt werden, sondern es darf nur an Händler geliefert werden, die bestimmte qualitative Kriterien erfüllen. Dabei kann sowohl der Hersteller als auch der Händler gebunden werden (Absatz- bzw. Vertriebsbindung).465 Sowohl Hersteller als auch Händler beschränken sich in ihrer eigenen Handlungsfreiheit, in dem sie nicht mehr beliebig an jeden potentiellen Nachfrager die Vertragsware verkaufen dürfen. Bereits in der Entscheidung „Omega“ stellte die Kommission den Grundsatz auf, dass eine Selektion der Abnehmer nicht per se eine Wettbewerbsbeschränkung darstellt.466 Nicht die Auswahl der Absatzmittler nach bestimmten fachlichen Anforderungen, sondern allein die Nichtzulassung derjenigen Händler, welche die Kriterien erfüllen, rechtfertigen das Eingreifen des Art. 81 Abs. 1 EG. Hiermit schuf die Kommission den Ausgangspunkt 463

Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26 (28, Tz. 15). Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 36. 465 Hierfür hat sich folgende Terminologie gefunden: Ist jeweils nur der Hersteller oder der Händler gebunden, spricht man von einem herstellerseitigen bzw. händlerseitigen selektiven Vertriebssystem. Verpflichten sich beide Seiten zur Einhaltung der qualitativen Kriterien, spricht man von einem hersteller- und händlerseitigen Vertriebssystem. Vgl. etwa Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 40. 466 Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/22. 464

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für sämtliche Entscheidungen zu einfachen Fachhandelsbindungen in der Folgezeit. In dem Metro I-Urteil wurde dann unmissverständlich klargestellt, dass selektive Vertriebssysteme „neben anderen ein mit Art. 85 Abs. 1 EGV vereinbarer Bestandteil des Wettbewerbs sind“.467 Diese Entscheidungspraxis ist im juristischen Schrifttum nicht ohne Widerspruch geblieben. Dabei werden an dieser Stelle unterschiedliche Probleme diskutiert.468 Zum einen wird den Gemeinschaftsorganen vorgeworfen, dass selektive Vertriebssysteme grundsätzlich eine Wettbewerbsbeschränkung darstellen und somit stets Art. 81 Abs.1 EG erfüllt sein müsste.469 Der andere Fragenkreis dreht sich um die Begründung für die Ausklammerung dieser Vertriebsform aus dem Anwendungsbereich der Verbotsnorm. Das Fehlen eines „schützenswerten Wettbewerbs“, die „qualitative Spürbarkeit“ oder aber die Anwendung einer „Rule of Reason“ werden als Gründe für die fehlende Tatbestandsmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme ins Spiel gebracht. Erschwerend kommen die auch heute noch eklatanten Unterschiede bei der begrifflichen Erfassung dieser einzelnen „Rechtsinstitute“ hinzu. aa) Formale Wettbewerbsbeschränkung Aus streng formaler Sicht sind Bedenken an der Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane zu der einfachen Fachhandelsbindung durchaus berechtigt. Die Entscheidungspraxis gibt keinerlei Aufschlüsse, warum das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung nicht erfüllt ist, obwohl an sich eine Handlungsbeeinträchtigung im Sinne des Selbständigkeitspostulats vorliegt. Insbesondere Meier geht daher auch davon aus, dass jede Selektion – unabhängig von deren Inhalt – eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG darstellt.470 Sie hinterlasse stets ausgeschlossene Abnehmer und einen gedrosselten Intrabrand-Wettbewerb. Ebenso sieht Immenga in dem Ausschluss der (ungeeigneten) Händler stets eine Wettbewerbsbeschränkung, da diese in ihrer wettbewerblichen Handlungsfreiheit eingeschränkt werden.471 467

EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905). Im juristischen Schrifttum herrschen in diesem Bereich viele Ungereimtheiten. Allein schon über den Anknüpfungspunkt der Bewertung der Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane kann keine Einigkeit erzielt werden. Dabei fällt den wenigstens Autoren auf, dass hier überhaupt Unterschiede bestehen. Einzig Emmerich, in: I/M/, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 194 weist auf diese Problematik hin. 469 Meier II, S. 152 ff.; Immenga, in: Immenga/Markert u. a., 57 (62). 470 Meier II, S. 152 ff. Ähnlich auch Piriou, in: GRUR Int. 1980, 321 (328). 471 Immenga, in: Immenga/Markert u. a., 57 (62). 468

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Die Auswirkungen der einfachen Fachhandelsbindung hinsichtlich des Intrabrand-Wettbewerbs ist evident: Die Begrenzung der Zahl der Absatzmittler eines Erzeugnisses beschränkt den Wettbewerb zwischen den Produkten derselben Marke. Daher wohnt selektiven Vertriebssystemen, ebenso wie andere Formen der vertikalen Kooperation, die Tendenz zur Selbstregulierung einheitlicher Preise inne. Der gedämpfte markeninterne Wettbewerb hat zur Folge, dass der Anreiz der Händler, unter dem üblichen Preisniveau zu verkaufen, nachlässt. Durch die einheitlich an die Händler gestellten Anforderungen weisen alle Systemangehörige ähnliche Kostenstrukturen auf, sodass sich die Möglichkeiten zur Senkung der Handelsspannen verringert. Mit diesen eingeengten Handlungsmöglichkeiten verliert der Händler seine unternehmerische Dispositionsfreiheit, die durch die meist längerfristige Bindung an den Hersteller und die meist hohen Anfangsinvestitionen noch verstärkt wird. Aber auch die Außenwirkungen derartiger vertikaler Kooperationen sind nicht zu unterschätzen. So ist der ausgeschlossene Händler nicht in der Lage, die gebundenen Waren zu beziehen oder zu verkaufen. Er fällt als Intrabrand-Konkurrent aus. In Rechnung zu stellen ist dabei stets auch der Fortpflanzungseffekt derartiger Maßnahmen auf die nachfolgenden Marktstufen. Hinsichtlich des möglichen wettbewerbsbeschränkenden Charakters dieser Vertriebsform dürften insofern keine ernsthaften Zweifel bestehen. Die Subsumtion der einfachen Fachhandelsbindung unter das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung müsste zur Anwendung der Verbotsnorm führen. Dies sieht der Gerichtshof der Sache nach auch nicht anders, wenn er in dem AEG-Urteil feststellt, dass Vereinbarungen, die ein selektives Vertriebssystem begründen, zwangsläufig den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt beeinflussen.472 Dennoch findet Art. 81 Abs. 1 EG aus unterschiedlichen Gründen keine Anwendung. bb) „Lehre“ des nicht schützenswerten Wettbewerbs Es stellt sich daher die Frage, auf welchem methodischen Weg die Gemeinschaftsorgane zu einem Nichteingreifen des Art. 81 Abs.1 EG für selektive Vertriebssysteme gelangen. Grundsätzlich setzt das Vorliegen einer Einschränkung, Verhinderung oder Verfälschung von Wettbewerb voraus, dass überhaupt eine Konkurrenz 472 EuGH 25.10.1983, AEG/Komm., Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151 (3194). Vgl. auch Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 25 f.).

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beeinträchtigt wird, die vom Schutzbereich des Art. 81 Abs. 1 EG erfasst wird.473 Würde man zu dem Ergebnis kommen, dass selektive Vertriebssysteme überhaupt keinen schützenswerten Wettbewerb tangieren, könnte die Tatbestandsmäßigkeit unproblematisch verneint werden. Solche Erwägungen könnte man den unter anderem in der Junghans-Entscheidung angestellten Überlegungen der Kommission entnehmen. Dort stellte sie fest, dass das Vertriebssystem lediglich dazu führe, dass Händler ausgeschlossen werden, die ohnehin nicht in der Lage seien, die Produkte zur Zufriedenheit der Verbraucher zu verkaufen und die Serviceleistungen zu erbringen.474 Da der selektive Vertrieb somit nur die Wettbewerbsmöglichkeit für objektiv ungeeignete Händler abschneide, entfalle die Wettbewerbsbeschränkung. Folglich könne durch das Festlegen von Selektionskriterien auch kein schützenswerter Wettbewerb ausgeschlossen werden. Auch im juristischen Schrifttum schwingt diese „Lehre“ des nicht schützenswerten Wettbewerbs in den Begründungen mit. Hootz sieht es als dogmatisch widerspruchsfrei an, wenn man davon ausgeht, dass nur der (nicht mehr schützenswerte) Wettbewerb zwischen Händlern ausgeschlossen wird, die objektiv nicht geeignet sind, einen sachgerechten Vertrieb zu gewährleisten.475 Aufgrund der weiteren Voraussetzungen, die an die Zulässigkeit einer einfachen Fachhandelsbindung gestellt werden, sei der Rahmen des wettbewerbsbeschränkungsfreien Raumes derart eng gezogen, dass schützenswerter Wettbewerb nicht mehr ausgeschlossen werden könne. Heidmeier begründet die Ausklammerung des selektiven Vertriebs aus dem Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG gleichfalls unter dem Aspekt der Sachgerechtheit des Vertriebs.476 So würden wettbewerbspolitische Billigkeitserwägungen, wie vor allem die Berücksichtigung des Verbraucherinteresses, zu einer Eingrenzung des Schutzbereichs führen. Sodann begründet er, welche Argumente in die Abwägung, wann schützenswerter Wettbewerb vorliegt und wann nicht, von den Gemeinschaftsorganen miteinbezogen werden. Diese Vorgehensweise verdeutlicht das eigentliche Problem bei der Bewertung der Praxis durch die Gemeinschaftsorgane: Es werden verschiedene Anknüpfungspunkte miteinander vermischt. Die Untersuchung der tatbestandlichen Restriktion des Art. 81 Abs. 1 EG muss sich daher zunächst der Frage widmen, ob die (offensichtliche) Eingrenzung von Absatz 1 eine 473

Vgl. hierzu schon ausführlich oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 3. Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (14, Tz. 22). 475 Hootz, in: RIW 1983, 895 (897); so wohl auch Hermanns, in: WRP 1978, 172 (175). 476 Heidmeier, S. 140 ff., v. a. S. 142 f. 474

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Frage des schützenswerten Wettbewerbs oder die Konsequenz der Anwendung einer Rule of Reason ist oder aber ob sich die Ansichten möglicherweise in der Sache gar nicht so sehr widersprechen. Die Beantwortung hängt vom Inhalt und Anwendungsbereich einer Rule of Reason ab. cc) Rule of Reason Als Begründung für eine einschränkende Auslegung des Art. 81 Abs. 1 EG kommt die Anwendung der aus dem amerikanischen Antitrustrecht bekannten Rule of Reason durch die Gemeinschaftsorgane in Betracht. Es soll hier nicht erneut der gesamte Diskussionsstand zusammengetragen477, sondern nur die für die Bewertung selektiver Vertriebssysteme brauchbaren Argumente systematisiert und fruchtbar gemacht werden. Das Verwirrspiel um diesen schon nahezu schillernden Begriff der Rule of Reason ist immer noch groß. Problematisch ist dabei, dass er zumeist terminologisch missverstanden und inhaltlich unzutreffend ausgelegt wird. Bei der Rule of Reason geht es weniger darum, Einschränkungen des Tatbestandes aufgrund politischer Interessen478 (obwohl dies natürlich nie ausgeschlossen werden kann) zuzulassen, sondern allein wegen ihrer wettbewerblichen Auswirkungen. Auch der in deutscher Rechtstradition stehende Jurist muss kein industriepolitisches Einfallstor im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 EG befürchten, nur weil von einer Rule of Reason die Rede ist.479 Unter der Rule of Reason nach amerikanischem Vorbild ist allein die Abwägung der Auswirkungen einer Vereinbarung auf den Wettbewerb zu verstehen. Diese beinhaltet neben der Erfassung des Sachverhalts die Beurteilung des Marktes und der vorauszusehenden Auswirkungen der in Frage stehenden Maßnahme auf den Wettbewerb.480 Je nachdem, ob die positiven oder negativen wettbewerblichen Folgen überwiegen, wird die Maßnahme sodann als zulässig oder unzulässig erklärt. Die Rule of Reason ist stets im Zusammenhang mit den per-se-rules zu sehen. Letztere sehen bestimmte Absprachen ohne einen Abwägungsvorgang durch die Gerichte als grundsätzlich „unreasonable“ und damit als unzulässig an.481 477 Es wird auf die ausführliche Bearbeitung dieser Thematik in der Literatur verwiesen, vgl. v. a.: Ackermann; Ulmer, in: RIW 1985, 517 ff.; ders., in: XI. Internationales Kartellrechtsforum (1986), 37 ff.; Fritzsche, in: ZHR 160 (1996), 31 ff.; Gayk, S. 24 ff.; Schmidt, in: WiSt 1981, 282 ff.; Emmerich, S. 397 ff. 478 Wie beispielsweise industrie-, arbeitsmarkt- oder umweltpolitische Aspekte. 479 Axster meint sogar, eine überraschende Ähnlichkeit sowohl in methodischer Hinsicht als auch vom Ergebnis zu der Entscheidungspraxis deutscher Gerichte zu § 1 GWB feststellen zu können, vgl. Axster, in: FS Lieberknecht, 225 (231 f.). 480 Axster, in: FS Lieberknecht, 225 (231). 481 Schmidt, in: WiSt 1981, 282 (283).

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(1) Abwägung zwischen positiven und negativen Auswirkungen? Im juristischen Schrifttum wird seit dem Metro I-Urteil des EuGH versucht, die Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane im Sinne der Rule of Reason zu interpretieren.482 Konkret geht es dabei um die Frage, ob der Praxis von Kommission und/oder EuGH nachzuweisen ist, dass sie eine Abwägung des Interbrand- mit dem Intrabrand-Wettbewerb vornehmen. Diese Problematik, ob bei dem einen (Intrabrand-Wettbewerb) zugunsten des anderen (Interbrand-Wettbewerb) Einschränkungen zugelassen werden können und sollten, stellt sich vornehmlich bei Vertikalverträgen. Dies liegt an der möglichen Wechselwirkung zwischen Interbrand- und IntrabrandWettbewerb. So kann beispielsweise der Hersteller durch seine selektive Absatzstrategie den markeninternen Preiswettbewerb beschränken und dabei gleichzeitig den Intrabrand-Nebenleistungswettbewerb erhöhen. Dies kann wiederum zur Folge haben, dass der Wettbewerb zwischen den Herstellern verschiedener Marken erhöht wird. Diese Sichtweise wird im Schrifttum auch unter dem Namen „qualitative Spürbarkeit“ erfasst.483 Gemeint ist damit aber nichts anderes als die Abwägung der Vor- und Nachteile einer an sich wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme. Die qualitative Spürbarkeit kann daher nur als eine weitere Umschreibung für eine Rule of Reason angesehen werden.484 In der Sache Grundig-Consten erteilte der EuGH einer Abwägung im Sinne der Rule of Reason im Rahmen der Prüfung von Art. 81 Abs. 1 EG allerdings eine deutliche Absage: Der Schutzbereich des Verbotstatbestands sei nicht erst dann tangiert, wenn bei einer Saldierung der aus einer Intrabrand-Beschränkung resultierenden positiven Wirkungen für den Interbrand-Wettbewerb mit den negativen Wirkungen für den Intrabrand-Wettbewerb sich herausstelle, dass die Nachteile für Letzteren überwögen. Dem in diesem Urteil zunächst anklingenden pauschalen Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs konnte in der Realität des Wirtschaftslebens jedoch nicht in allen Bereichen vertikaler Vereinbarungen umfassend Geltung verschafft werden. So wurden in der Metro I- Entscheidung die Aussagen aus dem Grundig-Consten-Urteil relativiert:485 In selektiven Vertriebssystemen läge der Schwerpunkt im Allgemeinen nicht auf dem Preiswett482 Ulmer, in: RIW 1985, 517 (522); Joerges, in: GRUR Int. 1984, 279 (287); Kirchhoff, S. 245; Weltrich, S. 157 ff. 483 Koch, in: Grabitz/Hilf, Altband, Art. 85, Rdnr. 101; Caspari, in: XI. Internationales Kartellrechtsforum (1986), 27 (33). 484 So auch Axster, in: FS Lieberknecht, 225 (234); Bechtold, in: RIW 1987, 809 (810). 485 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905 f.).

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bewerb.486 Dieser sei auch nicht die einzige wirksame Form des Wettbewerbs, die unter allen Umständen absoluten Vorrang erhalten müsste. Eine gewisse Starrheit der Preisstruktur rechtfertige sich insbesondere wegen des Vorhandenseins anderer Faktoren des Wettbewerbs zwischen Erzeugnissen derselben Marke sowie des Vorhandenseins eines wirksamen Wettbewerbs zwischen verschiedenen Marken. Im Anschluss an diese Entscheidung findet der EuGH in der Sache AEG/Kommission noch deutlichere Worte487: „Eine Beschränkung des Preiswettbewerbs ist freilich allen selektiven Vertriebssystemen eigen. (. . .) Diese Beschränkung wird durch den Wettbewerb hinsichtlich der Qualität der für die Kunden erbrachten Leistungen aufgewogen.“488 Zunächst kann diesen beiden Entscheidungen entnommen werden, dass die in der Sache „Grundig-Consten“ noch sehr betonte Prärogative des Preiswettbewerbs abgeschwächt wurde. Die erste Metro- und die AEGEntscheidung des EuGH läuteten damit die Stunde des Qualitätswettbewerbs ein.489 Allerdings wird im Schrifttum daraus voreilig die Möglichkeit, einer unmittelbaren Abwägung der negativen Aspekte für den Intrabrand-Wettbwerb mit den belebenden Wirkungen für den Interbrand-Wettbewerb vornehmen zu können.490 Zunächst beziehen sich die Aussagen des EuGH ausschließlich auf einen Vergleich zwischen dem Intrabrand-Preiswettbewerb und dem IntrabrandQualitätswettbewerb. Vom Interbrand-Wettbewerb ist hier unmittelbar nicht die Rede.491 Im Metro I-Urteil fällt ganz im Gegenteil auf, dass zur Rechtfertigung der Starrheit der Preisstruktur auf das notwendige Vorhandensein beider Aspekte des Wettbewerbs, also sowohl auf die produktinterne als auch auf die produktexterne Konkurrenz, eingegangen wird. Nichts anderes meint die Kommission in ihrem IX. Wettbewerbsbericht, wenn sie feststellt, dass die Wirkungen eines selektiven Vertriebssystems sowohl hinsichtlich des Interbrand- als auch hinsichtlich des Intrabrand-Wettbewerbs zu untersuchen sind.492 486

Wobei dieser jedoch niemals ganz beseitigt werden dürfe, vgl. a. a. O., S. 1906. EuGH 25.10.1983, AEG/Komm., Rs. 107/82 Slg. 1983, 3151 (3196 f.). 488 Vgl. die gleiche Argumentation des EuGH 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021 (3086). 489 So auch Möschel/Bach, in: GRUR Int. 1990, 505 (508); Joerges, in: GRUR Int. 1984, 279 (280 u. 286). 490 Und damit eine Rule of Reason im europäischen Recht eingeführt wurde, so Ulmer, in: RIW 1985, 517 (522); Bach, in: WuW 1995, 5 (7). 491 Im AEG-Urteil wird dieser noch nicht mal erwähnt. 487

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Auch in der Sache „Metro II“ setzte die Zulässigkeit des selektiven Vertriebssystems voraus, dass die Wettbewerbsbeschränkung des Parameters Preis zum einen durch andere Faktoren des Wettbewerbs zwischen Erzeugnissen derselben Marke und durch das Bestehen eines Wettbewerbs zwischen verschiedenen Marken aufgewogen wurde. Als Ausgangspunkt kann daher zunächst festgehalten werden, dass von der Entscheidung „Grundig-Consten“ über „Metro I“ und „AEG“ bis hin zu „Metro II“ unmittelbar nur der Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs in seinen verschiedenen Unterformen (hinsichtlich der unterschiedlichen Wettbewerbsparameter) relativiert wurde. Natürlich kann bei dieser Sichtweise der zwischen Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb bestehende Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden. Im Anschluss stellt sich daher die Frage, aus welchem Grund bei selektiven Vertriebssystemen gerade dem Intrabrand- Qualitätswettbewerb der Vorzug vor dem produktinternen Preiswettbewerb gegeben wird. Die Antwort könnte lauten: weil die Beschränkung des Intrabrand-Preiswettbewerbs eine Intensivierung der Interbrand-Konkurrenz zur Folge hat.493 Motiv sowohl des Herstellers als auch des Händlers für die Einschränkung des produktinternen Preiswettbewerbs ist, einen größeren Absatz des betreffenden Erzeugnisses auf einem bestimmten (hohen) Preisniveau zu erreichen. Daher ist die Intrabrand-Wettbewerbsbeschränkung stets auch als Mittel im Interbrand-Wettbewerb anzusehen: Der Hersteller will sich mit Hilfe seiner Händler von anderen Produzenten absetzen. Während in der Vergangenheit der Zusammenhang zwischen Intrabrandund Interbrand-Wettbewerb nicht eindeutig herausgestellt wurde, kann dem Leclerc II-Urteil des EuGeI etwas weniger Zurückhaltung in dieser Frage entnommen werden.494 In dieser wurde explizit (im Rahmen der Überprüfung des Art. 81 Abs. 1 EG) darauf hingewiesen, dass bei Luxuskosmetika der Wettbewerb im Interesse des Verbrauchers verbessert werde, indem der selektive Vertrieb insbesondere zur Wahrung des „Luxusimages“ der Produkte im Vergleich zu anderen vergleichbaren Produkten beitrage. Hiermit werden eindeutig die wettbewerbsfördernden Elemente für den InterbrandWettbewerb avanciert, um eine Intrabrand-Wettbewerbsbeschränkung zu rechtfertigen. Zudem seien aber auch die Auswirkungen auf den IntrabrandWettbewerb zu berücksichtigen. Zur Untersuchung dieser durch das Gericht kam es nur nicht, weil die Klägerin hierzu nicht vorgetragen hat.495 492

IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 19 f. (Tz. 5). Ähnlich auch FK/Roth/Ackermann, Art. 81 Abs. 1 EG, Grundfragen, Rdnr. 259; Ackermann, S. 176. 494 EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg 1996, II-1961 (2027). 495 A. a. O., S. 2031. 493

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(2) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse Die älteren Entscheidungen enthalten nicht, wie so oft behauptet, eine deutliche unmittelbare Abwägung zwischen Interband- und Intrabrand-Wettbewerb. Die neuere Entwicklung in der Entscheidungspraxis lässt hingegen klarer als zuvor erkennen, dass die Gemeinschaftsorgane bereit sind, die negative Auswirkungen einer Vertikalvereinbarung auf den Intrabrand-Wettbewerb wegen der zu berücksichtigenden positiven Aspekte für den Interbrand-Wettbewerb hinzunehmen. Aber auch bereits in der Anfangszeit missachten sie nicht vollends die sich gerade in diesen Jahren im Vordringen befindlichen Thesen der Chicago-School.496 Dabei kommt der EuGH unter Verwendung einer anderen Argumentationsschiene (Preis- und Qualitätswettbewerb des Intrabrand-Wettbewerbs) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass nicht alle Beschränkungen des Intrabrand-Wettbewerbs zu einer tatbestandlichen Wettbewerbsbeschränkung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG führen müssen. Es verbleibt aus wettbewerbstheoretischer Sicht zu untersuchen, ob hierin eine – wenn auch beschränkte – Übernahme der Ansicht der von der Chicago School postulierten Grundsätze zu sehen ist. Zunächst darf auch dieser Bereich der europäischen Wettbewerbspolitik nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Gesamtkontext der Vertragsziele untersucht werden. Das im Grundig-Consten-Urteil ausgesprochene, scheinbar bedingungslose Bekenntnis zum Intrabrand-Wettbewerb als selbstständiges Schutzobjekt des Art. 81 EG wird erst in Zusammenschau mit der Binnenmarktkomponente verständlich. Vor allem in der Anfangszeit der EG wurde als primäres Ziel die Integration der einzelstaatlichen Volkswirtschaften zu einem einheitlichen Gemeinsamen Markt anvisiert.497 Hierfür stellte sich der IntrabrandWettbewerb für die Gemeinschaftsorgane als besonders dienliches Mittel dar.498 So führte die Kommission in ihrem XIII. Wettbewerbsbericht aus, dass selektiven Vertriebssystemen die Tendenz innewohnt, die einzelnen Märkte (die in der Regel mit den Staatsgrenzen übereinstimmen) innerhalb 496 Man muss vor allem die enge zeitliche Nähe zwischen dem bahnbrechenden Urteil „Sylvania“ des U.S. Supreme Court sehen. 1977 änderte sich die amerikanische Sichtweise, beeinflusst durch die Lehre der Chicago School, dahingehend, dass Vertikalbeschränkungen wegen ihrer belebenden Wirkungen auf den InterbrandWettbewerb nicht per se unzulässig waren, sondern vielmehr einer Rule of Reason unterlagen, vgl. ausführlich zur Entwicklung in den USA: Kirchhoff, S. 55 ff. (v. a. S. 84 ff.). 497 Vgl. hierzu Everling, in: WuW 1990, 995 (1000). 498 Vgl. auch die äußerst aufschlussreichen Ausführungen der Kommission im Grünbuch, Tz. 20: „In der Befürchtung, dass vertikale Beschränkungen die Marktintegration bedrohen (. . .), hat die Kommission Art. 85 Abs. 1 EGV stets extensiv angewandt. Sie ist der Überzeugung, dass sowohl der markeninterne Wettbewerb als auch der Wettbewerb zwischen Marken von Bedeutung ist.“

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der Gemeinschaft zentral zu organisieren und damit abzuschotten.499 Dies erklärt, warum die Kommission über den Wettbewerb zwischen den Marken hinaus auch den Wettbewerb innerhalb einer Marke schützen muss. Erst die Freiheit des Intrabrand-Wettbewerbs ist in der Lage, Produktdifferenzierungen und Preisunterschiede in den verschiedenen Mitgliedsstaaten zu nivellieren, indem er den Handel zu größeren Anstrengungen motiviert. Außerdem wirkt er der einzelstaatlichen Marktabschottung entgegen, da durch die erweiterten Wahlmöglichkeiten der Verbraucher die Nachfrage überall im europäischen Markt befriedigt werden kann. Gleiches gilt für die Absatzmittler: Durch einen regen Intrabrand-Wettbewerb werden sie in die Lage versetzt, ihren Bedarf bei einem möglicherweise preisgünstigeren anderen Händler zu decken. Dem Intrabrand-Wettbewerb kommt also eine erhebliche integrationsfördernde Wirkung zu. Aus diesem Blickwinkel wird verständlich, warum die stets um den Gemeinsamen Markt bemühten Gemeinschaftsorgane dem Intrabrand-Wettbewerb ein derartiges Gewicht beimessen. In diesem Sinn kommt auch Kirchhoff zu dem Schluss, dass sich in Europa, im Vergleich zu der Kartellrechtspraxis in den USA und in der Bundesrepublik, die meisten Institutionen und Personen am engagiertesten für den Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs einsetzen.500 Andererseits können sich die Kommission und der EuGH nicht vor der Realität des Wirtschaftslebens verschließen und haben daher im Rahmen von selektiven Vertriebssystemen die Möglichkeit von Qualitätswettbewerb und Produktdifferenzierung insoweit anerkannt, als die Struktur des relevanten Marktes einen ausreichenden Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb aufweist. Hinzu kommt, dass selektiven Vertriebssystemen neben Gefahren für den Gemeinsamen Markt auch eine integrationsfördernde Komponente innewohnt. So stellen sie ein geeignetes Mittel dar, um innerhalb eines bestimmten Gebietes ein vollständiges Vertriebsnetz aufzubauen und erleichtern damit den Marktzutritt.501 Dieser großen Ambivalenz von selektiven Vertriebssystemen versuchen die Gemeinschaftsorgane, durch einen Mittelweg Rechnung zu tragen: Intrabrand-Wettbewerb ist zu schützen, wobei Abstriche hinsichtlich der einzelnen Parameter zugunsten anderer hinzunehmen sind. Aus allen Entscheidungen und Äußerungen geht aber auch hervor, dass produktinterne Konkurrenz nie ganz geopfert werden darf. Dabei geht es weniger um den Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs als solchen, sondern primär um das Integrationsziel, in dessen Dienst die produktinterne Konkurrenz genommen wird. Selbst wenn die Gemeinschaftsorgane den Thesen der Chicago 499 500 501

XIII. Wettbewerbsbericht (1983), S. 41 (Tz. 34). Kirchhoff, S. 324; ähnlich auch Bach, in: WuW 1995, 5 (6). XIII. Wettbewerbsbericht (1983), S. 41 (Tz. 34).

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School auch noch so gerne folgen würden und dem Interbrand-Wettbewerb eine gewichtigere Rolle einräumen wollten, steht ihnen im Zeitpunkt des noch nicht vollends verwirklichten europäischen Binnenmarktes das Bemühen um die Integration der Volkswirtschaften im Wege.502 Eine Übernahme der Ansätze der Chicago School im europäischen Recht kann daher hierin nicht gesehen werden. Der Intrabrand-Wettbewerb wird schon allein wegen seiner marktintegrierenden Wirkung geschützt. dd) Die „An-Sich-Wettbewerbsbeschränkung“ Noch unbeantwortet ist die Frage, worauf die Ausklammerung des selektiven Vertriebs aus dem Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG beruht: auf dem fehlenden schützenswerte Wettbewerb oder auf der Anwendung einer Rule of Reason. Beide Begründungsstrategien sind abzulehnen. Die „Lehre“ des nicht schützbedürftigen Wettbewerbs begegnet aus mehreren Gründen erheblichen Bedenken. Zum einen ist jeder Einzelhändler grundsätzlich in der Lage, jede beliebige Ware abzusetzen. In einem Discounter können Fernseher ebenso verkauft werden wie bei einem Fernsehgeräte-Fachhändler. Nur ist nicht jeder Hersteller bereit, seine Erzeugnisse überall anzubieten, sondern will diese im Zusammenhang mit bestimmten Dienstleistungen verkaufen, und zwar wegen der Qualität, der technischen Kompliziertheit oder dem Image, das er ihnen beilegen möchte. Dies ändert aber nichts daran, dass bei den meisten Erzeugnissen eine Intrabrand-Konkurrenz grundsätzlich möglich wäre, verfolgte der Hersteller nicht ein anderes Vertriebskonzept. Das Ausblenden dieser Wettbewerbsform führt im Ergebnis dazu, dass allein der Hersteller aufgrund seiner absatz- und marketingpolitischen Vorstellungen über den Schutzbereich des Art. 81 Abs. 1 EG bestimmen kann. In den Fällen, in denen eine Schutzbedürftigkeit nicht vorliegt, wie beispielsweise beim nicht rechtmäßigen Wettbewerb503, kann dieses aus guten Gründen abgelehnt werden. Hiermit den grundsätzlich durchaus möglichen, lediglich marketingpolitisch vom Hersteller unerwünschten Wettbewerb auf eine Stufe zu stellen, ist nicht begründbar und wettbewerbspolitisch verfehlt. Insofern ist der (fehlende) schützenswerte Wettbewerb als Anknüpfungspunkt für die einschränkende Auslegung des Merkmals „Wettbewerbsbeschränkung“ abzulehnen. 502

Im XIII. Wettbewerbsbericht (1983), S. 41 (Tz. 34) rechtfertigt die Kommission den Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs mit dem zu gewährleistenden freien Warenverkehr und der Wahlfreiheit der europäischen Verbraucher. 503 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 3. a).

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Schließlich ist zu bedenken, dass sich die verschiedenen Ansätze zur Erklärung der Tatbestandsrestriktion zwar hinsichtlich der Argumente im Detail unterscheiden, in der Sache aber zu demselben Ergebnis führen. Ob nicht schützenswerter Wettbewerb, Rule of Reason oder „qualitative Spürbarkeitsprüfung“: All dies sind Erklärungsansätze zur Beantwortung der Frage, wie es dogmatisch begründet werden kann, dass der EuGH und die Kommission bestimmte selektive Vertriebssysteme aus dem Anwendungsbereich von Art. 81 Abs. 1 EG ausgrenzen. Die Anerkennung der Legalität einer Intrabrand-Preiswettbewerbsbeschränkung zugunsten des Intrabrand-Qualitätswettbewerbs und die daraus resultierende tiefergehende Ursache der Stimulierung des Interbrand-Wettbewerbs haben zwar (noch) weniger etwas mit dem Schutzbereich der Norm zu tun. Es liegt aber auch keine völlige Übereinstimmung mit der amerikanischen Rechtspraxis vor. Insofern sollte, wenn überhaupt, nur von einer partiellen europäischen Rule of Reason gesprochen werden.504 Aber auch die Übernahme einer solchen Rechtsfigur in den Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG erscheint nicht sonderlich erstrebenswert. Aufgrund der oben dargestellten Auswirkungen selektiver Vertriebssysteme können kaum Bedenken an dem möglichen wettbewerbsbeschränkenden Charakter dieser Vertriebsform bestehen. Auch der EuGH und die Kommission wissen um diese „An-Sich-Wettbewerbsbeschränkung“, klammern diese Systeme aber aus rechtspolitischen Gründen aus dem Anwendungsbereich des Art. 81 EG aus. Dies hat mehrere (z. T. europäische) Ursachen. Zunächst stellt der selektive Vertrieb eine zweckmäßige und durchaus effiziente Form der Warenverteilung dar. Das Ergebnis ist also determiniert: Man muss dem Hersteller zugestehen, seine Erzeugnisse auch auf diese Art vertreiben zu lassen. Der Weg dahin gestaltet sich aber aufgrund der systematischen Ausgestaltung des Art. 81 EG als schwierig. Materiellrechtlich besteht das Problem, dass Art. 81 Abs. 1 EG gerade nicht zwischen Horizontal- und Vertikalvereinbarungen unterscheidet. Insoweit besteht eine Übereinstimmung mit Sec. 1 Sherman Act, der die amerikanischen Gerichte in eine ähnliche Bedrängnis wie die europäischen Behörden und Gerichte brachte. Das andere materiellrechtliche Problem – und hier ist der wesentliche Unterschied zum Antitrustrecht der USA zu sehen – besteht in der vorhandenen Ausnahmeregelung des Art. 81 Abs. 3 EG. Diese Normstruktur verhindert die uneingeschränkte Übernahme der Rule of Reason-Rechtsprechung.505 Gepaart mit dem Freistellungsmonopol der 504

Insofern ist der Versuch, die Vorgehensweise der Organe unter dem Begriff der „qualitativen Spürbarkeit“ zusammenzufassen, in der Sache schon eher zu begrüßen. 505 So vor allem Emmerich, in: Dauses, H I, Rdnr. 91; Gleiss/Hirsch, Art. 85, Rdnr. 101; Fikentscher, S. 600 f.; G/T/E/Schröter, Art. 85, Rdnr. 25. Anders hinge-

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Kommission entstand das Massenproblem, dessen sich die Kommission nicht zu entledigen vermochte. Hätte man zugestanden, dass einfache Fachhandelsbindungen an sich Wettbewerbsbeschränkungen darstellen, wäre die Kommission unter eine Flut von Anmeldungen erstickt. Bei der wettbewerbstheoretischen Beleuchtung der Spruchpraxis des EuGH darf ein zusätzlicher Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben, auf den der ehemalige Richter am Gerichtshof Everling hinweist:506 Der EuGH wird zum einen bei Nichtigkeitsklagen tätig, die ein Unternehmen als Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission einlegt, und zum anderen bei Vorabentscheidungen auf Vorlage nationaler Gerichte. Beiden Verfahren ist gemein, dass dem EuGH nur ein beschränkter Prüfungsumfang zusteht. Bei den Nichtigkeitsklagen wird die Entscheidung der Kommission lediglich daraufhin untersucht, ob sie die Grenzen des ihr zustehenden Ermessensspielraums eingehalten hat. Bei Vorlageentscheidungen wird der Gerichtshof ohne vorherige Entscheidung der Kommission tätig, sodass eine Freistellung aufgrund des in der VO Nr. 17 vorgesehenen Freistellungsmonopols nicht erfolgen kann. Aus diesem Grund meint Everling, dass der EuGH schon einmal dazu verleitet werden könne, die im Rahmen von Art. 81 Abs. 3 EG zu berücksichtigenden Aspekte bereits im Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG einzubeziehen. Andernfalls wäre er genötigt, dem Kartellverbot einen weitergehenden Inhalt zu geben, als es bei wirtschaftlicher Weise angebracht sei. Verfahrensrechtlich hat der EuGH sich in der Tat an derartige Vorgaben zu halten, sodass die ohnehin schon bestehende Vermischung von Verbot und Ausnahme weiter zu Lasten der Rechtssicherheit verstärkt wird. Eine Rechtfertigung für diese juristisch problematische Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane ist dies nicht. Man ist selektiven Vertriebssystemen gegenüber wegen ihrer den einheitlichen Markt fördernden Elemente positiv eingestellt, sodass allein schon wegen dieses Aspektes ein grundsätzliches Verbot dieser Vertriebsform aus pragmatischen Gründen nicht in Betracht kommt. Problematisch ist aber, dass diese Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane weder mit dem Primär-507 noch mit dem Sekundärrecht508 in Einklang gen Schmitz, in: WuW 2002, 6 (9). mit dem fragwürdigen Argument, dass es ja gar nicht zu einer Prüfung des Abs. 3 käme, weil schon tatbestandsmäßig keine Wettbewerbsbeschränkung vorläge. Das ist ja gerade die Folge, die von den Gegnern einer europäischen Rule of Reason beanstandet wird. 506 Everling, in: WuW 1990, 995 (998 f. und 1004). 507 So nun auch die Kommission vom 28.04.1999 in ihrem Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, Arbeitsprogramm Nr. 99/027, ABl. C 132/1, Tz. 57 (im Folgenden: Weißbuch).

§ 4 Bestandsaufnahme

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zu bringen ist. Die Abwägung ist im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG vorzunehmen. Die Aufspaltung der Prüfung einer Vereinbarung in Auswirkungen (und seien sie auch ausschließlich wettbewerblicher Natur), die nach Absatz 1 zu berücksichtigen sind, und in solche, die im Rahmen der Freistellungsentscheidung des Absatz 3 geprüft werden müssen, verwässert das bestehende Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG.509 Bisher hat vor allem die integrationsfördernde Wirkung zur Betonung der Schutzbedürftigkeit des Intrabrand-Wettbewerbs geführt. Die voranschreitende Intensivierung des Binnenmarktes könnte jedoch dazu ermutigen, auch andere Erwägungen für die Verneinung einer Wettbewerbsbeschränkung im Tatbestand des Abs. 1 den Ausschlag geben zu lassen. Zudem erscheint es wenig empfehlenswert, aufgrund der je nach Rechtstradition verbundenen Assoziationen und Erfahrungen mit einer Rule of Reason, diese auf Art. 81 Abs. 1 EG zu importieren. Die „An-Sich-Wettbewerbsbeschränkungen“ sollten vielmehr auf ein eigenes rechtliches und vor allem europäisches Fundament gestellt werden. Bedauernswerterweise haben die Gemeinschaftsorgane zur Klärung und Systematisierung dieser Frage in der Vergangenheit noch nicht viel beigetragen. Ob die gegenwärtigen Bestrebungen im Rahmen der Modernisierungsmaßnahmen dazu in der Lage sind, ist Gegenstand der Untersuchung im zweiten Teil der Arbeit. c) Qualifizierte Fachhandelsbindung Von der Beschränkungsintensität zwischen einfacher qualitativer Selektion und quantitativer Selektion liegt die qualifizierte Fachhandelsbindung. Kennzeichnend für eine solche ist, dass dem Händler neben der Vertriebsbindung weitere Pflichten, insbesondere solche betreffend die Absatzförderung, auferlegt werden.510 Derartige Auswahlkriterien gehen zwar über das für den sachgerechten Vertrieb des Produktes erforderliche Maß Eine derartig weitreichende Änderung, wie die Anwendung einer Vernunftregel im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG, ließe sich nur durch eine Vertragsrevision herbeiführen. 508 Eindringlich sei auf die bis zum Erlass der VO Nr. 1/2003 bestehenden, verfahrensrechtlichen Probleme hingewiesen. Beschränkt man den Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG mittels einer Rule of Reason, wird gegen das aus Art. 9 Abs. 1 VO Nr. 17 folgende Freistellungsmonopol der Kommission verstoßen, da eine Entscheidung nach Absatz 3 in diesen Fällen obsolet wird. Vgl. hierzu auch Ulmer, in: RIW 1985, 517 ff. 509 Wobei diese Tendenz auch der Entscheidungspraxis entspricht, vgl. Bechtold, in: RIW 1987, 809 (810): „Ob ein freigestellter Verstoß oder überhaupt kein Verstoß gegen Art. 85 Abs. 1 EWGV vorliegt, ist nicht mehr so wichtig.“ 510 Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 40; Langen/Bunte/v. Stoephasius, Art. 81, Rdnr. 4.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

hinaus; sie können jedoch noch nicht der quantitativen Selektion zugeordnet werden. Die Entscheidungspraxis zu derartigen Vertriebssystemen ist eindeutig: Eine Wettbewerbsbeschränkung und damit ein Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG liegt vor, sodass es für die Wirksamkeit derartiger Vereinbarungen allein auf die Freistellungsentscheidung der Kommission ankommt.511 Der wettbewerbsbeschränkende Charakter dieser Vereinbarungen wird zum einen mit dem Ausschlusseffekt der nicht zugelassenen Händler begründet. Sie werden, obwohl sie die qualitativen Zulassungserfordernisse erfüllen, nur vom Vertrieb der Produkte ferngehalten, weil sie nicht in der Lage oder bereit sind, die Vertriebsförderungsverpflichtungen zu übernehmen.512 Die mittelbare Begrenzung der Absatzstellen durch die Auferlegung von qualifizierten Fachhandelsbindungen ist evident. Zum anderen werden auch die anerkannten Händler in ihrem autonomen Wettbewerbsverhalten beschränkt, in dem sie stark an den Hersteller gebunden und zu besonderen Leistungen zu dessen Gunsten angehalten werden. Damit werden sie in ihrer Freiheit beschränkt, unter Ausnutzung des Wettbewerbs zwischen den Herstellern und in eigenverantwortlicher Festlegung ihrer Geschäftspolitik die Versorgung der Einzelhändler bzw. Verbraucher sicherzustellen.513 d) Quantitative Selektion Die Anwendung quantitativer Auswahlkriterien führt stets dazu, dass ein selektives Vertriebssystem nach Art. 81 Abs. 1 EG unzulässig ist.514 Eine quantitative Selektion liegt nach ständiger Entscheidungspraxis vor, wenn die Auswahl eine zahlenmäßige Begrenzung der Zahl der Verkaufsstellen, unabhängig von Angebot und Nachfrage, bezweckt oder bewirkt.515 Beruht dabei die eingeschränkte Anzahl von Vertriebsstellen nicht auf normalen Marktmechanismen, kann das vom Hersteller angewandte Zulassungskriterium als quantitatives angesehen werden. 511

IX. Wettbewerbsbericht (1979), S. 18 (Tz. 5); Grünbuch, S. 41. Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25 f., Tz. 29); EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1913 f.). 513 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (46); Kirchhoff, S. 252. 514 EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791); EuGH 03.07.1985, Binon/AMP, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034 (2044); Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (25 Tz. 65); Grünbuch, S. 42. 515 EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/92, Slg. 1992, II-415 (442); EuGH 03.07.1985, Binon/AMP, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034 (2044). 512

§ 4 Bestandsaufnahme

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Dabei fällt nicht nur die unmittelbare zahlenmäßige Begrenzung unter den Verbotstatbestand, sondern auch mittelbare Vorgehensweisen, die zu denselben Ergebnissen führen.516 Daher kommt es nach der Rechtsprechung auch weder darauf an, ob die Begrenzung der Zahl der Verkaufsstellen auf eine bereits bestehende Rechtslage oder auf eine willentliche Entscheidung des Herstellers zurückgeht, soweit diese nur Einfluss auf die festgestellte Begrenzung der Verkaufsstellen hat.517 In diesem Sinne sahen sowohl die Kommission als auch der EuGeI in der Sache „Vichy“ die Auswahl der Absatzstellen nach dem Kriterium der Niederlassung als Apotheker als quantitative Selektion an, da die Zahl der in Betracht kommenden Händler durch nationale Regelungen beschränkt wären.518 Dies läge zwar nicht im Machtbereich des Herstellers, dennoch mache er sich dieses uneingeschränkt zunutze, um die Anzahl der Verkaufsstellen zu vermindern. Im Unterschied zu qualitativen Kriterien liegt es bei der quantitativen Selektion in keiner Weise im Bereich des Händlers, die Zugangsvoraussetzungen zu erfüllen, da ausschließlich die Anzahl der Absatzstellen in einem bestimmten Gebiet den Maßstab zur Zulassung zum Vertriebssystem darstellt. Allein schon aus diesem Grund können keine Zweifel an dem wettbewerbsbeschränkenden Charakter der Anwendung quantitativer Selektionskriterien bestehen. Die Zahl der möglichen Absatzmittler wird deutlich reduziert. Dadurch werden sowohl die Händler ihrer Handlungsfreiheit als auch die Verbraucher hinsichtlich ihrer Einkaufsalternativen beraubt. Zudem wohnt quantitativen selektiven Vertriebssystemen deutlich die Tendenz zur künstlichen Verknappung des Warenangebots und damit die Aufrechterhaltung eines überdurchschnittlichen Preisniveaus inne. 6. Konkrete Bewertung des Vertragswerks selektiver Vertriebssysteme Im Anschluss an diese generelle Systematisierung der verschiedenen Formen selektiver Vertriebssysteme durch die Gemeinschaftsorgane soll nunmehr die Vorgehensweise hinsichtlich der einzelnen Vertragsklauseln untersucht werden. Nach ständiger Entscheidungspraxis setzt die Vereinbarkeit eines selektiven Vertriebssystems mit Art. 81 Abs. 1 EG voraus, dass die Auswahl der 516

Vgl. zur Begriffsbestimmung oben unter 1. Teil, § 2, C. IV. EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/92, Slg. 1992, II-415 (442). 518 Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (60); EuGeI v. 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/92, Slg. 1992, II-415 (442 f.). 517

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Wiederverkäufer aufgrund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals und seiner sachlichen Ausstattung beziehen. Diese Voraussetzungen müssen einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden.519 Dieser zumeist formelhaft wiederholte Grundsatz stellt drei Voraussetzungen für die Zulässigkeit selektiver Vertriebssysteme auf: die Selektion anhand qualitativer Kriterien, deren Verhältnismäßigkeit und deren diskriminierungsfreie Anwendung. Die erste der drei genannten Bedingungen enthielt durch das L’Oréal-Urteil des Gerichtshofs eine entscheidende Ergänzung.520 Danach ist, um die tatsächliche Art der qualitativen Kriterien für die Auswahl der Wiederverkäufer festzustellen, außerdem zu untersuchen, ob die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein selektives Vertriebssystem erfordern und ob diese Ziele nicht bereits durch eine nationale Regelung des Zugangs zum Beruf des Wiederverkäufers oder der Verkaufsbedingungen des betreffenden Erzeugnisses erreicht werden können.521 Aus dieser Feststellung, dass die Produkteigenschaft entscheidend für die Prüfung der tatsächlichen Art der qualitativen Kriterien ist, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine eigenständige Voraussetzung, die stets als erste von den drei oben genannten Voraussetzungen untersucht wird.522 Eine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung liegt also nicht vor, wenn die Eigenschaften des betreffenden Produktes ein selektives Vertriebssystem erfordern, die Auswahl der Wiederverkäufer aufgrund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt und letztlich diese Kriterien einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden.523

519

EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905). EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791). 521 Als Beispiel für diese letzte Voraussetzung dient das Urteil des EuGH v. 27.02.1992 – Vichy, Rs. T-19/91, Slg. 1992, II-415 (443 f.). Da die nationalen und gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zur Kontrolle der Unschädlichkeit von Kosmetika hinreichend den gesundheitlichen Aspekt beim Vertrieb von kosmetischen Produkten regeln, ging die Beschränkung des Verkaufs der Vichy-Produkte auf Apotheken zu weit und war damit unverhältnismäßig und als Wettbewerbsbeschränkung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG anzusehen. 522 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1853). Vgl. auch Grünbuch, Tz. 128 i). 523 Vgl. zu einer musterhaften Prüfung dieser Voraussetzungen die Entscheidung der Komm. v. 16.12.1991; Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (28 ff.). 520

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a) Grundsatz der Notwendigkeit Zunächst muss also untersucht werden, ob die Eigenschaft des Produktes gerade den Absatz durch ein selektives Vertriebssystems notwendig macht. aa) Produkteigenschaft Kommission und Gerichtshof sind sich einig, dass nicht jedes Erzeugnis zulässigerweise selektiv vertrieben werden kann. Als Objekt einer derartigen vom Hersteller verfolgten Absatzstrategie kommen daher grundsätzlich nur langlebige, hochwertige und technisch hoch entwickelte Produkte in Betracht, die besondere Beratungs- und Kundendienstleistungen durch die Händler nötig machen.524 Aus der bisher zu Art. 81 EG ergangenen Entscheidungspraxis rechtfertigen folgende Produkte den Aufbau selektiver Vertriebssysteme: Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik525, elektrische (Marken-)Haushaltsgeräte526, PCs527, Luxuskosmetikartikel528, hochwertiger Schmuck529 und Uhren530, Foto- und Filmerzeugnisse531, Dentalerzeugnisse532, Tafelgeschirr und andere Produkte aus Feinkeramik533, Kristallwaren534, Presseerzeugnisse535 und natürlich Kraftfahrzeuge536. 524 EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/91, Slg. 1992, II-415 (440 ff.); EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1897 f.); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (29, Tz. 5). 525 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875; EuGH v 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021; Komm. v. 21.12.1993 – Grundig, ABl. 1994 L 20/15; Mitteilung der Komm. v. 27.11.1993, Sony, ABl. C 321/11 und XXV. Wettbewerbsbericht (1995), S. 144. 526 Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26. 527 Komm. v. 18.04.1984, IBM, ABl. L 118/24. 528 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24; Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11; EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/91, Slg. 1992, II-415; EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851. 529 Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20. 530 Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/22; Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10; Mitteilung der Komm. v. 30.11.1994, Chanel, ABl. C 334/11 und XXV. Wettbewerbsbericht (1995), S. 145. 531 Komm. v. 30.06.1970, Kodak, ABl. L 147/24; Komm. v. 14.06.1973, Adox, ABl. L 194/27. 532 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1. 533 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy & Boch, ABl. L 376/15. 534 Vgl. das Vertriebssystem des französischen Unternehmens Baccarat, XXI. Wettbewerbsbericht (1991), S. 85 (Tz. 98).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Kennzeichnend für alle Produkte ist dabei entweder deren technische Beschaffenheit, die beispielsweise einen besonderen Kundendienst (im preoder post-sale-Bereich) erfordern, oder aber deren zumeist durch hohe Preise gekennzeichnetes Luxusimage.537 Den Äußerungen der Kommission ist zu entnehmen, dass sie die Produkte, deren Eigenschaft einen selektiven Vertrieb rechtfertigen, nicht für alle Zeiten und verallgemeinerungswürdig als zulässiges Objekt einer Fachhandelsbindung anerkennen will. So hat sie im Fall „IBM“ deutlich herausgestellt, dass die Zulässigkeit der Fachhandelsbindung für Personalcomputer darauf beruht, dass in der derzeitigen Marktsituation die hochtechnische Ware primär an unerfahrene Verbraucher verkauft werden würden. Diese verfügten im Zeitpunkt der Entscheidung im Jahre 1984 noch nicht über die Kenntnisse, die bereits in Schulen und Hochschulen gelehrt wurden.538 Zudem deutete die Kommission an, dass die Eigenschaften ein- und desselben Erzeugnisses den selektiven Vertrieb auf der Einzelhandelsstufe rechtfertigen könne, auf der Großhandelsstufe hingegen nicht.539 Oftmals voreilig wird im Schrifttum angenommen, dass der selektiv Vertrieb für folgende Produkte als nicht notwendig durch die Kommission erachtet wurde540: Sanitärarmaturen541, Tabakerzeugnisse542 und Möbel543. Eine derartig deutliche Absage kann den Entscheidungen aber nicht entnommen werden. Exemplarisch hierfür ist der Fall „Grohe“.544 So warf die Kommission lediglich die Frage auf, ob Sanitärarmaturen aufgrund ihrer Eigenschaften ein selektives Vertriebssystem erfordern.545 Beantwortet wurde 535 EuGH 16.06.1981, Salonia/Poidomani und Giglio, Rs. 126/80, Slg. 1981, 1574; EuGH 03.07.1985, Binon, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034. 536 Komm. v. 13.12.1974, BMW, ABl. 1975 L 29/1; Komm. v. 16.11.1983, Ford Werke, ABl. L 327/31. 537 So äußerte die Kommission in ihrem Grünbuch, S. 41 (Fn. 37), dass sie dem Vertrieb von Produkten der Spitzentechnologie, Presseerzeugnissen und Luxusartikeln bislang sehr wohlwollend hinsichtlich des Kriteriums der Notwendigkeit beurteilte. 538 Komm. v. 18.04.1984, IBM, ABl. L 118/24 (27, Tz. 15). 539 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (20 f., Tz. 15). Eine endgültige Entscheidung hierüber erfolgte jedoch nicht, da das Grohe-Vertriebssystem ohnehin gegen Art. 81 EG verstieß. 540 So Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 9. 541 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17; Komm. v. 10.12.1984, Ideal Standard ABl. 1985 L 20/38. 542 EuGH 29.10.1980, van Landewyck/Komm., Rs. 209 bis 215 und 218/78, Slg. 1980, 3125. 543 XV. Wettbewerbsbericht (1985), Interlübke, S. 72 f. (Tz. 61). 544 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17.

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diese allerdings nicht, da die Grohe-Vertriebsvereinbarung bereits eine schwerwiegende Absatzbeschränkung enthielt, die unter keinem Gesichtspunkt mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar bzw. freistellungsfähig nach Absatz 3 war. Die grundsätzliche Verneinung der Erforderlichkeit eines selektiven Vertriebs von Sanitärarmaturen ist hierin jedoch nicht zu sehen.546 Eindeutig abgelehnt wurde vom Gerichtshof die Notwendigkeit eines selektiven Vertriebssystems für preisgünstige, in Massen produzierte Uhren.547 Die Uhren der Marke „Swatch“ rechtfertigten, im Gegensatz zu den weiteren entschiedenen Uhrenfällen548, kein selektives Vertriebssystem, da sie keine hochwertigen und hochentwickelten Erzeugnisse darstellen, die einer besonderen Leistung durch den Fachhandel erfordern.549 Zum Teil wurde in der Literatur neueren Entscheidungen versucht zu entnehmen, dass sich die Kommission von der Produkteigenschaft als Beurteilungsmaßstab für die Notwendigkeit des selektiven Vertriebs lossagen würde.550 So würden die Parfum-Fälle551 zeigen, dass sich nur noch formal an das Kriterium der produktbedingten Erforderlichkeit gehalten werde, faktisch aber der Prestigewert von Produkten zum Kriterium für die Zulässigkeit eines selektiven Vertriebssystems gemacht werde. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in beiden Entscheidungen deutlicher als je zuvor auf den sich aus der „Aura prestigeträchtiger Exklusivität“ ergebenen „Luxuscharakter“ der Produkte abgestellt und mittels dieser die Erforderlichkeit des selektiven Vertriebssystems begründet wurde.552 Es ist aber fraglich, inwieweit die in den beiden Entscheidungen getroffenen Aussagen generalisiert und fruchtbar gemacht werden können für die Bewertung selektiver Vertriebssysteme im Allgemeinen. Die Kommission 545 Dies erschien der Kommission insbesondere in Bezug auf die Großhandelsebene fragwürdig, da diese in der Regel nicht an Endverbraucher verkaufen sollten, sondern an Einzelhändler. Vgl. hierzu auch Komm. v. 10.12.1984, Ideal Standard ABl. 1985 L 20/38 (41 f.). 546 Im Ergebnis so auch: Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1) 3. Kap. M, Rdnr. 1662; I/M/ Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 203. 547 EuGH 10.12.1985, ETA/DK Investment, Rs. 31/85, Slg. 1985, 3933 (3944). 548 Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/22; Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10. 549 So sei die Batterie von der Garantie ausgenommen und deren Auswechslung bereite keine besonderen technischen Schwierigkeiten, a. a. O., S. 3944 (Tz. 16). 550 So Bach, in: WuW 1995, 5 (8 f.). 551 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24; Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11. 552 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 Nr. L 12/24 (29); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (15 f.).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

weist selbst ausdrücklich darauf hin, dass die Entscheidungen „Yves Saint Laurent“ und „Givenchy“ Grundsatzcharakter für den Parfümeriesektor haben.553 Diese Erwähnung der sektorspezifischen Besonderheit ist nicht neu, sondern tauchte bereits in der Grundig-Entscheidung für Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik554 und in dem als zulässig erklärten Vertriebssystem für Presseerzeugnisse555 auf. Man könnte daher vielmehr meinen, dass sich – im Rahmen der allgemeinen Regeln für selektive Vertriebssysteme – für einzelne Produktbereiche eine eigene Entscheidungspraxis entwickelt hat. Je nach Sektor des konkreten Einzelfalls wird sodann eine bestimmte Begründungsarbeit durch die Gemeinschaftsorgane geleistet. Hierfür spricht der Vergleich zweier neuerer Entscheidungen. Zum einen handelt es sich im Fall Grundig556 um den Bereich der Unterhaltungselektronik, zum anderen mit den Leclerc-Urteilen des EuGeI um den Parfümeriesektor. Die zeitlich kurz nach den Parfum-Fällen erfolgte Verlängerung der Freistellung des Grundig-Vertriebssystems durch die Kommission verdeutlicht, dass die Produkteigenschaft sehr wohl noch der ausschlaggebende Faktor bei der Prüfung der Erforderlichkeit ist. So rechtfertigen die produktspezifischen Bedürfnisse des Vertriebs technisch anspruchsvoller Geräte der Unterhaltungselektronik die Fachhandelsbindung. Im Ausgangspunkt noch übereinstimmend, im Detail aber unterschiedlich zu der Argumentationsweise in der Grundig-Entscheidung, gestalten sich die Ausführungen im Bereich des Vertriebs von Luxusparfums.557 Die französische Einkaufzentrale Groupement d’achet Edeourd Leclerc (GALEC) beantragte nach Art. 173 II EG die Erklärung der Nichtigkeit der Kommissionsentscheidungen in Sachen „Yves Saint Laurent“558 und „Givenchy“559. Zunächst wird auch hier unmissverständlich herausgestellt, dass als erste Voraussetzung für die Vereinbarkeit eines selektiven Vertriebssystems mit Art. 81 Abs. 1 EG die Eigenschaft des fraglichen Produktes zu prüfen ist. Diese habe ein solches System unter technischen oder aber qualitativen Gesichtspunkten zu bedingen. Im Anschluss wird sodann erläutert, was das Gericht unter der produktbedingten Erforderlichkeit versteht. Hierunter fallen nicht ausschließlich die materiellen Eigenschaften einer Ware, sondern 553

XXII. Wettbewerbsbericht (1992), S. 116 (Tz. 198 f.). Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 223/1. 555 EuGH 03.07.1985, Binon/AMP, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034 (2043 f.). 556 Komm. v. 21.12.1993 – Grundig II, ABl. 1994 Nr. L 20/15 (19, Tz. 24). 557 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851; EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961. 558 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24. 559 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11. 554

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auch die besonderen Vorstellungen, die der Verbraucher mit ihnen verbindet, namentlich ihre „Aura von Luxus“.560 Aufgrund des eindeutigen Herausstellens der Produkteigenschaft als Zulässigkeitsvoraussetzung für ein selektives Vertriebssystem in den Urteilsgründen561 kann von einer Aufgabe dieses Kriteriums insofern keine Rede sein. Die produktbedingte Notwendigkeit stellt vielmehr die allgemeine Regel dar, innerhalb welcher dann die sektorspezifische Argumentationsweise der Gemeinschaftsorgane Platz findet. Je nach Warengruppe im Einzelfall werden unterschiedliche Erwägungen zur Rechtfertigung der selektiven Distribution herangezogen. Während in der Unterhaltungselektronik die technische Beschaffenheit der Erzeugnisse im Vordergrund steht, stellt im Parfümeriesektor der Luxuscharakter der Waren den ausschlaggebenden Faktor dar. Überdies spricht gegen einen Wandel der Entscheidungspraxis im Allgemeinen, dass bereits in früheren Entscheidungen562 ansatzweise auf die Bedeutung des Markenimages eingegangen wurde.563 Eine bemerkenswerte, aber nicht sonderlich gelungene Begründungsarbeit liefert die Kommission in ihrer Mitteilung nach Art. 19 Abs. 3 der VO Nr. 17 betreffend eines angemeldeten Vertriebssystems des französischen Unternehmens „Chanel“.564 Hier wird eine Vermischung der beiden oben genannten Kriterien vorgenommen: Zum einen wird darauf hingewiesen, dass die „zu verkaufenden Waren (Uhren) Luxusartikel aus dem Bereich der Technik“ seien und später wird argumentiert, dass die Aspekte „Luxus“ und „Marke“ bei der Wahl dieser Art von Uhren wesentlich seien. Aus dem Bereich der Technik im weitesten Sinne kommt wohl jede Uhr – sogar solche Uhren der Marke „Swatch“, die nach Ansicht des EuGH eben gerade nicht selektiv vertrieben werden kann.565 Erfreulicherweise hat sich dieser argumentative Fehlgriff der Kommission bisher noch nicht wiederholt. bb) Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse An dieser Praxis können die in der Tradition der Wettbewerbsfreiheit stehenden Theorien bemängeln, dass es letztlich nicht mehr in der Entscheidungsfreiheit des Herstellers liegt, wie er seine Produkte absetzen will. Al560 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1899); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2009). 561 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1853 und 1897 f.); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2007). 562 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy & Boch, ABl. L 376/15 (18, Tz. 25 und 27). 563 So auch Duijm, S. 113. 564 Mitteilung der Komm. v. 30.11.1994, Chanel, ABl. C 334/11. 565 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a) aa).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

lein die Kommission entscheidet mittels der Bestimmung des Produktcharakters über die Möglichkeit, ein selektives Vertriebssystem zulässigerweise zu errichten oder eben nicht.566 Die Wahlfreiheit des Herstellers wird dabei weniger berücksichtigt.567 Er selbst kann also nicht bzw. nur erschwert sein Produkt gerade erst durch die gewählte Vertriebsform als Luxusobjekt etablieren.568 Industriepolitische Konzepte dürften hingegen mit dieser Vorgehensweise keine Probleme haben, da über die Bestimmung der Produkteigenschaft durch die Gemeinschaftsorgane industriepolitische Erwägungen in die Entscheidungen einfließen können. Führt die Errichtung eines selektiven Vertriebssystems nicht zu wirtschaftlich und industriepolitisch wünschenswerten Ergebnissen, kann eine Unzulässigkeit leicht mittels der fehlenden Erforderlichkeit begründet werden. Gleiches gilt freilich für den umgekehrten Fall, dass die Etablierung eines selektiven Vertriebssystems beispielsweise einer Markterschließung zuträglich wäre. Für die Anhänger der Chicago School erübrigt sich eine derartige Diskussion über die Notwendigkeit selektiver Vertriebssysteme gänzlich. Aufgrund der von Vertikalvereinbarungen ausgehenden positiven Wirkungen für den Interbrand-Wettbewerb und damit insgesamt für die Konsumentenwohlfahrt muss der Aufbau eines selektiven Vertriebssystems überhaupt nicht gerechtfertigt werden. Die Produkteigenschaft wäre nach dieser Lehre als Beurteilungsmaßstab irrelevant, da der von den Konkurrenten ausgehende (potentielle) Wettbewerbsdruck ohnehin den wettbewerbsschädigenden Einsatz vertikaler Vertriebsverträge verhindere. Für die wettbewerbstheoretische Diskussion besonders fruchtbar erweisen sich die Ausführen in den Leclerc-Urteilen. Im Anschluss an die Präzisierung des aus dem L’Oréal Urteil gewonnenen Eigenschaftsbegriff stellt der EuGeI ausführlich die unterschiedlichen Interessenlagen dar. Dabei wird ausdrücklich das berechtigte Interesse des Herstellers an der Aufrechterhaltung des hohen Ansehens seiner Marke genannt und sich zu dessen vertriebspolitischer Handlungsfreiheit bekannt.569 Dies steht im Einklang mit den Vorstellungen der Wettbewerbstheorien, die den Freiheitsaspekt betonen. 566 Wobei ihr von Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 47 der überraschende Einsatz des Kriteriums der Produktnatur vorgeworfen wird. 567 Vgl. hierzu, ganz im Sinne der Theorie der Wettbewerbsfreiheit, Gleiss/ Hirsch, Art. 85 (1) 3. Kap. M, Rdnr. 1663. 568 Vgl. Duijm, S. 112. 569 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1899); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2009).

§ 4 Bestandsaufnahme

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Sodann wird ausführlich auf das Verbraucherinteresse an der „Aura prestigeträchtiger Exklusivität“ und einer dementsprechenden Präsentation durch den Fachhandel eingegangen.570 „Nach Auffassung des Gerichts bleibt daher ein selektives Vertriebssystem nur dann außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 85 Abs. 1 EG-Vertrag, wenn es auch unter Berücksichtigung des Verbraucherinteresses gerechtfertigt ist.“571

Es konnte der bisherigen Entscheidungspraxis noch nie so eindeutig wie in den Leclerc-Urteilen entnommen werden, dass den Interessenslagen des Herstellers und vor allem auch der Verbraucher eine derartige Bedeutung zugemessen wurde.572 Es gibt mehrere Möglichkeiten, die ökonomische Notwendigkeit eines selektiven Vertriebssystems zu bestimmen.573 Die Gemeinschaftsorgane haben sich grundsätzlich dafür entschieden, die Eigenschaften des jeweiligen Produktes als ausschlaggebenden Beurteilungsmaßstab ihren juristischen Entscheidungen zugrunde zu legen. In der Literatur wird von jeher vertreten, dass das Verbraucherinteresse der entscheidende Faktor für die Erforderlichkeitsprüfung eines selektiven Vertriebssystems zu sein habe.574 An dieser Vorgehensweise ist zu kritisieren, dass dadurch eine Vermischung mit der in Art. 81 Abs. 3 EG genannten Freistellungsvoraussetzung der „angemessenen Beteiligung der Verbraucher am dem entstehenden Gewinn“ erfolgen kann. Der EuGeI hat nunmehr versucht, diese beiden – bisher sich gegenseitig ausschließenden – dargestellten Lösungsansätze575 miteinander zu verknüpfen. Eingebunden wird das Verbraucherinteresse als zusätzlich zu berücksichtigender Aspekt bei der Beurteilung der Produkteigenschaft. Eine Neuerung in der Rechtsprechung ist darin zu sehen, dass unmissverständlich durch den EuGeI klargestellt wurde, dass sich die Eigenschaft eines Pro570 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1899 f.); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2010). 571 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1900); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2010). 572 Der EuGeI bestätigt damit die in der Yves Saint Laurent Parfums-Entscheidung kundgemachte Auffassung der Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (29). Danach muss der Hersteller in der Lage sein, eine Marke mit hohem Ansehen aufzubauen und damit im Geschäft zu bleiben. 573 Vgl. hierzu Immenga, in: Immenga/Markert u. a., 57 (64 ff.). 574 Fischötter, in: WuW 1981, 478 (485); Böni, S. 37 f. Wie die Entscheidung der Komm. v. 18.04.1984, IBM ABl. L 118/24 (27, Tz. 15) zeigt, verschließt sich auch die Kommission nicht grundsätzlich einer solchen Argumentation, da sie sehr wohl für die Erforderlichkeit auf die, zu dem Zeitpunkt bestehende, Unerfahrenheit der Benutzer abstellt. 575 Immenga, in: Immenga/Markert u. a., 57 (65); Böni, S. 37.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

duktes nicht nur allein nach dessen physischer Beschaffenheit, sondern vielmehr auch nach deren psychischen Effekten auf den Verbraucher bestimmt.576 Diese Aussagen erscheinen dabei dem Grunde nach in der Form verallgemeinerungsfähig, als dass sie auch auf andere Produktbereiche aus dem Luxussegmentbereich angewendet werden können und nicht nur auf Parfums.577 Hiermit lässt es der EuGeI aber nicht auf sich beruhen, sondern geht noch einen (wettbewerbstheoretischen) Schritt weiter: „(. . .) Da es sich nämlich um hochwertige Produkte handelt, bei denen die Verbraucher das Luxusimage schätzen, zielen Kriterien, die lediglich eine anspruchsvolle Präsentation sicherstellen sollen, auf ein Ergebnis, das durch Bewahrung dieses Images den Wettbewerb verbessern und damit einen Ausgleich für die Wettbewerbsbeschränkung schaffen kann, die mit allen selektiven Vertriebssystemen einhergeht.“578

Mit diesen Aussagen schlägt der EuGeI über die Produkteigenschaft und das hierfür zu berücksichtigende Verbraucherinteresse eine Brücke zu den wettbewerbstheoretischen Vorstellungen der Chicago School. Im Rahmen der Prüfung des Art. 81 Abs. 1 EG wird mittelbar das Rangverhältnis zwischen Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb geklärt. Der Wettbewerb zwischen den Herstellern von Luxusprodukten wird über die markeninterne Konkurrenz gestellt. Zudem erwecken die Ausführungen den Anschein, als ob das Gericht Erster Instanz die Verbraucher- und Herstellerinteressen gleichsetzen will. Insofern besteht auch diesbezüglich eine Parallele zu den Thesen der Chicago School. Auch deren Befürworter gehen davon aus, dass sich das Herstellermotiv der Steigerung der einzelwirtschaftlichen Effizienz mit den Verbraucherinteressen stets entspricht.579 Ein eindeutiges Bekenntnis zu diesem Wettbewerbskonzept erfolgt aber dennoch nicht, da sehr wohl noch auf die Freiheit der Händler eingegangen wird. So darf die Durchführung der herstellerischen Vertriebspolitik den anderen Wirtschaftsteilnehmern nicht Verpflichtungen auferlegen, die ihre Wettbewerbsfreiheit in einem Maße einschränken können, dass der innergemeinschaftliche Handel spürbar beeinträchtigt wird.580 Diesem Aspekt der Händlerfreiheit wird von den Anhängern der Chicago School keine Bedeu576

Vgl. hierzu schon oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a) aa). Hiervon geht auch Klotz, in: EuR 1993, 72 (84) aus. 578 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1900); EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2010). 579 Kirchhoff, S. 334. 580 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (1900); EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996 II-1851 (2009). 577

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tung zugemessen, da der Intrabrand-Wettbewerb als solcher keinen Beitrag zur Steigerung der Wohlfahrtsmaximierung leisten könne. Die Leclerc-Entscheidungen verdeutlichen aber zumindest, dass sich auch der EuGeI nicht vollständig den Denkansätzen der Chicago School entzieht. Mittels Ausdehnung der bereits aus der Entscheidungspraxis hervorgebrachten Zulässigkeitsvoraussetzungen wird zaghaft versucht, neue Aspekte in die wettbewerbsrechtliche Beurteilung selektiver Vertriebssysteme einzuführen. b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechtfertigt die Produkteigenschaft grundsätzlich den Aufbau eines selektiven Vertriebssystems, wird weiter geprüft, ob die Selektionskriterien nach den Eigenschaften des Produkts zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs erforderlich sind. Mit anderen Worten: Es dürfen keine überzogenen Kriterien an die Absatzmittler gestellt werden. Damit ist stets zu untersuchen, ob die aufgestellten Kriterien über die Notwendigkeit eines auf reinen Qualitätsanforderungen aufgebauten selektiven Vertriebssystems hinausgehen.581 Entscheidend nach der Praxis der Gemeinschaftsorgane ist die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zwischen der Produkteigenschaft und den Selektionskriterien.582 An dieser Stelle der Prüfung entscheidet sich somit, ob eine grundsätzlich nach Art. 81 Abs. 1 EG zulässige einfache Fachhandelsbindung vorliegt oder aber die Auswahlkriterien über die Erfordernisse eines sachgerechten Vertriebs hinausgehen, indem den Absatzmittlern zusätzliche Verpflichtungen auferlegt werden oder gar eine quantitative Beschränkung durch den Hersteller vorgenommen wird. Auffällig an der Praxis der Gemeinschaftsorgane ist, dass weniger die einzelnen Warenlaufbindungen oder die Bindungen hinsichtlich der Absatzgestaltung im Mittelpunkt der Bewertung eines Vertriebssystems stehen, sondern vielmehr das Selektionskonzept. Mit der Zulässigkeit der verwendeten Selektionskriterien steht und fällt auch die kartellrechtliche Beurteilung der den Händlern auferlegten Verpflichtungen. Falls sich die Auswahlkriterien als erforderlich für den sachgemäßen Vertrieb erweisen, werden auch die zur Durchsetzung und Kontrolle auferlegten Verpflichtungen als nicht wettbewerbsbeschränkend angesehen. Daher empfiehlt es sich im Folgenden zunächst, die einzelnen an die Absatzmittler gestellten Anforderun581

Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. Nr. L 376/41 (46). Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (60); XXI. Wettbewerbsbericht (1991), S. 86 (Tz. 99); EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/91, Slg. 1992, II-415 (443 f.); Grünbuch, Tz. 128 i). 582

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

gen zu untersuchen, da hiermit auch über das Schicksal der weiteren vertraglich festgelegten Klauseln des Vertriebssystems entschieden wird. aa) Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien Vielerorts werden die Auswahlkriterien auch als Fachhandelskriterien bezeichnet.583 Dabei ist dieser Begriff jedoch nicht in der Form zu verstehen, dass wirklich nur Inhaber eines Fachhandelgeschäfts zum Vertriebssystem zugelassen werden. Im Gegenteil haben sich die Gemeinschaftsorgane schon früh gegen den pauschalen Ausschluss bestimmter Betriebsformen gewandt584, um den Intertype-Wettbewerb zu schützen. Bei den die Auswahlentscheidung rechtfertigenden Kriterien muss es sich um solche objektiver und qualitativer Art handeln. Objektiv bedeutet, dass die Kriterien vom Abnehmer grundsätzlich in eigener Verantwortung und aufgrund eigener Erkenntnis bestimmbar sind.585 Qualitative Selektionskriterien liegen vor, wenn sie nach den Eigenschaften des betreffenden Produkts erforderlich sind, um den sachgerechten Vertrieb der Erzeugnisse zu gewährleisten. Als entscheidungserheblicher Faktor für die Zulässigkeit der einzelnen Selektionskriterien ist also auch hier die Produkteigenschaft anzusehen. Dabei ist eine Differenzierung zwischen der soeben dargestellten Erforderlichkeit und der nunmehr zu untersuchenden Verhältnismäßigkeit der Praxis nicht immer trennscharf zu entnehmen. Da sich die Auswahl der Händler nach der jeweiligen Vertragsware im Einzelfall richtet, rechtfertigen die verschiedenen Produkte auch die Anwendung unterschiedlicher Selektionskriterien. Folglich können keine allgemeingültigen Aussagen hinsichtlich der Zulässigkeit des jeweilig vom Hersteller verfolgten Selektionskonzeptes getroffen werden. Anhand der umfangreichen Entscheidungspraxis soll aber versucht werden, Fallgruppen herauszuarbeiten.

583

Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 47. Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12 f., Tz. 17), Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (21, Tz. 16); Komm. v. 10.12.1984; Ideal Standard, ABl. 1985 L 20/38 (42, Tz. 16); EuGH v 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/ 84, Slg. 1986, 3021 (3023); EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1914). 585 Langen/Bunte/v. Stoephasius, Art. 81 Abs. 1, Fallgruppen, Rdnr. 412; G/T/E/ Jakob-Siebert/Jorna, Art. 85, Fallgruppen, Rdnr. 169. 584

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(1) Fachliche Anforderungen an den Händler und sein Personal Neben der Absatzförderung durch eine Straffung der Vertriebswege bei gleichzeitiger Minimierung der Kosten will der Hersteller mittels einer Fachhandelsbindung sicherstellen, dass seine Produkte auf dem Weg zum Verbraucher keine Qualitätsverluste erleiden. Zudem will er, dass die Händler die für die Produkte notwendigen Serviceleistungen in fachlich qualifizierter Weise erbringen.586 Daher gehören die in fachlicher Hinsicht an den Händler und an sein Personal gestellten Anforderungen zu den klassischen, grundsätzlich unbedenklichen qualitativen Selektionskriterien.587 Insbesondere bei technisch hoch entwickelten und komplizierten Produkten kann der Hersteller verlangen, dass der Händler geschultes Verkaufspersonal beschäftigt, das dem Kunden eine sachgemäße Beratung unter Vorführung der Geräte bietet.588 Aber auch bei nicht-technischen Erzeugnissen, wie beispielsweise bei Luxuskosmetika, kann der Hersteller die kundige Beratung durch geschultes Personal589 als erforderlich für den Vertrieb seiner Produkte ansehen.590 Des Weiteren stellt die Anwesenheit des fachlich qualifizierten Personals während der Ladenöffnungszeiten in der Verkaufsstätte ein zulässiges Auswahlkriterium dar.591 Auch die Berücksichtigung der Ladenöffnungszeiten allgemein ist bei der Auswahlentscheidung sachlich gerechtfertigt. So kann der Hersteller zulässigerweise verlangen, dass das Geschäftslokal während der üblichen Ladenöffnungszeiten dem allgemeinen Publikum zugänglich ist.592 Verhältnismä586

Vgl. ausführlich zur Interessenlage des Herstellers: Sölter, in: MA 1965, S. 303 ff.; Pawlikowski, in: MA 1982, 492 (496); Posselt, in: Zfbf 1998, 1098 ff. 587 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (4). 588 Komm. v. 18.04.1984, IBM, ABl. L 118/24 (27, Tz. 14); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. L 20/15 (19, Tz. 24). 589 In Betracht kommen etwa der Nachweis einer Parfümerie-Fachausbildung, beispielsweise als staatlich geprüfte Kosmetikerin, die Vorlage eines Zeugnisses der Industrie- und Handelskammer über eine Parfümerie-Fachausbildung oder aber eine mindestens dreijährige Verkaufserfahrung in einem Parfümeriegeschäft. So die Anforderungen von Yves Saint Laurent Parfums an den Inhaber oder an das Verkaufspersonal, vgl. Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/ 24 (25). 590 Die Forderung nach sachkundiger Beratung des Kunden ist berechtigt, da besondere Fachkenntnisse erforderlich sind, um dem Kunden bei der Suche nach einem Produkt zu helfen, das ihm gefällt und das er braucht, und um ihn optimal darüber zu informieren, wie er es am besten benutzt und aufbewahrt. Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29). Vgl. die ähnliche Argumentation der Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (15 f., Tz. 5). 591 EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1854 und 1905).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

ßig ist es auch, wenn der Hersteller die Weiterbildung der Beschäftigten durch die Teilnahme an von ihm veranstalteten Lehrgängen verlangt.593 Die fachlichen Anforderungen dürfen aber nicht derart hoch gesteckt werden, dass sie in Bezug auf die Produkteigenschaft unverhältnismäßig erscheinen. Der Nachweis einer qualifizierenden Berufsausbildung des Verkaufspersonals kann zwar zulässigerweise verlangt werden, dies bedeutet aber nicht, dass auch der Ladeninhaber oder verantwortliche Leiter selbst fachkundig sein muss.594 Andernfalls würden bereits von Anfang an alle Kauf- und Warenhäuser sowie ähnliche Betriebsformen von der Belieferung ausgeschlossen. In der Sache „Vichy“ wurde das Abstellen auf die Eigenschaft als „Offizinalapotheker“ als unverhältnismäßiges Auswahlkriterium angesehen.595 Die Natur der betreffenden Kosmetikartikel rechtfertigen zwar eine auf Spezialkenntnissen beruhende fachliche Beratung, diese könne aber in gleicher Weise auch durch beispielsweise diplomierte Pharmazeuten erfolgen und erfordere nicht unbedingt die Zulassung als Offizinalapotheker. (2) Lage und Gestaltung der Verkaufsräume Ein für den Hersteller weiteres wichtiges Selektionskriterium stellt die konkrete Ausstattung des Ladengeschäfts dar. Dabei können verschiedene Faktoren für ihn entscheidend sein: die geographische Lage des Geschäfts, das äußere Erscheinungsbild sowie die innere Ausstattung der Verkaufsräume inklusive der Form der Warenpräsentation. Diesbezüglich werden zum Teil von der Systemzentrale hohe Anforderungen an den Handel gestellt und bis ins kleinste Detail vorgegeben, auf welche Art und Weise die Vertragsware zum Endverbraucher gelangen soll. Derartig strenge Vorgaben können nur erfolgen, wenn das betreffende Unternehmen Marketingführer ist, da andernfalls der Handel nicht bereit wäre, diese zu erfüllen.596 Für diese Fallgruppen gilt dabei der übereinstimmende Grundsatz, dass alle Anforderungen an die Geschäftsräume zwecks Gewährleistung eines sachgerechten Absatzes der Produkte, die eine angemessene Lagerung, Ausstellung und Vorführung der Vertragswaren ermöglichen, als erforderlich an592 EuGH 11.10.1983, Demo Studio Schmidt, Rs. 210/81, Slg. 1983, 3045 (3064 f.). 593 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (15 f., Tz. 5). 594 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12 f., Tz. 17). 595 Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (60); EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/91, Slg. II-415 (443). 596 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. I.

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gesehen werden können.597 Auch hier richtet sich die Verhältnismäßigkeit der Kriterien nach der Eigenart des Produktes. (a) Äußere Aufmachung des Geschäfts Zunächst kann das äußere Erscheinungsbild einer Verkaufsstätte ausschlaggebend für die Zulassung zum Vertriebssystem sein. Zum Teil wurde seitens der Hersteller versucht, die Auswahl der Absatzmittler von der geographischen Lage des Geschäfts abhängig zu machen. Die Vertriebsverträge der Firma „Villeroy&Boch“ sahen beispielsweise eine „zentrale Lage“ des Einzelhandelsgeschäfts als erforderlich an, um ihr Tafelgeschirr an private Endverbraucher abzusetzen.598 Dies beurteilte die Kommission anders, da die Lage des Geschäfts nicht angemessen und objektiv erforderlich im Sinne solcher technischen oder fachlichen Anforderungen an das Verkaufsgeschäft sei, welche die guten Bedingungen für den Verkauf langlebiger Markenartikel erfordere. Die Kommission veranlasste Villeroy&Boch daher zur Streichung dieses Kriteriums aus ihren Vertriebsverträgen. Anders hingegen die Ansicht der Kommission in den Parfum-Fällen.599 Yves Saint Laurent machte die Aufnahme in ihr Vertriebssystem davon abhängig, dass sich das Verkaufslokal in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Geschäften befindet, die dem Ansehen der eigenen Marke entsprechen.600 In diesem Fall wurde die Lage des Geschäfts als zulässiges Selektionskriterium anerkannt, da der luxuriöse, exklusive Charakter der angebotenen Produkte die diesbezüglichen Anforderungen des Herstellers rechtfertigen würden.601 Auch der EuGeI billigte im Ergebnis dieses Kriteriums, obwohl die Klägerin die mangelnde Objektivität dieser Form der Selektion geltend machte.602 Das Gericht war jedoch der Auffassung, dass dieses Kriterium, soweit es lediglich sicherstellen soll, dass die Produkte nicht an völlig ungeeigneten Standorten verkauft würden, mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar sei. Hinsichtlich der mangelnden Objektivität habe Yves Saint Laurent in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinreichend konkret festgelegt, was sie unter einer angemessenen Lage und Umgebung verstehe, sodass diese gewahrt bliebe. Auf die Überwachung der Art und 597

Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 28). Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (17, Tz. 24). 599 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24; Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11. 600 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29). 601 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (17 f., Tz. 7). 602 EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1906). 598

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Weise der Anwendung dieser Klausel sei aber durch die nationalen Gerichte oder Behörden erhöhtes Augenmerk zu legen. Auch bezüglich des konkreten äußeren Erscheinungsbildes des Verkaufslokals hat die Kommission in den Parfum-Fällen sehr großzügig die Verhältnismäßigkeit der herstellerischen Kriterien bejaht. Sowohl die Fassade des Geschäfts, die angemessene Gestaltung des Firmenschildes als auch die Größe und Dekoration der Schaufenster konnten für den Hersteller zulässigerweise ausschlaggebend für seine Selektionsentscheidung sein.603 In der Überprüfung dieser Entscheidungen folgte das Gericht erster Instanz aber nur zum Teil den Ausführungen der Kommission604, wich aber im Ergebnis dennoch nicht von der grundsätzlichen Vereinbarkeit derartiger Kriterien mit Art. 81 Abs. 1 EG ab. Hinsichtlich der Gestaltung der Fassade sowie der Schaufenster stellte das Gericht fest, dass diese dem Grunde nach dazu geeignet seien, bestimmte Verkaufsstellen, die zwar über eine Fachabteilung verfügen würden, aber eben nicht die gleiche Fassade wie ein traditionelles Geschäft hätten, vom Vertrieb der Produkte auszuschließen. Außerdem seien Schaufenster an der Vorderfront offensichtlich nicht erforderlich, um eine angemessene Präsentation der Artikel in einer Abteilung oder auf einer Verkaufsfläche im Innern zu gewährleisten. Hierin wurde aber dennoch kein Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG gesehen, da das Kriterium der Schaufenstergestaltung die Auslegung zuließe, dass auch Schaukästen im Innern des Ladens den Anforderungen entsprechen könnten. Insofern seien auch nichttraditionelle Geschäfte in der Lage, diese Voraussetzung zu erfüllen. In Zukunft kann daher wohl davon ausgegangen werden, dass die konkreten Anforderungen an das Äußere des Verkaufslokals nicht bis ins letzte Detail von der Systemzentrale festgelegt werden können. Derartige Kriterien dürfen nach der Entscheidungspraxis nicht zur Folge haben, dass bestimmte Vertriebsformen, insbesondere solche, die ansonsten mittels einer Fachabteilung die weiteren qualitativen Kriterien erfüllen, über diesen indirekten Weg vom Bezug der Vertragsprodukte ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für die Anforderungen an die Gestaltung des Firmenschildes. Es werden nur solche Kriterien als unbedenklich angesehen, die lediglich dafür Sorge tragen sollen, dass das Luxusimage der Vertragswaren keinen Schaden nimmt.605 Eine derartige Auswahlentscheidung ist sachlich nur 603

EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1906 f.). EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1906 f.); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2016 f.). 605 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1911 ff.); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2020 ff.). 604

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unter dem Gesichtspunkt der Imagebeeinträchtigung gerechtfertigt, sodass dafür Sorge zu tragen wäre, dass nicht sachfremde Erwägungen, wie etwa der Ausschluss preisaggressiverer Betriebsformen, in diese mit einfließen könnten. Da sich das Image des Firmenschildes nur darauf beziehen könne, welches dieses derzeit in den Augen der Verbraucher hätte, muss eine verobjektivierte Kontrolle in der Form erfolgen, dass Meinungsumfragen und Marktuntersuchungen über die Sichtweise der Kunden durchgeführt werden; es dürfe nicht im ausschließlichen Ermessen des Herstellers liegen, wie sich das Image eines konkreten Firmenschildes darstellt. (b) Innere Aufmachung des Geschäfts Neben den äußeren Gegebenheiten des Geschäfts wollen die Hersteller insbesondere auch auf die Darstellung ihrer Erzeugnisse im Innern der Verkaufsstätte Einfluss nehmen. Nach der Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane gelten hier solche Kriterien als unbedenklich, die den Produkteigenschaften entsprechend eine angemessene, repräsentative Darstellung der Waren gewährleisten sollen.606 In der Entscheidung „Grohe“ verdeutlicht die Kommission, dass je nachdem, auf welcher Marktstufe der Absatzmittler tätig ist, auch unterschiedliche Anforderungen an die Geschäftsausstattung gestellt werden können.607 So sei fraglich, ob Grohe seine Großhändler zulässigerweise danach auswählen könne, ob diese die Waren (Sanitärarmaturen) zwecks Ausstellung und Vorführung in gepflegten Verkaufsräumen zum Verkauf bereithalten könnten. Zweifel an der Verhältnismäßigkeit schienen deswegen angebracht, weil der Großhändler nicht direkt mit Endverbrauchern in Kontakt trete, sondern lediglich mit Einzelhändlern. Es wird also auch bei der Untersuchung der Verhältnismäßigkeit auf die Funktionstrennung zwischen Groß- und Einzelhandel eingegangen. Gleichsam kann dies hinsichtlich der Zulässigkeit der Auswahlkriterien zu von einander abweichenden Ergebnissen führen. Eine gänzlich unbedenkliche Anforderung an die Händler betrifft zunächst einmal das Einrichten oder Unterhalten einer Fachabteilung im Rahmen des Geschäfts, wenn es sich nicht um ein spezialisiertes Fachgeschäft handelt.608 Diese Klausel eröffne insbesondere Warenhäusern, Discountern und ähnlichen Vertriebsformen die Möglichkeit, an dem Vertriebssystem teilzunehmen, und sei daher nicht wettbewerbsbeschränkend, sondern im Gegenteil wettbewerbseröffnend. 606 607 608

Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (4). Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (20 f., Tz. 15). Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (24).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Ein hingegen unzulässiges Selektionskriterium ist das Verlangen, dass der Händler seinen Umsatz überwiegend mit solchen Produkten zu erzielen hat, zu denen auch die Vertragsware zählt.609 Mittels solcher Kriterien werden von vornherein sämtliche Vertriebsformen ausgeschlossen, die eben gerade kein Fachhandelsgeschäft darstellen, sondern ihre Umsätze durch den Absatz ganz unterschiedlicher Produktgruppen erzielen und damit ein anderes Vertriebskonzept verfolgen. Regelungen betreffend der Präsentation der Vertragswaren können je nach Produktzugehörigkeit einen sehr unterschiedlichen Bindungsinhalt aufweisen. Bei technisch hoch entwickelten Produkten kommt es dem Hersteller vor allem auf die Möglichkeit an, dass sie in geeigneten Verkaufsräumen vorgeführt werden können. In den Begründungen zu Vertriebssystemen von Waren, die sich primär durch ihren Prestigecharakter auszeichnen, wird hingegen mehr Wert auf die exklusive und repräsentative Darstellung der Produkte gelegt. Zulässiges Selektionskriterium ist das Verlangen nach einer gesonderten Verkaufsfläche für das alleinige Ausstellen der vertragsgegenständlichen Waren.610 Des Weiteren kann die Systemzentrale auch vorschreiben, in welchem Verhältnis der Raum für den Verkauf ihrer Waren zu dem Platz für den Verkauf anderer Produkte zu stehen hat.611 Insbesondere die Hersteller von Luxusartikeln stellen zwecks Darstellung ihrer Produkte in einem repräsentativen Umfeld hohe Anforderungen an ihre Händler. So beurteilten Yves Saint Laurent und Givenchy die Angemessenheit eines Geschäftslokals für den Vertrieb ihrer Produkte unter anderem nach der Verkaufsfläche, der Beleuchtung, der Beschaffenheit des Bodens, dem Mobiliar und der sonstigen Inneneinrichtung.612 Auch werden die Einzelhändler oftmals dazu verpflichtet, in dem Verkaufslokal keine Erzeugnisse anzubieten, die aufgrund ihrer räumlichen Nähe dem Image der Herstellerprodukte abträglich sein könnten.613 Übereinstimmend haben die Kommission und der EuGeI sämtliche dieser Kriterien als zulässig erachtet, weil diese in den Augen des Publikums Prestige und Exklusivität der angebotenen Produkte schützen, die räumliche Distanz zu anderen Produkten und dadurch jede Verwechslung mit Waren minderer 609

Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. L 1976 28/19 (25). Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20 (22). 611 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29). 612 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (29). 613 Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20 (22); Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18, Tz. 27); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (29). 610

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Qualität verhindern sowie eine Gleichsetzung mit qualitativ schlechteren Erzeugnissen vermeiden sollen.614 (3) Kundendienst Die Entscheidung eines Herstellers, seine Erzeugnisse selektiv zu vertreiben, hängt unmittelbar mit dessen Marketingkonzept zusammen. Der Absatz von Produkten, die den Kunden im Zusammenhang mit gewissen warenbezogenen Serviceleistungen erreichen sollen, kann auf dem indirekten Absatzweg nur erfolgen, wenn der Händler diese Leistungen zu erbringen vermag. Sinn und Zweck eines selektiven Vertriebssystems ist es gerade, über den Qualitäts- und Servicewettbewerb eine Nachfragesteigerung zu erreichen. Diese Vorgehensweise des Herstellers ist Ausdruck seiner vertikalen Marketingstrategie.615 Die Händler können daher zulässigerweise dazu verpflichtet werden, bestimmte Dienstleistungen, die nach Ansicht des Produzenten vor oder nach dem Verkauf erforderlich sind, zu erbringen.616 Dabei können im Rahmen von selektiven Vertriebssystemen produktspezifische Beratungs- und Betreuungspflichten allen Vertriebsstufen auferlegt werden617; insoweit können Groß- und Einzelhändler gleichermaßen Bindungssubjekt sein. Sachlich gerechtfertigt ist beispielsweise die dem Großhändler auferlegte Pflicht zur Durchführung eines qualifizierten Außendienstes, da hierdurch der Einzelhändler wiederum in die Lage versetzt wird, die gewonnen Informationen seinerseits an die Endverbraucher weiterzugeben.618 Dem Einzelhändler kann zum Beispiel auch untersagt werden, die sich bereits aus seiner Eigenschaft als Fachhändler ergebenden Kundendienstleistungen gesondert zu berechnen.619 Auch die Pflicht zur Durchführung der anfallenden Garantieleistungen ist gängiger und zulässiger Bestandteil selektiver Vertriebssysteme.620 Diese können auch auf Erzeugnisse beschränkt werden, die bei einem systemzugehörigen Händler gekauft wurden.621 Nach Ansicht des EuGH stellt die Be614 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (29); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2017 f.); Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18, Tz. 27). 615 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, A. II. 616 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (14, Tz. 22). 617 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (19, Tz. 26). 618 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (19, Tz. 26). 619 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (19, Tz. 26). 620 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (19, Tz. 24); Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 28).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

grenzung der Erbringung von Garantieleistungen nur ein Mittel des Herstellers dar, um zu verhindern, dass Systemfremde vertriebsgebundene Ware in den Handel bringen. Daher könne darin – genauso wie in den anderen zulässigen Verpflichtungen zum Schutz des Vertriebssystems, wie beispielsweise der Vertriebsbindung – keine Wettbewerbsbeschränkung gesehen werden. Voraussetzung ist natürlich die gesamte Vereinbarkeit des Vertriebssystems mit Art. 81 Abs. 1 EG. Eine Grenze hinsichtlich der Zulässigkeit der Auferlegung von warenbezogenen Dienstleistungen ist sicherlich aber dort zu ziehen, wo die Anforderungen derart hoch gesteckt werden, dass sich der Händler ausschließlich auf das Vertragsprodukt konzentrieren kann und damit Bezüge von Fremdwaren unmöglich werden. In diesen Fällen wird der Interbrand-Konkurrenz der Marktzugang völlig versperrt. (4) Lagerhaltung Bindungen hinsichtlich der Lagerhaltung werden von Herstellern aus unterschiedlichen Motiven als Vertragsbestandteil in die Vertriebsverträge integriert.622 Neben legitimen Zielen, wie der Verhinderung eines Qualitätsverlustes, können mittels dieser aber auch Interbrand-Konkurrenten am Marktzutritt gehindert werden, indem Kapazitäten der Händler gebunden werden. Aufgrund dieser ambivalenten Wirkungen sind alle vom Hersteller hinsichtlich der Lagerhaltung auferlegten Verpflichtungen eingehend zu untersuchen, zumal hier eine Nahtstelle zur qualifizierten Fachhandelsbindung verläuft. Sofern eine Verpflichtung bezüglich der Lagerhaltung ausschließlich gewährleisten soll, dass die Qualität der Erzeugnisse keinen Schaden nimmt, sind solche Klauseln unbedenklich.623 Problematisch wird es hingegen erst, wenn der Hersteller quantitative Vorgaben hinsichtlich des Lagervorrats macht. Im Metro I-Urteil erachtete der EuGH die Verpflichtung des Absatzmittlers, ein dem Umsatz des Geschäfts entsprechendes Lager zu führen, als Wettbewerbsbeschränkung, da dies die anerkannten Händler zu stark an den 621 EuGH 31.01.1994 Metro/Cartier, Rs. C-376/92, Slg. 1994 I-15 (39 f.). Eine gänzlich andere Bewertung schlug hingegen der Generalanwalt vor: Er sah die vertragliche Beschränkung der Garantie durch Cartier als Waffe gegen den rechtmäßigen Vertrieb der Uhren durch Netzaußenseiter an. Zudem wies er auf zu berücksichtigende Gesichtspunkte des Verbraucherschutzes hin: Der Kunde würde so um die normale Herstellergarantie bei Fabrikationsfehlern gebracht. Aus all diesem ergäbe sich ein Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG. 622 Vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. IV. 1. d). 623 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (15 f., Tz. 5).

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Hersteller bindet.624 Hierdurch würden Unternehmen ausgeschlossen, welche die qualitativen Zulassungsvoraussetzungen zwar erfüllten, aber nicht bereit oder in der Lage seien, sich der Lagerpflicht zu unterwerfen. Konsequenz sei die mittelbare Begrenzung der Anzahl der Vertriebsstellen. Die Praxis der Kommission ist hinsichtlich der Vereinbarung von Mindestvorrats- und Lagerhaltungspflichten zum Teil nicht frei von Widersprüchen. In der Mehrzahl ihrer Entscheidungen hat sie die soeben dargestellte Auffassung des EuGH geteilt.625 Vereinzelt finden sich aber auch Argumente für den nicht wettbewerbsbeschränkenden Charakter derartiger Bindungen. So hatte die Kommission in der Murat-Entscheidung keine Einwendungen gegen die Auferlegung einer Mindestvorratsklausel und beließ es mit der äußerst knappen Begründung der Handelsüblichkeit derartiger Bindungen im Fachhandel für Schmuckartikel.626 Auch in der Sache „Villeroy&Boch“ stellte die Pflicht zur angemessenen Lagerhaltung keine Wettbewerbsbeschränkung dar. In dieser Entscheidung leistete die Kommission eine ausführlichere Begründungsarbeit. Eine wettbewerbsfördernde Angebotsstruktur, die Nichtvereinbarung einer Mindestumsatzverpflichtung und das vom Hersteller ausdrücklich erwünschte Führen von Konkurrenzerzeugnissen ermögliche den Händlern das Betreiben einer autonomen Geschäftspolitik.627 Sodann wurde von der Kommission auf die konkreten Verhältnisse auf dem Markt für Feinkeramik eingegangen und anhand der Marktanteile bestimmt, dass „Villleroy&Boch“ aufgrund seiner schwachen Marktstellung nicht in der Lage sei, derartigen Einfluss auf die Händler auszuüben, dass Konkurrenten der Zugang zu diesen versperrt bliebe. Letztlich wären Vertriebssysteme auf diesem Markt kaum verbreitet, sodass auch in dieser Hinsicht keine Erstarrung des Marktes angenommen werden könne. Bemerkenswert ist diese Beurteilung im Vergleich zu der Grundig-Entscheidung, in der die Unzulässigkeit genau mit dem Gegenteil begründet wurde628: die Lagerhaltungspflicht der Großhändler sei mit Art. 81 Abs. 1 EG unvereinbar, da sie bei den anerkannten Händlern zu Beschränkungen ihrer autonomen Geschäftspolitik führen würde. 624 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1913 f.); so auch EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791). 625 Komm. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (30); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (16 f., Tz. 6); Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (20 f., Tz. 15). 626 Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20 (22, Tz. 15). 627 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18, Tz. 29). 628 Komm. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Es stellt sich die Frage nach der Ursache der unterschiedlichen Sichtweise zweier Entscheidungen, die zeitlich nur fünf Monate auseinander liegen. Eine offensichtliche Abweichung besteht zunächst in den Marktanteilen. Grundig konnte auf jedem relevanten nationalen Markt einen Anteil von über 10% aufweisen, während „Villeroy&Boch“ hingegen auf jedem dieser unter 10% innehatte. Die Marktanteile allein vermögen diese Abweichung von der bisherigen Entscheidungspraxis aber nicht zu rechtfertigen, da die Kommission in der Yves Saint Laurent-Entscheidung erneut eine Lagerhaltungsvorschrift als wettbewerbswidrig einstufte, obwohl der Produzent gemeinschaftsweit sowohl auf dem Markt für Luxusparfums als auch auf dem Kosmetikmarkt einen Marktanteil von deutlich unter 10% innehatte. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Markt der Luxusparfums und dem für Tafelgeschirr besteht aber in der Häufigkeit der Verwendung von Vertriebssystemen. So gibt es bei ersterem kaum einen Hersteller, der seine Luxuserzeugnisse nicht selektiv vertreibt, während eine solche Absatzstrategie auf dem Markt für Feinkeramik kaum verbreitet ist. Es bestehen also im Einzelfall durchaus Unterschiede, welche die Kommission zu einer anderen Bewertung haben kommen lassen. Ähnlich wie in der Villeroy&Boch-Entscheidung wurde im Anschluss nicht mehr von der Kommission argumentiert. Sie muss daher als Ausnahme zu der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Lagerhaltungsverpflichtungen angesehen werden. Hierfür spricht auch, dass die Kommission in keiner der nachfolgenden Entscheidungen – selbst wenn andere Marktgegebenheiten vorlagen – jemals auf die Möglichkeit der Vereinbarkeit der Lagerhaltungsklausel eingegangen ist, sondern formelartig wiederholt hat, „dass diese über Anforderungen an die fachliche Qualifikation der betreffenden Händler hinausgehen (. . .), die für einen sachgerechten Absatz erforderlich sind.“629 (5) Sortiment Mit der Einflussnahme auf die Sortimentspolitik der Absatzmittler möchte der Hersteller erreichen, dass ein einheitliches Leistungsprofil hinsichtlich seiner Waren entsteht und diese den Verbraucher in dem vorgesehenen Sortimentszusammenhang erreichen.630 Für den Hersteller ergibt sich zudem die Chance, nicht nur seine nachfragestarken Erzeugnisse abzuset629 Komm v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (46); Komm. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5). Aber auch der EuGH hat Gefallen an dieser Formulierung, vgl. z. B.: EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1913); EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791). 630 So auch die Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (20 f., Tz. 15).

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zen, sondern auch die weniger ertragsreichen Produkte in den Handel zu bekommen. Dabei können derartige Klauseln, wie zum Beispiel die Pflicht das vollständige Sortiment zu führen, erhebliche Gefahren für den Wettbewerb in sich tragen. Sie bindet den Händler stark an den Produzenten, verhindert so den Warenzufluss von anderen Herstellern und kommt daher einer Bezugsbindung für Fremdwaren in ihrer Wirkung sehr nahe.631 Ähnlich wie bei Lagerhaltungspflichten besteht bei Sortimentsbindungen ein nur schmaler Grat zu den qualifizierten Fachhandelsbindungen. In diesem Fall ist die Entscheidungspraxis jedoch weniger uneinheitlich. Auf dem Sektor der Unterhaltungselektronik hat die Kommission mehrfach entschieden, dass die Pflicht zur möglichst vollständigen Führung des Herstellerprogramms über die Anforderungen an die fachliche Qualifikation sowohl des Groß- als auch des Einzelhändlers hinausgeht und damit eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG darstellt.632 Auch die Pflicht des Einzelhändlers, das Verkaufsprogramm so vollständig wie es für die Größe des Fachgeschäfts oder der -abteilung angemessen ist, auszustellen bzw. einen repräsentativen Querschnitt auf Lager zu halten, stellt keinen erforderlichen Inhalt einer einfachen Fachhandelsbindung dar.633 Auch im Bereich der Luxuskosmetikartikel ist die Kommission gegenüber Sortimentsbindungen äußerst kritisch und sah die Pflicht des Vertragshändlers, zwei Drittel der Referenzen jeder Sortimentsreihe und für jede Referenz mindestens einen Artikel zu führen, als wettbewerbsbeschränkend an.634 Zu einem hiervon abweichenden Ergebnis, wie auch schon hinsichtlich der Lagerhaltungspflichten, kommt die Kommission erneut in ihrer Villeroy&Boch-Entscheidung.635 Die Pflicht des Händlers, ein hinreichend tiefes und breites Sortiment zu führen, wurde nicht als Wettbewerbsbeschränkung angesehen. Der wesentliche Unterschied zwischen den dargestellten Entscheidungen ist jedoch, dass in den Erstgenannten vom Produzenten stets verlangt wurde, das vollständige Sortiment zu führen, „Villeroy&Boch“ jedoch lediglich ein hinreichend tiefes und breites Sortiment bei ihren Absatzmittlern präsent sehen wollte. 631

Vgl. ausführlicher Meier I, S. 290 f. Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (46); Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 35). 633 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5). 634 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (30). 635 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18 f., Tz. 29 f.). Verwendet wurde hierzu dieselbe Argumentation wie zu der soeben dargestellten Lagerhaltungspflicht, vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) aa) (4), Export. 632

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Es muss aber auch hier davon ausgegangen werden, dass es sich aus den oben genannten Gründen hierbei um eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unvereinbarkeit derartiger Sortimentsverpflichtungen mit Art. 81 Abs. 1 EG handelt. (6) Werbung Bindungen mit dem Inhalt, in welcher Form und in welchem Umfang Werbung zu betreiben oder zu unterlassen ist, haben die Beschränkung bzw. die gänzliche Aufgabe dieses Aktionsparameters für den Händler zur Folge. Die Drittwirkung ist – je nach Intensität des vorgeschriebenen Verhaltens – darin zu sehen, dass den Verbrauchern Vergleichs- und Aushandlungsmöglichkeiten entgehen.636 Gängige Verpflichtungen des Händlers bestehen in der Verwendung des vom Hersteller zur Verfügung gestellten Werbematerials oder in dem Anbringen von Hinweisschildern. Derartige Bindungen sind verhältnismäßig, da durch sie der Händler nicht daran gehindert wird, am Wettbewerb zwischen verschiedenen Marken teilzuhaben.637 Während „Villeroy&Boch“ ihren Händlern auferlegen konnte, an Verkaufsförderungsaktionen teilzunehmen638, stellte die Mitwirkung an Werbeveranstaltungen von „Yves Saint Laurent“ und „Givenchy“ eine unzulässige, weil zu weit gehende Verpflichtung dar.639 Das den Einzelhändlern auferlegte Verbot, für die Vertragswaren mit „Abhol-, Selbstbedienungs- und Mitnahmepreisen“ zu werben, hat die Kommission als verhältnismäßige Maßnahme im Rahmen einer einfachen Fachhandelsbindung angesehen.640 Eine derartige Geschäftspolitik rufe bei dem Verbraucher die Assoziation hervor, der Händler verzichte von sich aus641 auf die Kundendienstleistungen. Da aber sämtliche systemangehörige Händler zur Vornahme dieser verpflichtet seien, dürfe mittels der Werbung 636

Vgl. ausführlicher hierzu: Meier I, S. 290 f. Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18 f., Tz. 30); Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20 (22, Tz. 15). 638 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (18 f., Tz. 30). 639 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (30); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (16 f., Tz. 6). 640 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (4 f.); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 31). 641 Dieses Element des „Von-Sich-Aus-Anbietens“ des Händlers ist ein wichtiger Faktor in der Begründung der Kommission, da die Grundig-Vertriebsbindung nicht verhindert, dass auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden auf die Kundendienstleistungen verzichtet werden kann, Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/ 15 (20, Tz. 31). 637

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nicht suggeriert werden, dass der Service nicht erbracht werde. Daher ist die Auferlegung eines derartigen Werbeverbots von den qualitativen Kriterien gedeckt und verstößt nicht gegen Art. 81 Abs. 1 EG. Ein Akquisitionsverbot, durch welches der Händler darin gehindert wird, außerhalb seines Vertragsgebietes um Kunden zu werben, stellt eine Wettbewerbsbeschränkung dar, weil dadurch dem Händler Absatzchancen in anderen Gebieten verwehrt werden.642 Zudem eignet sich das Akquisitionsverbot als flankierende Maßnahme zur territorialen Marktaufteilung. bb) Verhältnismäßigkeit der einzelnen Vertragsklauseln Im Anschluss an diese sich unmittelbar aus der Produkteigenschaft rechtfertigenden Selektionskriterien sollen nunmehr die einzelnen Vertragsklauseln auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 81 Abs. 1 EG untersucht werden. Diese sind stets nur dann Gegenstand einer ausdrücklichen Untersuchung durch Kommission und EuGH, wenn bereits zuvor die grundsätzliche produktspezifische Erforderlichkeit des Vertriebssystems bejaht wurde. Die Bewertung der einzelnen Klauseln ist hiervon direkt abhängig; bei fehlender Notwendigkeit liegt eine Wettbewerbsbeschränkung vor, sodass auch die das Selektionskonzept absichernden Vertragsklauseln gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßen. (1) Vertriebsbindungen Für den Aufbau, Erhalt und die Funktionsfähigkeit eines jeden selektiven Vertriebssystems stellen Vertriebsbindungen eine unerlässliche Voraussetzung dar. Aufgrund der Vorgabe der Vertriebswege sowohl in persönlicher als auch in territorialer Hinsicht verlieren netzzugehörige Händler die Möglichkeit, sich außerhalb des zugewiesenen Spielraumes geschäftlich zu betätigen. Für Netzaußenseiter hat die Vertriebsbindung den definitiven Ausschluss vom Bezug der Vertragsware zur Folge. Dadurch wird die Zahl der den Abnehmern zur Verfügung stehenden Intrabrand-Bezugsquellen deutlich reduziert.643

642 Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 66; Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 74; Meier I, S. 285 (Fn. 113). 643 Kirchhoff, S. 24.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

(a) Persönliche Vertriebsbindungen Marktstufenindifferente Kundenbindungen verhindern das Abfließen der Vertragsprodukte in nicht autorisierte Vertriebskanäle und stellen damit das Kernstück für das Funktionieren eines selektiven Vertriebssystems dar. Negativ betroffen sind von dieser vor allem die nicht zugelassenen Händler, da ihnen der Marktzugang verwehrt wird. Charakteristisch für eine reine qualitative Selektion und damit für die einfache Fachhandelsbindung ist, dass mit Erfüllen des Kriterienkatalogs der Zugang zum Vertriebssystem des Herstellers erfolgt. Das Metro I-Urteil verdeutlicht unmissverständlich die vom EuGH vertretene Ansicht, wonach jedes Absatzsystem, das auf einer Selektion der Vertriebsstellen beruht, wenn es nicht sinnlos sein soll, notwendigerweise die Verpflichtung für die Großhändler enthält, nur anerkannte Wiederverkäufer zu beliefern.644 Daher sind marktstufenindifferente persönliche Vertriebsbindungen, sofern deren Zweck allein darin besteht, die Einhaltung der Selektionskriterien sicherzustellen, indem systemangehörigen Absatzmittlern die Belieferung an Systemaußenseiter untersagt wird, keine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG. Gehen die vom Hersteller verwendeten Kriterien jedoch über das objektiv erforderliche Maß hinaus, indem sie insbesondere Vertriebsförderungspflichten enthalten, dann ist auch die Kundenbindung nicht mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar. In diesem Fall wird die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Händler zu weit eingeengt.645 Die marktstufenindifferente Kundenbindung kann vom Hersteller zudem noch dazu genutzt werden, sich selbst oder bestimmten Lieferanten einen bestimmten Abnehmerkreis vorzubehalten. Diese Art von Kundenbeschränkung verstößt gegen Art. 81 Abs. 1 EG, da sie den Händlern die potentielle Kundschaft entzieht und das freie Spiel des Wettbewerbs durch das vom Hersteller festgelegte Konzept ersetzt. Eine bemerkenswerte Ausnahme von diesem Grundsatz hat die Kommission in der Entscheidung „Villeroy&Boch“646 gemacht. Der Hersteller errichtete mittels Kundenbeschränkungen unterschiedliche Vertriebswege für Tafelgeschirr, das für den privaten Endverbrauch bestimmt war, für Werbemittel und für Erzeugnisse, die von Hotels und Gaststätten abgenommen werden sollten. Aufgrund der abgeschlossenen Vertriebsverträge wurden die Großhändler, Einkaufszentralen und Facheinzelhändler vom Absatz der bei644 645 646

EuGH v. 25.10.1977 – Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1908). Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 25 f.). Komm. v. 16.12.1985, Villeroy & Boch, ABl. L 376/15.

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den letztgenannten Erzeugnisse ausgeschlossen. Der Vertrieb der Werbemittel sollte allein durch Werbemittelunternehmen erfolgen. Für den Vertrieb der Erzeugnisse des Tischbedarfs im gastronomischen Bereich wurden spezielle Lieferanten des Hotel- und Gaststättengewerbes eingeschaltet bzw. „Villeroy&Boch“ behielt sich vor, diese Art von gewerblichen Endverbrauchern selbst zu beliefern. Die Kommission sah diese Kundenbeschränkung aufgrund der besonderen Art der Tätigkeit der Wiederverkäufer und der Unterschiedlichkeit der Erzeugnisse als sachlich gerechtfertigt an, da es sich um den Vertrieb von Geschirr in sehr großen Mengen handele, die nicht für den Endverbraucher bestimmt seien.647 Auf die Abgrenzung der „Villeroy&Boch“ vorbehaltenen Kunden bei den gewerblichen Abnehmern geht die Kommission nicht näher ein. Da dem angemeldeten Vertriebssystem in seiner Gesamtheit ein Negativtest erteilt wurde, muss also von der Vereinbarkeit auch dieser Klausel mit Art. 81 Abs. 1 EG ausgegangen werden. Bestätigt wird dies durch die Mitteilung der Kommission betreffend das Vertriebssystem der „SchottZwiesel-Glaswerke“.648 Auch hier wurden ohne nähere Erläuterungen die unterschiedlichen Vertriebswege für Glasprodukte akzeptiert. Dies alles lässt den Schluss zu, dass die Kommission bereit ist, bei Vorliegen sachlich rechtfertigender Gründe Kundenbeschränkungen hinzunehmen. Während die marktstufenindifferente Kundenbindung ihre Wirkungen vor allem im Wettbewerb außerhalb des Vertriebsnetzes entfaltet, schwächt die stufenspezifische Variante die netzinterne Konkurrenz. Die Vertragsware kann nicht mehr frei zwischen den einzelnen Systemmitgliedern abgesetzt bzw. bezogen werden. Die Zahl der potentiellen Geschäftspartner wird für den Händler649 gemindert, sodass er unmittelbar in seiner Handlungsfreiheit beschränkt wird. In der Praxis haben sich zu Rück-, Sprung- und Querlieferungsverboten folgende Grundsätze entwickelt: Sowohl Rück- als auch Querlieferungsverbote werden als Wettbewerbsbeschränkung angesehen.650 Es hat dem Groß- genauso wie dem Einzelhändler die Möglichkeit zu verbleiben, andere systemangehörige Händler 647

Komm. v. 16.12.1985, Villeroy & Boch, ABl. L 376/15 (19 f.). Mitteilung der Komm. v. 21.04.1993, Schott Zwiesel Glaswerke, ABl. C 111/4. 649 Dies strahlt natürlich auch auf die Endverbraucher aus, in dem sich auch für diese die Anzahl der möglichen Bezugsquellen mindert. 650 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (24, Tz. 21 ff.); Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12 f., Tz. 17); Mitteilung der Komm. v. 10.03.1993, Kennwood Electronics ABl. C 67/9 (10). 648

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

auf derselben Wirtschaftsstufe mit den Vertragswaren zu beliefern bzw. von diesen zu beziehen. Gleiches gilt für die Rücklieferung der Waren von einem systemzugehörigen Einzelhändler an einen ebenfalls netzangehörigen Großhändler. Ursache der Unzulässigkeit derartiger Verbote ist die ihnen innewohnende Tendenz des Gebietsschutzes.651 Mittels derartiger Verbote wird der freie Warenaustausch im Intrabrand-Wettbewerb beschränkt, sodass grenzüberschreitender Warenverkehr gedrosselt wird.652 Einer zum Teil anderen Bewertung durch die Gemeinschaftsorgane unterliegen Sprunglieferungsverbote zu Lasten des Großhandels. Hierbei wird in ständiger Entscheidungspraxis danach differenziert, ob es dem Großhändler verboten wird, private, gewerbliche oder institutionelle653 Endverbraucher unter Auslassung der Einzelhandelsstufe zu beliefern.654 Der Hersteller kann nach übereinstimmender Ansicht der Gemeinschaftsorgane dem Großhändler untersagen, die Vertragsprodukte an private und institutionelle Endverbraucher zu verkaufen.655 Eine derartige Verpflichtung diene der Absicherung der Aufgabentrennung zwischen Groß- und Einzelhandel und verhindere Wettbewerbsverfälschungen zu Lasten des Einzelhandels.656 Die unterschiedlichen Funktionen könnten nur sinnvoll wahrgenommen werden, wenn sich beide Handelsformen an verschiedene Abnehmergruppen wenden würden.657 Dies gälte umso mehr bei der funktionsgerechten Durchführung eines mehrstufigen selektiven Vertriebssystems.658 Das Verbot, gewerbliche Endverbraucher zu beliefern, stellt hingegen eine Wettbewerbsbeschränkung dar und ist mit Art. 81 Abs. 1 EG nicht vereinbar.659 Sachlich gerechtfertigt sei jedoch die dem Großhändler auferlegte uneingeschränkte660 Kontrollpflicht, ob die Vertragsware für gewerbliche 651

I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 214. Wagner, S. 261; Meier II, S. 150. 653 Als institutionelle Endverbraucher sind große Abnehmer, wie etwa Schulen, Krankenhäuser, Behörden u. ä. zu verstehen, vgl. EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1909). 654 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (2 und 5). 655 Komm. v. 10.07.1985, Grundig, I, ABl. L 233/1 (5); Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (26, Tz. 34); EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1909). 656 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1909); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 32). 657 Hermanns, in: WRP 1978, 172 (174). 658 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1909); Bechtold, in: RIW 1987, 809 (813). 659 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1909). 660 Von Seiten Dritter wurde angeregt, die Kontrolle durch Unterzeichnung des Zusatzreverses allein auf die Fälle der Lieferung von sog. betriebsfremden Waren 652

§ 4 Bestandsaufnahme

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Zwecke verwendet werde.661 Dieses kann sich der Großhändler bei der Belieferung eines gewerblichen Endverbrauchers durch Unterzeichnung eines Zusatzreverses bestätigen lassen. (b) Räumliche Vertriebsbindungen Sämtliche Arten räumlicher Vertriebsbindung können eine geographische Marktabschottung bewirken, stehen damit deutlich im Widerspruch zum Binnenmarktkonzept und werden dementsprechend streng von den Gemeinschaftsorganen behandelt. Mittels räumlicher Vertriebsbindungen können territorial aufgegliederte Absatzmärkte geschaffen und gesichert werden.662 Diese dienen wiederum oft dem Schutz von Alleinvertriebsberechtigten und der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Preisniveaus. Die Verpflichtung, die Vertragswaren weder unmittelbar noch mittelbar in andere Mitgliedsstaaten663 exportieren zu dürfen, stellt unbestritten eine Wettbewerbsbeschränkung dar.664 Gleiches gilt für alle weiteren Klauseln, die einen möglichen Parallelhandel verhindern, indem der Absatz an zugelassene Händler oder Endverbraucher aus anderen Mitgliedsstaaten untersagt wird.665 Ebenfalls unzulässig ist die zeitlich befristete Auferlegung eines Aktivverkaufsverbots in ein anderes Land.666 Standortklauseln untersagen zwar nicht gänzlich den Verkauf an außerhalb des Vertragsgebiets ansässige Abnehmer, beschränken den Händler aber mittelbar in der Ausweitung seiner Geschäftstätigkeit. Damit geht auch hier eine Drosselung des Intrabrand-Wettbewerbs und eine Verdünnung des Angebots für die Abnehmer einher. zu beschränken. Diesem hat die Kommission jedoch nicht zugestimmt, da stets die Möglichkeit bestünde, die Ware für den reinen Privatgebrauch zu verwenden. Vgl. Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 236/11 (20, Tz. 32). 661 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 32). 662 Vgl. Pawlikowski, S. 215 f. 663 Vgl. zum Verbot des Exportes in Staaten außerhalb der EG, unten unter 1. Teil, § 4, B. IV. Ein Verbot kommt mangels Spürbarkeit auf dem europäischen Markt nicht in Betracht. 664 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12, Tz. 17); Komm. v. 14.06.1973, Du Pont de Nemours Deutschland-, ABl. L 194/27 (28); Komm. v. 30.06.1970, Kodak, ABl. L 147/24 (25, Tz. 15). 665 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (17, Tz. 6). 666 So war es den Givenchy-Händlern untersagt, vor einer Einjahresfrist nach der Neueinführung eines Produktes in einem anderen Land, dieses in dem jeweiligen Gebiet abzusetzen. Die Kommission sah dadurch die geschäftliche Handlungsfreiheit der Vertragshändler eingeschränkt, Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (17, Tz. 6).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Bei der Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlungen hängen die Auswirkungen für den Intrabrand-Wettbewerb offensichtlich von der konkreten Höhe der zu leistenden Provision ab. In der Sache „Ivoclar“ hat die Kommission die Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlungen als Wettbewerbsbeschränkung angesehen, weil damit der Marktzutritt Dritter verhindert und die Ausdehnung der Geschäftstätigkeit der Händler beschränkt wird.667 Im Rahmen der Beurteilung selektiver Vertriebssysteme außerhalb des Kfz-Sektors hat sich noch keine Praxis zu Marktverantwortungsgebieten entwickelt. In der Entscheidung „Ford“ wurde die Zuweisung eines primär zu bearbeitenden Gebietes als Wettbewerbsbeschränkung angesehen, weil dadurch die Vertragsfreiheit sämtlicher Beteiligter eingeengt werden würde.668 Aufgrund des gebietsschützenden Charakters solcher Klauseln ist eher von deren Unzulässigkeit als von der Zulässigkeit derartiger Verpflichtungen auszugehen.669 (2) Absatzbindungen Die Vereinbarung einer Absatzbindung hat zur Konsequenz, dass der Hersteller seine wirtschaftliche Handlungsfreiheit hinsichtlich der Wahl seiner Abnehmer teilweise verliert. Aber auch die Händler werden beschränkt, indem sie nicht mehr frei ihre Lieferanten wählen können, sondern den durch den Hersteller festgelegten Vertriebsweg zu beachten haben.670 Die kartellrechtliche Beurteilung von persönlichen Absatzbindungen durch die Gemeinschaftsorgane ist mit der Vorgehensweise zu marktstufenindifferenten Kundenbindungen vergleichbar. Ist das selektive Vertriebssystem als solches mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar, ist auch die Absatzbindung zulässig. Sie ist für die Funktionsweise des Vertriebssystems ebenso notwendig wie die Vertriebsbindung und stellt die normale vereinbarte Gegenleistung des Herstellers für die von den Händlern eingegangenen Verpflichtungen dar.671 Ebenfalls zulässig sind durchlaufende Absatzbindungen, soweit die Kriterien nicht über das objektiv erforderliche Maß hinausgehen.672 667

Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (3, Tz. 15). Komm. v. 16.11.1983, Ford, ABl. L 327/31 (36, Tz. 30). 669 So wohl auch Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 66 f.; Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 55. 670 Vgl. ausführlich hierzu: Pawlikowski, S. 430 ff.; Meier II, S. 136 ff. 671 Komm. v. 05.12.1983, Murat, ABl. L 348/20 (22, Tz. 16); Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (13, Tz. 21). 672 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15 (19, Tz. 35). 668

§ 4 Bestandsaufnahme

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Häufigste Form der räumlichen Absatzbindung ist die Gewährung eines Alleinvertriebsrechts. An der wettbewerbsbeschränkenden Wirkung dieses räumlichen Ausschließlichkeitsrechts dürften kaum Zweifel bestehen.673 Die exklusive Zuweisung eines Vertragsgebietes an nur einen Händler ist dem selektiven Vertrieb wesensfremd und fällt daher unter das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG.674 (3) Bezugsbindungen Bezugsbindungen betreffend Vertragswaren beschränken die netzinterne Beschaffungsfreiheit der Händler und zwingen sie damit, auf gegebenenfalls vorhandene, günstigere Angebote zu verzichten. Eine Beschränkung des Intrabrand-Wettbewerbs liegt zum einen in dem Auslassen der alternativen Bezugsmöglichkeit und zum anderen wird attraktiven Intrabrand-Wettbewerbern die potentielle Kundschaft entzogen.675 Auch hier richtet sich die Zulässigkeit der Bezugsbindung nach der grundsätzlichen Vereinbarkeit des gesamten Vertriebssystems mit Art. 81 EG. Dient sie der Geschlossenheit eines auf zulässigen qualitativen Kriterien beruhenden selektiven Vertriebssystems, können sowohl Großhandel als auch Einzelhandel dazu verpflichtet werden, nur von autorisierten Händlern zu beziehen.676 Unzulässig ist hingegen die Bezugspflicht des Einzelhändlers, seinen Warenbedarf ausschließlich beim Hersteller zu ordern.677 Zum Zweck des freien Warenverkehrs muss dem Absatzmittler stets auch die Möglichkeit verbleiben, die Vertragsprodukte auch von anderen autorisierten Händlern zu beziehen. In der räumlichen Variante stellt die Bezugsbindung ein Importverbot zulasten des Händlers dar. Die aus einem Importverbot resultierende Behinderung des Parallelhandels stellt evident eine Wettbewerbsbeschränkung dar. Während die Bezugsbindung hinsichtlich Vertragswaren primär den Zugang zum Intrabrand-Wettbewerb versperrt, hat das Fremdwarenbezugsverbot vor allem Auswirkungen auf den Interbrand-Wettbewerb, da dem Lieferanten aufgrund der exklusiven Bindung der Händler Absatzstellen verlustig gehen.678 Aber auch der Händler wird beschränkt, da er sich seiner Sorti673 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (26, Tz. 32); vgl. auch Meier II, S. 136 m. w. N. 674 Martinek/Semler/Hoppe, § 31, Rdnr. 60. 675 Kirchhoff, S. 28; Pawlikowski, S. 455. 676 Mitteilung der Komm. v. 21.04.1993, Schott-Zwiesel-Glaswerke, ABl. C 111/ 4. Vgl. auch Kirchhhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 68. 677 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (27). 678 Kirchhoff, S. 31; Meier I, S. 271 f.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

mentsbildungsfreiheit begibt. So hat die Kommission im Junghans-Vertriebssystem das den Alleinvertriebsberechtigten auferlegte (beschränkte) Bezugsverbot von Konkurrenzerzeugnissen als Wettbewerbsbeschränkung gewertet.679 (4) Absatzverhaltensbindungen Die Absatzverhaltensbindungen regeln die näheren Modalitäten des Austauschverhältnisses zwischen Hersteller und Händler, ohne dabei jedoch den Geschäftsverkehr mit Dritten zu untersagen. Sie verlaufen synchron zu den Selektionskriterien. Der Hersteller will mittels dieser sicherstellen, dass die für seine positive Zulassungsentscheidung relevanten Faktoren auch für die gesamte Dauer des Vertragsverhältnisses gewährleistet werden. An keiner sonst680 im Vertriebssystem verwendeten Vertragsklausel lässt sich die vertikale Marketingstrategie eines Herstellers so deutlich ablesen wie an der Wahl der Absatzverhaltensbindungen. Diese dienen gerade dem Zweck, entsprechend den marketingpolitischen Vorstellungen des Herstellers, auf die ureigensten Aufgabenbereiche des Handels Einfluss zu nehmen und damit die vertikale Vorwärtsintegration voranzutreiben.681 Durch den gleichzeitigen Verzicht aller systemangehörigen Händler auf den Einsatz bestimmter wettbewerblicher Aktionsparameter wird ein homogenes Auftreten am Markt sichergestellt. Neben der Standardisierung des Nebenleistungswettbewerbs wird zudem der Preiswettbewerb682 und damit die gesamte Intrabrand-Konkurrenz gedämpft. Es bestehen keine Unterschiede in der rechtlichen Würdigung dieser Bindungen zu den Auswahlkriterien, sodass die dazu angestellten Überlegungen auch hier Gültigkeit haben.683 (5) Vertriebsförderungspflichten Als Vertriebsförderungspflichten können vor allem die Verpflichtungen des Händlers zur Erzielung eines Mindestumsatzes, zur Mindestabnahme, zur Mindestlagerhaltung sowie die Pflicht zum Bezug des vollständigen Warensortiments angesehen werden. Als Grundsatz kann hier der Entscheidungspraxis entnommen werden, dass gerade die Auferlegung derartiger Vertriebsförderungspflichten die ein679 680 681 682 683

Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15, Tz. 28). Mit Ausnahme natürlich der Auswahlkriterien selbst. Vgl. hierzu ausführlich: 1. Teil, § 1, A. II. EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905 f.). Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) aa).

§ 4 Bestandsaufnahme

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fache Fachhandelsbindung zu einer qualifizierten Fachhandelsbindung macht. Damit ist zunächst von der Unvereinbarkeit mit Art. 81 Abs. 1 EG auszugehen.684 In diesem Fall gehen die Verpflichtungen über das die Sicherstellung eines sachgerechten Vertriebs erforderliche Maß hinaus und verlangen den Händlern Maßnahmen ab, die zu einer Beschränkung ihrer autonomen Geschäftspolitik führen.685 Auch hier kann eine teilweise uneinheitliche Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane festgestellt werden. So erklärte die Kommission in der ersten Saba-Entscheidung die Verpflichtung an die Händler, in ihrem Fachgeschäft 50% des Umsatzes aus dem Verkauf von Produkten zu erzielen, zu denen auch die Vertragserzeugnisse gehören, für zulässig.686 Der EuGeI ging in der Leclerc II-Entscheidung hingegen von der Unzulässigkeit einer solchen Klausel aus, da sie in keinem Zusammenhang mit dem rechtmäßigen Erfordernis der Aufrechterhaltung des Luxusimages der betreffenden Produkte stehe.687 (6) Informations-, Kooperations- und Kontrollbindungen All diese das Vertriebssystem unterstützenden Pflichten haben gemein, dass sie zunächst einmal den betriebswirtschaftlichen Aufwand der Absatzmittler durch Einhaltung der vorgegebenen Maßnahmen erhöhen. Für den Hersteller gewinnen sie in Bezug auf seine Absatzplanung, das Aufgreifen neuer Entwicklungen und die rationale Arbeitsweise eine große Bedeutung. Kartellrechtlich relevant werden diese insbesondere dann, wenn die Anforderungen über das sachlich gerechtfertigte Interesse des Herstellers hinausgehen und vor allem zu wettbewerbswidrigen Zwecken eingesetzt werden. (a) Informations- und Kooperationsbindungen Der Hersteller strebt mit der Errichtung seines Vertriebssystems eine engere Zusammenarbeit Händlern an, als es im freien Vertrieb seiner Produkte der Fall wäre. Daher kann er auch gewisse Anforderungen an eine partnerschaftliche Zusammenarbeit stellen, wie z. B. die Pflege des Meinungsaustausches durch Anregungen und Kritik.688 Die Kommission geht hinsichtlich der Pflicht zur Auskunftserteilung über alle den Verkauf der Ware be684

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 5. c). EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 35). 686 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 28). 687 EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2019 f.). 688 Komm. v. 17.04.1980, Krups, ABl. L 120/26 (27, Tz. 5). 685

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

treffenden Fragebereiche davon aus, dass sie als solche keine Wettbewerbsbeschränkung darstellen.689 Den Entscheidungen der Kommission ist zu entnehmen, dass sie sich der Gefahren von Informationspflichten für den Wettbewerb durchaus bewusst ist. Sie können der Systemzentrale die notwendigen Daten dazu geben, die aus seiner Marketing-Welt ausscherenden Händler aufzuspüren und diese sodann durch die Anwendung von Druck oder mittels anderer Repressalien wieder auf seinen Kurs zu bringen. Insofern gilt für die Zulässigkeit, dass mit den gewonnenen Informationen nicht missbräuchlich umgegangen werden darf. Die Verpflichtung, zur Verstärkung des Vertriebsnetzes beizutragen, hat die Kommission in der Saba I-Entscheidung als nicht wettbewerbsbeschränkend angesehen.690 Der EuGH sah hierdurch jedoch die Tragweite dieser den Großhändlern auferlegten Verpflichtung verkannt.691 Es sei nicht Aufgabe des Großhandels, die Produkte eines bestimmten Herstellers zu fördern, sondern dieser habe sicherzustellen, dass die Einzelhändler unter Ausnutzung der Herstellerkonkurrenz versorgt würden. Insofern geht die Pflicht, einen Beitrag zur Verstärkung des Vertriebssystems zu leisten, über das objektiv Erforderliche hinaus und könne nur nach Art. 81 Abs. 3 EG freigestellt werden. Diese Praxis wurde sodann in späteren Entscheidungen wiederholt, sodass diese Art von Klauseln dem Bereich der Vertriebsförderungspflichten zuzuordnen und damit unzulässig sind.692 Keine Wettbewerbsbeschränkung stellt hingegen bei einer ansonsten zulässigen Fachhandelsbindung die dem Händler auferlegte Unterstützungspflicht zur Überwachung des Vertriebssystems dar.693 (b) Kontrollbindungen Ist das selektive Vertriebssystem als einfache Fachhandelsbindung konzipiert, darf der Hersteller dieses auch zulässigerweise kontrollieren. Dabei ist die Kontrollpflicht akzessorisch zu der zu kontrollierenden Verpflichtung. Dieser Bindungstatbestand stelle eine Ergänzung der Hauptpflicht dar, 689 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (14, Tz. 25); Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 Nr. L 28/19 (26 f., Tz. 37). 690 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 28). 691 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1913 f.). 692 EuGH 11.12.1980 – L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791); sodann auch Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (20 f., Tz. 15). 693 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12, Tz. 11.); Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5).

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deren Befolgung sie zu sichern habe und deren Rechtsschicksal sie teile.694 Dieses erinnert an die aus dem amerikanischen Recht bekannte ancillaryrestraints-Doktrin. Danach sind wettbewerbsbeschränkende Nebenabreden zulässig, wenn sie einem wettbewerbsneutralen Hauptzweck dienen und für die Erreichung dieses Zweckes erforderlich sind.695 Ein gängiger Bestandteil selektiver Vertriebssysteme ist die den Händlern auferlegte Verpflichtung, vor Belieferung eines Abnehmers dessen Netzzugehörigkeit zu überprüfen. Eine solche persönliche Netzzugehörigkeitsüberprüfungspflicht des Händlers ist nach dem soeben dargestellten Grundsatz mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar, wenn die damit zu kontrollierende Verpflichtung keine Wettbewerbsbeschränkung darstellt und nicht über die Notwendigkeit einer angemessenen Überwachung hinausgeht.696 Soweit sie dagegen die Einhaltung einschneidender Verpflichtungen gewährleisten sollen, fallen sie unter das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG. Die Nummernkontrolle ist ein weiteres Mittel zur Kontrolle der Funktionsfähigkeit des Vertriebssystems. Durch diese wird zumeist der Großhändler697 verpflichtet, über den Käufer, das Kaufdatum und die Gerätenummern der Vertragsprodukte Buch zu führen und dem Hersteller auf Verlangen Auskunft über den Verbleib der Ware zu erteilen.698 Die Kontrolle über den Verbleib der Ware weist nach Ansicht der Kommission keinen eigenständigen wettbewerbsbeschränkenden Charakter auf, sondern dient der Absicherung der zulässigen Fachhandelsbindung. Voraussetzung ist jedoch, dass die Kontrollpflichten nicht über das hierfür erforderliche Maß hinausgehen. So muss das Auskunftsrecht auf die Fälle beschränkt bleiben, in welchen ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Vertriebsverträge bestehen.699 Grund hierfür ist, dass das durch das Kontrollrecht erlangte Wissen für den Hersteller eine effektive Möglichkeit darstellt, unerwünschte Parallelimporte aufzudecken und diese mittels Verwendung von Druckmitteln zu erschweren oder gar ganz zu unterbinden.

694 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (31); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (16 f., Tz. 6). 695 Vgl. hierzu ausführlich: Ackermann, S. 14 ff.; Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 674 ff.; Fleischer/Körber, in: WuW 2001, 6 (9). 696 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1908 f.). 697 Oder aber auch der Einzelhändler bei Veräußerung an einen Wiederverkäufer. 698 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 29). 699 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums ABl. 1992 L 12/24 (31); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (17 f.; Tz. 7).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

(7) Preisbindungen Die Preisbindung stellt, wie Art. 81 Abs. 1 lit. a EG ausdrücklich festlegt, eine Wettbewerbsbeschränkung dar. Natürlich haben Hersteller versucht, Surrogate für die grundsätzlich unzulässige Preisbindung in ihr Vertriebssystem zu integrieren. Aber auch gegen eine solche mittelbare Einflussnahme der Preise gehen die Gemeinschaftsorgane konsequent vor. Als ein derartiger Ersatz kann beispielsweise der sog. Wohlverhaltensbonus angesehen werden. Mit diesem verspricht der Hersteller seinen Händlern einen Jahresbonus, welcher an ein marktgerechtes Preisverhalten geknüpft ist. In der Sache „AEG/Telefunken“ bot sich sowohl für die Kommission700 als auch für den EuGH701 die Gelegenheit, ausführlich zu den verschiedenen Formen der Preisbeeinflussung Stellung zu nehmen. Im Ergebnis wurden alle von AEG angewandten Mittel, ihre Hochpreispolitik auf die gesamte Vertriebskette zu übertragen, als Wettbewerbsbeschränkung bewertet. c) Grundsatz der Nichtdiskriminierung Letztlich müssen die als verhältnismäßig angesehenen objektiven Kriterien auf alle potentiellen Wiederverkäufer einheitlich und unterschiedslos angewandt werden.702 Für die Systemzentrale bedeutet dieser Grundsatz, dass vergleichbare Fälle auch gleich zu behandeln sind.703 Diese Voraussetzung soll der willkürlichen Handhabung des selektiven Vertriebssystems durch den Hersteller vorbeugen. Mittels einer Ungleichbehandlung kann dieser bestimmte, ihm unliebsame Betriebsformen vom Vertrieb seiner Produkte ausschließen. Dieses wird von der Systemzentrale vor allem zum Zweck des Fernhaltens preisaggressiver oder parallelimportierender Absatzmittler vom Vertriebsnetz angestrebt.704 Zunächst setzt die Nichtdiskriminierung voraus, dass der Hersteller die Auswahlkriterien einheitlich festlegt und vor allem auch einheitlich anwen700

Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15. EuGH 25.10.1983, AEG/Komm., Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151. 702 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1905); Grünbuch, Tz. 128 i). 703 EuGH 03.07.1985, Binon/AMP, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034 (2044 f.). 704 Der Hersteller hat seine Auswahl derart vorzunehmen, dass nicht bereits von vornherein bestimmte Betriebsformen (Verbrauchermärkte, Warenhäuser etc.) vom System ausgeschlossen werden, wenn diese mittels der Einrichtung von Fachabteilungen die qualitativen Anforderungen des Herstellers zu erfüllen vermögen. Vgl. die Ausführungen der Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (24, Tz. 61). 701

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det. Dabei wird insbesondere darauf geachtet, dass die schriftlich fixierte Vorgehensweise mit der praktischen Anwendung übereinstimmt.705 Wie bereits am Beispiel der differenzierenden Vorgehensweise bei der Auswahl der Groß- und Einzelhändler gesehen706, bedeutet der Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht, dass generell alle Fälle gleich zu behandeln sind. So können zulässigerweise entsprechend der jeweiligen Marktstufe Unterschiede bei der Beurteilung der Aufnahme eines Absatzmittlers gemacht werden. Voraussetzung ist allerdings das Vorliegen eines sachlich gerechtfertigten Grundes, wie beispielsweise die voneinander abweichenden Marktgegebenheiten in den verschiedenen Mitgliedsstaaten.707 Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung gebietet zwar, all diejenigen Absatzmittler, welche die qualitativen Anforderungen erfüllen, zum Vertriebssystem zuzulassen; ein Lieferzwang des Herstellers besteht indes nicht.708 Art. 81 EG enthält daher keinen Anspruch für den nicht zum Vertriebsnetz zugelassenen Absatzmittler auf Belieferung709, sondern dieser kann lediglich die Klärung der diskriminierenden Praxis vor den zuständigen nationalen Gerichten anstreben.710 Zudem bleibt es dem nicht zugelassenen Bewerber unbenommen, Beschwerde bei der Kommission nach Art. 3 der VO Nr. 17 einzulegen, insbesondere wenn ein planmäßiges Vorgehen des Herstellers zu befürchten ist.711 Zwecks Vermeidung derartiger Vorwürfe besteht für den Hersteller lediglich die Möglichkeit, alle Händler, welche die Auswahlkriterien erfüllen, zu seinem Vertriebssystem zuzulassen oder aber durch Verwendung engerer, aber verhältnismäßiger Kriterien den Kreis der potentiellen Absatzmittler einzuschränken.712 705

Dies musste beispielsweise in der AEG/Telefunken-Entscheidung von der Kommission verneint werden, Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/ 15 (23, Tz. 56). 706 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a) aa). 707 So konnte Grundig im Rahmen ihres Vertriebssystems vom Großhandel – ohne gegen Art. 81 Abs. 1 EG zu verstoßen – in bestimmten Ländern die Durchführung eines qualifizierten Außendienstes fordern, während dies in anderen Ländern wegen der reinen Verteilerfunktion des Großhandels als nicht erforderlich angesehen wurde, vgl. Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (19, Tz. 26). 708 XIII. Wettbewerbsbericht (1983), S. 41 (Tz. 34); Langen/Bunte/v. Stoephasius, Art. 85, Rdnr. 414. 709 Etwas anderes ergibt sich, wenn die Systemzentrale als marktbeherrschendes Unternehmen i. S. d. Art. 82 EG anzusehen ist. Allein dieser kann u. U. einen Lieferzwang des Herstellers begründen, vgl. hierzu Schrödermeier, in: WuW 1987, 496 (500). 710 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1903 f.). 711 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1904). 712 Vgl. Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 58 und 59.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Ist der Systemzentrale ein planmäßiges Vorgehen hinsichtlich der diskriminierenden Anwendung nachzuweisen, verstößt das Vertriebssystem insgesamt gegen Art. 81 Abs. 1 EG. Die Planmäßigkeit liegt nicht schon bei einem isolierten Auftreten der Diskriminierung vor. Im AEG-Urteil reichte aber bereits eine geringere Anzahl von Verletzungen des Grundsatzes aus, um einen planmäßigen Verstoß zu bejahen.713 Es wird deutlich, welche Probleme sich in der Praxis bei der Beurteilung selektiver Vertriebssysteme ergeben. Zum einen ist die Geschäftsverweigerung gegenüber abnahmewilligen Händlern das Wesensmerkmal des selektiven Vertriebs714, zum anderen darf aber der Geschäftsverkehr den Absatzmittlern nicht missbräuchlich versagt werden. Die Praxis hat gezeigt, dass vor allem das Verfahren zur Anerkenntnis der Absatzmittler und die Beendigung des Vertragsverhältnisses eine diskriminierende Anwendung des Vertriebssystems begünstigen. aa) Verfahren zur Zulassung Wesentliche Ausformung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung ist die Durchführung eines ordnungsgemäßen Zulassungsverfahrens. Dabei lassen sich der Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane folgende Grundsätze entnehmen.715 Zunächst werden all diejenigen Kriterien als problematisch erachtet, die dem Hersteller einen zu weiten Ermessensspielraum lassen und daher zu willkürlichen Entscheidungen führen können.716 Da es zumeist bereits an der Objektivität und damit an der Verhältnismäßigkeit derartiger Auswahlkriterien fehlt, erübrigt sich sodann eine Erörterung der diskriminierungsfreien Anwendung.717 Aufgrund der Langfristigkeit der Vertriebsverträge umfassen diese, zwecks Gewährleistung eines gewissen Grades an Flexibilität, unbestimmte Rechtsbegriffe, die der Auslegung zugänglich sind. In derartigen Fällen wird vom Gericht erster Instanz eine eingehende und aufmerksame Kontrolle der Anwendung der Kriterien durch die nationalen Gerichte und Behörden verlangt.718 713

EuGH 25.10.1983, AEG/Komm., Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151 (3197 f.). Vgl. hierzu die juristische Präzisierung des selektiven Vertriebs unter 1. Teil, § 1, B. 715 Grundlegend hierzu: Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABL. L 376/14 (47 ff.). 716 Als Beispiel sei das Willkürrisiko bei der Vertragsanbahnung durch die subjektive Sichtweise des Herstellers bei der Begutachtung des Ladenlokals genannt. Vgl. hierzu die eingehende Kritik von Klotz, in: EuR 1993, 72 (77 ff.). 717 Eine trennscharfe Differenzierung zwischen diesen beiden Punkten ist der Praxis leider nicht immer zu entnehmen, vgl. z. B. EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1904 und 1906). 714

§ 4 Bestandsaufnahme

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Der Hersteller hat über einen Zulassungsantrag in der Regel binnen einer Frist von vier Wochen zu entscheiden.719 Diese zeitliche Begrenzung ist erforderlich, da die Systemzentrale andernfalls die Zulassung eines ihr unliebsamen Händlers hinauszögern könnte. Erfolgt eine Aufnahmeerklärung innerhalb dieser Zeitspanne nicht, gilt der Händler als anerkannt.720 Hat der Hersteller jedoch nachvollziehbare Gründe für das verzögerte Aufnahmeverfahren, bleibt es ihm frei, einen Antrag auf Einzelfreistellung gem. Art. 81 Abs. 3 EG bei der Kommission zu stellen.721 In mehrstufigen Vertriebssystemen müssen Verträge mit Großhändlern die ausdrückliche Möglichkeit vorsehen, dass auch diese Einzelhändler zum Vertriebsnetz zulassen können.722 Der Hersteller könne durch unverzügliche Weiterleitung des unterzeichneten Vertriebsvertrages und des Prüfberichts gegebenenfalls eine nachträgliche Kontrolle des durch den Grossisten zugelassenen Einzelhändlers vornehmen.723 Grund für diese Kompetenzaufteilung ist die damit einhergehende verminderte Diskriminierungsmöglichkeit des Herstellers. Die Auswahl der Großhändler kann hingegen, aufgrund der grundsätzlich geringeren Anzahl von Händlern auf dieser Marktstufe, in der alleinigen Entscheidungsgewalt des Herstellers verbleiben.724 bb) Verfahren zum Ausschluss anerkannter Händler Zudem kann die Ausübung des Kündigungsrechts innerhalb eines bestehenden Vertriebsvertrages diskriminierend angewendet werden. Aus diesem Grund ist es dem Hersteller verwehrt, gegenüber einzelnen Händlern eine ordentliche Kündigung auszusprechen, wenn diese die qualitativen Anforderungen erfüllen. Konsequenterweise müsste der gerade ausgeschlossene Absatzmittler alsbald nach der Kündigung ohnehin wieder aufgenommen werden, da der Hersteller andernfalls das Zulassungsverfahren zu seinem Vertriebssystem diskriminierend praktizieren würde. Insofern besteht das Recht der ordentlichen Kündigung ausschließlich im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Aufgabe aller Vertriebsverträge und damit des gesamten Vertriebssystems.725 718

EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1914). Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/14 (47 f.); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 33). 720 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (48). 721 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (29 ff.). 722 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5). 723 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (48). 724 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (48). 719

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Dem Hersteller verbleibt aber die Möglichkeit, einzelne Vertriebsverträge aus wichtigem Grund zu kündigen oder aber eine Liefersperre zu verhängen. Relevant sind in diesem Zusammenhang die Fälle, in denen der Händler entweder die fachlichen Anforderungen nicht mehr erfüllt oder aber derartig vertragsbrüchig wird, dass er das Vertriebssystem in seinem Bestand gefährdet.726 Aber auch an die Kündigung aus wichtigem Grund sind enge Voraussetzungen geknüpft, da neben dem Schutz vor einer diskriminierenden Anwendung auch die getätigten, zum Teil recht hohen Investitionen der Händler berücksichtigt werden müssen. Die Kündigung ist dem betroffenen Händler in begründeter Form mitzuteilen, damit er sich gegen diese gerichtlich zur Wehr setzen kann. Die Beweislast trägt der Hersteller. Der endgültige Ausschluss aus dem Vertriebssystem erfolgt erst, wenn der Kündigungsgrund von dem Händler nicht bestritten wird oder aber mit der endgültigen gerichtlichen Klärung der Rechtsbeziehungen der Beteiligten.727 Offensichtlich großzügiger ist die Kommission nunmehr gegenüber Kündigungsregelungen in selektiven Vertriebssystemen eingestellt. So scheint sie, ganz im Gegensatz zu der SABA II-Entscheidung, dem ordentlichen Kündigungsrecht des Herstellers gegenüber einzelnen Absatzmittlern keine wettbewerbsbeschränkende Wirkung mehr beizumessen.728 So konnte die Schott-Zwiesel-Glaswerke AG die Verträge innerhalb einer Frist von sechs Monaten kündigen. Bedenken hiergegen äußerte die Kommission nicht. d) Kumulative Wirkung Aufgrund der oben genannten Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane ist man geneigt, die einfache Fachhandelsbindung als per se zulässig anzusehen. Dies ist aber nur insofern richtig, als selbst einem einfachen selektiven Vertriebssystem schließlich noch unter einem weiteren Aspekt die Nichtigkeitsfolge des Art. 81 Abs. 2 EG drohen kann. Bereits im ersten Metro-Urteil führte der EuGH aus, dass die Existenz einer bestimmten Anzahl von Vertriebssystemen ein zu berücksichtigender Faktor im Rahmen 725

Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. Nr. 376/41 (48); Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 33). 726 Die Kommission erachtet in diesem Zusammenhang das Vorliegen eines „Lockvogelangebots“ nicht als Bestandsgefährdung des Vertriebssystems an, vgl. Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (49). 727 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (20, Tz. 33). 728 Mitteilung der Komm. v. 21.04.1993, Schott-Zwiesel-Glaswerke, ABl. C 111/4.

§ 4 Bestandsaufnahme

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der Prüfung der Zulässigkeit einer einfachen Fachhandelsbindung sei.729 Konkretisiert und ausführlicher dargelegt wurde dieser Punkt sodann im Metro II- Urteil. Selektive Vertriebssysteme seien zwar ein mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbarer Bestandteil des Wettbewerbs, doch kann es gleichwohl dann zu einer Wettbewerbsbeschränkung kommen, „wenn die Zahl dieser Systeme keinen Raum mehr für Vertriebsformen lässt, denen eine andere Wettbewerbspolitik zugrunde liegt, oder wenn sie zu einer Starrheit der Preisstruktur führt, die nicht durch andere Faktoren des Wettbewerbs zwischen Erzeugnissen derselben Marke und durch das Bestehen eines echten Wettbewerbs zwischen verschiedenen Marken aufgewogen wird“.730 Mit diesen Ausführungen stellte der EuGH zunächst einmal klar, was der Kommission neben der Klägerin auch insbesondere vom Generalanwalt zum Vorwurf gemacht wurde: Die kumulativen Wirkungen von Vertriebssystemen auf einem Markt seien bereits bei der Prüfung des Art. 81 Abs. 1 EG zu berücksichtigen und nicht erst im Rahmen einer möglichen Freistellung nach Absatz 3. Zudem bestätigt der EuGH, was er neun Jahre zuvor schon andeutete: Grundsätzlich kann die umfangreiche Verbreitung selektiver Vertriebssysteme innerhalb eines Marktes der Zulässigkeit eines angemeldeten Vertrages entgegenstehen. Im Umkehrschluss heißt das aber nach der Rechtsprechung nicht, dass allein die vorhandene größere Anzahl von Vertriebssystemen die Unwirksamkeit des angemeldeten Systems zur Folge hat, sondern hierfür sind allein die tatsächlichen Auswirkungen auf die Wettbewerbslage in dem betroffenen Markt entscheidend.731 Die oben dargestellte Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane, anhand der drei Voraussetzungen der Notwendigkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung die Zulässigkeit eines selektiven Vertriebssystems zu begründen bzw. zu verneinen, hat eine an der Produkteigenschaft und damit am Einzelfall orientierte Beurteilung von einfachen Fachhandelsbindungen deutlich werden lassen. Mit der Frage nach der Verbreitung selektiver Vertriebssysteme weiterer Hersteller wird nunmehr ausdrücklich auch das wettbewerbliche Umfeld in dem jeweiligen Markt in die Untersuchung miteinbezogen. In der bisherigen Praxis hat jedoch in keiner Entscheidung die Berücksichtigung der Marktstruktur zur Unvereinbarkeit eines Vertriebssystems mit Art. 81 EG geführt. Die Fälle, in denen die kumulativen Effekte hätten be729 730 731

EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1906). EuGH 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021 (3022 und 3085). EuGH 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021 (3085).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

rücksichtigt werden können, wurden im Gegenteil auf fragwürdige Art und Weise gelöst. Bereits der Fall „Metro II“ zeigt, dass die erhebliche Zunahme selektiver Vertriebssysteme732 auf dem Markt für Unterhaltungselektronik weder die Kommission noch den EuGH dazu veranlasste, der Vertriebsvereinbarung von SABA eine andere kartellrechtliche Würdigung zuteil werden zu lassen als in der ersten Freistellungsentscheidung. Der EuGH gelangte zu diesem Ergebnis, indem er eine getrennte Prüfung von „einfachen“ selektiven und „qualifizierten“ Vertriebssystemen vornahm.733 Warum eine derartig Unterscheidung bei der Bewertung der Kumulationswirkung notwendig sein soll, ist unverständlich.734 Gerade in dem hier zu prüfenden Bereich sind die (wettbewerbsschädlichen) Auswirkungen stets gleich, unabhängig davon, ob noch einigen Händlern zusätzliche Vertriebsförderungspflichten auferlegt wurden oder nicht. Ebenso wenig überzeugend argumentiert der EuGeI in den Leclerc I und II-Urteilen.735 Der Markt für Luxusparfums und -kosmetika zeichnete sich dadurch aus, dass nahezu jeder Hersteller seine Erzeugnisse mittels selektiver Vertriebssysteme absetzte. Auch hier nötigte diese Tatsache weder die Europäische Kommission noch den EuGeI dazu, eine andere Bewertung der Vertriebsverträge von „Yves Saint Laurent“ oder „Givenchy“ vorzunehmen. Zunächst legte der EuGeI dar, wie er die aus dem Metro II-Urteil gewonnenen Grundsätze in diesem Fall verstanden sehen wollte.736 Art. 81 Abs. 1 EG müsse keineswegs automatisch angewendet werden, nur weil sich sämtliche Hersteller innerhalb eines Marktes selektiver Vertriebssysteme bedienen würden. Die kumulierenden Wirkungen von Vertriebssystemen seien nur unter zwei Voraussetzungen zu berücksichtigen: Erstens, wenn nachgewiesen wird, dass Hindernisse für den Marktzugang für neue Mitbewerber bestehen, die zum Verkauf der betreffenden Produkte in der Lage seien, sodass eine Marktabschottung zugunsten der bestehenden Vertriebssysteme eintritt, oder aber zweitens, wenn aufgrund der Natur der betreffenden Produkte ein wirksamer Wettbewerb insbesondere bei den Preisen nicht besteht. Da der EuGeI bereits zuvor feststellte, dass dem Vertriebssystem nicht die Tendenz zum Verhindern des Marktzugangs neuer 732 90% der Erzeugnisse aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik wurden mittels selektiver Vertriebssysteme abgesetzt. 733 EuGH 22.10.1986, Metro II, Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021 (3085). 734 So auch Schrödermeier, in: WuW 1987, 496 (498). 735 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 ff.; EuGeI v. 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 ff. 736 EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1918 f.); EuGeI 12.12.1996, Leclerc II, Rs. T-88/92, Slg. 1996 II-1961 (2027 f.).

§ 4 Bestandsaufnahme

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Mitwettbewerber innewohnte, wurden die Aussagen im Folgenden allein auf die Untersuchung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem betreffenden Markt beschränkt. Hierfür wurde zunächst der relevante Markt abgegrenzt, der sich nach ihrer Ansicht – mangels Substituierbarkeit – ausschließlich auf die Produkte aus dem Bereich Luxusparfums bezog.737 Die Prüfung der Wirksamkeit des Wettbewerbs erfolgte sodann anhand der Bezugnahme auf die von „Yves Saint Laurent“ bzw. „Givenchy“ gegenüber der Kommission gemachten Zugeständnisse vor der Anmeldung der jeweiligen Vertriebverträge. Es wird also nicht auf die Struktur des zuvor abgegrenzten relevanten Marktes eingegangen, sondern anstatt dessen wieder das konkrete Vertriebssystem in Augenschein genommen. Letztlich habe die Klägerin zudem keine Nachweise erbringen können, die verdeutlichen, dass der Markt so starr und strukturiert sei, dass kein wirksamer Wettbewerb mehr bestehe. Unter dem Blickwinkel der Feststellung, dass einer im Auftrag der Kommission entstandenen Untersuchung738 aus dem Jahre 1988 entnommen werden konnte, dass zwischen den Luxusparfumhändlern und anderen Vertriebsformen ein nur sehr beschränkter Wettbewerb besteht und der zuvor gemachten Feststellung, dass auf dem Sektor der Luxuskosmetika nahezu alle Hersteller ihre Waren über Systeme vertreiben, die denen von „Yves Saint Laurent“ und „Givenchy“ gleichen, ist die Begründungsarbeit des EuGeI wenig überzeugend. An dieser Vorgehensweise ist vor allem zu kritisieren, dass die kumulative Wirkung richtigerweise als Korrektiv für die ausschließlich einseitige Sichtweise eines konkreten Vertriebssystems verwendet werden sollte, um die tatsächlichen Auswirkungen auf dem Markt zu berücksichtigen. Das Abstellen auf die von „Yves Saint Laurent“ bzw. „Givenchy“ gegenüber der Kommission gemachten Zugeständnisse als Indiz für die Nichtausschaltung des Wettbewerbs ist wettbewerbspolitisch verfehlt. Nicht erneut sollte allein das konkrete Vertriebssystem im Vordergrund stehen, sondern die Betrachtungsperspektive ist gerade hier weiter zu ziehen, indem vor allem das wettbewerbliche Umfeld zu berücksichtigen ist. Die Leclerc-Urteile bestätigen, dass die kumulative Wirkung einer Vielzahl von ähnlichen Vertriebssystemen auf dem betreffenden Markt de facto 737 Wobei das Gericht erster Instanz den relevanten Markt im Gegensatz zur Kommission allein im Hinblick auf Luxusparfums abgegrenzt hat, während die Kommission den gesamten Markt für Luxuskosmetika als relevant ansah, EuGeI 12.12.1996, Leclerc I, Rs. T-19/92, Slg. 1996, II-1851 (1919 f.). 738 André Paul Weber, Les systèmes de distribution sélective dans la Communauté du point de vue de la politique de la cuncurrence: le cas de l’industrie des parfums et des produits cosmétiques.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

keine Rolle spielt. Ursache dessen könnte sein, dass sich bei Annahme einer Wettbewerbsbeschränkung Probleme hinsichtlich der Rechtsfolge ergeben. Erste Folge wäre natürlich die Unzulässigkeit des konkret in Frage stehenden Vertriebssystems. Hierdurch träte aber gegenüber den anderen Vertriebssystemen, die bereits auf dem Markt tätig sind, insofern eine Benachteiligung ein, als diese zulässig sind, die Unzulässigkeit des letzten Vertriebssystems aber auf der Existenz dieser zulässigen Systeme beruht. Die Grenzziehung zwischen Zulässigkeit und Unzulässigkeit könnte dann willkürlich erfolgen. Andererseits kann es weder im Interesse der bereits auf dem Markt zulässig tätigen Vertriebssysteme noch im Sinn des Verbrauchers sein, sämtliche Vertriebssysteme einer Branche als unzulässig zu erachten. Dieser entstehende Konflikt darf aber nicht dazu führen, dass lieber der Weg einer nicht nachvollziehbaren Argumentationsweise gegangen wird, als derartige Fälle anhand von dogmatisch einwandfreien Grundsätzen im Sinne der Rechtssicherheit739 zu entscheiden. IV. Zwischenstaatlichkeitsklausel Nach Art. 81 EG sind nur diejenigen Maßnahmen verboten, welche den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind. Zweck dieser sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel ist die Abgrenzung des Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts von dem des innerstaatlichen Rechtes.740 Die materiellrechtliche Bedeutung der Zwischenstaatlichkeitsklausel ist eher gering, da sie einer außerordentlich weiten Auslegung durch die Gemeinschaftsorgane unterzogen wird. Es kommt darauf an, ob eine Absprache unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach geeignet ist, die Freiheit des Handels in einer Weise zu gefährden, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig ist.741 Dabei muss die Beeinträchtigung nicht tatsächlich eintreten, sondern es kommt ausschließlich auf deren Eignung an.742 Hierfür ist eine Wahrscheinlichkeitsprognose in der Form anzustellen, dass der Wettbewerb zu betrachten ist, wie er ohne die fragliche Maßnahme bestehen würde.743 739 Vgl. auch Hermanns, in: WRP 1978, 172 (174) unter Verweis auf die für Unternehmen erforderliche Rechtssicherheit in diesem Bereich. 740 EuGH 31.5.1979, Hugin/Komm., Rs. 22/78, Slg. 1979, 1869 (1899). Vgl. ausführlich zur Zwischenstaatlichkeitsklausel: Mayer; Jung, S. 38 ff. 741 EuGH 07.06.1983, Musique Diffusion Française/Komm., Rs. 100 bis 130/80, Slg. 1983, 1825 (1900). 742 EuGH 01.02.1978, Miller/Komm., Rs. 19/77, Slg. 1978, 131 (151). 743 EuGH 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3792).

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Die Entscheidungspraxis der Organe bezüglich selektiver Vertriebssysteme weicht im Wesentlichen nicht von diesen Grundsätzen ab. Auffällig ist nur, dass in den seltensten Fällen eine Prüfung der hypothetischen Marktsituation erfolgt744, sondern vielmehr fallgruppenartig die Eignung zur Handelsbeeinträchtigung bejaht wird. Bei folgenden Sachverhalten geht die Kommission davon aus, dass sie schon ihrem Wesen nach dazu geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. Wird ein Vertriebssystem einheitlich in den Ländern der Gemeinschaft angewandt, regelt dieses offensichtlich den Warenaustausch zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten.745 Aber auch ein bloß national errichtetes Vertriebssystem kann seinem Wesen nach den gemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen, weil eine Verfestigung nationaler Märkte eintritt oder dadurch die vom Vertrag gewollte wirtschaftliche Verflechtung behindert wird, indem die inländische Produktion geschützt werden soll.746 Die Auferlegung eines Export- bzw. Importverbotes führt evident zu einer Beeinträchtigung des Handelsverkehrs im Gemeinsamen Markt.747 In der Beurteilung problematischer gestaltet sich hingegen die Verpflichtung, die Erzeugnisse nicht in Drittstaaten exportieren zu dürfen. In diesem Fall ist fraglich, ob eine Handelsbeeinträchtigung erfolgen kann, wenn sie doch primär ihre Auswirkungen auf außerhalb der EG liegenden Märkten entfalten. Die Kommission hat die Rückwirkungen auf den Gemeinsamen Markt und damit einen Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG abgelehnt.748 Die doppelte Zollbelastung würde weder für den Händler noch den Verbraucher einen Anreiz darstellen, aus einem Drittstaat Ware zu beziehen.749 Anders fiel die Beurteilung in der SABA I-Entscheidung aus.750 Hier verpflichtete die Kommission den Hersteller, die Export- und Reimportverbote hinsichtlich der EFTA-Staaten fallen zu lassen, da ab dem 01.07.1977 die Zollbelastung aufgehoben wurde.751 744 Ein Beispiel für einen (ausnahmsweise) vorgenommenen Vergleich der Marktsituationen ist die Entscheidung der Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/ 57 (61, Tz. 19). 745 Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (26, Tz. 72); Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (3, Tz. 16); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 35). 746 EuGH 16.06.1981, Salonia/Pidomani u. Giglio, Rs. 126/80, Slg. 1981, 1563 (1578); Komm. v. 13.12.1974, BMW, ABl. 1975 L 29/1 (5 f., Tz. 19). 747 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (21 f., Tz. 18). 748 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (14, Tz. 24); Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (26, Tz. 35). 749 Eine Einschränkung gilt aber insofern, als die Zulässigkeit des Exportverbotes hinsichtlich der Staaten, mit denen die EWG Freihandelsabkommen geschlossen hat, nur befristet bis zum 01.07.1977 galt, da zu diesem Zeitpunkt die Zollbelastung entfiel. 750 Komm. v. 15.12.1975, SABA I, ABl. 1976 L 28/19 (24, Tz. 21).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Interessant ist auch, dass sich die hier oben festgestellte Akzessorietät zwischen Selektionskriterium und entsprechender Kontrollbindung fortsetzt. So hat der EuGeI in der Sache „Vichy“ entschieden, dass ein unzulässiges, weil quantitatives Auswahlkriterium, gerade deswegen zu einer Handelsbeeinträchtigung führt, weil der Parallelhandel anderer Wirtschaftsteilnehmer zur Ausnutzung der bestehenden Preisunterschiede verhindert werden könne.752 V. Spürbarkeit Weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 81 Abs. 1 EG ist nach ständiger Entscheidungspraxis die Spürbarkeit.753 Mittels dieser sog. de-minimis-Regel754 sollen Bagatellfälle aus dem Anwendungsbereich der Verbotsnorm ausgeschlossen werden, sodass an sich kartellrechtlich unzulässige Vereinbarungen wegen ihrer geringen wirtschaftlichen Bedeutung nicht gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßen können.755 Die Spürbarkeit bezieht sich sowohl auf die Wettbewerbsbeschränkung als auch auf die Handelsbeeinträchtigung, sodass sie in doppelter Hinsicht Bedeutung erlangt. In der Praxis wird eine derartige Differenzierung oftmals nicht deutlich durch die Gemeinschaftsorgane vorgenommen, sondern es handelt sich im Wesentlichen bei beiden um dieselbe Spürbarkeitsprüfung.756 Die Frage nach den Auswirkungen einer Vereinbarung auf Dritte wird von der Kommission primär anhand von quantitativen Kriterien ermittelt; zumeist durch die Ermittlung des Marktanteils in dem vorher abzugrenzenden relevanten Markt. Bereits 1970 versuchte sie mit ihrer ersten Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung757, das Spürbarkeitskriterium mittels Marktanteilen und Umsatzschwellenwerten im Sinne der Rechtssicherheit zu quantifizieren. Seitdem ist die Kommissionspraxis auch vorwiegend durch die Verwendung der dort aufgestellten Kriterien geprägt. 751

Vgl. ausführlich hierzu Heidmeier, S. 175 f. EuGeI 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/92, Slg. 1992, II-415 (446). 753 EuGH 30.6.1966, LTM/MBU, Rs. 56/65, Slg. 1966, 281 (303 f.). 754 Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. v. 22.12.2001, C 368/13. 755 Jestaedt/Bergau, in: WuW 1997, 119. 756 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (3, Tz. 16); Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985, L 19/17 (21 f., Tz. 18); Gleiss/Hirsch, Art. 85 (1), 1. Kap. E, Rdnr. 258; I/M/Emmerich, Art. 85 Abs. 1, Rdnr. 201. 757 Bekanntmachung der Komm. vom 27.05.1970 über Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von geringer Bedeutung, ABl. C 64/1. 752

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Da eine Bekanntmachung keine Bindungswirkung im Außenverhältnis entfaltet, sind die europäischen Gerichte nicht zu deren Einhaltung verpflichtet.758 Der Entscheidungspraxis des EuGH ist eine am Einzelfall orientierte Vorgehensweise zu entnehmen, wobei sowohl qualitative als auch quantitative Kriterien zur Anwendung kommen. Berücksichtigung finden dabei insbesondere die Art und Menge der Erzeugnisse, die den Gegenstand der Absprache bilden, die Stellung und Bedeutung der Parteien und/ oder das mögliche Aufeinandertreffen einer Mehrzahl von ähnlichen Vereinbarungen.759 Hinsichtlich der konkreten Vorgehensweise bei der Untersuchung selektiver Vertriebssysteme auf ihre Spürbarkeit ergeben sich keine nennenswerten Unterschiede zu diesen Grundsätzen. Meist wird die Spürbarkeit unter Hinweis auf die Marktanteile des Herstellerunternehmens bejaht.760 Dabei reichte in mehreren Entscheidungen sowohl der Kommission als auch des EuGH vom Umfang her ein Marktanteil von 5% auf dem betreffenden Markt aus, um den Handel spürbar zu beeinträchtigen.761 Aber auch andere Kriterien können in die Bewertung der Spürbarkeit mit einfließen. Sowohl Kommission als auch EuGeI wollen beispielsweise die kumulative Wirkung von Vertriebssystemen in ihrem wirtschaftlichen Kontext berücksichtigt sehen.762 Im Fall „Grohe“ lag die Spürbarkeit in der Schwere des Wettbewerbsverstoßes.763 In neueren Entscheidungen hat die Kommission die 758 Dies stellen die Bekanntmachungen auch ausdrücklich klar, vgl. z. B. Bekanntmachung der Komm. v. 09.12.1997, ABl. Nr. C. 372/13 (Tz. 7). Ausführlich zur Bindungsproblematik: Jestaedt/Bergau, in: WuW 1998, 119 (123 ff.). 759 EuGH 30.6.1966, LTM/MBU, Rs. 56/65, Slg. 1966, 281 (304); EuGH 01.02.1978, Miller/Komm., Rs. 19/77, Slg. 1978, 131 (148 ff.). 760 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 133/1 (5); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 35); Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (3, Tz. 16). 761 EuGH 25.10.1983 – AEG/Komm., Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151 (3201; Tz. 58); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (18; Tz. 8); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (31). 762 Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (61); EuGeI v. 27.02.1992, Vichy, Rs. T-19/92, Slg. 1992, II-415 (447 f.); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (31); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (18; Tz. 8). Dies geht auch aus den Bekanntmachungen hervor, vgl. die Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. v. 09.12.1997, C 372/13 (15, Tz. 20); Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. v. 22.12.2001, C 368/13 (14, Tz. 8). 763 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (21 f., Tz. 18). Angesichts des Ausschlusses aller Großhändler, die sich weigern, nur bestimmte Abnehmer zu beliefern und des generellen Ausschlusses aller Einzelhändler, die keine Sanitärinstallateure sind, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Maßnahmen einen spürbaren Einfluss auf den zwischenstaatlichen Handel ausüben. Sodann wird auf den Marktanteil eingegangen.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung und der Handelsbeeinträchtigung überdies mit der mangelnden Substituierbarkeit der Produkte begründet.764 Eine erwähnenswerte Ausnahme zu dieser relativ einheitlichen Entscheidungspraxis stellt die Kommissionsentscheidung „Villeroy&Boch“ aus dem Jahre 1985 dar.765 In dieser wird die Spürbarkeit aufgrund der besonders wettbewerbsfördernden Angebotsstruktur auf dem Markt, dem Nichtbestehen von Verpflichtungen der Einzelhändler, bestimmte Verkaufsziele zu erreichen, und der weiterhin bestehenden Freiheit der Absatzmittler, ihre Geschäftspolitik autonom zu gestalten, verneint. Erst im Anschluss an diese erstmalig derart angestellten Überlegungen wird auf die „klassischen“ Kriterien des Marktanteils und der kumulativen Wirkungen eingegangen. Wobei hier einem Marktanteil von weniger als 10% in jedem einzelnen Mitgliedsstaat die Eignung zur spürbaren Beeinträchtigung des Wettbewerbs abgesprochen wurde. Diese Entscheidung ist Beleg für den wettbewerbspolitischen Handlungsspielraum, der sich im Rahmen der Prüfung der Spürbarkeit für die Gemeinschaftsorgane bietet. Das Spürbarkeitserfordernis kann ein vortreffliches Mittel darstellen, um außerwettbewerbliche Zwecke in die Entscheidungen mit einfließen zu lassen. Mittels dieses Tatbestandsmerkmals können daher wünschenswerte Verhalten als nicht wettbewerbsbeschränkend qualifiziert und so aus dem Anwendungsbereich der Verbotsnorm herausgenommen werden. Beispielhaft hierfür ist die Privilegierung von Vereinbarungen von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in den Bagatellbekanntmachungen.766 De facto werden KMU grundsätzlich vom Kartellverbot freigestellt, unabhängig von den tatsächlichen Auswirkungen auf dem Gemeinsamen Markt. Diese Regel ist mittelstandspolitisch motiviert und kann durch den geschaffenen Ausnahmebereich im Rahmen der Spürbarkeit zu Lasten des Wettbewerbsprinzips durchgesetzt werden.767 Aus wettbewerbstheoretischer Hinsicht sehr interessant ist auch die Entwicklung der Bagatellbekanntmachungen von 1970 bis zu der jetzt geltenden Fassung aus dem Jahre 2001768. Bis Mitte der 90er Jahre wurden bei den aufgestellten Schwellenwerten keine Differenzierungen hinsichtlich der 764 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (31); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (18; Tz. 8). 765 Komm. v. 16.12.1985, Villeroy&Boch, ABl. L 376/15. 766 Vgl. Bekanntmachung der Komm. v. 03.09.1986 über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. C 231/2 (Tz. 1). Hierin besteht zugleich ein deutlicher Unterschied zu den Thesen der Chicago School, da der Mittelstandsschutz als Zweck der Wettbewerbspolitik abgelehnt wird, vgl. schon oben unter 1. Teil, § 2, F. 767 Gleiches gilt für die Bereiche der Forschungs- und Technologiepolitik und der Verkehrs-, Energie- und Umweltpolitik, vgl. Oberender/Okruch, in: WuW 1994, 507 (511 f.).

§ 4 Bestandsaufnahme

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Art der Vereinbarung gemacht. Erst mit der 1997 veröffentlichten Bekanntmachung wurde eine Trennung zwischen Horizontal- und Vertikalvereinbarungen vorgenommen.769 Zudem ist diese Bekanntmachung von einer stark ökonomischen Sichtweise geprägt, wie beispielsweise der Wegfall des Umsatzkriteriums zeigt, damit auch Großunternehmen von der de-minimis-Regel profitieren können. Als Begründung für die unterschiedlichen Schwellenwerte nannte die Kommission, dass vertikale Vereinbarungen überhaupt nur dann eine Gefahr für den Wettbewerb darstellen, wenn sie den Zugang von Drittunternehmen zu Absatzmärkten oder Versorgungsquellen erheblich beeinträchtigen und so zur Marktabschottung oder zur Erstarrung der bestehenden Wettbewerbsstrukturen beitragen.770 So sei die beschränkende Wirkung von derartigen Vereinbarungen im Vergleich zu dem positiven Einfluss auf die Entwicklung des Wettbewerbs als gering anzusehen. Diese Kehrtwende in der Beurteilung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen ist im Zusammenhang mit dem ebenfalls 1997 veröffentlichten Grünbuch der Kommission zu sehen und ist Gegenstand der Untersuchung im 2. Teil. VI. Zwischenergebnis Die bisherige Entscheidungspraxis zu selektiven Vertriebssystemen wird dominiert von der Prüfung, ob eine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG vorliegt. Dies wird von der Europäischen Kommission für offene Vertriebssysteme und die einfache Fachhandelsbindung in der Regel verneint, während die qualifizierte Fachhandelsbindung und die quantitative Selektion stets unter den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG fallen. Aufgrund der extensiven Auslegung des Merkmals der Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Selbständigkeitspostulats und dem damit einhergehenden umfassenden Schutzbereich der Norm ist die Ausklammerung der einfachen qualitativen Selektion aus dem Tatbestand durchaus problematisch, da formal eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt. Die Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane kann weder als „Lehre“ vom nicht schützenswerten Wettbewerb noch als Rule of Reason interpretiert werden. Eine 768 Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. v. 22.12.2001, C 368/13. 769 Bekanntmachung der Komm. über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. v. 09.12.1997, C. 372/13 (Tz. 9). Für Horizontalvereinbarungen gilt eine Marktanteilsschwelle von 5% und für vertikale Verträge von 10%. 770 Mitteilung der Kommission vom 30.01.1997 über die Änderung ihrer Bekanntmachung vom 03.09.1986 betreffend Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. C 29/3 (4, Tz. 6).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

derart deutliche Abwägung zwischen Interbrand- und Intra-brand-Wettbewerb findet nicht statt. Im Gegenteil zeigt die Praxis zu selektiven Vertriebssystemen, dass der Intrabrand-Wettbewerb stets als eigenständiges Schutzgut anerkannt wird. So werden selektive Vertriebssysteme im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG stets anhand der drei Voraussetzungen der produktbedingten Notwendigkeit, der Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien sowie deren diskriminierungsfreien Anwendung geprüft. Das Paradigma des Rechts des selektiven Vertriebs ist die Produkteigenschaft. Von dieser hängt ab, ob der Hersteller überhaupt seine Erzeugnisse mittels dieser Absatzstrategie vertreiben darf. Zudem sind sowohl die Auswahlkriterien als auch die einzelnen Vertragsklauseln771 zu der Beschaffenheit des Produktes akzessorisch. Insofern steht auch mehr das vom Hersteller verfolgte Selektionskonzept im Vordergrund als die Bewertung der einzelnen Vertragsklausel. Kaum Berücksichtigung findet das ökonomische Umfeld, innerhalb dessen sich das jeweilige Vertriebssystem abspielt. Die besonderen Rechtfertigungsgründe, die für ein selektives Vertriebssystem stets vorzuliegen haben, stellen wettbewerbspolitische Mittel zur Sicherstellung des Intrabrand-Wettbewerbs dar. Damit wird der Händlerfreiheit ein große Bedeutung beigemessen. Als Ursache hierfür ist sicherlich auch die marktintegrierende Wirkung des Intrabrand-Wettbewerbs zu nennen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gemeinschaftsorgane stets gleichermaßen auch den Interbrand-Wettbewerb gewährleisten wollen. Ebenfalls große Berücksichtigung findet die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Vertriebsformen. Mit der eigenständigen Schutzbedürftigkeit des Intrabrand-Wettbewerbs setzt sich das europäische Recht eindeutig in Widerspruch zu den Lehren der Chicago School. Nach dieser kommt der produktinternen Konkurrenz bei einem funktionsfähigen Markenwettbewerb keine selbstständige Bedeutung zu. Eine tendenziell großzügigere Zulassung selektiver Vertriebssysteme kann seit Anfang der 90er Jahre festgestellt werden. Mehr als zuvor wird das Schwergewicht bei der Berücksichtigung der ambivalenten Interessenlagen auf die Freiheit des Herstellers an einer autonomen Vertriebswegegestaltung gelegt. Diese Vorgehensweise kann durchaus als Reaktion auf die Kritik der Chicago School verstanden werden. Dem Grunde nach wird sich aber nach wie vor darum bemüht, allen drei Formen der Konkurrenz, also Interbrand-, Intrabrand- und Intertype-Wettbewerb, so weit wie möglich Geltung zu verschaffen. 771

Vgl. zur Zulässigkeit der einzelnen Vertragsklauseln die Tabelle im Anhang 2.

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C. Der selektive Vertrieb im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG I. Grundsystematik Ein Verstoß gegen Absatz 1 des Art. 81 EG löst grundsätzlich die Nichtigkeitsfolge des Absatzes 2 aus. Aber auch das europäische Kartellrecht kommt nicht umhin, von dem strikten Kartellverbot Ausnahmen zuzulassen. Im Unterschied zum deutschen Recht des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen entschied sich der europäische Gesetzgeber gegen eine konkretere Aufzählung von zulässigen Ausnahmen, sondern hat mit Art. 81 Abs. 3 EG eine generalklauselartige Vorschrift erlassen. Dabei darf der Wortlaut des Art. 81 Abs. 3 EG, dass die Bestimmungen des Absatz 1 für nicht anwendbar erklärt werden „können“, nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Freistellungsentscheidung zugunsten des Unternehmens zu ergehen hat, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen.772 Art. 81 Abs. 3 EG ist keine Ermessensnorm. Auf der Tatbestandsebene hingegen eröffnet die Vorschrift aufgrund der weitgefassten Formulierungen der einzelnen materiellen Anforderungen an eine an sich wettbewerbsbeschränkende Maßnahme einen weiten Beurteilungsspielraum der Kommission. Dieser wird noch dadurch verstärkt, dass der EuGH in seinen Entscheidungen nur überprüfen kann, ob die Kommission von richtigen Tatsachen ausgegangen ist und eine korrekte Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe vorgenommen hat oder aber ein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorliegt.773 Die generalklauselartige Fassung des Art. 81 Abs. 3 EG hat zur Folge, dass theoretisch jede Absprache, also auch eine aus dem Beispielskatalog des Absatz 1, freistellungsfähig ist. Der Anwendungsbereich der Norm ist auf keine formellen Tatbestände eingeschränkt774 und auch von der Formulierung eines per se Verbotsbereichs wurde abgesehen.775 Dabei obliegt es den Unternehmen, die Anhaltspunkte zu liefern, dass ihre Maßnahmen den Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG entsprechen.776 Die Kommission muss jedoch entsprechend den Grundsätzen einer 772

I/M/Sauter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 5. EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (396). 774 Baldi, S. 288. 775 Vgl. die Antwort v. 19.01.1977 der Komm. auf die schriftliche Anfrage Nr. 675/76 v. 02.12.1976, ABl. 1977, C 50/15 (16). 776 EuGH 17.01.1984, VBVB/VBBB/Komm., Rs. 43 und 63/82, Slg. 1984, 19 (68); EuGeI 15.07.1994, Matra Hachette/Komm., Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595 (631). 773

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

ordnungsgemäßen Verwaltungsführung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Aufklärung des rechtserheblichen Sachverhalts beitragen.777 II. Möglichkeiten der Freistellung Art. 81 Abs. 3 EG sieht zwei Möglichkeiten der Freistellung vor: Vereinbarungen können im Einzelfall oder gruppenweise von dem Verbot des Absatz 1 ausgenommen werden. 1. Einzelfreistellung Der Vertrag nennt als erste Alternative, eine wettbewerbsbeschränkende Maßnahme zu legalisieren, die Erklärung der Nichtanwendbarkeit des Absatz 1 im Einzelfall. Inhalt, Dauer und Verfahren einer derartigen Freistellungsentscheidung ist in der 1962 erlassenen VO Nr. 17 geregelt. Die Zuständigkeit für den Erlass einer förmlichen Einzelfreistellung wird nicht durch das Primärrecht bestimmt, sondern obliegt nach Art. 83 Abs. 2 EG dem sekundären Gemeinschaftsrecht. Nach Art. 9 Abs. 1 der VO Nr. 17 hat die Europäische Kommission die alleinige Kompetenz, Freistellungsentscheidungen zu erlassen. Diesem sog. Freistellungsmonopol der Kommission lag der Gedanke zugrunde, dass im Sinne der Rechtseinheit die nationalen Behörden von der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG ausgeschlossen sein sollten. Unabdingbare Voraussetzung für den Erlass einer derartigen Entscheidung ist die Anmeldung der Vereinbarung bei der Europäischen Kommission, Art. 4 VO Nr. 17.778 Erst im Anschluss hieran kann sie die Unbedenklichkeit einer wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen erklären. Diese kann die Kommission gem. Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 17 unter Bedingungen und Auflagen stellen. Häufig teilt sie den betroffenen Unternehmen jedoch bereits vorher mit, dass bestimmte Klauseln nicht freistellungsfähig sind, sodass sie noch vor einer endgültigen Entscheidung abgeändert oder ganz gestrichen werden können. Eine Einzelfreistellung wird stets nicht unbefristet erteilt, sondern ist auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Nach Ablauf dieser Zeit haben die Unter777

EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (395 f.). 778 Dabei muss nicht diejenige Vereinbarung angemeldet werden, die vertraglich zwischen den Parteien fixiert wurde, sondern vielmehr diejenige, die in der Praxis durchgeführt wird, vgl. Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (27, Tz. 73).

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nehmen einen neuen Antrag auf Freistellung zu stellen. Dabei kann die Kommission die bisher mit der betreffenden Vereinbarung gemachten Erfahrungen zur Grundlage der erneuten Entscheidung machen. Insbesondere kann sie also das Vertragswerk mit dessen Anwendung in der Praxis vergleichen. Schließlich hat sie die Möglichkeit, eine bereits erteilte Freistellungsentscheidung zu widerrufen, wenn sich die Umstände derart grundlegend verändert haben, dass sie keine Erlaubnis mehr rechtfertigen, Art. 8 Abs. 3 VO Nr. 17. Das Zusammenspiel des Freistellungsmonopols der Kommission mit der weiten Auslegung des Art. 81 Abs. 1 EG und der nach Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 17 in den meisten Fällen erforderlichen Anmeldung einer Absprache hat zum sog. Massenproblem geführt. Schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten der VO drohte die bei der Kommission für Wettbewerbsfragen zuständige Generaldirektion IV, von einer Flut von 40.000 Anmeldungen überrollt zu werden.779 Die Kommission traf also auf die Schwierigkeit, innerhalb überschaubarer Fristen über die Freistellung zu entscheiden.780 Das in der VO Nr. 17 angeordnete Verfahren erweist sich als sehr langwierig und kann zwischen zwei781 bis vier Jahre782 in Anspruch nehmen. Diesem Massenproblem hat die Kommission in unterschiedlichster Weise versucht, Herr zu werden.783 Als eine Maßnahme der Unterbindung des mit einer Freistellungsentscheidung verbundenen Aufwands ist vornehmlich die Verwendung formloser Verwaltungsschreiben, sog. comfort letter, zu nennen. Mittels dieser wird den betroffenen Unternehmen mitgeteilt, dass die Vereinbarung unter den gegenwärtigen Umständen ein Tätigwerden der Kommission nicht erforderlich macht. Problematisch an dieser Praxis ist jedoch, dass ein comfort letter weder Rechtswirkungen gegenüber Dritten noch gegenüber nationalen Kartellbehörden oder Gerichten entfaltet. Rechtssicherheit besteht insoweit nicht.784

779

Caspari, in: AnwBl. 1988, 497 (498). Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (524). 781 Möschel, in: NJW 1995, 281 (283); Gillesen, S. 6 ff. 782 Wolf/Fink, in: WuW 1994, 289. 783 Geers, S. 79 ff. 784 Für die beteiligten Unternehmen haben sie jedoch den großen Vorteil der Bußgeldimmunität zur Folge, vgl. Gillesen, S. 77. 780

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

2. Gruppenfreistellung Eine weitere Maßnahme, um die Kommission arbeitsmäßig zu entlasten, besteht in der Möglichkeit, durch Verordnung eine Gruppe von Vereinbarungen vom Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG freizustellen. Die Kompetenz für den Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) obliegt gem. Art. 83 EG grundsätzlich dem Rat. Dieser hat jedoch mittels der Verordnung Nr. 19/65 bereits 1965 die Kommission zum Erlass von GVO hinsichtlich bestimmter vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen ermächtigt. Hiervon erfasst waren Vereinbarungen über den Alleinvertrieb, den Alleinbezug zum Zwecke des Weiterverkaufs sowie Absprachen, die Beschränkungen im Zusammenhang mit dem Erwerb oder der Nutzung von gewerblichen Schutzrechten beinhalten. Dieser folgten weitere, im Zusammenhang mit dem selektiven Vertrieb eher zu vernachlässigende, Ermächtigungsverordnungen.785 Verträge, die in den Anwendungsbereich einer Gruppenfreistellungsverordnung fallen, sind ohne dass es einer Anmeldung oder Entscheidung der Kommission bedarf, automatisch vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt.786 Dabei ist allen bisher erlassenen GVO gemein, dass die Kommission im Falle des Nichtvorliegens einer der Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG den Vorteil der jeweiligen Gruppenfreistellungsverordnung wieder entziehen und die Vereinbarung damit untersagen kann. Auf Grundlage der Ermächtigungsverordnung Nr. 19/65 hat die Kommission im Vertikalbereich bisher Gruppenfreistellungsverordnungen für den Alleinvertrieb inklusive Bierlieferungs- und Tankstellenverträge, für den Alleinbezug, für Franchisevereinbarungen, Patentlizenzvereinbarungen einschließlich gemischter Vereinbarungen und Know-how-Vereinbarungen, erlassen. Wobei Letztere 1996 in einer gemeinsamen Verordnung für Technologietransfervereinbarungen aufgingen.787 Eine explizite Regelung für selektive Vertriebssysteme gab es bisher nicht.788 Auch unter die Regelungen der vorhandenen GVOen konnten selektive Vertriebsvereinbarungen nicht ohne weiteres subsumiert werden. 785 Vgl. z. B. die Verordnung (EWG) Nr. 2821/71 des Rates vom 20.12.1971 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. L 285/46. Diese ermächtigte die Komm. zum Erlass für GVOen für Normen- und Typenkartelle, F&E-Kooperationen sowie Spezialisierungsvereinbarungen. 786 Was die Unternehmen jedoch nicht daran hindert, in Zweifelsfällen eine förmliche Entscheidung für den Einzelfall ihrer Vereinbarung zu beantragen. Diese Vorgehensweise ist in Zweifelsfällen sogar angezeigt, vgl. hierzu ausführlicher Wiedemann, Rdnr. 54 f. 787 Eine gute Übersicht über die aktuellen GVO liefert Kilian, Rdnr. 442.

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Die Abgrenzung zu der Alleinvertriebsvereinbarung betreffenden GVO 1983/83 fällt insoweit leicht, als dass diese in Art. 1 vorsieht, dass dem Händler ein exklusives Vertragsgebiet zugewiesen wird, woran es bei selektiven Vertriebssystemen schon meist fehlt. Zwar werden sie in der Praxis zum Teil mit Alleinvertriebsvereinbarungen verbunden, sodass die GVO 1983/83 insoweit grundsätzlich anwendbar wäre. Da selektive Vertriebssysteme typischerweise jedoch Vertriebsbindungen zu Lasten der Abnehmer enthalten, liegt in der Regel bereits ein Verstoß gegen Art. 2 der GVO 1983/83789 vor, sodass sie auch insoweit nicht gruppenfreistellungsfähig sind. Daher verblieb es in der Praxis bei einer Vielzahl von Einzelfallentscheidungen, die Gegenstand der nun folgenden Ausführungen sein sollen. III. Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung Bevor auf die konkrete Vorgehensweise der Kommission in Bezug auf die einzelnen Klauseln eingegangen wird, soll auch im Hinblick auf eine wettbewerbstheoretische Hinterfragung zunächst kurz auf die materiellen Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG eingegangen werden. Wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen müssen, um in den Genuss einer Freistellung zu gelangen, zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen. Die Verbraucher müssen an dem dadurch entstandenen Gewinn angemessen beteiligt werden. Dabei dürfen sich die Unternehmen aber keine Beschränkungen auferlegen, die für die Verwirklichung der verfolgten Ziele unerlässlich sind. Letztlich darf durch die Maßnahme den Unternehmen keine Möglichkeit eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Diese vier Voraussetzungen haben dabei kumulativ vorzuliegen, sodass eine Freistellung bereits bei Nichtvorliegen nur einer dieser Bedingungen versagt werden muss.790 788 Mit Ausnahme der branchenspezifischen GVO für Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge. Diese wurde nun in der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31.07.2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. L 203/30 neu geregelt. 789 Gleiches gilt für die GVO Nr. 1984/83, die in Art. 2 eine gleichlautende Vorschrift enthält. 790 EuGeI 08.06.1995, Langnese-Iglo/Komm., Rs. T-97/93, Slg. 1995, II-1533 (1596 ff.); EuGeI 11.07.1996, Métropole Télévision u. a./Komm., Rs. T-528/93, T-543/93, T-543/93, T-546/93, Slg. 1996, II-649 (683).

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1. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung Während es im europäischen Schrifttum streitig war, wie der Wortlaut der ersten Freistellungsvoraussetzung verstanden werden kann791, gingen Kommission und EuGH pragmatisch dazu über, die gesamtwirtschaftlichen Vor- und Nachteile einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung gegeneinander abzuwiegen. Dies erfordert einen Vergleich des Zustandes ohne die betreffende Maßnahme (also im freien Wettbewerb) gemessen mit dem Zustand bei Zulassung der Wettbewerbsbeschränkung. Aufgrund des Prognosecharakters792 eines derartigen Vergleichs reicht ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für die positiven Folgen aus.793 Hinsichtlich des Maßstabs, wann eine Verbesserung oder Förderung anzunehmen ist, fordert der EuGH „spürbare objektive Vorteile“.794 Hierbei kommt es nicht auf die spezifischen wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten795 an, sondern auf den gesamtwirtschaftlichen Nutzen für das Gemeinwohl.796 Des Weiteren müssen die positiven Effekte kausal durch die konkrete Vereinbarung eintreten. Mithin muss diese also objektiv geeignet sein, die Verbesserungen zu bewirken.797 Hierbei erachtet es die Kommission jedoch als ausreichend, dass ein „einfacher“ und kein „wesentlicher“ Beitrag von der Maßnahme geleistet wird.798 An dieser Kausalität fehlte es beispielsweise in dem Vertriebssystem der Kosmetikfirma „Vichy“.799 Dort stellte die Kommission fest, dass die vom 791

Vgl. zum unterschiedlichen Meinungsstand: Baldi, S. 289. Keine Prognose muss allerdings angestellt werden, wenn es sich bereits um die zweite Freistellung handelt. In diesem Fall können die bei der ersten Freistellung angenommenen Wirkungen mit der wirtschaftlichen Realität verglichen werden, vgl. Komm. v. 23.12.1977, Jaz-Peter, ABl. 1978 L 61/17 (19 f.). 793 Komm. v. 17.07.1968, ACEC-Berliet, ABl. L 201/7 (9). 794 EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (397). 795 Solch positive Wirkungen für die beteiligten Unternehmen werden wohl stets gegeben sein, da sie andernfalls eine derartige Vereinbarung nicht eingehen würden. 796 Anderer Ansicht ist Gleiss/Hirsch, Art. 85 (3) B, Rdnr. 1861. Danach sollen diese Auswirkungen erst bei dem Merkmal der Verbraucherbeteiligung geprüft werden. 797 Komm. v. 23.12.1971, N.C.H., ABl. 1972 L 22/16 (23 f.); Komm. v. 22.12.1972, Cimbel, ABl. 1972 L 303/24 (36); Sölter, in: WuW 1961, 665 (680); Baldi, S. 295. 798 Komm. v. 12.12.1990, KSB/Goulds/Lowara/ITT, ABl. 1991 L 19/25 (33, Tz. 26). 799 Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (62, Tz. 25). 792

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Hersteller genannten Vorteile bei der Verbesserung der Warenverteilung auch unabhängig von einer Exklusivitätsbindung der Apotheken durch vertragliche Vereinbarung erreicht werden könnten. Im Rahmen der Freistellungspraxis zu selektiven Vertriebssystemen, wie gleichsam bei allen Vertikalvereinbarungen, spielt die Förderung des technischen Fortschritts kaum eine Rolle, da hiermit primär Kooperationen zwischen Unternehmen der gleichen Marktstufe angesprochen werden.800 Zudem kommt es nach der Kommission bei dieser Freistellungsvoraussetzung vor allem darauf an, ob die betreffende Absprache insgesamt zu Vorteilen für den Wirtschaftsablauf führt801, sodass eine genaue Differenzierung zwischen den beiden Alternativen nicht immer vorgenommen wird. Bei selektiven Vertriebssystemen sind der Entscheidungspraxis insbesondere folgende positive Wirkungen802 zu entnehmen: die Senkung von Produktions- und Distributionskosten803, die Rationalisierung des Vertriebsgeschehens804, die Erschließung neuer Märkte805, die Erleichterung von Vorausdispositionen806 sowie die Verbesserung der Marktbearbeitung807. 2. Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn Während die erste Voraussetzung auf die Vorteile für die gesamtwirtschaftliche Situation abstellt, sind nunmehr die Außenwirkungen der wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme berücksichtigen. Entscheidend ist, ob die gewonnenen Vorteile auch tatsächlich an die Verbraucher weitergegeben werden. Dabei umfasst der Verbraucherbegriff in diesem Sinne nicht nur den Endverbraucher, sondern vielmehr jeden Abnehmer im Absatzgefüge.808 800 Wie zum Beispiel der klassische Fall der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung. 801 Komm. v. 15.12.1975, Bayer/Gist-Brocades, ABl. 1976 L 30/13 (19). 802 Diese entsprechen den Aspekten, die der Hersteller im Rahmen seiner marketingpolitischen Entscheidung für die Absatzform des selektiven Vertriebs zugrunde legt, vgl. oben unter 1. Teil, § 1, A. 803 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (19); Komm. v. 15.12.1975, Saba, ABl. 1976 L 28/19 ( 27, Tz. 40). 804 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 36); Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15 f., Tz. 33). 805 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (16, Tz. 34). 806 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (49). 807 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (27, Tz. 40); Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (4, Tz. 20). 808 So bezeichnet die Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (5, Tz. 23) als Verbraucher i. S. d. Abs. 3 für Dentalerzeugnisse, die Zahnärzte als unmittelbare Abnehmer und die Patienten als mittelbare Abnehmer.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Gleichermaßen weit wird der Begriff des Gewinns ausgelegt. Darunter fallen sämtliche mit der Wettbewerbsbeschränkung zu erwartenden Vorteile für den Abnehmer.809 Dabei ist nicht nur an finanzielle Vorteile wie etwa an niedrigere Preise zu denken, sondern auch an positive Aspekte anderer Art, wie Verbesserungen im Qualitäts- und Servicebereich. Gerade diese weite Auslegung des Gewinnbegriffs hat zur Folge, dass kaum je gesamtwirtschaftliche Vorteile nicht auch für den Verbraucher etwas Positives mit sich bringt.810 Angemessen ist die Beteiligung der Verbraucher am Gewinn, wenn sie aus der Vereinbarung erheblichen Nutzen ziehen, der die Nachteile übersteigt, die sich für sie aus der Wettbewerbsbeschränkung ergeben.811 Auch hier muss der für die Verbraucher entstehende Vorteil nicht konkret nachgewiesen werden, sondern ausreichend ist vielmehr die prognostische Feststellung, dass deren Eintritt hinreichend wahrscheinlich ist.812 Dabei ist der Entscheidungspraxis eine zum Teil leicht halbherzige Vorgehensweise zu attestieren. Nahezu jeder Vorteil, der sich zwangsläufig bereits aus der ersten Anforderung der Verbesserung der Warenerzeugung und -verteilung bzw. der Förderung des Fortschritts ergibt, lässt den Abnehmer an dem Gewinn teilhaben.813 Positiv zu bewerten ist allerdings, dass die Kommission diese Vorteile nicht nur abstrakt nennt, sondern auch untersucht, ob mit der Weitergabe an die Abnehmer zu rechnen ist. Ausschlaggebend hierfür ist der auf dem Markt herrschende Wettbewerbsdruck.814 Ein solcher veranlasst die Unternehmen zwangsläufig, die Verbraucher an den Gewinnen teilhaben zu lassen.815 In Bezug auf selektive Vertriebssysteme hat sich folgende Umschreibung als besonders beliebt bei der Kommission herausgestellt: „Die mit dem Ver809 Komm. v. 23.09.1964, Grundig-Consten, ABl. L 2545/64 (2550); EuGeI 15.07.1994, Matra Hachette/Komm., Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595 (636). 810 So I/M/Sauter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 23 ff.; Wild; S. 111. 811 Komm. v. 29.12.1970, Wand- und Bodenfliesenwerke, ABl. 1971 L 10/15 (22). 812 Komm. v. 17.07.1968, ACEC-Berliet, ABl. L 201/7 (9); Komm. v. 23.12.1975, KEWA, ABl. 1976 L 51/15 (19). 813 So bringt ein Strukturkrisenkartell dem Verbraucher den Vorteil eines langfristig gesunden Wirtschaftszweiges, Komm. v. 29.04.1994, Stichting Baksteen-, ABl. L 131/15 (20, Tz. 29). Pauschal stellt die Komm. v. 11.10.1988, BBC Brown Boveri, ABl. L 301/68 (72, Tz. 24) fest, dass die Verfügbarkeit eines neuen KfzAntriebs einen wirtschaftlichen Vorteil darstellt. 814 Hierdurch verwischen allerdings zum Teil die Grenzen zu der letzten der vier Freistellungsvoraussetzungen, vgl. hierzu sogleich unter 1. Teil, § 4, C. III. 4. 815 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (16, Tz. 35); Komm. v. 10.07.1985 Grundig I, ABl. L 233/1 (6).

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triebssystem verbundenen Vorteile, insbesondere die Sicherstellung angemessener Beratung und eines leistungsfähigen Kundendienstes, das verbreiterte Warenangebot der Groß- und Einzelhändler und die verbesserte Lieferfähigkeit kommen den Verbrauchern unmittelbar zugute.“816 Ein weiterer Gewinn für den Verbraucher kann in der Wahrung des Exklusivitätscharakters eines Produkts bestehen.817 An einer angemessenen Beteiligung des Verbrauchers am Gewinn fehlte es hingegen erneut in dem von „Vichy“ angemeldeten Vertriebssystem, welches die ausschließliche Belieferung von Apotheken vorsah.818 Hieraus würde dem Verbraucher kein Vorteil erwachsen, da die Vertriebsbindungen im Gegenteil dazu führen würden, dass die Auswahlmöglichkeiten der Verbraucher verringert werden. Ohne die Apothekenexklusivität könne der Abnehmer hingegen wählen, ob er beim Kauf eines bestimmten Produktes die Beratung eines ausgebildeten Apothekers bedürfe oder aber nicht. 3. Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung Die dritte, negativ formulierte Voraussetzung des Art. 81 Abs. 3 EG bestimmt, dass den Unternehmen keine Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden dürfen, die zur Erreichung der zuvor festgestellten Vorteile entbehrlich sind. In dieser materiellen Freistellungsvoraussetzung hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seinen konkreten Niederschlag gefunden.819 Daher erfolgt hier eine Prüfung der angemeldeten Vereinbarung in dreifacher Hinsicht: Zunächst muss festgestellt werden, ob die Absprache geeignet ist, zu den positiv festgestellten Zielen einen Beitrag zu leisten, welcher sich nicht auch auf eine andere, wettbewerbskonformere Weise erreichen lässt. Dies setzt voraus, dass sich die angestrebten Vorteile mit anderen Mitteln entweder überhaupt nicht oder nicht in demselben Ausmaß, innerhalb desselben Zeitrahmens oder mit derselben Sicherheit herbeiführen lassen.820 816 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 37); Komm. v. 10.07.1985 Grundig I, ABl. L 233/1 (6); Komm. v. 21.12.1983, SABA II, ABl. L 376/41 (50). 817 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (32 f.); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (20). 818 Komm. v. 11.01.1991, Vichy, ABl. L 75/57 (62, Tz. 28). 819 G/T/E/Schröter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 213; I/M/Sauter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 1. 820 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1916).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

In der Praxis wirft die Kommission mögliche Alternativen zu der vereinbarten Absprache auf und untersucht, ob diese mildere Mittel darstellen.821 Dabei ist auch hier ein objektiver Maßstab anzulegen.822 Eine derartige Vorgehensweise lässt sich exemplarisch an dem „Grohe-Vertriebssystem“ nachvollziehen.823 Dieses sah vor, dass für den Verkauf von Sanitärarmaturen ausschließlich ausgebildete Installateure zugelassen werden sollten. Eine Freistellung des Vertriebssystems scheiterte an der Unerlässlichkeit, da die fachmännische Beratung beim Verkauf nicht davon abhänge, dass gerade ein ausgebildeter Installateur die Produkte zu erklären habe. Geschultes Personal ohne eine entsprechende handwerkliche Ausbildung könne diese Aufgabe genauso gut wahrnehmen. Zudem seien Verkauf und Einbau der Armaturen zwei getrennte und trennbare Geschäftsbereiche, sodass die Wettbewerbsbeschränkung als nicht erforderlich angesehen wurde. Schließlich ist die Angemessenheit der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung zu berücksichtigen. Dabei ist zu untersuchen, ob die Nachteile für den Wettbewerb in einem hinnehmbaren Verhältnis zu den durch sie erreichbaren positiven Auswirkungen steht.824 Auch dieses wurde für das „Grohe-Vertriebssystem“ verneint, da die Verbesserungen der Warenverteilung als zu gering angesehen wurden, als dass diese eine derartig schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkung zu kompensieren in der Lage sei.825 Hinsichtlich selektiver Vertriebssysteme ist zunächst herauszustellen, dass die Unerlässlichkeitsprüfung etwas anderes darstellt als die Frage nach der Erforderlichkeit einer Selektion für den Absatz der betreffenden Waren.826 Letzteres beschäftigt sich damit, ob eine selektive Absatzstrategie aufgrund der Produkteigenschaft gerechtfertigt und damit zulässig im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG ist. Die Unerlässlichkeitsprüfung des Absatzes 3 erfordert hingegen die Begutachtung, ob die zuvor festgestellten Wettbewerbsbeschränkungen notwendig für die zu erwartenden Verbesserungen sind. Im Rahmen dieser Freistellungsvoraussetzung wird vor allem das Verfahren zur Zulassung und Kontrolle des Vertriebssystems genauer betrachtet.827 821 So wird beispielsweise bei der Prüfung der Genehmigungsfähigkeit eines quantitativ selektierenden Vertriebssystems untersucht, ob dieselben Wirkungen nicht auch durch eine qualitative Selektion erreicht werden, vgl. etwa: Komm. v. 13.12.1974, BMW, ABl. 1975 L 29/1 (8). 822 Komm. v. 23.09.1964, Grundig-Consten, ABl. L 2545/64 (2551). 823 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (22, Tz. 20 f.). 824 EuGeI 15.07.1994, Matra Hachette/Komm., Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595 (641). 825 Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 (22, Tz. 20). 826 Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a). 827 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (33 f.); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (20 f.).

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Als Begründung, warum eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung unerlässlich ist, wird oftmals angeführt, dass andernfalls die Händler nicht bereit wären, die vom Hersteller vorausgesetzten Investitionen zu erbringen.828 Gleichermaßen werden aber auch die Herstellerinteressen berücksichtigt, indem auf die ohne die Wettbewerbsbeschränkung entstehenden höheren Kosten für diese oder auch auf ihr andernfalls sinkendes Image, abgestellt wird.829 Auffällig an der Praxis der Kommission ist, dass sie teilweise sehr knapp die Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung bejaht.830 So wird in der Freistellungsentscheidung betreffend des Vertriebssystems der Firma „Grundig“ ausschließlich festgestellt, dass die vereinbarten Wettbewerbsbeschränkungen unerlässlich sind.831 Eine Begründung sucht man – wie oft – vergeblich. Dem Grunde nach kommt es bei der Unerlässlichkeitsprüfung nur darauf an, ob ein im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG grundsätzlich positiv zu bewertendes Vertriebskonzept des Herstellers die fragliche Klausel erfordert.832 Zumindest ist aber der neueren Praxis der Kommission zu entnehmen, dass sie sich wieder intensiver mit diesem Merkmal auseinander zusetzen scheint. So fällt die Prüfung in den Parfum-Fällen erfreulicherweise fundierter aus.833 4. Nichtausschaltung wesentlichen Wettbewerbs Letzte Voraussetzung für die Freistellung einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung ist, dass den Beteiligten keine Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Nach dem EuGH bedeutet diese Voraussetzung, dass 828 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (4, Tz. 22); Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (50). 829 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 830 Vgl. z. B. die Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (16, Tz. 35). Dort genügten zwei Sätze, um festzustellen, dass die Beschränkungen notwendig seien, damit sich die Junghans-Großhändler auf ihr Vertragsgebiet konzentrieren. Ähnlich knapp: Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (6). 831 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (6). 832 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21 f., Tz. 38); Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 54. 833 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (23 f.); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21 f.). Wenigstens etwas ausführlicher als in Grundig I: Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/ 15 (21 f., Tz. 38).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

auf jedem Markt der Gemeinschaft ein wirksamer Wettbewerb bestehen bleiben muss, der ausreicht, um die elementaren Steuerungs- und Koordinierungsfunktionen des Wettbewerbs zu übernehmen.834 Eine Freistellung scheidet also aus, wenn die Absprache den Fortbestand wirksamen Wettbewerbs gefährden würde. Diese letzte Anforderung an eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung korrigiert vor allem die ersten beiden eher wirtschaftspolitisch orientierten Freistellungsvoraussetzungen. Hierfür ist eine Gesamtwürdigung aller wettbewerbsrelevanten Umstände des Einzelfalls erforderlich. Zu diesem Zweck werden zwei unterschiedliche Wettbewerbsverhältnisse beurteilt. Zum einen wird auf die Konkurrenz zwischen den an der Vereinbarung Beteiligten (Innenwettbewerb)835 und zum anderen auf den Wettbewerb der beteiligten Unternehmen zu anderen Unternehmen (Außenwettbewerb) abgestellt. Für Letzteren ist der relevante Markt abzugrenzen und die Marktanteile der Unternehmen festzustellen. Je höher der Marktanteil, desto unwahrscheinlicher die Freistellung. Neben dem Marktanteil sind zudem die weiteren Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Entscheidend ist beispielsweise auch die sich durch die Anzahl und Stärke der aktuellen und potentiellen836 Wettbewerber auszeichnende Marktstruktur oder die Produktnatur.837 Wie zum Teil bereits bei dem Merkmal der Verbraucherbeteiligung von der Kommission geprüft, kommt es hier also darauf an, ob von den Mitbewerbern noch ein hinreichender Wettbewerbsdruck ausgeht. Die Beurteilung des sog. Innenwettbewerbs kann ausschließlich bei der Untersuchung von Horizontalvereinbarungen eine Rolle spielen, da in vertikalen Absatzverträgen die Beteiligten denknotwendig nicht miteinander konkurrieren.838 An dessen Stelle tritt nach ständiger Entscheidungspraxis die Begutachtung des Intrabrand-Wettbewerbs.839 So wird in jeder Freistellungsentscheidung zu selektiven Vertriebssystemen untersucht, ob trotz der Vereinbarung ein hinreichender Wettbewerb auf der Handelsstufe stattfinden kann. 834

EuGH 21.02.1973, Continental Can, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 (244 f.). I/M/Sauter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 28. 836 Komm. v. 13.10.1988, Delta Chemie-DDD, ABl. L 309/34 (42, Tz. 45). 837 Komm. v. 28.05.1971, F.N.-C.F., ABl. L 134/6 (12, Tz. 14); Komm. v. 26.07.1972, Feinpapier, ABl. L 182/24 (27). 838 So auch Meier II, S. 240; Wild, S. 131. 839 Komm. v. 28.10.1970, Omega-, ABl. L 242/22 (27); Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (50); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 835

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Auch im Rahmen der Freistellungsentscheidungen weisen die Gemeinschaftsorgane dem Intrabrand-Wettbewerb eine wichtige Funktion zu. Dabei fällt auf, dass in keiner Entscheidung eine Abwägung zwischen der Beschränkung des Intrabrand-Wettbewerbs und der damit (möglicherweise) einhergehenden Belebung des Interbrand-Wettbewerbs vorgenommen wird. Vielmehr werden beide Wettbewerbsformen getrennt voneinander betrachtet. Hinsichtlich des Interbrand-Wettbewerbs untersucht die Kommission, ob und wie viele andere Hersteller auf dem Markt tätig sind und wie sich dadurch das wettbewerbliche Umfeld gestaltet. Der Marktanteil des bindenden Herstellers wird dabei nicht allzu oft konkret benannt und berücksichtigt840, sondern es wird nur auf die schwache Marktposition hingewiesen.841 Dabei kann es aber unerfreulicherweise genauso gut vorkommen, dass überhaupt nicht auf die Stellung im Markt eingegangen wird.842 Gleiches gilt für die Berücksichtigung der (möglichen) kumulativen Wirkungen. In manchen Entscheidungen wird die Existenz gleichartiger Vertriebssysteme ausdrücklich geprüft843, in anderen hingegen unverständlicherweise nicht. Als Beispiel hierfür dienen die beiden Parfum-Fälle.844 Obwohl auf dem Markt für Luxuskosmetika nahezu jeder Hersteller seine Erzeugnisse mittels ähnlicher Vertriebssysteme absetzt, werden die davon ausgehenden Gefahren mit keiner Silbe erwähnt. Im Gegenteil führt die Kommission im Zusammenhang mit der Verbraucherbeteiligung aus, dass sich der Kunde immer noch für ähnliche Artikel eines benachbarten Marktes entscheiden kann, die ohne selektives Vertriebssystem auskommen.845 Das dürften in der Parfum-Industrie nicht allzu viele sein. In vielen Entscheidungen zu selektiven Vertriebssystemen geht die Kommission hingegen am Ende der Prüfung der letzten Freistellungsvoraussetzung auf den Intertype-Wettbewerb ein und fragt, ob die in Frage stehende Vereinbarung dazu führt, moderne Vertriebsformen gänzlich vom Absatz der Produkte auszuschließen.846 840 So geschehen in der Entscheidung der Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (7). 841 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (16, Tz. 37); Komm. v. 21.12.1983, SABA II, ABl. L 376/41 (50). 842 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 843 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1917); Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (7); Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (22, Tz. 41). 844 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992 – Givenchy, ABl. L 236/11 (21). Vgl. hierzu schon oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. d). 845 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (20).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

In der Gesamtschau der bisher ergangenen Entscheidungen fällt auf, dass die Europäische Kommission und der EuGH nicht dazu neigen, ein selektives Vertriebssystem an dieser Voraussetzung scheitern zu lassen. Eine der wenigen Entscheidungen, in der die Freistellung eines Vertriebssystems aufgrund der letzten Voraussetzung untersagt wurde, stellt die Sache van Landewyck/Kommission dar.847 In dieser Sache erschien dem EuGH ein Marktanteil in Höhe von 95% der Mitglieder der FEDETAB auf dem belgischen Markt zu hoch, als ihn unerwähnt zu lassen.848 5. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse Art. 81 Abs. 3 EG offenbart bereits durch seine Formulierung, mit welchen Problemen sich jedes Wettbewerbsrecht auseinander zusetzen hat. Zum einen wird davon ausgegangen, dass ausnahmsweise unternehmerisches Handeln die Funktionen des Wettbewerbs besser zu erfüllen vermag als dieser alleine. Andererseits bringt der Vertrag mit der letzten Voraussetzung des Art. 81 Abs. 3 EG auch deutlich zum Ausdruck, dass der Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der in Frage stehenden Waren nicht ausgeschaltet werden darf. Wettbewerbstheoretisch ist dies in der Hoppmann-Kantzenbach-Kontroverse verankert.849 Während Kantzenbach davon ausging, dass Konflikte zwischen den Zielkomplexen Wettbewerbsfreiheit und individueller ökonomischer Vorteilhaftigkeit bestehen850, wies Hoppmann diese DilemmaThese zurück. Nach ihm ist die Wettbewerbsfreiheit alleiniger Orientierungsmaßstab der Wettbewerbspolitik und bringt von sich aus gute ökonomische Ergebnisse mit sich.851 In diesem Dilemma befindet sich auch das europäische Kartellrecht und hat sich im Ergebnis aber den Thesen Kantzenbachs angeschlossen. Emmerich formuliert das zutreffend wie folgt: „Es gibt kein Kartellverbot ohne Ausnahme. Auch Art. 81 EG macht insoweit keine ‚Ausnahme‘.“852 Allein 846 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (22, Tz. 41); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 847 EuGH 29.10.1980, van Landewyck/Komm., Rs. 209 bis 215 und 218/78, Slg. 1980, 3125 ff. 848 EuGH 29.10.1980, van Landewyck/Komm., Rs. 209 bis 215 und 218/78, Slg. 1980, 3125 (3279 f.). 849 Vgl. hierzu ausführlich: Hoppmann, in: Teichmann, S. 235 ff.; die Erwiderung Kantzenbachs hierauf in: Teichmann, S. 294 ff.; Mantzavinos, S. 99 ff.; Tuchfeldt, in: FS Kummer, 549 (560 f.). 850 Kantzenbach, S. 49 ff. 851 Hoppmann, S. 23; ders., Fusionskontrolle, S. 28.

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diese Entscheidung für das Einführen eines Ausnahmebereichs vom grundsätzlichen Verbot der Kartellierung lässt Rückschlüsse auf die wettbewerbstheoretischen Vorstellungen zu. Die Ausnahmeregelung des Art. 81 Abs. 3 EG ist aus ordoliberaler Sicht nicht zu befürworten, da sie sich stets für ein strenges Kartellverbot sowohl für Horizontal- als auch für Vertikalvereinbarungen ohne Ausnahmebereiche einsetzte.853 Nach Hoppmann bedürfte es keiner Ausnahmevorschrift, da allein die Gewährleistung von Wettbewerbsfreiheit die besten ökonomischen Ergebnisse hervorzubringen imstande ist. Des Weiteren hätte er mit der durch eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägten Vorschrift des Art. 81 Abs. 3 EG seine Probleme. Eröffnet doch gerade diese einen für ihn nicht hinnehmbaren Ermessenspielraum der Europäischen Kommission. Die Möglichkeit, Wettbewerbsbeschränkungen aufgrund ihrer positiven Auswirkungen zuzulassen, ist sowohl im Sinn des funktionsfähigen Wettbewerbs854 als auch der industriepolitischen Ansätze. Insbesondere ermöglicht die Vorschrift eine Betrachtung der Vereinbarung im Einzelfall, die mit einer Abwägung der Vor- und Nachteile verbunden werden kann. Die Nähe zu den wettbewerbspolitischen Handlungsempfehlungen der „Workability“Anhänger ist evident.855 Aber auch Williamsons Transaktionstheorie empfiehlt als wettbewerbsrechtliche Handlungsmöglichkeit, eine Effizienzrechtfertigung auf einer individuellen Fallbasis vorzunehmen.856 Auch die industriepolitischen Konzepte stehen mit dieser Vorgehensweise im Einklang, da die Ausnahmen vom Kartellverbot die Berücksichtigung von außerwettbewerblichen Zielen ermöglichen. Die Einbeziehung solcher Bereiche ist aufgrund der generalklauselartigen Fassung des Art. 81 Abs. 3 EG umso wahrscheinlicher. Als eindrucksvolles Beispiel hierfür dient die Metro I-Entscheidung des EuGH.857 Dort wurde die erste Freistellungsvoraussetzungen aus folgenden Gründen als erfüllt angesehen: „Außerdem stellt der Abschluss von Lieferverträgen für einen angemessenen Zeitraum ein stabilisierendes Element für die Erhaltung von Arbeitsplätzen dar, die 852

Emmerich, in: Dauses, H I § 1, Rdnr. 183. Vgl. bereits oben unter 1. Teil, § 2, D. 854 So auch Becker-Çelik, in: EWS 1997, 334 (335). 855 Ebenfalls eine große Nähe zu den „Workability“-Konzepte ist den vielen prognostischen Erwägungen, die im Rahmen einer Freistellungsentscheidung angestellt werden müssen, zu entnehmen. Damit geht die Kommission also von der Vorstellung aus, dass der Wettbewerb zu bestimmten Ergebnissen führt. Ganz anders hingegen die dynamischen Theorien. Vgl. hierzu bereits oben unter 1. Teil, § 2, E. 856 Vgl. hierzu Möschel, in: WiSt 1986, 341 (344). 857 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1915). 853

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der allgemeinen Bedingungen der Warenerzeugung gerade unter den Voraussetzungen einer ungünstigen Wirtschaftskonjunktur zu den Zielen gehört, die Artikel 85 Absatz 3 EGV zu verfolgen gestattet.“

Der Wettbewerb ist hiernach also nicht in der Lage, die besten Marktergebnisse zu erzielen, sondern solche können auch und gerade durch das Zulassen von an sich wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen erreicht werden. Die Möglichkeit, dass aber Arbeitsplätze (beispielsweise auf der Großhandelsebene) durch den Abschluss derartiger freiheitsnehmender Vereinbarungen zerstört werden können, bedenkt der EuGH nicht weiter. Dem Grunde nach ist die weite Freistellungsmöglichkeit auch im Sinne der Chicago-School. Auch sie ist davon überzeugt, dass es eine Vielzahl von Vereinbarungen – insbesondere solche vertikaler Natur – gibt, die nicht wettbewerbsbeschränkend wirken. Dabei ist aber als entscheidender Unterschied herauszuarbeiten, dass sie diese bereits nicht unter den Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG subsumieren würden, es einer Freistellung also überhaupt nicht bedürfe. Ebenfalls nicht im Sinne der Chicago School ist die Rücksichtnahme des Vertrages auf die Einkommensverteilung durch die zweite Freistellungsvoraussetzung.858 Nach Ansicht der Chicagoer kann die Konsumentenwohlfahrt mit der Verbraucherwohlfahrt gleichgesetzt werden, sodass auf das Problem von Einkommensverteilungen bei Wettbewerbsbeschränkungen nicht eingegangen werden muss.859 IV. Einzelne Klauseln selektiver Vertriebssysteme und deren Freistellung Im Anschluss an die Ausführungen zu den materiellen Freistellungsvoraussetzungen soll nunmehr die konkrete Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane zu den einzelnen Klauseln des Vertragswerks selektiver Vertriebssysteme dargestellt werden. Die Analyse der Entscheidungspraxis zu Art. 81 Abs. 1 EG hat gezeigt, dass viele „an-sich-wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen“ bereits auf der Ebene des Absatz 1 als unbedenklich angesehen und damit aus dem Anwendungsbereich der Verbotsnorm ausgeklammert werden. Insofern gelangen diese nicht in den Bereich der Freistellungsprüfung des Art. 81 Abs. 3 EG. Für diese verbleibt daher primär die Untersuchung derjenigen Klauseln, die den Händlern über die einfache Fachhandelsbindung hinausgehende Verpflichtungen auferlegen sowie eine quantitative Begrenzung der Absatzmittler vornehmen. 858 859

Veelken, in: ZvglRWiss 97 (1998), 241 (258). Duijm, S. 46; Kirchhoff, S. 334 f.

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1. Freistellungsfähige Klauseln a) Vertriebsförderungspflichten Mit der Auferlegung von Vertriebsförderungspflichten geht eine mittelbare quantitative Selektion einher, da durch sie kleinere und mittlere Händler von vornherein vom Bezug der Vertragsware ausgeschlossen werden. Zudem beschränken solche Verpflichtungen die anerkannten Händler in ihrer autonomen Geschäftspolitik.860 Daher werden sie größtenteils als Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG qualifiziert. Aber es hat sich auch gezeigt, dass die Praxis bezüglich der Beurteilung von Vertriebsförderungspflichten nicht einheitlich ist, da sie zum Teil auch als nicht tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden. Diese Rechtsunsicherheit führt dazu, dass die Unternehmen bezüglich derartiger Vereinbarungen zumindest vorsichtshalber eine Freistellung beantragen sollten.861 Dies hat erneut zur Folge, dass sich die Zahl der Anmeldungen erhöht und das Massenproblem der Europäischen Kommission größer wird. Insofern ist dieses aufgrund der eigenen uneinheitlichen Entscheidungspraxis hausgemacht. aa) Lagerhaltungsbindungen Bei der Darstellung der Vorgehensweise zu Art. 81 Abs. 1 EG hat sich gerade in Bezug auf Lagerhaltungsbindungen eine teils widersprüchliche Entscheidungspraxis offenbart.862 Zumindest im Ergebnis läuft diese aber auf das Gleiche hinaus, da Lagerhaltungsvorschriften in der Regel freistellungsfähig und damit kartellrechtlich zulässig sind. Die erste der Freistellungsvoraussetzungen ist erfüllt, weil Lagerhaltungsbindungen gewährleisten, dass sich der Hersteller auf ein flächendeckendes Netz ausgewählter Händler stützen kann, die sich für den Vertrieb der Vertragsware intensiv einsetzen und dadurch den Absatz fördern.863 Für die Verbraucher brächten derartige Klauseln den Vorteil, dass die Lieferung der Vertragsware innerhalb kürzester Fristen sichergestellt wäre.864 Diese werden auch als erforderlich angesehen, weil sie ein Äquivalent zu den erheblichen Investitionen des Herstellers darstellen.865 Zudem setzte 860

Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5). Vgl. auch Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 63; Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 86. 862 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) aa) (4). 863 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21, Tz. 36). 864 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5 f.). 861

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

sich der Händler durch Lagerhaltungsbindungen nicht immer nur für das jeweilige Spitzenprodukt des Herstellers ein, sondern kümmere sich auch intensiv um den Absatz der gesamten Produktpalette.866 Bei der Unerlässlichkeitsprüfung wird zumindest in der Grundig II-Entscheidung hervorgehoben, dass die Lagerhaltungspflichten je nach Größe des netzzugehörigen Handelsbetriebs differenzieren und somit gewährleisten, dass kleinere Händler nicht unangemessen benachteiligt werden. Zu kritisieren an der Praxis der Kommission ist, dass sie nicht auf die aus einer Lagerhaltungsverpflichtung resultierenden Nachteile eingeht. Es scheint vielmehr so, als ob sie pauschal immer wieder dieselben Argumente verwendet, die sich primär an den Interessen des jeweiligen Herstellerunternehmens orientieren. Kaum berücksichtigt werden hingegen die Interessen anderer Hersteller und vor allem potentieller Wettbewerber. bb) Sortimentsbindungen Hinsichtlich der Pflicht der Händler, ein bestimmtes Sortiment des Herstellerunternehmens zu führen, werden ähnliche Argumentationen verwandt wie bei den Lagerhaltungsbindungen.867 Während ein Alleinvertriebshändler aufgrund seiner Markenexklusivität meist verpflichtet werden kann, dass Herstellersortiment so vollständig wie möglich zu führen, ist dies von einem Absatzmittler, der verschiedene Sortimente vertreibt, nicht ohne weiteres zu verlangen.868 Verpflichtungen, das Sortiment so vollständig wie möglich zu führen oder aber einen repräsentativen Querschnitt bereitzuhalten, verstoßen zwar gegen Art. 81 Abs. 1 EG, sind in der Regel aber freistellungsfähig.869 Positiv für den Verbraucher hervorgehoben wird vor allem, dass er sich stets einen Überblick, zumindest über die wesentlichen Teile des Verkaufsprogramms eines Herstellers, verschaffen kann.870

865 Komm. v. 21.12.1993, Grundig II, ABl. 1994 L 20/15 (21 f., Tz. 38); Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (34); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 866 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (21). 867 Was insoweit nicht verwundern kann, als dass diese auch meist zusammen den Händlern auferlegt werden. 868 Langen/Bunte/v. Stoephasius, Art. 81, Fallgruppen, Rdnr. 422. 869 Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (5 f.). 870 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (50).

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cc) Mindestumsatz und Mindestabnahmemengen Sowohl die Verpflichtung, einen Mindestumsatz zu erzielen als auch eine bestimmte Menge an Waren abzunehmen, wirkt quantitativ beschränkend; kleinere Händler werden von vornherein vom Bezug der Ware ausgeschlossen. Zudem behindern sie die zum System zugelassenen Händler beim Bezug von Konkurrenzwaren.871 Positiv bei diesen Verpflichtungstatbeständen ist nach der Kommission jedoch, dass sie dem Hersteller eine bessere Produktions- und Absatzplanung erlauben, was zu einer Rationalisierung des Vertriebsgeschehens führe. Für den Verbraucher gewährleiste sie eine kontinuierliche Versorgung mit den gebundenen Produkten.872 Während sich die Kommission in der Saba II-Entscheidung hinsichtlich Mindesteinkaufsverpflichtungen noch in Zurückhaltung übte, war sie in den Parfum-Fällen weitaus großzügiger. Bis zu diesen Entscheidungen wurden nur die mit dem Großhandel im Vorhinein abzuschließenden Jahresumsatzverträge freigestellt.873 Auch diese Verpflichtung gestattet nach Ansicht der Kommission eine genaue Produktions- und Absatzplanung und bewirke damit eine Rationalisierung des Vertriebs.874 Die selektiven Vertriebssysteme von „Yves Saint Laurent“ und „Givenchy“ rechtfertigten sogar eine den Einzelhändlern auferlegte Mindesteinkaufsverpflichtung. Die Kommission veranlasste aber die Hersteller, die Einkaufspflicht konkret zu beziffern.875 Die Freistellung derartiger Bindungen ist durchaus kritisch zu sehen. So wird der Absatzmittler zu einem großen Teil in seiner unternehmerischen Dispositionsfreiheit beschränkt. Der mit einer solchen Bindung von dem Hersteller verfolgte Zweck ist eindeutig: Er will umsatzschwächere Handelsunternehmen aus seinem Vertriebssystem eliminieren. Dies sieht die Kommission dem Grunde nach nicht anders, kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. So stellte sie in ihrer Freistellungsentscheidung das Interesse des Herstellers heraus, sich auf die umsatzstärksten Geschäfte zu konzentrieren. Diese Betrachtungsweise ist einseitig, denn es ist viel mehr die Aufgabe der Nachfrage und damit des Wettbewerbs, die Umsatzstärke eines Händlers herauszufinden. Dies beachtet die Kommission ebenso wenig wie die 871

Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 52. Komm. v. 10.07.1985, Grundig I, ABl. L 233/1 (6). 873 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (49 f.). 874 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (49). 875 Mindestens 40% der Durchschnittsbezüge der Vertragshändler des Landes während des Vorjahres, vgl. Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (32); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (19). 872

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Tatsache, dass die Nachteile für den Handel die erwähnten Vorteile für den Hersteller überwiegen könnten. Eine ähnliche Begründung hat sich bisher nicht in der Freistellungspraxis wiederholt. Einzig die Mitteilung der Kommission in der Sache „Kennwood Electronics Deutschland“876 tendiert in die gleiche Richtung, wenn sie auch in der Konsequenz nicht ganz so weitgehend ist. Zunächst sahen die Kennwood-Vertriebsverträge noch eine Mindestumsatzverpflichtung vor. Diese wurde auf Veranlassung der Kommission durch eine Jahresumsatzplanung ersetzt. Immerhin erhält der Hersteller auch hier eine weitaus größere Möglichkeit, den Erfolg seiner eingesetzten Vertriebshändler zu kontrollieren. Dies ist als solches natürlich ein legitimes Interesse des Herstellers, trägt jedoch auch die Gefahr des Missbrauchs in sich und bedarf zumindest der eingehenden Beobachtung, ob ein wettbewerbswidriger Einsatz der erlangten Informationen nicht erfolgt. dd) Mitwirkung an Werbeveranstaltungen Ebenfalls freistellungsfähig sind die den Händlern auferlegten Verpflichtungen, an Werbeveranstaltungen des Herstellers teilzunehmen. Positiv wird hieran bewertet, dass sie im Interesse beider Seiten die Werbemaßnahmen koordinieren und sich diese rationeller planen lassen.877 Zudem stelle eine derartige Bindung eine Gegenleistung für die vom Hersteller betriebene Werbung für sein Produkt dar und hindere den Händler nicht, sich auch für andere Marken einzusetzen. ee) Pflicht zum Aufbau/Verstärkung des Vertriebsnetzes beizutragen Während die Kommission die den Großhändlern auferlegte Pflicht, zur Verstärkung des Vertriebsnetzes beizutragen, nicht als tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung ansah878, korrigierte dies der EuGH in seiner Metro I-Entscheidung.879 Die Kommission habe verkannt, dass es nicht in den Pflichtenbereich eines Großhändlers falle, die Produktion eines bestimmten Herstellers zu fördern. Konkrete Auswirkungen hatte diese Abweichung hingegen nicht, da die Kommission diese Klausel mittelbar mitgeprüft hat, indem sie die Vertriebsförderungspflichten, wie etwa den Abschluss von Lieferverträgen mindestens ein halbes Jahr im Voraus oder die 876

Mitteilung der Komm. v. 10.03.1993, Kennwood Electronics, ABl. C 67/9. Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (32); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (19). 878 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 28). 879 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1914). 877

§ 4 Bestandsaufnahme

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Lagerhaltungsbindungen, auf ihre Freistellungsfähigkeit hin untersucht hat. Hieraus wird deutlich, dass dieser Vertragsklausel kaum eigenständige Bedeutung zukommt, sondern vielmehr als eine Art Oberbegriff für die hier als Vertriebsförderungspflichten bezeichneten Bindungstatbestände verstanden werden kann. b) Sprunglieferungsverbot Während das Großhändlern auferlegte Verbot, nicht an private oder institutionelle Endverbraucher zu liefern, keine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung darstellt, fallen die Verbote, nicht an gewerbliche Endverbraucher zu liefern, unter den Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG.880 Dieses ist nach Aussagen der Kommission auch nicht freistellungsfähig.881 Zulässigerweise kann hingegen den Großhändlern eine Kontrollbindung auferlegt werden, welche sie verpflichtet, sich die gewerbliche Verwendung der Vertragsware mittels Unterzeichnung eines Reverses durch den Endverbraucher bestätigen zu lassen.882 Ursache dessen ist, dass andernfalls das Verbot, private bzw. institutionelle Endverbraucher zu beliefern, nicht überwacht werden könnte und damit das selektive Vertriebssystem nicht ordnungsgemäß funktionieren würde. c) Absatzbindungen Problematisch und nicht eindeutig der Entscheidungspraxis zu entnehmen ist die Behandlung von Absatzbindungen in ihrer häufigsten Ausgestaltungsform des Alleinvertriebsrechts. Einigkeit besteht über die diesen Vertikalvereinbarungen innewohnende Tendenz, den gemeinschaftsweiten Wettbewerb zu beschränken.883 Der Hersteller begibt sich in dem betreffenden Gebiet gänzlich seiner Belieferungsfreiheit und sämtliche Händler werden vom Bezug der Vertragsware ausgeschlossen. Dies setzt sich bis auf die Verbraucherebene in 880 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) bb) (1) (a). Insofern gehen die Ausführungen Pawlikowskis, S. 378 f. fehl, der die Freistellungsfähigkeit von Sprunglieferungsverboten untersucht, obwohl diese bereits aus dem Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 herausgenommen werden. 881 So hat sich die Kommission im Rahmen des Ermittlungsverfahrens in der Sache „Saba I“ geäußert, vgl. EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1911). 882 EuGH 25.10.1977, Metro I, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1911). 883 Dies verdeutlicht die für diesen Bereich (bisher) existierende GVO Nr. 1983/ 83.

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Form des eingeschränkten Angebots der betreffenden Ware fort. Im Zusammenhang mit Bezugsbindungen bzw. einer branchenweiten Etablierung derartiger Alleinvertriebsrechte bestehen zudem auch Gefahren für den Interbrand-Wettbewerb. Die Praxis zeigt, dass die Hersteller in ihrem Vertriebssystem häufig den selektiven Vertrieb mit Alleinvertriebsrechten verknüpfen.884 Diese Kumulation von unterschiedlichen vertikalen Verträgen bereitete einige Schwierigkeiten, die vor allem aus der nur für den Alleinvertrieb bestehende Gruppenfreistellungsverordnung resultierten. Von der Kommission wurde daher zunächst geprüft, ob das gesamte Vertriebssystem unter die GVO fällt. Dies musste in der Regel aber aufgrund des Ausschlusses geeigneter Abnehmer verneint werden.885 Die Prüfung erfolgt in solchen Fällen anhand des Inhalts der mit dem jeweiligen Absatzmittlern getroffenen Vereinbarungen. Gemeinsamkeiten in der inhaltlichen Ausgestaltung der Verträge werden in der Regel auch ohne Unterschied in Bezug auf einen durch Selektion zugelassenen Händler oder aber einen Alleinvertriebsberechtigten bewertet.886 Sieht die Systemzentrale für die Alleinvertriebsberechtigten hingegen gesonderte Rechte und Pflichten vor, werden diese auch separat untersucht.887 Dabei kann wohl davon ausgegangen werden, dass offene Alleinvertriebsrechte freistellungsfähig sind. So stellte die Kommission die Alleinvertriebsverträge des Saba I-Vertriebssystems zumindest frei.888 Begründet wurde diese Entscheidung vor allem damit, dass es den Saba-Alleinvertriebshändlern freistehe, auch Händler in anderen Ländern zu beliefern. Es wurden also keine zusätzlichen Vertriebsbindungen vereinbart. Dem ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass ein geschlossenes Alleinvertriebsrecht nicht freistellungsfähig wäre. d) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren Konkurrenzverbote wirken vor allem wettbewerbsbeschränkend auf den Markenwettbewerb, weil andere Hersteller die gebundenen Absatzmittler 884 Dies geschieht vornehmlich auf der Großhandelsebene, um insbesondere die Märkte der europäischen Nachbarstaaten zu erschließen und optimal versorgen zu können. Vgl. beispielsweise das Vertriebssystem von „Ivoclar“ für Dentalerzeugnisse, Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1; Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10; Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19. 885 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (3 f., Tz. 17 ff.). Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 60. 886 Exemplarisch die Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (25, Tz. 24). 887 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15, Tz. 28 f.). 888 Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (27, Tz. 38 ff.).

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nicht mehr für sich gewinnen können. Zudem beschränken sie die betroffenen Vertriebshändler in ihrer Sortimentsbildungsfreiheit.889 In der Entscheidungspraxis kommt die Verbindung von selektivem Vertrieb und Konkurrenzverboten selten vor. In der Junghans-Entscheidung lag eine Besonderheit darin, dass einem Alleinvertriebshändler ein Konkurrenzverbot auferlegt wurde. Daher konnte die Kommission die VO Nr. 67/67 anwenden, was zur Freistellung dieser Vertragsklausel führte.890 Zumeist enthalten Vertriebsverträge aber genau das Gegenteil von Bezugsbindungen, indem sie ausdrücklich vorsehen, dass Konkurrenzwaren geführt werden dürfen bzw. müssen.891 „Givenchy“ verpflichtet ihre Einzelhändler gar, innerhalb von 18 Monaten nach Zulassung zum Netzwerk eine genügende Anzahl von Konkurrenzmarken anzubieten, um das Image und den Ruf der Vertragsprodukte zur Geltung zu bringen.892 Diese auf den ersten Blick den Markenwettbewerb fördernde Klausel bedurfte dennoch der Freistellung. Bei vielfacher Verwendung durch verschiedene Hersteller führe dies für den Händler zu einem erschwerten Zugang zu dem selektiven Vertriebssystem, da dann mehrere vertragliche Anforderungen in Bezug auf die jährlichen Mindestbezüge zusammentreffen würden. Eine Freistellung wurde aber dennoch erteilt, weil eine derartige Verpflichtung erforderlich ist, um Kunden für sich zu gewinnen, die in jedem Fachgeschäft erwarten, eine Vielzahl von Produkten unterschiedlicher Hersteller vorzufinden. Hierbei hat „Givenchy“ aber auf Veranlassung der Kommission darauf verzichten müssen, die Namen der konkreten Marken vorzuschreiben. Dabei wurde eine Freistellung dieser Klausel auch erteilt, weil „Givenchy“ die Anzahl der Konkurrenzerzeugnisse, die der Einzelhändler zu führen hat, auf lediglich vier Marken beschränkte. Dies blieb deutlich im Rahmen des Zumutbaren, da in der Gemeinschaft Luxuskosmetikartikel meist über Fachgeschäfte vertrieben wurden.

889

Komm. v. 21.12.1977, Gewürze, ABl. 1978 L 53/20 (23). In diesem Fall lag eine Alleinbezugsbindung kombiniert mit einer Preisbindung vor. Eine Freistellung wurde daher nicht erteilt. 890 Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit der VO Nr. 67/67 bestanden nach Meinung der Kommission trotz der Verbindung des Konkurrenzverbots mit weiteren Verpflichtungen nicht, da diese keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellten, Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15, Tz. 31). 891 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (27). 892 Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (17).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

e) Verfahren zur Zulassung und zum Ausschluss Hinsichtlich des Verfahrens zur Zulassung eines Absatzmittlers zum Vertriebssystem hat die Europäische Kommission keine kartellrechtlichen Bedenken, soweit über die Zulassung innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird.893 Enthält eine Vertriebsvereinbarung keine solche Frist, ist sie unzulässig und zu streichen, da andernfalls die Zulassung unangemessen verzögert werden könnte.894 Diese Feststellung der Kommission relativiert sich aber, da neueren Entscheidungen eine weniger restriktive Vorgehensweise entnommen werden kann. So wurde Herstellern in den Parfum-Fällen eine weitaus längere Frist eingeräumt, innerhalb derer sie über die Zulassung entscheiden mussten.895 Dabei geht die Kommission davon aus, dass das längere Zulassungsverfahren eine flexiblere Integrierung des Einzelhändlers in das selektive Vertriebssystem zulasse. Zudem stünde der Hersteller vor einer organisatorischen Aufgabe, die bewältigt werden müsse. Schließlich ermögliche die längere Frist dem Händler, seinen Laden in Ruhe den Anforderungen des Herstellers entsprechend umzubauen. Diese Gründe für die Freistellung sind neu. Deutlich werden die Interessen des Herstellers in den Vordergrund gestellt. Grundvoraussetzung ist aber stets, dass die Zulassungspraxis tatsächlich dem von der Kommission zu prüfenden bzw. geprüften Vertragswerk entspricht. Andernfalls wird ein an sich unbedenkliches selektives Vertriebssystem durch die missbräuchliche Verweigerung der Netzzugehörigkeit zu einer verbotenen und auch nicht freistellungsfähigen Vereinbarung.896 Ebenfalls als Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG und wohl auch als nicht freistellungsfähig sah die Kommission in der Saba II-Entscheidung die ursprünglich von „Saba“ vorgesehene Kündigungsregelung an. Danach sollte ein Recht zur ordentlichen Kündigung unabhängig von einem Kündigungsgrund gegenüber einzelnen Händlern möglich sein. Diese Klausel musste der Hersteller ebenso ändern wie die Voraussetzungen für sein außerordentliches Kündigungsrecht. Eine Kündigung wegen des Werbens mit Lockvogelangeboten könne nur dann erfolgen, wenn der diesbezügliche Vorwurf von dem betroffenen Händler nicht bestritten oder gerichtlich festgestellt 893 Diese Frist beträgt in der Regel vier Wochen, vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. c) aa). 894 Komm. v. 21.12.1983, Saba II, ABl. L 376/41 (47). 895 Eine Ursache für diese großzügigere Behandlungsweise des Zulassungsverfahrens liegt aber auch darin, dass beide Hersteller ihr quantitatives System auf ein qualitatives Vertriebssystem umstellten, vgl. hierzu auch Schrödermeier, in: DB 1994, 1225 (1227). 896 Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (24, Tz. 61 ff.).

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wurde. Erst dann sei gewährleistet, dass diskriminierende willkürliche Ausschlüsse einzelner unliebsamer Händler unterbleiben. Aber auch hinsichtlich der Bedingungen zur Beendigung von Vertriebsverträgen ist die Kommission nunmehr großzügiger. Zum Teil werden bestimmte Klauseln bereits nicht mehr als tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung charakterisiert897, sodass es keiner Freistellung mehr bedarf. In den Parfum-Fällen gestand die Kommission zudem dem Hersteller zu, die Laufzeit der einzelnen Verträge auf ein Jahr zu befristen. Daher kann sich der Hersteller von einem Händler zulässigerweise trennen, wenn er beispielsweise die Mindestumsatzverpflichtung nicht erfüllt. f) Aktivverkaufsverbot Bereits in der Junghans-Entscheidung wurde die den Großhändlern auferlegte Verpflichtung, in anderen Mitgliedsstaaten aktive Verkaufstätigkeiten zu entwickeln, freigestellt.898 Dabei wendete die Kommission die in der VO Nr. 67/67 geltenden Grundsätze für ein beschränktes Werbeverbot an.899 Bei der Erklärung der Unbedenklichkeit derartiger Bindungen ist die dahinter stehende Motivation der Gemeinschaftsorgane klar: Aktivverkaufsverbote dienen der Markterschließung, indem sich die Händler besonders intensiv für den Vertrieb der Vertragsware einsetzen, ohne dass sie durch Werbung, Einrichtung von Niederlassungen oder Auslieferungslager anderer Absatzmittler darin behindert werden können. Die damit einhergehenden Rationalisierungseffekte und Verbesserungen in der Versorgung würden dabei auch an die Verbraucher weitergegeben, weil im Fall „Junghans“ auf dem Markt für Uhren ein hinreichend starker Wettbewerbsdruck bestehe und der Intrabrand-Wettbewerb dadurch gesichert sei, dass Querlieferungen im gesamten System möglich blieben. Letzteres ist auch der Grund dafür, dass die Bindung nicht den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der Waren auszuschließen vermag. Dies ist insbesondere deswegen der Fall, weil das Wettbewerbsverbot in anderen Mitgliedsstaaten nicht für die Einzelhändler gilt. Schließlich stellte die Kommission ausdrücklich fest, dass diese Freistellung nur solange Bestand haben kann, wie der Uhrenhersteller in den betreffenden Ländern eine nur schwache Marktposition innehat.900 897

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. c) bb). Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15 f., Tz. 33 ff.). 899 Eine direkte Anwendung der VO Nr. 67/67 schied aus, da Junghans in Belgien nicht, wie nach der VO erforderlich, nur einen Händler belieferte, sondern mehrere Absatzmittler, Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (15, Tz. 31 f.). 900 Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (17, Tz. 42). 898

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Noch einen Schritt weiter ging die Europäische Kommission, bestätigt durch den EuGeI, in den Parfum-Fällen. Hier wurde sogar ein Aktivverkaufsverbot der Einzelhändler für zulässig erklärt, wenn dies beschränkt ist auf die Dauer von einem Jahr und nur für ein in einem anderen Land neu eingeführtes Produkt gilt.901 Hier wird erneut das Markterschließungs- bzw. Produkteinführungsargument als Legitimationsgrund genannt. Dieser auf eine gewisse Zeit begrenzte Territorialschutz ist eine herstellerfreundliche Entscheidung, da dieser so die Effektivität eines neuen Produkts testen und notfalls wieder vom Markt nehmen kann, ungeachtet der negativen Auswirkungen für den Intrabrand-Wettbewerb. g) Ausgleichszahlungen Ausgleichszahlungen902 hat die Kommission für das „Ivoclar-Vertriebssystem“ freigestellt, da die Händler den dadurch entstehenden Gebietsschutz als Gegenleistung für die von ihnen getätigten, erheblichen Aufwendungen bedurften.903 Aufgrund der Formulierung der Kommission, dass sich die Freistellung „unter den besonderen Umständen des vor-liegenden Falles“ rechtfertigt, kommt dieser Entscheidung absoluter Ausnahmecharakter zu. h) Quantitative Selektion Vertriebssysteme, die auf einer quantitativen Selektion der Abnehmer beruhen, können nur in Ausnahmefällen freigestellt werden.904 Auch hierbei spielt die Produkteigenschaft eine herausragende Rolle: Nur soweit die Art des Erzeugnisses eine enge Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Wiederverkäufer erfordert, die nicht durch eine andere Form des Vertriebs erreicht werden kann, kommt eine Freistellung in Betracht. Angenommen wurde dies beispielsweise für dentaltechnische und -medizinische Erzeugnisse der Firma „Ivoclar“.905 Ebenfalls eine Einzelfreistellung konnte der Uhrenhersteller „Omega“ erhalten, da die quantitative Begrenzung nach Ansicht der Kommission zu einer intensiven und kontinuierlichen Marktbearbeitung durch die Händler führte.906 Nur durch die zahlen- und gebietsmäßige Beschränkung würden diese die Bereitschaft zeigen, erhebliche Investi901 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (32); Komm. v. 24.07.1992, Givenchy, ABl. L 236/11 (19). 902 Vgl. zu Begriff und Wirkung oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 1. b) cc). 903 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1 (4, Tz. 22). 904 So auch die Kommission im V. Wettbewerbsbericht (1975), S. 26 (Tz. 13). 905 Komm. v. 27.11.1985, Ivoclar, ABl. L 369/1. 906 Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/22 (27).

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tionen zu tätigen. In der Sache „BMW“ wurde die quantitative Selektion aufgrund der ständigen Kooperation zwischen Hersteller und Wiederverkäufern sowie mit Rationalisierungserfolgen und den beim Kfz-Vertrieb herrschenden Besonderheiten gerechtfertigt.907 Die nur restriktive Freistellung quantitativ wirkender Vertriebssysteme verdeutlicht das Bemühen der Gemeinschaftsorgane, den Intrabrand-Wettbewerb zu schützen. Keine Vereinbarung innerhalb selektiver Vertriebssysteme wirkt schließlich derart unmittelbar auf die Händlermarktstruktur und damit auf die markeninterne Konkurrenz ein wie die zahlenmäßige Begrenzung der Abnehmerschar. 2. Nicht-freistellungsfähige Klauseln Schließlich sind die Vertragsbestandteile selektiver Vertriebssysteme zu nennen, die in der Regel nicht vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt werden. Dabei hängt die Entscheidung über die definitive Nichtigkeit gem. Art. 81 Abs. 2 EG stark vom Einzelfall ab. a) Vertriebsbindungen Erfordert ein Produkt kein selektives Vertriebssystem, so ist auch die zugrundeliegende Vertriebsbindung nicht freistellungsfähig. So konnte in der Entscheidung „Ideal Standard“ die den Großhändlern auferlegte Verpflichtung, ausschließlich an Sanitärinstallateure zu liefern, nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 3 EG fallen. Das Vertriebsnetz des Herstellers für Sanitärarmaturen konnte nicht zulässigerweise errichtet werden, da die Anforderung an die Einzelhändler, einen ausgebildeten Installateur zu beschäftigen, zur Folge hatte, dass bestimmte Vertriebsformen (wie Warenhäuser, Baumärkte) generell vom Absatz der betreffenden Erzeugnisse ausgeschlossen wurden.908 Aufgrund der oben festgestellten Akzessorität bestimmter Vertragsklauseln909 im Verhältnis zu der aus der Produkteigenschaft resultierenden Notwendigkeit einer selektiven Absatzstrategie gilt auch hier der Grundsatz, dass sämtliche Verpflichtungen auch nur dann freistellungsfähig sind, wenn 907 Kraftfahrzeuge bedürfen einer ständigen Pflege, umfangreichen Service und haben einen erheblichen Wert. Zudem hat deren Nutzung Auswirkungen auf das Leben, die Gesundheit, das Vermögen und die Umwelt. Komm. v. 13.12.1974, BMW, ABl. 1975 L 29/1 (7). 908 Komm. v. 10.12.1984, Ideal Standard, ABl. 1985 L 20/38 (42 f., Tz. 19 ff.). 909 So zum Beispiel bei Absatz- und Kontrollbindungen; vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) bb) (2) und 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) bb) (6) (b).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

das selektive Vertriebssystem als solches zulässig ist.910 Damit steht auch im Rahmen der Freistellungsentscheidung ganz das Selektionskonzept des Herstellers im Vordergrund und weniger die einzelne Vertragsklausel. b) Bezugsbindungen hinsichtlich Vertragswaren Unzulässig und wohl auch nicht freistellungsfähig ist die Verpflichtung der Händler, die vertriebsgegenständlichen Waren ausschließlich beim Hersteller zu beziehen. Dadurch wir es dem Absatzmittler versagt, alternative lukrative Angebote wahrzunehmen. Bei einer durchlaufenden Bezugsbindung kann der Intrabrand-Wettbewerb ganz zum Erliegen kommen.911 Für den Lieferanten haben diese Bindungen den Vorteil der Transparenz über den Gesamtbedarf seiner Händler. Eine Bezugsbindung für Vertragswaren sah zunächst der Depot-Vertrag von „Yves Saint Laurent“ vor.912 Diese musste auf Veranlassung der Kommission gestrichen werden, da es den Absatzmittlern möglich bleiben musste, die Produkte bei Importeuren oder anderen Vertriebshändlern beziehen zu können.913 Gleiches gilt für eine Bezugsbindung, die den Händler verpflichtet, von einem Generalvertreter zu beziehen. So musste Omega diese Klauseln zugunsten der Bezugsfreiheit der Händler aufgeben.914 c) Bezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren Zwar stellte die Kommission in der Sache „Junghans“ ein Konkurrenzverbot frei915, doch kommt dieser Entscheidung Ausnahmecharakter zu. Der Händler begibt sich seiner Sortimentsbildungsfreiheit in der Regel nur als Gegenleistung für die Einräumung eines Alleinvertriebsrechts, sodass es insoweit auf die GVO Nr. 1983/83 ankommt.916 Absolute Bezugsbindungen sind dem selektiven Vertrieb wesensfremd und können damit nicht freigestellt werden. 910 Da beispielsweise die Komm. v. 10.12.1984, Grohe, ABl. 1985 L 19/17 den Absatz von Sanitärarmaturen mittels selektiver Vertriebssysteme als nicht erforderlich ansah, sind damit auch sämtliche Vertragsklauseln nicht freistellungsfähig. 911 Stöver, in: Sasse, 348 (393). 912 Komm. v. 16.12.1991, Yves Saint Laurent Parfums, ABl. 1992 L 12/24 (27). 913 Klotz, in: EuR 1993, 72 (82). 914 Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/22 (3). 915 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. IV. 1. d). 916 Hoppe, in: Martinek/Semler, § 31, Rdnr. 54; G/T/E/Jakob-Siebert/Jorna, Art. 85, Fallgruppen, Rdnr. 205.

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d) Pflicht, Umsatz vor allem mit Produkten zu erzielen, zu denen auch die Vertragsware gehört Nicht freistellungsfähig sind Klauseln, die vorsehen, dass als Einzelhändler nur solche zugelassen werden, die ihren Umsatz überwiegend mit dem Verkauf solcher Produkte erzielen, zu denen auch die Vertragsware zählt.917 Solche Zulassungsvoraussetzungen schließen automatisch bestimmte Vertriebsformen, wie etwa Kaufhäuser, von vornherein aus dem System aus, sodass insoweit auch keine Freistellung in Betracht kommt. 3. Quasi-per-se-Verbotsbereich Letztlich gibt es Vertragsklauseln, die keinesfalls zwischen den Parteien vereinbart werden können. Dabei ist unerheblich, ob es sich um eine einfache, qualifizierte Fachhandelsbindung oder um eine quantitative Selektion handelt. Dem Grunde nach gibt es im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG an sich keine Absprachen, die von vornherein von der Möglichkeit der Freistellung ausgeschlossen sind.918 Nach über 30jähriger Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu selektiven Vertriebssystemen haben sich aber „Todsünden“ herauskristallisiert, für die quasi ein Per-se-Verbot besteht. Die Rede ist vor allem von territorialen Marktaufteilungen und Preisbindungen.919 a) Marktaufteilungen Alle Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar den europäischen Markt geographisch aufteilen, sind grundsätzlich nicht freistellungsfähig. Offen-sichtlich unzulässig sind daher Klauseln, nach denen Händler oder Kunden aus anderen Mitgliedsstaaten nicht beliefert bzw. von Händlern aus anderen Staaten die Waren nicht bezogen werden dürfen, mithin also sämtliche Formen von Export- und Importverboten.920 Aber auch subtilere Beschränkungsvarianten mit dem gleichen Ergebnis werden von der Europäischen Kommission in keinem Fall freigestellt. Hierunter fallen beispielsweise Beschränkungen bei der Garantie. So sind Verpflichtungen, durch welche es den Einzelhändlern untersagt wird, Garantieleistungen für Produkte zu erbringen, die von einem netzzugehörigen, aber außerhalb des 917

Komm. v. 15.12.1975, Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (24, Tz. 21 f.). Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. I. 919 Vgl. hierzu Koenigs, in: Schwarze, 137 (142 ff.). 920 Komm. v. 13.07.1987, Sandoz, ABl. L 222/28 (32), bestätigt durch EuGH 11.01.1990, Sandoz/Komm., Rs. C-277/87, Slg. 1990 I-45 ff.; Komm. v. 14.12. 1979, Pioneer Hi-Fi-Geräte, ABl. 1980 L 60/21 (35 f., Tz. 87). 918

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

Vertragsgebiets ansässigen Absatzmittler erworben worden sind, nicht freistellungsfähig.921 Diese dienen ausschließlich zur Unterbindung bzw. Behinderung des Parallelhandels und können daher nicht in den Genuss einer Freistellung gelangen. Gleiches gilt für alle anderen Maßnahmen, die der Hersteller ergreift, um den grenzüberschreitenden Verkehr zu behindern. In Betracht kommt vor allem die wirtschaftliche Erschwerung von Parallelimporten über Preis- und Rabattregelungen.922 b) Querlieferungs- und Rücklieferungsverbot Gebietsschutzähnliche Wirkungen haben sowohl Querlieferungs- als auch Rücklieferungsverbote. Daher sind nach einhelliger Ansicht von Kommission und EuGH sowohl das Verbot, Waren von anderen Absatzmittlern auf derselben Handelsstufen zu beziehen, als auch an die vorhergehende Markstufe zurückzuliefern, unter keinem Gesichtspunkt freistellungsfähig.923 Es kann schon als eiserner Grundsatz des selektiven Vertriebs gelten, dass alle zum System zugelassenen Händler rechtlich frei sein müssen, die Vertragswaren untereinander weiterzugeben bzw. zu beziehen.924 Diese Freiheit sieht die Kommission als Mindestanforderung für die Gewährleistung eines Preiswettbewerbs auf den Handelsstufen an. Die Argumente, die auf das Sprunglieferungsverbot zutreffen, können für Quer- und Rücklieferungsverbote keine Gültigkeit erlangen. Bei diesen geht es nicht um das Auslassen einer Marktstufe im Absatzgefüge, sondern es sollen Lieferungen auf der gleichen bzw. vorgelagerten Handelsstufe unterbunden werden. Dadurch wird es den Händlern verwehrt, günstigere Bezugsquellen wahrzunehmen, wodurch das Preisniveau zementiert wird. Neben dieser Schutzbedürftigkeit des Preiswettbewerbs liegt die Ursache für das Quasi-per-se-Verbot auch in der marktabschottenden Wirkung derartiger Verpflichtungen. So wohnt auch ihnen die starke Tendenz inne, eines der höchsten Schutzgüter der Gemeinschaft – den Parallelhandel – zu unter921 EuGH 10.12.1985, ETA/DK Investment, Rs. 31/85, Slg. 1985, 3933 (3944). Die Beschränkung der Garantie nur auf solche Waren, die im offiziellen Vertriebsnetz erworben sind, stellt hingegen schon tatbestandsmäßig keine Wettbewerbsbeschränkung dar, sodass es insoweit keiner Freistellung nach Abs. 3 bedarf, vgl. hierzu bereits oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. b) aa) (3). 922 Komm. v. 14.12.1984, John Deere, ABl. 1985 Nr. L 35/38 (63). 923 Meist werden derartige Klauseln schon vor der eigentlichen Prüfung, ob eine Freistellung erteilt werden kann, auf Veranlassung der Kommission gestrichen, da die mangelnde Freistellungsfähigkeit derart evident ist, vgl. Komm. v. 21.12.1976, Junghans, ABl. L 30/10 (12 f., Tz. 17); Komm. v. 28.10.1970, Omega, ABl. L 242/ 22 (24); Komm. v. 15.12.1975 – Saba I, ABl. 1976 L 28/19 (24, Tz. 21 f.). 924 Komm. v. 13.12.1989, Bayo-n-ox, ABl. 1990 L 21/71 (76, Tz. 43).

§ 4 Bestandsaufnahme

211

binden. Diese Form der marktstufenspezifischen Kundenbindungen verhindert den Übergrenzhandel zwischen netzzugehörigen Händlern. Immer wenn dies zu drohen scheint, gibt es bei der Kommission keinen Rechtfertigungsgrund. Die Grenze für die Zulässigkeit des selektiven Vertriebs besteht stets dort, wo der Grund für die tendenziell positive Einstellung der Gemeinschaftsorgane gegenüber dieser Vertriebsform nicht mehr erreicht werden kann. Befürwortet werden selektive Vertriebssysteme vor allem wegen ihrer möglichen marktintegrierenden Wirkung. Bezwecken oder bewirken Vertragsklauseln aber genau das Gegenteil hiervon, indem die Verkäufe zugelassener Händler innerhalb der Gemeinschaft behindert werden, sind sie unter keinerlei Umständen freistellungsfähig. c) Preisbindungen Zu den ebenfalls nicht einzelfreistellungsfähigen Wettbewerbsbeschränkungen zählen Preisbindungen jeglicher Art.925 Hierin kann die Europäische Kommission weder einen Vorteil für die Verbraucher sehen noch sind derartige Bindungen unerlässlich für die Praktizierung eines selektiven Vertriebssystems.926 Ganz im Gegenteil legt der EuGH aufgrund der selektiven Vertriebssystemen innewohnenden Tendenz zur Dämpfung des Preiswettbewerbs gerade großen Wert darauf, dass die Händler autonom über den Wettbewerbsparameter Preis bestimmen können. Daher werden auch Preisempfehlungen kritisch von den Gemeinschaftsorganen betrachtet. Bleibt es bei einer bloßen Empfehlung, bestehen wegen der Einseitigkeit keine kartellrechtlichen Bedenken. Sobald aber die Empfehlung preisdisziplinierend wirkt, indem an sie weitere Umstände geknüpft werden927, fällt sie in den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG und kann auch nicht freigestellt werden.

925 Vgl. zu deren möglichen Ausgestaltungsformen bereits oben unter 1. Teil, § 1, D. IV. 4. b). 926 Komm. v. 06.01.1982, AEG/Telefunken, ABl. L 117/15 (27, Tz. 73). Die mangelnde Freistellungsfähigkeit ist für die Kommission derart klar, dass es hier nicht vieler Worte bedarf (abgesehen davon wich das tatsächlich von AEG/Telefunken praktizierte Vertriebssystem von der angemeldeten Vereinbarung ab, sodass bereits eine Freistellung mangels Anmeldung ausscheiden musste). 927 Entweder in Form von Vergünstigungen (Wohlverhaltensbonus) oder aber von Nachteilen (Nichtgewährung von Rabatten).

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1. Teil: Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept?

V. Zwischenergebnis Die Freistellungspraxis der Europäischen Kommission bezüglich selektiver Vertriebssysteme stellt eine ausgeprägte Einzelfalljustiz dar. Entsprechend der vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Vertriebsform fällt es schwer, Vertragsklauseln herauszuarbeiten, die als grundsätzlich unbedenklich gelten. Was in dem einen Händlernetz eine zulässige Vertriebsbindung darstellt, kann bei dem Absatz eines anderen Produkts bereits zu einer nicht freistellungsfähigen Wettbewerbsbeschränkung führen. Auch im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG kommt es für die Beurteilung der Freistellungsfähigkeit mehr auf das vom Hersteller verfolgte Selektionskonzept an als auf die Zulässigkeit einzelner Vertragsklauseln. Leicht hingegen fällt die Einordnung von Gebietsschutzklauseln und Preisbindungen sowie deren Surrogate. Hier kann grundsätzlich von einem Quasi-per-se-Verbot ausgegangen werden. Bei den einzelnen materiellen Freistellungsvoraussetzungen wird deutlich, dass sich die Kommission gern auf einmal bereits in anderen Fällen Festgestelltes besinnt. So hat man bei Lektüre der Entscheidungen oftmals immer wiederkehrende Begründungen vor sich. Bei der Verbesserung der Warenerzeugung und -verteilung sind dies die Rationalisierungsgewinne, die bessere Marktversorgung und die Erschließung neuer Märkte. Der Vorteil für die Verbraucher besteht zumeist in der Sicherstellung einer angemessenen Beratung und in einem leistungsfähigen Kundendienst. Die Unerlässlichkeitsprüfung fällt, mit wenigen Ausnahmen, meist viel zu knapp aus und ist in der Regel ohnehin gegeben. Auch bei dem aus wettbewerbstheoretischer Sicht interessantesten Merkmal der Nichtausschaltung wesentlichen Wettbewerbs fasst sich die Kommission in der überwiegenden Zahl der Fälle bedauerlicherweise relativ kurz. Dabei wird aber stets sowohl auf den markeninternen als auch auf den markenexternen Wettbewerb abgestellt. Unbedingt erforderlich, um eine Genehmigung für das angemeldete System zu erlangen, ist dabei, dass nicht von vornherein bestimmte Vertriebsformen vom Absatz der Waren ausgeschlossen werden. Insofern werden auch in der Freistellungspraxis Interbrand-, Intrabrand- und Intertype-Wettbewerb berücksichtigt und geschützt. Wenig bis gar keine Rolle928 in den Freistellungsentscheidungen hat bisher der Marktanteil der Systemzentrale gespielt.929 Dies kann zwei Gründe haben. Zum einen hatte die Kommission bisher anscheinend selten angemeldete 928

Als Ausnahmen sind vor allem die Omega- und die Villeroy&Boch-Entscheidung zu nennen. 929 So auch Wild, S. 126 ff. (v. a. 129 f.); Joerges, in: GRUR Int. 1984, 279 (283 f.).

§ 4 Bestandsaufnahme

213

Vertriebsvereinbarungen von marktstärkeren Unternehmen zu entscheiden.930 Zum anderen könnte dies aber auch daran liegen, dass sie den Faktor der Marktmacht bisher als nicht derart relevant betrachtet hat, als dass er hätte berücksichtigt werden müssen. Eine untergeordnete Rolle hat auch die Existenz von ähnlichen Vertriebssystemen auf demselben Markt gespielt. Zwar hätte man aufgrund der Metro I-Entscheidung denken können, dass es in Zukunft ganz wesentlich auf die kumulative Wirkung ankäme, tatsächlich ist dies aber nicht der Fall. Von einigen Entscheidungen abgesehen, in denen diese berücksichtigt wurde, fehlen nähere Ausführungen hierzu vor allem dann, wenn sie wünschenswert gewesen wären.931 Bereits im Rahmen der Untersuchung der Entscheidungspraxis zu Art. 81 Abs. 1 EG konnte eine seit den 90er Jahren zum Teil großzügigere Bewertung bei der inhaltlichen Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme festgestellt werden. Diese Tendenz setzt sich in der Freistellungspraxis fort. Mehr als zuvor fließen ökonomische Betrachtungen in die Entscheidungen mit ein. Bei der Berücksichtigung der aufeinandertreffenden und sehr ambivalenten Interessenlagen wird mehr als früher die Freiheit der Hersteller an einer autonomen Vertriebswegegestaltung berücksichtigt. Diese Vorgehensweise kann als Reaktion auf die Kritik der Chicago School verstanden werden, da damit automatisch ein Mehr an Intrabrand-Wettbewerbsbeschränkungen zugelassen wird. Dies hat aber nicht zur Konsequenz, dass die Interessen der nachgelagerten Marktstufe gänzlich außer Betracht bleiben. Insbesondere wird auch noch der Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs verteidigt, wenn auch mit deutlich weniger Vehemenz als früher.

930 931

So zumindest Joerges, in: GRUR Int. 1984, 279 (284). Vgl. hierzu schon oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. d).

2. Teil

Die Beurteilung des selektiven Vertriebs nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen § 1 Einführung A. Entstehungsgeschichte der Vertikal-GVO Am 01.01.2000 trat die Verordnung über die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen in Kraft.1 Vorausgegangen waren mehrjährige und umfangreiche Vorarbeiten. Seinen Anfang nahm „die Neufassung der Politik im Bereich der vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen“2 in dem Grünbuch zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen. Dieses enthält ausführliche Beschreibungen der Strukturmerkmale des Vertriebssektors, eine ökonomische Analyse vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen sowie die Darstellung der gegenwärtigen Rechtslage in verfahrens- und materiellrechtlicher Hinsicht. Nach einer rechtsvergleichenden Übersicht der Behandlung von Vertikalvereinbarungen in einzelnen Mitgliedsstaaten sowie in den USA und Kanada werden die Ergebnisse einer im Vorfeld des Grünbuchs durchgeführten Untersuchung dargestellt.3 Das Grünbuch endet schließlich mit vier verschiedenen Optionen, anhand derer die Diskussion über die zukünftige Vorgehensweise geführt werden sollte.4 Die Reaktionen5 auf das Grünbuch stellte die Kommission im Herbst 1998 in ihrer Mitteilung über die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln 1

Die GVO Nr. 2790/99 gilt bis zum 31.05.2010, vgl. Art. 13 Vertikal-GVO. XXVII. Wettbewerbsbericht (1997), S. 20 (Tz. 10). 3 Rohardt, in: WuW 1997, 473 (474) bezeichnet den Aufbau des Grünbuchs durchaus zu Recht als „eigenwillig“. 4 Die Optionen sollten aber nach dem Willen der Kommission durchaus miteinander kombinierbar sein. Darüber hinaus konnten auch über die vier Optionen hinaus ganz andere Vorschläge gemacht werden, vgl. Grünbuch, Tz. 272. 5 Mit einer Anzahl von 277 schriftlichen Reaktionen (Mitteilung, S. 8) kann das Interesse in Europa an der zukünftigen Handhabung von Vertikalvereinbarungen als durchaus rege angesehen werden. 2

§ 1 Einführung

215

auf vertikale Beschränkungen vor. In dieser wurden die Kritikpunkte an der bisherigen Rechtslage dargestellt. Es wurde erneut sehr ausführlich über Bedeutung und Auswirkungen vertikaler Absprachen referiert. In diesem Follow-Up zum Grünbuch kristallisierte sich erstmals die Option des Erlasses einer branchenübergreifenden Gruppenfreistellungsverordnung heraus.6 Im September 1999 veröffentlichte die Kommission sodann den ersten Entwurf für eine sektorübergreifende Gruppenfreistellungsverordnung7 und den dazugehörigen Leitlinien.8 Nach dieser langen Vorlaufzeit wurde am 22.12.1999 die Vertikal-GVO verabschiedet. Begleitend hierzu veröffentlichte die Kommission drei Monate später die Leitlinien für vertikale Beschränkungen. In diesen wird die Anwendbarkeit und der Inhalt der GVO Nr. 2790/99 näher erläutert und vor allem Grundsätze für die Beurteilung vertikaler Vereinbarungen dargestellt, die nicht unter die GVO fallen. Nach dem Willen der Kommission sollen die Leitlinien es den Unternehmen erleichtern, die eigenen vertikalen Vereinbarungen selbst nach Maßgabe des EG-Vertrages zu beurteilen.9 Schließlich hat die Kommission 2002 einen Leitfaden über die Wettbewerbsregeln für Liefer- und Vertriebsvereinbarungen herausgegeben.10 Dieser soll anhand der Information über die Neuregelungen dazu anregen, dass die Vorschriften eingehalten werden und Verstöße bei der Kommission gemeldet werden.11 Der Leitfaden richtet sich primär an Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Verbraucher und enthält dementsprechend überblicksartig die Kernaspekte der Vertikal-GVO, der Leitlinien und die Kriterien für die Bewertung der gängigsten vertikalen Beschränkungen.12 Im Folgenden soll nicht detailliert auf den Inhalt der einzelnen Veröffentlichungen der Kommission eingegangen werden.13 Auf die verschiedenen 6 Mitteilung der Komm. vom 30.09.1998 über die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln auf vertikale Beschränkungen, Vertikale Beschränkungen des Wettbewerbs: Konkrete Vorschläge im Anschluss an das Grünbuch, ABl. C 365/3, S. 33. Im Folgenden wird diese als Mitteilung bezeichnet. 7 Mitteilung der Komm. v. 24.09.1999 über die Anwendung von Art. 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 1999 C 270/7 (Im Folgenden zitiert: Entwurf der VertikalGVO). 8 Leitlinien über vertikale Beschränkungen, ABl. C 270/12 (Im Folgenden zitiert: Leitlinien-Entwurf). 9 Leitlinien, Tz. 3. 10 Im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/ rules_de.pdf. Im Folgenden wird dieser als Leitfaden bezeichnet. 11 Leitfaden, Vorwort des Wettbewerbskommissars Monti, S. 4. 12 Hierbei werden die wesentlichen Punkte aus dem Grünbuch, aus dem FollowUp und den Leitlinien in einer verständlicheren Fassung wiederholt.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Verlautbarungen der Kommission soll vielmehr dann zurückgegriffen werden, wenn es die Untersuchung erfordert.

B. Ursachen für die Neuregelungen Bei den ersten Überlegungen zur Neugestaltung der europäischen Wettbewerbspolitik gegenüber Vertikalvereinbarungen nannte die Kommission im Grünbuch drei Gründe für die Reformbedürftigkeit: die weitgehende Umsetzung der Binnenmarktvorschriften für den freien Warenverkehr, das Auslaufen der drei bisherigen GVOen für vertikale Beschränkungen und den erheblichen Wandel der Vertriebsstrukturen.14 Unmittelbarer Handlungsbedarf bestand zunächst aufgrund des Auslaufens der GVOen für den Alleinbezug, den Alleinvertrieb15 und das Franchising zum Jahresende 1999. Aber bereits im Follow-Up-Papier zum Grünbuch wurde deutlich, dass die Änderungen auch und gerade aufgrund der vielfach geäußerten Kritik an dem bisherigen System zu erfolgen hatten. Zu lange hatte diese kein Gehör bei der Kommission gefunden, die primär stets ihr „Massenproblem“ beseitigen wollte. Daher kann es auch nicht verwundern, dass im Rahmen der angestrebten Modernisierung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft zunächst die Praxis gegenüber Vertikalvereinbarungen einer Bestandsaufnahme unterzogen wurde. Beklagte sich doch die Kommission gerade hinsichtlich Vertriebsabsprachen über die hohe Anzahl der angemeldeten wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen.16 Als Unzulänglichkeit des bisherigen Systems17 wurde vor allem kritisiert, dass seit den 80er Jahren die Vielzahl von Gruppenfreistellungsverordnungen, Bekanntmachungen und Mitteilungen zu einem sich vielfältig über13 Vgl. zum Grünbuch insbesondere: Rohardt, in: WuW 1997, 473 ff.; Veelken, in: ZVglRWiss 97 (1998), 241 ff.; Eilmannsberger, in: wbl 1997, 357 ff.; Ackermann, in: EuZW 1997, 271 ff.; zum Follow-Up insbesondere: Ackermann, in: EuZW 1999, 741 ff.; Rohardt, in: WuW 1998, 1050 ff. 14 Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 3; Grünbuch, Tz. 7. 15 Die GVOen Nr. 1983/83 und Nr. 1984/83 wären eigentlich bereits Ende 1997 ausgelaufen, vgl. Art. 10 der GVO Nr. 1983/83 und Art. 19 der GVO Nr. 1984/83. Die Kommission verlängerte beide jedoch im Hinblick auf das Reformvorhaben bis Ende 1999, vgl. die Verordnung (EG) Nr. 1582/97vom 30.07.1997, ABl. L 214/27. 16 Vgl. Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 15. Ein weiterer wesentlicher Grund ist zudem darin zu sehen, dass die Reform der Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Vereinbarungen ein weniger „heißes Eisen“ ist als eine solche für Wettbewerbsbeschränkungen im Horizontalverhältnis. 17 Diese werden dargestellt in der Mitteilung, S. 4; S. 8. Vgl. aus dem Schrifttum: Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 ff.; Geers, S. 70 ff.; Gillessen, S. 47 ff.

§ 1 Einführung

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schneidenden und stark regulierenden System von Anwendungsvorschriften für bestimmte Formen von Vertriebsvereinbarungen geführt hat.18 Gleichzeitig zeichnete sich aber auch eine unbefriedigende Lückenhaftigkeit ab. Es fehlte insbesondere an einer Regelung für den selektiven Vertrieb19 (mit Ausnahme des Kfz-Vertriebs), für Zulieferverträge, für Dienstleistungen außerhalb des Franchisings und für Absprachen, an denen mehr als zwei Unternehmen beteiligt waren.20 Die wohl wesentlichsten, vor allem von der Wirtschaft geäußerten21, Kritikpunkte betrafen die beiden schlagwortartig unter den Überschriften zusammengefassten Problembereiche des „Zwangsjackeneffekts“ und des „Alles-oder-Nichts-Prinzips“.22 Ersteres bezeichnet die Konsequenz aus der Grundsystematik der bisher erlassenen Gruppenfreistellungsverordnungen. Diese enthielten zum einen in sog. weißen Listen23 Klauseln, die der Freistellung fähig sind und damit nicht vom Kartellverbot erfasst werden, und zum anderen in sog. schwarzen Listen Klauseln, die keinesfalls in den Verträgen auftauchen durften. Das System der weißen Liste führte zu mehreren Problemen. Die Unternehmen unterlagen durch diese Positivvorgaben einem großen Standardisierungsdruck, eben dem „Zwangsjackeneffekt“. Der freie, flexible, auf die Umstände des Einzelfalls abgestimmte und vor allem auch ökonomisch sinnvolle Vertragsschluss wurde den Unternehmern damit nahezu unmöglich gemacht.24 Die Kommission nennt jedoch in ihrem Grünbuch unter anderem als Vorteil des bisherigen Systems, dass aufgrund der Möglichkeit der Einzelfrei18 Als Ursache dessen haben Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 (135), bestätigt durch Geers, S. 76 f., die Vermischung verschiedener Regelungskonzepte herausgearbeitet. So knüpfen die GVOen entweder an die von den Parteien gewählten Klauseln (wie etwa Alleinbezug) an oder an den mit der Vereinbarung verfolgten Zweck (wie etwa Spezialisierung) oder aber an die Branche (wie etwa Kfz-Vertrieb). 19 Als Grund nannte die Kommission interessanterweise auch hier, dass es kein Problem der großen Zahl gab und sich daher für ein Vorgehen im Einzelfall entschieden wurde, vgl. Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 18. 20 Vgl. 7. Erwägungsgrund zur Änderung der VO Nr. 19/65 durch die Verordnung (EG) Nr. 1215/99 des Rates vom 10.06.1999, ABl. L 148/1 (2). 21 Grauel, in: MA 1999, 46; Charbonnier, in: DZWir 1996, 265 (271). 22 Vgl. ausführlich zum „Chaos der Gruppenfreistellungsverordnungen“ Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 ff. 23 Vgl. zu der terminologischen Problematik bei weißen Klauseln, Geers, S. 69 (v. a. Fn. 210). 24 Bechtold, in: EWS 2001, 49 (50) spricht von „Quasi-Formularverträge“ für die Unternehmen und Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 (131) von „vorformulierten Vertragsmustern“.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

stellung neue und innovative Vertriebsformen entstehen können.25 Dieser positive Effekt ist aber nur theoretischer Natur. Tatsächlich hat die Rechtsrealität gezeigt, dass die Neigung der Unternehmen viel größer ist, den schnelleren und einfacheren Weg der wortlautgetreuen Übernahme des GVO-Textes zu gehen als die Dauer, Kosten und Risiken eines Einzelfreistellungsverfahrens in Kauf zu nehmen. Daher verhinderten die bisherigen Gruppenfreistellungsverordnungen gerade das, was durch den Wettbewerb bewirkt werden soll: die vertragliche Vielfalt bei den Erscheinungsformen der Distribution von Erzeugnissen.26 Weitere Konsequenz aus der bisherigen Systematik der Gruppenfreistellungsverordnungen ist das Problem der sog. überschießenden Wettbewerbsbeschränkungen. Damit werden all die Fälle bezeichnet, in denen ein Vertragsbestandteil weder durch eine weiße Klausel ausdrücklich erlaubt noch durch eine schwarze Klausel ausdrücklich untersagt war.27 Die Rechtsfolge bei Vorliegen derartiger Klauseln ist unklar.28 Als Durchbrechung des Alles-oder-Nichts-Prinzips umfassen die GVOen teilweise sog. graue Listen. Diese sehen zwecks Erlangung der Gültigkeit für die in den weißen Listen unerwähnten Wettbewerbsbeschränkungen ein Widerspruchsverfahren bei der Kommission vor.29 Nach Angaben der Europäischen Kommission wurde dieses Verfahren von den Unternehmen kaum in Anspruch genommen30, sodass es auch die grauen Listen nicht vermochten, dem Zwangsjackeneffekt entgegenzuwirken. Als weiterer Kritikpunkt gilt schon lange das in den Gruppenfreistellungsverordnungen verankerte „Alles-oder-Nichts-Prinzip“.31 Gemeint ist damit die Nichtanwendbarkeit der gesamten GVO, sobald auch nur eine einzige Klausel zwischen den Parteien vereinbart wurde, die nicht die Freistellungsvoraussetzung erfüllt. Konsequenz eines ansonsten gruppenfreistellungsfähigen Vertrages ist damit, dass es beim Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG verbleibt und dieser nur noch über das Einzelfreistellungsverfahren Gültigkeit erlangen kann. 25

Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 27. Dies gesteht nunmehr auch die Kommission zu, vgl. Mitteilung, S. 25. 27 Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 (128); I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 13; Engmann, S. 56 ff. 28 So könnte der gesamte Vertrag nicht unter die betreffende GVO fallen oder aber nur die überschießende Wettbewerbsbeschränkung. Die Kommission hat sich darauf beschränkt, ihre Auffassung nur in Bezug auf einzelne Gruppenfreistellungsverordnungen bekannt zugeben. Vgl. mit Nachweisen hierzu: Martinek/Habermeier, in: ZHR 158 (1994), 107 (128 f.). 29 Z. B. Art. 6 der GVO Nr. 4087/88 für Franchisevereinbarungen. 30 XXIV. Wettbewerbsbericht (1994), S. 92 (Tz. 115). 31 Ausführlich hierzu: Axster, in: WuW 1994, 615 ff. 26

§ 1 Einführung

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Eine weitere wichtige Ursache für die Überprüfung der Vorgehensweise gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen wird in der fehlenden Berücksichtigung der Marktwirkungen von Vertriebsabsprachen im bisherigen System gesehen.32 Da die GVOen ausschließlich auf formale Kriterien abstellen und eben nicht auf Marktanteile, bestünde die Gefahr, dass marktmächtige Unternehmen von den Regelungen in unzulässiger Weise profitieren könnten.33 Kleinere und mittlere Unternehmen würden hingegen unnötig strengen Regelungen unterliegen.

C. Neue Regelungssystematik der Vertikal-GVO I. Abhilfe der Ursachen für die Reform Die Kommission bezeichnet die drei größten Nachteile des bisherigen Systems zusammenfassend in ihrem Follow-up zum Grünbuch wie folgt:34 1. Ein als starres Korsett wirkender formularjuristischer Regelungsansatz 2. Die Nichtberücksichtigung von Marktmacht 3. Zu eng gefasste Gruppenfreistellungsverordnungen All diese Kritikpunkte wurden bei den Beratungen zum Erlass der neuen Vertikal-GVO von der Kommission aufgegriffen und versucht einzuarbeiten. Dabei kann vorweggenommen werden, dass es ihr durchaus gelungen ist, die genannten Unzulänglichkeiten zumindest deutlich abzumildern. Mit dem systematischen Neuansatz im Gruppenfreistellungsregime sind aber gleichzeitig neue Probleme verbunden. Zwecks Vermeidung der als zu eng angesehenen Gruppenfreistellungsverordnung wurde der GVO Nr. 2790/99 der Charakter einer „Schirm“-Gruppenfreistellungsverordnung35 gegeben. Erstmalig wurde eine branchen- und sektorübergreifende Gruppenfreistellungsverordnung geschaffen, die umfassend alle vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen erfassen soll. Des Weiteren wurde das System der weißen und grauen Listen abgeschafft. So enthält die GVO Nr. 2790/99 hauptsächlich eine schwarze Liste für „hardcore restrictions“, die in Art. 4 Vertikal-GVO36 als Kernbeschrän32

Grünbuch, Tz. 85 (iv.); Mitteilung, S. 8. Mitteilung, S. 4. Dies bemängeln anscheinend auch die zur Stellungnahme aufgeforderten Beteiligten, vgl. Mitteilung, S. 8 ff. 34 Mitteilung, S. 32. 35 Mitteilung, S. 6. 36 Alle Artikel im Folgenden ohne nähere Bezeichnung sind solche der VertikalGVO. 33

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

kungen bezeichnet werden. Während ehemals alles verboten war, was nicht ausdrücklich für zulässig erklärt wurde, hat sich das System nunmehr in das Gegenteil verkehrt: Erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist.37 Das Absehen von weißen Listen wurde einhellig in der Literatur begrüßt.38 In der Tat können so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen sind die Gestaltungsmöglichkeiten in der Vertragspraxis im Hinblick auf neue tatsächliche und rechtliche Aspekten wesentlich flexibler und zum anderen hat sich damit das Problem der überschießenden Wettbewerbsbeschränkungen erledigt. Zum Teil weiterhin Bestand hat hingegen das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Liegt eine der in Art. 4 Vertikal-GVO genannte Kernbeschränkung vor, so ist der Vertrag in seiner Gesamtheit nicht gruppenfreistellungsfähig. Der von der Kommission erstrebte wirtschaftlich orientierte und weniger formalistische Ansatz soll durch die Einführung des Marktanteilskriteriums gewährleistet werden. Danach setzt die Anwendung der GVO Nr. 2790/99 gem. Art. 3 voraus, dass der Marktanteil des Lieferanten39 auf dem Markt, auf welchem er die Erzeugnisse absetzt, nicht einen Schwellenwert von 30% überschreitet. An dieser Stelle sind auch die im Zusammenhang mit dem Erlass der Vertikal-GVO stehenden flankierenden Maßnahmen zu nennen. So erfuhr die KartellverfahrensVO bereits im Juni 1999 durch die VO Nr. 1216/99 eine Änderung in der Form, dass nunmehr sämtliche Vertikalvereinbarungen von der Anmeldepflicht des Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 17 befreit sind.40 Zudem kann nunmehr nach Art. 6 Abs. 2 i. V. m. Art. 4 Abs. 2 Nr. 2a VO Nr. 17 die Freistellung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses erteilt werden. II. Überblick über den Aufbau der Vertikal-GVO Die endgültige Fassung der Vertikal-GVO ist im Hinblick auf ihren weiten Anwendungsbereich durchaus kurz ausgefallen. Art. 1 enthält die nach Ansicht der Kommission notwendigen Begriffsbestimmungen für die Anwendung der Vertikal-GVO. Im Entwurf zur GVO 37

Bechtold, in: EWS 2001, 49 (51). Nolte, in: BB 1998, 2429; Semler/Bauer, in: DB 2000, 193 (194); Pukall, in: DB 1998, 2353 (2355); Bechtold, in: EWS 2001, 49 (51); Bayreuther, in: EWS 2000, 106 (110 f.). 39 Nur bei Absprachen, die Alleinbelieferungsverpflichtungen enthalten, wird auf den Marktanteil des Käufers abgestellt, vgl. Art. 3 Abs. 2. 40 Vgl. Art. 4 Abs. 2 der VO Nr. 17 in der durch die VO Nr. 1216/99 geänderten Fassung. 38

§ 1 Einführung

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Nr. 2790/99 befanden sich die Definitionen, entsprechend der zum Teil in den bisherigen GVOen vorzufindenden Systematik41, in Art. 11 und damit am Ende der Regelungen. In der endgültigen Fassung hat man sich nunmehr wie im angloamerikanischen Recht dazu entschieden, diese an den Anfang der GVO zu stellen. Neben den Definitionen für Wettbewerber, Wettbewerbsverbote, Alleinbelieferungsverpflichtungen, intellektuelle Eigentumsrechte, Know-how und Käufer findet sich nunmehr auch erstmalig eine solche für selektive Vertriebssysteme. Dies wurde erforderlich, da die Vertikal-GVO einige gleich näher zu untersuchende Sonderregelungen für diese Vertriebsform bereit hält. Art. 2 (ergänzt durch Art. 10) und Art. 3 (ergänzt durch Art. 9) enthalten die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der GVO Nr. 2790/99, zum einen in sachlicher und zum anderen in quantitativer Hinsicht. Art. 4 betrifft die Vereinbarungen, die unabhängig vom Marktanteil keinesfalls in Vertriebsverträgen vorgesehen sein dürfen, mithin also die „Schwarze Liste“. Art. 5 enthält Bedingungen für die Freistellung, die sich auf die Auferlegung von Wettbewerbsverboten beziehen. Im Unterschied zu den Kernbeschränkungen des Art. 4 führen diese nicht zur mangelnden Freistellungsfähigkeit des gesamten Vertrages, sondern nur der jeweils betroffenen Klausel. Diese ist also vom Rest des Vertrages abtrennbar. Die Möglichkeit, den Vorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen, ist als solches nicht neu.42 In diesem Sinn regelt Art. 6 den Entzug des Rechtsvorteils der GVO Nr. 2790/99 durch die Europäische Kommission. Eine bahnbrechende Neuerung enthält Art. 7 mit seiner nunmehr für die nationalen Behörden eingeräumten Entzugskompetenz. Diese resultiert aus den Bemühungen der Gemeinschaft, das europäische Kartellrecht zu dezentralisieren.43 Ein weiteres Novum im Recht der Gruppenfreistellung enthält Art. 8 Vertikal-GVO. Dieser sieht die Möglichkeit vor, die Freistellung branchen41 Vgl. beispielsweise die Definitionen in Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 1475/ 95 der Komm. vom 28.06.1995 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge, ABl. L 145/25. Bereits stets am Anfang befanden sich die Definitionen in der FranchiseGVO, vgl. Art. 1 Abs. 3 GVO Nr. 4087/88. Diese Systematik wurde auch in den neueren GVOen für Spezialisierungsvereinbarungen [Art. 2 GVO Nr. 2658/2000, ABl. L 304/3)] und für Forschung und Entwicklung (Art. 2 GVO Nr. 2659/2000, ABl. L 304/7) übernommen. 42 Vgl. bereits die entsprechenden Regelungen in Art. 8 der GVO Nr. 1475/95 für den Kfz-Vertrieb; Art. 8 der GVO Nr. 4087/88 für Franchisevereinbarungen, Art. 6 der GVO Nr. 1983/83 für Alleinvertriebsvereinbarungen. 43 Mitteilung, S. 34.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

weit, ohne konkreten Einzelfallbezug, durch eine Verordnung der Kommission zu widerrufen. Art. 11 definiert den Unternehmensbegriff im Sinne der GVO 2790/99. Art. 12 und 13 enthalten Übergangsvorschriften bzw. regeln das Inkrafttreten der neuen GVO.

§ 2 Die Behandlung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO Nach über 30jähriger Einzelfallrechtsprechung ist es mit dem Inkrafttreten der GVO Nr. 2790/99 soweit: Der selektive Vertrieb hat erstmals eine eigene sekundärrechtliche Regelung erhalten.

A. Anwendungsbereich der Vertikal-GVO Die Vertikal-GVO findet unter zwei Voraussetzungen Anwendung. Einerseits muss sich die in Frage stehende Absprache als Vertikalvereinbarung im Sinne des Art. 2 darstellen und andererseits darf die Marktanteilsschwelle von 30% nicht überschritten werden. I. Sachlicher Anwendungsbereich, Art. 2 Art. 2 bestimmt über die sachliche Anwendbarkeit der Vertikal-GVO. Als Grundvoraussetzung muss es sich bei der zu untersuchenden Kooperation um eine solche im Vertikalverhältnis handeln. Dabei verdeutlicht Art. 2 Abs. 1, warum die Neuregelung als „Schirm-Gruppenfreistellungsverordnung“ verstanden wird. Nach der dort enthaltenen Definition, fallen sämtliche Arten von Vertikalvereinbarungen44 unter den Anwendungsbereich der GVO Nr. 2790/99. Eine branchenspezifische Differenzierung findet nicht mehr statt.45 In den Leitlinien erläutert die Kommission die drei zentralen Elemente der in Art. 2 Abs. 1 definierten vertikalen Vereinbarungen näher.46 Hinsichtlich der in Art. 2 Abs. 1 verwendeten Begriffe der „Unternehmen“, „Vereinbarung“ oder der „abgestimmten Verhaltensweise“ kann auf die oben im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG dargestellten Grundsätze verwiesen werden, da sich die Gruppenfreistellungsverordnung hinsichtlich 44 Eine Ausnahme gilt weiterhin für den Kfz-Vertrieb, Art. 2 Abs. 5, Leitlinien, Tz. 24 (3. Spiegelstrich). 45 Eine Ausnahme gilt nur für die Vertikalvereinbarungen, die in einer eigenen GVO geregelt sind. 46 Leitlinien, Tz. 24. An der Charakterisierung selektiver Vertriebssysteme als Vertikalvereinbarungen bestehen keine Zweifel, sodass an dieser Stelle hierauf nicht näher einzugehen ist.

§ 2 Behandlung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO

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dieser Merkmale an die Auslegung der Gemeinschaftsorgane zu diesen Tatbestandsmerkmalen zu orientieren hat.47 Über den sektor- und vertragsübergreifenden Anwendungsbereich der Vertikal-GVO hinaus wurde dieser im Vergleich zu den früheren Regelungen in zweierlei Hinsicht erweitert. Nach dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 werden nun nicht mehr wie bisher nur Vereinbarungen zwischen zwei Unternehmen erfasst, sondern es sind auch Absprachen freistellungsfähig, an denen mehr als zwei Unternehmen beteiligt sind. Dies setzte im Vorfeld zum Erlass der Vertikal-GVO eine Änderung der ErmächtigungsVO Nr. 19/6548 voraus, da es nach dessen Art. 1 der Europäischen Kommission bisher verwehrt war, Vereinbarungen zwischen mehr als zwei Unternehmen gruppenweise freizustellen. Grund für die Neuregelung ist, dass die bisherige Beschränkung der Freistellung dazu führte, dass eine Vielzahl der Vertikalvereinbarungen unter keine der ehemals vorhandenen Gruppenfreistellungsverordnungen gefallen ist. Dadurch hatten die Unternehmen erneut das Einzelfreistellungsverfahren anzustreben.49 Daher wurde Art. 1 Abs. 1 der ErmächtigungsVO Nr. 19/65 dahingehend geändert, dass die Kommission nunmehr auch solche Vereinbarungen gruppenweise freistellen kann. Diese Erweiterung kommt insbesondere den in der Praxis häufig vorkommenden mehrstufigen selektiven Vertriebssystemen zugute. Auch diese fallen daher unproblematisch unter den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO. Insbesondere wenn jedoch mehr als zwei Unternehmen an der Vereinbarung beteiligt sind, ist erhöhtes Augenmerk darauf zu legen, dass nicht auch horizontal wirkende Absprachen durch die GVO Nr. 2790/99 freigestellt werden. Bei mehreren Unternehmen besteht die Gefahr, dass diese auf einer Vertriebsstufe zugleich Wettbewerber sind.50 Horizontalvereinbarungen sollen aber gerade nicht von der GVO erfasst werden und sind nur unter den strengen Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 4 ausnahmsweise freistellungsfähig.51 47 Vgl. zum funktionalen Unternehmensbegriff, oben unter 1. Teil, § 4, B. I., zur Vereinbarung, 1. Teil, § 4, B. II. 1. und zur abgestimmten Verhaltensweise unter 1. Teil, § 4, B. II. 2. 48 Verordnung (EWG) Nr. 19/65 des Rates vom 02.03.1965 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, ABl. EG 533/65. 49 Vgl. den 7. Erwägungsgrund der VO 1215/1999 zur Änderung der VO Nr. 19/65. 50 Hierauf weisen Veelken, in: ZVglRWiss 97 (1998), 241 (275) und Bayreuther, in: EWS 2000, 106 (107) hin. 51 Insbesondere im Rahmen selektiver Vertriebssysteme gewinnt die Ausnahmeregel des Art. 2 Abs. 4 lit. b große Bedeutung. In diesem wird eine Ausnahme von

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Die zweite Ausweitung des Anwendungsbereichs betrifft den Vertragsgegenstand. Neben Waren werden nunmehr explizit auch vertikale Absprachen über Dienstleistungen erfasst. Dies sah bisher lediglich die FranchiseGVO vor. Was konkret unter Waren oder Dienstleistungen zu verstehen ist, wird weder in der GVO noch in den Leitlinien erläutert. Aufgrund des weiten Anwendungsbereichs ist jedoch davon auszugehen, dass hierunter alle Waren und Dienstleistungen fallen, die Gegenstand eines Austauschvertrages sein können.52 II. Quantitativer Anwendungsbereich, Art. 3 Während Art. 2 die sachlichen Anwendungsvoraussetzungen regelt, umfasst Art. 3 mit dem Marktanteilskriterium einen quantitativen Schwellenwert. Nach dieser wohl signifikantesten Änderung53 im Vergleich zu den bisherigen Gruppenfreistellungsverordnungen kommt eine Freistellung nach Art. 3 Abs. 1 nur bei einem Marktanteil von unter 30% des Lieferanten auf dem relevanten Markt in Betracht. Bei einem darüber liegenden Wert kann das Unternehmen nur eine Einzelfreistellung anstreben. Damit wurde für marktschwächere Unternehmen, ganz nach amerikanischem Vorbild ein „sicherer Hafen“ geschaffen.54 Ergänzend für die Marktanteilsberechnung sind Art. 9 der Vertikal-GVO und die Leitlinien heranzuziehen.55 1. Anzahl und Höhe der Marktanteilsschwellen Während der Vorbereitungen zum Erlass der GVO konnte lange Zeit keine Einigung darüber erzielt werden, ob es einer oder zwei Marktanteilsschwellen bedurfte, um die Obergrenze für die Gruppenfreistellung zu ziehen. Die Kommission befürwortete ein System mit zwei Marktanteilsschwellen. Danach sollten unterhalb eines Marktanteils von 20% nahezu alle vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen unbedenklich sein. Im Bereich zwischen 20% und dem weiteren Schwellenwert in Höhe von 40% sollten nur dem in Art. 2 Abs. 4 enthaltenen Grundsatz, wonach eine Freistellung ausgeschlossen ist, wenn sich die Vertragspartner auf mindestens einem der von der Vereinbarung getroffenen Produktmärkte gegenüberstehen, zugelassen. Nicht davon betroffen sind die Situationen, in denen die Ware im Wege der Dualdistribution abgesetzt wird. Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 1, A. II. 52 Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 238; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 62. 53 I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 127 spricht von dem „entscheidenden Paradigmenwechsel“. 54 „Safe harbour“. Mitteilung, S. 6; Leitlinien, Tz. 21 f. 55 Leitlinien, Tz. 88 ff.

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ganz bestimmte Vereinbarungen freigestellt werden. Oberhalb des Marktanteils von 40% sollten alle Vertriebsabsprachen dann einer Einzelfallprüfung unterliegen. In diesem System mit zwei Schwellen sollte die qualifizierte Fachhandelsbindung und die quantitative Selektion nur bis zu einem Marktanteil von 20% automatisch freigestellt werden.56 Insofern ist die jetzige Regelung weitaus großzügiger. Offensichtlicher Vorteil der Verwendung von zwei Marktanteilskriterien ist die differenzierende und flexiblere Beurteilungsmöglichkeit der Auswirkungen einer Vereinbarung auf den Markt. Die Komplexität und die erneute Notwendigkeit, formale Kriterien anzuwenden, führte dann aber doch zu der nunmehr geltenden Variante mit einem Schwellenwert.57 Auch die konkrete Höhe der Marktanteilsschwelle war zwischen den Mitgliedsstaaten stark umstritten. Während Großbritannien und Österreich eine höhere Schwelle zwischen 35–40% befürworteten, setzte sich Deutschland für ein Marktanteilskriterium von 25% und die Niederlande von 20% ein.58 Die Ursachen für die voneinander abweichenden Werte sind offensichtlich. Je höher der Schwellenwert, desto großzügiger der Umgang mit vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen. Fällt er hingegen niedriger aus, so muss die Kommission vermehrt mit Einzelfreistellungen rechnen. Geeinigt hat man sich dann auf den Mittelwert des von der Kommission vorgeschlagenen Bereiches zwischen 20 und 40%. Dieser liegt bewusst unter dem Niveau der Marktbeherrschungsgrenze des Art. 82 EG. Die Kommission versteht unter Marktmacht die Fähigkeit eines Unternehmens, durch Änderung seines Outputs spürbar den Preis beeinflussen zu können und so Extragewinne einzufahren.59 Vertikalvereinbarungen könnten aber bereits unter dieser Marktbeherrschungsschwelle, namentlich auf oligopolistischen Märkten, nicht zu den gewünschten Effizienzgewinnen führen. Faktisch als Untergrenze für den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO wirkt die Bagatellbekanntmachung.60 Die Vertikal-GVO kann nur zur Anwendung kommen, wenn eine Vereinbarung den Wettbewerb spürbar beeinträchtigt. Bis vor kurzem fand die Bagatellbekanntmachung aus dem Jahre 1997 Anwendung.61 Bereits in dieser fanden die grundsätzlichen Reformvor56

Nolte, in: BB 1998, 2429 (2430). Hierfür setzte sich ein Großteil der Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland, und auch die Wirtschaft ein. 58 Nolte, in: BB 1998, 2429 (2430). 59 Mitteilung, S. 15; vgl. auch bereits im Grünbuch, Tz. 303. 60 Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung vom 22.12.2001, ABl. Nr. C 368/13; abgedruckt auch in: WuW 2002, 146 ff. Vgl. hierzu auch Terhechte, in: EWS 2002, 66 ff. 57

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haben der Europäischen Kommission bei der Behandlung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen ihren Niederschlag. Erstmalig enthielt diese nämlich eine Differenzierung zwischen dem Schwellenwert für Horizontal- und Vertikalvereinbarungen.62 Alle Vorgänger-Bekanntmachungen enthielten hingegen stets nur ein Kriterium für alle Arten von Kooperationen. So schlug sich bereits hier der sodann auch in der Vertikal-GVO verwirklichte Ansatz nieder, dass die Kommission vertikale Absprachen als weniger gefährlich für den Wettbewerb ansieht als Horizontalvereinbarungen.63 Ende 2001 trat an die Stelle der früheren Bekanntmachung aus dem Jahre 1997 eine neue de-minimis-Bekanntmachung. Auch diese Neufassung ist im Zusammenhang mit der allgemeinen Revision der EG-Wettbewerbsregeln zu verstehen.64 Zunächst wurden die de-minimis-Marktanteilsschwellen für Horizontalvereinbarungen von 5% auf 10% und die für Vertikalvereinbarungen von 10% auf 15% angehoben. Damit setzt die Kommission ihre grundsätzliche Neuausrichtung fort, indem sie davon ausgeht, dass mit Gefährdungen für den Wettbewerb erst zu rechnen ist, wenn Unternehmen ansatzweise über Markmacht verfügen. Die Anhebung der Schwellenwerte bewirkt, dass nun eine größere Anzahl von Wettbewerbsbeschränkungen mangels Spürbarkeit nicht mehr vom Verbotstatbestand des Art. 81 Abs. 1 EG erfasst wird. Als wesentliche Neuerung enthält die de-minimis-Bekanntmachung erstmalig eine Regelung für nebeneinander bestehende Netze paralleler Vereinbarungen. In diesem Fall wird die Marktanteilsschwelle für die Spürbarkeit auf 5% gesenkt. Zudem wurde im Sinne der Kohärenz die Liste der Kernbeschränkungen an die der GVO Nr. 2790/99 angepasst.65 Es bleibt zunächst festzuhalten, dass vertikale Absprachen nach Ansicht der Kommission erst bei 15% Marktanteil spürbare Wirkungen auf dem Wettbewerb hinterlassen, sodass sie auch erst dann unter den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen können. Im Bereich zwischen diesen 15% und dem Schwellenwert des Art. 3 Abs. 1 von 30% befinden sich die Un61 Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. vom 09.12.1997, C 372/13. Vgl. hierzu bereits oben unter 1. Teil, § 4, B. V. 62 Vgl. zu den damals weiteren Neuerungen, insbesondere zur Aufgabe des Umsatzkriteriums: Jestaedt/Bergau, in: WuW 1997, 119 ff. 63 Leitlinien, Tz. 100. 64 Vgl. die Pressemitteilung vom 07.01.2002, IP/02/13. 65 Für Horizontalvereinbarungen wurde sich an den Kernbeschränkungen der Verordnung (EG) Nr. 2658/2000 vom 29.11.2000 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen orientiert, ABl. L 304/3.

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ternehmen nunmehr im safe harbour, sofern sie keine der genannten Kernbeschränkungen enthalten. Dabei sind jedoch zwei grundsätzliche Besonderheiten zu beachten. Erstens ist im Rahmen der Bagatellbekanntmachung für die Berechnung des Schwellenwertes auf die Marktanteile abzustellen, die alle beteiligten Unternehmen auf dem relevanten Markt innehaben. Art. 3 Abs. 1 stellt hingegen ausschließlich auf den Marktanteil des Lieferanten ab. Zweitens kommt der Bekanntmachung keine Gesetzeskraft zu, sodass weiterhin der EuGH einen anderen Weg einschlagen könnte66; eine Rechtsverbindlichkeit hinsichtlich der Höhe der Marktanteilskriterien besteht also nicht.67 2. Marktanteilsberechnung Nach Art. 3 Abs. 1 muss für die Berechnung des Marktanteils auf den Markt abgestellt werden, auf dem der Lieferant die Vertragswaren veräußert, mithin also auf den Angebotsmarkt. Eine Ausnahme hiervon macht Art. 3 Abs. 2 nur insoweit, als die vertikale Absprache Alleinbelieferungspflichten enthält. Nach Art. 1 lit. c fallen hierunter alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, die den Lieferanten veranlassen, die in der Vereinbarung bezeichneten Waren oder Dienstleistungen zum Zwecke einer spezifischen Verwendung oder des Weiterverkaufs nur an einen einzigen Käufer innerhalb der Gemeinschaft zu verkaufen.68 Innerhalb selektiver Vertriebssysteme werden derartige Alleinbelieferungspflichten selten bis gar nicht vereinbart, sodass diese Sonderregelung hier vernachlässigt werden kann.69 Bei allen anderen vertikalen Absprachen findet der Nachfragemarkt und damit der Marktanteil des Käufers keine Berücksichtigung. Dies ist insofern problematisch, als es gerade auch bei mehrstufigen selektiven Vertriebssystemen zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein Hersteller unter Einschaltung des Großhandels seine Waren absetzt, während sein Konkurrent im Markenwettbewerb direkt die Einzelhändler beliefert. Stellt man nun ausschließlich auf den Marktanteil auf der Stufe der Hersteller und Großhändler ab, so werden die 66

Diese Möglichkeit nennt die Bagatellbekanntmachung ausdrücklich unter 6. Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Jestaedt/Bergau, in: WuW 1997, 119 (123 ff.). 68 Vgl. hier zu auch die Klarstellung in den Leitlinien, Tz. 202 und das in Tz. 213 genannte Beispiel, aus dem deutlich hervorgeht, dass hierunter die Belieferung ausschließlich an einen Käufer im gesamten Markt fällt. 69 Vgl. insoweit ausführlich hierzu: I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 143 ff. 67

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

in der Realität auf dem Markt vorzufindenden Kräfteverhältnisse nicht korrekt wiedergegeben.70 Der Marktanteil berechnet sich dem Grunde nach wie in der bereits aus dem Fusionskontrollrecht oder der Bagatellbekanntmachung bekannten Form. Zunächst ist der relevante Markt in sachlicher und räumlicher Hinsicht abzugrenzen. Neben der Vertikal-GVO und den Leitlinien ist hier insbesondere auch die Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes71 heranzuziehen72, sodass auch hier nach dem sog. Bedarfsmarktkonzept vorzugehen ist. Danach umfasst der sachlich relevante Markt Waren oder Dienstleistungen, die vom Käufer aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preislage und ihres Verwendungszwecks als mit den Vertragswaren oder -dienstleistungen austauschbar oder durch diese substituierbar angesehen werden. Ein wesentlicher Unterschied bei der Marktabgrenzung im Rahmen der GVO Nr. 2790/99 besteht aber insofern, als Art. 9 Abs. 1 klarstellt, dass es für die Austauschbarkeit der Produkte auf die Sicht des Käufers ankommt. Regelmäßig wurde bisher stets auf den Endverbraucher abgestellt. So sah auch noch der Entwurf zu der Vertikal-GVO vor, hinsichtlich der Substituierbarkeit auf die Verbrauchersicht abzustellen.73 Problematisch hieran war jedoch, dass sich die Auswirkungen vertikaler Vertriebsabsprachen zu vordererst auf dem Markt bemerkbar machen, auf dem sich Hersteller und Händler gegenüber stehen. Je nachdem, ob man für die Austauschbarkeit der Produkte auf die Endverbraucher oder aber auf die direkten Abnehmer abstellt, führt das zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Marktabgrenzung. In diesem Sinn stellt auch die Kommission fest, dass der Markt, auf dem sich Hersteller und Händler gegenüber stehen, in der Regel größer sein wird als der, auf dem sich Händler und Verbraucher begegnen.74 Allein schon um zu verhindern, dass zu kleine Märkte mit zu hohen Marktanteilen abgegrenzt werden und damit möglicherweise erneut zu wenige vertikale Vereinbarungen unter den Anwendungsbereich fallen, wurde in der endgültigen Fassung des Art. 9 Abs. 1 das Wort „Verbraucher“ durch den Begriff des „Käufers“ ersetzt. Damit umgeht man zwar diese Problematik, eine weitere tritt aber hinzu mit der Konsequenz, dass es bei bestimmten Fallkonstellationen zur Frei70

Vgl. hierzu I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 135. Bekanntmachung der Komm. vom. 09.12.1997 über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. C 372/5. 72 Leitfaden, S. 13. 73 Art. 8 Abs. 1 Entwurf der Vertikal-GVO. 74 Leitlinien-Entwurf, Tz. 22. 71

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stellung von durchaus wettbewerbsschädigenden Vertriebsvereinbarungen kommen kann. So beispielsweise, wenn der Lieferant zwar einen geringen Marktanteil hat, der Käufer hingegen ein marktmächtiger Nachfrager ist. Dies kann erhebliche Auswirkungen auf die nachgelagerte Marktstufe haben, die aber bei der Marktanteilsberechnung unberücksichtigt bleiben.75 Auch dieser Gefahr ist sich die Kommission durchaus bewusst, hilft ihr aber nicht ab. Ursache dessen ist die bewusste Entscheidung für einen vereinfachenden Ansatz im Sinne der Rechtssicherheit und besseren Handhabbarkeit in der Praxis.76 Zudem meint sie, dass die Auswirkungen auf dem nachgelagerten Markt nicht von derart großer Bedeutung sein könnten, wenn der Lieferant einen Marktanteil von weniger als 30% halte. Sollten doch einmal etwaige Probleme auftreten, könne der Vorteil der VertikalGVO schließlich immer noch entzogen werden. Weiterhin stellt sich die insbesondere auch für selektive Vertriebssysteme relevante Frage, wie der Absatz von ganzen Warensortimenten bei der Bestimmung des sachlich relevanten Marktes berücksichtigt werden soll.77 Im Rahmen qualifizierter Fachhandelsbindungen verpflichtet der Hersteller die Händler oftmals, ein bestimmtes, wenn nicht sogar ganzes Warensortiment abzunehmen. In diesem Fall ist durchaus damit zu rechnen, dass er hinsichtlich eines dieser Produkte einen größeren Marktanteil als 30% hält. Die Kommission führt hierzu in den Leitlinien aus, dass bei Verkauf einer ganzen Produktpalette durch einen Lieferanten auch die Gesamtheit der Erzeugnisse den relevanten Markt bilden kann, wenn die gesamte Palette – und nicht nur die einzelnen darin enthaltenen Produkte – von den Käufern als substituierbar angesehen wird.78 Die Details sind noch weitgehend ungeklärt, sodass die Sorge um eine praktikable Handhabung berechtigt erscheint. In Anbetracht dieser vielen Einzelprobleme fragt sich, wie ein Unternehmen auch nur annähernd seinen Marktanteil richtig bestimmen will. Im Anschluss an die Festlegung des Produktmarktes ist der geographische Markt zu bestimmen. Dieser umfasst das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen an der Nachfrage und Lieferung relevanter Waren oder Dienstleistungen teilnehmen, in welchem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten mit merklich anderen Bedingungen unterscheidet.79 Hier bestehen im Rahmen der 75 Ähnliche Schieflagen entstehen beispielsweise beim Franchising, wenn nur die Geschäftsidee lizenziert ist, die Waren aber überall herbezogen werden können, sodass hohe Marktanteile schnell erreicht werden. Vgl. hierzu: Metzlaff, in: BB 00, 1201 (1205). 76 Leitlinien, Tz. 22. 77 Vgl. hierzu auch Bechtold, in: EWS 2001 49 (51). 78 Leitlinien, Tz. 81 a. E. 79 Leitlinien, Tz. 90.

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Vertikal-GVO keine Besonderheiten zu der aus der Fusionskontrollverordnung bekannten räumlichen Marktabgrenzung. Zu erwarten ist allerdings, dass im Rahmen der neuen GVO von geographisch größeren Gebieten ausgegangen werden kann, da aufgrund des Abstellens auf die Käufersicht auch (wenn nicht gar öfter) Unternehmen und nicht Endverbraucher beteiligt sind.80 Nach Bestimmung des relevanten Marktes muss der Unternehmer seinen auf diesem Markt erzielten Umsatz in Verhältnis zu dem Gesamtabsatzvolumen auf dem Markt setzen. Dabei soll das Gesamtvolumen auf Wertbasis und nicht nach Stückzahlen erfolgen, wobei nach Art. 9 Abs. 1 diese aber auch geschätzt werden können. Der konkrete Marktanteil ist sodann über die wertmäßig berechneten Umsätze innerhalb des vorhergehende Kalenderjahres zu bestimmen, wobei die Umsätze verbundener Unternehmen gem. Art. 11 Abs. 2 Vertikal-GVO einzubeziehen sind. 3. Tauglichkeit des Marktanteilkriteriums Positiv an dem neuen Regelungsansatz der Vertikal-GVO ist zu bewerten, dass durch die Aufnahme des Marktanteilkriteriums die Auswirkungen auf den Markt zumindest ansatzweise berücksichtigt werden können. Die Gruppenfreistellungsfähigkeit von Alleinbezugs-, Alleinvertriebs- und Franchisevereinbarungen erfolgte unabhängig von der Marktstärke der beteiligten Unternehmen, sofern diese ihre Verträge nur an die konkreten Vorgaben der einzelnen GVOen anpassten. Infolgedessen unterlagen kleinere und mittlere Unternehmen unnötig strengen Regeln, während sich Unternehmen mit erheblicher Marktmacht durch die mögliche Gruppenfreistellung schützen konnten.81 Der innovative Einsatz von vertikalen Absprachen zum Nutzen der Endverbraucher wurde dadurch bereits im Keim erstickt. So ist zu hoffen, dass nunmehr zumindest die marktschwächeren Unternehmen den neu gewonnenen vertraglichen Gestaltungsraum nutzen werden. Unternehmen mit einem Marktanteil von über 30% werden durch die neue GVO im Vergleich zu der früheren Rechtslage erheblich benachteiligt, weil sie nun nicht mehr in den Genuss der gruppenweisen Freistellung gelangen. Dies ist aber ganz im Sinne des Schutzobjekts Wettbewerb, da mit steigender Marktmacht auch die Gefährdungen für das freie Spiel der Kräfte steigen.

80 81

Hiervon geht auch die Kommission aus, vgl. Leitlinien, Tz. 90 a. E. Mitteilung, S. 25.

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a) Marktanteil als Kriterium zur Bestimmung der Marktstärke Alleiniger Ansatzpunkt für die Bestimmung der Marktstärke eines Unternehmens ist gem. Art. 3 Abs. 1 der Marktanteil. Dies entspricht offensichtlich nicht der wirtschaftlichen Realität, da der Marktanteil nur ein Faktor von vielen für die Beurteilung von Marktmacht darstellt. Problematisch an der Verwendung eines einheitlichen Marktanteilskriteriums für sämtliche vertikalen Beschränkungen ist, dass je nach Art der Vereinbarung ganz unterschiedliche Marktstrukturen vorzufinden sind. Bei Absprachen betreffend stark spezialisierter Produkte ist ein Marktanteil von 30% weitaus schneller erreicht als bei anderen Erzeugnissen. Dies birgt die Gefahr von Willkür in sich. Auch die Kommission weiß das. So führt sie aus, dass sie sich durchaus bewusst ist, dass das alleinige Abstellen auf den Marktanteil dazu führen kann, dass Vereinbarungen freigestellt werden, die eigentlich nicht freistellungsfähig sind.82 Sie ist aber der Ansicht, dass dieser Nachteil weniger schwer wiegt als die Rechtsunsicherheit, die durch die Berücksichtigung der gesamten Marktfaktoren zur Bewertung von vertikalen Beschränkungen entstehen würde. In der Tat ist es wohl kaum möglich, alle relevanten Faktoren wie etwa die Marktmacht der anderen Wettbewerber, die Finanzkraft, der Zugang zu den Absatz- und Beschaffungsmärkten, die Verbreitung ähnlicher Vertriebsformen etc. zu berücksichtigen. Eine derartig umfangreiche und dann stets auch vom Einzelfall abhängige Analyse kann nicht im Rahmen einer Gruppenfreistellungsverordnung geleistet werden. Nichtsdestoweniger vermag das alleinige Abstellen auf den Marktanteil oftmals nur, eine vage Wiedergabe der tatsächlichen Marktstrukturen zu leisten. Dies wird auch im Schrifttum kritisiert, eine Lösungsmöglichkeit indes aber nicht angeboten.83 Insofern kann es auch nicht verwundern, wenn die Kommission schon fast verzweifelt in ihrem Follow-up zum Grünbuch feststellt, dass bisher noch keine bessere Bezugsgröße vorgeschlagen wurde.84 b) Marktanteil als Quelle der Rechtsunsicherheit Die meiste Kritik, und das ebenfalls zu Recht, wird jedoch an der aus der Bestimmung des Marktanteils resultierenden Rechtsunsicherheit geübt.85 82

Mitteilung, S. 26. Kritik üben deshalb auch Bayreuther, in: EWS 2000, 106 (108); Metzlaff, in: BB 2000, 1201 (1205). 84 Mitteilung, S. 26. 85 Nolte, in: BB 1998, 2429 (2431); Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1209 f.). 83

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Auch aus den Stellungnahmen zu den von der Kommission im Grünbuch vorgeschlagenen Optionen geht hervor, dass sowohl die Wirtschaft als auch die Mitgliedsstaaten der Verwendung von Marktanteilskriterien sehr kritisch gegenüberstehen.86 Auch das Europäische Parlament forderte die Kommission auf, sich über alternative Möglichkeiten Gedanken zu machen, um ein Mehr an Rechtssicherheit zu gewährleisten.87 In der Tat stellt das Kriterium des Marktanteils für die Unternehmen kein zuverlässiges und handhabbares Instrument dar, um sich hinsichtlich des Anwendungsbereichs der GVO in Sicherheit zu wiegen. Bereits die kurze Darstellung der Vorgehensweise bei der Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes zeigt88, mit welchen Schwierigkeiten sich die Unternehmen nun bei der Bewertung ihrer Vertriebsverträge konfrontiert sehen, von der Bestimmung des Gesamtabsatzvolumens mal ganz abgesehen.89 Gerade auf europäischer Ebene hat die Erfahrung gelehrt, dass sich die Marktabgrenzung oftmals als schwierig und mit teils unvorhersehbaren Ergebnissen erweist. Auch vermag die Bekanntmachung über die Bestimmung des relevanten Marktes ebenso wenig wie die bisherige Entscheidungspraxis dem einzelnen Unternehmer einen verlässlichen Anhaltspunkt geben, wenn er vor der konkreten Aufgabe steht, den für ihn relevanten Markt abzugrenzen. Die Kommission will das mit der Marktanteilsbestimmung einhergehende gewisse Maß an Rechtsunsicherheit90 mittels mehrerer Maßnahmen abfedern. Sie stellt klar, dass auch oberhalb der Marktanteilsschwelle keine Vermutung der Unzulässigkeit der vertikalen Beschränkung besteht.91 Zudem befinden sich in Art. 9 Abs. 2 lit. c bis lit. e Toleranzschwellenregelungen, die temporale Marktanteilsschwankungen abfangen sollen. Des Weiteren ist die Änderung des Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17 zu nennen, welches die Unternehmen von ihrem Prognoserisiko in der Form befreit, dass sie trotz nachträglicher Anmeldung eine rückwirkende Einzelfreistellung erlangen können. Auch will die Kommission bei einer (gutgläubigen) Fehleinschätzung der Unternehmen bei der Bestimmung des Marktanteils von Buß86

Mitteilung, S. 8, S. 10 und S. 11. Mitteilung, S. 11. 88 Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, A. II. 2. 89 Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1210) stellen zutreffend fest, dass selbst die Kommission die konkrete Marktabgrenzung aufgrund der damit verbundenen Schwierigkeiten wenn möglich selbst offen lässt. 90 Mitteilung., S. 27 ff. 91 Leitlinien, Tz. 62; XXVIII. Wettbewerbsbericht (1998), S. 22 (Tz. 9) und S. 30 (Tz. 38). 87

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geldern absehen.92 An der zivilrechtlichen Unwirksamkeit vermag dies indes nichts zu ändern.

B. Kernbeschränkungen, Art. 4 Die in Art. 4 aufgeführten absolut verbotenen Kernbeschränkungen stellen den wesentlichen materiellrechtlichen Teil der neuen Vertikal-GVO dar.93 Sind die Anwendungsvoraussetzungen erfüllt, dürfen die Vereinbarungen bzw. abgestimmte Verhaltensweisen keine der in Art. 4 genannten Klauseln enthalten. Andernfalls entfällt der Vorteil der GVO Nr. 2790/99 nicht nur für die betroffene Klausel, sondern für das Vertragswerk insgesamt. Insofern wird auch in der neuen GVO das Alles-oder-Nichts-Prinzip fortgesetzt. Diese Entscheidung verdeutlicht, dass die in Art. 4 genannten Bestimmungen als „Todsünden“ zu werten sind. Im Rahmen dieser Untersuchung sind vor allem die Kernbeschränkungen betreffend selektiver Vertriebssysteme von Bedeutung. Daher wird im Folgenden auch primär auf diese eingegangen.94 I. Zusammenhang zwischen der Vertragsklausel und den Kernbeschränkungen Nach dem ersten Halbsatz des Art. 4 gilt die Freistellung nicht für Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen unter der Kontrolle der Vertragsparteien einer der enumerativ aufgezählten Kernbeschränkungen bezwecken. Dieser erste Halbsatz zeigt zunächst, dass die Wettbewerbsbeschränkung nicht explizit Gegenstand der vertikalen Absprache zu sein hat, sondern sich auch aus weiteren Umständen ergeben kann. Erfasst werden können neben inhaltlich eindeutig wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen auch deren Surrogate. Grundvoraussetzung ist dabei aber, dass die Unternehmen auf diese Einfluss haben. Eine weitere Einschränkung des Anwendungsbereichs könnte sich jedoch aus dem Wortlaut des Art. 4 1. Halbsatz ergeben. In diesem wird, anders als in Art. 81 Abs. 1 EG, nicht auch auf das Bewirken von Wettbewerbsbeschränkungen abgestellt95, sondern lediglich auf das Bezwecken. 92

Leitlinien, Tz. 65. Dies gilt vor allem deswegen, weil von der Einfügung einer weißen Liste erfreulicherweise abgesehen wurde. Vgl. hierzu bereits oben unter 2. Teil, § 1, C I. 94 Vgl. ausführlich zu den weiteren Kernbeschränkungen: Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 90 ff.; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 157 ff.; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 390 ff. 93

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Es stellt sich daher die Frage, in welchem Verhältnis die vertikale Absprache zu der Kernbeschränkung zu stehen hat, um in den Anwendungsbereich des Art. 4 zu fallen. Aufgrund der sprachlich eindeutigen Abweichung vom Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG scheint es so, als ob das bloße Bewirken einer Kernbeschränkung für nicht ausreichend erachtet wird.96 Andererseits hat sich bereits mehrfach gezeigt, dass die Kommission oftmals zu nachlässig mit sprachlichen Differenzierungen umgeht. Auch die Leitlinien lassen in diesem Punkt eine Eindeutigkeit vermissen. Teils wird von „bewirken“97, teils von „bezwecken“98 gesprochen. Auch die bisherige Praxis im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG hat gezeigt, dass weder die Kommission noch der EuGH eine eindeutige Abgrenzung dieser beiden Alternativen vornehmen.99 Diesem wollen Polley und Seeliger entnehmen, dass die Freistellung nicht nur dann entfällt, wenn die Parteien die Kernbeschränkung bezwecken, sondern auch wenn sie lediglich bewirkt wird.100 Anderenfalls käme es auf die Intention der Parteien an, ob eine nicht freistellungsfähige Klausel vorliegt oder nicht. Hierbei verkennen die Autorinnen jedoch, dass es für die Bestimmung des Zweckes gerade nicht auf die Absichten der Parteien ankommt, sondern dieser objektiv zu bestimmen ist.101 Insofern kann es nicht im Ermessen der Unternehmen liegen, ob eine Vertragsklausel in den Anwendungsbereich des Art. 4 fällt. Bereits der Entwurf zur Vertikal-GVO enthielt lediglich die Alternative des „Bezweckens“ zur Bezeichnung des Zusammenhangs zwischen der Vertikalvereinbarung und der Kernbeschränkung. Insbesondere im Hinblick auf die weitreichenden Konsequenzen bei Annahme einer Kernbeschränkung muss davon ausgegangen werden, dass hier kein bloßes redaktionelles Versehen vorliegt. Dies wäre auch aus deutscher Hinsicht aufgrund der umfangreichen Erfahrungen mit dieser Problematik nicht verständlich. Hat man doch lange genug die Diskussion zur Zweck-, Gegenstands- und Folgetheorie geführt. Insofern muss also davon ausgegangen werden, dass das bloße Bewirken einer Kernbeschränkung nicht ausreichend ist. Mit anderen Worten fallen also „reflexhafte“ überschießende Wirkungen von an sich zu95

Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 4. So auch die überwiegende Meinung in der Literatur: Pukall, in: NJW 2000, 1375 (1378); Roniger, Art. 4, Rdnr. 3; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 175; Schultze/ Pautke/Wagener, Rdnr. 392; Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 92 ff. 97 Leitlinien, Tz. 46; Tz. 49 Satz 3 und Satz 5. 98 Leitlinien, Tz. 47, Satz 1; Tz. 49 Satz 1; Tz. 55 Satz 2. 99 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 4. 100 Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1211). 101 Ständige Entscheidungspraxis der Kommission des EuGH zu Art. 81 Abs. 1 EG, vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 4. Wie hier auch: I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 175; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 392. 96

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lässigen Vereinbarungen nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 4.102 Nicht zu überzeugen vermag allerdings die Argumentation Bauers. Dieser gibt zur Begründung der auch hier vertretenen Ansicht an, dass sich eine extensive Auslegung von Vertragsklauseln auch deshalb verbietet, weil – jedenfalls in der überwiegenden Zahl der Fälle – unterstellt werden müsse, dass die Parteien einen möglichst gültigen Vertrag abschließen wollen.103 In der Tat wollen die Beteiligten ihre Aktivitäten nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 4 subsumiert sehen, aber der unternehmerischen Kreativität hinsichtlich der Umgehung bestehender Verbote sind bekanntermaßen keine Grenzen gesetzt. Die Problematik kann in der praktischen Anwendung der Vertikal-GVO dadurch abgemildert werden, dass die Kommission das Tatbestandsmerkmal des „Bezweckens“ in ähnlich weiter Weise auslegt wie im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG. Hierdurch kann dann eine Vielzahl von Fällen erfasst werden. Dies ist aufgrund der Beibehaltung des Alles-oder-Nichts-Prinzips und der damit zum Ausdruck kommenden negativen wettbewerblichen Bewertung der Kernbeschränkungen schließlich ihre Intention. II. Preisbindungen, Art. 4 lit. a Die erste der Kernbeschränkung betrifft die Preisbindung. Nach Art. 4 lit. a darf durch die vertikale Vereinbarung die Möglichkeit des Käufers, seine Verkaufspreise selbst festzusetzen, nicht beschränkt werden. Zulässigerweise dürfen jedoch sowohl unverbindliche Preisempfehlungen als auch Höchstpreise ausgesprochen werden. Diese dürfen jedoch nicht infolge von Druck oder der Gewährung von Anreizen wie Festpreise wirken. 1. Unmittelbare oder mittelbare Preisbindung Art. 4 lit. a untersagt sowohl die direkte Vorbestimmung der Preise, als auch die mittelbare Einflussnahme auf die Preisbildungsfreiheit. Für Letzteres nennt die Leitlinie als Beispiele die Absprachen über Absatzspannen oder Rabatte, die der Händler auf ein vorgegebenes Preisniveau maximal gewähren darf, sowie Drohungen, Warnungen und Strafen, Verzögerungen oder Aussetzungen von Lieferungen und Kündigungen bei Nichteinhaltung eines bestimmten Preisniveaus.104 Die Fallgruppen der mittelbaren Preisbeeinflussung zeigen, dass die Kommission erneut sämtliche Formen der Einflussnahme auf die Preis102 103 104

Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 92. Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 93. Leitlinien, Tz. 47.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

bildungsfreiheit des Händlers erfassen will. Dabei könnte sich jedoch insofern ein Konflikt zu der Rechtsprechung des EuGeI ergeben, als nach dessen Bayer-Entscheidung105 nur dann von einer kartellrechtlich relevanten Vereinbarung ausgegangen werden kann, wenn eine ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung des Vertragspartners vorliegt.106 Die von der Kommission genannten Fallgruppen könnten diesbezüglich Probleme aufwerfen. Wenn es nach ihrem Willen geht, ist auch in selektiven Vertriebssystemen weiterhin damit zu rechnen, dass die streng genommenen bloß einseitigen Maßnahmen der Hersteller weiterhin nicht freistellungsfähig sind. 2. Höchstpreise und Preisempfehlungen Höchstpreise und Preisempfehlungen können hingegen zulässigerweise vereinbart werden. Auch diese stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht wie Fest- oder Mindestpreise wirken dürfen. Zweifelhaft ist aber bereits, ob solche überhaupt als Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG anzusehen sind.107 In den Leitlinien wird hierzu nur insoweit Stellung genommen, als Preisobergrenzen und -empfehlungen zwar keine Kernbeschränkungen darstellen, sie aber dennoch wettbewerbsbeschränkende Wirkungen entfalten können.108 Einen Rückschluss auf die zukünftige Behandlung im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG lässt dies indes nicht zu. Einzig steht fest, dass ein Verstoß vorliegt, wenn Preisempfehlungen oder Höchstpreise aufgrund weiterer Maßnahmen einer Preisbindung gleichkommen. Auf jeden Fall großzügiger als bisher werden nunmehr Höchstpreise im Rahmen von Franchiseverträgen behandelt, da sie bisher unter die schwarze Liste der GVO Nr. 4087/88 fielen.109 Gleiches gilt für die Beurteilung von Preisempfehlungen: Nach dem 13. Erwägungsgrund der FranchiseGVO beurteilte sich deren Zulässigkeit nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates. In Deutschland sind nach § 23 GWB Preisempfehlungen für Nichtmarkenwaren oder Dienstleistungen verboten, sodass die nunmehr gemeinschaftsweite Regelung großzügiger ist.

105 106 107 108 109

EuGeI 26.10.2000, Bayer/Komm., Rs. T-41/96, Slg. 2000, I-3387 ff. Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1. Vgl. hierzu ausführlich: Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 402 ff. Leitlinien, Tz. 111 a. E. Art. 5 lit. e der GVO Nr. 4087/88 für Franchisevereinbarungen.

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3. Meistbegünstigungsklauseln Der Wortlaut des Art. 4 lit. a stellt ausdrücklich nur auf die Preisbildungsfreiheit des Käufers ab, sodass Preisbindungen des Lieferanten zulässig sind. Praktische Relevanz hat dies vor allem für Meistbegünstigungsklauseln zu Lasten des Herstellers. Diese schreiben dem Lieferanten vor, anderen Kunden keine günstigeren Preise einzuräumen als seinem Vertragspartner. Unzulässig ist hingegen die in die umgekehrte Richtung wirkende Meistbegünstigungsklausel zu Lasten des Käufers. Bei diesen verpflichtet sich der Abnehmer gegenüber dem Lieferanten, zugunsten seiner Kunden Meistbegünstigungsklauseln anzuwenden. Diese Bindung des Käufers wird vom Wortlaut des Art. 4 lit. a erfasst und stellt damit eine Kernbeschränkung dar.110 In der Bundesrepublik sind Meistbegünstigungsklauseln generell gem. § 14 GWB verboten.111 Es stellt sich damit das Problem des Verhältnisses der neuen europäischen Regelung zu dem Recht des GWB. 4. Verhältnis zum deutschen Recht Das deutsche Recht verbietet sowohl Höchstpreisbindungen als auch jedwede Form von Meistbegünstigungsklauseln. Auch hinsichtlich Preisempfehlungen gilt eine strengere Regelung, da diese nach § 23 GWB nur für Markenartikel zulässig sind und zudem als solche ausdrücklich gekennzeichnet sein müssen. Dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts entsprechend dürfen die Hersteller von europaweit praktizierten selektiven Vertriebssystemen ihren Absatzmittlern weitaus mehr Beschränkungen hinsichtlich der Preisgestaltungsfreiheit auferlegen. Dies geht zu Lasten kleinerer, nur national tätiger Unternehmen. Dies steht im deutlichen Widerspruch des Zwecks der europäischen Reform der Behandlung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen, die unter anderem auch den Schutz von KMU dient. Die Wurzel liegt im deutschen Recht, sodass insofern nur eine Anpassung des GWB an die Vorschriften des EG-Rechts in Betracht kommt, um der nunmehr eingetretenen Ungleichbehandlung abzuhelfen. Dieser Zugzwang des deutschen Gesetzgebers ist durchaus als kritisch anzusehen, weniger wegen der dann erforderlich werdenden Abschaffung der Ausweisungspflicht von Preisempfehlungen, wohl aber wegen des Verbots, Preisobergrenzen festzusetzen. 110

Auch hier besteht das bereits oben erwähnte Problem, ob Meistbegünstigungsklauseln überhaupt in den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG fallen, vgl. ausführlich hierzu: Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 431 ff. 111 Emmerich, S. 104.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Für dieses sprechen gewichtige Gründe, da sie zumeist preisdisziplinierend eingesetzt werden. Es bleibt abzuwarten, ob es der deutsche Gesetzgeber bei der jetzigen Regelung des GWB belässt oder diese an die Vorgaben des europäischen Rechts anpassen wird. III. Gebiets- und Kundenbeschränkungen, Art. 4 lit. b Nach Art. 4 lit. b ist grundsätzlich jede direkte oder indirekte Beschränkung des Wiederverkaufs unzulässig, es sei denn, es liegt eine der in den vier Spiegelstrichen erwähnten Ausnahmen vor. In diesen finden sich auch die ersten spezifisch für den selektiven Vertrieb zugeschnittenen Sonderregelungen, sodass es sich anbietet, zunächst die Ausnahmen darzustellen, um dann feststellen zu können, welche Vertragsklauseln innerhalb selektiver Vertriebssysteme definitiv nicht vereinbart werden dürfen. 1. Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich Die erste Ausnahme betrifft Beschränkungen des aktiven Verkaufs in exklusiv vergebene Verkaufsgebiete bzw. an exklusiv zugewiesene Kundengruppen. Damit kann zulässigerweise zwischen den Parteien vereinbart werden, aktive Verkäufe in Gebiete oder an bestimmte Kundengruppen zu unterlassen. Voraussetzung hierfür ist, dass sich der Lieferant diese selbst vorbehalten hat oder sie einem Käufer exklusiv zugewiesen worden sind. Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich lässt nach seinem eindeutigen Wortlaut nur dann eine Ausnahme von der grundsätzlichen Nichtfreistellungsfähigkeit von Kunden- und Gebietsbeschränkungen zu, wenn die Möglichkeit des Käufers, passive Verkäufe zu tätigen, bestehen bleibt. a) Abgrenzung zwischen Aktiv- und Passivverkauf Die Trennlinie zwischen Zulässigkeit und Unzulässigkeit ist anhand der Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivverkaufsverboten zu ziehen. Unter Aktivverkauf versteht die Kommission die aktive Ansprache individueller Kunden in einem Gebiet oder individueller Mitglieder einer Kundengruppe, das bzw. die ausschließlich einem anderen Vertriebshändler zugewiesen sind.112 Die aktive Ansprache umfasst dabei Maßnahmen wie den Direktversand von Briefen oder persönliche Besuche, die Werbung in Me112

Vgl. die Definitionen in den Leitlinien, Tz. 50.

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dien oder andere Verkaufsfördermaßnahmen, die sich speziell an die fraglichen Kunden in dem betreffenden Gebiet wenden. Hierunter fällt auch die Errichtung eines Lagers oder einer Vertriebsstätte in einem Gebiet, das ausschließlich einem anderen Händler zugewiesen ist. Passiver Verkauf bedeutet hingegen die Erfüllung unaufgeforderter Bestellungen individueller Kunden, d.h. das Liefern von Waren bzw. die Durchführung von Dienstleistungen für solche Kunden. Neben diesen „Komm-Kunden“ will die Kommission hierunter auch überregionale Werbung und Internetauftritte113 verstehen, die auch Kunden in Gebieten anderer Händler erreichen. b) Exklusive Händlerzuweisung bzw. Selbstvorbehalt des Lieferanten Grundvoraussetzung für ein freistellungsfähiges Aktivverkaufsverbot ist, dass sich der Lieferant entweder das Gebiet/die Kundengruppe selbst vorbehalten haben muss oder aber einem Händler exklusiv zugewiesen hat. Diese Bedingung schränkt, im Gegensatz zu der früheren Regelung für den Alleinvertrieb, den Anwendungsbereich des Aktivverkaufsverbots stark ein: Ehemals114 konnte den Händlern der aktive Verkauf in andere Vertragsgebiete ohne Einschränkung untersagt werden. Nunmehr wird vorausgesetzt, dass das Gebiet nicht mehr von mehreren anderen Händlern beliefert werden darf.115 Dies wird aufgrund der in der Praxis häufig vorkommenden Änderungen von Vertragsgebieten zu erheblichen Problemen bei der Vertragsgestaltung führen.116 Weiter geht die Regelung jedoch hinsichtlich der zumeist nicht freistellungsfähigen Kundenschutzklauseln.117 Diese stellen keine Kernbeschränkungen dar, soweit durch sie nur der aktive Verkauf an Kunden untersagt wird, die sich der Lieferant selbst vorbehalten hat. In selektiven Vertriebssystemen konnte sich der Lieferant bisher nur einen bestimmten Kundenkreis vorbehalten, wenn es durch die Art der Tätigkeit der Wiederverkäufer und zudem durch die Unterschiedlichkeit der Art der Erzeugnisse gerechtfertigt war.118 In Zukunft kann sich der Hersteller nach seinem Belieben 113 Vgl. zu den Problemen bei dem Vertrieb über das Internet ausführlich: Pautke/Schultze, in: BB 2001, 317 ff.; Seeliger, in: WuW 2000, 1174 ff.; Schultze/ Pautke/Wagener, Rdnr. 536 ff.; Ende/Klein, S. 80 ff. 114 Vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. c der GVO Nr. 1983/83 für den Alleinvertrieb. 115 I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 202. 116 Vgl. hierzu gut Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 108 ff. 117 Bekanntmachung der Kommission zu den Verordnungen (EWG) Nr. 1983/83 und Nr. 1984/83 vom 13.04.1984, ABl. C 101/2 (6, Tz. 29).

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

die lukrativen Abnehmer selbst vorbehalten und damit Gewinne abschöpfen, die andernfalls seinen Absatzmittlern zustehen würden. Die VertikalGVO setzt damit die oben herausgearbeitete Tendenz der großzügigeren Zulassung derartiger Kundenschutzklauseln fort.119 Verschärft wird die Problematik zudem durch die fehlenden Erläuterungen in der Vertikal-GVO und in den Leitlinien, wann ein derartiger Selbstvorbehalt des Lieferanten anzunehmen ist. Unklar ist insbesondere, ob der Lieferant schon angefangen haben muss, die Kunden zu beliefern, oder es aber ausreichend ist, wenn er dies erst in Zukunft vorhat.120 Falls letzteres der Fall sein sollte, stellt sich die Frage, wie konkret dieser Plan ausgestaltet sein muss. Diese Ausnahme birgt offensichtlich die Gefahr des Missbrauchs in sich. Da auch die Leitlinien den Grund für diese Regelung nicht offenbaren, ist nicht ersichtlich, warum sie doch noch in Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich aufgenommen wurde.121 Bauer weiß aus Kommissionskreisen, dass die Vorschrift dem Aufbau von Vertriebssystemen diene.122 In diesem Fall wäre es jedoch angezeigter gewesen, die Zulässigkeit von Kundenschutzklauseln zeitlich zu beschränken. Weiterhin ist noch zweifelhaft, ob auch individualisierte Kunden als Kundengruppe gelten. Die Beantwortung dieser Fragen wird die Entscheidungspraxis zu übernehmen haben. c) Ausnahme der grundsätzlichen Unzulässigkeit des Passivverkaufsverbots Eine gewichtige Ausnahmen von dem Grundsatz, dass passive Verkäufe stets möglich sein müssen, hält die Leitlinie an ganz unerwarteter Stelle bereit.123 So heißt es dort, dass es bei Erschließung eines neuen räumlichen Marktes – unabhängig vom Marktanteil des Unternehmens – keine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 Abs. 1 EG darstellt, wenn der Lieferant seinen direkten Käufern den aktiven und passiven Verkauf an Zwischenhändler in dem neuen Markt auferlegt. Dies gilt für die Dauer von zwei Jahren nach der Markteinführung. 118

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. bb) (1) (a). Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. bb) (1) (a). 120 Hierauf weisen zutreffend auch Semler/Bauer, in: DB 2000, 193 (198) hin. 121 Der veröffentlichte Entwurf zur Vertikal-GVO beschränkte die Ausnahme noch auf die exklusive Zuweisung an einen Händler, vgl. Art. 3 lit. b 1. Spiegelstrich Entwurf zur Vertikal-GVO. 122 Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 114. 123 Leitlinien, Tz. 119 Nr. 10. 119

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Insofern liegt ein deutlicher Paradigmenwechsel vor. Bereits in den Parfum-Fällen deutete sich die Berücksichtigung der Markterschließungsdoktrin an. Während aber ehemals eine derartige Klausel noch eine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung darstellte, obwohl das Verbot nur auf ein Jahr befristet war, hat die Kommission nunmehr ihre Meinung geändert. Sie ist nunmehr bereit, die konkurrenzfördernden Aspekte einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung bereits im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG zu prüfen. Diese Vorgehensweise ist ganz im Sinne der Chicago School. Es muss allerdings dahingestellt bleiben, inwiefern die Ausführungen der Europäischen Kommission zu Art. 81 Abs. 1 EG Realität werden können, da diese nur im Rahmen der unverbindlichen Leitlinien getroffen worden sind und der EuGH noch keine Gelegenheit hatte, hierzu Stellung zu nehmen. 2. Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich, Sprunglieferungsverbote Die zweite Ausnahme zu dem Grundsatz, dass Kunden- und Gebietsbeschränkungen unzulässig sind, betrifft Sprunglieferungsverbote. Nach Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich kann es Großhändlern zulässigerweise untersagt werden, an Endverbraucher zu verkaufen. Mit dieser Vorschrift soll der Aufbau von mehrstufigen Vertriebssystemen und die Trennung der unterschiedlichen Handelsfunktionen ermöglicht und erleichtert werden.124 Die Ausnahme findet sowohl bei Aktiv- als auch bei Passivverkäufen Anwendung. Ebenfalls keine Differenzierung findet hinsichtlich der Art der Endverbraucher statt. So ist es unerheblich, ob es sich um private, gewerbliche oder institutionelle Endverbraucher handelt, solange sie nur das letzte Glied in der Absatzkette sind. Zu beachten ist aber, dass diese Ausnahme ausschließlich die auf der Großhandelsstufe tätigen Absatzmittler betrifft125, sodass ein Sprunglieferungsverbot auf der vorgelagerten Marktstufe eine unzulässige Kernbeschränkung darstellt.126 Legt man die bisherige Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zugrunde, dürfte diese Ausnahme für selektive Vertriebssysteme kaum Bedeutung erlangen. Seit der Saba I-Entscheidung differenzierte die Kommission stets danach, ob es dem Großhändler untersagt war, an private, institutio124

I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 205. Hierin besteht auch der Unterschied zu Art. 4 lit. c, der die Einzelhändler betrifft. Insoweit gehen die Ausführungen Ronigers, Art. 4, Rdnr. 19 fehl, der meint, dass Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich nicht für selektive Vertriebssysteme gilt, da Art. 4 lit. c eine Ausnahme hierzu darstellt. Wie hier auch Veelken, in: I/M, GFVO, Rdnr. 207 (Fn. 702). 126 Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 120. 125

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

nelle oder gewerbliche Endverbraucher zu liefern. In den ersten beiden Fällen liegt schon keine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung vor, sodass es insoweit auf eine Freistellung nicht ankommt. Eine Neuerung besteht hingegen bezüglich der Verpflichtung, nicht an gewerbliche Endverbraucher zu liefern. Bisher musste aufgrund der Äußerungen der Kommission davon ausgegangen werden, dass diese nicht freistellungsfähig sind. Da nunmehr keine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Gruppen von Endverbrauchern gemacht wird, kann nun auch diese Form des Sprunglieferungsverbots zwischen den Parteien vereinbart werden. Ebenso wenig wird im Rahmen der Vertikal-GVO danach differenziert, ob der Hersteller tatsächlich seinen Absatz mittels eines mehrstufigen Systems organisiert hat, in welchem eine strikte Funktionstrennung zwischen Groß- und Einzelhandel herrscht.127 3. Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich, persönliche Vertriebsbindungen Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich stellt sodann die erste spezifisch auf selektive Vertriebssysteme zugeschnittene Regelung dar. Hiernach ist das den Händler auferlegte Verbot, nicht an Netzaußenseiter zu liefern, zulässig. Als erste und wichtigste Voraussetzung für das Eingreifen dieser Ausnahme hat ein selektives Vertriebssystem vorzuliegen. a) Definition selektiver Vertriebssysteme, Art. 1 lit. d Erstmalig hat sich die Europäische Kommission dazu entschlossen, selektive Vertriebssysteme zu definieren. Nach Art. 1 lit. d sind hierunter Vertriebssysteme zu verstehen, in denen sich der Lieferant verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die nicht zum Vertrieb zugelassen sind. So erfreulich dem Grunde nach eine definitorische Erfassung des selektiven Vertriebs ist, so negativ ist hingegen diejenige zu bewerten, die in der GVO Nr. 2790/99 verankert wurde.

127

So auch I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 207; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 484.

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aa) „Verpflichtung des Lieferanten“ Probleme bereitet insbesondere der erste Halbsatz, wonach sich auch der Lieferant verpflichten muss, nur Netzangehörige zu beliefern. Mit anderen Worten setzt die Definition das Vorliegen einer Absatzbindung voraus. Streng nach dem Wortlaut können also nur hersteller- und händlerseitige geschlossene128 Vertriebssysteme freigestellt werden. Konsequenz dessen wäre, dass eine Vielzahl praktizierter selektiver Vertriebssysteme bereits nicht unter den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen würden, da es oftmals an einer ausdrücklichen Absatzbindung des Herstellers fehlt.129 Zumeist bindet sich der Hersteller nur faktisch, da er andernfalls sein Vertriebssystem nicht vor Netzaußenseitern schützen kann und damit seine marketing-politische Konzeption selbst unterlaufen würde. Aufgrund dieser meist tatsächlich, aber eben nicht ausdrücklich vorhandenen Bindung des Lieferanten wird daher im Schrifttum die im ersten Halbsatz enthaltene Formulierung „(. . .) in denen sich der Lieferant verpflichtet (. . .)“ dergestalt ausgelegt, dass eine faktische Bindung ausreichend ist. Die Verpflichtung sei also nicht im Rechtssinne zu verstehen.130 Die weiteren in Art. 1 enthaltenen Definitionen helfen im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „Verpflichtung“ nicht weiter. Zwar wird sowohl in Art. 1 lit. b als auch in Art. 1 lit. c die Verpflichtung des Lieferanten angesprochen, einen Rückschluss auf die Definition für selektive Vertriebssysteme lassen diese indes nicht zu. Bauer versucht, über die Aussagen der Kommission in den Leitlinien zu dem in Art. 1 lit. b definierten Wettbewerbsverbot eine Verbindung herzustellen.131 So seien dort ausdrücklich auch Anreizregelungen ohne rechtliche Verbindlichkeiten erwähnt, welche die Definition erfüllen würden. Hiergegen spricht allerdings, dass ein ganz wesentlicher Unterschied zu der Begriffsbestimmung des selektiven Vertriebssystems in Art. 1 lit. d besteht. Bei der Definition des Wettbewerbsverbots132 wird die Formulierung der „unmittelbaren und mittelbaren Verpflichtung“ verwendet. Offensichtlich wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Vertikal-GVO auch solche Bindungstatbestände erfasst sehen will, die inhaltlich nicht nur explizit das Wettbewerbsverbot enthalten, sondern 128 Hinsichtlich offener Systeme besteht kein Bedarf für eine Freistellung, da diese ohnehin nicht unter das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG fallen, vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 5. a). 129 Meier I, S. 127, Fn. 57; Veelken, in: RabelsZ 50 (1986), 508 (520 ff.). 130 Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 122 ff.; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 212. 131 Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 123. 132 Gleiches gilt für die Definition des Art. 1 lit. c für Alleinbelieferungspflichten.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

auch sämtliche Surrogate, die den gewünschten Zweck als Folge der Vereinbarung erreichen.133, 134 Aufgrund der unterschiedlichen Formulierung und der damit verbundenen Zielsetzung kann also weder auf die weiteren Definitionen des Art. 1 noch auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Leitlinien zurückgegriffen werden. Als weitere Argumentation wird im Schrifttum auf die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu dem Tatbestandsmerkmal der Vereinbarung im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG hingewiesen.135 In der Tat wurde dieses vor allem von der Kommission extensiv ausgelegt136, nur spricht Art. 1 lit. d nicht von einer Vereinbarung zwischen Lieferant und Käufer, sondern von einer Verpflichtung. Der Hinweis auf die in den Leitlinien im Zusammenhang mit selektiven Vertriebssystemen meist verwendete Begrifflichkeit der Vereinbarung hilft ebenfalls nicht weiter.137 Die Kommission benutzt diesen vielmehr als Oberbegriff und/oder Synonym für selektive Vertriebssysteme als solche. Ein Ausweg aus dieser Problematik kann allein über den Zweck der GVO Nr. 2790/99 erfolgen. Diese will als Schirm-Gruppenfreistellungsverordnung nahezu sämtliche Formen von Vertikalvereinbarungen erfassen. Daher kann es nicht im Sinne des Verordnungsgebers sein, bestimmte Typen selektiver Vertriebssysteme außen vor zu lassen. Dies muss umso mehr gelten, als diese Vertriebsform erstmals eine gesetzliche Regelung erfahren hat. Es ist kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum eine unterschiedliche Behandlung von einseitigen und gegenseitigen Vertriebssystemen vorgesehen sein sollte. Ganz im Gegenteil sprechen die Auswirkungen dieser beiden Formen des selektiven Vertriebs auf den Wettbewerb dafür, beide unter den Anwendungsbereich des Vertikal-GVO fallen zu lassen. So weisen einseitige Vertriebssysteme einen weitaus geringeren Grad von Geschlossenheit auf als gegenseitige Systeme. Bei Ersteren begibt sich der Hersteller nicht seiner Vertrags133 Im Sinne des hier verstandenen Wortlauts auch I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 151. Als derartige Surrogate kommen, beispielsweise für Alleinbelieferungspflichten, die Pflicht zur Ausgleichszahlung oder die Bestimmung von Liefermengen in Betracht. 134 Insoweit überzeugt auch die Begründung Bauers nicht, der bei Darstellung der Definition des Wettbewerbsverbots (Rdnr. 145 f.) ebenfalls davon ausgeht, dass die Verwendung der Formulierung der unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtung die Erfassung der wirtschaftlichen Anreizgebung betrifft. 135 Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 122. 136 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1. 137 Vgl. zum Beispiel in Tz. 184 und 186 der Leitlinien.

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partnerwahl, sodass der Bezug der Erzeugnisse für die Absatzmittler erleichtert wird. Das einseitige System stellt somit ein Minus zum hersteller- und händlerseitig geschlossenen System dar. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass auch einseitige Vertriebssysteme bzw. solche, in denen sich der Lieferant nur faktisch zur Einhaltung eines bestimmten Absatzkanals verpflichtet, unter den Anwendungsbereich der GVO Nr. 2790/99 fallen. Auch die Leitlinien und der Leitfaden der Kommission bestätigen, dass eine unterschiedliche Behandlung selektiver Vertriebssysteme nicht stattfinden soll. Andernfalls hätte dies die Kommission kundgetan. Gelegenheit hierzu hatte sie, aufgrund der zum Teil sehr umfangreichen Ausführungen, mehr als genug. Gleiches bestätigen die gegenüber Bauer getätigten inoffiziellen Äußerungen von Kommissionsbeamten.138 Danach sollte die Definition des Art. 1 lit. d nicht bezwecken, bestimmte Arten von selektiven Vertriebssystemen aus dem Anwendungsbereichen der Vertikal-GVO auszuschließen. Problematisch aber hieran bleibt, dass die Definition des Art. 1 lit. d die nunmehr gem. Art. 7 zum Entzug des Vorteils der Vertikal-GVO ermächtigten nationalen Behörden dazu verleiten könnte, eng dem Wortlaut verhaftet zu sein.139 Eine Klarstellung durch nur eine geringfügige Änderung des Wortlauts wäre insoweit wünschenswert. Bedauerlicherweise regt der Wortlaut des Art. 1 lit. d Diskussionen an, die hätten vermieden werden können. Dies ist umso verwunderlicher, als in der bisherigen Praxis das Abstellen auf händler- und/oder herstellerseitige Vertriebssysteme keine Rolle gespielt hat. bb) „Unmittelbarer oder mittelbarer Verkauf“ Gegenstand eines selektiven Vertriebssystems sind Waren oder Dienstleistungen, die der Lieferant unmittelbar oder mittelbar verkauft. Durch die Formulierung des mittelbaren Verkaufs soll klargestellt werden, dass auch durchlaufende Vertriebsbindungen von der Vertikal-GVO erfasst werden.140 Aufgrund der großen praktischen Bedeutung141 von mehrstufigen Vertriebssystemen ist die über die Formulierung erreichte Klarstellung positiv zu bewerten. Insofern verwirrender gestaltete sich noch der im Entwurf vorgese138

Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 123. Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 124; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 93. 140 I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 213. 141 Mittels dieser stellt der Hersteller sicher, dass sein Selektionskonzept als Teil seiner übergeordneten Marketingstrategie bis hin zur letzten Absatzstufe transportiert wird, vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 1, C. I. sowie D. III. 1. 139

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

hene Wortlaut.142 Darin hieß es, dass der Lieferant sich unmittelbar oder mittelbar verpflichtet, die Waren ausschließlich an Händler zu veräußern.143 cc) Auswahl der Händler aufgrund „festgelegter Merkmale“ Des weiteren enthält die Definition des Art. 1 lit. d die Händlerauswahl aufgrund festgelegter Merkmale als denknotwendigen Bestandteil selektiver Vertriebssysteme. Als Merkmale in diesem Sinne sind die Selektionskriterien zu verstehen, anhand derer der Lieferant seine Händlerschar auswählt. (1) Abschied von der Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Selektion Zu der Frage, nach welchen konkreten Kriterien die Auswahl der Händler zulässigerweise vorgenommen werden kann, schweigt sich die VertikalGVO aus. Während ehemals insbesondere die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien einen erheblichen Teil der Entscheidungen ausmachte144, stellt sich diese Frage im Anwendungsbereich der GVO Nr. 2790/99 nicht. Die Definition des Art. 1 lit. d sieht eine Differenzierung zwischen qualitativer und quantitativer Selektion nicht mehr vor. Die Leitlinie erwähnt zwar die Unterscheidung, dies aber auch nur im Hinblick auf die bisherige Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu Art. 81 Abs. 1 EG.145 Diese ist natürlich auch heute noch insofern von Bedeutung, als eine Beurteilung nach der Vertikal-GVO bereits dann nicht in Betracht kommt, wenn kein Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG vorliegt.146 Während es im Leitlinien-Entwurf noch an klärenden Worten fehlte, stellt die Kommission in der endgültigen Fassung unmissverständlich fest, dass die Freistellung gleichermaßen für qualitativ und quantitativ selektierende Vertriebssysteme gilt.147 Während es bisher nur in selten gelagerten Fällen zur Einzelfreistellung von quantitativ selektierenden Vertriebssystemen kam, sind diese nunmehr 142

Art. 11 4. Spiegelstrich des Entwurf der Vertikal-GVO. Vgl. für die Bedeutung der Formulierung der unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtung bereits oben unter 2. Teil, § 2, B. I. und 2. Teil, § 2, B. II. 1. 144 Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a). 145 Leitlinien, Tz. 185. 146 Dies stellt Art. 1 Abs. 1 a. E. Vertikal-GVO (überflüssigerweise) noch einmal klar. 147 Leitlinien, Tz. 186. 143

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– bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der Vertikal-GVO – generell vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt. (2) Abschied von der Nichtdiskriminierung Die Definition setzt hingegen voraus, dass die Selektionskriterien festgelegt sind. Unzweifelhaft ist dem Wortlaut zunächst zu entnehmen, dass die Merkmale bereits vor Zulassung zum Vertriebssystem durch den Hersteller bestimmt worden sein müssen. Dies stützt sich auch auf den Entwurf zur Vertikal-GVO, der die vorherige Festlegung ausdrücklich erwähnte.148 Im Schrifttum wird ohne nähere Begründung die Festlegung der Kriterien im Sinne einer gemeinsamen vorherigen Absprache beider Vertragsparteien verstanden.149 Eine solche Interpretation lässt sich dem Wortlaut des Art. 1 lit. d jedoch nicht entnehmen. Es ist auch kein Grund ersichtlich, die Definition derart einzuschränken. Es ist zumeist ausschließlich Sache des Herstellers als Systemzentrale, die Kriterien entsprechend seiner marketing-politischen Vorstellungen für die Auswahl seiner Händler festzulegen. Insofern braucht es keiner gemeinsamen Absprache zwischen Hersteller und Händler. Aufgrund der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH drängt sich an dieser Stelle aber eine ganz andere Frage auf: Wie sind die Fälle zu behandeln, in denen die Kriterien zwar im Vorfeld festgelegt, in der Praxis dann aber diskriminierend angewendet werden? Die nichtdiskriminierende Anwendung der Selektionskriterien wurde stets als Grundvoraussetzung für die Freistellungsfähigkeit eines angemeldeten Vertriebssystems angesehen.150 Veelken ist der Ansicht, dass insofern die bisher hierzu ergangene Entscheidungspraxis übernommen werden kann.151 Dies sei der Formulierung der „festgelegten Kriterien“ zu entnehmen. Schultze, Pautke und Wagener sehen es mangels ausdrücklicher Erwähnung in der Vertikal-GVO durchaus als möglich an, dass ein Vertriebssystem diskriminierend angewandt werden kann, ohne dabei den Vorteil der Freistellung einzubüßen.152 Unverständlicherweise geben auch hier die Leitlinien keinen Anhaltspunkt, wie derartige, durchaus häufig vorkommende Praktiken in der Zukunft behandelt werden sollen. Während die Kommission früher oftmals zu weitgehend regulierend in die Vertragswerke eingriff, hat es jetzt den An148 149 150 151 152

Art. 11 4. Spiegelstrich des Entwurfs der Vertikal-GVO. I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 215; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 108. Vgl. hierzu ausführlich oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. c). I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 215. Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 107 ff.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

schein, als ob nahezu alles freistellungsfähig ist. In der Tat kann dem Wortlaut des Art. 1 lit. d nicht entnommen werden, dass die einmal festgelegten Kriterien auch auf alle Händler einheitlich angewendet werden müssen. Bei evidenten Verstößen kann sicherlich noch der Vorteil der Vertikal-GVO entzogen werden. Aber noch nicht einmal diese Möglichkeit erwähnt die Kommission.153 Daher kann nunmehr – auch hier gilt der Vorbehalt des Vorliegens der weiteren Voraussetzungen der Vertikal-GVO – beispielsweise das Verfahren zur Zulassung und zum Ausschluss anerkannter Händler ganz im Sinne der Lieferanten und damit zum Nachteil der Absatzmittler und Verbraucher ausgestaltet werden. Auch insofern wird die oben aufgezeigte Tendenz der zunehmenden Großzügigkeit gegenüber dem Zulassungs- bzw. Ausschlussverfahren fortgesetzt.154 dd) „Verpflichtung des Händlers“ Keine Probleme bereitet hingegen im Regelfall die Formulierung, dass der Händler sich verpflichten muss, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die nicht zum Vertrieb zugelassen sind.155 Gemeint ist damit der „Transmissionsriemen“ eines jeden selektiven Vertriebssystems: die Vertriebsbindung. Insoweit bestehen keine Unterschiede zu der bisherigen Entscheidungspraxis, die Vertriebsbindungen ebenfalls als unerlässlich für die Funktionsfähigkeit einer selektiven Absatzpolitik angesehen hat. Dabei stand die Zulässigkeit von Vertriebsbindungen aber stets unter dem Vorbehalt, dass die Eigenschaft des jeweiligen Produktes gerade den Absatz über ein selektives Vertriebssystem erforderte. ee) Abschied von der Produkteigenschaft Damit sind wir bei dem wesentlichsten Richtungswechsel im Rahmen der zukünftigen Behandlung selektiver Vertriebssysteme angelangt: „Die Freistellung (. . .) nach der Gruppenfreistellungsverordnung gilt unabhängig von der Art des Produkts.“156 153 Im Gegensatz zu der geplanten Vorgehensweise beim Fehlen der produktbedingten Erforderlichkeit. Hierzu sogleich. 154 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. c) aa) und bb). 155 Auch hier könnte die bereits oben ausführlich diskutierte Problematik der nur einseitig (in diesem Fall nur herstellerseitig) geschlossenen Vertriebssysteme auftreten. So konstruiert Kirchhoff, in: Wiedemann, § 10, Rdnr. 40 einen denkbaren Beispielsfall. Er gesteht aber ein, dass dieser dem Grunde nach wohl nur theoretischer Natur ist.

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Mit diesem recht unscheinbar klingenden Satz rückt die Europäische Kommission von der jahrzehntelangen Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane ab. Die produktbedingte Erforderlichkeit war das Paradigma im Recht des selektiven Vertriebs, erster Prüfungspunkt bei der Beurteilung eines angemeldeten Vertragswerkes und unerlässliche Voraussetzung für die Vereinbarkeit mit Art. 81 EG. Nunmehr ist es unerheblich, ob ein Erzeugnis aufgrund seiner Qualität oder zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein derartiges System erfordert oder nicht. Im Grünbuch schwächte die Kommission die Notwendigkeit bereits etwas ab, indem sie ausführte, dass die „objektiven Auswahlkriterien qualitativer Natur mit den fraglichen Produkten im Zusammenhang stehen“ müssen. Der ehemaligen Entscheidungspraxis entsprechend nannte die Kommission hingegen in dem Follow-up zum Grünbuch ausdrücklich die Produkteigenschaft als Voraussetzung, damit der Hersteller in den Genuss der Freistellung gelangen kann. So müsse die Ware oder Dienstleistung gerade den Vertrieb über ein selektives Absatzsystem erfordern.157 Hiervon hat die Kommission letztendlich bewusst Abstand genommen. Dies geht aus den Leitlinien hervor, in welchen sie angekündigt hat, den Vorteil der VertikalGVO zu entziehen, wenn das betreffende Produkt aufgrund seiner Produkteigenschaft den selektiven Vertrieb nicht erfordert.158 In diesen Fällen seien keine effizienzsteigernden Wirkungen zu erwarten, die ausreichen würden, den Verlust an Intrabrand-Wettbewerb auszugleichen. Es scheint so, als ob die Entzugsmöglichkeit als Begründung und Mittel immer dann von der Kommission eingesetzt wird, wenn sich die GVO durch gesetzgeberische Versäumnisse auszeichnet.159 Im ersten Teil konnte den neueren Entscheidungen zwar nicht die Tendenz zur Abschaffung der produktbedingten Erforderlichkeitsprüfung, wohl aber eine sektorspezifische Argumentationsweise festgestellt werden. Hierunter setzt die Kommission nun einen Schlusspunkt, indem es für eine Freistellung nicht mehr darauf ankommt, ob das jeweilige Produkt den selektiven Vertrieb rechtfertigt oder nicht. Zu begrüßen an dieser Neuregelung ist zunächst, dass dem Hersteller nun ein weiterer Gestaltungsraum bei der Wahl des Absatzweges für seine Produkte zugestanden wird. An der bisherigen Entscheidungspraxis war zu be156

Leitlinien, Tz. 186. Mitteilung, S. 37. 158 Leitlinien, Tz. 186. 159 So ja auch schon die Argumentation bei dem Marktanteilskriterium, vgl. oben unter 2. Teil, § 2, A. II. 2. 157

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

mängeln, dass es mittelbar in der Hand der Kommission/EuGH lag, ob ein Produkt zum Luxusartikel werden konnte oder nicht.160 Diese Entscheidung sollte aber zu vordererst dem Verbraucher überlassen bleiben. Dies wird jedoch auch nicht durch das primäre Abstellen auf das Herstellerinteresse gewährleistet, da dieses nicht zwangsläufig mit den Vorstellungen der Nachfrager deckungsgleich ist. Immenga weist zu Recht auf die dadurch entstehende Bevormundung des Verbrauchers hin.161 Die Abschaffung der Produkteigenschaft als Zulässigkeitsgrenze selektiver Vertriebssysteme hat praktisch jedoch zur Konsequenz, dass die Interessen des Herstellers mit denen der Endverbraucher gleichgesetzt werden. Dieser Gedanke findet sich auch in den Lehren der Chicago School. Danach will der Hersteller mit vertikalen Beschränkungen lediglich seine distributive efficiency erhöhen und nicht seinen output verringern.162 Insofern bestehe Interessenidentität zwischen dem Hersteller und den Verbrauchern. b) Zulässigkeit persönlicher Vertriebsbindungen Liegt ein derart definiertes selektives Vertriebssystem vor, so kann dessen Mitgliedern zulässigerweise auferlegt werden, nicht an Netzaußenseiter zu liefern. Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich betrifft also persönliche Vertriebsbindungen. Dieser Ausnahmeregelung bedurfte es, damit der selektive Vertrieb überhaupt von der Vertikal-GVO freigestellt werden kann. Das Verbot an nicht systemzugehörige Händler zu liefern muss zulässig sein, da andernfalls das Abfließen der Vertragsware in andere Vertriebskanäle nicht verhindert werden kann und ein selektives Vertriebssystem ad absurdum geführt werden würde. Entsprechend der bisherigen Entscheidungspraxis im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG sind einfache Fachhandelsbindung kartellrechtlich unbedenklich163, sodass für diese die Vertikal-GVO und damit auch die Ausnahme des Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich keine Rolle spielt. Bei allen über die einfache Fachhandelsbindung hinausgehenden Verpflichtungen hing die Zulässigkeit der persönlichen Vertriebsbindung entscheidend von der Art des Erzeugnisses ab. So konnte im ersten Teil die Akzessorietät zwischen der Freistellungsfähigkeit der Vertriebsbindung mit der grundsätzlichen Erforderlichkeit des selektiven Vertriebssystems im 160 161 162 163

Vgl. bereits oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. a) aa) und bb). Immenga, in: Immenga/Markert u. a., 57 (65). Bork, S. 289. Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 5. b).

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Hinblick auf die Produkteigenschaft festgestellt werden. Kurzum: Ist die Selektion aufgrund der Art des Erzeugnisses nicht notwendig, wird auch die dem System zugrundeliegende Vertriebsbindung nicht freigestellt. Bereits die Darstellung der in Art. 1 lit. d Vertikal-GVO vorhandenen Definition des selektiven Vertriebs hat gezeigt, dass die Produkterforderlichkeit keine Zulässigkeitsvoraussetzung mehr für die Einführung eines derartigen Absatzsystems darstellt. Folgekonsequent stellt auch Art. 4 lit. b 3. Spiegelstrich nicht auf die Produkteigenschaft ab. Im Gegenteil werden nunmehr alle persönlichen Vertriebsbindungen zugelassen, unabhängig davon, ob die Vertragsware den selektiven Vertrieb erfordert oder nicht. Es verbleibt nur noch die Entzugsmöglichkeit, wenn das betreffende Produkt aufgrund seiner Beschaffenheit den selektiven Vertrieb nicht erfordert.164 4. Grundsatz des Art. 4 lit. b Liegt keine der in den Spiegelstrichen genannten Ausnahmen vor, verbleibt es bei dem Grundsatz des Art. 4 lit. b, wonach Beschränkungen des Gebiets- und Kundenkreises nicht gruppenfreistellungsfähig sind. Der Zweck dieser Regelung ist in der Verhinderung bestimmter Arten des Gebietsschutzes zu sehen.165 Der Wortlaut des Art. 4 lit. b stellt eindeutig nur auf Beschränkungen ab, die dem Käufer hinsichtlich seiner Verkaufsmöglichkeiten auferlegt werden. Dem ist einerseits zu entnehmen, dass Beschränkungen des Lieferanten wie bereits im Rahmen des Art. 4 lit. a nicht unter diese Kernbeschränkungen fallen. Andererseits wird hieraus auch deutlich, dass ausschließlich Gebietsoder Kundenbeschränkungen hinsichtlich des Verkaufs von Waren betroffen sind. Nicht von Art. 4 lit. b erfasst werden daher Bezugsbindungen. Diese sind ausschließlich nach Art. 4 lit. d zu beurteilen. Dem Grunde nach sind Gebiets- und Kundenbeschränkungen derselben Kategorie von vertikalen Absprachen zugehörig. Während die Gebietsbeschränkung an das Territorium des Kunden anknüpft, werden bei der Kundenbeschränkung die Abnehmer anhand abstrakter Kriterien begrenzt. Beide Bindungstatbestände zielen jedoch gleichermaßen darauf ab, den Käufer in seinen Weiterverkaufsmöglichkeiten zu beschränken. Dies zu verhindern versucht Art. 4 lit. b, indem der Abnehmer grundsätzlich seine Entscheidungsfreiheit behalten soll, an wen er, sowohl in räumlicher als auch in persönlicher Hinsicht, die gebundenen Erzeugnisse verkaufen will. 164 165

Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. III. 3. a) ee). 10. Erwägungsgrund der GVO Nr. 2790/99.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Aufgrund des ersten Halbsatzes des Art. 4 werden von dem Verbot des Art. 4 lit. b nicht nur alle ausdrücklichen Gebiets- und Kundenbeschränkungen erfasst, sondern auch deren Umgehungsformen. Direkte Gebiets- oder Kundenbeschränkungen betreffen die ausdrückliche Verpflichtung des Händlers, beispielsweise die Vertragsware nicht exportieren zu dürfen.166 Auch die bisherige Entscheidungspraxis hat diese Formen der Gebietsbegrenzung aufgrund ihrer marktabschottenden Wirkung nicht freigestellt und quasi als per se-Verbot angesehen. Zu offensichtlich ist der Verstoß gegen das Binnenmarktziel. Gleiche Wirkungen zeitigen aber auch die subtileren Varianten von gebietschützenden Absprachen. Als solche indirekten Maßnahmen nennt die Kommission in den Leitlinien beispielsweise die Verweigerung/Verringerung von Prämien/Rabatten, die Beschränkung der Liefermenge auf die Nachfrage im zugeteilten Gebiet, die Pflicht Ausgleichszahlung zu leisten, die Androhung der Vertragskündigung oder aber auch die Beschränkung der Garantieleistungen auf Vertragsware, die in bestimmten Gebieten erworben worden sind.167 Die Aufzählung muss als Versuch der Kommission gewertet werden, ihrer bisherigen Entscheidungspraxis auch im Rahmen der Vertikal-GVO Geltung zu verschaffen. Hieran ist problematisch, dass sie von Art. 4 lit. b Fallkonstellationen erfasst sehen will, bei denen bereits in der Vergangenheit das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 1 EG auf zweifelhafte Weise von ihr bejaht worden ist.168 Im Rahmen dieser ist insbesondere oftmals fragwürdig, ob überhaupt eine Vereinbarung bzw. abgestimmte Verhaltensweise vorliegt. Aufgrund der eindeutigen Abfuhr, die das Gericht erster Instanz der Kommission zu ihrer extensiven Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale erteilt hat169, laufen die Ausführungen der Kommission in den Leitlinien auch in diesem Punkt Gefahr, sich in Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung zu setzen. Dies muss umso mehr gelten, als Art. 4 insgesamt nur auf das Bezwecken der wettbewerbswidrigen Wirkungen abstellt und eben gerade nicht das Bewirken ausreichen lässt. Zusammenfassend muss aber aufgrund des seit jeher bestehenden „quasi per-se-Verbotscharakters“ von Vereinbarungen mit marktabschottenden Tendenzen davon ausgegangen werden, dass sie auch in Zukunft nicht mit dem Wohlwollen der Gemeinschaftsorgane rechnen können. 166 167 168 169

Vgl. zu weiteren Beispielen die Leitlinien, Tz. 49. Leitlinien, Tz. 49. Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1. Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. II. 1.

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IV. Verkaufsbeschränkungen in selektiven Vertriebssystemen, Art. 4 lit. c Nach Art. 4 lit. c muss es dem auf der Einzelhandelsstufe tätigen Absatzmittler grundsätzlich frei bleiben, aktiv oder passiv an Endverbraucher verkaufen zu dürfen. Die Kommission will mit hiermit den Intrabrand-Wettbewerb schützen, indem zumindest auf der Einzelhandelsstufe dieser noch ungehindert stattfinden soll. Es ist ihr daher durchaus bewusst, dass insbesondere dieser unter der Herrschaft selektiver Vertriebssysteme stark leidet.170 Dementsprechend dürfen dem Einzelhändler keine zusätzlichen Beschränkungen auferlegt werden, die ihn bei seiner Vertriebstätigkeit einschränken.171 Betroffen sind auch hier sowohl unmittelbare als auch mittelbare Verpflichtungen. Da im Rahmen des Art. 4 lit. c keine Beschränkung auf Gebiets- und Kundenkreisabsprachen vorgenommen wird, bezieht sich das Verbot auch zum Beispiel auf die Werbetätigkeit des Einzelhändlers.172 1. Verhältnis zu Art. 4 lit. b 1. und 2. Spiegelstrich Die Regelung des Art. 4 lit. c betrifft ausschließlich die Fälle, in denen der Verkauf an Endverbraucher betroffen ist. Sie ist daher im Vergleich zu Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich eine ausschließlich für selektive Vertriebssysteme geltende Spezialvorschrift und hat als solche Vorrang vor der allgemeinen Regelung.173 Der wesentlich Unterschied zu der Regelung der Zulässigkeit von Kundenbeschränkungen des Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich besteht in dem anderen Adressatenkreis. Art. 4 lit. c bezieht sich ausschließlich auf die den Einzelhändlern auferlegten Verpflichtungen, während Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich sich lediglich an Großhändler richtet. Im Umkehrschluss ergibt sich hieraus ein weiterer Unterschied: Auf der Großhandelsstufe kann sich der Lieferant zulässigerweise bestimmte Kundengruppen vorbehalten, auf der Einzelhandelsstufe hingegen nicht.

170

Vgl. Leitlinien, Tz. 185. Leitlinien, Tz. 5. 172 Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 605. 173 So auch Metzlaff, in: BB 2000, 1201 (1207); I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 226; Pukall, in: NJW 2000, 1375 (1378); Liebscher/Flohr/Petsche, § 9, Rdnr. 55. 171

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

2. Verbindung selektiver Vertrieb und Alleinvertrieb Der bereits aus sich heraus nicht leicht verständliche Regelungsmechanismus der Vertikal-GVO wird durch die vielen sprachlichen Ungenauigkeiten und undifferenzierten Aussagen der Europäischen Kommission noch zusätzlich verkompliziert. Die Vertikal-GVO, die Leitlinien (inklusive der dazugehörigen Entwürfe) und der Leitfaden lassen die Frage unbeantwortet, ob selektive Vertriebssysteme noch zulässigerweise mit Alleinvertriebsrechten kombiniert werden können. Dabei muss streng zwischen dem Einsatz eines Alleinvertriebshändlers auf der Einzelhandels- und auf der Großhandelsebene unterschieden werden. a) Auf der Einzelhandelsstufe In den Leitlinien heißt es zu der Regelung des Art. 4 lit. c, dass der selektive Vertrieb mit dem Alleinvertrieb verknüpft werden kann, sofern der aktive und der passive Verkauf nirgendwo eingeschränkt wird.174 Art. 4 lit. c bestimmt also, dass es einem auf der Einzelhandelsstufe tätigen Alleinvertriebshändler nicht untersagt werden darf, an Endverbraucher aktiv oder passiv zu verkaufen, die einem anderen Händler/Gebiet zugewiesen sind.175 In dem Entwurf zur Leitlinie hieß es hingegen noch, die Verbindung von selektivem Vertrieb und Alleinvertrieb sei unzulässig.176 Da die endgültige Fassung der Leitlinien nun aber etwas anderes bestimmt, könnte man meinen, dass sich die Meinung der Kommission einfach nur geändert hat. Die Verwirrung wird dann aber durch den zuletzt von der Kommission veröffentlichten Leitfaden erneut hervorgerufen.177 Dort heißt es dann wieder, dass selektiver Vertrieb und Alleinvertrieb nicht miteinander verknüpft werden dürfen. Diese widersprüchlichen Aussagen haben ihre Ursache in der Verkennung bzw. Nichtdeutlichmachung der Ausgestaltungsmöglichkeiten von Allein174

Leitlinien, Tz. 53; Tz. 162; Tz. 186. Aber auch diese Aussage führt zu Widersprüchlichkeiten, wie sich sogleich zeigen wird. 175 Dies setzt natürlich grundsätzlich voraus, dass der Alleinvertriebshändler Mitglied des selektiven Vertriebssystems ist, d.h. dass er die Auswahlkriterien und die ihm hierzu spiegelbildlich auferlegten Vertriebsbindungen erfüllt, vgl. I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 230. 176 Leitlinien-Entwurf, Tz. 43. 177 Leitfaden, S. 12. Nach dem Vorwort des Wettbewerbskommissars soll der Leitfaden Geschäftsleuten, Rechtsanwälten und Verbrauchern zum besseren Verständnis der EG-Wettbewerbsregeln dienen. In diesem Punkt, hat der Leitfaden seinen Zweck vollends verfehlt.

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vertriebsrechten.178 Das offene Alleinvertriebsrecht ist lediglich eine räumliche Absatzbindung des Lieferanten, welches die Händler nur in die Lage versetzt, exklusiv für den Lieferanten tätig zu sein; vor Parallellieferungen anderer Händler werden sie indes nicht geschützt. Hiervon zu unterscheiden sind die geschlossenen Alleinvertriebsrechte. In diesem Fall wird die alleinige Stellung des Händlers in der Form abgesichert, dass der Lieferant allen anderen Händlern Vertriebsbindungen auferlegt, sodass ein Warenverkehr zwischen den Händlern nicht stattfinden kann (weder durch Exporte noch durch Importe). Nur von diesen geschlossenen Alleinvertriebsrechten kann die Kommission sprechen, wenn sie meint, der selektive Vertrieb dürfe nicht mehr mit dem Alleinvertrieb verbunden werden. Damit verbietet Art. 4 lit. c nicht grundsätzlich die Kombination aus Selektiv- und Alleinvertrieb. Eine Kernbeschränkung liegt nur dann vor, wenn es sich um die Verbindung mit einem geschlossenen Alleinvertriebsrecht handelt. b) Auf der Großhandelsstufe Anders stellt sich die Situation dar, wenn einem Großhändler ein Alleinvertriebsrecht gewährt wird. Zunächst hat diese Fallgestaltung nichts mit Art. 4 lit. c zu tun, da sich dieser nur an die Einzelhandelsstufe richtet.179 Insofern wird auch nicht Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich verdrängt und kann damit Anwendung finden. Danach darf dem zugelassenen Alleinvertriebs(groß)händler der Aktivverkauf in Gebiete, die einem anderen Händler exklusiv zugewiesen sind oder die sich der Lieferant selbst vorbehalten hat, untersagt werden. Der passive Verkauf muss hingegen möglich bleiben. Es wird deutlich, dass in Bezug auf die Gewährung eines Alleinvertriebsrechts auf der Großhandelsstufe die bereits oben kritisierte sprachliche Ungenauigkeit, dass „selektiver Vertrieb und Alleinvertrieb nicht mehr miteinander verknüpft werden dürfen“, zu einer schlichtweg falschen Aussage führt. Unbenommen bleibt es dem Lieferanten, sich selbst dahingehend zu verpflichten, nur einen Händler oder eine bestimmte Anzahl von Absatzmittlern in einem Gebiet zu beliefern.180 Andernfalls würden quantitative selektive Vertriebssysteme, die ausdrücklich von der Vertikal-GVO erfasst werden sollen181, nicht unter den Anwendungsbereich fallen, da auch hier eine zahlenmäßige Beschränkung der Händler für ein bestimmtes Gebiet erfolgt.182 178 179 180 181

Vgl. hierzu ausführlich oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 2. b). Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. IV. 1. Leitlinien, Tz, 53 a. E. Leitlinien, Tz. 186.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

3. Beschränkungen hinsichtlich des Standortes Eine Ausnahme von der Nicht-Freistellungsfähigkeit von Verkaufsbeschränkungen macht der zweite Halbsatz des Art. 4 lit. c. Danach kann der Lieferant seinen zugelassenen Händlern verbieten, von einem bestimmten Standort aus die Vertragswaren zu verkaufen oder eine neue Verkaufsstätte zu errichten.183 Damit werden also Standortklauseln nicht als Kernbeschränkungen angesehen, sondern sind grundsätzlich freistellungsfähig. Ganz dem Charakter der GVO als Schirmverordnung entsprechend kommt es auch nicht darauf an, ob diese Bindungen erforderlich sind, welchen Zweck sie verfolgen oder ob sie im Rahmen eines qualitativ oder quantitativ selektierenden Vertriebssystem den Händlern auferlegt werden.184 Damit ist nunmehr eindeutig geklärt, dass location clauses in selektiven Vertriebssystemen, nicht aber in anderen Vertriebsabsprachen, zulässig sind. In letzterem Fall läge ein Verstoß gegen Art. 4 lit. b vor. Zudem bestätigt die in Art. 4 lit. c, 2. Halbsatz getroffene Ausnahme die oben angestellten Überlegungen zu den offenen und geschlossenen Alleinvertriebsrechten.185 So führt die Kommission in ihrem Leitfaden aus, dass sich der Lieferant verpflichten kann, in einem bestimmten Gebiet nur einen Händler zu beliefern und diesem auch den Standort vorschreiben darf.186 Dabei bezeichnet sie dies als Ausnahme zu der grundsätzlich unzulässigen Verbindung von selektivem Vertrieb mit Alleinvertriebsrechten. Art. 4 lit. c 2. Halbsatz betrifft damit das offene Alleinvertriebsrecht erweitert um das Zugeständnis an den Hersteller, über den Standort den Einzugsbereich seiner Absatzmittler beeinflussen zu können. Es bleibt aber dabei, dass der Lieferant den anderen zugelassenen Händlern keine weiteren Vertriebsbindungen auferlegen darf. Schließlich wird ferner in den Leitlinien klargestellt, dass bei mobilen Verkaufsstätten ein Gebiet festgelegt werden kann, außerhalb dessen der Verkauf nicht betrieben werden darf.187

182 183 184 185 186 187

Hierauf weist zutreffend auch Bayreuther, in: EWS 2000 106 (113) hin. Sog. location clause, vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 1. b) bb). So auch Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 621. Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. IV. 2. Leitfaden, S. 12. Sog. „Läden auf Rädern“, Leitlinien, Tz. 54.

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V. Querlieferungsverbote in selektiven Vertriebssystemen, Art. 4 lit. d Schließlich zählen Querlieferungsverbote zu den Kernbeschränkungen, die keinesfalls zwischen den Parteien eines selektiven Vertriebssystems vereinbart werden dürfen. Querlieferungsverbote stellen vortreffliche Mittel dar, um Parallelimporte zu verhindern und sie tendieren dazu, Märkte voneinander abzuschotten. Querlieferungen im Sinne des Art. 4 lit. d sind im weitesten Wortsinne zu verstehen. Hiervon erfasst sind nach Art. 4 lit. d sämtliche Verkäufe zwischen den zugelassenen Händlern, unabhängig davon auf welcher Vertriebsstufe sie tätig sind. Somit fallen auch Rücklieferungsverbote und Sprunglieferungsverbote hierunter. Überschneidungen zu der Vorschrift des Art. 4 lit. b 2. Spiegelstrich bestehen dabei nicht, da dieser den Verkauf über den Kopf der Einzelhändler hinweg an Endverbraucher betrifft, während Art. 4 lit. d nur auf Verkäufe zwischen zugelassenen Händlern abzielt. Aus diesem Grunde findet Art. 4 lit. d auch bei Beschränkungen des Herstellers keine Anwendung, da es einzig um die Lieferungen der Händler untereinander geht. Insofern verbleibt es bei dem Grundsatz, dass selektive Vertriebssysteme nur dann unbedenklich sind, wenn der Handel innerhalb des Netzes frei ist. Zudem ergibt sich aus der weiten Fassung der Vorschrift, dass dem netzzugehörigen Händler keine Bindung auferlegt werden darf, die ihn verpflichtet, ausschließlich bei einem bestimmten Lieferanten zu beziehen. Dies hätte zur Folge, dass er daran gehindert wäre, von anderen Händlern zu kaufen. Gleiches gilt für die Verpflichtung des Großhändlers, nur beim Hersteller direkt zu beziehen oder bei einer, von dem Hersteller benannten, konkreten Bezugsquelle. Damit ist die Kombination von Selektivvertrieb mit einer Alleinbezugsverpflichtung nicht nach der Vertikal-GVO freistellungsfähig.188 Gleiches gilt für die Verbindung des selektiven Vertriebs mit Alleinbelieferungspflichten zu Lasten des Großhandels. In diesem Fall können weder andere Großhändler noch Einzelhändler bei dem gebundenen Großhändler die Vertragsware beziehen. Nicht von der Kernbeschränkung des Art. 4 lit. d erfasst werden hingegen Klauseln, die verhindern sollen, die gebundenen Waren außerhalb des vom Hersteller autorisierten Netzes zu beziehen. Damit kann der Hersteller nunmehr seinen Händlern generell verbieten, sog. „Graumarktware“ zu vertreiben. Die explizite Nennung des Querlieferungsverbots für selektive Vertriebssysteme189 bedeutet im Umkehrschluss, dass für andere Vertriebsverträge 188

Leitlinien, Tz. 55.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

sich die Zulässigkeit derartiger Vertragsklauseln nach den allgemeinen Regeln, insbesondere also nach Art. 2 lit. b erster Spiegelstrich richtet.190

C. Unwirksame Klauseln, Art. 5191 Art. 5 Vertikal-GVO schreibt vor, welche Klauseln über die Kernbeschränkungen hinaus nicht Bestandteil von Vertriebsverträgen sein dürfen. Die Kommission misst den dort genannten unter dem Oberbegriff „Wettbewerbsverbote“ zusammenfassbaren vertikalen Absprachen zwar eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung zu, schätzt sie aber weniger gefährlich als die Bindungen des Art. 4. Dieser wettbewerbspolitischen Bewertung entsprechend findet hier das Alles-oder-Nichts-Prinzip keine Anwendung. Enthält das zwischen den Parteien getroffene Vertragswerk eine der in Art. 5 genannten Beschränkungen, ist diese grundsätzlich von dem Rest des Vertrages abtrennbar. I. Wettbewerbsverbote während der Vertragslaufzeit, Art. 5 lit. a Art. 5 lit. a erklärt Wettbewerbsverbote, die innerhalb der Vertragslaufzeit dem Käufer auferlegt werden, für unwirksam, sofern sie für unbestimmte Zeit bzw. für einen längeren Zeitraum als 5 Jahre vereinbart werden. Das von Art. 5 Vertikal-GVO anvisierte Schutzobjekt ist primär der Interbrand-Wettbewerb. Die von einem Wettbewerbsverbot ausgehenden Gefahren für den produktexternen Wettbewerb sind in der Marktsabschottung192, der Erleichterung der Absprache unter Herstellern, die gleichartige Vereinbarungen haben, und in einem Verlust an Markenwettbewerb in den Verkaufsstätten zu sehen.193 Um Wettbewerbsverbote nicht gänzlich zu untersa189 Art. 4 lit. d ist ebenso wie Art. 4 lit. c gegenüber Art. 4 lit. b erster Spiegelstrich die speziellere und damit vorrangige Regelung. 190 Daher kann es den Händlern verboten werden, aktiv in ein anderes Vertragsgebiet zu verkaufen, wenn dies einem anderen Händler zugewiesen ist oder sich der Lieferant das Gebiet selbst vorbehalten hat. Nach Art. 2 Abs. 2 lit. b GVO Nr. 1983/83 waren diese für Alleinvertriebsvereinbarungen bisher ohnehin schon freigestellt. 191 Die Terminologie für die in Art. 5 aufgezählten verbotenen Klauseln ist uneinheitlich. Mal werden sie als „Rote Klauseln“ [so Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 137; Ensthaler/Funk, in: BB 2000, 1685 (1687)], mal als „Graue Klauseln“ [so Bechtold, in: EWS 2001, 49 (51)] bezeichnet. Zwecks Unterscheidung des systematischen Regelungsansatzes der neuen Vertikal-GVO im Vergleich zu den Vorgänger GVOen empfiehlt es sich, ganz von diesen „farblichen“ Bezeichnungen abzusehen. 192 XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 18 (Tz. 15). 193 Leitlinien, Tz. 138.

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gen, die Auswirkungen auf den Markt aber abzumildern, müssen diese zeitlich begrenzt sein. 1. Wettbewerbsverbote i. S. d. Art. 1 lit. b Die Legaldefinition des Art. 1 lit. b versteht unter Wettbewerbsverboten alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, die den Käufer veranlassen, keine Waren oder Dienstleistungen herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen, die mit den Vertragswaren oder -dienstleistungen im Wettbewerb stehen sowie alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen des Käufers, mehr als 80% seiner Einkäufe von Vertragswaren sowie ihrer Substitute vom Lieferanten oder einem anderem vom Lieferanten bezeichneten Unternehmen zu beziehen. a) Formen von Wettbewerbsverboten Welche konkreten Verpflichtungstatbestände von der Definition des Art. 1 lit. b erfasst werden sollen, erschließt sich nicht im ersten Moment. Auch in den Leitlinien finden sich nur begrenzt Anhaltspunkte dafür, welche in der Praxis verwendeten Vertragsklauseln in den Anwendungsbereich des Art. 1 lit. b und damit in den des Art. 5 lit. a fallen können. Der Wortlaut der Vorschrift zeigt zunächst, dass die Wettbewerbsverbote im Sinne der GVO Nr. 2790/99 weit zu verstehen sind.194 Ausdrücklich im 2. Halbsatz werden Mindestabnahmenpflichten, sofern sie die quantitative Grenze von 80% überschreiten, als Form eines Wettbewerbsverbots genannt. Welche Verpflichtungstatbestände unter die im ersten Halbsatz angesprochenen Alleinbezugsbindungen fallen, ist hingegen problematischer. Bei diesen kann je nach Bindungsobjekt zwischen solchen unterschieden werden, die den Warenlauf der Vertragsware regulieren oder aber in die Beschaffungsfreiheit der Händler hinsichtlich Fremdwaren eingreifen. Erstere, oftmals in Vertriebsverträgen als Direktbezugsverpflichtung ausgestaltete Bindungen, fallen bereits wegen des Wortlauts des Art. 1 lit. b nicht unter dessen Anwendungsbereich und sind damit nach Art. 2 Abs. 1 freigestellt.195 Dieser stellt nur auf Waren ab, die mit den Vertragswaren im Wettbewerb stehen, mithin also auf Fremdwaren.196 Gleiches ergibt sich 194

Zu der im Rahmen dieser Untersuchung getroffenen terminologischen Differenzierung vgl. oben unter 1. Teil, § 1, D. III. 3. b) und 1. Teil, § 1, D. IV. 4. a). 195 So auch Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 151; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 54; Veelken, in: I/M, GFVO, Rdnr. 260. Im Rahmen selektiver Vertriebssysteme können Direktbezugsverpflichtungen hingegen nicht vereinbart werden, da hierin ein Verstoß gegen Art. 4 lit. d zu sehen ist, vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. V.

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auch aus dem Zweck der Norm, den Interbrand-Wettbewerb zu schützen. Bezugsbindungen hinsichtlich Vertragswaren tangieren diesen nicht, da mit ihnen ausschließlich der markeninterne Wettbewerb reglementiert wird. Gerade wegen dieser den Intrabrand-Wettbewerb dämpfenden Wirkung ist im Rahmen selektiver Vertriebssysteme die Regelung des Art. 4 lit. d maßgeblich. Direktbezugsverpflichtungen unterbinden Querlieferungen innerhalb des Vertriebsnetzes und stellen damit eine nicht gruppenfreigestellte Kernbeschränkung dar.197 Anders sind hingegen Alleinbezugsbindungen hinsichtlich Fremdwaren zu beurteilen. Schreibt der Hersteller dem Käufer vor, die konkurrierenden Produkte nur bei einem Lieferanten zu erwerben, wird der Wettbewerb zwischen den Marken gestört. Die Konkurrenz in den Händlersortimenten findet nicht mehr statt. Gleiches gilt für Gesamtbedarfsdeckungsverträge, durch welche der Käufer verpflichtet wird, während der Vertragslaufzeit seinen gesamten Bedarf ausschließlich beim Lieferanten zu beziehen. Durch diese wird neben dem Interbrand- auch der Intrabrand-Wettbewerb nahezu ganz ausgeschaltet. b) Unmittelbare und mittelbare Verpflichtungen des Käufers Der Wortlaut des Art. 1 lit. b verdeutlicht, dass Verpflichteter ausschließlich der Käufer sein kann. Der Lieferant kann sich grundsätzlich mittels Alleinbelieferungs- oder Alleinvertriebsverpflichtungen binden.198 Schließlich muss das Wettbewerbsverbot nicht ausdrücklich Inhalt des Vertriebsvertrages sein, sondern erfasst werden vielmehr auch indirekte Maßnahmen, die aber dieselbe marktabschottende Wirkung entfalten wie Wettbewerbsverbote. Auch hier199 wird im Schrifttum diskutiert, ob die Verpflichtung im Rechtssinne zu verstehen ist oder bloße Anreizregelungen, wie beispielsweise das Inaussichtstellen von Rabatten, als mittelbare Verpflichtung unter den Anwendungsbereich des Art. 1 lit. b fällt. Letzteres muss bejaht werden.200 Die Definition spricht ausdrücklich von Verpflich196 Aus diesem Grund sind auch keine Überschneidungen zwischen den Anwendungsbereichen der Art. 4 und Art. 5 denkbar. Ersterer bezieht sich auf Vertragsprodukte, Letzterer hingegen auf Konkurrenzwaren. 197 Vgl. hierzu bereits oben unter 2. Teil, § 2, B. V. 198 Andernfalls wäre es auch widersinnig, dass im unmittelbaren Anschluss zu den Wettbewerbsverboten in Art. 1 lit. c die Alleinbelieferungspflichten definiert werden. 199 Vgl. zu der parallelen Diskussion im Rahmen des Art. 1 lit. d für die Definition selektiver Vertriebssysteme oben unter 2. Teil, § 2, B. III. 3. a) aa). 200 Wie hier: Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 145. Offenlassend Schultze/ Pautke/Wagener, Rdnr. 63.

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tungen, die den Käufer „veranlassen sollen“, keine Konkurrenzprodukte zu vertreiben. Hätte man die bloßen Anreizregelungen nicht erfassen wollen, dann wäre die Formulierung wie folgt ausgefallen: „(. . .) durch welche der Käufer unmittelbar oder mittelbar verpflichtet wird, keine Konkurrenzprodukte zu vertreiben.“ Auch die Leitlinien unterstützen dies, in denen Anreizregelungen mit den Verpflichtungstatbeständen gleichgesetzt werden.201 Es ist daher davon auszugehen, dass vertragliche Regelungen, die den Käufer wirtschaftlich veranlassen, ohne ihn dabei rechtlich zu binden, beispielsweise keine Konkurrenzprodukt zu vertreiben, ebenfalls von der Definition des Art. 1 lit. b erfasst werden. 2. Zeitliche Begrenzung Grundsätzlich müssen die so definierten Wettbewerbsverbote zeitlich begrenzt sein, um in den Genuss der GVO Nr. 2790/99 zu gelangen.202 Sie dürfen weder auf unbestimmte Zeit noch für einen längeren Zeitraum als fünf Jahre den Käufern auferlegt werden. Diese Regelung entspricht dem Art. 3 lit. a der GVO Nr. 1984/83 für Alleinbezugsverträge, sodass für diese insofern keine Änderungen vorgenommen werden müssen.203 Neu ist hingegen die ausdrückliche Gleichstellung der stillschweigenden Verlängerung mit der unbestimmten Dauer eines Wettbewerbsverbots. Somit fallen sog. Evergreen-Klauseln, die den Vertrag bei Nichtkündigung automatisch verlängern, ebenfalls unter die Vorschrift des Art. 5 lit. a. 3. Insbesondere Mindestabnahmeverpflichtungen Im Rahmen selektiver Vertriebssysteme kommt der Auferlegung einer Mindestabnahmepflicht eine große praktische Bedeutung zu.204 Bisher bedurften sie stets der Einzelfreistellung, die ihnen größtenteils auch gewährt wurde. 201

Leitlinien, Tz. 138. Eine Ausnahme gilt nach Art. 5 lit. a 3. Halbsatz, wenn die Vertragsprodukte in Räumlichkeiten oder auf Grundstücken verkauft werden, die im Eigentum des Lieferanten stehen oder durch diesen gemietet oder gepachtet sind. Dies betrifft vor allem Bierlieferungs- und Tankstellenverträge und kann daher hier vernachlässigt werden. 203 Strenger beurteilt werden durch die neue Vertikal-GVO hingegen Wettbewerbsverbote in Alleinvertriebs- und Franchiseverträgen. Weder die GVO Nr. 1983/ 83 noch die GVO Nr. 4087/88 enthielten eine zeitliche Befristung, sodass den Händlern/Franchisenehmern Wettbewerbsverbote für die gesamte Vertragslaufzeit auferlegt werden konnten. 204 Vgl. zur bisherigen Beurteilung dieser Unterart der Vertriebsförderungspflicht oben unter 1. Teil, § 4, C. IV. 1. a) cc). 202

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Eine im Rahmen des Art. 5 lit. a relevante Mindestabnahmeverpflichtung liegt gem. Art. 1 lit. b vor, wenn der Käufer mehr als 80% seiner auf der Grundlage des Einkaufswertes des vorherigen Kalenderjahres berechneten gesamten Einkäufe an Vertragsprodukten einschließlich Substituten vom Lieferanten oder von einem anderen vom Lieferanten bezeichneten Unternehmen zu beziehen hat. Mit anderen Worten: Verbleiben dem Käufer nur noch 20% seiner Kapazitäten für Konkurrenzerzeugnisse, ist dies zu wenig. Soll den Händlern daher in Zukunft eine Mindestabnahmepflicht auferlegt werden, muss vorher ausgerechnet werden, ob diese 80%-Grenze erreicht ist. Die Einzelheiten der Berechnungsweise sind dabei noch weitgehend unklar.205 Zumindest im Vergleich zu der bisherigen Entscheidungspraxis klarer gestaltet sich nunmehr die Behandlung von Mindestabnahmepflichten in selektiven Vertriebssystemen. Grundsätzlich freistellungsfähig sind Verpflichtungen, die weniger als 80% der Kapazitäten des Händlers binden. Alles was darüber hinausgeht, kann lediglich für den beschränkten Zeitraum von 5 Jahren wirksam vereinbart werden. II. Nachvertragliche Wettbewerbsverbote, Art. 5 lit. b Die zweite Ausschlussbestimmung des Art. 5 betrifft alle nach Beendigung des Vertrages unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, die den Käufer veranlassen, Waren oder Dienstleistungen herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen. Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass sich die in Art. 5 lit. b erwähnten Bindungen über die Fremdprodukte hinaus auch auf Vertragswaren beziehen können. Derartige Bestimmungen in Vertriebsverträgen sind grundsätzlich unwirksam. Eine Ausnahme hiervon wird nur unter den in den drei Spiegelstrichen genannten Voraussetzungen sowie der zeitlichen Beschränkung auf ein Jahr zugelassen.206 Diese vier Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.207

205 Insbesondere problematisch gestaltet sich, ob hinsichtlich des „vorherigen Kalenderjahrs“ das Jahr vor der Vereinbarung des Wettbewerbsverbots (so Roniger, Art. 1, Rdnr. 6) oder aber von dem Einkaufsvolumen des jeweiligen Vorjahres während der Mindestabnahmepflicht (so Veelken, in: I/M, GFVO, Rdnr. 270; Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 143) entscheidend ist. 206 Hiervon läßt Art. 5 lit. b a. E. eine unbefristete Ausnahme für die Nutzung und Offenlegung von Know-how zu. 207 Dies ergibt sich deutlicher aus der englischen und französischen Fassung der Vertikal-GVO, in welchen die einzelnen Spiegelstriche mit einem „and“ bzw. „et“ voneinander getrennt werden.

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In der Praxis gewinnen sie ausschließlich im Zusammenhang mit der Übertragung von Know-how eine Bedeutung und sollen daher hier nicht näher erläutert werden.208 III. Individualisierte Wettbewerbsverbote, Art. 5 lit. c Schließlich enthält Art. 5 lit. c erneut eine Sonderbestimmung für selektive Vertriebssysteme bereit, mittels welcher individualisierte Wettbewerbsverbote verhindert werden sollen. 1. Anwendungsbereich Nach Art. 5 lit. c dürfen Mitglieder selektiver Vertriebssysteme weder unmittelbar noch mittelbar dazu veranlasst werden, Marken bestimmter konkurrierender Lieferanten nicht zu verkaufen. Der wesentliche Unterschied zu Art. 5 lit. a und b besteht darin, dass es hier um den Ausschluss des Verkaufs von Produkten eines genau individualisierten Wettbewerbers und nicht um Konkurrenzware im Allgemeinen geht. Für diese gelten auch in selektiven Vertriebssystemen die Vorschriften des Art. 5 lit. a und b. Im Umkehrschluss richtet sich damit die Zulässigkeit individualisierter Wettbewerbsverbote im Rahmen anderer Vertriebsformen nach Art. 5 lit. a, sodass diese freigestellt sind, sofern sie für weniger als fünf Jahre vereinbart wurden. Die spezielle Regelung des Art. 5 lit. c für selektive Vertriebssysteme ist damit strenger. Ursache dessen ist wiederum die starke Tendenz selektiver Vertriebssysteme, den Intrabrand-Wettbewerb zu schwächen.209 Nach der Kommission soll die Nichtfreistellungsfähigkeit individualisierter Wettbewerbsverbote verhindern, dass mehrere Lieferanten, die dieselben Verkaufsstellen des selektiven Vertriebsnetzes nutzen, einen bestimmten Wettbewerber davon abhalten, beim Vertrieb ihrer Produkte auf diese Verkaufsstelle zurückzugreifen.210 Der kollektive auf horizontaler Ebene abgesprochene Boykott gegenüber bestimmten Konkurrenten soll also ausgeschlossen werden, damit keine „exklusiven Clubs von Marken“211 entstehen können.

208 Vgl. hierzu insbesondere I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 281 ff.; Schultze/Pautke/ Wagener, Rdnr. 678 ff. 209 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in den Leitlinien, Tz. 193. 210 Leitlinien, Tz. 61. 211 Leitlinien, Tz. 192.

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2. „Bestimmter konkurrierender Lieferanten“ Unzulässig ist ein Wettbewerbsverbot nur dann, wenn es sich auf einen bestimmten konkurrierenden Lieferanten bezieht. Die allgemeine Verpflichtung zur Markenausschließlichkeit fällt nicht hierunter.212 Ob ein anderer Hersteller ein Konkurrent ist, erfordert wiederum die Abgrenzung des Produktmarktes nach den allgemeinen Regeln.213 Aufgrund des Schutzzwecks der Norm sind dabei potentielle Wettbewerber ebenso zu berücksichtigen wie die Lieferanten von Substituten. Es handelt sich um bestimmte Waren, wenn diese konkret benannt werden bzw. es sich aus den Umständen ergibt, dass die an sich abstrakt-generell umschriebenen Kriterien die Zielsetzung des Ausschlusses konkreter Wettbewerb erkennen lassen.214 Für das Eingreifen des Art. 5 lit. c reicht es dabei aus, dass nur der Verkauf von bestimmten einzelnen Marken untersagt wird; nicht erforderlich ist, dass sich das Wettbewerbsverbot auf das gesamte Warensortiment bezieht.215 3. „Nicht zu verkaufen“ In selektiven Vertriebssystemen, namentlich in solchen für Luxuskosmetika, sind Klauseln weit verbreitet, die dem Käufer vorschreiben, dass er neben der Vertragsware noch weitere Marken von gleicher Qualität zu führen hat. Der Entwurf der Vertikal-GVO setzte daher auch noch die Abwesenheit bestimmter Marken mit dem Vorhandensein von anderen Marken gleich.216 In der endgültigen Fassung wird jetzt lediglich auf den „Nichtverkauf“ bestimmter Konkurrenzwaren Bezug genommen. Der Kommission war sich des Vorkommens derartiger vertikaler Absprachen also durchaus bewusst. Aufgrund der inhaltlichen Änderung der Vorschrift wird wohl in Zukunft davon auszugehen sein, dass die Lieferanten ihren Händlern zulässigerweise vorschreiben können, welche (bestimmten) Marken sie neben der Vertragsprodukte zu führen haben. In der bisherigen Entscheidungspraxis der Kom212

Leitlinien, Tz. 61. Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, A. II. 2. Insoweit missverständlich Veelken, in: I/M, GFVO, Rdnr. 302, der bei der Markabgrenzung von einer „weiten Fassung“ ausgehen will. Gemeint ist wohl, dass sowohl potentielle Wettbewerber als auch Anbieter von Substituten berücksichtigt werden müssen. 214 Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 697. 215 Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 701; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 302. 216 So hieß es in Art. 4 lit. c des Entwurfs zur Vertikal-GVO: „(. . .) Verpflichtungen der Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems, bestimmte Marken konkurrierender Lieferanten zu führen oder nicht zu führen.“ 213

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mission und des EuGH wurden derartige Klauseln durchaus kritisch betrachtet.217 Die in den Vertriebsverträgen von „Givenchy“ und „Yves Saint Laurent“ vorgesehene Pflicht der Händler, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes eine genügende Anzahl von Konkurrenzmarken anzubieten, wurde zwar freigestellt. Die Kommission veranlasste die Unternehmen zuvor jedoch, auf eine konkrete Bezeichnung der zu führenden Marken zu verzichten. Der Grund hierfür geht in die gleiche Richtung wie der Zweck des Art. 5 lit. c: Die Möglichkeit von horizontalen Absprachen sowie die Bildung von „exklusiven Markenclubs“ wird erleichtert. Insofern kann es nur überraschen, dass der einst vorgesehene Wortlaut sich nicht mehr in Art. 5 lit. c wiederfindet. Grund genug dafür gäbe es.

D. Zusammenfassung der Neuregelungen für den selektiven Vertrieb Die GVO Nr. 2790/99 enthält in Art. 4 und 5 insgesamt vier speziell auf selektive Vertriebssysteme zugeschnittene Sonderregelungen. Daneben sind zudem die allgemeinen Vorschriften der Vertikal-GVO anwendbar. Im Folgenden soll ein abschließender Überblick über die nunmehr zu erwartende Behandlung des selektiven Vertriebs gewährt werden.218 Grundsätzlich sind nach Art. 2 Abs. 1 alle selektiven Vertriebssysteme freistellungsfähig, unabhängig davon, ob der Hersteller seine Händlerschar nach qualitativen oder quantitativen Kriterien auswählt. Im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ist eine Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Fachhandelsbindung oder quantitativer Selektion damit entbehrlich geworden. Ebenso unerheblich ist, ob das Produkt aufgrund seiner Beschaffenheit oder zur Wahrung seiner Qualität gerade den Vertrieb mittels einer selektiven Absatzstrategie erfordert oder nicht. Auch die einst intensivst diskutierte Frage, ob die Selektionskriterien als verhältnismäßig in Bezug auf die Produkteigenschaft erscheinen, ist nunmehr obsolet geworden. Auch steht eine diskriminierende Handhabung, etwa bei der Zulassung oder beim Ausschluss von dem Vertriebssystem, einer Freistellung grundsätzlich nicht mehr entgegen. Die Neuregelung der Vertikal-GVO macht bei der Beurteilungsweise selektiver Vertriebssysteme eine Kehrtwende um 180 Grad. Stand und fiel die Freistellungsfähigkeit selektiver Vertriebsverträge und den darin enthaltenen einzelnen Klauseln einst mit der Produkteigenschaft, ist diese nunmehr nebensächlich. Die Kommission droht in der Leitlinie lediglich noch mit dem 217 218

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. IV. 1. d). Vgl. hierzu die Tabelle im Anhang 3.

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Entzug des Rechtsvorteils, falls es an der Erforderlichkeit fehlt. Damit steht für die Beurteilung der Freistellungsfähigkeit selektiver Vertriebssysteme nicht mehr das vom Hersteller verfolgte Selektionskonzept im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die einzelnen Klauseln. Als Kernbeschränkungen dürfen die Parteien folgende Klauseln keinesfalls vereinbaren: Weiterhin nicht freistellungsfähig sind die bereits in der früheren Entscheidungspraxis als „quasi per-se-Verbote“ herausgearbeiteten Preisbindungen und Marktaufteilung anzusehen. Diese stellen noch immer die „Todsünden“ des europäischen Kartellrechts dar. Daher sind nach Art. 4 lit. a und b weder Preis- noch Gebiets- oder Kundenbeschränkungen zulässig. Als für selektive Vertriebssysteme relevante Ausnahmen lässt die Vertikal-GVO folgende Klauseln zu: Sprunglieferungsverbote zu Lasten des Großhandels, nicht an Endverbraucher zu verkaufen und die den Händlern auferlegte Verpflichtung, nicht an Netzaußenseiter zu liefern. Die Auferlegung eines Aktivverkaufsverbots beurteilt sich für den Großhandel nach Art. 4 lit. b 1. Spiegelstrich, für den Einzelhandel hingegen nach der Sonderregelung des Art. 4 lit. c. Im ersten Fall kann der aktive Verkauf in vertragsfremde Gebiete untersagt werden, sofern das Gebiet exklusiv einem anderen Händler zugewiesen worden ist bzw. sich der Lieferant dieses Gebiet selbst vorbehalten hat. Das dem Einzelhändler auferlegte Verbot des aktiven Verkaufs in ein anderes Gebiet stellt grundsätzlich eine Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. c dar. Aufgrund dieser Regelung kann in Zukunft auf der Einzelhandelsebene der selektive Vertrieb nur mit offenen Alleinvertriebsrechten kombiniert werden, da nur in diesem Fall Aktiv- und Passivverkäufe möglich bleiben. Regulierend in den Warenstrom seiner Erzeugnisse kann der Hersteller aber insofern eingreifen, als er in sein Vertragswerk zulässigerweise Standortklauseln aufnehmen darf. Schließlich stellt es eine Kernbeschränkung nach Art. 4 lit. d dar, wenn die netzzugehörigen Händler nicht frei untereinander die Vertragswaren beziehen und verkaufen können. Parallelimporte als die Errungenschaft des Binnenmarktes müssen stets möglich sein. Daher stellen Querlieferungs- und Rücklieferungsverbote unverändert Klauseln dar, die nicht der Freistellung zugänglich sind. Überdies hinaus entfaltet die Regelung des Art. 4 lit. d noch weitreichendere Wirkungen. So werden durch sie alle Bindungen der Händler untersagt, die sie dazu veranlassen, die Vertragswaren nur von einem Lieferanten zu beziehen oder nur an einen Händler zu verkaufen. Damit ist die Kombination von Selektivvertrieb und Alleinbezugsverpflichtung bzw. Alleinbelieferungspflicht nicht möglich.

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Als zwar weniger wettbewerbsbeschränkend als die Kernbeschränkungen, aber als dennoch nicht freistellungsfähig werden die in Art. 5 Vertikal-GVO aufgezählten Bindungstatbestände eingeschätzt. Im Rahmen der Regelung des Art. 5 lit. a sind insbesondere die Neuerungen hinsichtlich der Mindestabnahmeverpflichtungen von Bedeutung. Grundsätzlich der Gruppenfreistellung fähig sind solche Bindungen, die 80% der Kapazitäten des Händlers blockieren. Alles was darüber hinaus geht, kann nur dann zulässig vereinbart werden, wenn die Mindestabnahmepflicht zeitlich befristet ist. Eine spezielle Regelung für selektive Vertriebssysteme hält Art. 5 lit. c bereit. Danach dürfen den Händlern keine individualisierten Wettbewerbsverbote auferlegt werden. Bezugsbindungen hinsichtlich ganz bestimmter konkurrierender Waren sind nicht freistellungsfähig. Der umgekehrte Fall, dass dem Händler vorgeschrieben wird, welche Konkurrenzprodukte er zu führen hat, wird in der endgültigen Fassung der Vertikal-GVO nicht mehr erwähnt und ist daher nach Art. 2 Abs. 1 freigestellt.

E. Verfahrensrechtliche Vorschriften Neben den materiellrechtlichen Vorschriften enthält die Vertikal-GVO auch verfahrensrechtliche Regelungen. Dabei handelt es sich um die Entzugsmöglichkeit des Rechtsvorteils der GVO (Art. 6 und 7) und um die Erklärung der Nichtanwendung der GVO mittels Erlasses einer Verordnung (Art. 8). I. Entzug der Freistellung durch die Kommission, Art. 6 Bereits die bisherigen Gruppenfreistellungsverordnungen sahen die Möglichkeit vor, dass die Europäische Kommission den Vorteil der betreffenden GVO entziehen kann, wenn die Vereinbarung übermäßig negative Auswirkungen auf den Wettbewerb zeigt. 1. Voraussetzungen Rechtsgrundlage für die Entzugsmöglichkeit ist Art. 7 Abs. 1 der VO Nr. 17/65. Danach ist der Vorteil der Gruppenfreistellung zu entziehen, wenn eine an sich freigestellte Vereinbarung gleichwohl Wirkungen hat, die mit den in Art. 81 Abs. 3 EG genannten Voraussetzungen unvereinbar sind. Exemplarisch für einen derartigen Einzelentzug nennt Art. 6 2. Halbsatz die Beschränkung des Wettbewerbs aufgrund der von nebeneinander bestehender Netze gleichartiger Vereinbarungen ausgehenden kumulativen

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Wirkungen. Damit hat die Bündeltheorie auch Einzug in die GVO Nr. 2790/ 99 gefunden.219 Dabei sind parallele Netze vertikaler Vereinbarungen als gleichartig anzusehen, wenn sie Beschränkungen enthalten, die ähnliche Wirkungen am Markt entfalten.220 Es kommt also nicht darauf an, dass sich die beteiligten Unternehmen derselben Form von vertikalen Verträgen bedienen, sondern vielmehr ob diese im Ergebnis die gleichen Wirkungen haben. Als Beispielsfälle für die von parallelen Netzen ausgehenden kumulativen Wirkungen werden im 13. Erwägungsgrund selektive Vertriebssysteme und Wettbewerbsverbote genannt. Zu den kumulativen Wirkungen selektiver Vertriebssysteme nimmt die Kommission zudem in den Leitlinien recht ausführlich Stellung.221 Dabei geht sie davon aus, dass eine negative Wirkung unwahrscheinlich ist, wenn mehrere selektive Vertriebssysteme weniger als 50% eines Marktes abdecken. Selbst eine noch höhere Marktabdeckungsquote ist unproblematisch, sofern die Summe der Marktanteile der fünf größten Lieferanten weniger als 50% beträgt. Werden beide Werte überschritten, müssen zum einen die konkreten Ausgestaltungsformen der jeweiligen Vertriebssysteme und zum anderen die Stärke der Konkurrenten, die keine selektive Absatzpolitik betreiben, berücksichtigt werden. Vom Nichtvorliegen der Freistellungsvoraussetzungen ist insbesondere dann auszugehen, wenn die fünf Lieferanten die Händlerschar mittels quantitativer Kriterien begrenzen und dabei den Intertype-Wettbewerb unzulässig einschränken. Es wird deutlich, dass die Meßlatte, wann parallel angewandte selektive Vertriebssysteme nicht freistellungsfähig sind, relativ hoch liegt. Dies entspricht durchaus der neueren Entscheidungspraxis der Kommission. So wurde von ihr in den Parfum-Fällen kaum berücksichtigt, dass nahezu der gesamte Markt für Luxusparfums mit selektiven Vertriebssystemen überzogen war.222 In den Leitlinien wird von der Kommission ein weiterer im Hinblick auf selektive Vertriebssysteme interessanter Anwendungsfall für den Entzug des Vorteils der Vertikal-GVO genannt.223 Erfordert das betreffende Produkt aufgrund seiner Beschaffenheit kein selektives Vertriebssystem, so kommen 219

Bisher enthielt lediglich die GVO Nr. 4087/88 für Franchisevereinbarungen in Art. 8 lit. a eine vergleichbare Regelung. 220 Leitlinien, Tz. 73. 221 Leitlinien, Tz. 189. 222 Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 6. d). 223 Leitlinien, Tz. 186.

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diesem auch keine effizienzsteigernden Wirkungen zu, die ausreichen würden, um einen erheblichen Verlust an markeninternem Wettbewerb auszugleichen. Bisher hat der Entzug des Rechtsvorteils einer GVO kaum praktische Bedeutung erlangt.224 Inwiefern ein solcher bei Fehlen der produktbedingten Erforderlichkeit tatsächlich in Betracht kommt, bleibt abzuwarten. Aufgrund des neuen Regelungsansatzes der Vertikal-GVO, unter dem Anwendungsvorbehalt des Marktanteilskriteriums zu stehen, sind viele Fallgestaltungen denkbar, in denen der Entzug des Vorteils der „Schirm“-Verordnung in Betracht kommt. Marktmacht drückt sich nun nicht einmal nur im Marktanteil des Lieferanten aus. Insofern könnte das Instrument des Entzugs des Rechtsvorteils der Vertikal-GVO tatsächlich häufiger angewendet werden. 2. Rechtsfolgen Rechtsfolge einer förmlichen Entzugsentscheidung der Kommission ist, dass mit deren Wirksamwerden für alle in dem vertikalen Vertrag enthaltenen Bestimmungen die Freistellung entfällt. Dies erfordert zudem den Erlass einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen Art. 81 EG festgestellt wird.225 Dabei kann sie gem. Art. 7 Abs. 1 der VO Nr. 19/65 den Entzug der Gruppenfreistellung mit einem Einzelfreistellungsverfahren verbinden. Die Beweislast in diesen Fällen liegt bei der Kommission. Diese hat nachzuweisen, dass die betreffende Vereinbarung gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstößt und nicht freistellungsfähig ist. Insbesondere in Bezug auf den in Art. 6 genannten Beispielsfall sind die Rechtsfolgen interessant. Es stellt sich nämlich das Problem, welche der auf dem Markt praktizierten vertikalen Beschränkungen zulässig sind und welche nicht (mehr). Die Kommission beantwortet diese Frage in den Leitlinien wie folgt: Die Verantwortung für eine kumulative wettbewerbswidrige Wirkung kann nur den Unternehmen angelastet werden, die einen spürbaren Beitrag hierzu leisten.226 Ob ein solcher anzunehmen ist, beantwortet sich nach den in den Leitlinien dargelegten Kriterien für die Bewertung vertikaler Beschränkungen.227 Im Hinblick auf selektive Vertriebssysteme konkretisiert die Kommission, wann es an einem derartigen spürbaren Beitrag fehlt. So ist bei einem Lieferanten mit einem geringeren Marktanteil als 5% davon auszugehen, dass er keinen erheblichen Beitrag zu einer Kumulativwirkung leistet.228 224 225 226 227

Vgl. auch Grünbuch, Tz. 187; Lässig, S. 10; Geers, S. 232. Leitlinien, Tz. 81. Leitlinien, Tz. 74. Dargelegt in Tz. 137 ff. der Leitlinien.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Besonders aufschlussreich sind diese Ausführungen nicht, sodass die konkrete Vorgehensweise der Kommission gespannt erwartet werden darf. II. Entzug der Freistellung durch nationale Behörden, Art. 7 Art. 7 enthält eine bemerkenswerte Neuheit für das Gruppenfreistellungsrecht. Erstmalig wird den zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten die Kompetenz eingeräumt, ebenfalls den Vorteil der Anwendung einer GVO zu entziehen. 1. Rechtsgrundlage und Hintergrund der Neuregelung Der Entzug des Vorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung durch nationale Behörden setzte eine Änderung der VO Nr. 19/65 voraus. In dem dort neu eingefügten Art. 7 Abs. 2 werden nunmehr die jeweils zuständigen nationalen Behörden zum Entzug ausdrücklich ermächtigt. Diese verfahrensrechtliche Neuerung ist im Zusammenhang des Konzeptes zur Dezentralisierung des europäischen Kartellrechts zu sehen. So wird auch in dem 11. Erwägungsgrund der ÄnderungsVO zur VO Nr. 19/65 als Zweck des neuen Art. 7 Abs. 2 die Sicherstellung einer stärker dezentral ausgerichteten Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln genannt.229 Bereits im Grünbuch und vor allem in dem Follow-Up-Papier stellte die Kommission das große Bedürfnis zur dezentralen Anwendung der gemeinschaftlichen Regeln heraus.230 Neben der nunmehr ausdrücklichen Kompetenz zum Entzug des Vorteils weist die Kommission in der Mitteilung ausdrücklich auf die Möglichkeit der nationalen Gerichte hin, aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Vertikal-GVO deren Voraussetzungen auch zu prüfen und gegebenenfalls Art. 81 Abs. 1 und 2 EG anzuwenden. Diese Befugnis ist nicht neu, verdeutlicht aber aufgrund der mehrmaligen Betonung durch die Kommission, dass es ihr durchaus Ernst ist mit der Dezentralisierung. Die Aufgabe ihres Entzugsmonopols im Recht der Gruppenfreistellung ist ein weiterer Schritt in Richtung der Anwendung des europäischen Rechts durch nationale Behörden und Gerichte. Der Weg zur Aufkündigung des in Art. 9 Abs. 1 VO Nr. 17/62 niedergeschriebenen Freistellungsmonopols der Kommission schien bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr weit zu sein. 228 229 230

Leitlinien, Tz. 189. 11. Erwägungsgrund der VO Nr. 1215/1999 zur Änderung der VO Nr. 19/65. Grünbuch, Tz. 304; Mitteilung, S. 30 f. und S. 34.

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2. Voraussetzungen Der Entzug des Vorteils der Vertikal-GVO durch eine nationale Behörde setzt voraus, dass das Gebiet eines Mitgliedstaates oder ein Teil desselben, der alle Merkmale eines gesonderten Marktes aufweist, von der vertikalen Vereinbarung betroffen ist. Grundvoraussetzung ist also, dass ein abgrenzbarer nationaler Markt vorliegt. Ob dies der Fall ist, muss anhand der geographischen Marktabgrenzung bestimmt werden. Hinsichtlich der sachlichen Voraussetzungen, wann der Entzug des Rechtsvorteils vorzunehmen ist, gilt das zu Art. 6 Gesagte.231 3. Zuständigkeitsverteilung Liegt ein gesonderter Markt vor, so kann die jeweilige nationale Behörde232 den Vorteil der GVO Nr. 2790/99 entziehen; es besteht aber grundsätzlich eine konkurrierende Zuständigkeit der Kommission.233 Diese behält sich vor, bestimmte Fälle selbst aufzugreifen, die für die Gemeinschaft von besonderem Interesse sind oder zum Beispiel eine neue Rechtsfrage aufwerfen. Aber auch konkurrierende Zuständigkeiten einzelner nationaler Behörden sind denkbar, wenn eine vertikale Absprache in mehreren, aber gesonderten Märkten wettbewerbsbeschränkende Wirkung entfaltet. Hieraus wird deutlich, welche Brisanz in der neu begründeten nationalen Kompetenz liegen kann.234 Zum einen kann dies für gemeinschaftsweit praktizierte Vertriebssysteme zu Rechtsunsicherheiten und den damit verbundenen Nachteilen führen. Aufgrund der national jeweils unterschiedlichen Bewertung vertikaler Beschränkungen kann eine Vereinbarung in einem Land als wettbewerbswidrig und im nächsten als zulässig erachtet werden. Die Kommission führt hierzu in den Leitlinien aus, dass die nationalen Behörden zwecks Gewährleistung einer kohärenten Rechtsanwendung des Gemeinschaftsrechts die kartellrechtliche Bewertung anhand der vom EuGH entwickelten Grundsätze sowie der Bekanntmachungen, Mitteilungen und der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission vorzunehmen haben. Natürlich hat die lang231

Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, E. I. 1. In der Bundesrepublik ist wegen der Regelung des § 50 Abs. 1 GWB grundsätzlich das Bundeskartellamt für den Entzug des Vorteils zuständig. 233 Leitlinien, Tz. 77. 234 Kritik hieran üben auch de Bronett, in: WuW 1999, 825 (831 f.); Metzlaff, in: BB 2000, 1201 (1209); Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1215); Ackermann, in: EuZW 1999, 741 (745); Nolte, in: BB 1998, 2429 (2439). 232

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

jährige Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu einer gewissen Kenntnis der grundlegenden Aspekte geführt. Aufgrund der zahlreichen, das europäische Wettbewerbsrecht kennzeichnenden unbestimmten Rechtsbegriffe hängt die Behandlung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen aber stets auch von dem konkreten wettbewerbstheoretischen Verständnis der jeweilig einschreitenden Behörde ab, sodass insofern mit durchaus unterschiedlichen Entscheidungen gerechnet werden muss. Des weiteren soll zwecks Vermeidung von widersprüchlichen Ergebnissen auf die in der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Behörden235 genannten Konsultationsmechanismen zurückgegriffen werden.236 Schließlich besteht aber auch immer noch die Möglichkeit, dass die Kommission selbst ein Verfahren nach Art. 6 Vertikal-GVO eröffnet und damit den nationalen Zuständigkeitsbereich beendet. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Kommission im Gegensatz zu einer nationalen Behörde der Ansicht ist, dass ein Entzug des Vorteils der GVO erforderlich ist. Im umgekehrten Fall – das heißt, die Kommission sieht die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG als erfüllt an, die nationale Behörde aber nicht – kann sie sich mittels Erteilung einer Einzelfreistellung durchsetzen.237 Nach Art. 7 Abs. 2 der VO Nr. 19/65 können die nationalen Behörden von Amts wegen, auf Ersuchen der Kommission oder auf Ersuchen von natürlichen oder juristischen Personen, die ein berechtigtes Interesse geltend machen, tätig werden. Für das Verfahren sind die jeweiligen Vorschriften des nationalen Rechts maßgeblich. 4. Rechtsfolgen Entzieht eine nationale Behörde einer vertikalen Vereinbarung den Vorteil der GVO Nr. 2790/99, bezieht sich dies ausschließlich auf das Gebiet des betreffenden Staates.238 Des weiteren kann die nationale Behörde nicht das Verfahren der Einzelfreistellung mit dem Entzugsverfahren verbinden.239 Mit Ausnahme der territorialen Begrenzung des Wirkungskreises hat der Entzug des Vorteils der Vertikal-GVO durch eine nationale Behörde die 235 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten bei der Bearbeitung von Fällen im Anwendungsbereich der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag vom 15.10.1997, ABl. C 313/3, Rdnr. 49–53. 236 Leitlinien, Tz. 79. 237 Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1215). 238 Leitlinien, Tz. 78. 239 Dies ergibt sich aus Art. 9 Abs. 1 VO Nr. 17/62.

§ 2 Behandlung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO

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gleichen Rechtsfolgen wie eine solche Entscheidung der Kommission nach Art. 6 GVO Nr. 2790/99. III. Erklärung der Nichtanwendung der Vertikal-GVO, Art. 8 Gleichfalls neu ist die Ermächtigung der Kommission, die GVO Nr. 2790/99 mittels Erlass einer Verordnung240 für unanwendbar zu erklären. Auch die Einräumung dieser Kompetenz erforderte eine Änderung der VO Nr. 19/65. Diese sieht nun in einem neu eingefügten Art. 1 lit. a vor, dass in einer Gruppenfreistellungsverordnung Bedingungen festgelegt werden können, nach welchen bestimmte Netze gleichartiger Vereinbarungen von der Anwendung der GVO ausgeschlossen werden können. 1. Voraussetzungen Anders als in Art. 6 und 7 zählt Art. 8 abschließend die Voraussetzungen auf, unter welchen die Nichtanwendung der Vertikal-GVO erklärt werden kann. Danach müssen mehr als 50% des betroffenen Marktes von nebeneinander bestehenden Netzen gleichartiger vertikaler Beschränkungen erfasst werden. Inwieweit nebeneinander bestehende Netze gleichartiger vertikaler Beschränkungen vorliegen, bestimmt sich wie im Rahmen des Art. 6.241 Worauf sich die 50prozentige Marktabdeckung bezieht, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Gemeint sein kann damit eigentlich aber nur der addierte Marktanteil der an den gleichartigen Netzen beteiligten wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen.242 Der Wortlaut des Art. 8 verdeutlicht, dass der Erlass einer Suspensionsverordnung im Ermessen der Kommission steht.243 Als Beispiel für einen Anwendungsfall des Art. 8 nennt die Kommission parallele Systeme des selektiven Vertriebs, die mehr als 50% abdecken und dabei Auswahlkriterien handhaben, die aufgrund der Beschaffenheit der betreffenden Waren nicht erforderlich sind oder bestimmte Formen des Vertriebs dieser Waren diskriminieren.244 240 Diese wird als „Suspensionsverordnung“ bezeichnet, vgl. de Bronett, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 231. 241 Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, E. I. 1. 242 Hierauf weisen zumindest auch die Leitlinien hin. In Tz. 82 heißt es, dass für die Berechnung der Marktabdeckungsquote jedes einzelne Netz aus vertikalen Vereinbarungen berücksichtigt werden muss. 243 Vgl. auch Leitlinien, Tz. 83.

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Diese Erläuterung legt den Schluss nahe, dass eine „bloße“ über 50-prozentige Marktabdeckung durch selektive Vertriebssysteme, d.h. ohne eine zusätzlich diskriminierende Handhabung, nicht ausreicht, um die VertikalGVO für unanwendbar zu erklären. Die Kommission hat zudem deutlich gemacht, dass sie stets auch prüfen will, ob ein individueller Entzug der Freistellung nicht die bessere Lösung ist.245 Insofern besteht Hoffnung, dass die kumulative Wirkung paralleler, nicht diskriminierender selektiver Vertriebssysteme mit einer hohen Marktabdeckungsquote über die Entzugsmöglichkeit der Art. 6 und 7 nicht in den Genuss der Vertikal-GVO kommt. 2. Rechtsfolgen Von der Entzugsmöglichkeit der Art. 6 und 7 unterscheidet sich die Erklärung der Nichtanwendung der GVO in mehrerer Hinsicht. Zunächst gilt die Suspensionsverordnung als abstrakt-generelle Regelung gegenüber sämtlichen Unternehmen, die in der Verordnung zur Nichtanwendung der GVO aufgeführt sind.246 Des weiteren macht der Entzug des Vorteils der Vertikal-GVO eine Entscheidung der Kommission erforderlich, in welcher der Verstoß eines bestimmten Unternehmens gegen Art. 81 EG festgestellt wird. Die Suspensionsverordnung hebt hingegen den Rechtsvorteil der Vertikal-GVO auf und stellt damit die volle Anwendbarkeit der Art. 81 Abs. 1 und 3 EG wieder her.247 Sodann kann wieder auf die Grundsätze der bisherigen Entscheidungspraxis des EuGH und der Kommission im Einzelfall zurückgegriffen werden. 3. Verfahren Das Verfahren zum Erlass einer Suspensionsverordnung wird in Art. 6 Abs. 1 lit. b der VO Nr. 19/65 näher beschrieben. Zunächst ist ein Entwurf zu veröffentlichen und, bei Vorliegen eines entsprechenden Antrags eines Mitgliedstaates, der Beratende Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen anzuhören. Die Verordnung muss dem Bestimmtheitsgebot entsprechend, ihren Anwendungsbereich eindeutig festlegen.248 Dies beinhaltet die Definition des 244 Leitlinien, Tz. 83. In der Mitteilung, S. 37 wollte die Kommission noch darauf abstellen, ob der gesamten Verkäufe über parallele Netze selektiver Vertriebssysteme abgewickelt werden. 245 Leitlinien, Tz. 84. 246 Leitlinien, Tz. 80. 247 Leitlinien, Tz. 81. 248 Leitlinien, Tz. 85.

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sachlich und räumlich relevanten Marktes sowie der vertikalen Beschränkungen, die von ihr erfasst werden. Nach Art. 8 Abs. 2 findet die Suspensivverordnung frühestens sechs Monate nach deren Erlass Anwendung. Mit anderen Worten haben die Unternehmen sechs Monate Zeit, ihre Vertriebsverträge entsprechend der erlassenen Verordnung zu ändern.249 Nach Ablauf dieser Frist entfällt die Freistellung für die Zukunft und Art. 81 EG findet Anwendung.

F. Das der Vertikal-GVO zugrunde liegende Wettbewerbskonzept I. Neue Zielrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik? Der Erlass eines neuen Ordnungsrahmens für vertikale Beschränkungen regt zunächst zu der Frage an, ob die Kommission dabei von den einstigen Zielen bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln ausgeht250 oder ob vielmehr eine Akzentverschiebung im Laufe der Zeit stattgefunden hat. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die den Erlass der Vertikal-GVO begleitenden Veröffentlichungen der Kommission. So eröffnet sie das Grünbuch mit dem altbekannten Satz, dass die Verwirklichung des Binnenmarktes eines der Hauptziele für die Wettbewerbspolitik der Europäischen Union sei.251 Zudem sieht sie sich auch der Gewährleistung eines offenen und fairen Wettbewerbs verpflichtet. Im Zusammenspiel dieser beiden Zielvorstellungen sei sie daher auch die weltweit einzige Wettbewerbsbehörde, die neben der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs auch ein Marktintegrationsziel verfolgen würde.252 Von der Gewichtung der Ziele untereinander klingt das in den Leitlinien schon anders an.253 Danach stelle der Schutz des Wettbewerbs zum Wohle der Verbraucher und zur effizienten Verteilung der Ressourcen das Hauptziel der EG-Wettbewerbspolitik dar. In diesem Sinn will die Kommission daher bei der zukünftigen Beurteilung vertikaler Beschränkungen wirtschaftliche Erwägungen zugrunde legen. Erst zwei Sätze später wird die Integration der Märkte als ein weiteres Ziel der Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft genannt. Auch die Binnenmarktaufgabe wird nicht nur als 249

de Bronett, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 128. Vgl. zu diesen ausführlich oben unter 1. Teil, § 3. 251 Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 1. 252 Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 30. Dies ist insofern nicht neu, als der EGVertrag diese Aufgaben in seinen Art. 2 und Art. 3 lit. g ausdrücklich vorsieht und hiervon auch nicht abgewichen werden kann, vgl. oben unter 1. Teil, § 3. 253 Leitlinien, Tz. 7. 250

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Zweck an sich verstanden, sondern diese sei Schlüssel für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas auf den Weltmärkten, die Beschleunigung des Wachstums und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Auch der Wettbewerbsbericht des Jahres 1999 weist in diese Richtung. Dort heißt es in der Einleitung, dass die Wettbewerbspolitik in erster Linie auf die Erhaltung wettbewerbsorientierter Märkte gerichtet ist.254 Dabei diene sie als Instrument zur Förderung der Effizienz der Wirtschaft, der optimalen Ressourcenallokation, des technischen Fortschritts und der Fähigkeit zur Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen. Erst im Anschluss hieran wird als zweites Ziel der Binnenmarkt genannt. Insofern beantwortet sich die bereits oben aufgeworfene Frage nach dem Bedeutungsverlust der Integrationskomponente.255 Eine Erklärung hierfür ist sicherlich in der weitgehenden Umsetzung der Binnenmarktvorschriften zu sehen.256 Fraglich erscheint aber, zu wessen Gunsten diese Akzentverschiebung stattfindet. Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: In Richtung des Prinzips der Wettbewerbsfreiheit oder aber es werden in den Entscheidungen vermehrt außerwettbewerbliche Ziele berücksichtigt. Einen Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser Frage bildet das Vorwort des Wettbewerbskommissars Monti in dem Leitfaden.257 Danach ist es zur Erhaltung des Wohlstandes in Europa wichtig, dass die Vertriebsmärkte offen und wettbewerbsfähig bleiben. In diesem Satz stecken beide Komponenten: zum einen die Offenhaltung der Märkte als freiheitliches Element und zum anderen die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen im Sinne einer industriepolitischen Argumentation. Ähnlich liest sich auch die dort nachfolgende Einleitung. Es wird als Ziel der Wettbewerbspolitik „der Schutz und die Förderung eines wirksamen Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt“ genannt.258 Auch diese Formulierung lässt beide Interpretationen zu. Der Wettbewerb kann als wirksam angesehen werden, wenn er frei von staatlicher und privater Macht ist. Die Wirksamkeit des Wettbewerbs könnte aber auch daran zu messen sein, ob er darüber hinaus in der Lage ist, weitere Funktionen, wie etwa die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, zu erfüllen. Nach wie vor wird der Wettbewerb zumindest nicht als Institution und damit als Wert an sich geschützt, sondern soll nutzbar gemacht werden, für 254

XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 13 (Tz. 2). Vgl. oben unter 1. Teil, § 3, A. IV. 256 So sieht auch die Kommission unter anderem diese als einen Grund dafür an, ihre Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Beschränkungen zu überdenken, Grünbuch, Tz. 7, 2. Spiegelstrich. 257 Leitfaden, S. 4. 258 Leitfaden, S. 5. 255

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eine Vielzahl heterogener Zwecke. Einerseits bekennt sich die Kommission zwar ausdrücklich zum Wettbewerbsprinzip, da dieser als Mittel zur Erzielung der besten wirtschaftlichen Ergebnisse angesehen wird. Eine an dieser Stelle durchaus mögliche Absage an industriepolitische Konzeptionen ist aber nicht geschehen. So heißt es im XXVII. Wettbewerbsbericht, dass die Wettbewerbspolitik eine der Hauptpolitiken für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in Europa ist.259 Damit bleibt es dabei: Das Schutzobjekt der Wettbewerbspolitik ist ein diffuses Konglomerat aus verschiedenen Zielsetzungen. Die Integrationskomponente verliert zunehmend an Bedeutung. Dies darf natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass sie immer noch ein vorrangiges Schutzgut der europäischen Wettbewerbspolitik darstellt. Es ist nur ein wenig ruhiger geworden um den Binnenmarkt. Damit einher geht die Akzentverschiebung von der Integrationskomponente hin zu einer eher auf ökonomische Effizienzen abzielenden europäischen Wettbewerbspolitik. Eine solche Tendenz liegt ganz im Sinne der Chicago School, wonach die Wohlfahrtsmaximierung und die damit gleichgesetzte Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz einziges Ziel der Wettbewerbspolitik zu sein hat. Veelken weist aber zutreffend daraufhin, dass eine unbegrenzte Übernahme dieses Ansatzes allein schon wegen der Integrationskomponente im europäischen Recht zu unlösbaren Friktionen führen würde.260 II. Neubewertung des Verhältnisses Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb? Mit den Wirkungen vertikaler Vertriebsabsprachen setzt sich die Kommission ausführlich im Grünbuch auseinander.261 Das Credo der Ausführungen besteht in der Feststellung, dass die wettbewerbswidrigen Auswirkungen nur spürbar werden, wenn der Wettbewerb zwischen Marken wenig stark ausgeprägt ist und Eintrittsschranken auf der Produktions- und Vertriebsstufe vorhanden sind.262 Noch eindeutiger wird die Kommission in den Leitlinien. Darin stellt sie fest, dass vertikale Beschränkungen, die einen Rückgang des Markenwettbewerbs zur Folge haben, in der Regel schädlicher sind als solche, die einen Verlust an markeninternem Wettbewerb bewirken.263 259

XXVII. Wettbewerbsbericht (1997), S. 7. Veelken, in: ZvglRWiss 97 (1998), 241 (256). 261 Grünbuch, Tz. 54 ff. 262 Die Überlegungen der Kommission fußen dabei auf einer von den Rey und Cabellero angefertigten ökonomischen Analyse vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen. Vgl. Rey/Cabellero-Sanz, „The Policy Implications of the Economic Analysis of Vertical Restraints“, in: Economic Papers No. 119. 260

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Diese neue Sichtweise der Kommission prägen daher auch die Regelungen der Vertikal-GVO für selektive Vertriebssysteme. Diese zeigen auf unterschiedliche Weise, dass sich der Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs zugunsten des Interbrand-Wettbewerbs verlagert hat. Viele der bisherigen Grundsätze, die den Zweck verfolgten, markeninterne Konkurrenz zu schützen, haben nun keine Gültigkeit mehr. So ist es in Zukunft unerheblich, ob ein Produkt aufgrund seiner Beschaffenheit den Absatz gerade über ein selektives Vertriebssystem erfordert. Bisher stellte die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien sicher, dass der Intrabrand-Wettbewerb nur soweit eingeschränkt wird, als es unbedingt erforderlich ist. Auch die stets kritische Auseinandersetzung und die restriktive Handhabung der quantitativen Selektion waren Mittel und Beweis für den selbstständigen Schutzgutcharakter des IntrabrandWettbewerbs. Zudem wurde die Händlerfreiheit auch durch die relativ strenge Überwachung des Zulassungs- und Ausschlussverfahrens zum Vertriebssystem gewährleistet. All diesen Aspekten wird im Regime der GVO Nr. 2790/99 keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Insofern kann durchaus von einer Neugewichtung von Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb gesprochen werden. Ursache hierfür ist die festgestellte, abnehmende Bedeutung der Integrationskomponente. Wurde einst der Intrabrand-Wettbewerb vor allem deswegen geschützt, weil er der Marktabschottung vorbeugte und gleichzeitig Integrationsförderer war, kann er nun zunehmend vernachlässigt werden. Verdeutlicht wird dieser neue Ansatz vor allem auch durch die Einführung des Marktanteilskriteriums. III. Der Marktanteil als Voraussetzung für die Anwendbarkeit Die Ursache für die Einführung eines Marktanteilskriteriums als Anwendungsvoraussetzung für die Vertikal-GVO ist zum einen in den Unzulänglichkeiten des bisherigen Systems264 und zum anderen in den „neueren ökonomischen Überlegungen“265 zu sehen. Obwohl es bei den verschiedenen Interessengruppen, Mitgliedsstaaten und sonstigen Beteiligten viele unterschiedliche Meinungen gab, so wurde doch relativ einträchtig an dem bisherigen Gruppenfreistellungsregime der zu formularjuristische Ansatz kritisiert. Nach Angaben der Kommission befürworteten daher nahezu alle eingegangenen Stellungnahmen einen „stär263 264 265

Leitlinien, Tz. 119 Nr. 2. Vgl. auch Mitteilung, S. 23. Mitteilung, S. 6. Grünbuch, Tz. 55.

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ker die ner auf

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wirtschaftlich orientierten Ansatz“.266 Gemeint ist damit das Bestreben, Beurteilung von vertikalen Beschränkungen weniger von dem Inhalt eiVereinbarung abhängig zu machen, als vielmehr von den Auswirkungen dem jeweiligen Markt.

Im Rahmen dieser Untersuchung aber von weitaus größerem Interesse sind die für europäische Verhältnisse zahlreichen grundsätzlichen Ausführungen, die Rückschlüsse auf eine wettbewerbstheoretische Auseinandersetzung zulassen. So ist die Kommission nunmehr zu der Erkenntnis gelangt, dass Vertikalvereinbarungen nur dann zu einer nicht hinnehmbaren Einschränkung des Wettbewerbs führen, wenn der Interbrand-Wettbewerb nicht ausreichend stark ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die vertikalen Absprachen von marktmächtigen Unternehmen ausgehen. Als Indikator für das Vorliegen von Marktmacht ist der Marktanteil heranzuziehen. Der gesamten GVO liegt der Gedanke zugrunde, dass Vertikalvereinbarungen einen effizienzsteigernden Beitrag leisten, den Interbrand-Wettbewerb stimulieren und lediglich dann negativ zu bewerten sind, wenn sie mit Markmacht einhergehen Der neue Regelungsansatz geht also davon aus, dass bei einem Marktanteil von unter 30% der Interbrand-Wettbewerb ausreicht, um die Beschränkungen des Intrabrand-Wettbewerbs auszugleichen. Insofern hat die Verwendung des Marktanteilskriteriums zur Folge, dass vornehmlich der Markenwettbewerb geschützt wird. Die Zusammenschau mit der Aussage, dass ein hinreichend starker Interbrand-Wettbewerb in der Lage ist, die Abschwächung des Intrabrand-Wettbewerbs auszugleichen267, verdeutlicht die Nähe zur Theorie der Chicago-School. Es wird sich nunmehr in aller Deutlichkeit zu einem Abwägungsvorgang zwischen Interbrand- und IntrabrandWettbewerbsbeschränkungen bekannt. Das europäische Wettbewerbsrecht ist in dieser Hinsicht den Lehren der Chicago School um 30% näher gekommen.268 Ein wesentlicher Unterschied besteht aber weiterhin insofern, als dass die Chicagoer nicht davon ausgehen, dass der Konzentrationsgrad industrieller Märkte Aufschluss über die Intensität und die Art der Konkurrenz vermitteln kann.269 Hohe Marktanteile im Vertikalbereich seien nicht als wettbe266 Mitteilung, S. 5. Vgl. zu den Stellungnahmen der unterschiedlichen Gruppen, Mitteilung, S. 8 ff. 267 Grünbuch, Zusammenfassung, Tz. 10. 268 Eine Ausnahme gilt für die Kernbeschränkungen, die unabhängig vom Marktanteil nicht vereinbart werden dürfen und somit den Intrabrand-Wettbewerb sichern können. 269 Kallfass, in: WuW 1980, 596 (599).

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

werbsschädigend anzusehen, sondern vielmehr Ergebnis der höheren Effizienz eines erfolgreichen Unternehmens. Daher würden von marktmächtigen Unternehmen auch keine Gefahren drohen, sondern von diesen könne im Gegenteil erwartet werden, dass sie die Bedürfnisse der Nachfrager besser befriedigen als ihre aktuellen und/oder potentiellen Konkurrenten.270 Danach muss also bei der Beurteilung einer vertikalen Absprache weder der Marktanteil auf der Lieferanten- noch auf der Käuferseite berücksichtigt werden, da vertikale Absprachen diese nicht beeinflussen können.271 So weit ist die Europäische Kommission jedoch (noch) nicht gegangen, da sie mit zunehmender Marktmacht auch weiterhin eine kritische Haltung gegenüber vertikalen Kooperationen einnimmt. Das Feststellen der Marktposition über den Marktanteil geht vielmehr in diesem Punkt in Richtung des marktstrukturorientierten Ansatzes der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs. Kaum mit dieser neuen Betrachtungsweise der Kommission in Einklang zu bringen ist das Konzept der Wettbewerbsfreiheit. Hoppmann lehnte vehement die Marktabgrenzung zur Ermittlung von Marktmacht ab, da er einen verhaltensorientierten Ansatz befürwortete.272 So geht dieser davon aus, dass die Bestimmung des relevanten Marktes mit der Ermittlung der Wettbewerbsverhältnisse gleichgesetzt werden kann. Daher stelle auch der Marktanteil kein geeignetes Beurteilungskriterium für das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung dar.273 Insofern ist die von der Kommission erfreulicherweise vorgenommene Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Wettbewerbs- und Wirtschaftstheorie stark durch die ökonomische Analyse der Chicago School geprägt und auch teilweise in deren Sinne entschieden worden. IV. Kernbeschränkungen Systematisch enthält die Vertikal-GVO einen neuen Regelungsansatz, indem von der Verwendung der „weißen Liste“ abgesehen wurde. Nunmehr wird den Unternehmen nur noch aufgezeigt, welche Vertragsklauseln keinesfalls vereinbart werden dürfen. Eine Umschreibung der ausdrücklich erlaubten Absprachen findet sich nicht mehr. Diese Verordnungssystematik ist ganz im Sinne der Theorie der Wettbewerbsfreiheit. Nach Hoppmann setzt das Marktsystem wie jede spontane 270 271 272 273

Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (285). Kirchhoff, S. 83. Vgl. hierzu Ruffner, S. 66; Mantzavinos, S. 162 f. Hoppmann, S. 15 f.

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Ordnung voraus, dass die Elemente aufgrund eigener Impulse, eigenen Wissens und eigener Ziele handeln.274 Daher dürften zwecks Freiheitssicherung die Wettbewerbsregeln lediglich negativ definieren, welches Verhalten zu unterlassen ist.275 Keinesfalls dürfte es Regeln geben, die positiv vorschreiben, welches Handeln der Wirtschaftssubjekte erlaubt sei. Die konkret in Art. 4 aufgezählten Kernbeschränkungen spiegeln die weiterhin ambivalente Sichtweise der Kommission gegenüber Vertikalvereinbarungen wider. Dabei beruft sie sich auf den neueren Konsens in der wissenschaftlichen Diskussion, wonach sich vertikale Wettbewerbsbeschränkungen nicht als per se förderlich für den Wettbewerb betrachten lassen.276 Die Kommission meint, dass die schwarzen Klauseln die bisherige Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane kodifizieren.277 Dies ist nur bedingt richtig. Eine Übereinstimmung zu der einstigen Vorgehensweise besteht insofern, als auch in Zukunft die meisten der oben dem Quasi-per-seVerbotsbereich zugeordneten Vertragsklauseln nicht der Freistellung fähig sind. Andererseits hat sich anhand des neuen Ansatzes bei der kartellrechtlichen Beurteilung selektiver Vertriebssysteme gezeigt, dass eine weitaus großzügigere Zulassung von bestimmten Wettbewerbsbeschränkungen erfolgt. 1. Preisbindungen Eingriffe in die Preisbildungsfreiheit sind die am offensichtlichsten in Erscheinung tretenden Formen der Wettbewerbsbeschränkungen und daher auch nach der Vertikal-GVO grundsätzlich verboten. Dieses Per-se-Verbot galt sogar unter der Herrschaft der liberalen Vertical Restraints Guidelines (VRG)278 in den USA. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber insofern, als die VRG sehr wohl auch die Bewertung einer Vertriebsabsprache nach der rule of reason vorsah, wenn die preisbezogenen Beschränkungen im Vergleich zu den nicht-preisbezogenen Beschränkungen als nebensächlich angesehen werden konnten.279 Insoweit verbleibt es im europäischen Recht bei dem Alles-Oder-Nichts-Prinzip, unabhängig davon, ob die Preisbindung irgendwelche Vorteile mit sich bringt oder nicht.

274

Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 130. Peters, S. 184. 276 Grünbuch, Tz. 54. 277 XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 18 (Tz. 14). 278 Diese finden sich in deutscher und englischer Fassung, in: Hölzler/Wissel, S. 7–58. 279 VRG, unter 2.3. 275

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2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen Für Gebiets- und Kundenbeschränkungen gilt der Grundsatz, dass sie nicht freistellungsfähig sind. Dieses Verbot von Gebiets- und Kundenbeschränkungen entspricht der integrationspolitischen Komponente der europäischen Wettbewerbspolitik und muss daher vor allem auch in diesem Zusammenhang verstanden werden. Gebiets- und Kundenschutzklauseln tragen wie keine andere Form vertikaler Beschränkungen zu einer Marktaufteilung bei und sind daher unbedingt zu verhindern. Dieses grundsätzliche Verbot wird aber durch die in Art. 4 lit. b aufgezählten Ausnahmen deutlich relativiert. Die Kommission kann nicht an der wirtschaftlichen Realität vorbei und sämtliche vertikale Gebiets- und Kundenbeschränkungen verbieten. Dies gilt insbesondere für selektive Vertriebssysteme, die ohne die im 3. Spiegelstrich zugelassene Ausnahme in der Praxis nicht durchgeführt werden könnten. Andererseits zeigen die normierten Kernbeschränkungen auch, dass die Kommission den Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs nicht völlig außer acht lässt. Nicht ohne Grund müssen gerade in selektiven Vertriebssystemen Querlieferungen zwischen den Systemmitgliedern möglich bleiben. Die grundsätzliche Nicht-Freistellungsfähigkeit von Preisbindungen und Gebiets- und Kundenbeschränkungen zeigt, dass die Kommission nicht bereit ist, den Thesen der Chicago School unreflektiert zu folgen. V. Unwirksame Klauseln Die in Art. 5 genannten unwirksamen Klauseln bezwecken primär den Schutz des Interbrand-Wettbewerbs. Ursache dessen ist, dass die Kommission davon ausgeht, dass vertikale Beschränkungen im Fall einer ausreichenden Markenkonkurrenz nicht in der Lage sind, bedenkliche negative Wirkungen auf den Wettbewerb zu entfalten. Insofern muss der InterbrandWettbewerb auch besonders geschützt werden. VI. Verfahrensrechtliche Änderungen Die in den Art. 6 bis 8 genannten verfahrensrechtlichen Vorgaben enthalten ebenfalls Neuerungen, die auf ein gewandeltes Verständnis der Kommission hindeuten. Als wesentlicher Grund, warum die Vertikal-GVO trotz Vorliegens eines Marktanteils unter 30% nicht angewendet werden kann, ist die kumulative Wirkung zu nennen. Ursache dessen ist erneut die Schutzbedürftigkeit des

§ 3 Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO 283

Interbrand-Wettbewerbs. So erleichtern branchenweit verbreitete Vertriebssysteme horizontale Absprachen zwischen Konkurrenten. Alarmierend für die Gegner einer seitens des Staates stark regulierend eingreifenden Wettbewerbspolitik sind die erweiterten Kompetenzen der Kommission. So will sie bei Erlass einer Suspensionsverordnung nach Art. 8 beispielsweise den Marktanteil bestimmen, bis zu welchem in einem konkreten Marktumfeld davon ausgegangen werden kann, dass ein individuelles Unternehmen nicht erheblich zur kumulativen Wirkung beiträgt. Als weitere Beispiele nennt sie die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf Wettbewerbsverbote, die eine bestimmte Dauer überschreiten oder aber auf gewisse im Rahmen selektiver Vertriebssysteme dem Händler zusätzlich auferlegte Verpflichtungen. Es wird deutlich, welch großer diskretionärer Spielraum hier der Kommission eingeräumt ist. Dies ist ganz im Sinne industriepolitischer Konzeptionen, da die Kommission durch die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Suspensivverordnungen aktiv in Marktstrukturen eingreifen und dadurch außerwettbewerbliche Ziele durchsetzen kann. Hier muss die Kommission nicht nur zuschauen, sondern kann durchaus mitspielen.280

§ 3 Die Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO In den im Oktober 2000 veröffentlichten Leitlinien hat es die Kommission nicht dabei belassen, die einzelnen Bestimmungen der GVO Nr. 2790/ 99 zu erläutern, sondern hat darüber hinaus ihre zukünftige Politik bei der Bewertung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen im Rahmen des Art. 81 EG dargestellt. Diese enthalten aus wettbewerbstheoretischer Sicht viele bedeutsame Aussagen, die Rückschlüsse auf das neue Verständnis der Europäischen Kommission zu lassen.

A. Rechtscharakter der Leitlinien Die Kommission nennt als Zweck der Leitlinien die Erleichterung für Unternehmen, vertikale Vereinbarungen selbst nach Maßgabe der EG-Wettbewerbsregeln zu beurteilen.281 Diese Selbstveranschlagung der Unternehmen ist erforderlich geworden, weil die Pflicht zur Anmeldung von Vertikalvereinbarungen durch die Änderung der VO Nr. 17 aufgehoben wurde. Des Weiteren tritt die Freistellung bei Vereinbarungen mit einem Marktan280 281

Vgl. zu den industriepolitischen Konzeptionen oben unter 1. Teil, § 2, G. Leitlinien, Tz. 3.

284

2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

teil unter 30% automatisch ein, sodass die Unternehmen insoweit selbst prüfen müssen, ob ihre Vertriebsverträge zulässig sind oder nicht. Die Leitlinien der Kommission binden bekanntermaßen nur sie selbst.282 In deutscher Terminologie würde man sie als Verwaltungsvorschriften bezeichnen. Mangels Ermächtigungsgrundlage stellen sie kein sekundäres Gemeinschaftsrecht dar, sondern betreffen ausschließlich die eigene Verwaltungspraxis der Europäischen Kommission. Diese Vorgehensweise wäre unproblematisch, wenn die Leitlinien auch nur den der Kommission zugewiesenen Entscheidungsbereich betreffen würden.283 Sie gehen aber bei Weitem darüber hinaus. Nach Emmerich lassen sich die Leitlinien „über weite Strecken wie ein amtliches Lehrbuch des Wettbewerbsrechts“ lesen.284 Erfreulich an den Leitlinien ist, dass sie die Politik der Kommission, soweit sie sich daran hält, in der Gesamtheit transparenter und vorhersehbarer macht. Ein aus Unternehmens- und Verbrauchersicht durchaus positiver Aspekt. Kritisch hieran ist jedoch, dass sich die Kommission über diese Form der Mitteilung Materien annimmt, derer es einer sekundärrechtlichen Regelung bedurft hätte.285 Auch schießen die Leitlinien oftmals über die begleitende Kommentierung hinaus und setzen sich gar in Widerspruch zu der höchstrichterlichen Entscheidungspraxis.286 Problematisch ist zudem, dass den Leitlinien – ohne auf einer entsprechenden Rechtsgrundlage zu beruhen – eine erhebliche Bedeutung und auch faktische Bindungswirkung zukommt. In der Praxis werden die nationalen Behörden und Gerichte bei der Bewertung einer Vertikalvereinbarung neben der Vertikal-GVO stets auch auf die Leitlinien zurückgreifen. Andernfalls laufen sie von vornherein Gefahr, dass ihre Entscheidung EGrechtlich anders beurteilt wird. 282 Rittner, in: DB 2000, 1211; Pautke/Schultze, in: BB 2001, 317; Bechtold, in: EWS 2001, 49 (53). 283 Wie beispielsweise ihre eigene Bußgeldpraxis. 284 Emmerich, S. 405. 285 Als Beispiel dient der Vertrieb über das Internet. Im Rahmen des Erlasses der neuen Gruppenfreistellungsverordnung für Vertriebsabsprachen hätte auch die Europäische Kommission die Chance gehabt, sich dieses Themas anzunehmen. Diese hat sie aber nicht genutzt. Die Vertikal-GVO schweigt sich bedauerlicherweise ganz zu dieser Thematik aus. Lediglich in den Leitlinien finden sich einige Aussagen, vgl. insbesondere Tz. 51. 286 Dies weist Bechtold am Beispiel der Äußerungen der Kommission zu den Handelsvertretern in den Leitlinien nach, vgl. EWS 2001, 49 (53). Gleiches konnte für die Ausführungen der Kommission hinsichtlich gebietsschützender Absprachen festgestellt werden, vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. III. 4.

§ 3 Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO 285

Schließlich tragen die Leitlinien dazu bei, die Grenzen zwischen Art. 81 Abs. 1 und 3 EG weiter zu verwässern. So ist es kaum erklärbar, dass die Kommission in einer Leitlinie mit dem eigentlichen Zweck, die Selbstveranschlagung für die Unternehmen im Rahmen einer Gruppenfreistellungsverordnung zu erleichtern, derart allgemeine Ausführungen zu Art. 81 EG insgesamt macht. Die Kommission scheint aber Gefallen hieran gefunden zu haben, da sie zunehmend auf diese Form des Verlautbarens von Meinungen zurückgreift.287 Auffällig an dieser Praxis der Kommission ist die Anlehnung an die „Gesetzgebungstechnik“ der USA, erinnern die Leitlinien doch stark an die Vertical Restraints Guidelines der USA der Reagan Administration.288

B. Nicht von Art. 81 Abs. 1 EG erfasste selektive Vertriebssysteme Selektive Vertriebssysteme, die nicht geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten spürbar zu beeinträchtigen oder die keine spürbare Einschränkung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, fallen nicht unter Art. 81 Abs.1 EG. In diesem Fall ist grundsätzlich nationales Recht anwendbar. Aufgrund der zum Teil unterschiedlichen Regelungsgehalte im GWB kann dies zu großen Widersprüchen führen.289 Grundsätzlich richtet sich aber auch weiterhin im europäischen Recht die Frage, ob ein Vertragswerk spürbare wettbewerbsbeschränkende Wirkungen entfaltet, nach den im ersten Teil dieser Untersuchung dargestellten Grundsätzen. Eine Änderung der Rechtsprechung des EuGH vermag die Kommission durch ihre Leitlinien nicht zu bewirken. Nichts desto weniger nimmt die Kommission zu ihrer zukünftigen Vorgehensweise im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG Stellung.290 287 Vgl. beispielsweise den Leitfaden der Komm. zu der neuen VO Nr. 1400/ 2002 (ABl. L 203/30) für den Kfz-Vertrieb. Reichten bei der alten GVO Nr. 1475/ 95 noch 32 Seiten aus, werden die Grundsätze nunmehr auf 84 Seiten dargelegt. Der Leitfaden für den Kraftfahrzeugvertrieb ist im Internet abrufbar unter: http:// europa.eu.int/comm/competition/car_sector/explanatory_brochure_de.pdf. 288 Vgl. zu diesen ausführlich Dreher, in: DB 1986, 93 ff.; Schmidt/Kirschner, in: WuW 1985, 781 ff. 289 Vgl. oben unter 2. Teil, § 2, B. II. 2., 3., 4. Dies gilt insbesondere für Meistbegünstigungsklauseln, Preisempfehlungen und Höchstpreisbindungen. Vgl. hierzu Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 251 mit einem anschaulichen Beispiel. 290 Insbesondere enthalten die Leitlinien Aussagen darüber, welche Handelsvertretervereinbarungen nicht von Art. 81 erfasst werden sollen (Tz. 12–21). Diese ersetzen die bisherige Bekanntmachung der Komm. über Alleinvertriebsverträge mit Handelsvertretern vom 24.12.1962, ABl. 62, 2921/62. Vgl. ausführlich hierzu: Ritt-

286

2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

Für selektive Vertriebssysteme fasst sie die wesentlichen Punkte aus der Entscheidungspraxis zusammen.291 Insbesondere soll auch in Zukunft zwischen qualitativer und quantitativer Selektion unterschieden werden. Ebenfalls wird auf die durch die Produkteigenschaft gerechtfertigte Erforderlichkeit des selektiven Vertriebs, die nichtdiskriminierende Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der Selektionskriterien eingegangen. Mittelbar verlieren diese Voraussetzungen aber dennoch an Bedeutung. Selbst wenn eine von ihnen nicht vorliegen sollte, der Lieferant aber weniger als 30% Marktanteil hält und der Vertrag keine Kernbeschränkung aufweist, wird das Vertriebssystem unabhängig von der fehlenden Voraussetzung freigestellt. Insofern werden die Interessen der Hersteller an einer autonomen Vertriebspolitik mehr als zuvor respektiert.

C. Von Art. 81 Abs. 1 EG erfasste selektive Vertriebssysteme Wird ein selektives Vertriebssystem von dem Verbotstatbestand erfasst, ist aber nicht nach der Vertikal-GVO freigestellt, weil der Lieferant einen höheren Marktanteil als 30% hält oder das Vertragswerk eine Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 umfasst, so müsste dieses wie bisher auch im Wege der Einzelfreistellung als mit Art. 81 EG vereinbar erklärt werden. Im Zuge der Arbeiten zur Vertikal-GVO sind zwei wesentliche Änderungen der KartellverfahrensVO Nr. 17 eingetreten, die nunmehr aber durch die umfassende Reform des Kartellverfahrensrecht, die in dem Erlass der VO Nr. 1/2003 gipfelte, in den Schatten gestellt wurden. Diese ersetzt zum 01.05.2004 die VO Nr. 17 und führt zu eklatanten Neuerungen im Anwendungsbereich der Art. 81 und 82 EG. Bis dahin findet jedoch das „neue alte“ Recht der VO Nr. 17 weiter Anwendung, sodass die Kommission bis Mitte 2004 aufgrund des ihr in Art. 9 Abs. 1 der VO Nr. 17 zugewiesenen Freistellungsmonopols die alleinige Kompetenz zur Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG hat. I. Verzicht auf das Erfordernis der Anmeldung Begehrt ein Unternehmer eine Einzelfreistellung, muss er sein Vertragswerk vor dessen Durchführung gem. Art. 5 Abs. 1 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 17 anmelden.292 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wurde bisner, in: DB 2000, 1211 ff.; Lange, in: EWS 2001, 18 ff.; Polley/Seeliger, in: WRP 2000, 1203 (1208 f.). 291 Leitlinien, Tz. 185. 292 Vgl. hierzu schon oben unter 1. Teil, § 4, C. II. 1.

§ 3 Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO 287

her nur in den in Art. 4 Abs. 2 der VO Nr. 17 genannten Fällen zugelassen.293 Die Ursache für die Befreiung von der Anmeldung ist nach dem 4. Erwägungsgrund der VO Nr. 17 in der geringeren Gefährlichkeit derartiger Vereinbarungen für die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu sehen. Dieser Art. 4 Abs. 2 der VO Nr. 17 wurde durch die ÄnderungsVO Nr. 1216/99 in der Form erweitert, dass nun sämtliche Vertikalvereinbarungen von der Pflicht zur Anmeldung befreit sind.294 Für vertikale Vereinbarungen ergibt sich damit folgendes neues Bild: Entweder fallen sie unter die Vertikal-GVO und müssen aus diesem Grund nicht bei der Kommission angemeldet werden oder aber sie bedürfen aufgrund des neuen Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 lit. a VO Nr. 17 keiner Notifizierung. Infolgedessen sind nunmehr sämtliche vertikale Beschränkungen von der Anmeldungspflicht befreit und damit das bisher geltende Anmeldesystem zumindest für diese Formen von Vereinbarungen abgeschafft. II. Rückwirkung der Freistellung Die Aufhebung der Anmeldepflicht hat für die Praxis eine darüber hinausgehende Bedeutung, die sich aus der Systematik der VO Nr. 17 ergibt. Nach Art. 6 Abs. 1 VO Nr. 17 treten die Wirkungen der Freistellung frühestens ab dem Zeitpunkt der Anmeldung ein, sodass die Nichtigkeit der Vereinbarung bis zur Stellung des Antrags auf Freistellung eine endgültige war. Dies hatte zur Konsequenz, dass die gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßenden Klauseln bis zum Zeitpunkt der Einzelfreistellung zivilrechtlich unwirksam waren. Eine rückwirkende Freistellung, d.h. die Wirkungen treten bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ein, sieht Art. 6 Abs. 2 VO Nr. 17 für die nicht anmeldepflichtigen Vereinbarungen vor. Aufgrund der Aufhebung der Anmeldepflicht in Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 lit. 1 VO Nr. 17 n. F. kann nunmehr die Freistellung für sämtliche vertikale Wettbewerbsbeschränkungen rückwirkend auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses erteilt werden. Damit kann die zivilrechtliche Wirksamkeit nachträglich im Ganzen wieder hergestellt werden. Die verfahrensrechtlichen Änderungen sollen mehrere Zwecke erfüllen. Zum einen geht es der Kommission – wie so oft – um die eigene arbeitsmäßige Entlastung und die Reduzierung der bei ihr eingehenden Anmeldun293

Dies waren vor allem Vereinbarungen, an denen nur ein bis zwei Unternehmen beteiligt waren, die weitere in Art. 4 Abs. 2 bestimmte Voraussetzungen erfüllten. 294 Aufgrund des Wortlauts der Vorschrift liegt eine Anmeldung aber im Ermessen der Unternehmen.

288

2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

gen.295 Ein Ziel, das durch die Abschaffung der Notifizierungspflicht für sämtliche Vertikalvereinbarungen offensichtlich erreicht werden kann. Durch diesen Abbau des Vorauskontrollsystems will die Kommission in die Lage versetzt werden, sich den wichtigeren Wettbewerbsverstößen widmen zu können.296 Zudem soll die Befreiung von der Anmeldepflicht bei den Unternehmen zu deren administrativen und kostenmäßigen Entlastung führen.297 Das bisherige Verfahren sowie Form und Inhalt der Anmeldung ist in der VO Nr. 3385/94298 geregelt und stellte die Unternehmen vor allem vor die zeit- und kostenaufwändige Aufgabe, das Formblatt A/B ausfüllen zu müssen.299 Ein weiterer wichtiger Grund für die Neuregelungen ist aber auch in der Vertikal-GVO selbst begründet. So muss die mit der Marktanteilsberechnung einhergehende Rechtsunsicherheit für die Unternehmen abgefedert werden.300 Ein Unternehmer, der sich bei der Einschätzung seines Marktanteils irrt und daher davon ausgeht, dass sein Vertragswerk unter den Anwendungsbereich der VO Nr. 2790/99 fällt, soll nicht dadurch bestraft werden, dass er es nicht angemeldet hat.301 So kann eine zurückliegende Nichtanwendbarkeit der Vertikal-GVO wegen Überschreitens des 30%-Schwellenwertes nicht mehr dazu führen, dass frühere Streitigkeiten von der Einzelfreistellungsentscheidung unberührt bleiben. Zudem sollen die Neuregelungen verhindern helfen, dass vor nationalen Gerichten künstlich Rechtsstreitigkeiten geführt werden.302 III. VO Nr. 1/2003 Nicht geändert wurde durch die Neufassungen der VO Nr. 17, dass marktmächtige Unternehmen ihr Vertriebssystem grundsätzlich anzumelden haben, um eine Entscheidung über die Einzelfreistellungsfähigkeit zu erlangen. Bauer sieht dadurch eine Art „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ begründet, 295

7. Erwägungsgrund der VO Nr. 1216/99. Mitteilung, S. 29; 7. Erwägungsgrund der VO Nr. 1216/99. 297 6. Erwägungsgrund der VO Nr. 1216/99. 298 Verordnung (EG) Nr. 3385/94 vom 21.12.1994 über die Form, den Inhalt und die anderen Einzelheiten der Anträge und Anmeldungen nach der VO Nr. 17 des Rates, ABl. L 377/28. 299 Vgl. hierzu näher und die daran bestehende Kritik: Gillessen, S. 11; Lässig, S. 14 f. 300 Mitteilung, S. 28 f.; vgl. auch schon oben unter 2. Teil, § 2, A. II. 3. b). 301 Insbesondere soll in den Fällen, in denen die Unternehmer in gutem Glauben davon ausgingen, dass die Marktanteilsschwelle nicht überschritten wird, von Geldbußen abgesehen werden, vgl. Leitlinien, Tz. 65. 302 Mitteilung, S. 29; Leitlinien, Tz. 63, S. 14. 296

§ 3 Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO 289

da oberhalb der 30%-Schwelle weiterhin mühsam ermittelt werden muss, ob eine Einzelfreistellung möglich ist oder nicht.303 Diese Zweiteilung wird nur bis zum 01.05.2004 ihre Wirkung entfalten können, da es mit dem Inkrafttreten der VO Nr. 1/2003 überhaupt keine Einzelfreistellungsentscheidungen mehr geben wird. Die Kommission hat mir ihrer im Weißbuch angekündigten „Reform über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag“ (a. F.) Ernst gemacht und das Kartellverfahrensrecht grundlegend geändert. Nach bisherigem Recht konnten lediglich Art. 81 Abs. 1 EG und Art. 82 EG unmittelbar Anwendung finden. Dies wurde nunmehr insofern geändert, als Art. 1 Abs. 1 und 2 der VO Nr. 1/2003 vorsehen, dass Art. 81 EG in seiner Gesamtheit, d.h. gerade auch in Bezug auf dessen Absatz 3, unmittelbar anwendbar ist. Mit anderen Worten greift nunmehr die Freistellung direkt ein, ohne dass es einer Entscheidung der Kommission bedarf. Dies gilt sowohl für vertikale als auch für horizontale Vereinbarungen. Damit werden Einzelfreistellungsentscheidungen der Kommission bald der Vergangenheit angehören. Die Unternehmen haben vielmehr selbst zu prüfen, ob ihre Vereinbarungen unter Art. 81 Abs. 3 EG fallen und damit automatisch freigestellt sind. Die VO Nr. 1/2003 vollzieht damit den Wandel des Verbots mit Genehmigungsvorbehalt hin zu einem Legalausnahmesystem.304 Insofern sind selektive Vertriebssysteme, unabhängig von der Marktmacht des Lieferanten, in Zukunft generell nicht mehr anzumelden. Aufgrund der Abschaffung des Anmelde- und Genehmigungssystems kippt die VO Nr. 1/2003 auch das seit 1962 bestehende Freistellungsmonopol der Kommission und ebnet den Weg zur Anwendung auch des Art. 81 Abs. 3 EG durch nationale Gerichte.305 IV. Bewertungsgrundlagen Die Kommission nimmt in ihren Leitlinien ausführlich Stellung zu den Kriterien, nach denen sie die einzelnen Arten vertikaler Beschränkungen bewerten will, wenn sie nicht in den Anwendungsbereich der GVO Nr. 2790/99 fallen.306 Problematisch an dem Aufbau der Leitlinien ist, dass 303

Bauer, in: Bauer/de Bronett, Rdnr. 179. Vgl. 4. Erwägungsgrund der VO Nr. 1/2003. 305 Vgl. Art. 6 der VO Nr. 1/2003. 306 Leitlinien, Tz. 137 bis 229. Dabei werden die am weitesten verbreiteten vertikalen Beschränkungen einzeln untersucht. Es finden sich separate Ausführungen für 304

290

2. Teil: Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen

zumeist nicht deutlich herausgestellt wird, ob sich die Ausführungen auf die Prüfung im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG oder auf Absatz 3 beziehen. Zudem werden stets auch Aussagen zur Erläuterung der Vertikal-GVO getroffen. Im Folgenden werden daher nur noch die wesentlichen Punkte angesprochen, die nicht bereits bei der Untersuchung der Vorschriften der GVO Nr. 2790/99 erwähnt wurden. Interessanterweise enthalten die Leitlinien Ausführungen zu den positiven und negativen Auswirkungen vertikaler Vereinbarungen. Die Kommission nennt als schädliche Folgen, die verhindert werden müssen, die Errichtung von Marktzutrittsschranken, die Verringerung des Interbrand-Wettbewerbs einschließlich der Erleichterung der Kollusion unter Lieferanten oder Käufern, die Beschränkung des Intrabrand-Wettbewerbs und die Behinderung der Integration der Märkte.307 Diese allgemeine Aufzählung wird dann anhand der Einteilung vertikaler Beschränkungen in vier Kategorien308 eingehender erläutert. Diese Vorgehensweise der Kommission erinnert erneut stark an die Vertical Restraints Guidelines der USA. Auch hier wurden die wettbewerbsschädlichen und -fördernden Wirkungen vertikaler Beschränkungen herausgestellt.309 Dabei stimmen die ersten beiden Punkte der negativen Liste mit den von dem US-Justizministerium genannten nachteiligen Auswirkungen überein. Eine wesentliche Abweichung besteht aber in dem Punkt, dass die Kommission die Beschränkung des Intrabrand-Wettbewerbs explizit als Nachteil von Vertikalabsprachen nennt. Damit stellt sie unmissverständlich klar, dass dieser (zumindest bedingt) weiterhin als Schutzobjekt des europäischen Kartellrechts anerkannt wird. Eine Ansicht, die mit den Lehren der Chicago School nicht in Einklang zu bringen ist. Anders hingegen die Auflistung der positiven Auswirkungen vertikaler Absprachen.310 Als solche werden in den Leitlinien unter anderem die Lösung des Trittbrettfahrerproblems, die Erschließung neuer Märkte, der Schutz von Investitionen, die Erzielung von Größenvorteilen beim Vertrieb sowie die Sicherung von Einheitlichkeit und Qualität genannt.311 Nach Anden Markenzwang, den Alleinvertrieb, die Kundenbeschränkung, den selektiven Vertrieb, das Franchising, die Alleinbelieferung, die Koppelungsbindung und die Höchstpreisbindung/Preisempfehlung. 307 Leitlinien, Tz. 103 ff. 308 Diese Kategorien sind Markenzwang, Vertriebsbeschränkungen, vertikale Preisbindung und Marktaufteilung. 309 Abschnitt 3. der VRG. 310 Leitlinien, Tz. 115 ff. 311 Leitlinien, Tz. 116 Nr. 1 bis 8.

§ 3 Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb der Vertikal-GVO 291

sicht der Kommission würden diese Beispiele verdeutlichen, dass vertikale Vereinbarungen einen Beitrag zur Erzielung von Effizienzgewinnen und zur Erschließung neuer Märkte leisten, welche die negativen Wirkungen aufwiegen können.312 Noch nie wurde sich bisher in einer derartigen Deutlichkeit zu den Effizienzargumenten der Chicago School offiziell bekannt. Vergleicht man diese von der Kommission aufgezählten Vorteile mit den in Abschnitt 3.2 der VRG erwähnten positiven Auswirkungen vertikaler Beschränkungen, stellt man fest, dass sie nahezu identisch sind. Für die Behandlung selektiver Vertriebssysteme außerhalb des Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO ergibt sich zunächst, dass die Kommission insbesondere die Marktstellung des Lieferanten und seiner Konkurrenten sowie der Vertriebssysteme bei ihren Entscheidungen berücksichtigen will.313 Auch in diesem Zusammenhang stellt sie erneut fest, dass der Verlust von Intrabrand-Wettbewerb nur dann zu einem Problem wird, wenn der Markenwettbewerb begrenzt ist. Auch kann dieser die Einschränkung der markeninternen Konkurrenz kompensieren. Insofern kann also auch davon ausgegangen werden, dass eine Neubewertung des Verhältnisses von Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb im Einzelfall vorgenommen wird. Von dem einst proklamierten Allstufenschutz314 wird also deutlich Abstand genommen.

312 313 314

Leitlinien, Tz. 117. Leitlinien, Tz. 187 ff. Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 3. a).

3. Teil

Systemwechsel in der EG? Die zahlreichen Änderungen der Vorschriften sowohl in materiell- als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht sowie die neuen ökonomischen Erkenntnisse der Kommission führen zwangsläufig zu der Frage, ob sich im europäischen Recht ein Systemwechsel vollzieht. Dabei soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob die Neuregelungen mit dem EG-Vertrag vereinbar sind. Im Anschluss hieran werden die aus dieser Untersuchung resultierenden Erkenntnisse fruchtbar gemacht, um den Systemwechsel zu belegen.

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag Aufgrund des nachgewiesenen Richtungswechsels im Hinblick auf vertikale Wettbewerbsbeschränkungen stellt sich die Frage, ob die Vertikal-GVO überhaupt mit dem EG-Vertrag in Einklang steht. Die primärrechtliche Vereinbarkeit der Neuregelung muss aus zwei Blickrichtungen geprüft werden. Zum einen muss die Vertikal-GVO durch ihre Ermächtigungsgrundlage gedeckt sein und zum anderen muss sie sich an Art. 81 Abs. 3, 83 EG messen lassen.

A. Vereinbarkeit mit der ErmächtigungsVO Nr. 19/65 Der Europäische Rat, als nach Art. 83 EG an sich zuständiges Organ, hat bereits frühzeitig seine Kompetenzen zum Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen für bestimmte vertikale Beschränkungen mittels der VO Nr. 19/65 an die Kommission delegiert.1 Diese versetzt die Kommission in die Lage, selbst die Einzelheiten der Gruppenfreistellungsverordnungen zu regeln. Die Realisierung des Vorschlags, eine Schirm-Gruppenfreistellungsverordnung zu erlassen, setzte einige Änderungen der ErmächtigungsVO 1

Vgl. hierzu oben unter 1. Teil, § 4, C. II. 2.

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag

293

Nr. 19/65 voraus, welche durch die VO Nr. 1215/99 im Juni 1999 durch den Rat beschlossen wurden. Die Kommission wäre andernfalls wegen der Regelung des Art. 1 Abs. 1 VO Nr. 19/65 a. F. nicht dazu ermächtigt gewesen, den Anwendungsbereich der neuen GVO auf alle vertikale Wettbewerbsbeschränkungen zu erweitern. Zudem konnte sie bisher nur Vereinbarungen gruppenweise freistellen, an welchen höchstens zwei Unternehmen beteiligt waren.2 Seit Beginn an verliefen die Arbeiten an der Schirm-GVO und den Änderungen der VO Nr. 19/65 parallel.3 An der Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem Wortlaut der RatsVO Nr. 19/65 in ihrer durch die VO Nr. 1215/99 geänderten Fassung bestehen keine Bedenken, da dieser genau auf die neue GVO zugeschnitten wurde.4 Dies geht insbesondere auch aus den Erwägungsgründen der VO Nr. 1215/99 hervor. Diese nehmen ausdrücklich auf die zu diesem Zeitpunkt noch zu erlassene Vertikal-GVO Bezug.

B. Vereinbarkeit mit Art. 81 Abs. 3, 83 EG Streng von der Frage zu trennen, ob die Vertikal-GVO dem Wortlaut der ErmächtigungsVO in ihrer Fassung vom Juni 1999 entspricht, ist der Problembereich, ob die VO Nr. 19/65 in ihrer jetzigen Fassung noch mit den primärrechtlichen Vorgaben durch die Art. 81 Abs. 3, 83 EG vereinbar ist. I. Vertikalvereinbarungen als „Gruppe“ Nach Art. 83 Abs. 2 lit. b EG i. V. m. Art. 81 Abs. 3 EG kann das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG auf Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen für nicht anwendbar erklärt werden. Die GVO Nr. 2790/99 will mit der Regelung des Art. 2 Abs. 1 sämtliche vertikale Wettbewerbsbeschränkungen erfassen. Angesichts dieses weiten Anwendungsbereiches ist fraglich, ob noch von einer zulässigen Gruppenbildung gesprochen werden kann. Unter einer Gruppe im Sinne des Art. 81 Abs. 3 EG sind solche Absprachen zu verstehen, denen gemeinsame oder vergleichbare Tatbestände zugrunde liegen, die angesichts der weitgehenden Gleichförmigkeit der Interessen der Beteiligten selbst, ihrer Handelspartner, ihrer Wettbewerber sowie der Verbraucher einer typisierenden Beurteilung zugänglich sind.5 2

Vgl. hierzu bereits oben unter 2. Teil, § 1, C. I. Rohardt, in: WuW 1998, 1050 (1057); Mitteilung, S. 41. 4 So auch Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 11; I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 16. Anderer Ansicht ist Rittner, in: EuZW 2000, 129 leider ohne nähere Begründung. 3

294

3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Diese Definition setzt voraus, dass allen durch die GVO Nr. 2790/99 freigestellten vertikalen Vereinbarungen ein vergleichbarer Tatbestand zugrunde liegt. Erfasst werden sollen nach Art. 2 Abs. 1 sämtliche Absprachen, welche die Voraussetzungen für den Bezug, den Verkauf oder den Weiterverkauf von Waren oder Dienstleistungen betreffen.6 Ein vergleichbarer Tatbestand liegt den freigestellten Absprachen insoweit zugrunde, als die daran beteiligten Unternehmen auf unterschiedlicher Marktstufe tätig sein müssen. Die Erscheinungsformen und Auswirkungen vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen sind hingegen vielfältig und auf höchste Weise ambivalent. Insofern kann an sich nicht von einer hinreichend bestimmbaren bzw. bestimmten Gruppe gesprochen werden. Auch die Kommission selbst erwähnt in ihrem Grünbuch, dass der Vertrieb nicht nur als ein Sektor, sondern auch als Prozess oder als Funktion innerhalb der Wirtschaft zu betrachten ist.7 Des Weiteren besteht bei einer pauschalen Erfassung von vertikalen Vereinbarung stets auch das Problem der Abgrenzung zu solchen, die im Horizontalverhältnis stattfinden. Die Kommission hat jedoch zumindest versucht, zwecks Abgrenzung der unterschiedlichen Formen von Wettbewerbsbeschränkungen den Anwendungsbereich hinreichend stark zu umreißen. Diesem soll die Bestimmung des Art. 2 Abs. 4 gerecht werden, indem mittels verschiedener Kriterien horizontale Vereinbarungen ausgegrenzt werden sollen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Problematik der Abgrenzung zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen stets besteht und eine klare Differenzierung zwischen diesen beiden Formen von Wettbewerbsbeschränkungen kaum möglich ist. Entscheidend für die Diskussion um die Bestimmtheit der Gruppenbildung ist aber die Verwendung der Marktanteilsschwelle in Art. 3 Abs. 1. Mittels dieses Kriteriums wird von vornherein eine absolute Grenze für die Ausnahme vom Kartellverbot gezogen. Gleiches gilt für die in Art. 4 genannten Kernbeschränkungen. Auch diese entzieht bestimmten Verpflichtungstatbeständen von vornherein die Möglichkeit zur Freistellung. Insofern kann noch von einer hinreichenden Gruppenbildung gesprochen werden.

5 Wiedemann, Rdnr. 36; I/M/Sauter, Art. 85 Abs. 3, Rdnr. 7; G/T/E/Schröter, Art. 85, Rdnr. 205; vgl. ausführlich zum Gruppenbegriff: Kaiser, S. 31 ff. 6 Vgl. auch Leitlinien, Tz. 23 ff. 7 Grünbuch, Tz. 15.

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag

295

II. Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG Nach dem EuGH müssen die Gruppenfreistellungsverordnungen nach Art und Inhalt regelmäßig den Anforderungen des Art. 81 Abs. 3 EG genügen.8 Dies ist bereits aufgrund der Systematik des EG-Vertrages eine Selbstverständlichkeit. So stellt Art. 83 EG die eigentliche Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen dar.9 Dieser bestimmt in Absatz 1 Satz 1, dass die Verordnungen die in den Art. 81 und 82 EG niedergelegten Grundsätze verwirklichen müssen. Dies ist gleichbedeutend mit dem materiellen Gehalt dieser Vorschriften.10 Daher bilden die vier in Art. 81 Abs. 3 EG genannten Freistellungsvoraussetzungen die Grenze für die inhaltliche Ausgestaltungsfreiheit des Gemeinschaftsgesetzgebers. Die Kommission ist davon überzeugt, dass sich „aufgrund der bisherigen Erfahrungen eine Gruppe von vertikalen Vereinbarungen definieren lässt, die regelmäßig die Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 3 EG erfüllt.“11 In Anbetracht der allein in Bezug auf selektive Vertriebssysteme im Rahmen dieser Untersuchung vorgenommenen Darstellung der Entscheidungspraxis der Kommission eine gleichermaßen mutige wie unzutreffende Aussage. So ist beispielsweise der Erfahrungswert bezüglich der Freistellung von quantitativ selektierenden Vertriebssystemen als durchaus gering zu bezeichnen. Nunmehr sind diese aber bis zu einem Marktanteil von 30% generell freigestellt. Insgesamt hält sich die Vertikal-GVO in Bezug auf die einzelnen Freistellungsvoraussetzungen sehr bedeckt, sodass neben dieser auch die Leitlinien herangezogen werden müssen. 1. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung Als Vorteile von Vertikalvereinbarungen nennen die Erwägungsgründe pauschal die Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz innerhalb einer Produktions- oder Vertriebskette durch die bessere Koordinierung zwischen den beteiligten Unternehmen, die Senkung der Transaktions- und Distributionskosten, die Optimierung der Umsätze und Investitionen sowie schließlich ganz allgemein die Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs.12 8

EuGH 13.06.1966, Italienische Republik/Komm., Rs. 32/65, Slg. 1966, 457 (483 f.). 9 Wiedemann, Rdnr. 37. 10 G/T/E/Schröter, Art. 87 – Erster Teil, Rdnr. 7. 11 2. Erwägungsgrund der Vertikal-GVO. 12 6. und 8. Erwägungsgrund der Vertikal-GVO.

296

3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Die Allgemeinheit dieser Aufzählung kann insoweit nicht verwundern, als von der Vertikal-GVO eine Vielzahl von vertikalen Verpflichtungstatbeständen erfasst werden, deren effizienzsteigernde Wirkungen nur schwerlich kurz und prägnant im Rahmen von Erwägungsgründen dargestellt werden können. Die genannten Vorteile sind zudem aus den bisherigen Entscheidungen der Kommission bekannt und stimmen mit diesen überein.13 Diese Deckungsgleichheit beruht indes auch darauf, dass sich die Kommission selbst im Rahmen der Einzelfreistellungspraxis mit recht pauschalen Äußerungen begnügt. Neben diesen Vorteilen ist aber nach ständiger Rechtsprechung Grundvoraussetzung, dass diese die damit einhergehenden Nachteile objektiv überwiegen. Hier kommt der neue Ansatz der Kommission, primär auf die Marktwirkungen einer Vertikalvereinbarung abzustellen, zum Ausdruck. Es wird vermutet, dass vertikale Wettbewerbsbeschränkungen, sofern sie ohne Beteiligung eines marktmächtigen Unternehmens praktiziert werden, stets effizienzsteigernde Vorteile mit sich bringen, welche die Nachteile überwiegen.14 Damit einher geht die Neubewertung und Neugewichtung des Verhältnisses von Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb. Nunmehr wird ganz im Sinne der Chicago School davon ausgegangen, dass bei einem geringeren Marktanteil der Wettbewerb zwischen den Marken ausreichend stark ist, um die nachteiligen Wirkungen für den Intrabrand-Wettbewerb auszugleichen. Möglich ist ein derartiger Wandel in der Auslegung aufgrund der generalklauselartigen Fassung des Art. 81 EG. Dieser bietet, anders als die differenzierten Vorschriften des GWB, größeren Raum für wettbewerbspolitische Neuorientierungen. Natürlich ist es einer abstrakt-generellen Regelung ein Stück weit immanent, mit Vermutungen zu arbeiten, sodass in Bezug auf diese Voraussetzung keine Bedenken an der Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag bestehen. 2. Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn Noch pauschaler begründet die Vertikal-GVO sodann die Beteiligung der Verbraucher an dem aus der Wettbewerbsbeschränkung erzielten Gewinn.15 Es wird ausschließlich festgestellt, dass eine derartige Teilhabe anzunehmen ist, wenn der Marktanteil des Lieferanten unter 30% liegt. Im Rahmen der bisherigen Einzelfallpraxis wurde stets untersucht, ob nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich mit einer Weitergabe des Ge13 14 15

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. III. 1. 8. Erwägungsgrund der Vertikal-GVO. Vgl. nur den 8. Erwägungsgrund der Vertikal-GVO.

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag

297

winns an die Verbraucher gerechnet werden kann. Maßstab hierfür ist der von anderen Unternehmen ausgehende Wettbewerbsdruck. Da die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO vom Marktanteil abhängig ist, wird ein wichtiges Indiz für die Beurteilung eines hinreichenden Wettbewerbsdrucks in jedem Fall berücksichtigt. Das alleinige Abstellen auf den Marktanteil des Lieferanten ist jedoch nicht in der Lage, das wettbewerbliche Umfeld des bindendenden Unternehmers darzustellen. Primär stellt diese Vorgehensweise den Interbrand-Wettbewerb als wichtigsten Faktor zur Gewährleistung der Verbraucherbeteiligung heraus.16 Auch diese Vermutung ist stark verkürzt und wird der selbständigen Bedeutung des Intrabrand-Wettbewerbs nicht gerecht. Diese Begründung liegt im Trend der bisherigen Entscheidungen der Kommission, in denen sie zumeist die Effizienzgewinne der Unternehmen mit den Verbraucherinteressen gleichgesetzt und von diesen vorschnell auf eine Beteiligung der Verbraucher am Gewinn geschlossen hat. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Ermächtigungsnorm des Art. 83 EG in Absatz 2 lit. b neben der wirksamen Überwachung auch eine möglichst einfache Verwaltungskontrolle fordert. Das vornehmliche Abstellen auf den Marktanteil trägt daher zumindest dieser Voraussetzung Rechnung. Da Gruppenfreistellungsverordnungen stets für eine Vielzahl ähnlicher Wettbewerbsbeschränkungen konzipiert werden, ist ihnen ein gewisser Grad von Unbestimmtheit immanent. Rückt man diese Aspekte in den Mittelpunkt, so kann von einer ausreichenden Berücksichtigung der Verbraucherinteressen ausgegangen werden. 3. Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung Das Erfüllen der dritten Freistellungsvoraussetzung durch die VertikalGVO ist am schwierigsten zu begründen. Im 10. Erwägungsgrund heißt es daher auch nur, dass die GVO keine vertikalen Vereinbarungen freistellen darf, die nicht für die Herbeiführung der günstigen Wirkungen unerlässlich sind. Der Kommission scheint zu dieser Voraussetzung nicht viel einzufallen, da sich der Aussagegehalt in der bloßen Wiederholung des Wortlauts des Art. 81 Abs. 3 EG erschöpft. Darüber hinaus stellt sie dann nur noch fest, dass es für die in Art. 4 Vertikal-GVO aufgezählten Kernbeschränkungen an der Unerlässlichkeit fehlt. Das Unerlässlichkeitskriterium ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. In diesem Sinne ist zu untersuchen, ob nicht ein schonende16

I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 21; vgl. auch Grünbuch, Tz. 66.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

res, aber gleichsam wirksames Mittel statt der vertraglich vorgesehenen Wettbewerbsbeschränkung in Betracht kommt. Durch die Vertikal-GVO werden viele der bisher negativ bewerteten Vereinbarungen in den Genuss einer Freistellung vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG gelangen. Im Rahmen selektiver Vertriebssysteme sei beispielsweise nur an die quantitative Begrenzung der Händlerschar erinnert. Diese einst nur unter ganz bestimmten engen Voraussetzungen freistellungsfähige Absatzstrategie ist nunmehr bei einem Marktanteil des Lieferanten unter 30% gänzlich freigestellt, unabhängig von irgendwelchen Anforderungen an das Produkt. Gleiches gilt für das Zulassungs- und Ausschlussverfahren, das im Lichte der dritten Freistellungsvoraussetzung einst besonders kritisch untersucht wurde.17 Vieles, was bisher nicht als unerlässlich angesehen wurde und daher vom Hersteller zumeist schon im Vorfeld auf Verlangen der Kommission geändert werden musste, spielt im neuen Recht der Vertikal-GVO keine Rolle mehr. In Anbetracht der Tatsache, dass hier eine deutliche Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung vorliegt, wird bedauerlicherweise seitens der Kommission kaum auf diese Problematik eingegangen. Begründet werden kann dieser Richtungswechsel daher nur mit der neuen ökonomischen Bewertung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen. Bereits oben wurde angedeutet, dass die Kommission anscheinend gewillt ist, sämtliche aus der zwangsläufigen Verallgemeinerung einer Gruppenfreistellungsverordnung resultierenden Probleme mit dem Entzugsmechanismus zu regeln. So will sie beispielsweise den Vorteil der VertikalGVO entziehen, wenn ein Produkt den selektiven Vertrieb nicht erfordert und daher keine effizienzsteigernden Wirkungen mit sich bringt.18 Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit dem Entzug des Vorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung erscheint dieses Argument doch etwas schwach, da diese bisher keine große Bedeutung erlangt hat. Zumindest sieht die Vertikal-GVO aber einen Rückfahrschein vor, falls die Unerlässlichkeit nicht vorliegt. Diese Maßnahme liegt sicherlich im Interesse einer vereinfachten Verwaltungskontrolle und ganz im Sinne des bindenden Unternehmers. Dieser muss sich nicht mehr für die weniger einschneidende Vertragsklausel entscheiden. Als Verlierer kann hingegen der Handel insgesamt angesehen werden. Zum einen kann dem netzzugehörigen Händler nun ein Mehr an Verpflichtungen auferlegt werden, die unter Umständen außer Verhältnis zu den daraus resultierenden Vorteilen stehen. Zum anderen kann der zutritts17 18

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. III. 3. Leitlinien, Tz. 186.

§ 1 Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit dem EG-Vertrag

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willige Absatzmittler mehr als bisher der Willkür der Systemzentrale ausgesetzt sein, indem beispielsweise über seinen Antrag auf Zulassung erst nach geraumer Zeit entschieden wird. Es wird deutlich, dass aus dem Blickwinkel dieser dritten Freistellungsvoraussetzung die Vertikal-GVO die größte Angriffsfläche bietet.19 Diesem kann nur dann Abhilfe geschaffen werden, wenn die vorgesehenen Entzugsmöglichkeiten konsequent genutzt werden – zumindest mehr als bisher. 4. Nichtausschaltung wesentlichen Wettbewerbs Entsprechendes gilt auch für die letzte Voraussetzung des Freistellungstatbestandes. Von jeher sollen die Entzugsregeln gewährleisten, dass Gruppenfreistellungsverordnungen nicht Vereinbarungen legalisieren, die nicht die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllen.20 Positiv an der Vertikal-GVO ist zu bewerten, dass mit dem Marktanteilskriterium, den vorgesehenen Entzugsregelungen und der Möglichkeit der Kommission, eine Suspensivverordnung zu erlassen, ein breiteres Angebot an den Wettbewerb sichernden Maßnahmen zur Verfügung steht als bisher. Von Vorteil ist es sicher, dass die Kommission auf die von gleichartigen Vertriebssystemen ausgehenden kumulativen Wirkungen ein erhöhtes Augenmerk legen will. Dies kommt durch die mehrfache, explizite Nennung in der Vertikal-GVO und den Leitlinien zum Ausdruck. Zudem gewährleistet die Berücksichtigung des Marktanteilskriteriums mehr als bisher, dass die Vertriebssysteme marktmächtiger Unternehmen nicht allein deswegen in den Genuss der gruppenweisen Freistellung gelangen, weil sie den Inhalt ihrer Vereinbarung genau an den Wortlaut der GVO-Vorgaben anpassen. Im Vergleich zu der Systematik der bisherigen Gruppenfreistellungsverordnungen verbessert der Ansatz der Vertikal-GVO die Einhaltung der letzten Freistellungsvoraussetzung. Unverständlich sind hingegen die Ausführungen der Kommission in den Leitlinien zu dieser Freistellungsvoraussetzung.21 Diese zielen zwar auf die Fälle ab, in denen (noch) eine Einzelfreistellung notwendig ist. Sie sollen aber aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH dennoch kurz erwähnt werden. Danach betrifft die Nichtausschaltung des Wettbewerbs die Frage der Marktbeherrschung. Ist ein Unternehmen nicht marktbeherrschend, sind 19 Hierauf weisen auch I/M/Veelken, GFVO, Rdnr. 23; Schultze/Pautke/Wagener, Rdnr. 11 hin. 20 Vgl. ausführlich zum Entzugsverfahren: Geers, S. 231 ff. 21 Leitlinien, Tz. 135 f.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

nach Ansicht der Kommission die übrigen drei Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG von Bedeutung. Diese Aussagen implizieren, dass die Kommission davon ausgeht, der Wettbewerb könne für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren nur dann ausgeschlossen werden, wenn Marktmacht vorliegt. In der Tat wird das Vertragswerk eines marktbeherrschenden Unternehmers zumeist an der letzten Freistellungsvoraussetzung scheitern. Aber dies kann keinesfalls der einzige Prüfungspunkt an dieser Stelle sein. In diesem Sinn wurden daher in der bisherigen Entscheidungspraxis des EuGH und der Kommission auch die konkreten Verhältnisse im Intrabrand-Wettbewerb berücksichtigt. So stellt der EuGH im Rahmen dieser Freistellungsvoraussetzung sowohl auf den „Außen-“ als auch auf den „Innenwettbewerb“ ab.22 Hiermit sind die in den Leitlinien gemachten Ausführungen nicht in Einklang zu bringen. Zudem gehen diese an einer realistischen Betrachtungsweise der möglichen Auswirkungen vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen vorbei. Diese vermögen auch dann wesentlichen Wettbewerb auszuschalten, wenn der Hersteller nicht marktmächtig ist.

C. Ergebnis An der Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit der ErmächtigungsVO Nr. 19/ 65 bestehen keine Bedenken. Die Erweiterung der Ermächtigungsgrundlage ist gerade im Hinblick auf die Vertikal-GVO erfolgt und verwendet nahezu den identischen Wortlaut. Die von der Vertikal-GVO freigestellten Vertikalvereinbarungen noch als einheitliche „Gruppe“ zu definieren gelingt nur, wenn man das Abstellen auf die Marktmacht in Zusammenschau mit den Gemeinsamkeiten von Vertikalvereinbarungen als ausreichend für die Typisierung einer bestimmten Teilmenge erachtet. Die Vereinbarkeit der Vertikal-GVO mit den materiellrechtlichen Vorgaben der Art. 83, 81 Abs. 3 EG bedarf einer tiefer greifenden Begründungsarbeit. Leider hat es die Kommission verpasst, diese zu leisten. Die EGVertragskonformität kann nur dann begründet werden, wenn man anstelle der einzelnen materiellen Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG das Bedürfnis nach einer vereinfachten Verwaltungskontrolle in den Vordergrund stellt. Falls die Kommission und die nationalen Behörden die in der Vertikal-GVO vorgesehenen Entzugsmechanismen nicht konsequent nutzen werden, läuft die Neuregelung Gefahr, Wettbewerbsbeschränkungen freizustellen, die nicht unerlässlich sind. 22

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, C. III. 4.

§ 2 Vereinbarkeit der Änderungen mit dem EG-Vertrag

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§ 2 Vereinbarkeit der „verfahrensrechtlichen“ Änderungen mit dem EG-Vertrag A. Verfahrensrechtliche Vorgaben durch Art. 81 EG Neben den materiellrechtlichen Neuregelungen wurde im Zuge des Erlasses der Vertikal-GVO bereits die VO Nr. 17 dahingehend geändert, dass vertikale Beschränkungen grundsätzlich nicht mehr angemeldet werden müssen und daher zunächst erst einmal praktiziert werden können. In den Schatten gestellt wurde diese Neuerung durch die Einführung des Legalausnahmesystems der KartellverfahrensVO Nr. 1/2003. Beide Maßnahmen beruhen auf Änderungen sekundärrechtlicher Vorschriften, die in Art. 83 EG ihre Rechtsgrundlage haben. Dabei gilt auch hier der Grundsatz, dass über den Verordnungsweg nicht das Primärrecht geändert werden kann. I. Verbotsprinzip des Art. 81 Abs. 1 EG und seine verfahrensmäßige Entsprechung Sowohl die zunächst vorgenommene Änderung des Art. 4 Abs. 2 der VO Nr. 17 als auch der Erlass der VO Nr. 1/2003 betreffen als solche auf den ersten Blick „nur“ das Kartellverfahrensrecht, sodass ein Verstoß gegen den EG-Vertrag erst angenommen werden kann, wenn dieser unmittelbar oder mittelbar diesbezüglich eine Vorgabe enthält, die es im Sekundärrecht einzuhalten gilt. Art. 81 Abs. 1 EG steht an der Spitze der Wettbewerbsvorschriften für die Unternehmen und bildet eine wesentliche Grundlage für die Verwirklichung des in Art. 3 lit. g EG angestrebten Systems unverfälschten Wettbewerbs. Im Rahmen der Verhandlungen zum Erlass des EWG-Vertrages hat man sich bewusst für das Verbotsprinzip entschieden, um den entstehenden Gemeinsamen Markt vor Verfälschungen zu schützen. Unterstrichen wird dies durch den weiten Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 EG. Natürlich kann auch das europäische Recht nicht ohne Ausnahme des Verbots auskommen23 und normiert daher in Art. 81 Abs. 3 EG die Voraussetzungen für die Abweichung vom Grundsatz. Wortlaut und Systematik der Vorschrift verdeutlichen dabei, in welchem Verhältnis Absatz 1 und Absatz 3 zueinander stehen: Das Verbot ist der Grundsatz und die Freistellung ist die Ausnahme. 23 Dies gilt umso mehr, als vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG auch Vertikalvereinbarungen erfasst werden.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Die Ausgestaltung des Art. 81 Abs. 1 EG als repressives Verbot und als Basis der europäischen Wettbewerbsregeln verdeutlicht, dass es sich hierbei nicht um einen bloßen Programmsatz handelt, sondern vielmehr um einen Kerngedanken, den es in der europäischen Wettbewerbspolitik zu verwirklichen gilt. Die Entfaltung einer materiellrechtlichen Vorschrift hängt entscheidend von seiner verfahrensrechtlichen Ausgestaltung ab. In der praktischen Anwendung kann daher ein Verbotsprinzip zum zahnlosen Tiger werden, wenn es nicht bereits im Vorfeld auf seine Einhaltung hin kontrolliert wird. Dies setzt eine präventive Kontrolle durch eine dazu berufene Stelle voraus und damit die Notifizierung der Vereinbarung bei dieser. Die ex ante-Kontrolle von Wettbewerbsbeschränkungen und die damit einhergehende vorherige Anmeldung ist daher Wesensgehalt eines wirksamen Verbotsprinzips und damit mehr als nur eine verfahrensrechtliche Spielart, die beliebig austauschbar ist.24 Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man sich die Konsequenzen des umgekehrten Falles, also die Ausgestaltung eines Verbotsprinzips mit einer nachherigen Kontrolle vor Augen führt. Werden wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zunächst einmal ohne Kenntnis der Kartellbehörden praktiziert, können die wettbewerbswidrig erlangten Vorteile zunächst von den Unternehmen abgeschöpft werden. Erst im nachhinein, falls überhaupt jemand von der leistungsfremden Vorgehensweise erfährt oder aber der Markt bereits derart geschädigt ist, dass es augenscheinlich wird, kann gegen diese vorgegangen werden. Formal besteht das Verbotsprinzip zwar noch, effiziente Wirkungen kann es hingegen nicht entfalten und damit vor allem nicht den Schutz des Gemeinsamen Marktes leisten, den die Gründerväter anvisierten und in dem strikten Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG zum Ausdruck brachten. Diese Vorschrift kann daher nur dann seinen erwünschten Verbotscharakter entfalten, wenn sie mit dem verfahrensrechtlichen Instrument der vorherigen Kontrolle ausgestattet ist.25 Die Pflicht zur Anmeldung ist daher die Kehrseite der Medaille „Verbotsprinzip“ und ein in Art. 81 EG verankerter Grundsatz.

24

Vgl. hierzu: Fikentscher, in: FS Nipperdey, S. 159 ff. Dies gibt selbst der Abteilungsleiter der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission Schröter zu, indem er auf dem Internationalen Kartellrechtsforum nicht verschwieg, dass bei einem Verzicht auf das Anmeldeerfordernis unter Umständen auch nicht effektiv kontrolliert wird. Vgl. die Zusammenfassung von Abele, in: EuZW 1999, 375. 25

§ 2 Vereinbarkeit der Änderungen mit dem EG-Vertrag

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II. Legalausnahme oder Erlaubnisvorbehalt? Eng mit dieser Problematik verzahnt ist die Frage nach der Rechtsnatur der in Art. 81 Abs. 3 EG vorgesehenen Ausnahme vom Kartellverbot. Dabei werden grundsätzlich zwei Modelle diskutiert: Zum einen kann Art. 81 EG als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestattet sein. Ein solches System setzt stets eine administrative und konstituierende Freistellungsentscheidung voraus. Zum anderen kommt ein System der Legalausnahme in Betracht, in dem die Wirkungen der Ausnahmevorschrift automatisch, d.h. ohne vorherige Entscheidung eintreten, sofern sie vorliegen. Im Rahmen der Untersuchung, ob Art. 81 EG verfahrensrechtliche Vorgaben enthält, die sekundärrechtlich berücksichtigt werden müssen, ist daher von entscheidender Bedeutung, ob dem EG-Vertrag eine Entscheidung zugunsten eines der beiden Systeme entnommen werden kann. Möglich ist aber auch, dass diese erst im Rahmen sekundärrechtlicher Regelungen erfolgen soll. Die Kommission geht im Weißbuch offensichtlich von Letzterem aus.26 So ist es nach ihrer Ansicht bewusst dem gemeinschaftlichen Gesetzgeber überlassen worden, ob er sich für ein Genehmigungs- oder aber für ein Legalausnahmesystem entscheidet. Daher könne mittels einer RatsVO festgelegt werden, ob Art. 81 Abs. 3 EG ohne vorherigen Verwaltungsakt direkt anwendbar sei oder aber wie bisher als Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet werde. Bekanntermaßen haben die Ausführungen der Kommission in Deutschland zum Teil heftige Diskussion ausgelöst.27 1. Entstehungsgeschichte des Art. 81 EG Lange Zeit war man sich auf europäischer Ebene uneins, ob Art. 81 EG als Legalausnahmesystem im Sinne des französischen Rechts oder aber als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Sinne der deutschen Regelung zu verstehen ist.28 Es ist müßig, darüber zu diskutieren, wie die Vertragsverhandlungen in concreto abgelaufen sind, da die Dokumente in diesem Punkt offensichtlich nicht eindeutig sind. Anders können die unterschiedlichen Rückschlüsse, die aus den Vertragsverhandlungen zum Erlass des Art. 85 EWGV gezogen wurden, nicht erklärt werden. 26

Weißbuch, Tz. 12 ff. Dabei wird sich hier auf die für den Fortgang der Untersuchung wesentlichen Aspekte der Diskussion beschränkt. 28 Vgl. hierzu ausführlich Hoeren, in: FS Großfeld, 405 ff.; v. d. Groeben, S. 82 ff. 27

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Die Kommission stellt im Weißbuch in Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen des Systemwechsels erschreckend oberflächlich fest, dass die Formulierung des Art. 81 Abs. 3 EG auf einem Kompromiss zwischen den Delegationen, die ein Legalausnahmesystem befürworteten, und den Anhängern eines Systems der vorherigen Genehmigung basiert.29 Im deutschen Schrifttum wird überwiegend eine in diese Richtung gehende Interpretation der Entstehungsgeschichte des Art. 81 EG abgelehnt.30 So meint Deringer, der in besonderem Maße dazu berufen scheint31, Aussagen über die historische Entwicklung zu tätigen, dass den Dokumenten zu den Vertragsverhandlungen nicht einmal entnommen werden kann, dass die unterschiedlichen Systeme ausdrücklich angesprochen worden sind.32 Wie dem auch sei, der dann gewählte Wortlaut des Art. 81 Abs. 3 EG widerspricht eindeutig der Auffassung der Kommission, es sei der sekundärrechtlichen Regelung vorbehalten, das Verfahren zu bestimmen.33 2. Wortlaut des Art. 81 Abs. 3 EG In Reaktion auf das Weißbuch wurde bereits mehrfach über Wortlaut und Systematik im juristischen Schrifttum referiert, sodass sich hier auf das Wesentliche beschränkt werden kann.34 a) Erklärung der Nichtanwendbarkeit Bei Lektüre des Art. 81 Abs. 3 EG käme man nicht unbedingt auf die Idee, dass dieser unmittelbar anwendbar sein soll. Aufgrund seines eindeutigen Wortlauts, dass das Verbot des Absatz 1 „für nicht anwendbar erklärt werden kann“, wird deutlich, dass stets eine Entscheidung erforderlich ist, 29

Weißbuch, Tz. 10 ff. Möschel, in: JZ 2000, 61 (62); ders., in: WuW 2000, 951; Weyer, in: ZHR 164 (2000), 611 (615); Jaeger, in: WuW 2000, 1062 (1063); Emmerich, in: WRP 2000, 858 (862). 31 Deringer war als Berichterstatter des Binnenmarktausschusses zu der Konsultation des Parlaments durch den Rat betreffend die erste Durchführungsordnung zu den Art. 85 und 86 EWGV tätig, Europäisches Parlament, Sitzungsdokument, 07.12.1961 (Dok. 57/1961), sog. „Deringer-Bericht“. 32 Deringer, in: EuZW 2000, S. 5 f. In diesem Sinne auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Weißbuch, unter 1.1. 33 Insoweit anderer Ansicht sind Schaub/Dohms, in: WuW 1999, 1055 (1065 f.). Die Formulierung in Art. 81 Abs. 3 zeige den Kompromisscharakter der Vorschrift; ähnlich auch Geiger, in: EuZW 2000, 165 (166). 34 Vgl. Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 16; Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (525); Deringer, in: EuZW 2000, 5 f. 30

§ 2 Vereinbarkeit der Änderungen mit dem EG-Vertrag

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damit ausnahmsweise eine Vereinbarung vom strikten Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt werden kann.35 Eine „Erklärung“ setzt bereits nach seinem Wortsinn voraus, dass welche Behörde auch immer, aber zumindest irgendjemand eine aktive Tätigkeit entfalten muss, um zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllt sind oder eben nicht.36 Auf einen derartigen konstituierenden Verwaltungsakt wird aber gerade in einem System der Legalausnahme verzichtet. Die Wirkungen treten ohnehin automatisch ein, sofern die Voraussetzungen des „Freistellungstatbestandes“ vorliegen. In einem System, in dem die Rechtsfolge der Zulässigkeit ipso iure eintritt, bedarf es eben gerade keiner Erklärung. Es wird deutlich, dass im Legalausnahmesystem noch nicht mal mehr von einer Freistellung gesprochen werden kann, da es in einem solchen keine aktiven Entscheidungen, die eine Wettbewerbsbeschränkung für zulässig erklären, gibt. b) Differenzierung zwischen Einzel- und Gruppenfreistellung Art. 81 Abs. 3 EG differenziert seinem Wortlaut nach zwischen Vereinbarungen, die im Einzelfall und solchen, die gruppenweise vom Verbot des Absatz 1 freigestellt werden können. Die obige Definition des Gruppenbegriffs37 hat verdeutlicht, dass es lediglich zulässig sein soll, eine begrenzte Teilmenge von Wettbewerbsbeschränkungen, die Ähnlichkeiten aufweisen, vom Verbot freizustellen. Der Verzicht auf die vorherige Anmeldung hat aber faktisch zur Konsequenz, dass sämtliche Vereinbarungen bis zur gegenteiligen Feststellung zunächst erst einmal freigestellt sind.38 Dieser Ansatz widerspricht eindeutig der Systematik des Art. 81 EG, welches ein Verbot vorsieht, das nur unter den in Art. 81 Abs. 3 EG normierten Voraussetzungen ausnahmsweise für nicht anwendbar erklärt werden kann. Die Ausnahme ist also bisher die Freistellung gewesen; nunmehr wird die Freistellung zum Grundsatz. Geiger wendet sich gegen diese Ansicht, indem er meint, die Kommission wolle gar nicht alle Vereinbarungen freistellen, sondern formuliere gleichzeitig eine „schwarze Liste“, die den Anwendungsbe35

In diesem Sinne auch Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (525); der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi, Dokumentation, S. 8; Jaeger, in: WuW 2000, 1062 (1065 f.); Möschel, in: EuZ 2000, 22 (23); ders., in: JZ 2000, 61 (62); Paulweber/ Kögel, in: AG 1999, 500 (507). 36 Anderer Ansicht ist neben Schaub/Dohms und Geiger (a. a. O.), aber ohne nähere Begründung: Weitbrecht, in: EuZW 2000, 496 (497). Hinsichtlich des Wortlautes des Art. 81 Abs. 3 EG auch zweifelnd, aber im Ergebnis für die sekundärrechtliche Schaffung eines Legalausnahmesystems: Schütz, in: WuW 2000, 686 (689). 37 Vgl. oben unter 3. Teil, § 1, B. I. 38 In diesem Sinne: Möschel, in: JZ 2000, 61 (62); Paulweber/Kögel, in: AG 1999, 500 (507).

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

reich der Vorschrift begrenze.39 Dabei übersieht er aber, dass Voraussetzung für die Verwendung von Kernbeschränkungen das Vorliegen einer „Gruppe“ ist. Eine Gruppenbildung im Legalausnahmesystem bedeutet aber, dass sämtliche wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen unter den Gruppenbegriff fallen würden. Insofern meint auch Weitbrecht, dass Art. 1 Abs. 2 der VO Nr. 1/2003 auch als weiteste Form der Gruppenfreistellung verstanden werden kann.40 Gerade hierin liegt jedoch die Problematik; eine derart weite Fassung steht im Widerspruch zu der in Art. 81 Abs. 3 EG vorgenommenen Differenzierung zwischen Einzel- und Gruppenfreistellung.41 3. Wortlaut des Art. 84 EG Ebenfalls für eine verfahrensrechtliche Vorgabe durch den EG-Vertrag spricht die Übergangsvorschrift des Art. 84 EG. Danach „entscheiden die Behörden der Mitgliedsstaaten im Einklang mit ihren eigenen Rechtsvorschriften und den Bestimmungen der Artikel 81, insbesondere Absatz 3 und 82 über die Zulässigkeit von Vereinbarungen (. . .).“ Art. 84 EG gibt in zweierlei Hinsicht Aufschluss. Zum einen geht auch diese Vorschrift offensichtlich davon aus, dass die Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG eine Entscheidung erfordert.42 Zum anderen verdeutlicht die explizite Nennung des Art. 81 Abs. 3 EG die klare Trennung zwischen Verbotstatbestand als Grundsatz und die Zulässigkeitserklärung als Ausnahme. Diese vorgesehene Differenzierung würde bei einer kombinierten Prüfung des Absatz 1 und Absatz 3 des Art. 81 EG gänzlich eingeebnet werden und damit dem Verbotsprinzip zuwiderlaufen. Diese vom EG-Vertrag vorgesehene strikte Trennung muss durch das Verfahrensrecht gesichert werden. 4. Wortlaut des Art. 83 EG Gleichsam für die Vertragswidrigkeit der Abschaffung des Anmeldungsund Genehmigungssystems spricht die Ermächtigungsnorm des Art. 83 EG.

39

Geiger, in: EuZW 2000, 165 (166). Weitbrecht, in: EuZW 2003, 69 (70). 41 Auch nach der Bundesregierung steht die in Art. 81 Abs. 3 EG normierte Differenzierung zwischen Einzel- und Gruppenfreistellung einer „Total-Gruppenfreistellungsverordnung“ für sämtliche Vereinbarungen entgegen, vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung zum Weißbuch, unter 1.1. 42 So auch Paulweber/Kögel, in: AG 1999, 500 (508). 40

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a) Art. 83 Abs. 2 lit. a EG Art. 83 Abs. 2 lit. a EG sieht vor, dass die Beachtung des Verbotstatbestandes des Art. 81 Abs. 1 EG durch die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern gewährleistet werden soll. Mestmäcker weist zu Recht daraufhin, dass im System der Legalausnahme die von einer vorhergehenden Entscheidung der zuständigen Behörde unabhängige Sanktionierung von Verstößen gegen Art. 81 Abs. 1 EG weitgehend ausgeschlossen ist.43 Für Geiger stellt sich hingegen die Frage, inwieweit Art. 83 EG dies für ein funktionierendes System überhaupt fordert.44 Dabei verkennt dieser, dass es in der Argumentation um etwas Übergeordnetes geht: nämlich den Schutz des repressiven Verbotsprinzips, dessen Bedeutung gerade durch die Vorschrift des Art. 83 Abs. 2 lit. a EG zum Ausdruck kommt. Dieser verdeutlicht erneut die strikte Trennung zwischen Verbot und Ausnahme von diesem Verbot. Genau hierin ist aber die materiell- und verfahrensrechtliche Vorgabe des Art. 81 EG zu sehen. b) Art. 83 Abs. 2 lit. b EG Art. 83 Abs. 2 lit. b EG stellt die konkrete Ermächtigungsgrundlage für Änderungen des Kartellverfahrensrechts dar und muss daher ebenfalls bei der Frage nach dem verfahrensrechtlichen Gehalt des Art. 81 EG herangezogen werden. Nach dieser Vorschrift können auf dem Verordnungswege die Einzelheiten der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG festgelegt werden, wobei dem Erfordernis einer wirksamen Überwachung bei möglichst einfacher Verwaltungskontrolle Rechnung zu tragen ist. Auch hierin kommt die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der beiden Absätze des Art. 81 EG zum Ausdruck. In einem System der Legalausnahme gibt es kaum noch Einzelheiten der Anwendung der Vorschrift des Art. 81 Abs. 3 EG, die geregelt werden müssten. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift gäbe es in den Fällen, in denen die Voraussetzungen vorliegen, keine Verwaltungsverfahren mehr.45 Schließlich sei zum Schluss erneut darauf hingewiesen, dass von einer „wirksamen“ Kontrolle im Rahmen einer ohne Anmeldung stattfindenden nachträglichen Überprüfung von Wettbewerbsbeschränkungen wohl kaum gesprochen werden kann.46 43

Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (525). Geiger, in: EuZW 2000, 165 (167). 45 Vgl. Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 17. 46 So auch Möschel, in: JZ 2000, 61 (63); Stellungnahme der Bundesregierung zum Weißbuch, unter 1.2; Fikentscher, in: WuW 2001, 446 (450 ff.); Gutachten des 44

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

5. Rechtsprechung des EuGH Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die Rechtsprechung des EuGH. Dieser hat bereits frühzeitig entschieden, dass sowohl Art. 81 Abs. 1 EG als auch Art. 82 EG unmittelbar anwendbare Vorschriften darstellen.47 Ob daneben auch Art. 81 Abs. 3 EG direkt anwendbar ist, wurde bisher nicht durch den EuGH geklärt. Hierfür kommen zwei Ursachen in Betracht: Entweder ist Art. 81 Abs. 3 EG eben gerade der direkten Anwendbarkeit nicht fähig oder aber es bestand aufgrund der klaren Fassung der VO Nr. 17 bisher noch kein Anlass, hierüber zu entscheiden. Eindeutig ist aber, dass der höchstrichterlichen Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 81 Abs. 1 EG im Rahmen einer sekundärrechtlichen Regelung des Verfahrensrechts Rechnung zu tragen ist. Dies wäre nur dann ausreichend berücksichtigt, wenn Art. 81 Abs. 3 EG selbst unmittelbar anwendbar wäre. Hieran bestehen zu Recht Bedenken.48 So hat der EuGH seine eigene Entscheidungskompetenz im Hinblick auf die Überprüfung einer Freistellungsentscheidung selbst deutlich eingeschränkt: So stünde der Europäischen Kommission bei der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG ein weiter Ermessenspielraum zu.49 Daher könne das Gericht die Freistellungsentscheidungen auch nur darauf überprüfen, ob der Tatbestand richtig festgestellt wurde und ob keine offenkundigen Beurteilungsfehler und kein Ermessensfehlgebrauch vorliege.50 Aber die bemerkenswerteste Aussage in diesem Zusammenhang stammt von der Europäischen Kommission aus dem Jahre 1993. Danach setze die Einzelfallprüfung des Art. 81 Abs. 3 EG die Bewertung komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge und die Nutzung eines umfangreichen Ermessensspielraums u. a. dann voraus, wenn dabei verschiedene Ziele des EGVertrages zu berücksichtigen seien. Diese Aufgabe könne daher nur von ihr wahrgenommen werden.51 Die Argumentation der Europäischen Kommission ist in höchster Weise opportunistisch: Dieselben Voraussetzungen ein- und derselben Norm werWissenschaftlichen Beirats beim BMWi vom 01.07.2000, S. 6 f.; Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 28 ff. 47 EuGH 30.01.1974, BRT/SABAB, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51 (63). 48 Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (526). 49 EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (396). 50 EuGeI 21.02.1995, SPO u. a./Komm., Rs. T-29/92, Slg. 1995, II-289 (382); bestätigt durch EuGH 25.03.1996, SPO u. a./Komm., Rs. C-127/95 P, Slg. 1996, I-1611 (1624); EuGH 13.07.1966, Grundig-Consten/Komm., Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 321 (396). 51 XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 115 (Tz. 190 a. E.).

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den innerhalb weniger Jahre hinsichtlich ihrer Justitiabilität unterschiedlich beurteilt: einmal zwecks Verteidigung ihres Freistellungsmonopols und einmal zur Abschaffung desselben. Der Übergang zu einem Legalausnahmesystem trägt dem durch den EuGH aufgestellten Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 81 Abs. 1 EG nicht hinreichend Rechnung. III. Ergebnis Art. 81 Abs. 1 EG als Verbotsgesetz ist unlösbar mit der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung dieser Norm als Erlaubnisvorbehalt mit Anmeldepflicht verbunden. Diese Vorgabe ist bei Erlass sekundärrechtlicher Vorschriften einzuhalten. Hierfür sprechen auch Wortlaut und Systematik der Art. 81 Abs. 3, 83 und 84 EG sowie die Rechtsprechung des EuGH. Diese Auffassung wurde weder von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament noch von einigen Autoren oder von einzelnen mitgliedsstaatlichen Regierungen geteilt. Keinesfalls darf aber in dieser Diskussion vergessen werden, wer zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen berufen ist. Nach Art. 234 lit. a EG obliegt die Kompetenz hierzu beim Europäischen Gerichtshof – schließlich hat die Kommission auch nicht über die unmittelbare Anwendbarkeit der Art. 81 Abs. 1 und 82 EG entschieden.

B. Konsequenzen für die Änderungen der VO Nr. 17 Auf Grundlage des festgestellten verfahrensrechtlichen Gehaltes des Art. 81 EG erscheinen bereits die Änderungen der VO Nr. 17, die bis zum 01.05.2004 Gültigkeit haben, nicht mehr von der Ermächtigungsgrundlage des Art. 83 EG gedeckt.52 Herausgestellt werden muss aber der Unterschied zu dem Legalausnahmesystem der VO Nr. 1/2003: Die Erweiterung des Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17 hat nicht zur Folge, dass es keine konstitutiven Einzelfreistellungsentscheidungen mehr geben wird, sondern diese sind nach wie vor stets für die Legalisierung einer Vereinbarung erforderlich – zumindest bis zum 01.05.2004. Konsequenz der Erweiterung des Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17 ist aber, dass das Anmelde- und Genehmigungssystems für alle Vertikalvereinbarungen faktisch abgeschafft wurde. Aufgrund der anfänglichen Massen52 Diese Frage wird im juristischen Schrifttum kaum gestellt. Lediglich Paulweber/Kögel, in: AG 1999, 500 (508 f.) beschäftigen sich hiermit eingehender und kommen ebenfalls zu dem Ergebnis der EG-Vertragswidrigkeit.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

flut von Anmeldungen wurden zwar bereits frühzeitig solche Absprachen von dem Anmeldeerfordernis befreit, die als weniger schädlich für den Wettbewerb eingestuft worden sind. Hiergegen bestanden insoweit keine Bedenken, als es sich um einen abgrenzbaren Teil von bestimmten Vereinbarungsformen handelte. Hierdurch wurde der Grundsatz nicht in seinem Wesensgehalt betroffen. Einer anderen Bewertung muss diese Vorgehensweise aber dann unterliegen, wenn die Grundfesten der in Art. 81 EG niedergelegten Prinzipien erschüttert werden. Die Befreiung sämtlicher Vertikalvereinbarungen bedeutet, dass gerade solche nicht mehr bei der Europäischen Kommission angemeldet werden müssen, die in der Regel als besonders schädlich für den Wettbewerb angesehen werden können. Die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17 wird primär für die Vertikalvereinbarungen relevant, die nicht unter die VertikalGVO fallen, weil an ihnen entweder ein marktmächtiges Unternehmen beteiligt ist oder sie aber Kernbeschränkungen enthalten. Mit der Abschaffung des Anmeldungssystems wird das bisher vorgesehene System der präventiven Kontrolle deutlich eingeschränkt. Die Kommission kann mangels Anmeldung die vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen nun nicht mehr im Vorfeld auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 81 EG überprüfen, sondern kann nur noch im nachhinein tätig werden. Bereits hierin ist eine Aushöhlung des in Art. 81 EG verankerten Prinzips der vorherigen Kontrolle zu sehen.

C. Konsequenzen für die VO Nr. 1/2003 Während die Änderungen der VO Nr. 17 das bisherige System der präventiven Kontrolle bereits deutlich schwächten, schafft die VO Nr. 1/2003 dieses gänzlich ab und wandelt das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in ein Legalausnahmesystem um. Dies verstößt aufgrund der oben angestellten Überlegungen gegen die in Art. 81 EG enthaltenen Grundsätze und ändert damit unzulässigerweise das primäre Gemeinschaftsrecht. Vor Erlass der VO Nr. 1/2003 sprach vieles dafür, dass im Falle der Verabschiedung des im Weißbuch der Kommission vorgeschlagenen Ansatzes die Bundesregierung aus Art. 230 EG ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH führen würde.53 Trotz der starken Kritik der Bundesregierung im Anschluss an die Veröffentlichung des Weißbuchs hat auch Deutschland die neue KartellverfahrensVO im Rat aus unerfindlichen Gründen unterstützt; die Verordnung wurde einstimmig verabschiedet.54 Mit einer Klage ist daher kaum mehr zu rechnen. 53 Dies empfahl auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi in seinem Gutachten vom 01.07.2000, S. 9. Mit dem sich aus Art. 231 EG ergebenden Ziel der Erklärung der Nichtigkeit der VO.

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Als Rechtsschutzmöglichkeit wäre es daher nur noch denkbar, dass sich eine Partei vor einem nationalen Gericht darauf beruft, dass ihr Vertragswerk rechtmäßig sei, weil es die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfülle. Sodann könnte das nationale Gericht zur Klärung der Frage, ob Art. 81 Abs. 3 EG die Legalausnahme zulasse, im Wege des Vorlageverfahrens nach Art. 234 EG den EuGH anrufen. Möschel schließlich weist noch auf die Maastricht I-Entscheidung des BVerfG55 und die daraus resultierenden Rechtsschutzmöglichkeiten hin.56 Nach dem BVerfG können legislative Hoheitsakte der EG dann keine Wirkung im Geltungsbereich des Grundgesetzes entfalten, wenn sie auf eine Änderung des EG-Vertrages hinauslaufen und daher nicht mehr vom Zustimmungsgesetz des deutschen Gesetzgebers gedeckt sind. Insofern kann also jeder Bürger, der sich in seinem Recht aus Art. 38 GG verletzt sieht, die VO Nr. 1/2003 mit der Verfassungsbeschwerde angreifen.57

§ 3 Vom Verbotsprinzip zum Missbrauchsprinzip Aus den dargestellten, weitreichenden Neuerungen im Bereich des Art. 81 EG, sei es durch die Vertikal-GVO oder durch die „verfahrensrechtlichen“ Vorschriften, wird deutlich, dass sich ein Wandel in der Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen vollzogen hat. Dabei regen die Änderungen insbesondere zu der Untersuchung an, ob ein Systemwechsel in Form der Abkehr vom Verbotsprinzip hin zu einer Missbrauchskontrolle nachzuweisen ist. Schließlich stellt sich auch hier die Frage, welche Rückschlüsse die weitreichenden Änderungen auf das wettbewerbstheoretische Verständnis der Kommission zulassen und ob den Maßnahmen ein einheitliches Konzept zugrunde liegt.

A. Die Vertikal-GVO Mit dem Erlass der GVO Nr. 2790/99 wurde die Wettbewerbspolitik der EG gegenüber vertikalen Beschränkungen völlig neu überdacht und einem anderen systematischen Regelungsansatz unterzogen als die bisherigen Gruppenfreistellungsverordnungen. 54

Klocker, in: WuW 2002, 1153. BVerfGE 89, 155 ff. 56 Möschel, in: JZ 2000, 61 (62). 57 Möschel sieht dabei die Erfolgsaussichten einer derartigen Verfassungsbeschwerde als durchaus groß an, a. a. O. 55

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

I. „Schirm“-Gruppenfreistellungsverordnung Der sektoren- und branchenübergreifende Anwendungsbereich der Vertikal-GVO hat ihr den Ruf als „Schirm“-Gruppenfreistellungsverordnung58 oder Umbrella-Verordnung59 eingebracht. Neben der Konsequenz, dass nunmehr nahezu alle vertikalen Beschränkungen anhand einer einzigen Verordnung auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 81 EG hin untersucht werden, kann bereits hierin ein erster Schritt in Richtung eines Systems der Legalausnahme mit Tendenz zur Missbrauchskontrolle gesehen werden. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass Art. 81 EG ausschließlich als Verbotsnorm mit Erlaubnisvorbehalt angesehen werden kann. Mit der in Art. 81 Abs. 3 EG vorgesehenen Möglichkeit, auch Gruppen von Vereinbarungen vom Verbot des Absatz 1 freizustellen, ist von Anfang an dieses Verbot mit einer Durchbrechungsmöglichkeit versehen worden. Gruppenfreistellungsverordnungen wirken wie Legalausnahmen.60 Ursache dessen ist, dass Vereinbarungen, die unter den Anwendungsbereich einer GVO fallen, per definitionem freigestellt sind, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG im Einzelfall konkret erfüllen oder nicht. Des weiteren treten die Rechtsfolgen der Freistellung automatisch, d.h. ohne vorherige Anmeldung oder Kontrolle durch die Europäische Kommission ein. Es wird deutlich, dass dem Gruppenfreistellungsregime große Gemeinsamkeiten mit einem System der Legalausnahme innewohnen. Die enorme Ausweitung des Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO bedeutet daher auch zugleich, das Verbotsprinzip abzuschwächen. Erreicht ein Unternehmen die Marktanteilsschwelle von 30% und enthält das Vertragswerk keine Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 VertikalGVO, findet eine präventive Kontrolle nicht mehr statt. Die Konsequenzen hieraus werden besonders deutlich am Beispiel der veränderten Vorgehensweise gegenüber selektiven Vertriebssystemen. Diese bedurften bei Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG stets der Einzelfreistellung und mussten daher grundsätzlich vor deren Praktizierung bei der Kommission angemeldet werden. Jetzt hingegen können marktschwächere Hersteller unbedenklich mit der Durchführung ihres Vertriebskonzeptes beginnen. Die einzige Gefahr droht ihnen durch die Entzugsmöglichkeit oder durch den Erlass einer Suspensionsverordnung. Der Übergang von einem System der ex ante-Kontrolle zu einem solchen der nachherigen Überprüfung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen 58

Rohardt, in: WuW 1998, 1050; Ackermann, in: EuZW 1999, 741. Semler/Bauer, in: DB 2000, 193 (194). 60 Vgl. Brinker, S. 37; Möschel, in: NJW 1995, 281 (283); Axster, in: WuW 1994, 615 (616); Kloyer, S. 39; Schütz, in: WuW 2000, 686 (690). 59

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bedeutet nichts anderes als der Wechsel zum Missbrauchsprinzip.61 Insofern wurde die Reform im Bereich der Vertikalvereinbarungen insbesondere auch aus deutscher Sicht sehr begrüßt.62 II. Ausweitung der Entzugsmöglichkeiten Aufgrund des weiten Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO läuft das europäische Wettbewerbsrecht Gefahr, auch solche vertikalen Beschränkungen freizustellen, die nicht die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllen. Insofern sieht auch die GVO Nr. 2790/99 die Möglichkeiten vor, den Rechtsvorteil der GVO im Einzelfall zu entziehen bzw. sie für nicht anwendbar zu erklären. Diese Möglichkeiten des Entzugs sind Mittel der nachherigen Kontrolle von an sich freigestellten Vereinbarungen und daher als Maßnahmen im Sinne einer Missbrauchskontrolle anzusehen.63 Auch diese wurden gegenüber dem bisherigen Recht erheblich erweitert, indem im Sinne des Dezentralisierungsvorhabens neben der Kommission nun auch nationalen Behörden die Kompetenz zum Entzug des Rechtsvorteils der GVO obliegt. Auch diesen Maßnahmen wohnen die Tendenzen der Missbrauchskontrolle inne.

B. Änderungen der VO Nr. 17 Neben den materiellrechtlichen Änderungen im Bereich der vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen belegen insbesondere auch die flankierenden „verfahrensrechtlichen“ Maßnahmen deutlich den angestrebten Systemwechsel. I. Verzicht auf die Anmeldung Mit der Ausweitung der in Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17 vorgesehenen, von der Anmeldung bei der Kommission grundsätzlich befreiten Vereinbarungen ist man noch einen größeren Schritt weg vom Verbotsprinzip gegangen. Konsequenz dessen ist die dargestellte gänzliche Abkehr von der ex anteKontrolle hinsichtlich aller vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen. Die vorherige Überprüfung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen auf ihre Zulässigkeit ist die verfahrensrechtliche Entsprechung des Verbots61 So auch Wolf, in: EuZW 1999, 641; Bayreuther, in: EWS 2000, 106 (109); Ackermann, in: EuZW 1999, 741. 62 Wolf, in: EuZW 1999, 641. 63 So auch Lässig, S. 10.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

prinzips. Daher kann die Abkehr hiervon auch nur als Übergang zu einer Missbrauchsaufsicht gewertet werden.64 II. Rückwirkende Freistellung Zudem wurde durch die Änderung der VO Nr. 17 die rückwirkende Freistellungsmöglichkeit auf sämtliche vertikale Wettbewerbsbeschränkungen ausgeweitet. Die Rückwirkung der Freistellung hat zur Folge, dass die Vereinbarung, entgegen der eigentlichen Systematik des Art. 81 Abs. 1 EG, nicht als nichtig angesehen wird, sondern vielmehr vollumfänglich von Beginn an Wirksamkeit erlangt. Gleiches gilt im System der Legalausnahme: Auch hier wird von der anfänglichen Zulässigkeit der Vereinbarung ausgegangen.65 Dies entspricht ebenfalls einer Missbrauchskontrolle, da eine solche zunächst die Praktizierung der Absprachen zu lässt. Ganz anders in einem System mit Genehmigungserfordernis. So ist es Wesensmerkmal eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt, dass die Wirkungen erst in Zukunft, d.h. mit der konstituierenden Entscheidung eintreten können. Die Erweiterung des Kreises der Vereinbarungen, die rückwirkend auf ihren Vertragsschluss freigestellt werden können, bedeutet daher auch hier, der Einführung eines Legalausnahmesystems weiter Vorschub zu leisten.

C. Die VO Nr. 1/2003 Bereits vor Erlass der VO Nr. 1/2003 wurde durch die Vertikal-GVO sowie den dazugehörigen flankierenden Maßnahmen Schritt für Schritt über den sekundärrechtlichen Verordnungsweg das Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt aufgeweicht. Die Erosion des gesamten bisherigen Systems wird sodann durch den Erlass der VO Nr. 1/2003 vollzogen. I. „Verbots- und Missbrauchsprinzip“ Es scheint fast so, als ob bereits die prägnante Kennzeichnung der neuen KartellverfahrensVO bewusst gewählt wurde, um die Bedeutung und Tragweite dieser „wichtigsten Legislativinitiative seit Erlass der Fusionskontrollverordnung“66 herauszustellen. 64

Es gilt das bereits oben Ausgeführte, vgl. 3. Teil, § 2, A. Den Zusammenhang zwischen der rückwirkenden Freistellungsmöglichkeit und einem Legalausnahmesystem erwähnen auch: Baldi, S. 238 f.; Brinker, S. 36; Gayk, S. 36. 66 XXX. Wettbewerbsbericht (2000), Vorwort, S. 5. 65

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In der Tat stellt die VO Nr. 1/2003 das bisherige Recht und System auf den Kopf. Bereits im 4. Erwägungsgrund der VO Nr. 1/2003 wird deutlich gemacht, dass das bisher geltende zentralisierte Anmeldesystem durch ein Legalausnahmesystem ersetzt werden soll. Insofern ist die aufgezeigte Tendenz nunmehr in seiner Gesamtheit, d.h. für alle Formen von Wettbewerbsbeschränkungen Wirklichkeit geworden. Aufgrund der sich aus dem Verbotsprinzip des Art. 81 EG ergebenden verfahrensrechtlichen Vorgaben stellt sich die Frage, ob der Übergang zu einem Legalausnahmesystem zugleich auch der Wechsel zu einer Missbrauchsaufsicht bedeutet. Als Reaktion auf das Weißbuch wurde diese Ansicht von vielen deutschen Kartellrechtlern67 sowie von der Bundesregierung68 und dem Bundeskartellamt69 vertreten. Die Europäische Kommmission70 und ein Teil des Schrifttums71 sind hingegen der Meinung, dass das neue Kartellverfahrensrecht keine inhaltliche Änderung des Verbotsprinzips mit sich bringt. Der Rechtswirklichkeit am nächsten kommt – wie so oft – der Mittelweg zwischen den beiden Ansichten. Im hiesigen Fall bedeutet dies konkret: Die VO Nr. 1/2003 schafft mit seinem Legalausnahmesystem eine Art Mischform von „Verbots- und Missbrauchsprinzip“. 1. Verbotsprinzip Bei der Frage nach einem Systemwechsel muss zunächst in Rechnung gestellt werden, dass der Wortlaut des Art. 81 EG und damit das dort verankerte Verbotsprinzip weiterhin Bestand hat. Wettbewerbsbeschränkungen, die nicht die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllen, sind auch in Zukunft grundsätzlich verboten und von Anfang an gem. Art. 81 Abs. 2 EG nichtig. Wesensgehalt einer jeden Missbrauchsaufsicht ist, dass Wettbewerbsbeschränkungen zunächst einmal erlaubt sind und erst im Missbrauchsfalle von der Kartellbehörde für unwirksam erklärt werden können. Aufgrund der Tatsache, dass wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen auch nach 67 Emmerich, in: WRP 2000, 858 (861); Rittner, in: DB 1999, 1485 f.; Mestmäcker, in: EuZW 1999, 523 (524); Deringer, in: EuZW 2000, 5 (11); Wolf, in: EuZW 1999, 641; Immenga, in: EuZW 1999, 609; Paulweber/Kögel, in: AG 1999, 500 (501). 68 Stellungnahme der Bundesregierung zum Weißbuch unter 1.2. 69 Wolf, in: EuZW 1999, 641. 70 Weißbuch, Tz. 69; Schaub, in: WuW 2001, 443. 71 Schütz, in: WuW 2000 686 (689); Schaub/Dohms, in: WuW 1999, 1055 (1066); Geiger, in: EuZW 2000, 165; Deselaers/Obst, in: EWS 2000, 41 (43).

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

der Reform ab initio unzulässig sind, kann von der Einführung einer reinen Missbrauchskontrolle keine Rede sein. 2. Missbrauchsprinzip Das Verbotsprinzip besteht jedoch aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift des Art. 81 Abs. 3 EG nur noch formal weiter. Dies beinhaltet die faktische Annäherung an das Missbrauchsprinzip. Die isolierte Betrachtung der Abschaffung des Anmeldesystems rechtfertigt noch nicht den Schluss auf den Übergang zu einer bloßen Missbrauchsaufsicht. Denn sowohl das Verbots- als auch das Missbrauchsprinzip können grundsätzlich sowohl mit oder ohne Anmeldungsverfahren ausgestattet sein.72 Nichts desto weniger kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für die wirksame Entfaltung des Verbotsprinzips eines Anmelde- und Genehmigungssystems bedarf. Dies haben die obigen Ausführungen zum Verbotsprinzip und seiner verfahrensmäßigen Entsprechung durch eine präventive Kontrolle ergeben.73 In einem System der Legalausnahme bedarf es weder eine Anmeldung der Vereinbarung, noch einer ex ante-Kontrolle, noch wird davon ausgegangen, dass Wettbewerbsbeschränkungen von Anfang an unrechtmäßig sind. Konsequenz ist, dass Vereinbarungen zunächst erst einmal unbedenklich praktiziert werden können. Die Hoffnung nicht weiter aufzufallen ist angesichts der Größe des Gemeinsamen Marktes berechtigt. De facto bleibt es zwar dabei, dass die Maßnahmen verboten und nichtig sind; aber wen stört das, wenn es keiner weiß? Erst im Rahmen einer nachherigen Kontrolle kann dann unter Umständen die Unvereinbarkeit des Vertragswerks mit Art. 81 EG festgestellt werden. Dabei geht es weniger um die Fälle, die bisher ohnehin schon nicht angemeldet worden sind74, sondern um diejenigen, die notifiziert worden sind und mit dem Kartellverbot nicht vereinbar waren. Auch bei einer dem Missbrauchsprinzip unterworfenen Vorschrift kann eine Wettbewerbsbeschränkung bis zum Einschreiten der Behörde zunächst ungehindert praktiziert werden. Die sich aus dem Verfahrensrecht der VO Nr. 1/2003 ergebenden Konsequenzen weisen insofern eine deutliche Übereinstimmung mit einem System der Missbrauchsaufsicht auf. 72

Fikentscher, in: FS Nipperdey,159 (162 ff.). Vgl. oben unter 3. Teil, § 2, A. 74 Möschel, in: JZ 2000, 61 (63) weist zutreffend daraufhin, dass der böswillig Handelnde in keinem System, wie auch immer es im Einzelnen ausgestaltet sein mag, sein Kartell publik machen würde. 73

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In diesem Zusammenhang wird die durch die VO Nr. 1/2003 eingeführte Mischform des „Verbots-Missbrauchsprinzips“ deutlich. Die Unzulässigkeit von Kartellabsprachen gilt zwar formal von Anfang an, wird aber erst nachträglich festgestellt. II. Wettbewerbspolitische Bedenken Zu begrüßen ist diese neue Form des „Verbots-Missbrauchsprinzips“ nicht. Es kommt zwar kein Kartellrecht mit nur einem dieser Systeme aus, aber die Vermischung dieser beiden Handlungsmöglichkeiten innerhalb einer Norm ist eine Novität, die eine Vielzahl von Konsequenzen mit sich bringt. Insbesondere von deutscher Seite wurde das Weißbuch der Kommission stark angegriffen. So ist die Reform nach Ansicht der Monopolkommission „kein Weg ins 21. Jahrhundert, sondern zurück zu den wirtschaftsrechtlichen Defiziten des 19. Jahrhunderts.“75 Erwähnt seien hier nur diejenigen Kritikpunkte, die sich unmittelbar auf den Systemwechsel beziehen. Kein Raum verbleibt für die mit der Dezentralisierung der Wettbewerbsregeln einhergehenden Kohärenz-Probleme oder für die Auswirkungen der Änderungen auf den Zivilprozess.76

1. Abschwächung des Verbotsprinzips Ein wesentlicher Kritikpunkt an dem neuen Ansatz der Kommission ist die Verwischung des Verbotstatbestands mit dem Ausnahmetatbestand und der damit einhergehenden Abschwächung des Verbotsprinzips. Durch die nunmehr erforderliche integrale Prüfung des Art. 81 Abs. 3 EG verliert die Wettbewerbsbeschränkung seine selbstständige Bedeutung und kann von dem Ausnahmetatbestand mit seinen Effizienzüberlegungen überlagert werden. Diese Vorgehensweise entspricht deutlich dem Trend der Kommission, eine großzügigere Haltung gegenüber Wettbewerbsbeschränkungen einzunehmen. Aufgrund der Einebnung des Regel-Ausnahme-Prinzips besteht die realistische Gefahr, dass außerwettbewerbliche Gesichtspunkte in die Entscheidungen einfließen können. Ist doch gerade Art. 81 Abs. 3 EG die Vorschrift der europäischen Wettbewerbsregeln, die als Durchbrechung des Wettbewerbsprinzips angesehen werden kann. Die Erklärung der unmittelbaren Anwendbarkeit gerade dieser Ausnahmeregel birgt daher in höchstem 75

Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 82. Vgl. hierzu ausführlich: Gröning, in: WRP 2000, 882 ff.; Schwenn, in: RIW 2000, 179 ff.; Bartosch, in: WuW 2000, 462 ff; Bien, in: DB 2000, 2309 (2310 ff.); Zuber, S. 136 ff.; Kamann/Horstkotte, in: WuW 2001, 458 (466 ff.). 76

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Maße die Gefahr der Aushöhlung des in Art. 3 lit. g EG gewährleisteten Schutzes des unverfälschten Wettbewerbs. Dies muss umso mehr gelten, als es nunmehr an den nationalen Behörden und Gerichten ist, Art. 81 Abs. 3 EG anzuwenden. Aufgrund der stark voneinander abweichenden Rechtstradition in den einzelnen Mitgliedsstaaten ist daher zu befürchten, dass Wettbewerbsbeschränkungen mit ganz unterschiedlichen Begründungen für zulässig erklärt werden können. Hinzu kommt, dass in einem Legalausnahmesystem die Kontrolle von Wettbewerbsbeschränkungen in einer Vielzahl von Fällen von der Ausübung des Aufgreifermessens der jeweiligen Behörde abhängt. 2. Mangelnde Effizienz des Legalausnahmesystems Die Europäische Kommission erachtet die Abschaffung des Anmeldeund Genehmigungssystems aus mehreren Gründen für vorteilhaft. So befreie es die Unternehmen vom Anmeldezwang und sie selbst von der Last der Bearbeitung der zahlreichen Anmeldungen, sodass sie sich der Ahndung besonders schwerer Verstöße widmen könne.77 Scheinbar vergessen hat die Kommission jedoch, die Vorteile zu erwähnen, die das Anmeldesystem mit sich bringt. Diese sind bereits mehrfach von unterschiedlicher Seite herausgestellt worden78, sodass sich hier auf das Wesentliche beschränkt werden kann. Die ex post-Kontrolle ist weniger effektiv als eine vorherige Überprüfung, da mangels Anmeldung eine geringere Kenntnis von der Existenz wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen besteht. Die Gefahr der unerkannten Kartellierung wird deutlich zunehmen. Abgeschwächt werden soll dies durch die Ausstattung der Kommission als Verfolgungsbehörde mittels Verstärkung ihrer nachherigen Kontrollmöglichkeiten. Dies vermag aber nicht ernsthaft das Problem zu lösen, dass die sich wettbewerbswidrig verhaltenden Unternehmen zumeist ihren Gewinn bereits abgeschöpft haben, bevor es zu der Überprüfung und einer endgültigen Entscheidung über die Kooperation kommen kann.79 Man denke nur an die Dauer von Gerichtsverfahren. Zudem geht mit dem Verzicht auf das Anmeldeerfordernis die damit verbundene Publizität und deren disziplinierende Wirkung auf die Beteiligten verloren.80 So bewirkt die ex ante-Kontrolle, dass anmeldewillige Unterneh77

Weißbuch, Tz. 72. Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 28 ff.; Möschel, in: JZ 2000, 61 (63 f.). 79 Fikentscher, in: WuW 2001, 446 (450); Baudenbacher, in: WuW 2000, 1171. 80 Emmerich, in: WRP 2000, 858 (861). 78

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men sich von Beginn an bemühen, eine wettbewerbskonforme Vereinbarung abzuschließen, um ihr Vorhaben genehmigt zu bekommen. Dieser Anreiz entfällt gänzlich in einem System der Legalausnahme.81 3. Informationsdefizit Genauso wenig wie es in einem Legalausnahmesystem Anmeldungen gibt, wird die Kommission in Zukunft Informationen über die europäischen Märkte mehr erhalten. Dieses Wissensdefizit ist aus mehreren Gründen nicht zu unterschätzen. Zum einen dienten die durch die Anmeldung erlangten Informationen bisher stets als Grundlage zur Fortentwicklung des europäischen Rechts. Auch die Kommission selbst bezeichnet die Anmeldungen als „eine unerschöpfliche Quelle der Information“.82 So heißt es auch im 2. Erwägungsgrund der GVO Nr. 2790/99, dass aufgrund der bisherigen Erfahrungen sich eine Gruppe von vertikalen Vereinbarungen definieren lässt, die regelmäßig die Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 3 EG erfüllt. Ursache für den Erfahrungsschatz war einzig und allein die aufgrund der Vielzahl von Anmeldungen erforderliche Auseinandersetzung der Kommission mit dieser Thematik. Diese empirisch belegte Einschätzung der unterschiedlichen Vereinbarungstypen wird die Kommission nunmehr entbehren müssen, da sie mangels Einzelfreistellungsentscheidungen nicht mehr in der Form mit bestimmten Sachverhalten in Berührung kommen wird. Es bleibt abzuwarten, ob in Zukunft das Informationsdefizit der Europäischen Kommission zum Stillstand bei der Weiterentwicklung des europäischen Kartellrechts führen wird. Zum anderen bedarf es auch für die Ausgestaltung der Kommission als „Verfolgungsbehörde“ solcher Informationen, die ihr bisher durch das Anmeldeverfahren vermittelt wurden. Es besteht andernfalls die Gefahr der marktfremden Einschätzung von Verhaltensweisen. Insbesondere bei der Praktizierung von Horizontalvereinbarungen kann die Kommission auch nicht darauf hoffen, durch andere Marktteilnehmer in Kenntnis gesetzt zu werden. Die am Kartell beteiligten Unternehmen werden sich hüten, Informationen preiszugeben, und auch Beschwerden Dritter dürften aufgrund der Verborgenheit, in der sich diese meist abspielen, selten vorkommen.83 81 Fikentscher, in: WuW 2001, 446 (452) kritisiert das geschaffene System noch weitgehender, in dem er diesem weniger Effektivität beimisst als einem mit Meldepflicht ausgestatteten und wirksam angewandten Missbrauchsprinzip. 82 Grünbuch, Tz. 188. 83 Paulweber/Kögel, in: AG, 500 (511).

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4. Mangelnde Einwirkungsmöglichkeit im Vorfeld der Praktizierung Ein weiterer gewichtiger Vorteil des bisherigen Systems liegt in den Einwirkungsmöglichkeiten der Europäischen Kommission auf die Unternehmen, bevor sie anfangen, ihre Vereinbarungen umzusetzen. Die Darstellung der bisherigen Praxis der Kommission bezüglich selektiver Vertriebssysteme hat gezeigt, dass sie hiervon auch häufig Gebrauch machte. So konnten viele Vertragswerke nach anfänglichen Bedenken und auf Veranlassen einiger inhaltlicher Änderungen praktiziert werden. Eine derartige Möglichkeit der Abmilderung von Wettbewerbsbeschränkungen entfällt im System der Legalausnahme. Zwar sieht die VO Nr. 1/2003 in Art. 9 Verpflichtungszusagen vor, doch muss die Wirksamkeit derartiger nachträglicher Maßnahmen bezweifelt werden. Aufgrund des neuen Rechts der VO Nr. 1/2003 kann es auch keine vorherigen zeitlichen Befristungen von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen mehr geben, sondern lediglich die Verpflichtungszusagen können zeitlich begrenzt werden. Dadurch verlieren die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen den Anreiz, ihr Vertragswerk über einen längeren Zeitraum dem Wortlaut entsprechend in der Praxis auch tatsächlich umzusetzen. Bisher wussten sie schließlich, dass eine Überprüfung durch die Kommission nach einem gewissen Zeitraum erneut durchgeführt wurde. 5. Rechtssicherheit Die Rechtssicherheit ist insbesondere im Kartellrecht ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist auf diese gerade im Bereich der mit hohen Investitionen für die Unternehmen verbundenen Vorhaben besonderes Gewicht zu legen, andererseits ist kein Auskommen ohne die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung eines Kartellrechts trägt wesentlich dazu bei, dass die Rechtssicherheit erhöht oder vermindert wird. Am bisherigen System stellte insbesondere der vermehrte Rückgriff auf die unverbindlichen comfort letters einen unbefriedigenden Aspekt dar. Diese Situation wird aber nicht durch die Einführung eines Legalausnahmesystems verbessert. Die Europäische Kommission gibt zwar ihr Freistellungsmonopol auf, will aber die europäische Wettebewerbspolitik weiterhin mittels Gruppenfreistellungsverordnungen, Bekanntmachungen und Leitlinien steuern und vorgeben.84 Auf die mangelnde Bindungswirkung derartiger Verlautbarun84

Weißbuch, Tz. 86.

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gen, die kein Sekundärrecht darstellen, ist bereits oben hingewiesen worden.85 Nationale Behörden und Gerichte können und werden sicherlich auch anders entscheiden, als es die Kommission für notwendig erachtet. Die Kommission weist mehrfach in ihrem Weißbuch darauf hin, dass sich die Mitgliedsstaaten aufgrund der langjährigen Entscheidungspraxis einen Überblick über die europäischen Wettbewerbsregeln verschaffen konnten.86 Diese Aussage kann nur bedingt Gültigkeit erlangen. Im normativen Bereich ist dies sicherlich richtig. Doch entfaltet eine Vorschrift wie Art. 81 Abs. 3 EG vor allem in der tatsächlichen Anwendung seine Schwierigkeiten. Erwähnt sei an dieser Stelle nur die im Rahmen der Prüfung des Ausnahmetatbestandes erforderliche sachliche und räumliche Marktabgrenzung.87 Vor noch gar nicht allzu langer Zeit sah die Europäische Kommission dies noch ganz anders und stellte dementsprechend heraus, dass einzig sie in der Lage sei, die Bewertung von komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen vorzunehmen.88 Schließlich besteht für die Unternehmen in einem Legalausnahmesystem nicht mehr die Möglichkeit, sich vor der Praktizierung ihrer Vereinbarung bei der Kommission zu vergewissern, ob ihre Vorhaben zulässig sind oder nicht. Die kartellrechtliche Zulässigkeit ihrer Vereinbarung müssen die Unternehmen nun selbst prüfen. Für diese Selbstveranlagung werden ihnen in der Regel die erforderlichen Marktdaten fehlen.89 Insofern kann von Rechtssicherheit nicht mehr gesprochen werden. Die Kommission erwähnt als einen weiteren Vorteil des neuen Ansatzes, dass hierdurch den Unternehmen ein zusätzliches Verteidigungsmittel zur Verfügung stehe, um vor den Gerichten den Vollzug ihrer Vereinbarung zu erwirken. Hierbei stellt sich die Frage, um wessen Willen Wettbewerbspolitik betrieben wird und Rechtssicherheit gewährleistet werden soll. 6. Negative Signalwirkung Letztlich ist auf einen weiteren, insbesondere im Hinblick auf die Osterweiterung der Gemeinschaft besonders bedenkenswerten wettbewerbspolitischen Effekt der VO Nr. 1/2003 hinzuweisen. Die Kommission meint, die 85

Vgl. oben unter 2. Teil, § 3, A. Weißbuch, Tz. 51; Tz. 70. 87 Vgl. zu der mit der Marktabgrenzung verbundenen Problematik ausführlich oben unter 2. Teil, § 2, A. II. 88 XXIII. Wettbewerbsbericht (1993), S. 151 (Tz. 190). Vgl. auch schon oben unter 3. Teil, § 2, A. II. 5. 89 So auch Möschel, in: ORDO 52 (2001), 63 (68). 86

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Reform sei unter anderem deswegen unerlässlich, um den Herausforderungen der künftigen Erweiterung gerecht zu werden.90 Dabei unterliegt sie jedoch einem Zirkelschluss. Einerseits wird mehrfach betont, dass die langjährige Entscheidungspraxis den Unternehmen und den nationalen Behörden und Gerichten klare Vorgaben hinsichtlich der praktischen Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG ermöglichen würden.91 Auf die Beitrittsländer können diese Aussagen wohl kaum bezogen werden. Hinzu kommt, dass nun gerade die osteuropäischen Staaten jahrzehntelang aufgrund der weitgehenden Verstaatlichung der Betriebe erst spät mit einer Wettbewerbskultur in Berührung gekommen sind. Insofern bleibt abzuwarten, inwieweit ein Gericht in Riga oder Danzig in der Lage ist, die im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG erforderliche Abwägung vorzunehmen. Überdies hat der Erlass der VO Nr. 1/2003 auch eine negative Auswirkung auf die Kartellrechte in den Mitgliedsstaaten selbst. In den letzten Jahren konnte eine starke Harmonisierung der einzelstaatlichen Kartellrechte an das europäische Recht festgestellt werden.92 Dabei passten sich die Mitgliedsländer vor allem und gerade auch dem in Art. 81 EG verankerten System des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt an. Dieser „Harmonisierung von unten“93 läuft die VO Nr. 1/2003 deutlich zuwider. Keinesfalls wünschenswert wäre es daher, dass das neue System eine erneute Welle der Rechtsangleichung – nur diesmal in die andere, falsche Richtung – hervorrufen würde. Verstärkt wird dies noch dadurch, dass dem europäischen Recht nun nach Art. 3 der VO Nr. 1/2003 ein noch weitgehenderer Anwendungsbereich im Verhältnis zu den nationalen Regelungen zukommt. Danach haben nationale Wettbewerbsbehörden Art. 81 EG anzuwenden, soweit eine Vereinbarung geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen. Eine Vereinbarung kann nach nationalem Recht nur noch verboten werden, wenn diese auch nach Art. 81 EG unzulässig ist. Gleiches gilt auch für den umgekehrten Fall: Eine Wettbewerbsbeschränkung ist nur dann erlaubt, wenn sie auch nach europäischem Recht zulässig ist. Das nationale Recht bleibt also in jedem Fall hinter dem Gemeinschaftsrecht zurück.94 Aufgrund dieser überragenden Bedeutung des europäischen Wettbewerbsrechts entsteht erneut ein Anpassungsbedarf, um die kleineren und mittleren 90

1. Erwägungsgrund der VO Nr. 1/2003. Vgl. schon oben unter 3. Teil, § 3, C. II. 5. 92 Dreher, in: FS Söllner, S. 217 ff.; Emmerich, in: WRP 2000, 858 (862). 93 Dreher, in: AG 1993, 437 (446 ff.); Dreher, in: FS Söllner, 217 (230). 94 Weitbrecht, in: EuZW 2003, 69 (70 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer faktischen Verdrängungswirkung des europäischen Rechts. Vgl. hierzu auch Hossenfelder/Lutz, in: WuW 2003, 118 (120 f.). 91

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Unternehmen, die noch nach nationalem Recht beurteilt werden, nicht zu benachteiligen.95 Insofern bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber auf die Unterschiede reagieren wird. Auf die Notwendigkeit einer 7. Novelle des GWB wird im Schrifttum bereits hingewiesen.96 Weitbrecht sieht das insofern als Gewinn an, als sich nach einer Harmonisierung des Rechts zumindest die Streitfrage, ob eine Vereinbarung den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtigt oder nicht, erledigen würde.97 Ein deutlich zu hoher Preis für die Aufopferung des deutschen Wettbewerbsstandards. Der eingeschlagene europäische Weg ist nicht zu befürworten und setzt ein falsches Signal für die nationalen Wettbewerbsrechte. Dabei war man gerade auf dem richtigen Weg, die Gewährleistung des freiheitlichen Wettbewerbs durch die Verankerung eines strengen Verbotsprinzips als konstitutives Element einer effizienten und gerechten Wettbewerbspolitik anzuerkennen. Schließlich betont Fikentscher als einen weiteren Effekt der Reform die negative Signalwirkung im Hinblick auf die Etablierung eines „Weltkartellrechts“.98 Die Notwendigkeit eines weltweiten Standards bezüglich der Beurteilung von wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen und von Unternehmenszusammenschlüssen kann im Hinblick auf die Globalisierung nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Orientierungspunkt hierfür kann nur das Wettbewerbsprinzip und eine damit einhergehende effiziente Kontrolle sein. Diesem Vorhaben werden durch die falschen Entscheidungen in Brüssel Steine in den Weg gelegt.

D. Wettbewerbstheoretische Rückschlüsse Diese Nachteile eines Systemswechsels sind hinzunehmen, wenn es theoretisch fundierte Erkenntnisse gibt, die zum Umdenken veranlassen. Daher stellt sich die Frage, ob dieser „Modernisierung“ der europäischen Wettbewerbspolitik ein neues wettbewerbstheoretisches Verständnis im Sinne eines einheitlichen Konzeptes zugrunde liegt.

95 Insofern besteht jetzt eine ähnliche Situation, wie bereits im Rahmen des Fusionskontrollrechts. Auch dort werden KMU aufgrund der strengeren Beurteilung durch das Bundeskartellamt „benachteiligt“, vgl. hierzu Möschel, in: AG 1998, 561 ff. 96 Hierauf weisen Klocker, in: WuW 2002, 1153 und Weitbrecht, in: EuZW 2003, 69 (73) hin. 97 Weitbrecht, in: EuZW 2003, 69 (73). 98 Fikentscher, in: WuW 2001, 446 (455 ff.).

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I. Ursachen für die Reform Während das Grünbuch über vertikale Beschränkungen sowohl eine Untersuchung über die Entwicklungen im Vertriebssektor als auch eine Auseinandersetzung mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen enthält, bleibt das Niveau des Weißbuchs hinter diesem deutlich zurück. Es fand weder eine theoretische noch eine praktische Auseinandersetzung mit den Folgen des Systemwechsels statt. Eine Ursache hierfür könnte sein, dass die Kommission meint, „nur“ das Verfahrensrecht der Art. 81 und 82 EG zu ändern und dabei deren starken materiellrechtlichen Gehalt verkennt. Insofern sind zunächst die unmittelbaren von der Europäischen Kommission genannten Gründe für die Reform zu nennen und auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Primärer Grund für die Reform sei, die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln effizienter zu gestalten. Das zentrale Anmelde- und Genehmigungssystem würde die Kommission in einer erweiterten Gemeinschaft überfordern und wichtige Ressourcen binden, die zur Verfolgung schwerer Wettbewerbsverstöße erforderlich seien.99 Auch stelle sich der administrative und kostenmäßige Aufwand für die Unternehmen als zu hoch dar und gewährleiste diesen zu wenig Rechtssicherheit.100 Das neue Kartellverfahrensrecht ist aus den oben genannten wettbewerbspolitischen Bedenken weder geeignet, die Rechtssicherheit zu erhöhen noch eine Wettbewerbskultur in den Beitrittsländern zu etablieren oder gar die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln effizienter zu gestalten. Verbleibt also der aus dem Anmelde- und Genehmigungssystem resultierende Arbeitsaufwand für die Kommission und die betroffenen Unternehmen. Für Letztere stellt der Verzicht auf das Anmeldesystem, insbesondere im Hinblick auf das entbehrlich werdende Ausfüllen des Formblattes A/B, definitiv eine Erleichterung dar.101 Versetzt sie das neue Recht doch in die für sie glückliche Lage, sofort mit der Umsetzung des Vertrages zu beginnen. Das Ergebnis ihrer vorzunehmenden Selbstveranlagung wird selbstverständlich immer auf Vereinbarkeit ihrer Absprache mit Art. 81 EG lauten. Zweifel bestehen hingegen an der tatsächlichen Existenz des von der Kommission immer wieder erwähnten Massenproblems.102 Diese wurde zwar nach Einführung des Anmeldesystems der VO Nr. 17 mit einer Fülle 99

Weißbuch, Tz. 40; 42; 45; 46; 55. Weißbuch Tz. 42; 50 f.; 76. 101 Womit allerdings der oben aufgezählte Nachteil des Informations- und Transparenzdefizits verbunden ist, vgl. oben unter 3. Teil, § 3, C. II. 3. 102 Zweifelnd und diese Frage auch verneinend Emmerich, in: WRP 2000, 858 f.; Fikentscher, in: WuW 2001, 446 (447). 100

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von Anmeldungen überschüttet, nur ist das heute nicht mehr der Fall. So hat die Kommission durch die bereits vor Erlass der VO Nr. 1/2003 umgesetzten Maßnahmen die Zahl der Anmeldungen von 221 (1998) auf 94 (2001) reduzieren können.103 Dies ist wohl eine zu bewältigende Menge von Neuanmeldungen, zumal die Kommission ihre personellen und materiellen Mittel erheblich aufgestockt hat.104 Die Bewältigung eines nicht mehr existenten Massenproblems kann insofern nicht als Rechtfertigungsgrund für derart einschneidende Veränderungen bemüht werden.105 Aus dem Weißbuch geht hervor, dass die Kommission sehr pragmatisch an die Modernisierung des Kartellverfahrensrechts herangeht, ohne dabei über den Tellerrand des Verfahrensrechts hinauszuschauen. Wettbewerbstheoretische oder wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse fehlen – bewusst oder unbewusst. II. Unrechtsgehalt des in Art. 81 Abs. 1 EG normierten Verbotsprinzips Die Änderungen führen aus wettbewerbstheoretischer Sicht zu einem Paradigmenwechsel. So lässt das gesamte „Modernisierungsprogramm“ der Kommission einen Wandel in der Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen deutlich werden. Die Kommission stellte bereits in ihrem Grünbuch zur Behandlung vertikaler Beschränkungen fest, dass „dem Verzicht auf das Meldesystem auch der Grundsatz entspricht, dass vertikale Wettbewerbsbeschränkungen a priori rechtmäßig sind.“106 Im Umkehrschluss bedeutet dies für die VO Nr. 1/2003, durch welche das Anmeldesystem in seiner Gesamtheit abgeschafft wird, dass alle Arten von Wettbewerbsbeschränkungen von Anfang nicht mehr der Vermutung der Unrechtmäßigkeit unterliegen. Unterstrichen wird dies durch die Aussagen der Kommission im Weißbuch, in dem es 103

Vgl. hierzu die im XXXI. Wettbewerbsbericht (2001) auf S. 60 abgedruckte Statistik. Insbesondere geht aus dieser hervor, dass allein die Änderungen der VO Nr. 17 und der Erlass der Vertikal-GVO einen großen Beitrag dazu geleistet haben, dass weniger Vereinbarungen angemeldet wurden. Dies ergibt sich auch aus dem XXX. Wettbewerbsbericht (2000), S. 6. Nach Aussagen Montis beruht der 40prozentige Rückgang von Anmeldungen zweifelsohne auf den neuen Regelungen für vertikale und horizontale Vereinbarungen. 104 XXXI. Wettbewerbsbericht (2001), S. 4. 105 Hierfür sprechen auch die von Emmerich, in: WRP 2000, 858 (862) zitierten Aussagen von Vertretern der Generaldirektion IV, dass man auch bei Verdoppelung des Personals an den Reformvorhaben festhalten würde. Vgl. auch Möschel, in: EuZ 2000, 22. 106 Grünbuch, Tz. 217.

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heißt, dass „ein Verbotssystem nicht notwendigerweise von der Vermutung der Unrechtmäßigkeit sämtlicher wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen ausgehen muss“.107 In die gleiche Richtung weist die Aussage, dass es „im Rahmen des Artikels 85 EG-Vertrages keine Vermutung der Nichtigkeit von Vereinbarungen gibt“.108 Geht man aber nicht mehr von der Unrechtmäßigkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen aus, so bedeutet das nichts anderes, als deren grundsätzliche Zulässigkeit anzunehmen.109 Damit offenbart sich eine großzügigere Behandlung aller Arten von Wettbewerbsbeschränkungen, insbesondere also auch gegenüber klassischen Kartellabsprachen. Dieser Sinneswandel in der Beurteilung des Gefährdungspotentials belegt erneut die Annäherung an eine Missbrauchskontrolle. Diese kommt als Erfassung wettbewerbsbeschränkender Strategien vor allem dann in Betracht, wenn in der Regel die Wettbewerbskonformität der Vereinbarung überwiegt.110 Daher basiert auch sie auf der Vermutung der Rechtmäßigkeit.111 Worauf dieser Sinneswandel in der Beurteilung des Gefährdungspotentials von Wettbewerbsbeschränkungen beruht, wird hingegen nicht erläutert. Trotz der zum Teil sehr großen Differenzen in der wettbewerbstheoretischen Diskussion gibt es zumindest hinsichtlich der Bewertung von Kartellabsprachen bei den meisten Konzeptionen einen dahingehenden Konsens, dass diese tendenziell schädliche Auswirkungen auf den Wettbewerbsprozess haben und daher grundsätzlich als unzulässig einzuschätzen sind. Traditionell ein strenges Vorgehen gegenüber Wettbewerbsbeschränkungen jeglicher Art wurde von den Vertretern des Ordoliberalismus verlangt. Eine aktive staatliche Wettbewerbspolitik wurde als notwendig erachtet, um das Individuum vor privater Macht zu schützen.112 Aus diesem Grund wurde sich insbesondere von Eucken für ein striktes per-se-Verbot aller wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen eingesetzt.113 107

Weißbuch, Tz. 48. Weißbuch, Tz. 78. 109 Dies steht erneut eindeutig im Widerspruch zu der von Art. 81 EG vorgegebenen Systematik. Dieser sieht als Grundsatz in Abs. 1 das Verbot und in Abs. 2 als Rechtsfolge die Nichtigkeit der Wettbewerbsbeschränkung vor. Erst im dritten Absatz werden Ausnahmen von dem Grundsatz zugelassen. Diese Rangfolge von Grundsatz und Ausnahme impliziert die Unrechtmäßigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen. 110 Schmidt, S. 159 f.; Baur, S. 1. 111 Sölter, in: WuW 1955, 230; Brinker, S. 17. 112 Eucken, S. 267. 113 Eucken, in: ORDO Bd. 2 (1949), 1 (33). 108

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Gleiches gilt für das Konzept der Wettbewerbsfreiheit. Zwar nahmen dessen Anhänger, allen voran Hoppmann, eine skeptische Haltung gegenüber dem Staat ein, dennoch sollte diesem die Aufgabe obliegen, allgemeine Spielregeln zu formulieren, welche die Wettbewerbsfreiheit für die Marktteilnehmer gewährleisten.114 So erachtete Hoppmann alle Kartellabsprachen grundsätzlich als unzulässig und auch Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot derartiger Vereinbarungen sollten nicht zugelassen werden.115 Sogar die „Workability“-Konzepte, die sich in der Regel für Einzelfalltests einsetzten, befürworteten im Sinne der Rechtssicherheit und der administrativen Effizienz per-se-Verbote für bestimmte Horizontalvereinbarungen.116 Kantzenbach mit seinem System der optimalen Wettbewerbsintensität hilft aufgrund seines begrenzten Aussagegehalts hinsichtlich wettbewerbspolitischer Handlungsempfehlungen nicht weiter.117 Klarer hingegen stuft Herdzina allgemeine Kartellabsprachen als mutmaßlich freiheitsbeschränkendes Marktverhalten ein.118 Ein auf Rechtssicherheit beruhendes System hat daher diese per se zu verbieten und sollte nicht mittels einer Einzelfallanalyse einen wettbewerbspolitischen ad-hocInterventionismus auslösen können.119 Ein weniger strenges Vorgehen gegenüber wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen wird hingegen von den Anhängern industriepolitischer Konzeptionen vertreten. Lässt eine Wettbewerbsbeschränkung eine Verbesserung der Marktergebnisse erwarten und erhöht damit die Wohlfahrt, so ist diese zulässig.120 Hiernach steht also nicht der Marktprozess, sondern das konkrete Marktergebnis im Vordergrund. Aufgrund des Vertrauens der Anhänger der Chicago School auf die langfristige Wirksamkeit des Marktmechanismus wird der staatliche Handlungsbedarf im Rahmen der Wettbewerbspolitik als gering angesehen. Dennoch stehen auch sie bestimmten wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen zumindest kritischer gegenüber als der strukturbedingten Konzentra114

Hoppmann, Fusionskontrolle, S. 10. Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 215. 116 Ackermann, S. 69 f. 117 Vgl. Ruffner, S. 46. Aufgrund seines Referenzmodells des weiten Oligopols beschäftigte sich Kantzenbach primär mit internem und externem Unternehmenswachstum. 118 Herdzina, S. 50 ff. 119 A. a. O., S. 53. Dabei sollte sich die Einzelfallprüfung darauf beschränken, ob die kodifizierten Tatbestandsmerkmale erfüllt sind oder nicht. 120 Bletschacher/Klodt, S. 164. 115

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

tion.121 Daher gehören auch Horizontalvereinbarungen, im Gegensatz zu vertikalen Absprachen, zu den wenigen Bereichen, in denen ausnahmsweise eine aktive Wettbewerbspolitik betrieben werden kann.122 Das Beibehalten des grundsätzlichen Verbotsprinzips wird dabei auch von den Anhängern der Chicago School zumindest für einen Teil von horizontalen Vereinbarungen, wie beispielsweise Preisabsprachen123, befürwortet. Nach Bork soll aber die staatliche Handlungspriorität auf die Bekämpfung und Verfolgung ausdrücklicher und stillschweigender horizontaler Absprachen gelegt werden.124 In diesen Fällen stünden den Nachteilen keine produktiven Effizienzvorteile gegenüber. An der Vorgehensweise der Kartellbehörden kritisierte Posner deren vermeintliche Neigung, ihre knappen Ressourcen für kleine, unbedeutende Kartelle zu verschwenden, während die großen Kartelle unberührt blieben.125 Eine Kritik, die anscheinend bei der Kommission angekommen ist. Vornehmlicher Zweck der VO Nr. 1/ 2003 ist es schließlich, die Kommission in die Lage zu versetzen, die wirklich großen Fische fangen zu können. Auch scheint es der europäischen Wettbewerbspolitik weniger als zuvor um den Schutz der individuellen Handlungsfreiheit zu gehen. Seien Kartelle doch deswegen unzulässig, weil sie keinen gesamtwirtschaftlichen Nutzen bringen würden.126 Insofern wird auch deutlich, worum es in Zukunft im europäischen Wettbewerbsrecht geht: um die gesamtwirtschaftliche Effizienz. Damit ist die Abkehr von sämtlichen systemtheoretischen Ansätzen vollzogen. Der Wandel im Verständnis des Unrechts einer Wettbewerbsbeschränkung steht damit tendenziell im Lager der industriepolitischen Konzeptionen und der Chicago School. Insbesondere zu Letzterer konnten mehrere Parallelen festgestellt werden. Gleichzeitig kann das nunmehr liberalere Verständnis als Reaktion auf die Thesen der Chicago School interpretiert werden. Schwer damit in Einklang zu bringen sind alle sich dem Wettbewerbsprinzip verpflichtet sehenden Konzeptionen.

121 Schmidt/Rittaler, in: WiSt 15 (1986), 283 (288). Vgl. auch schon oben unter 1. Teil, § 2, F. 122 Mantzavinos, S. 47. 123 Bittlingmayer, in: WuW 1987, 709 (715); Schmidt, S. 23. Wobei beide Autoren auf die zum Teil taktische Vorgehensweise hinweisen, um nicht die Wettbewerbspolitik in toto zurückzuweisen. 124 Bork, S. 406. 125 Bittlingmayer, in: WuW 1987, 709 (715). 126 XXXI. Wettbewerbsbericht (2001), S. 4.

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III. Der neue „ökonomische“ Ansatz Hat man einst nur die Einbringung ökonomischer Effizienzgesichtspunkte vermuten und bedingt nachweisen können, spricht vieles dafür, dass diese immer mehr Einzug in die europäische Wettbewerbspolitik der Kommission erhalten haben und auch in Zukunft weiterhin an Bedeutung zunehmen werden. Häufig wurde die ökonomische Betrachtungsweise als Grundlage des Modernisierungsprogramms bezeichnet.127 Dabei ist allerdings unklar, was konkret darunter zu verstehen ist. Ein nachvollziehbarer Anhaltspunkt hierfür bietet die Vertikal-GVO. Hierzu wurde ausgeführt, dass die ökonomische Betrachtungsweise bedeute, dass sich mehr an der Marktstruktur orientiert werde und weniger an dem Inhalt einer Vereinbarung. Diese begrüßenswerte Sichtweise ist aber nur bedingt auf Horizontalvereinbarungen zu übertragen, da diese – wie die Kommission selbst feststellt128 – ganz andere Gefahren für den Wettbewerb darstellen. Der neue Ansatz muss daher vielmehr im Zusammenhang mit der ökonomischen Analyse des Rechts in der Spielart der Lehren der Chicago School verstanden werden. Die Bewertung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen soll nun anhand der ökonomisch effizienten Ressourcenallokation vorgenommen werden. Dies bestätigte eine Vielzahl von Äußerungen der Kommission. So heißt es im Grünbuch über vertikale Beschränkungen, dass Wettbewerbsbeschränkungen desto eher gerechtfertigt werden können, je größer der zu erwartende Effizienzgewinn ausfällt.129 Auch für klassische Kartelle soll in Zukunft bei der Einzelfallprüfung eine stärker wirtschaftlich geprägte Betrachtungsweise der Vereinbarung im Vordergrund stehen.130 In die gleiche Richtung weisen auch die Leitlinien der Kommission über die horizontale Zusammenarbeit von Unternehmen.131 Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit wird das vom EuGH postulierte und über Jahrzehnte auch von der Kommission angewandte Selbständigkeitspostulat deutlich eingeschränkt. Auch bei klassischen Kartellen soll nunmehr die Marktmacht 127 Vgl. z. B. Weißbuch, Tz. 78; XXIX. Wettbewerbsbericht (1999), S. 3 (Tz. 11); XXX. Wettbewerbsbericht (2000), S. 3. 128 Leitlinien, Tz. 100. So bezeichnet auch der Wettbewerbskommissar Monti Kartellpraktiken als „echtes Krebsgeschwür“ für eine offene und moderne Marktwirtschaft, vgl. XXXI. Wettbewerbsbericht (2001), S. 4. 129 Grünbuch, Tz. 85 unter vi. 130 Weißbuch, Tz. 78. 131 Vgl. zu diesen: Stopper, in: EuZW 2001, 426 ff.; Geiger, in: EuZW 2000, 325 ff.; Immenga/Stopper, in: RIW 2001, 241 ff.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

der beteiligten Unternehmen für das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung ein ausschlaggebender Aspekt sein. Das im Rahmen des Selbständigkeitspostulats erforderliche Abstellen auf die Handlungsfreiheit der Beteiligten ist ein eindeutiges Element der Theorie der Wettbewerbsfreiheit und auch des Ordoliberalismus.132 Mit der Abkehr von der bisherigen Vorgehensweise, zumindest für einen Teil von horizontalen Vereinbarungen, wird das Wettbewerbsprinzip erneut geschwächt. Der Wandel zu ökonomischen Effizienzüberlegungen kann erneut konstatiert werden. Andererseits betont die Kommission in ihrem Weißbuch, dass die Unternehmen durch die Reform ein höheres Maß an Freiheit bei der Gestaltung ihrer Verträge erlangen würden133, sodass zumindest insofern die Berücksichtigung des freiheitlichen Gedankenguts festgestellt werden könnte. Dabei ist aber zu bedenken, dass auch nach dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit und des Ordoliberalismus die Vertragsfreiheit nicht dazu benutzt werden darf, die Handlungsfreiheit anderer einzuschränken. Aus dem neuen Ansatz folgt zwar, dass die Vertragsgestaltungsfreiheit der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen zunimmt, aber gleichzeitig kann dadurch die Freiheit Dritter erheblich eingeschränkt werden. Es kann nicht ernsthaft daran gezweifelt werden, dass Kartelle Verträge zu Lasten der Mitwettbewerber, der Newcomer und der Verbraucher darstellen.134 Die Kommission hat es bisher bedauerlicherweise versäumt, näher darzulegen, was genau unter ihrem zukünftigen wirtschaftlichen Ansatz zu verstehen ist. Die bisherigen Maßnahmen erwecken den Eindruck, dass hiermit als Konsequenz der neuen Sichtweise ausschließlich die großzügigere Zulassung von Wettbewerbsbeschränkungen zwecks Steigerung der ökonomischen Effizienz der Unternehmen und damit der gesamten europäischen Wirtschaft erreicht werden soll. Dies geht zulasten der Wettbewerbsfreiheit. IV. Industriepolitisches Einfallstor? Schließlich stellt sich die Frage, ob das Abstellen auf ökonomische Effizienzüberlegungen gleichzeitig bedeutet, industriepolitischen Konzeptionen Vorschub zu leisten. Die Abschwächung des Verbotsprinzips durch die integrale Prüfung des Art. 81 Abs. 3 EG hat zur Folge, dass zunehmend außerwettbewerbliche Kriterien in die Beurteilung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen mit einfließen können.135 Die Kommission bekennt sich zwar erfreu132 133 134

Vgl. oben unter 1. Teil, § 4, B. III. 2. b). Weißbuch, Tz. 71. Rittner, in: DB 1999, 1485.

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licherweise im Weißbuch ausdrücklich zum Wettbewerbsprinzip, indem sie ausführt, dass Art. 81 Abs. 3 EG nicht den Ausschluss der Wettbewerbsregeln aus politischen Gründen ermöglichen soll136, aber was hilft es, wenn sie nur noch in seltenen Fällen für die Anwendung der Vorschrift zuständig sein will. Dieses wünschenswerte Ziel der Nichtpolitisierung des Wettbewerbsrechts läuft daher Gefahr, kein Gehör zu finden. Schließlich wenden nun die Mitgliedsstaaten Art. 81 Abs. 3 EG an. Die Beihilfepolitik dieser zeigt, wie wenig das übergeordnete Prinzip des Wettbewerbs und wie stark die Förderung von „national champions“ im Vordergrund steht. Möschel bezeichnet daher die Mitgliedsstaaten zu Recht als die eigentlich gefährlichen „bösen Buben“.137 Da diese nunmehr primär für die auf Effizienzgründen basierende Abwägung zuständig sind, ist eine Politisierung der bisher größtenteils glücklicherweise davon verschont gebliebenen europäischen Wettbewerbspolitik zu erwarten. Auftrieb leisten hierbei zusätzlich die wettbewerbspolitischen Implikationen der Verträge von Maastricht und Amsterdam.138 Der nunmehr in Art. 2 EG explizit aufgeführte hohe Grad an Wettbewerbsfähigkeit verleiht der Industriepolitik eine erhebliche Bedeutung. Diese Konkurrenzfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt zieht sich seit neuestem daher auch wie ein roter Faden durch die Begründungen der angestrebten Maßnahmen. So muss auch nach dem Weißbuch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft mit allen Mitteln gefördert werden, wofür die rechtlichen Rahmenbedingungen mitentscheidend sind.139 Zu welchen Mitteln außer der missglückten „Modernisierung“ des Kartell„verfahrens“rechts gegriffen wird, bleibt abzuwarten. Hoffnungsfroh kann es einen aufgrund der aufgezeigten Tendenzen jedoch nicht stimmen. Die Zeichen stehen aufgrund des Modernisierungsprogramms in Zusammenschau mit den Revisionen von Maastricht und Amsterdam schlechter denn je für das Wettbewerbsprinzip. Aber nicht nur von den Mitgliedsstaaten droht eine Instrumentalisierung der Wettbewerbsregeln, sondern auch die neue Stellung der Kommission birgt diese Gefahr in sich. Auch hier zeigen sich ähnliche Tendenzen, die aus mehreren Gründen abzulehnen sind. Die Kommission, sprich die Generaldirektion IV, will sich Freiraum verschaffen, um primär als Verfolgungsbehörde tätig zu werden.140 In diesem 135

Vgl. bereits zur Abschwächung des Verbotsprinzips oben unter 3. Teil, § 3, C.

II. 1. 136 137 138 139 140

Weißbuch, Tz. 57. Möschel, in: Wirtschaftsdienst 1999, 504 (510). Vgl. oben unter 1. Teil, § 3, A. II. Weißbuch, Tz. 50. Weißbuch, Tz. 8; 3. Erwägungsgrund der VO Nr. 1/2003.

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3. Teil: Systemwechsel in der EG?

Sinne will sie vor allem Präzedenzfälle mit sehr großer Bedeutung aufgreifen und diese mittels sog. Positiventscheidungen oder Verbotsentscheidungen abschließend beurteilen.141 Dabei unterstützt wird sie auf bedenkliche Weise durch Art. 11 Abs. 6 der VO Nr. 1/2003. Dieser ermächtigt sie, jedes beliebige Verfahren an sich zu ziehen. Zudem sieht die VO Nr. 1/2003 vor, dass die Kommission bei Zuwiderhandlungen sowohl verhaltensorientierte Abhilfemaßnahmen als auch solche struktureller Art anordnen kann.142 Die Monopolkommission kritisiert in diesem Zusammenhang zurecht, dass diese Befugnisse zu einer laufenden Verhaltenskontrolle über Unternehmen führen können.143 Eine von oben angeordnete Lenkung des Wirtschafts- und Wettbewerbsprozesses scheint möglich. Die Europäische Kommission gibt zwar ihr Freistellungsmonopol auf, will aber weiterhin als Hüterin der Verträge eine besondere Rolle bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts spielen144 und die Wettbewerbspolitik weiterentwickeln.145 Hierzu wird sie sich auch weiterhin Gruppenfreistellungsverordnungen und den denkbar unglücklichen Verlautbarungsformen der Bekanntmachungen, Mitteilungen und Leitlinien bedienen.146 Auch hierdurch können, relativ unkontrolliert, politische Erwägungen in das europäische Wettbewerbsrecht einfließen. Bereits im Grünbuch deutete sich dabei an, wozu die Kommission zumindest meint, ermächtigt zu sein. Die Option IV enthielt schon recht eindeutig die begrenzte Einführung des Missbrauchsprinzips.147 Es wurde angedacht, vertikale Vereinbarungen von Unternehmen mit einem geringeren Anteil als 20% unter die widerrufbare Nichtanwendbarkeit des Art. 81 Abs. 1 EG zu stellen (sog. Negativattestannahme).148 Dies hätte mittels einer Bekanntmachung der Kommission in die Realität umgesetzt werden sollen. Man stelle sich mal vor: Die Kommission maßt sich über den Weg einer unter dem Sekundärrecht stehenden Bekanntmachung an, die materiellen Voraussetzungen des Verbotstatbestandes zu ändern. Bereits dieser of141

Weißbuch, Tz. 87. Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1/2003; 12. Erwägungsgrund der VO Nr. 1/2003. 143 Monopolkommission, Sondergutachten 28, Tz. 53 a. E. Dies mahnt sogar der Reform-Befürworteter Geiger, in: EuZW 2000, 165 (168) an. 144 Weißbuch, Tz. 83. 145 Vorschlag der Komm. vom 27.09.2000 für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln, Dok. KOM (2000), 582 endg., S. 21. Im Folgenden wird dieser als Vorschlag bezeichnet. 146 Vorschlag, S. 12; 21. 147 So auch Ackermann, in: EuZW 1997, 271 (274). 148 Grünbuch, Tz. 293 ff. 142

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fensichtlich vertragswidrige Vorschlag der Kommission zeigt, mit welcher Art von Maßnahmen man in Zukunft zu rechnen hat.149 Die Zusammenschau sämtlicher im Rahmen des Modernisierungsprogramms erfolgten Akte der Kommission erwecken den Eindruck, dass die Kommission sich weit über ihre Befugnisse hinaus Kompetenzen verschafft hat, die sie ungehindert ihre Politik verfolgen lässt. Es kann insofern nicht verwundern, dass diese Vorgehensweise als „juristischer Trick“150 oder als Mittel zur Durchführung einer „nahezu unkontrollierbaren Industriepolitik“151 verstanden wird. Die Diskussion um eine unabhängige europäische Kartellbehörde scheint unter diesem Aspekt aktueller denn je. Es täte gut daran, die Worte des derzeitigen Wettbewerbskommissars Monti ernst zu nehmen:152 „Unsere Arbeit steht im Dienst des europäischen Bürgers.“

149 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die neuen Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Art. 81 EG auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit. 150 Rittner, in: EuZW 2000, 129. Dieser stellt m. E. völlig zu Recht in Frage, ob auf europäischer Ebene noch das Gewaltenteilungsprinzip eingehalten wird. 151 Emmerich, in: WRP 2000, 858 (862). Weitbrecht, in: EuZW 2003, 69 (70) sieht hingegen in dem Erlass der VO Nr. 1/2003 die endgültige Loslösung der Praxis von dem Modell der Durchsetzung anderer Gemeinschaftspolitiken. Eine Begründung hierfür findet sich hingegen nicht. 152 XXXI. Wettbewerbsbericht (2001), S. 3.

4. Teil

Thesenartige Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse 1. Teil Bisheriges Wettbewerbsrecht der EG – ein Konzept? Normativ liegt der europäischen Wettbewerbspolitik kein einheitliches ordnungspolitisches Konzept zugrunde. Mit der europäischen Wettbewerbspolitik soll eine Vielzahl von heterogenen Zielen verfolgt werden. Wettbewerb wird nicht als Wert an sich im Sinne der freiheitlichen Theorien verstanden, sondern als Instrument zur Verwirklichung des Maßnahmenkataloges. Der Zielpluralismus stimmt mit der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs und industriepolitischen Ansätzen überein. Zugleich werden aber auch freiheitliche Aspekte berücksichtigt, was im Sinne der klassischen Nationalökonomie, des Ordoliberalismus sowie der Theorie der Wettbewerbsfreiheit ist. Die neueren Ansätze zur Berücksichtigung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt lassen hingegen auch Parallelen zur Chicago School of Antitrust Analysis und zu industriepolitischen Konzepten zu. Dem Wettbewerbsprinzip wurde zwar von Beginn der EWG an eine starke Stellung zugewiesen. Deutlich geschwächt wird diese aber durch die wettbewerbspolitischen Implikationen der Verträge von Maastricht und Amsterdam. Art. 81 Abs. 1 EG wird extensiv von den Gemeinschaftsorganen ausgelegt. Vor allem offenbart sich dabei von der Kommission eine zum Teil zweckorientierte Vorgehensweise, die deutlich an die Grenzen des Wortlauts der Vorschrift stößt. Dies kann vor allem dann festgestellt werden, wenn Maßnahmen vom Verbotstatbestand erfasst werden sollen, die den Parallelhandel behindern oder Märkte voneinander abzuschotten drohen. Ganz im Sinne der Binnenmarktkomponente wird auch das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung weit ausgelegt. Geschützt wird durch Art. 81 Abs. 1 EG jede Form des Wettbewerbs auf jeder Marktstufe. Dabei wurde bereits früh der selbständige Schutzgutcharakter des Intrabrand-Wettbewerbs anerkannt.

4. Teil: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

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Die bisherige Vorgehensweise der Gemeinschaftsorgane bei der Bewertung selektiver Vertriebssysteme im Rahmen des Art. 81 EG ist gekennzeichnet durch die Differenzierung nach offenen Vertriebssystemen, einfachen und qualifizierten Fachhandelsbindungen sowie der quantitativen Selektion. Während die ersten beiden Formen des selektiven Vertriebs nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG fallen, stellen die anderen beiden stets Wettbewerbsbeschränkungen dar und bedürfen einer Einzelfreistellung nach Art. 81 Abs. 3 EG. Insbesondere die Ausklammerung der einfachen qualitativen Selektion aus dem Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG bereitet Probleme, da formal eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt. Die im Schrifttum unternommenen Versuche, die tatbestandliche Restriktion zu erklären, überzeugen nicht. Es liegt weder ein nicht schützenswerter Wettbewerb vor, noch kann den Gemeinschaftsorganen eine Vorgehensweise nach einer Rule of Reason attestiert werden. Lediglich partiell und mittelbar hat die pragmatische Vorgehensweise der Kommission und des EuGH eine Abwägung zwischen Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb zur Konsequenz. Eindeutig ist den Entscheidungen aber zu entnehmen, dass dem Intrabrand-Wettbewerb im Grundsatz stets eigenständiger Schutz gewährleistet werden soll, allein schon aufgrund dessen möglichen Beitrages für die Marktintegration. Im bisherigen Recht stand und fiel die Zulässigkeit des selektiven Vertriebs mit der produktbedingten Erforderlichkeit. Sowohl die vom Hersteller angewandten Selektionskriterien als auch die in einem Vertragswerk vereinbarten Verpflichtungstatbestände1 sind im Verhältnis zu der Produkteigenschaft akzessorisch. Rechtfertigt ein Produkt aufgrund seiner Qualität oder technischen Beschaffenheit nicht den Vertrieb über ausgewählte Händler, sind alle Vertriebs-, Absatz-, Bezugs-, Kontroll- und sonstige Bindungen unzulässig und auch nicht einzelfreistellungsfähig. Neben der produktbedingten Notwendigkeit des selektiven Vertriebs wurden als weitere Voraussetzung stets die Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien sowie deren diskriminierungsfreie Anwendung geprüft. All diese Zulässigkeitsvoraussetzungen stellen Maßnahmen zum Zweck der Sicherung der Händlerfreiheit und des Schutzes des Intrabrand-Wettbewerbs dar. Mit dieser eigenständigen Schutzbedürftigkeit der markeninternen Konkurrenz setzt sich das europäische Recht deutlich in Widerspruch zu den Lehren der Chicago School. 1 Vgl. für die Ergebnisse hinsichtlich der Bewertung der einzelnen Vertragsklauseln die Tabelle im Anhang 2.

336

4. Teil: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Ein leichter Wandel in dieser Vorgehensweise kann seit Anfang der 90er Jahre festgestellt werden. Großzügiger wurden manche Vertragsklauseln zugelassen und dementsprechend mehr als bisher das Recht des Herstellers an einer autonomen Vertriebswegegestaltung berücksichtigt. Auch kann den Entscheidungen mehr als zuvor entnommen werden, dass eine Abwägung zwischen Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerbsbeschränkung stattfindet. Ein „Quasi-per-se-Verbotsbereich“ besteht aber nach wie vor für Preisbindungen sowie für alle Verpflichtungen, die eine Marktaufteilung zur Folge haben, wie Quer- und Rücklieferungsverbote. Gleichsam restriktiv werden quantitativ selektierende Vertriebssysteme freigestellt. Bei der bisherigen Freistellungspraxis der Kommission haben die Marktstruktur und die kumulativen Wirkungen gleichartiger Netze selektiver Vertriebssysteme kaum eine Rolle gespielt. Zudem steht auch im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG weniger die einzelne Vertragsklausel im Mittelpunkt des Interesses, als vielmehr das vom Hersteller verfolgte Selektionskonzept. Das bisherige Recht des selektiven Vertriebs ist gekennzeichnet durch die Berücksichtigung des Trias Interbrand-, Intrabrand- und Intertype-Wettbewerbs. 2. Teil Die Beurteilung des selektiven Vertriebs nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen Die Veritkal-GVO bringt aus systematischer, materiell- und verfahrensrechtlicher Sicht eine Vielzahl von Neuerungen mit sich, die Ausdruck ihres neuen Verständnisses vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen sind. Hinsichtlich der konkreten Behandlung selektiver Vertriebssysteme spielen die im ersten Teil herausgearbeiteten Prinzipien im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO kaum mehr eine Rolle. Die Vertikal-GVO verabschiedet sich von den bisherigen Paradigmen des Rechts des selektiven Vertriebs. Es wird nicht mehr auf die produktbedingte Erforderlichkeit, auf die Verhältnismäßigkeit der Auswahlkriterien oder auf deren diskriminierungsfreie Anwendung abgestellt. Einher geht damit die großzügigere Zulassung selektiver Vertriebssysteme. Eine Differenzierung zwischen einfacher und qualifizierter Fachhandelsbindung und quantitativer Selektion findet nicht mehr statt. Sofern der Lieferant einen Marktanteil unter 30% hält und das Vertragswerk keine der

4. Teil: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

337

in Art. 4 genannten Kernbeschränkungen enthält, ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Durch die Vertikal-GVO findet eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Interbrand- und Intrabrand-Wettbewerb statt. Zwar fallen unter die Kernbeschränkungen auch Verpflichtungstatbestände, die eindeutig den Schutz des Intrabrand-Wettbewerbs bezwecken sollen. Die markeninterne Konkurrenz hat aber dennoch einen großen Teil ihres eigenständigen Schutzgutcharakters verloren. Dies wird vor allem durch die Neuregelungen für den selektiven Vertrieb belegt, welche die wettbewerbspolitischen Kriterien zur Sicherstellung des Intrabrand-Wettbewerbs abgeschafft haben. Auch der Umstand, dass die Anwendung der Vertikal-GVO unter den Vorbehalt des Marktanteilskriteriums gestellt wird, ist Ausdruck des gewandelten wettbewerbstheoretischen Verständnisses der Kommission. Der neue Regelungsansatz geht davon aus, dass bei einem Marktanteil von 30% der Interbrand-Wettbewerb ausreicht, um die Beschränkungen des IntrabrandWettbewerbs auszugleichen. Die Europäische Kommission bekennt sich nunmehr ausdrücklich zu den Effizienzargumenten der Chicago School und macht diese zur Grundlage der europäischen Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen. So lassen sich auch deutliche Parallelen zu den Verrtical Restraints Guidelines der USA ziehen. Ein wesentlicher Unterschied zu den Thesen der Chicago School besteht aber noch insofern, als die Kommission weiterhin kritisch gegenüber Vertikalvereinbarungen eingestellt ist, wenn diese mit Marktmacht einhergehen. Alarmierend, aber ganz im Trend der neuen Vorgehensweise der Kommission, sind die Begleiterscheinungen der Vertikal-GVO. Es offenbart sich eine wenig rechtsstaatliche und dogmatisch zweifelhafte Vorgehensweise. So verschafft sich die Kommission einen erheblichen diskretionären Entscheidungsspielraum, sei es durch die nicht verbindlichen Leitlinien und den darin enthalten Aussagen oder aber durch die Möglichkeit, Suspensivverordnungen zu erlassen. 3. Teil Systemwechsel in der EG? Während die Vertikal-GVO eindeutig noch vom Wortlaut der ErmächtigungsVO Nr. 19/65 gedeckt ist, gestaltet sich die Vereinbarkeit mit den primärrechtlichen Vorgaben der Art. 81, 83 EG schwieriger. So kann die EG-Vertragskonformität der Vertikal-GVO nur dann begründet werden, wenn man statt des Erfüllens der materiellen Freistellungsvoraussetzungen

338

4. Teil: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

des Art. 81 Abs. 3 EG die Bedürfnisse nach einer vereinfachten Verwaltungskontrolle und nach Rechtssicherheit in den Vordergrund stellt. Bereits der Erlass der Vertikal-GVO sowie die Änderungen der VO Nr. 17 können als erste Schritte auf dem Weg zu einem Systemwechsel gewertet werden. Deutlich wohnen diesen Maßnahmen bereits Elemente der Legalausnahme mit Tendenz zur Missbrauchskontrolle inne. Die wesentliche Schwächung des Verbotsprinzips bringt die Einführung des Legalausnahmesystems durch die VO Nr. 1/2003. Art. 81 EG enthält eine verfahrensrechtliche Komponente, die mit dem Verbotsprinzip untrennbar verbunden ist. Die vorherige Anmeldung und damit präventive Kontrolle ist Wesensgehalt des Art. 81 EG. Insofern verstoßen bereits die Änderungen der VO Nr. 17 genauso gegen den EG-Vertrag wie die VO Nr. 1/2003. Die wettbewerbspolitischen Bedenken gegen die Einführung der Legalausnahme sind beträchtlich. Neben der Abschwächung des Verbotsprinzips sind vor allem die mangelnde Effizienz des neuen Systems, das daraus entstehende Informationsdefizit, die Rechtsunsicherheit für die Unternehmen sowie die negative Signalwirkung auf die jetzigen Mitgliedsstaaten, die Beitrittsländer und auf die Etablierung eines „Weltkartellrechts“ zu nennen. Das Modernisierungsprogramm der Kommission bedeutet nichts anderes als das Verbotsprinzip nur noch formal bestehen zu lassen bei gleichzeitiger faktischer Annäherung an eine Missbrauchskontrolle. Mit der Schaffung dieser Mischform von „Verbots- und Missbrauchsprinzip“ wird der Systemwechsel im europäischen Recht vollzogen. Aus wettbewerbstheoretischer Sicht ergibt sich ein Wandel in der Betrachtungsweise des Unrechtsgehalts einer Wettbewerbsbeschränkung. Es wird nicht mehr von dem Unrecht derartiger Vereinbarungen ausgegangen, sondern der Systemwechsel zeigt, dass sowohl vertikale als auch horizontale Absprachen der Vermutung der Rechtmäßigkeit unterliegen. Diese neue Sichtweise der Kommission steht tendenziell im Lager industriepolitischer Konzeptionen und der Chicago School. Insofern sind die wettbewerbspolitischen Implikationen der Verträge von Maastricht und Amsterdam Rechtsrealität geworden. Immer wieder stellt die Kommission in den Vordergrund, dass sie nunmehr eine ökonomische Betrachtungsweise bei der Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen einnehmen will. Damit kehrt sie allen systemtheoretischen Ansätzen den Rücken zu und strebt eine auf Effizienzgesichtspunkten basierende ökonomische Analyse des Rechts an. Ob daneben die Neuregelungen auch für rein industriepolitische Zwecke instrumentalisiert werden, bleibt abzuwarten. Der Rechtsrahmen hierfür ist

4. Teil: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

339

aufgrund des erheblichen Ermessensspielraums sowohl für nationale Behörden und Gerichte als auch für die Europäische Kommission geschaffen worden. Insofern erscheint die Politisierung des europäischen Kartellrechts wahrscheinlicher als dessen Verrechtlichung.

Anhang 1

Vertragliche Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme

Anhang 1

Vertragliche Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme

Anhang 1

341

Anhang 2

Die bisherige Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach Art. 81 EG Auswahlkriterium/Vertragsklausel

Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG

Freistellungsfähigkeit

Selektion (Grundvoraussetzung ist stets die produktbedingte Erforderlichkeit) • Fachliche Anforderungen an den Händler und sein Personal



• Fachliche Anforderung an den Ladeninhaber

+

• Anwesenheit fachlich qualifiziertes Personals während Ladenöffnungszeiten



• Zugänglichkeit des Geschäftslokals während Ladenöffnungszeiten



• Zentrale Lage

+/–

• Verkaufslokal in unmittelbarer Nähe zu Läden, die Image nicht schädigen



• Fassade des Geschäfts nach Vorstellung des Herstellers



• Angemessene Gestaltung des Firmenschilds





+/–

• Größe und Dekoration des Schaufensters



• Einrichten und Unterhalten einer Fachabteilung/ besondere Verkaufsfläche



• Kundendienst und ähnliche Dienstleistungen (Garantie- und Servicearbeiten)



• Anforderungen an Lagerhaltung, soweit es um Qualitätssicherung geht



• Mindestlagerbestand

+

+

• Pflicht, Umsatz mit Produkten zu erzielen, zu denen auch Vertragsware zählt

+



• Pflicht, Sortiment so vollständig wie möglich zu führen

+

+

• Pflicht, an Werbeveranstaltungen des Herstellers teilzunehmen

+

+

Anhang 2 Auswahlkriterium/Vertragsklausel

343 Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG

Freistellungsfähigkeit

• Verwendung des vom Hersteller zur Verfügung gestellten Werbematerials



• Verbot, mit Abhol-, Selbstbedienungs-, und Mitnahmepreisen zu werben



• Quantitative Selektion

+

+/–

+/–

+/–

Persönliche Vertriebsbindungen, abhängig von produktbedingter Erforderlichkeit • Vorbehaltskunden • Sprunglieferungsverbot/GH, nicht an private/ institutionelle Endverbraucher



• Sprunglieferungsverbot/GH, nicht an gewerbliche Endverbraucher

+



• Rücklieferungsverbot

+



• Querlieferungsverbot

+



• Aktivverkaufsverbot

+

+/–

• Standortklauseln

+

+/–

• Ausgleichszahlungen

+

+/–

• Exportverbot

+



• offenes Alleinvertriebsrecht

+

+

• geschlossenes Alleinvertriebsrecht

+



+/–



• Importverbot

+



• Alleinbezugsbindung

+



• hinsichtlich Fremdwaren

+

+/–

• Pflicht, Konkurrenzprodukte zu führen

+

+

• Pflicht, bestimmte Konkurrenzprodukte zu führen

+



Räumliche Vertriebsbindungen

Absatzbindungen, abhängig von produktbedingter Erforderlichkeit

Bezugsbindungen • hinsichtlich Vertragswaren, abhängig von produktbedingter Erforderlichkeit

Fortsetzung nächste Seite

344

Anhang 2

Fortsetzung Anhang 2 Auswahlkriterium/Vertragsklausel

Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG

Freistellungsfähigkeit

Vertriebsförderungspflichten • Lagerhaltungsbindungen

+

+

• Sortimentsbindungen

+

+/–

• Mindestumsatz und Mindestabnahme

+

+/–

• Pflicht, zur Verstärkung des Vertriebsnetzes beizutragen

+

+

Informationspflichten, abhängig von Tragweite und Missbrauch

+/–

+/–

Kontrollpflichten, abhängig von zu kontrollierender Pflicht

+/–

+/–

+/–

+/–

Zulassungsverfahren • Entscheidung über Zulassung, abhängig von Länge der Frist • Entscheidungsgewalt auf GHstufe ausschließlich bei Hersteller



• Entscheidungsgewalt auf EHstufe ausschließlich bei Hersteller

+



• Recht zur außerordentlichen Kündigung nur eines Vertrags

+/–

+/–

• Recht zur ordentlichen Kündigung nur eines Vertrages

+/–



+



Ausschlussverfahren

Preisbindung und deren Surrogate

Anhang 3

Die Beurteilung selektiver Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO Vertragsklausel

Freistellungsfähigkeit

Vorschrift der Vertikal-GVO

Selektionskriterien, unabhängig von Produkteigenschaft

+

Preisbindungen



Art. 4 lit. a

Höchstpreise und Preisempfehlungen

+

Art. 4 lit. a

Meistbegünstigungsklausel zu Lasten des Käufers



Art. 4 lit. a

Meistbegünstigungsklausel zu Lasten des Lieferanten

+

Aktivverkaufverbot, wenn Selbstvorbehalt des Lieferanten

+

Art. 4 lit. b 1. Sp.str.

Aktivverkaufverbot, wenn exklusive Zuweisung an Händler

+

Art. 4 lit. b 1. Sp.str.

Sprunglieferungsverbote zu Lasten GH

+

Art. 4 lit. b 2. Sp.str.

Persönliche Vertriebsbindungen

+

Art. 4 lit. b 3. Sp.str.

Sonstige Gebiets- und Kundenbindungen



Art. 4 lit. b

Verbindung mit Alleinvertriebsrecht • EH/offenes Alleinvertriebsrecht • EH/geschlossenes Alleinvertriebsrecht • GH

+ – +

Art. 4 lit. c Art. 4 lit. c Art. 4 lit. b 1. Sp.str.

Zusätzliche Verkaufsbeschränkungen des EH



Art. 4 lit. c

Standortklauseln

+

Art. 4 lit. c

Querlieferungsverbote



Art. 4 lit. d Fortsetzung nächste Seite

346

Anhang 3

Fortsetzung Anhang 3 Vertragsklausel

Freistellungsfähigkeit

Vorschrift der Vertikal-GVO

Rücklieferungsverbote



Art. 4 lit. d

Verbindung mit Alleinbezugspflicht



Art. 4 lit. d

Verbindung mit Alleinbelieferungspflicht



Art. 4 lit. d

Befristete Wettbewerbsverbote während der Vertragslaufzeit • Mindestabnahmepflicht, wenn unter 80% der Gesamteinkäufe

+

Art. 5 lit. a

+

Art. 5 lit. a

Verbot, bestimmte Konkurrenzwaren nicht zu führen



Art. 5 lit. c

Gebot, bestimmte Konkurrenzwaren zu führen

+

Alle weiteren Klauseln, die nicht ausdrücklich verboten sind

+

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Sachverzeichnis

GWB 38, 55, 66, 110, 120, 236 ff., 271, 285, 296, 323 Handelsvertreter 28 Harmonisierung 322 f. Harvard School 61, 71, 86 Importverbot 46, 161, 175, 343 Industriepolitik 74 f., 78 ff., 86 f., 331, 333 Informationsbindung 52 f., 54, 163 f. Interbrand-Wettbewerb 108 ff., 121, 123 ff., 140, 150, 161, 180, 193, 202, 212, 258, 260, 277 ff., 282 f., 290 f., 297, 335 ff. Internetvertrieb 239, 284 Intertype-Wettbewerb 109, 142, 180, 193, 212, 268, 336 Intrabrand-Wettbewerb 108 ff., 116 ff., 121 ff., 129, 140 f., 161 f., 180, 192 f., 205 ff., 208, 212, 260, 277 ff., 282, 296 f., 300, 334 ff. Invisible Hand 57 Kampf um den Regalplatz 25 Konkurrenzverbot 46 Kontraktmarketing 26 ff., 100 Kontrollbindung 52 ff., 164 f., 176, 201, 335 Kontrolle – ex-ante 302, 310, 313, 316, 318 – ex-post 302, 312 f., 316, 318 Konzept der Wettebewerbsfreiheit 66 ff., 84 ff., 104 ff., 137, 140, 194 f., 276, 280, 327, 330, 334 Kooperationsbindung 52, 54, 163 ff. Kundenbindung 39 ff., 44, 156 f. Legalausnahme 303 f., 305, 307, 310 ff., 314, 316, 319 f., 338 Maastricht, Vertrag von 79 f., 82, 88, 311, 331, 334, 338 Markenbindung 55

Marketingführer 36 f., 144 Marktanteil 152, 179 f., 192 ff., 212, 220, 224 ff., 269, 278 ff., 286, 295 ff., 336 f. Marktbeherrschung 299 Marktstruktur 63, 71, 113, 171, 192, 329, 336 Marktverhalten 72, 93, 100, 108, 113 Marktzugang 150, 156, 172 Marktzutrittsschranken 60, 63, 73, 290 Massenproblem 127 f., 183, 197, 216, 324 f. Mehrstufiges selektives Vertriebssystem 30 f., 39, 158, 169, 223, 227, 241 f., 245 Meistbegünstigungsklausel 237 f., 285, 345 Mindestabnahmemenge 199 f., 344 Mindestumsatz 199 f., 344 Missbrauchsprinzip 311 ff. Negativattest 157 Non-Dilemma-These 67 Ordoliberalismus 64 ff., 68, 76, 84, 104, 106, 326, 330, 334 Parallelhandel 159, 176, 210, 334 Parallelimport 97, 164, 257, 266 Per-se-Verbot 63, 68 f., 84, 181, 209 f., 212, 252, 266, 281, 327, 336 Preisbindung 54 f., 74, 166, 211 ff., 231 ff., 235 ff., 266, 281 f., 290, 344 Querlieferungsverbot 40, 157, 257, 343, 345 Querschnittsklausel 80 Rechtssicherheit 320 f., 324, 327, 338 Rechtsunsicherheit 197, 231 ff., 288, 338 Rücklieferungsverbot 40, 157 f., 210, 266, 257, 336, 343, 346

Sachverzeichnis Rule of Reason 117, 120 ff., 126 f., 129, 179, 281, 335 Safe harbour 224, 227 Schwarze Liste 218 f., 221, 236, 305 Selbständigkeitspostulat 103 ff., 117, 329 f. Selektion 206, 225, 246 ff., 265, 286 Sprunglieferungsverbot 20, 40, 158, 201, 210, 241 f., 257, 266, 343, 345 Spürbarkeit 159, 176 ff., 226 Suspensionsverordnung 273 ff., 283, 312 Transaktionskosten 72 f. Überallerhältlichkeit 32 Unternehmen 91 f. Verbotsprinzip 301 ff., 306, 311 ff., 314 ff., 338 Verbraucher 40, 82, 119, 125, 139, 147, 187 ff., 198 f., 212, 228, 248, 250, 275, 296 f., 330 Vereinbarung 92 ff.

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Verhalten, abgestimmtes 99 ff. Verrechtlichung 88, 339 Vertikales Marketing 26 ff., 149, 162 Vertragsfreiheit 65 ff., 68 f., 93, 104, 160, 330 Vertriebsbindung 38 ff., 45, 48, 116, 155 ff., 185, 207 f., 212, 242 ff., 250 f., 343 f. Vertriebsförderungspflichten 51 f., 130, 156, 162 f., 172, 197 ff., 344 Weiße Klausel 218 Wettbewerbsbeschränkung 101 ff. Wettbewerbsprinzip 77 f., 277, 331, 334 Wettbewerbstheorien 56 ff., 76, 90, 96 Wettbewerbsverbote – Fremdwaren 259 – Vertragswaren 262 Zwangsjackeneffekt 217 f. Zweck-, Gegenstands- und Folgetheorie 110, 234 Zwischenstaatlichkeitsklausel 174 ff.