Paare als Adressat*innen systemischer Beratung – Rekonstruktion von Adressierung in Erstgesprächen [1 ed.] 9783666400261, 9783525400265


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German Pages [303] Year 2023

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Paare als Adressat*innen systemischer Beratung – Rekonstruktion von Adressierung in Erstgesprächen [1 ed.]
 9783666400261, 9783525400265

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Julia Hille

Paare als Adressat*innen systemischer Beratung Rekonstruktion von ­Adressierung in Erstgesprächen

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Paare als Adressat*innen systemischer Beratung Rekonstruktion von Adressierung in Erstgesprächen

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Forschungsgegenstand: Herausforderungen moderner Paarberatung .13 1.1 Paare als Ratsuchende von Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1.1 Von der sozialen zur subjektiven Bedeutung der Paarbeziehung 14 1.1.2 Paarleitbilder: Aktuelle (Ideal-)Vorstellungen von Paarbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1.3 Paarbeziehung als Prozess: Herstellungsleistungen durch ­Aushandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.2 Paarberatung als institutionalisiertes Unterstützungsformat im Prozess moderner Paaraushandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2.1 Beratung als angeleitete Kommunikation unter ­Krisenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2.2 Spezifische Merkmale institutionalisierter Paarberatung . . . . . 30 2 Theoretische Implikationen: Erstgespräche systemischer Paarberatung als Ort der Konstruktion von Adressat*innen . . . . . . . . . 37 2.1 Der systemische Ansatz als Rahmen für Kommunikations- und ­Konstruktionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2 Erstgespräche in ihrer Bedeutung für die Konstruktion von Paaren als Adressat*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3 Kommunikative Konstruktion von Erstgesprächen: Rahmenanalyse als Situationsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.4 Bedeutungsebenen der Herstellung von Adressat*innen . . . . . . . . . . . . 50 3 Forschungsstand zur Herstellung von Adressat*innen in institutionellen Kommunikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1 Empirie der Konstruktion von Adressat*innen in psychosozialen Gesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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3.2 Qualitative (Psycho-)Therapieforschungen zur relationalen Herstellung von Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.3 Zusammenfassung: Forschungsgegenstand, Fragestellung und Ziele der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

4 Anlage der Studie und methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.1 Methodologische und methodische Einordnung der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.2 Methodologie der Objektiven Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.3 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.3.1 Datenerhebung und Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3.2 Datenaufarbeitung und Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.4 Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.4.1 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation . 82 4.4.2 Methodisches Vorgehen der Textinterpretation von ­Interaktionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5 Empirische Ergebnisse: Fallrekonstruktionen dreier Paarberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.1 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5.1.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens . 90 5.1.2 Das Erstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 5.1.2.1 Gesprächseröffnung und gegenseitige Vorstellung . . . . 92 5.1.2.2 Etablierung des Settings und erste Problempräsentation des Paars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5.1.2.3 Formulierung des Anliegens und Problemexplikation als Aushandlungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.1.2.4 Krisenbewältigung und Problemlösung . . . . . . . . . . . . . 111 5.1.2.5 Bilanzierung und Verabschiedung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.1.2.6 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs . . . 118 5.1.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.1.3.1 Eröffnung und Einladung zur Lösungsexplikation . . . . 120 5.1.3.2 Versuch der Lösungsfokussierung nach ­Problemexplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.1.3.3 Festhalten an der Lösungsfokussierung . . . . . . . . . . . . . 131 5.1.3.4 Entlassen aus der Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.1.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs 138 5.1.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch . . . . . . . . . 140 © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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5.2 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau Schmidt und Herrn Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.2.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens . 142 5.2.2 Das Erstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.2.2.1 Eröffnung und erste Erwartungsformulierungen . . . . . 143 5.2.2.2 Besonderung der vorgegebenen Struktur . . . . . . . . . . . . 149 5.2.2.3 Problemexplikation als Aushandlungsprozess zweier Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.2.2.4 Aushandlung des Anliegens der Paarberatung . . . . . . . 160 5.2.2.5 Lösungsfokussierung auf der Handlungsebene . . . . . . . 165 5.2.2.6 Verabschiedung und Suche nach klarem Bekenntnis  170 5.2.2.7 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs . 175 5.2.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.2.3.1 Eröffnung und Veränderungsdarstellung . . . . . . . . . . . . 178 5.2.3.2 Fokussierung auf positive Veränderungen . . . . . . . . . . . 182 5.2.3.3 Verdeutlichung der Hauptadressatin für die Zukunft . 186 5.2.3.4 Beendigung durch gegenseitige positive Rückmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5.2.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.2.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch . . . . . . . . 193 5.3 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau und Herrn Vogt . . . . . . . . 197 5.3.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens . 197 5.3.2 Das Erstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.3.2.1 Eröffnung und gegenseitige Vorstellung . . . . . . . . . . . . . 198 5.3.2.2 Erste Aufforderung der Problemexplikation . . . . . . . . . 204 5.3.2.3 Individuell zuschreibende Problempräsentationen . . . 209 5.3.2.4 Fokussierung auf Veränderung und Gemeinsamkeit . 216 5.3.2.5 Aushandlung der Vorstellung von Paarberatung . . . . . . 221 5.3.2.6 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs . 223 5.3.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.3.3.1 Veränderung des Anliegens und Anliegenklärung . . . . 225 5.3.3.2 Gemeinsame Lösungsfokussierung im letzten Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 5.3.3.3 Direkte Lösungsfokussierung gegenüber Einzelpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5.3.3.4 Funktionale Beendigung der Paarberatung . . . . . . . . . . 237 5.3.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs 240 5.3.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch . . . . . . . . . 242 © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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6 Kontrastierung der Fälle: Spannungsfelder der Adressierung in Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 6.1 Art der Strukturierung des Paarberatungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.1.1 Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin . . . . . . . . . 248 6.1.2 Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.1.3 Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 6.2 Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 6.2.1 Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft . . . 257 6.2.2 Der Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung – Orientierung am Anliegen des Manns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6.2.3 Die Frau als an der Beziehung Arbeitende – Eingrenzung von Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.3 Genderorientierte Verantwortlichkeiten und ihre Auswirkungen auf die Adressat*innenkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 7 Diskussion der Ergebnisse: Reflexion von Adressierungen als Teil gelingender Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 7.1 Latente Adressierungen in Erstgesprächen von Paarberatung . . . . . . . . 265 7.1.1 Fragilität als Herausforderung der Adressierung . . . . . . . . . . . . . 265 7.1.2 (Re-)Produktion der Geschlechterdimensionen als Heraus­ forderung der Adressierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 7.2 Adressierung als Strukturierungsaspekt systemischer Paarberatung – eine Erweiterung institutioneller Kommunikationsformate . . . . . . . . . 272 8 Limitationen und Reflexion des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . 275 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Anhang: Transkriptionsregeln nach Lamnek & Krell (2016) . . . . . . . . . . . . 299 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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Die subjektive Bedeutung von Paarbeziehung ist immer noch unverändert hoch, denn angesichts der Entwicklung innerhalb der Spätmoderne zu einer individualisierten Lebensführung und Auflösung identitätsstiftender Bezugspunkte verspricht sie, ein identitätssichernder Ort (u. a. Illouz, 2016) zu sein. In den westlichen Gesellschaften ist das Leben in einer Paarbeziehung eine »kulturelle Selbstverständlichkeit« (Wutzler, 2021, S. 7 f.). Die Paarbeziehung ist »ein Magnetfeld menschlicher Sehnsüchte« (Burkart, 2018, S. 2). Für das Paar besteht die Notwendigkeit, von Beginn an in einen gemeinsamen Aushandlungsprozess einzutreten. Der Alltag in Paarbeziehungen konstituiert sich zwar von der Gesellschaft geformt, wird im Privaten jedoch von den unmittelbaren Beteiligten hervorgebracht (Jurczyk, Schier, Szymenderski, Lange & Voß, 2009, S. 66). Paare sind dabei, dies verdeutlicht dieser Herstellungsprozess, von Logiken und Anforderungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme beeinflusst, sie beziehen sich auf diskursive kulturelle Vorstellungen und Leitbilder und sind verwoben in diverse gesellschaftliche Diskurse (wie über Liebe, Leitbilder, Geschlechter, Arbeitsteilung, Elternschaft, Sexualität usw.). Dadurch verstärkt sich der Aushandlungsbedarf. Keine länger bestehende Paarbeziehung kommt ohne Krisen aus (Illouz, 2011; Lenz, 2009). Prozesse der Individualisierung, Selbstverwirklichung und vielfältige biografische Möglichkeiten bewirken seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zunahme von Beziehungskonflikten (Schneider, 2002), wobei sich die Notwendigkeit des Aushandelns oft als zentraler Konfliktpunkt erweist (König, 2020), da diskursive kulturelle Vorstellungen und Leitbilder mitverhandelt werden. Der Dialog in der Paarbeziehung ist wesentlich für den wechselseitigen Austausch und besitzt eine herausgehobene Bedeutung für Aushandlungsprozesse. Paarberatung und -therapie sind spezielle Kommunikationsformate (Engel, Nestmann & Sickendiek, 2018, S. 86), die Unterstützung bei der Ausgestaltung einer Paarbeziehung hinsichtlich der genannten Ambivalenzen und Ambiguitäten anbieten. Paarberatung und -therapie bilden »eine Intervention mit dem © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Ziel, die Beziehungsqualität und -stabilität zu verbessern, d. h. die Zufriedenheit beider Partner mit der Beziehung zu erhöhen sowie eine Trennung zu verhindern« (Roesler, 2018, S. 334). Ein typisches Setting ist, dass beide Partner*innen die Paarberatung mit einem oder zwei Berater*innen aufsuchen. Die sich aus der Vielzahl der Bedürfnisse beider Partner*innen aus der Dyade ergebende Themenvielfalt erhöht die Komplexität von Paarberatung (Ebbecke-Nohlen, 2014, S. 346). Der Fokus der Paarberatung liegt zunächst in der Verbesserung der Interaktion des Paars und damit letztlich der Beziehungsqualität (Roesler, 2018). Die Institutionalisierung der Paarberatung ist und war, wie in den USA, eng verbunden mit der Historie der Familientherapie (Aucken­thaler, 2014, S. 26; Elberfeld, 2020, S. 564), die ebenfalls bedeutungsvoll für die Entwicklung des systemischen Ansatzes ist. Dass Paare als System verstanden und somit als gemeinsame Dyade von Beratung angesprochen werden, ist in weiten Teilen dem systemischen Ansatz zu verdanken. Entscheidend ist es, Paarprobleme in ihrer Zirkularität und Reziprozität zu verstehen, »wonach jedes Verhalten des einen Partners auf das des anderen einwirkt und Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander zu trennen sind« (Bodenmann & Ga­briel, 2008, S. 1391). Besonders der systemische Ansatz in der Arbeit mit Paaren erfährt dabei einen Aufschwung und entwickelt sich von einer Konzentration auf individuelle Einzeltherapie hin zur Arbeit mit Paaren und Familien. Der systemische Ansatz verdeutlicht, dass sowohl Berater*innen als auch Aufsuchende von Paarberatung ihre Wirklichkeit anders als die anderen Teilnehmenden der Beratung konstruieren. Folgt man dieser Prämisse, so wird durch Kommunikation das Beratungssystem – also das unter Paarberatung Verstandene – ausgehandelt, wenngleich es institutionell verortet ist. Dabei wird deutlich, dass auch in institutionalisierten und standardisierten Beratungssettings nicht bei allen Beteiligten von einer »gleichen« Vorstellung über Beratung ausgegangen werden kann. Vielmehr ist eine spezifische »Einsozialisation des/der KlientIn in die interaktiven Regeln des Beratens und Beraten Werdens und eine Aushandlung darüber, was im gewählten institutionellen Kontext als Beratung deklariert wird« (Bauer, 2014, S. 234), notwendig. Beratung stellt hier eine Interaktionsform dar, in der eine Übereinkunft zwischen den Beteiligten hergestellt wird, wie gemeinsam gehandelt werden soll (Bauer, 2014, S. 232). Erstgespräche in der Beratung sind in diesem Kontext zentraler Anlass, um Rahmen interaktiv herzustellen und zu schaffen (Bauer & Bolay, 2013). Es bedarf einer reziproken Verständigung darüber, worum es in der Beratung gehen soll. Die Struktur von Erstgesprächen verdeutlicht, dass bestimmte Rollen eingenommen werden müssen. Menschen, die eine Beratung aufsuchen, werden »klientInnenbezogene Rollen zugewiesen […] und die Einsozialisation in die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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spezifische Form der institutionell vorgesehenen beraterischen Kommunikation erfolgt« (Bauer, 2014, S. 234). Institutionelle Kommunikation bedeutet hier ganz offensichtlich, dass Interaktionen zwischen Berater*innen und potenziellen Ratsuchenden »nicht nur nach Maßgabe von institutionellen Zielsetzungen ›prozessiert‹« (Hitzler & Messmer, 2008, S. 250), sondern Ratsuchende latent zu Klient*innen bzw. Adressat*innen »gemacht« werden (Bittner, 1981). Die Prozessierung bzw. Herstellung der Rollen ist eine interaktive Aufgabe, mit der »die am Beratungsgespräch Beteiligten ständig umgehen müssen, d. h. unabhängig davon, ob gerade Problemsachverhalte rekonstruiert oder Lösungen gesucht, vorgeschlagen oder plausibilisiert werden« (Nothdurft, Reitemeier & Schröder, 1994, S. 15). Diese Konstruktionsleistung ist abhängig von gesellschaftlicher und sozialpolitischer Rahmung, der organisationalen und institutionellen Ebene und der professionellen Interaktion (Bitzan & Bolay, 2017; Graßhoff, 2015). Insbesondere Problemkonstruktionen beinhalten häufig Verhandlungen über das Adressat*innensein, d. h. Diskussionen darüber, welche*r Beteiligte das Problem hat und sich ändern sollte (Kurri & Wahlström, 2003; Wahlström, 2016). Die Aushandlung des Adressat*innenseins hat Auswirkungen auf die moral order1 einer Beziehung innerhalb der Paartherapie (Kurri & Wahlström, 2003). In beraterischen/therapeutischen Gesprächen wird die Paarbeziehung als eine soziale Institution mit einer bestimmten moral order dargestellt und aufgeführt. Die Aushandlung des Adressat*innenseins spielt auch in der Paarberatung eine bedeutende Rolle. Untersuchungen der latenten Sinnstrukturen bei der Herstellung bzw. Kon­ struktion von Adressat*innen als Element von Paarberatung – nicht nur als Aushandlung der moral order des Paars – sind in der Forschung noch unterrepräsentiert und zeigen sich als Forschungslücke. Es gibt innerhalb der Beratungsforschung wenig empirische Studien darüber, was genau im Rahmen von Paarberatung geschieht und welche Auswirkungen auf die Kon­struktion von Adressat*innen daraus resultieren. Welchen latenten Einfluss der Kontext der Paarberatung auf die Konstruktion von Adressat*innen und die Herstellung von Ratsuchenden hat, soll in vorliegender Studie näher erforscht werden. Aufschlussreich erscheint es, die Beratungsgespräche mit Paaren als eine spezifische Form »institutioneller Kommunikation« zu analysieren, rückt mit dieser Perspektive doch schließlich die latente Bearbeitung institutioneller Strukturprobleme in den Fokus. 1 Die moral order einer Beziehung umfasst, »more or less articulated and shared understandings of what is valued and what is not; the loyalties, duties, and responsibilities expected from the partners and the grounds for evaluating actions. It also includes expectations of how value, concern, and respect are communicated« (Wahlström, 2016, S. 150).

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Einleitung

Daraus ergeben sich folgende zwei Forschungsfragen, die im Rahmen dieser Studie beantwortet werden: 1. Welche latenten Adressat*innenkonstruktionen werden in Erstgesprächen von Paarberatung sichtbar? 2. Wie beeinflussen diese Adressat*innenkonstruktionen den Umgang mit den Herausforderungen moderner Paargestaltung innerhalb systemischer Paarberatung? Als Datenmaterial liegen Transkripte systemischer Paarberatungen vor, die innerhalb des Forschungsprojekts »Relationales Selbst und Momente der therapeutischen Veränderung in systemischer Paarberatung und -therapie« gesammelt wurden (Borcsa, Hille, Borbe & Skyba, 2014). Die vorliegende Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Zunächst erfolgt im ersten Kapitel eine theoretische Einbettung der Herausforderungen moderner Paarberatung. Dazu werden die moderne Bedeutung von Paarbeziehung (1.1.1) und wirkmächtige Paarleitbilder (1.1.2) dargestellt, die auf die Paarbeziehung als Aushandlungsprozess und daraus entstehende Krisen (1.1.3) wirken. Die Notwendigkeit von Beratung bzw. Paarberatung als Antwort auf Krisen wird in Unterkapitel 1.2 dargelegt. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Implikationen von Erstgesprächen systemischer Paarberatung als Ort der Konstruktion von Adressat*innen erarbeitet. Unter 2.1 wird ein Exkurs zur theoretischen Verortung des systemischen Ansatzes und dessen gemeinsamen Arbeitens mit Familien und Paaren gegeben. Unterkapitel 2.2 widmet sich den Erstgesprächen als Orte institutioneller Kommunikation und deren Verwobenheit mit den Konstruktionen von Adressat*innen. Dazu werden aufbauend zwei notwendige theoretische Verortungen vorgenommen: die Rahmenanalyse von Goffman (2.3) und die Bedeutungsebenen der Adressat*innenherstellung (2.4). Das dritte Kapitel stellt den aktuellen Forschungsstand dar und arbeitet Forschungslücken sowie Forschungsfragen heraus. Im vierten Kapitel werden die methodologische Bezugnahme und ihre methodischen Konsequenzen für Datenerhebung, Fallauswahl, Datenaufbereitung und -auswertung expliziert. Kernstück der Arbeit sind die Rekonstruktionen dreier Paarberatungen (Kapitel 5). Die daraus rekonstruierten Spannungsfelder in den Adressat*innenkonstruktionen werden in Kapitel 6 präsentiert und in Kapitel 7 diskutiert und kritisch reflektiert. Den Abschluss vorliegender Arbeit bilden eine Reflexion des Forschungsprozesses (Kapitel 8) und ein Fazit mit Ausblick.

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1 Forschungsgegenstand: Herausforderungen moderner Paarberatung

In diesem Kapitel werden die soziale Entwicklung und der Status quo von Paarvorstellungen bzw. Paarbeziehungsvorstellungen und die damit zusammenhängende Institutionalisierung von Paarberatung als Kommunikationshilfe in konfliktgefährdeten Aushandlungsprozessen dargestellt. Dabei wird abseits starrer oder stereotyper Normvorgaben für die Gestaltung des Paarseins das Bild einer gegenwärtigen »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« von Paarbeziehung entworfen. Traditionelle Paarvorstellungen bis zu fluiden individuellen – zeitlich befristeten – Paaraushandlungen erschweren die Orientierung. Beratung für Paare ist aufgrund der individuellen Herstellungsleistungen (im Gegensatz zur Anpassung an »vorgegebene« Ideale) stärker nachgefragt. Beratung soll die Herstellungsleistung unterstützen, und zwar vermittels Begleitung von Aushandlungsprozessen. Damit wird Kommunikation zum elementaren Mittel von Beratung.

1.1

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Um die Frage zu klären, welchen Herausforderungen moderne Paarberatung unter der Bedingung steter Reflexion der eigenen Beziehungen ausgesetzt ist, muss vorab der Diskurs zu Paaren und Partnerschaft nachvollzogen werden: Welche Paarleitbilder sind explizit und implizit prägend? Welche Phasen durchlaufen Paare in ihrer Beziehung? Welche Bestandteile können Krisen haben und wie kann damit umgegangen werden? Betrachtet wird, wie sich sozialer Wandel auf das Verständnis von Paarbeziehungen auswirkt. Dabei werden aus einer soziologischen Perspektive Modernisierungsprozesse und deren Wirkungen auf die Erforschung von Paaren erläutert und der Einfluss von Leitbildern auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene differenziert dargestellt. Leitbilder spüren mögliche Krisenpotenziale für derzeitige Partnerschaften auf. Die Krise als Phase in Paarbeziehungen und der Umgang damit, wie das Aufsuchen einer Beratung, werden daraufhin näher expliziert. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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1.1.1 Von der sozialen zur subjektiven Bedeutung der Paarbeziehung Soziologische Analysen über Paarbeziehungen wurden und werden unter dem Begriff der Ehe- und Familiensoziologie/-forschung gefasst. Eine intime Beziehung führt in westeuropäischen2 Gesellschaften gegenwärtig jedoch nicht mehr zwangsläufig zu einer Familiengründung. Und so fordern immer mehr Veröffentlichungen »wegen des veränderten Verhältnisses von Ehe und Familie in der Realität eine stärkere terminologische und thematische Trennung« (NaveHerz, 2013, S. 13; siehe auch bspw. Lenz, 2009; Nave-Herz, 1988). Paarbeziehung lässt sich dementsprechend nicht unkompliziert dem Ehe- und/oder dem Familiensystem unterordnen und sollte als eigenständige Lebensform aufgefasst werden (Burkart, 2022, S. 453 f.). Eine Paarbeziehung, oder auch Zweierbeziehung (Lenz, 2009), wird als eine besonders persönliche Verbindung betrachtet, die sich von Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen abgrenzt (Burkart, 2022, S. 455). Lenz beschreibt sie als »Strukturtypus persönlicher Beziehung […], der sich durch einen hohen Grad an Verbindlichkeit (Exklusivität) auszeichnet, ein gesteigertes Maß an Zuwendung aufweist und die Praxis sexueller Interaktion – oder zumindest deren Möglichkeit – einschließt« (Lenz, 2009, S. 48). Paarbeziehung ist aus Sicht Burkarts eine soziale Institution, in der es »Strukturen, Regeln und Normen für das Leben als Paar« (Burkart, 2022, S. 455) gibt. »Die soziale Institution des Paares ist, gestützt auf das kulturelle Wertmuster ›Liebe‹, eine auf Dauer angelegte, meist sexuell fundierte Verbindung zweier Personen mit einer bestimmten Institutionalisierungsform (›feste Beziehung‹, Wohn- und Lebensgemeinschaft, Ehe) und einer intimen Alltagspraxis. Alle diese Elemente sind jedoch historisch und kulturell variabel« (Burkart, 2022, S. 456). Wutzler (2021) plädiert dafür, Paarbeziehung nicht in eine feste und starre Struktur zu komprimieren, da sie auf den normativen Gehalt von Definitionen gründet, sondern vielmehr deren Reziprozität und Prozesshaftigkeit hervorzuheben:

2 Der Schwerpunkt der Forschung wird auf die Vorstellungen der Dominanzkultur (Appiah, 2019; Foroutan, 2021) von Paarbeziehung gelegt, da sich das Sample daraus speist und dieser Fokus den deutschsprachigen Diskurs dominiert.

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»[Und] Paarbeziehungen als gesellschaftliche Institution einer Beziehung zwischen zwei Personen zu verstehen, die ein hohes Potenzial dahingehend aufweist, dass zwei Personen reziprok unter den Möglichkeitsbedingungen der je historischen und sozialen Situierung – der gesellschaftlichen Ordnung der Intimität – ein hohes Maß an Intimität herausbilden und unterschiedliche Dimensionen der Intimität in verschiedenen Weisen und hinsichtlich unterschiedlicher Solidaritäten assoziieren« (Wutzler, 2021, S. 37). Allen Definitionen gemein ist, dass sie Paarbeziehungen vom historischen und kulturellen Zeitgeist beeinflusst sehen. Ehe und Familie galten bis ins 18. Jahrhundert als die einzig gültigen, sozial verbindlichen intimen Lebensformen (Peuckert, 2019). Gestützt wurde dies von Kirchen wie weltlichen Autoritäten. Familie war damals eine Lebensgemeinschaft, an der die tagtägliche Versorgung der Mitglieder und jeglicher Besitz gekoppelt waren. Daher war beim Heiraten bedeutsam, »aus was für einer Familie man kam, welchen Besitz man mitbrachte und wie es mit der Arbeits- und Geburtsfähigkeit der Frau bestellt war« (Peuckert, 2019, S. 12). Die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte beträchtliche Reallohnsteigerungen und einen Ausbau sozialer Sicherungssysteme mit sich, die Lebensverhältnisse aller Einkommensbezieher*innen verbesserten sich. Davon stark beeinflusst änderte sich das vorherrschende Familienmodell und ein neues Leitbild für Ehe und Familie setzte sich durch: Die bürgerlich-moderne Familie wurde zur Normalfamilie (Tyrell, 1990). Damit einher ging die lebenslange Ehe, deren Sinn in der Familiengründung gesehen wurde. Somit kam es zu dieser Zeit zu hohen Heirats- und Geburtsraten (Peuckert, 2019, S. 14 ff.). Das im literarischen Diskurs entwickelte Ideal der »romantischen Liebe« gewann immer mehr an Bedeutung. Die Liebesheirat, besonders im aufstrebenden Bürgertum, wurde zum kulturellen Leitbild.3 Hier zeigt sich eine ausgeprägte homogene Vorstellung von Partnerschaft, Ehe und Familie. Erst in den bürgerlichen Schichten, dann in den anderen, wurde die Frau aus dem Erwerbsleben ausgegliedert und zur Hausfrau, der Mann zum Alleinverdiener (Pfau-Effinger, 2000). Dieser Bedeutungswandel wurde als Übergang von der »Ehe als Institution zur partnerschaftlichen Ehe« um die Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnet (Peuckert, 2019, S. 68), bei der die »romantische 3 Letztlich ergaben individuelle ökonomische Bedingungen deutliche Differenzen zwischen Leitbild und dessen Umsetzung. Die bürgerliche Familie fungierte für andere soziale Schichten/Milieus als Leitbild, dem jedoch aufgrund sozioökonomischer Herausforderungen (niedrige Löhne, notwendige Erwerbstätigkeit der Frauen und Kinder, beengte Wohnverhältnisse) nicht nachgekommen wurde bzw. werden konnte (Peuckert, 2019, S. 14).

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Liebe« (Bethmann, 2013; Luhmann, 1994; Tyrell, 1987)4 und die emotionale Zufriedenheit der Ehepartner*innen immer wichtiger wurden. Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr die Paarbeziehung einen weiteren Bedeutungswandel (Lenz, 2009; Nave-Herz, 2013; Peuckert, 2019). Die »individualisierte Ehe bzw. Partnerschaft« gewann im Gegensatz zur »partnerschaftlichen Ehe/Partnerschaft« an Geltung. Zuvor war die Ehe eine bedeutende gesellschaftliche Institution mit Normen und Regeln, in ausschließlich deren Rahmen Mann und Frau zusammenlebten, Sexualbeziehungen bestanden und Kinder aufgezogen wurden. Besonders durch den zweiten Bedeutungswandel wurden diese Vorstellungen insofern aufgeweicht, als sich eine Tendenz vom kollektivistischen/partnerschaftlichen zum individualistischen Beziehungskonzept einstellte (Hirseland & Leuze, 2010, S. 194). Die Paarbeziehung ist nun demnach eher ein »Prozess der Begegnung zweier Partner, die sich als autonome, gesellschaftlich ungebundene Individuen verstehen, als reflexive Subjekte, die wissen, was sie tun, und die jenseits sozialer Regeln alles selbst aushandeln können« (Burkart, 2022, S. 470). Für die Pluralisierung der Lebensformen ist besonders der Wandel der Frauenrolle in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hervorzuheben (Becker-Schmidt, BrandesErlhoff, Rumpf & Schmidt, 1983; Beck-Gernsheim, 1980).5 Bildungsexpansion und Angleichung der Bildungschancen für Frauen steigerten deren Einkommenserwerb und somit ihre ökonomische Selbstständigkeit (Peuckert, 2019, S. 2). »[E]in bestimmtes Maß an Wohlstand, der Wertewandel (besonders die hohe Bewertung von Unabhängigkeit, freier Entfaltung der Persönlichkeit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau), die Diskussion um außereheliche und voreheliche Sexualität, die nachlassende Stigmatisierung

4

Luhmann beschreibt das Medium Liebe selbst nicht als Gefühl, sondern als Kommunikationscode, »nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen und leugnen […] kann« (Luhmann, 1994, S. 23). Verschiedene Aspekte des romantischen Liebesideals sind kritisch zu reflektieren, wie Heteronormativität (Hartmann, Klesse, Wagenknecht, Fritzsche & Hackmann, 2007), Mononormativität (Mazanek, 2012; Riedl, 2018) sowie einhergehende patriarchale Strukturen (Hostettler & Vögele, 2014; Rendtorff, Riegraf & Mahs, 2019). 5 Die weiter bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten sind jedoch nicht zu übersehen und Gegenstand vielfältiger Forschungen und Theorien, beispielsweise im Bereich der Gender Studies (für eine Übersicht: Cornelißen, 2016).

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Unverheirateter, die hohe Bildungs- und Erwerbsbeteiligung junger Frauen und der Bedeutungsrückgang der Ehe« (Peuckert, 2019, S. 115) bewirkten, dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit wurde und immer noch wird. Die institutionelle Versorgungsfunktion der Ehe verliert vor diesem Hintergrund immer mehr an Bedeutung (Nave-Herz, 2013, S. 104). Damit einher geht die Entkopplung von Heirat und Familiengründung, die mit einem Geburtenrückgang in Zusammenhang steht (Kreyenfeld & Konietzka, 2017). Eine Liebesbeziehung führt nun nicht zwangsläufig zur Familiengründung (Peuckert, 2019, S. 40). Auch die Bedeutung der Ehe (Nave-Herz, 2013) hat sich gewandelt. Es wird immer seltener geheiratet (Hochgürtel & Sommer, 2021) und häufiger geschieden (seit 1960 hat sich die Zahl der Scheidungen mehr als verdoppelt) (Peuckert, 2019, S. 17). Zudem kann von einer Pluralisierung der Lebens- und Beziehungsformen gesprochen werden: Nichttraditionale Lebensstile und Beziehungsformen nehmen zu, wie Alleinlebende, EinEltern-Familien, nicht eheliche Lebensgemeinschaften, Paare, die unverheiratet getrennt leben (Living Apart Together, LAT), und andere nichtkonventionelle Formen (Hochgürtel & Sommer, 2021). Die Partnerschaft innerhalb der zahlreichen Lebensformen hat ebenfalls einen (internen) Strukturwandel durchlaufen (Peuckert, 2019, S. 2). Deutlich werden die Diskrepanzen zwischen einerseits der gesellschaftlichen Bedeutung von Paarbeziehung und andererseits den Strukturen des gesellschaftlichen Wandels. Beck und Beck-Gernsheim (1990) haben sich näher mit der Transformation und Gestaltung von Paar- und Familienbeziehung in der reflexiven Modernisierung befasst. Dabei heben sie die Individualisierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf heutige Partnerschaften und Familien hervor (siehe auch Poferl, 2019). Sie führten dazu, dass das enge Korsett der Ehe durch bestimmte Vorstellungen, Einstellungen und Rituale verlassen werden konnte und eine Partnerschaft nun frei wählbar ist bzw. zu sein scheint. Dort »entstehen zugleich neue Irritationen, Kämpfe, Konflikte im Binnenraum der Zweierbeziehung« (Beck & Beck-Gernsheim, 1990, S. 105). Die Partnerschaft bzw. die Ehebeziehung wird zu einer »zentralen Instanz für die soziale Konstruktion der Wirklichkeit und zu einem wichtigen Ort der inneren Identität« (S. 110). Dabei sollen Gemeinsamkeiten im individuellen Aushandeln selbst hergestellt werden. Grundlage dafür ist die »Liebe« (S. 115). Beziehungsarbeit bedarf somit eines ständigen Dialogs – sie ist »Beziehungsarbeit im Dauerdiskurs« (S. 120). Liebe und Gefühle müssen immer aufs Neue ausgehandelt, hergestellt und erhalten werden. Begleiterscheinungen sind der starke Zuwachs © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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von Beziehungsratgebern6 und der enorme Zulauf zu Eheberatungen und -therapien. Die Individualisierungsprozesse beeinflussen die Dauerhaftigkeit von Partnerschaften. Liebe und Gefühle stellen das Fundament einer Beziehung dar und sind sie nicht mehr vorhanden, scheint es folgerichtig, eine Beziehung zu beenden: »[L]ieber die Ehe beenden, als sich mit Mängeln abfinden und von der Glückserwartung Abstriche machen« (Beck & Beck-Gernsheim, 1990, S. 125).7 Eine Paarbeziehung entsteht somit zwischen zwei Menschen, die – im Gegensatz zur traditionellen Gesellschaft – individualisierten Glaubenssätzen, Weltund Leitbildern nachgehen und im »Dauerdialog« miteinander verhandeln müssen. »Der Fortfall traditioneller Vorgaben ist […] verbunden mit einem Verlust von früher vorgegebenen, gegenseitig übereinstimmenden Erwartungen an die Partnerschaft, wodurch neue Unsicherheiten und Spannungen entstanden sind« (Nave-Herz, 2000, S. 260). Der Wegfall der Erwartungen eröffnet neue Möglichkeiten, Beziehungen zu gestalten. Der Dauerdialog der Verhandlung führt zum Prinzip »Aushandeln statt Norm« (Hiebinger, 2006, S. 72) und setzt damit Kommunikationsbereitschaft, Offenheit und (Selbst-)Reflexivität der beteiligten Partner*innen voraus. Auch Anthony Giddens (1993) stellt in seinem Modell der »reinen Beziehung«8 die Idee von »Intimität als Demokratie« (Giddens, 1993, S. 199) heraus, bei der Offenheit und Kommunikation gefordert sind. Es handelt sich um eine Art ungeschriebenen Vertrag zwischen zwei gleichberechtigten Menschen, der jederzeit von einer Partei gekündigt bzw. aufgelöst werden kann. Die Beziehung ist somit eine freiwillige Option, für die man sich entschieden hat. Neben Gerechtigkeit betont Giddens auch die »kooperative Bestimmung der Bedingungen in einer Beziehung« (S. 205). Die eigenen Intentionen werden dabei im kommunikativen und weniger im emotionalen Akt offengelegt: »Je mehr die entwickelnde, partnerschaftliche Liebe reale Möglichkeit wird, desto mehr weicht die Suche nach der ›besonderen Person‹ der nach der ›besonderen Beziehung‹« (S. 73).

6 Es gibt eine Reihe von Studien, die sich seit den 1980er-Jahren beraterisch-therapeutischen Diskursen um Partnerschaft und Ehebeziehung widmen und Ratgeber analysieren (Elberfeld, 2012; Giddens, 1993; Illouz, 2011; Mahlmann, 1991; Scholz, Lenz & Dreßler, 2013). 7 Hier zeigt sich das Phänomen der seriellen Monogamie, wobei eher mehrere aufeinanderfolgende kurze Beziehungen eingegangen werden, in denen Treue, Exklusivität und Verbundenheit grundlegend sind (Burkart, 2018; Elberfeld, 2012). 8 Zur Kritik an Giddens’ Modell der »reinen Beziehung« und deren geringer Distanz zum therapeutischen Diskurs siehe Bethmann (2013), Herma (2009), Illouz (2011).

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Beziehungen werden nicht mehr als unter allen Umständen dauerhaft, sondern in Abhängigkeit vom Vorhandensein intimer Gefühle gesehen. In den Erwartungen an partnerschaftliche Liebe sieht auch Giddens eine Ursache für die Steigerung von Trennungs- und Scheidungsraten. Eva Illouz (2011) geht wie Giddens von einem gesellschaftlichen Wandel der Intimität aus. Die Suche nach »emotionale[r] Authentizität« (Illouz, 2016, S. 63) lässt die Menschen ihre eigenen und die Gefühle der anderen hinterfragen, »um über die Wichtigkeit, Ernsthaftigkeit und künftige Bedeutung ihrer Beziehungen zu entscheiden« (S. 63). Die Therapeutisierung der Beziehung ist demnach ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, in dem Paarbeziehung geeignete Bedingungen für die wechselseitige Unterstützung bei der individuellen Selbstverwirklichung realisieren soll (S. 294 ff.). Lenz (2009, S. 286) beschreibt diese Entwicklung als »Selbstverwirklichungsmotiv«, das mit einem hohen Kommunikationsaufwand (Illouz, 2011, S. 226) verbunden ist. Selbstreflexion und Selbstthematisierung des Einzelnen ermöglichen einen intimen Austausch in der Paarbeziehung (Burkart, 2008, S. 244). Es wird zur Pflicht, sich mitzuteilen und miteinander zu kommunizieren, auch in der Erwartung, von dem*der Partner*in in der eigenen Individualität wahrgenommen und verstanden zu werden (Lenz, 2009, S. 288). Festzuhalten ist, dass infolge von Modernisierungsprozessen mehr Optionen zur Gestaltung einer Paarbeziehung bestehen. Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung sind zur neuen Norm in Paarbeziehungen avanciert. Überdies ist der Diskurs bzw. das Aushandeln statt der Orientierung an einer Norm richtungsweisend und setzt damit Kommunikationsbereitschaft, Offenheit, Authentizität und Selbstreflexion der Partner*innen voraus. Derzeitige Paarbeziehungen lassen sich daher als »unabgeschlossene Praxis des Werdens, die Ideale nicht zwangsläufig zurückweist, sondern über die sich mit Idealen implizit oder explizit mehr oder weniger transformativ auseinandergesetzt wird« (Wutzler, 2021, S. 35), fassen. Partnerschaftsleitbilder, die auf der individuellen Ebene anzeigen, welche Normen und Vorstellungen Paare/Individuen von einer glücklichen Beziehung haben, sind beeinflusst von diesen gesellschaftlich-normativen Vorstellungen. Stärker diskursiv und weniger determiniert sind hier erste Verweise auf die Kon­ struktion von Paaren über die Auseinandersetzung mit Leitbildern enthalten. 1.1.2 Paarleitbilder: Aktuelle (Ideal-)Vorstellungen von Paarbeziehung Leitbilder zielen auf Interpretationsprozesse und kollektiv geteilte Sinnordnungen ab. Bilder und Leitbilder von Paaren und Familien sind mit Diskursen verbunden, werden zugleich diskursiv (re)konstruiert, reproduziert sowie © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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transformiert (Bauer & Weinhardt, 2017; Bauer & Wiezorek, 2017) und stellen kollektiv geteilte Wissensordnungen dar. Katharina Giesel (2007) konstatiert, dass die Kategorie Leitbild »Teil mehr oder weniger konsistenter theoretischer Modelle von Wirklichkeit« (Giesel, 2007, S. 16) ist und erarbeitet folgende sozialwissenschaftliche Definition: »Leitbilder bündeln in aller Regel sozial geteilte (mentale oder verbalisierte) Vorstellungen von einer erwünschten bzw. wünschenswerten und prinzipiell erreichbaren Zukunft, die durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll« (S. 194). Ein Leitbild ist »ein Bündel aus kollektiv geteilten bildhaften Vorstellungen des ›Normalen‹, das heißt von etwas Erstrebenswertem, sozial Erwünschtem und/oder mutmaßlich weit Verbreitetem, also Selbstverständlichem« (Diabaté & Lück, 2014). Diabaté (2018) präsentiert Auswertungen der Erhebung »Familienleitbilder in Deutschland«9 und verdeutlicht partnerschaftsbezogene Idealvorstellungen, die die Pluralität individuell und gesellschaftlich konstruierter Leitbilder veranschaulichen. Auf der individuellen Ebene ergeben sich vier Dimensionen verschiedener Gesamtleitbilder idealer Partnerschaft (Diabaté, 2018, S. 89): Das (1) fusionsorientierte Partnerschaftsleitbild umfasst »den Glauben an das Lebensglück durch Partnerschaft […], eine hohe Eheorientierung, die Verfolgung gemeinsamer Ziele sowie die Familiengründung als Stabilitätsgarant für die Partnerschaft« (S. 89). Hier zeigt sich die auf der Individualebene von einer Großzahl befürwortete Vorstellung, dass in einer Partnerschaft zwei Menschen zu einem »Wir« verschmelzen (S. 94). Auch im (2) bürgerlich-konventionellen Partnerschaftsleitbild ist die Eheschließung ein wichtiger Part, »jedoch lehnen Personen mit diesem Leitbild dann Partnerschaften ab, wenn die Frau höher gebildet ist als der Partner« (S. 89). Es wird befürwortet, dass finanzielle Sicherheit herrscht, ein gemeinsamer Haushalt besteht, Männer die Entscheidungsmacht tragen und nach der Eheschließung die Frau den Namen des Manns annimmt. Es handelt sich demzufolge um ein geschlechterasymmetrisches Partnerschaftsleitbild. Dem (3) assoziativ-modernen Partnerschaftsleitbild als dritte Dimension zufolge wird davon ausgegangen, »dass Partnerschaften funktionieren, wenn man sich liebt, eine erfüllte Sexualität miteinander hat, dem 9 Die detaillierte Studie über »Familienleitbilder in Deutschland« (Schneider, Diabaté & Ruckdeschel, 2018) des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigt auf Basis einer repräsentativen Befragung von 5000 Personen im Alter von 20 bis 39 Jahren eine breite Palette familiensoziologischer Themen aus der Leitbildperspektive heraus auf. Dabei handelt es sich um Individualdaten; es liegen keine Vorstellungen des Partners bzw. der Partnerin vor und es handelt sich um Einblicke in Westdeutschland. Partnerschaften wurden in der Analyse als intime und heterosexuelle Zweierbeziehungen – bedingt durch das Sampling – operationalisiert.

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anderen Freiräume lässt, beide Partner assoziativ Seite an Seite leben (durch Wahrung ihrer Autonomie) und finanziell abgesichert sind« (S. 89). Das (4) eheablehnend-instabile Partnerschaftsleitbild schließlich »ergibt sich aus einer geringen Eheorientierung und aus dem Pessimismus gegenüber der Dauerhaftigkeit von Partnerschaften generell« (S. 89). Diabaté verdeutlicht jedoch, dass »das Beziehungsleben nicht nur von individuellen Überzeugungen und Vorstellungen, sondern auch von gesellschaftlichen Leitbildern beeinflusst wird, das heißt von solchen, die der Einzelne in seiner Umgebung wahrnimmt« (Diabaté, 2018, S. 78) und der Gesellschaft zuschreibt. Auf dieser Ebene dominieren drei Partnerschaftsleitbilder: das (1) bürgerlich-konventionelle, das »Ehe, Familiengründung und dem Zusammenleben eine hohe Bedeutung beimisst« (S. 92) und in dem ein eher konservatives Bild der Gesellschaft durchscheint (S. 94). Das (2) assoziativ-moderne Partnerschaftsleitbild definiert Partnerschaftserfolg durch »erfüllte Sexualität, Freiräume, ökonomische Absicherung und durch die Probeehe« (S. 92). Das (3) stabilitätsablehnend-geschlechterasymmetrische Partnerschaftsleitbild schließlich lehnt Bildungsheterogamie zugunsten der Frau ab, befürwortet die männliche Entscheidungsmacht und zweifelt an der Dauerhaftigkeit von Partnerschaften.10 Zusammenfassend zeigt sich, dass in der jüngeren Generation Paarbeziehungen mit einem »hohen Glauben an deren Dauerhaftigkeit, ungeachtet der gesellschaftlich eher gegenteiligen Meinung« (S. 81), assoziiert sind. Die Vorstellung, dass eine Fusionierung vom Ich zum Wir innerhalb der Partnerschaft stattfindet, ist daher bei jüngeren Menschen in Deutschland weit verbreitet (S. 81). Mit steigendem Institutionalisierungsgrad des Partnerschafsstatus und mit steigender Religiosität »wächst die Zustimmung, dass nur Partnerschaften glücklich machen können und partnerschaftliche Ziele über den individuellen stehen sollten« (S. 82 f.). Herma (2009) verdeutlicht den Wandel der Leitbilder in dezidierteren Zeitintervallen, vermittelt über Liebesthematisierungen unterschiedlicher Geburtenjahrgänge in Westdeutschland.11 In den Leitbildvorstellungen der Geburtsjahrgänge der 1940er-Jahre finden sich patriarchal geprägte Beziehungsideale, aber auch deren Ablehnung und das Streben nach einem egalitären Beziehungsideal sowie finanzieller Unabhängigkeit beider Partner*innen. Eine konsequente Umsetzung dieses egalitären Beziehungsideals im Beziehungsalltag passierte 10 Hierbei werden auch geschlechtsspezifische Stereotype sichtbar, die in anderen Studien dezidierter dargestellt und mit Diskursen, wie Gewalt in Beziehungen, verknüpft werden (bspw. Lohner, 2019). 11 Zwar widmet sich Herma den individuellen Liebessemantiken, gleichzeitig hebt er hervor, dass in diesen individuellen Erzählungen gesellschaftliche Leitbilder mitverhandelt werden.

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in dieser Generation jedoch vielfach nicht, was Herma (2009, S. 220 ff.) auf die relativ späte Verortung des gesellschaftlichen Wandels in den Biografien der frühen Jahrgänge zurückführt. Für die Geburtenjahrgänge der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre erkennt Herma eine verstärkte selbstreflexive Zuwendung, was sich in der Wichtigkeit von Selbstbestimmung und Selbstthematisierung zeigt. An spezifischen Geschlechtercharakteren wird teilweise weiter festgehalten, wenngleich sich eine Abkehr von hierarchisierenden Vorstellungen und eine Zuwendung zu psychologisiert-reflexiven Sichtweisen vollzieht. Die Relevanz des emotionalen Erlebens als Notwendigkeit einer reflexiven Beziehungsgestaltung ist in dieser Generation erkennbar (S. 255 ff.). Die Ende der 1960erund in den 1970er-Jahren geborene Generation sieht sich einer Pluralität und Vielfalt der Beziehungsgestaltungsmöglichkeiten gegenüber, denen mit verschiedenen rationalen Entscheidungsprozessen begegnet werden kann. Herma sieht die Herausforderung dabei im Abwägen der Liebe insofern, als die Verbindung von Liebe und Paarbeziehung in dieser Generation nicht mehr zwangsläufig gegeben ist (S. 235 ff.). Bethmann (2013) fokussiert in ihrer Forschung weniger eine Differenzierung der Liebesvorstellungen in Zeitabschnitten, sondern Liebe als sich in kollektiven Orientierungsmustern abbildendes und in Interaktionen realisierendes Phänomen. Dabei zeichnen sich drei »Wahrheiten der Liebe« (Bethmann, 2013, S. 120) ab:12 Das Konzept (1) Liebe als Vollzug (S. 121) zeigt sich im »praktischen miteinander Tun« (S. 121) und muss der gemeinsamen Alltagsbewältigung standhalten. Die Beziehung ist pragmatisch gestaltet und wird nicht durch die Einzigartigkeit der Partner*innen oder überschwängliche Gefühle und Handlungen getragen. Die Tragfähigkeit beweist sich eher durch eine »praktische Toleranz auf Handlungsebene« (S. 127), d. h. das Arrangieren mit den Eigenarten des*der Partner*in. Als Orientierung dienen moralische Verpflichtungen (Normen, Traditionen, Religion), die es einzuhalten gilt. Traditionen unterstützen dabei, »das eigene Leben kontrollieren und gestalten zu können« (S. 222). Das Konzept (2) Liebe als Selbsterkenntnis (S. 127) orientiert sich hingegen weniger an allgemeingültigen Vorstellungen, sondern ist »ein authentischer Ausdruck des Inneren« (S. 127). Das heißt, die reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst und deren Kommunikation in der Beziehung stehen gleichermaßen im Fokus (S. 132). In einer Liebesbeziehung besteht die Gefahr, den eigenen authentischen Lebensentwurf nicht beizubehalten sowie 12 Bethmann verwendet den Begriff der Wahrheiten, »weil Liebe in Interaktionszusammenhängen wahr gemacht werden muss. Jede dieser Wahrheiten benennt eine mögliche Position der sozialen Sichtbarkeit von Liebe« (Bethmann, 2013, S. 222).

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die andere Person verändern zu wollen (S. 128). Eine Beziehung soll beiden Partner*innen den Raum bieten, ihre Individualität wirken und wachsen zu lassen. Konflikte werden als Garant verstanden, die Intimität zu steigern, und sorgen somit für Dauerhaftigkeit und Stabilität (S. 134 f.). Das Konzept (3) Liebe als Projekt (S. 136 ff.) schließlich versteht die Partnerschaftsbeziehung als Möglichkeit, das eigene Leben zu bereichern und somit einen Mehrwert darzustellen. Sie ist ausgelegt auf »Spannung, Selbstoptimierung, Entwicklung und eine hohe aktive Selbstbestimmtheit« (S. 138). Liebe erhält insofern den Charakter eines Projekts, als es bedeutsam ist, die eigenen »Lebenschancen optimal nutzen zu können und möglichst wenig Abstriche vom eigenen Lebensentwurf zu machen« (S. 141). Bethmann hebt die Gleichzeitigkeit der Wahrheiten der Liebe hervor (S. 143), die zudem darauf angewiesen sind, »dass Liebe in sozialen Interaktionen an Realität gewinnt« (S. 223). Leitbilder sind im Sinne von Schablonen des als normal bzw. wünschensoder erstrebenswert Geltenden – als explizit normative Vorschriften für Paare und Familien (Cyprian, 2003, S. 12) – nicht wertneutral, sondern subjektiv gefärbt (Giesel, 2007). Der Diskurs zu Leitbildern offenbart die Bedeutsamkeit von Übergängen und Umbrüchen, wie der Eintritt in die Ehe und/oder die Entscheidung für oder gegen Kinder. Wie bereits formuliert, bedarf es im Folgenden bestimmter Aushandlungen, in denen sich die Prozesshaftigkeit von Paarbeziehungen zeigt. Paarbeziehungen sind somit »keine zeitlosen Zustände, sondern zeichnen sich durch eine hohe Dynamik aus. Sie lassen sich nur in einer Prozessperspektive adäquat beschreiben« (Lenz, 2009, S. 52). Partnerschaft wird somit »alltäglich und im Lebensverlauf immer wieder hergestellt, praktiziert, angepasst« (Jurczyk, 2014, S. 55). Berger und Kellner (1965) verdeutlichen, dass Paare ihre »Wirklichkeit« erschaffen und dabei vor der Aufgabe stehen, »ihre eigene private Welt, in der sie leben werden, selbst zu schaffen« (Berger & Kellner, 1965, S. 225). Für das Paar besteht die Notwendigkeit, von Beginn an in einen gemeinsamen Aushandlungsprozess einzutreten. Der Alltag in Paarbeziehungen konstituiert sich zwar von der Gesellschaft geformt, wird im Privaten aber von den Partner*innen selbst hervorgebracht (Jurczyk et al., 2009, S. 66). Inzwischen werden Paare daher in ihrer Herstellungsleistung betrachtet (Jurczyk, 2014). Das theoretische Konzept des »doing couple« (Wimbauer & Motakef, 2017) hebt die interaktive Herstellung der paareigenen Wirklichkeitskonstruktion, die auf etablierte Ideale und Leitbilder referiert (Wutzler, 2021), hervor. Paare sind in diesem Kontext – wie es dieser Herstellungsprozess verdeutlicht – explizit und implizit von Logiken und Anforderungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme beeinflusst, beziehen sich dennoch auf diskursive kulturelle Vorstellungen und Leitbilder. Die Paarleitbilder verdeutlichen eben© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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falls, dass es verschiedene Phasen innerhalb einer Paarbeziehung geben kann, in denen die Herstellungsleistungen verortet sind. 1.1.3 Paarbeziehung als Prozess: Herstellungsleistungen durch Aushandlung Neben der manifesten und latenten Aushandlung zwischen individuellen Vorstellungen und gesellschaftlichen Leitbildern ist Paarbeziehung ihr Phasenverlauf eigen, sofern sie als Prozess mit Phasen und Übergängen verstanden wird (Burkart, 2022, S. 453). Lenz (2009) gliedert Paarbeziehungen in vier dynamische Stadien: Aufbau-, Bestands-, Krisen- und Endphase. Übergangsrituale markieren Übergänge zur jeweils nächsten Phase (Kaufmann, 1994). Jedoch unterliegt der Prozess keinem strengen Ablauf, sondern bildet sich vielfältig aus (Nave-Herz, 2000, S. 260). Eine individuelle Wahlmöglichkeit der Phasenreihenfolge besteht durch die nicht mehr unweigerlich festgelegte Abfolge (S. 269). Vor einer Aufbau- bzw. Bewährungsphase spielt die Partnerwahl ganz offenbar eine Rolle. Burkart bezeichnet das »Ergebnis komplexer Prozesse von intentionalen Handlungen und zufälligen Begegnungen, von emotionalen und ökonomischen Wechselwirkungen und einer Reihe von sozialen Strukturbedingungen und Regeln« (Burkart, 2022, S. 457) als Paarbildung. Hier ist die enge Verbindung zu den Partnerschaftsleitbildern zu erkennen, die zu einer Homogamie in der Partnerwahl führen. In Partnerwahl und -suche sind insofern generelle kulturelle Wertemuster wirksam, als es für (zukünftige) Partner*innen in der Regel ausschlaggebend ist, in grundlegenden Wertfragen konform zu gehen (S. 458 f.). Die Aufbau- (Lenz, 2009) bzw. die Bewährungsphase (Burkart, 2022) ist entscheidend für die Stabilität der Beziehung. Vor der Epoche der Modernisierung (Nave-Herz, 2000) war diese Phase sehr kurz angelegt und rituelle Handlungen (Heiratsantrag, Verlobung, Hochzeit) bewirkten einen raschen Übergang in die Bestandsphase. Heute verläuft dies, besonders in westlichen Gesellschaften, anders (siehe 1.1.1): Die Aufbauphase kann sich in die Länge ziehen, somit bleibt auch die Zukunft der Beziehung offen (Burkart, 2022, S. 460). Wenn das Paar seine Beziehung stabilisiert hat und an eine längerfristige gemeinsame Zukunft glaubt bzw. sie plant, geht es in die Bestandsphase über (Burkart, 2018, S. 111), wobei in »Entscheidungsgespräche[n]« (NaveHerz, 2000, S. 267) Statusveränderungen diskutiert und letztlich eingeleitet werden. Das bedeutet, dass jeder Phasenübergang auf Absprachen der Partner*innen basiert (S. 270). © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die Endphase (Lenz, 2009) bzw. Ablösungsphase (Burkart, 2022) ist erreicht, wenn eine Person des Paars eine Trennung nicht mehr außer Betracht lässt (Lenz, 2009, S. 161). Einer Trennung durch beispielsweise Scheidung oder Auflösung eines gemeinsamen Haushalts geht zumeist eine längere Trennungsphase voraus. Die Entscheidung einer Beziehungsauflösung ist als »ein wechselhafter, psychisch für beide Partner hochbelastender Prozess zu begreifen, in dem sich der Wunsch zur Trennung mit dem des Zusammenlebens immer wieder ablöst – der von allen Betroffenen ein hohes Maß an psychischen Kosten abverlangt« (Nave-Herz, 2013, S. 175).13 Keine länger bestehende Zweierbeziehung kommt ohne Krisen aus, die sich in Häufigkeit, Dauer und Intensität aber unterscheiden. Sie unterbrechen die Bestandsphase einer Zweierbeziehung im Sinne einer »subjektiv als belastend wahrgenommene[n] Veränderung der Beziehung […], die eine Unterbrechung der Kontinuität des Handelns und Erlebens und eine Destabilisierung im emotionalen Bereich zur Folge hat« (Lenz, 2009, S. 135). Die Prozesse der Individualisierung, Selbstverwirklichung und die Vielfältigkeit biografischer Möglichkeiten (siehe Unterkapitel 1.1.1) bewirken auch eine Zunahme von Beziehungskonflikten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Schneider, 2002). Paare sind verwoben in diverse gesellschaftliche Diskurse (wie über Liebe, Leitbilder, Geschlechter, Arbeitsverteilung, Elternschaft, Sexualität usw.) und eignen »sich Institutionen, Handlungsweisen, Wahrnehmungskategorien oder Narrative an, weisen diese zurück, übersetzen sie in Praktiken des alltäglichen Aushandelns in der jeweils gelebten Paarrealität und teilen dabei unterschiedliche Erwartungen (bspw. Romantik, Partnerschaft, Co-Parenting, Wohnverhältnisse, Begehren etc.)« (Wutzler, 2021, S. 38). Diese Komplexität von Erwartungen und Orientierungen vergrößert den Aushandlungsbedarf, bei dem »Paare verbindliche Rollenvorgaben im geringeren Umfang zur Verfügung haben und sich auch ihre Autonomie-Ansprüche 13 So die idealtypische Vorstellung. Besonders die Entscheidung über Trennung oder Fortführung einer Paarbeziehung unterliegt in der Praxis vielfältigen Gründen. Die soziökonomische Situation hat erheblichen Anteil an der Entscheidung, ob Trennung und Scheidung in Betracht kommen. Gerade für Frauen und Alleinerziehende ist die Entscheidung einer Trennung beeinflusst von einem hohen Risiko prekärer Lebensverhältnisse (Achatz, Hirseland, Lietzmann & Zabel, 2013).

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verstärkt haben« (Lenz, 2014, S. 56). Die alltäglichen expliziten und impliziten Herstellungsleistungen gestalten sich »im potentiellen Spannungsfeld von Nahbeziehungen und Erwerbsarbeit« (Wimbauer & Motakef, 2017, S. 14) und werden anspruchsvoller. Alltägliche Aushandlungen verlaufen nicht durchweg einvernehmlich. Absprachen müssen immer wieder bestätigt und neu verhandelt werden (Maihofer, 2014, S. 317). Gelingen oder Stabilität einer Paarbeziehung realisieren sich zunehmend im Kooperationsmodus (Maiwald, 2009). Die Notwendigkeit des kommunikativen Aushandelns, welches von den Leitbildern und gesellschaftlichen Diskursen latent durchzogen ist, erweist sich des Öfteren als zentraler Konfliktpunkt (König, 2020). Partnerschaftliche Konflikte werden daher als unumgänglich, jedoch regulierbar betrachtet (Illouz, 2011, S. 206).14 Konflikte, für die das Paar keine oder keine für beide annehmbare Lösung findet, haben das Potenzial, krisenhafte Verläufe einzuleiten: Divergierende Ansichten involvieren unterschiedliche Deutungen und erfordern daher umfassende Inte­grationsund Konstruktionsleistungen (Ruiner, 2010). Paare unternehmen daher selbst unter widrigsten Bedingungen mannigfaltige Anstrengungen, Beziehung zu gestalten. Gleichzeitig ist schließlich die Bedeutung von Paarbeziehung unverändert hoch, weil sie im Lichte spätmoderner Forderungen nach individualisierter Lebensführung und Auflösung identitätsstiftender Bezugspunkte einen identitätssichernden Ort in Aussicht stellt (u. a. Illouz, 2016). Die Paarbeziehung ist somit »ein Magnetfeld menschlicher Sehnsüchte« (Burkart, 2018, S. 2).15 Der Dialog innerhalb der Paarbeziehung ist wesentlich für den wechselseitigen Austausch und die zu vollziehenden Aushandlungsprozesse. Das gemeinsame Erzählen ist ein Vorgang, »innerhalb dessen soziale Wirklichkeit rekonstruiert wird und in dem auf diese Weise Problemlösungsprozesse bewältigt werden« (Hildenbrand, 1997, S. 121). Die Ausweitung der Kommunikation ist jedoch auch ein »riskantes Unternehmen« (Lenz, 2009, S. 194).16 Auf die Begleiterscheinung der nun verlangten Aushandlungsprozesse auf 14 Ein vielversprechender, sich daraus ergebender Forschungsbereich untersucht, wie Krisen überwunden werden (von Sichart, 2016) und Partnerschaften gelingen können (Schreiber, 2003). 15 »Ob die eigenen Entscheidungen gelingen, hängt jedoch nicht allein vom Willen der einzelnen Personen und ihren individuellen Kompetenzen ab […]. Dazu bedarf es entsprechender gesellschaftlicher und institutioneller Lebens- und Arbeitsbedingungen: Zugang zu Bildung, soziale Absicherungen, Krippenplätze, ein soziales Umfeld, Arbeitszeitregelungen, finanzielle Ressourcen, rechtliche Regelungen usw.« (Maihofer, 2014, S. 330). 16 Neben dem gemeinsamen Gespräch muss die Paarpraxis in ihrer Bedeutung für die Kon­ struktion der Paarbeziehung berücksichtigt werden (Hahn, 1983; Hildenbrand, 2006; Kaufmann, 1994). Sie wird hier aus forschungspragmatischen Gründen nicht untersucht.

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Basis gelingender Kommunikation – die bemerkenswerte Zunahme publizierter Beziehungsratgeber und eine gesteigerte Nachfrage nach Paarberatungen und -therapien – wurde schon eingegangen. Beratung gilt als zeitgemäße Form der Bearbeitung der dargelegten Modernisierungsprozesse und deren Herausforderungen (Engel, Nestmann & Sickendiek, 2007, S. 34). Und so wird auch Paarberatung als Gelegenheit begriffen, Krisen und Probleme bei der individuellen Gestaltung einer Paarbeziehung zu lösen.

1.2 Paarberatung als institutionalisiertes Unterstützungsformat im Prozess moderner Paaraushandlungen Es ist somit nicht unüblich, eine Beratung aufzusuchen, wenn Paare Probleme oder Krisen in der Beziehung wahrnehmen. Beratung für Paare ist in Anbetracht der individuellen Herstellungsleistungen (im Gegensatz zur Anpassung an »vorgegebene« Ideale) stärker nachgefragt und soll diese unterstützen. Das bedeutet, Aushandlungsprozesse werden begleitet und damit Kommunikation zum elementaren Mittel von Beratung. Im Weiteren wird deshalb Beratungshandeln als angeleitete »Kommunikation unter Krisenbedingungen« fokussiert und der Analyseblick auf die Bedeutung von Erstgesprächen gelenkt. In diesem Unterkapitel wird spezifiziert, was unter Beratung als institutionalisierte Kommunikation der Krisenverarbeitung zu verstehen ist. Dabei wird auf die Spezifik von Paarberatung eingegangen. 1.2.1 Beratung als angeleitete Kommunikation unter Krisenbedingungen Beratung als soziales Phänomen ist verbreitet vorzufinden (Dewe & Schwarz, 2019, S. 11). Halbformalisierte und formalisierte Beratung (Sickendiek, Engel & Nestmann, 2008, S. 23)17 sind Formen der »Reflexivität moderner Vergesellschaftung« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 14). Wie bereits beschrieben (Unterkapitel 1.1), werden Entscheidungsprozesse angesichts mehrerer Alternativen komplexer. Beratung stellt dabei eine moderne Bearbeitungsmöglichkeit dar, 17 Mit dem Terminus »Beratung« werden »alltagssprachlich heterogene Handlungsformen und unmittelbar personenbezogene Dienstleistungen bezeichnet, in denen sich ein Ratsuchender mit Hilfe von Ratgebern darüber orientiert, wie spezifische Probleme zu beurteilen und ggf. zu lösen sind« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 16). Beratung findet weitestgehend in informellen Beziehungen im Alltag statt (Sickendiek et al., 2008, S. 22 f.). Darauf wird im Weiteren nicht eingegangen, Beratung im formalen institutionalisierten Setting wird im Folgenden näher betrachtet.

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sich mit Modernisierungsprozessen und deren Risiken auseinanderzusetzen. Somit ist und war Beratung stets verwoben mit den Problemen und Herausforderungen der Zeit (Engel et al., 2007, S. 34). Sie scheint zu versprechen, »in Zeiten einer latenten Überforderung sowohl Orientierungs-, Planungs- als auch Entscheidungshilfe zu sein« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 15, Herv. i. Orig.). Beratung ist demnach nicht nur als Weitergabe von Informationen zu verstehen, sondern sie dient »der Orientierung, der Reflexion von Information, der Entscheidungsfindung und der Planung weiterer Handlungen« (Engel, Nestmann & Sickendiek, 2006, S. 93). Beratung wird in diesem Kontext verstanden als »professionelle Intervention in unterschiedlichen theoretischen Bezügen, methodischen Konzepten, Settings, Institutionen und Feldern« (Engel et al., 2007, S. 34).18 Sie erscheint als weitgehend etabliertes psychosoziales Handlungsfeld,19 das in vielen gesellschaftlichen Bereichen als Methode oder Setting vorkommt (Großmaß, 2014a, S. 162). Beratung beschreibt sowohl »die Aufgabe wie auch den Modus der Bewältigung dieser Aufgabe« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 16). So ist sie eine »Form des Umgangs mit lebenspraktischen Problemsituationen […], deren Reichweite sich auf bewusste und im kognitiven, sprachlichen Austausch bearbeitbare bzw. gestaltbare Momente von er- und durchlebter Handlungspraxis bezieht« (S. 17). Die Problemlagen sind dabei nicht durch »einen Rückgriff auf tradierte Deutungs- und Handlungsmuster des sozialen Milieus und des kulturellen Kontextes bewältig- und handhabbar« (S. 17). Unabhängig von Disziplin, Profession oder Kontext kann Beratung allgemein gelten als eine 18 Beratung ist als inter- bzw. transdisziplinäres Phänomen zu betrachten, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Nestmann formuliert treffend: »In einer Welt immer komplexer werdende[r] Zusammenhänge in allen öffentlichen und privaten Lebenssphären […] wäre es Hybris, wollte ein und nur ein disziplinärer Zugang die Allzuständigkeit für Beratung für sich reklamieren« (Nestmann, 2008, S. 5). Ein Blick auf den deutschsprachigen wissenschaftlichen Beratungsdiskurs offenbart eine Diversität sich nicht immer aufeinander beziehender Ansätze. So sind Diskussionen zu Methoden, Konzepten, Theorien und Institutionsformen sowie Handlungspraxen aus der Sozialen Arbeit, Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Medizin zu finden (Engel et al., 2018, S. 84). Dies verdeutlicht professionelle Beratung als »multiprofessionelles Arbeitsfeld« (Großmaß, 2014a, S. 164, Herv. i. Orig.), veranschaulicht an den unterschiedlichen Ausbildungshintergründen von Berater*innen. Unabhängig von akademischen Disziplinen sind feldunspezifische Beratungskompetenzen gemeinsamer Nenner. 19 Das Setting eines Beratungsprozesses wird auf drei Ebenen produziert: »1. Die Situierung der Einrichtung im politischen Raum: Finanzierung und Trägerschaft, institutionelle Verflechtung mit anderen Organisationen, 2. der Ort, an dem sich eine Beratungseinrichtung befindet, sowie die Ausstattung ihrer Räumlichkeiten und 3. die Gestaltung der konkreten Beratungssituation, das methodische Setting« (Großmaß, 2014b, S. 488 f.). Vorliegende Arbeit bezieht sich im weiteren Verlauf auf das Setting im letzteren Sinne.

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»Interaktion zwischen zumindest zwei Beteiligten, bei der die beratende(n) Person(en) die Ratsuchende(n) – mit Einsatz von kommunikativen Mitteln – dabei unterstützen, in bezug [sic!] auf eine Frage oder auf ein Problem mehr Wissen, Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen« (Sickendiek et al., 2008, S. 13). Beratung, besonders psychosoziale Beratung, hat daher »nicht mit Symptomen und Krankheitsbewältigung, sondern mit Krisen und Krisenbewältigung bzw. mit (Neu-)Orientierung zu tun« (Großmaß, 2007, S. 100; 2013). Als Kommunikations- und Handlungsprozess bildet sie ein »komplexes Geschehen zwischen Beratern und Ratsuchenden, deren sozialer Umwelt und den kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« (Engel et al., 2006, S. 93). Dabei wird deutlich, dass Beratung einen »Typus kommunikativen Handelns« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 17) definiert und somit ein institutionalisiertes (Unterstützungs-/Hilfs-)Angebot für individuelle Problemlagen im Umgang mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen darstellt (Schrödter, 2010, S. 67). Sie forciert die Pluralisierung der Lebenswelten und verspricht eine Orientierungsfunktion, indem sie »standardisierte Programme und standardisiertes Wissen für spezifische Entscheidungssituationen« (Schützeichel, 2004, S. 281) bereithält. Spezifischen Krisensituationen wird demnach mit standardisierten Kommunikationsabläufen und -strukturen begegnet. Daher ist auf der einen Seite davon auszugehen, dass Beratung als kommunikative Handlungsform einen »gleichbleibenden Kern« (Bauer, 2016, S. 106) enthält, auf der anderen Seite jedoch wegen der kaum zu überblickenden »Gemengelage unterschiedlichster gesellschaftlicher, institutioneller, disziplinärer und professioneller Einflüsse« (Schnoor, 2013a, S. 9) sich die Ausgestaltung von Beratung inhaltlich wie auch strukturell nicht einheitlich respektive different vollzieht. Nichtsdestotrotz ist etwas Verbindendes vorhanden, das zur Kennzeichnung von Formen der professionellen Kommunikation als Beratung verleitet. Der gleichbleibende Kern wird dabei als strukturelles Element verstanden. Beratung stellt somit eine Form der geregelten Kooperation dar, die sich mit dem Begriff der Institution fassen lässt – als eine »Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert« (Gukenbiehl, 2016, S. 174). Beratung als institutionalisierte Form hilfreicher Kommunikation verdeutlicht, dass die Interaktion verwoben ist mit institutionellen Aufgaben (Bauer, 2016), wonach »im Bedarfsfall spezifische Hilfen für spezifische Problemlagen zur Verfügung stehen und in Anspruch genommen werden« (Schrödter, 2010, S. 69) – oder anders formu© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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liert: »Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als ›permanente Lösung‹ eines ›permanenten Problems‹« (Berger & Luckmann, 1987, S. 4). Institutionelle Kommunikation unterscheidet sich durch diverse Charakteristika von Alltagskommunikation (Drew & Heritage, 1992) u. a. dadurch, dass der institutionelle Kontext von allen Beteiligten als relevant eingestuft wird (Schegloff, 1991, S. 49). Drew und Heritage (1992, S. 22) sprechen von institutioneller Kommunikation in Abgrenzung zu Alltagsgesprächen, wenn – die Orientierung von mindestens einem*r der Teilnehmenden ein zentrales Ziel oder eine Aufgabe beinhaltet, das/die konventionell mit der betreffenden Institution verbunden ist, – die Interaktion verbunden ist mit speziellen und besonderen Bedingungen, was ein*e oder beide Teilnehmer*innen als zulässige Beiträge zu der jeweiligen Aufgabe betrachten, d. h., wenn die institutionelle Interaktion sich von einem Alltagsgespräch abhebt und von einer*m Beteiligten so angenommen wird, – es mit für bestimmte institutionelle Kontexte spezifischen Schlussfolgerungen und Interpretationen verbunden ist. Beratung ist als institutionelle Kommunikation somit strukturell abhängig vom Feld und vom Setting und kann in den institutionellen Rahmen unterschiedlich ausgestaltet werden. So ist es abhängig davon, welchen gesellschaftlichen Phänomenen sich mit der Beratung zugewandt wird. Vor diesem Hintergrund ergeben sich diverse Formen der Beratung (Bauer, 2016, S. 107). Und Krisen innerhalb intimer Beziehungen sind ein solches spezifisches Thema, woraus ein Setting für Paarberatung resultiert. 1.2.2 Spezifische Merkmale institutionalisierter Paarberatung Paarberatung antwortet als spezielle Kommunikationsform (Engel et al., 2018, S. 86) auf die Ambivalenzen und Ambiguitäten der Ausgestaltung von Paarbeziehungen. Paare sind einerseits Gegenstand der Thematisierung in einer Vielzahl von Beratungsfeldern, sei es bei der Trennungs- und Scheidungsberatung oder bei der Familienberatung. Zudem sind Paare die Zielgruppe spezifischer Beratungsangebote (für Familien: Bauer &  Weinhardt, 2017, S. 166). Paarthemen können sowohl in einer Einzelberatung als auch in einer Paar- oder Familienberatung/-therapie besprochen werden. Als Setting steht Paarberatung zur Verfügung, in dem sowohl Paarthemen als auch individuelle Probleme angesprochen werden können. Paarberatung kann im Bereich der psycho© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sozialen Beratung verortet werden, da es auf individuelle psychische Themen beratend eingeht und soziale Phänomene im Blick behält (Engel & Sickendiek, 2006, S. 36). Der historische Blick auf Paarberatung verdeutlicht, dass sich die institutionelle Verortung auf die inhaltliche Ausgestaltung der Paarberatung auswirkt: Die erste institutionelle Paarberatung in Deutschland lässt sich auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren. Gegenstand waren Fragestellungen im Gebiet der Medizin und Eugenik (Klann & Hahlweg, 1994, S. 6). Der Deutsche Bund für Mutterschutz und Sexualreform mit seiner Vorsitzenden Helene Stoecker sorgte nach dem Ersten Weltkrieg für den Ausbau von Ehe- und Partnerschaftsberatungsstellen und fokussierte dabei eher feministische Themen, wie beispielsweise das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper (Großmaß, 1997; Klann & Hahlweg, 1994, S. 7). Die ersten kirchlichen Beratungsstellen wurden Anfang der 1920er-Jahre unter zum Teil beträchtlichen Gegenprotesten gegründet. Sie legten ihren Schwerpunkt neben juristischen Fragestellungen auf die Vermittlung religiöser Wertvorstellungen (Klann & Hahlweg, 1994, S. 7). Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Arbeit dieser Beratungsstellen untersagt und das Handlungsfeld auf »eugenische Zwangsberatung« herabgesetzt (Elberfeld, 2012, S. 89; Klann & Hahlweg, 1994, S. 8). Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten zuerst Einzelpersonen für ein Beratungsangebot (Großmaß, 1997; Klann & Hahlweg, 1994, S. 8). 1949 wurde in der BRD die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung (DAJEB) gegründet, mit dem Ziel, die Ehe- und Partnerschaftsberatung weiter auszubauen (DAJEB, 2022). Die Institutionalisierung der Paarberatung und -therapie war, wie in den USA, eng verbunden mit der Historie der Familientherapie (Auckenthaler, 2014, S. 26; Elberfeld, 2020, S. 564; siehe auch Unterkapitel 2.1). Während in der BRD Beratungsstellen vorwiegend von Wohlfahrtsverbänden und Kirchen errichtet wurden, setzte man in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später in der DDR auf staatliche Strukturen (Stumpe, 2020). Die Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen der SBZ verfügte 1946 die Einrichtung von Ehe- und Sexualberatungsstellen, in denen ärztliche, juristische und sozialfürsorgerische Themen ihren Platz fanden (Fischer, 2014, S. 134). 1965 wurde im Familiengesetzbuch der gesetzliche Rahmen für Ehe- und Sexualberatungsstellen festgeschrieben. Daraufhin entstanden »medizinischpsychologisch ausgerichtete Ehe-, Sexual- und Familienberatungsstellen, die häufig in bereits bestehende Gesundheitseinrichtungen und damit in das System der medizinischen Betreuung integriert wurden« (Fischer, 2014, S. 135 f.). Die Sektion »Ehe und Familie« bei der Gesellschaft für Sozialhygiene, die sich aus einer Arbeitsgemeinschaft 1968 gründete, führte u. a. Aus- und Weiterbildungen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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für die Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen durch (S. 137). Die Sektion »Ehe und Familie« war bis zum Ende der DDR tätig und verschmolz nach der Wiedervereinigung mit der Organisation »Pro Familia« (Stumpe, 1995, S. 74). Mit dem diskursiven Wandel des Beziehungsideals (Abschnitt 1.1.1) stieg die Nachfrage nach Beratungsmöglichkeiten explizit für Paare in den 1970er-Jahren in der damaligen BRD (Elberfeld, 2012, S. 91 ff.) und in der DDR (Stumpe, 1995) deutlich an. Daraus entwickelte sich eine Vielzahl institutioneller Verortungen der Paarberatung und -therapie (Mahlmann, 1991, S. 163 ff.) – u. a. – in den ambulanten Diensten der Psychiatrie, im Rahmen von (Psycho-)Therapie in Privatpraxen und im Feld der Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen. Diese institutionellen Verortungen sind auch gegenwärtig in Deutschland zu finden. Paarberatung und -therapie werden derzeit in großen Teilen über institutionelle Beratungsstellen und in kleinen Teilen in freien Praxen angeboten (Roesler, 2018, S. 333). Die Angebotslandschaft ist sehr vielfältig und dynamisch. Zurzeit besteht keine offizielle Regulierung der Angebote (Pilsl & Heitkötter, 2020, S. 50). Circa 10 000 Fälle pro Jahr werden von rund 900 Beratungsstellen bearbeitet (Roesler, 2018, S. 333).20 Probleme in Partnerschaft und Sexualität sind der fünfthäufigste Grund, weshalb Beratung in Anspruch genommen wird (Pilsl & Heitkötter, 2020, S. 37). Einen rechtlichen Anspruch auf Paarberatung bzw. Beratung bei Fragen der Partnerschaft gibt es derzeit nicht. Ausschließlich im Rahmen des § 17 SGB VIII besteht die Möglichkeit für Eltern von Kindern und Jugendlichen, diese Fragestellungen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zu thematisieren und da­rüber finanzieren zu lassen. Fokus ist dabei, wie im § 17 SGB VIII formuliert, die Familie und das damit zusammenhängende Wohl des Kinds.21 Neben diversen Angeboten der Paarberatung, die online und teils kostenfrei zur Verfügung stehen (Pilsl & Heitkötter, 2020, S. 61 ff.), wird in freien Praxen Paarberatung für Selbstzahlende angeboten.

20 Die Datenbank des Online-Beratungsführers der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendund Eheberatung e. V. (DAJEB), die Beratungsstellen im gesamten Bundesgebiet erfasst, listet 2022 14 582 Beratungsstellen. Darunter bieten 3071 Einrichtungen Ehe-, Familien- oder Partnerschaftsberatung an. Herzlichen Dank an die DAJEB für die Bereitstellung dieser Daten per E-Mail. 21 Neben der staatlichen Förderung von Eltern als Paar bestehen kaum weitere staatliche Finanzierungsmöglichkeiten (Wilbertz & Klann, 2010). Roesler (2018, S. 333) formuliert pointiert, dass »im deutschen Gesundheitswesen […] die Paarbeziehung bislang nicht existiert«.

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Im Vordergrund heutiger Paarberatung steht, »Rat suchenden Menschen in Entwicklungs-, Kommunikations- und Entscheidungskonflikten zu helfen, sich aus ihren Möglichkeiten heraus die Mittel verfügbar zu machen, die sie brauchen, um in ihren persönlichen Beziehungen individuelle Wege und Lösungen zu finden und so den Wegfall äußerer Vorgaben, Orientierungen und Hilfen zu kompensieren« (Struck, 2014, S. 1017 f.). Roesler (2018) versteht unter Paarberatung und -therapie22 »eine Intervention mit dem Ziel, die Beziehungsqualität und -stabilität zu verbessern, d. h. die Zufriedenheit beider Partner mit der Beziehung zu erhöhen sowie eine Trennung zu verhindern. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Folgen von Trennung/Scheidung wird ersichtlich, dass eine Trennung der Partner bedeutet, dass eine Intervention in Form von Paartherapie nicht erfolgreich war – was nicht heißt, dass es nicht sinnvoll ist, Partnern in Trennung eine Trennungsberatung anzubieten, um diesen Prozess möglichst konstruktiv zu gestalten« (S. 334). Beratung, die mehr als eine Person adressiert, geht von der Annahme aus, dass »der soziale Kontext, in den ein Problem eingebettet ist, ebenfalls Gegenstand von Beratung wird« (Sickendiek et al., 2008, S. 93).23 Darauf aufbauend ergeben sich Konstellationen, in denen Paarberatung als institutionalisierte Kommunikation stattfinden kann. Ein typisches Setting ist, dass beide Partner*innen die Paarberatung mit einem oder zwei Berater*innen aufsuchen. Die Themenvielfalt, die sich aus den diversen Bedürfnissen beider Partner*innen aus der Dyade24 ergibt, erhöht die Komplexität von Paarberatung (Ebbecke-Nohlen, 2014, S. 346). 22 (Psycho-)Therapie und Beratung verfügen über erhebliche Schnittmengen, sind aber teilweise »in unterschiedliche Denkmodelle und Logiken eingebunden« (Engel et al., 2007, S. 36). Im praktischen Geschehen verschwimmen die Grenzen (Hoff & Zwicker-Pelzer, 2022, S. 85). Aktuelle Debatten über das Verhältnis von (Psycho-)Therapie und Beratung finden sich u. a. bei Bräutigam, Hörmann und Märtens (2022) sowie Kuhnert und Berg (2020). 23 Der Fokus richtet sich oft explizit auf heterosexuelle Paarbeziehungen. Kirschenhofer (2019, S. 26) plädiert jedoch dafür, den Blick im Kontext der Paarberatung und -therapie auf die privilegierten Gruppen zu richten, um dadurch der Norm das Privileg der Selbstverständlichkeit zu nehmen. 24 Dyade wird hier synonym für Paar verwendet, das sich auf gleicher Ebene befindet (z. B. ein Liebespaar und weniger Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnis) (Bochmann, 2014, S. 1005).

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»So sieht sich die Beraterin oder der Berater nicht nur der doppelten Anzahl von Personen gegenüber als in der Einzelberatung, sondern einer Dyade, die sich aus der Interaktion zwischen den Partnern definiert. Anders als in der Gruppe […] ist die Interaktion bei Dyaden mit eigenem, der Beraterin/der Berater nicht unbedingt zur Verfügung stehendem Wissen, Vokabular und gemeinsamer Geschichte der Partner ausgestattet. Das daraus entstehende Informationsdefizit auf der Seite der Beraterin/des Beraters besteht nicht nur – wie bei der Einzelberatung – gegenüber den Einzelpersonen, sondern auch gegenüber dem Paar als System« (Bochmann, 2014, S. 1006). Paarberatung weist somit eine höhere Komplexität des Beratungssettings auf, die mit jeder weiteren Person in der Paarberatung ansteigt (Bodenmann & Ga­ briel, 2008, S. 1390). Die Arbeit mit einer Dyade bringt nicht nur unterschiedliche Problemdeutungen hervor, auch die für das Aufsuchen einer Paarberatung erforderliche und für den Beratungserfolg relevante Motivation ist variabel (Schär, 2016, S. 58 f.). Dem kann settingbedingt auf zweifache Weise geantwortet werden: Entweder führt ein*e Berater*in die Beratung durch oder sie erfolgt in einem Co-Beratungsteam. Dies wird unterschiedlich gehandhabt und bewertet. Co-Beratung kann ein nützlicher Rahmen sein, um Dialog zu fördern, indem sie Mehrstimmigkeit expliziter hervorbringt (Hornova, 2020). Weiterer Vorteil ist die Ausgeglichenheit der Geschlechterfrage (sofern sich danach gerichtet wird), Nachteil ist die Einbindung zeitlicher und für das Paar auch finanzieller Ressourcen (Schär, 2016, S. 72). Allen Ansätzen und Arbeitsweisen der Paarberatung (wie lösungsorientierte, verhaltenstherapeutische, integrative, psychodynamische, feministische etc.)25 gemein ist, dass sie den Fokus der Paarberatung auf die Veränderung der Interaktion des Paars legen, um die Beziehungsqualität zu verbessern (Roesler, 2018). Auch die soziale Konstellation, dass nämlich beide Paarteile die Paarberatung aufsuchen, zeigt eine weitere Gemeinsamkeit von Paarberatungen: Paarprobleme sind zirkulär und reziprok zu verstehen, »wonach jedes Verhalten des einen Partners auf das des anderen einwirkt und Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander zu trennen sind« (Bodenmann & Gabriel, 2008, S. 1391). Dass Paare als System verstanden und somit als gemeinsame Dyade von Beratung angesprochen werden, ist in weiten Teilen dem systemischen Ansatz 25 Theorien der Beratung können jeweils als »eine symbolische Ordnung verstanden werden: Sie stecken Sinnhorizonte ab und vermitteln Bedeutungszuweisungen« (Schnoor, 2013b, S. 179). Theoretische Grundlagen sind somit nie neutral, sondern dienen der Komplexitätsreduzierung und ziehen u. a. differente Problemwahrnehmungen und Interventionsplanungen der Beratungsperson nach sich.

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zu verdanken, der im Folgenden theoretisch vorgestellt wird. Dies schlägt sich, wie bereits erwähnt, einerseits in der Teilnahme beider Partner*innen in der Beratung nieder, andererseits darin, dass Kommunikation als Mittel und als Lösung in der systemischen Beratung fungiert, und erscheint insofern kompatibel mit den Anforderungen moderner Paaraushandlungsprozesse (Unterkapitel 2.1), als Kommunikationsprozesse Aushandlungen initiieren, um eine gemeinsame Wirklichkeit zu konstruieren.

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2 Theoretische Implikationen: Erstgespräche systemischer Paarberatung als Ort der Konstruktion von Adressat*innen

Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit von Paarberatung als Antwort auf die Herausforderungen moderner Paaraushandlungen spielt Kommunikation eine bedeutende Rolle. Unterkapitel 1.2 hat verdeutlicht, dass sich die Paarberatung als institutionelle Form der Kommunikation von Alltagsgesprächen unterscheidet. Dabei muss eine Übereinkunft gefunden werden, was darunter zu verstehen ist. Systemische Paarberatung bedeutet nicht nur ein Mehr-PersonenSetting, sondern auch, den Aushandlungsprozess unter systemsicher Perspektive zu betrachten. Erstgespräche sind ein besonderer Ort, um dynamische Wirklichkeitskonstruktionen (Vogd, 2002) auszuhandeln und eine Einigung zwischen den Beteiligten hinsichtlich des Beratungsgegenstands herzustellen (Bauer & Bolay, 2013). In der latenten Konstruktion der Adressat*innen im Beratungsprozess lassen sich die Angebote von Paarleitbildern oder Paaraushandlungsmodellen erkennen. In den folgenden Unterkapiteln wird erläutert, was dies besonders für Erstgespräche von Beratungen bedeutet, und wie dieser Prozess theoriegeleitet mit der Rahmenanalyse von Goffman und den Bedeutungsebenen der Adressat*innenherstellung zu fassen ist. Vorab wird der systemische Ansatz dahingehend näher erläutert.

2.1 Der systemische Ansatz als Rahmen für Kommunikationsund Konstruktionsprozesse Ein Blick auf die Ursprünge der (systemischen) Paar- und Familienberatung und -therapie gibt zwei bedeutsame Stränge frei: die Familientherapie26 als Mehrpersonentherapie und der systemische Ansatz als theoretisches Modell, 26 In diesem Kontext wird der Begriff der Therapie verwendet, da dort der systemische Ansatz im psychosozialen Bereich zuerst Fuß fasste und sich dann auf die weiteren Bereiche ausdehnte.

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besonders auf Systemtheorie und Konstruktivismus fußend (Ritscher, Levold, Foertsch & Bauer, 2018; von Schlippe & Schweitzer, 2016). Die systemische (Paar-)Beratung hat ihren Ursprung in der systemischen (Familien-)Therapie und mehrere Gründungsakteur*innen. Deren Gemeinsamkeit bestand darin, mit als schwierig oder gar nicht mehr behandelbar geltenden Menschen zu arbeiten. Bei ihren Forschungen zeigte sich, dass Probleme besser zugänglich und lösbar waren, wenn Familienmitglieder in die Behandlung einbezogen wurden. Beobachtung und Behandlung der Beziehung sowie der Kommunikation erschienen erfolgversprechender als langwierige Einzeltherapien (Reiter, Brunner & Reiter-Theil, 1997; Stierlin, 1975). Die Palo-Alto-Gruppe mit Murray Bowen, Salvador Minuchin und die Begründer*innen der Strategischen Familientherapie gelten als Pionier*innen der Paar- und Familientherapie. Bereits 1956 (1969 erstmals auf Deutsch) veröffentlichten Gregory Bateson, Don Jackson, Jay Haley und John Weakland eine detaillierte Analyse der Kommunikation mit Familien (Bateson et al., 1984). Sie zeichneten familiäre Interaktionen auf und analysierten sie anschließend. Dabei griff Bateson auf die Theorie der Kybernetik zurück. Murray Bowen entwickelte als Erster eine umfassende Theorie der Funktionsweisen von Familien (Bowen, 1978). 1954 forschte er am National Institute of Mental Health über Familien und Schizophrenie und erarbeitete seine Systemtheorie und Systemische Therapie. Das Ziel einer Familientherapie sah er in einer Förderung der Differenzierung der Familienmitglieder. Salvador Minuchin ging mit seinem Modell der strukturellen Familientherapie (Minuchin, 1977) davon aus, dass es in Familien zu Pro­ blemen kommt, wenn ihre Grenzen diffus oder zu starr sind, und fokussierte die Analyse der Interaktionsmuster der Familie. Familien wurden dabei als regelgesteuerte Systeme betrachtet, deren Struktur von außen erkennbar ist und durch therapeutische Methoden gezielt beeinflusst werden kann. Das Modell der strukturellen Familientherapie wurde von der Mailänder Arbeitsgruppe um Mara Selvini Palazzoli weiterentwickelt. Virginia Satir (Satir, 1990) und Carl Whitaker (Whitaker & Bumberry, 1992) betonten die erlebnisorientierten und affektiven Dimensionen der Familientherapie mit dem Ziel, größeres persönliches Wachstum und größere emotionale Tiefe zu erreichen. Psychische Probleme von Klient*innen werden nicht isoliert gesehen, sondern das Verhalten aller Familienmitglieder wird in die Betrachtung einbezogen. Wurde Familientherapie vorerst nur durch das Setting bestimmt, d. h., mehrere miteinander verwandte Personen saßen gemeinsam in der Therapie, führten die neuen theoretischen Überlegungen und daraus entwickelten Methoden bzw. Interventionstechniken in den 1970er-Jahren zur »Systemischen Familientherapie« (Elberfeld, 2020). In den 1980er-Jahren entwickelte eine zweite Generation die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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systemische Familientherapie weiter. Einen wesentlichen theoriegeschichtlichen, aber auch praktischen Ansatz in der (systemischen) Familientherapie stellt das Mailänder Modell der Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata Mitte der 1970er-Jahre dar (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin & Prata, 1977, 1981). Sie verstanden Familie als ein sich selbst organisierendes kybernetisches System, in dem alle Elemente vernetzt sind und die psychische Erkrankung Systemfunktionen erfüllt. Nicht unerwähnt bleiben darf im deutschsprachigen Raum die neue Heidelberger Schule um Helm Stierlin (1975), die mit ihrer Selbstorganisationsperspektive das therapeutische Vorgehen intensiver an der Eigenlogik des Patient*innensystems orientierte.27 Der systemische Ansatz wurde von mehreren Denkströmungen zirkulär beeinflusst (für einen Überblick: Borst, 2013; von Schlippe & Schweitzer, 2016). Er ist kein einheitliches und planvoll durchkonstruiertes Programm, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Zusammenwachsens verschiedener theoretischer und praktischer Ansätze. Zur Komplexitätsreduktion muss nun eine lineare Darstellung erfolgen,28 auch wenn das Geschehen eher zirkulär und prozesshaft ist. Der systemische Ansatz wurde dezentral von mehreren Akteur*innen parallel entwickelt. Einige Erarbeitungsprozesse liefen unabhängig voneinander ab, andere waren eng miteinander verbunden (von Schlippe & Schweitzer, 2016). Zusammengefasst wird unter systemischem Denken Folgendes verstanden: »Systemisches Denken verwendet Erklärungen, die sich aus der Systemtheorie ableiten lassen, und das heißt konkret: An die Stelle geradlinig-kausaler treten zirkuläre Erklärungen, und statt isolierter Objekte werden die Relationen zwischen ihnen betrachtet« (Simon, 2020, S. 12 f., Herv. i. Orig.). Zirkuläre Ursache-Wirkungs-Erklärungen stellen den Grundgedanken der Systemtheorie (Luhmann, 1984, 1997) dar, da in einem System, »dessen Teile oder Elemente miteinander vernetzt sind und in Wechselbeziehung stehen, […] die Frage, was Ursache und was Wirkung ist, nicht objektiv entscheidbar« ist (Simon, 2015, S. 15). Durch »Interpunktion« (Bateson, 1987) setzt 27 Systemische Paarberatung und -therapie haben methodisch u. a. folgende Personen maßgeblich beeinflusst: Hans Jellouschek mit seiner zweiten Frau Margarete und dritten Frau Bettina (Jellouschek, 2005; Jellouschek & Jellouschek-Otto, 2012), Jürg Willi (2008), Rosmarie Welter-Enderlin (1992), Astrid Riehl-Emde (2003), Arnold Retzer (2015), Andrea EbbeckeNohlen (2014), Ulrich Clement (2021) und Mohammed El Hachimi und Liane Stephan (2022). 28 Für eine komplexere Form der Darstellung wurde die systemische Geschichtswerkstatt von Tom Levold, Kurt Ludewig, Anni Michelmann, Wolf Ritscher, Wilhelm Rotthaus und Gisal Wnuk-Gette (Levold et al., 2020) ins Leben gerufen. Die systemische Geschichtswerkstatt bietet eine nicht lineare visuelle Darstellung der Geschichte des systemischen Ansatzes sowie seiner theoretischen und praktischen Vorläuferkonzepte.

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die beobachtende Person mehr oder weniger willkürlich den Anfang und das Ende einer beobachteten Sequenz. Der systemische Ansatz bewegt sich weg von den »Dingen oder Objekten und ihren Eigenschaften hin zu den Mustern ihrer funktionellen Kopplung und den damit verbundenen emergenten, d. h. neu entstehenden, nicht auf die Eigenschaften der Elemente zurückführbaren, Eigenschaften« (Simon, 2020, S. 16, Herv. i. Orig.). Heinz von Foerster, dem radikalen Konstruktivismus zugeordnet, prägte die Unterscheidung von trivialen und nicht trivialen Systemen bzw. Maschinen. Triviale Maschinen sind für eine beobachtende Person denkbar, vollständig durchschaubar und damit steuerbar. Nicht triviale Systeme hingegen sind durch ihren ständigen Wandel und ihre Eigendynamik analytisch unbestimmbar und daher nicht geradlinig steuerbar (von Foerster, 2006, 2014). Die Theorie der Autopoiese verdeutlicht dabei, dass lebende Systeme nicht gezielt und planungs­voll zu verändern sind. Nach Maturana und Varela (2009) kennzeichnet die Autopoiese (griech. autos ›selbst‹, poiein ›machen‹) den Menschen als autonom. Autopoietische Systeme verfügen über die Fähigkeit, sich selbst herzustellen und zu erhalten (Maturana & Varela, 2009, S. 55). Der Mensch ist autonom, wenn er dazu fähig ist, »seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren« (S. 55). Mit dem Konzept der strukturellen Kopplung verdeutlichen Maturana und Varela, wie soziale Systeme in Austausch miteinander treten können, wenn mindestens zwei autopoetische Einheiten sich so organisiert haben, dass ihre Interaktionen einen rekursiven und stabilen Charakter erhalten haben und sie damit wechselseitig ihre Struktur verändern (S. 85).29 Beiden Theorien – dem radikalen Konstruktivismus30 (von Foerster, 2006, 2014; von Glasersfeld, 2006, 2014) und dem Konzept der Autopoiese – ist gemein, dass die Wirklichkeit nicht losgelöst von der beobachtenden Person gesehen werden kann. Die Wirklichkeit wird durch eine*n Beobachter*in hervorgebracht (von Glasersfeld, 2006, S. 13). Eine »tatsächliche« Wirklichkeit ist demnach nicht 29 Auf die Kritik des Autopoiesekonzepts, z. B. ob Konzepte der Biologie auf Menschen stringent übertragen werden können, wird hier nicht weiter eingegangen (siehe dazu: Jones, 1995). 30 Die verschiedenen konstruktivistischen Ansätze verbinden folgende erkenntnistheoretische Grundüberlegungen: 1. Das, was als eigene Wirklichkeit erlebt wird, ist Ergebnis einer Erkenntnisleistung und nicht ein Abbild der Realität. 2. Menschen besitzen kein außerhalb ihrer Erkenntnismöglichkeit stehendes Mittel, um die Gültigkeit ihrer Erkenntnis zu überprüfen. Somit können keine sicheren Aussagen getroffen werden, ob subjektive Wirklichkeit und (objektive) Realität übereinstimmen (von Ameln, 2004, S. 3). Der Konstruktivismus beschäftigt sich mit »dem menschlichen Erkennen, Denken, Urteilen« (Simon, 2020, S. 12) und trennt diese Vorgänge nicht von der zu erkennenden Welt, sondern sieht sie »als Teil von ihr, d. h., er versucht den Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen beidem, Erkenntnis und Erkanntem, zu richten«.

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fassbar, da jede Beschreibung von Wirklichkeit von jemandem vorgenommen wird und auf ihn zurückgeführt werden kann (Maturana, 1985, S. 34). Jede Aussage ist zu einem großen Teil von der Perspektive der beobachtenden Person, ihren Wahrnehmungsfähigkeiten, Interessen, Erfahrungen etc. geprägt (von Foerster, 2006, S. 43). Es kann somit »auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden« (von Glasersfeld, 2006, S. 32). Stattdessen spricht von Glasersfeld von Viabilität und zielt damit ab auf »eine Handlungs- und Denkweise, die an allen Hindernissen vorbei […] zum erwünschten Ziel führt« (S. 30). Der Konstruktivismus nimmt ebenfalls in den Blick, wie Wirklichkeit zwischen Individuen entworfen wird. Innerhalb der Kommunikation kann nie der Zustand erreicht werden, dass die Teilnehmenden exakt wissen, was die andere Person gesagt bzw. gemeint hat (von Glasersfeld, 2018, S. 63). Die Systemtheorie von Niklas Luhmann schließt an die entwickelten Modelle von Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld an. Jeder Kommunikationsteilnehmende könnte das Gesagte bzw. die Kommunikationssignale des Gegenübers auch anders interpretieren. Die jeweilige Deutung ist »kontingent« (Simon, 2020, S. 94). Jede*r Kommunikationsteilnehmende »kann erwarten und voraussetzen, dass auch der andere sich immer anders verhalten könnte, und muss dessen unterstellte, freie Wahlmöglichkeit als Problem bewältigen« (S. 95). Die Ausgangslage jeglicher Interaktion ist daher die der doppelten Kontingenz (Luhmann, 1984, S. 151 ff.). In jeder Interaktionssituation stehen die beteiligten Akteur*innen vor dem grundsätzlichen Problem, dass sie nicht wirklich wissen können, woran ihre jeweiligen Gegenüber ihre Handlungen orientieren. Eine Person kann nicht allein kommunizieren, zur Emergenz von Kommunikation gehören stets mehrere Beteiligte. Nach Luhmann bestehen soziale Systeme aus Kommunikation und deren Relation zueinander. Nur Kommunikation beeinflusst Kommunikation (Luhmann, 1997, S. 24). Gesprächsbeteiligte in einem Kommunikationszusammenhang können den Erfolg von Kommunikation nur durch die Anschlusskommunikation beschreiben. Eine weitere Erkenntnistheorie des systemischen Ansatzes, der soziale Kon­ struktionismus, baut darauf auf, dass Menschen ihre Wirklichkeit konstruieren, indem sie miteinander kommunizieren (Gergen & Gergen, 2009, S. 12). Interaktion erfolgt durch das Medium der Sprache. Hierbei steht nicht – wie im Konstruktivismus – das Individuum im Fokus, sondern die »Beziehungen als Orte der Wirklichkeitskonstruktion« (S. 8), womit die relationale Perspektive deutlich hervorgehoben ist. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Auf (Paar-)Beratung bezogen kann festgehalten werden: »Wo immer beraten wird, kommunizieren Menschen. […] Alle Formen der Beratung sind Formen der Kommunikation« (Simon, 2019, S. 7, Herv. i. Orig.). Es lassen sich nicht nur einzelne Personen beraten, sondern auch Mehr-Personen-Systeme, wie Paare oder Familien. Kommunikation verbindet Personen miteinander und lässt somit ein soziales System, hier expliziter ein Beratungssystem, entstehen (S. 21 f.). Unabhängig vom Thema der (Paar-)Beratung geht es stets darum, das Kommunikationssystem zu gestalten, das von den Beteiligten nicht einseitig zu steuern und zu kontrollieren ist (S. 8). Sowohl Berater*innen als auch Aufsuchende von Paarberatung konstruieren ihre Wirklichkeit anders als die anderen Teilnehmenden der Beratung und schaffen erst durch Sprache relational ein Beratungssystem. Und diese in der Beratung gelernte Kommunikation nimmt damit entscheidend Einfluss bei der Aushandlung der Paarbeziehung. Folgt man diesen Prämissen, wird durch Kommunikation das Beratungssystem ausgehandelt, wenngleich es institutionell verortet ist. Bei der Aushandlung über Kommunikation spielen Erstgespräche eine bedeutsame Rolle: Sie sind Anlass und Ort einer expliziten und impliziten Vorstellung des Systems Beratung und einer Aushandlung der Konkretheit zwischen den Beteiligten.

2.2 Erstgespräche in ihrer Bedeutung für die Konstruktion von Paaren als Adressat*innen Um die Eigenlogik von Beratung als institutionelle Kommunikation herausarbeiten zu können, ist es notwendig, sich mit dem Anlass und dem Ziel von Beratung auseinanderzusetzen (Dewe & Schwarz, 2019, S. 59), die besonders in Erstgesprächen verhandelt werden. Generalisierbare Merkmale von Erstgesprächen31 können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Es wird zwischen den Beteiligten geklärt, »ob es und inwieweit es mit welchen Zielvorstellungen zu einer Zusammenarbeit zwischen ihnen kommen« (Kähler & Gregusch, 2015, S. 63, Herv. i. Orig.) kann. 2. Die Herstellung eines Arbeitsbündnisses wird angebahnt (Kähler & Gregusch, 2015, S. 67). Der Aufbau eines Arbeitsbündnisses oder einer therapeutischen Allianz ist bei Mehr-Personen-Settings ein komplexes Unterfangen, da sie als »plural and multidimensional phenomenon« (Escudero, 2016, S. 2) auftritt. Allianzen in der Beratung entstehen demnach zwischen dem 31 Erstgespräche sind nicht auf ein Gespräch beschränkt. Alle Gespräche zur Klärung der Zusammenarbeit können als Erstgespräche gelten (Kähler & Gregusch, 2015, S. 64).

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Paar bzw. der Familie als System und dem*der Berater*in, zwischen Subsystemen (z. B. Berater*in und einem Paarteil) und dem*der Berater*in und innerhalb des therapeutischen Systems (Janusz, Matusiak & Peräkylä, 2021). 3. Die weitere Zusammenarbeit durch Ziel- und Interventionsklärung wird verabredet (Kontrakt) (Kähler & Gregusch, 2015, S. 115). Während des Erstgesprächs wird demnach nach dem Unterstützungsbedarf gefragt, eine vertrauensvolle Beziehung für die weitere Zusammenarbeit zu entwickeln versucht (Kähler & Gregusch, 2015, S. 67) und überprüft, inwieweit die Ratsuchenden an der passenden Stelle gelandet sind (Bauer, 2014, S. 233). Das bedeutet, dass Erstgespräche ihrer Funktion folgend mannigfaltige Informationen bezüglich des Hilfe- bzw. Unterstützungsbedarfs erheben, eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufgebaut werden soll und abgeklärt wird, inwieweit das Anliegen angemessen in diesem institutionellen Rahmen bearbeitet werden kann und ob die angesprochenen Professionellen und deren Organisation dafür zuständig sind (Kähler & Gregusch, 2015, S. 64). Beraten als Interaktionsform folgt einer logischen Ordnung, die jedoch nur teilweise die Ablaufstruktur von Beratungsgesprächen bestimmt (Kallmeyer, 2000, S. 238). Kallmeyer entwickelte eine Phasenabfolge, wie sich Beraten als Interaktionsform etabliert: »Eine Partei, der Ratsuchende (RS), hat ein Problem; RS veranlasst oder lässt zu, dass sich eine andere Partei, der Ratgeber (RG), mit seinem Problem in helfender Funktion beschäftigt; RG schlägt als Problemlösung ein zukünftiges Handeln von RS vor; RS entscheidet über die Annahme des Lösungsvorschlags, und die Realisierung der Lösung bleibt Aufgabe von RS« (Kallmeyer, 2000, S. 228). Die idealtypische Ablaufstruktur von Beratungsgesprächen beschreiben Nothdurft et al. (1994, S. 10): – Situationseröffnung mit Instanzeinsetzung, – Problempräsentation, – Entwickeln einer Problemsicht, – Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung, – Situationsauflösung. Ina Pick hat eine Typologie des Handlungstyps Beraten entwickelt, die die verschiedenen Ausprägungen der Merkmale mitverortet (Pick, 2017). Dort kommen auch die von Nothdurft et al. (1994) und Kallmeyer (2000) genannten © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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skalierbaren kommunikativen Merkmale vor. Gesprächslinguistisch ist kaum eine Differenz von Beraten und Psychotherapie zu erkennen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese beiden Formate institutionellen Handelns »einander in wesentlichen Punkten gleichen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ihr Zweck je in einer systematischen Bearbeitung des Klientenwissens durch Sprache besteht, welche es den Klienten ermöglichen soll, sozial akzeptierte Handlungswege einzuschlagen« (Scarvaglieri, 2017, S. 71, Herv. i. Orig.). Wahlström (2018, S. 24) identifiziert sechs Kernthemen, die alle Therapeut*in-Klient*in-Dyaden in der ersten Sitzung behandeln: – Formulierung der problematischen Erfahrung der Klient*innen und Festlegung eines Fokus und einer gemeinsamen Ebene für die therapeutische Arbeit, – Definieren des oder Auseinandersetzung mit dem interaktionellen Kontext und der Beziehung zwischen den Beteiligten, – Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses der Gründe für die Pro­ bleme der Klient*innen, – Konstruktion der Psyche der jeweiligen Klient*innen als Untersuchungsgegenstand, – Aushandeln von Zielen und Aufgaben für die therapeutische Arbeit, – Erarbeitung von Reformulierungen der Probleme der jeweiligen Klient*innen. Am Beginn von Beratungsgesprächen sollen die Teilnehmenden die Situation eröffnen, die Beteiligten identifizieren und die äußere Situation arrangieren. Darunter sind Aktivitäten zu verstehen, bei denen die Beteiligten ihre Rollen herstellen (Nothdurft et al., 1994, S. 11). Schon vorab etabliert die ratsuchende Person ihre Beratungsbedürftigkeit, indem sie eine Beratungsinstitution aufsucht und damit auch die Kompetenz und Zuständigkeit bei der Institution voraussetzt (Niehaus, 2014, S. 25). Bei Paarberatung ist dies komplexer, da die Beteiligten diesbezüglich unterschiedliche Ansichten haben können. Bei Paarberatung stehen beide Personen des Paars im Zentrum der Aufmerksamkeit, auch wenn sich ihre Motivationen unterscheiden können. Am Anfang eines Erstgesprächs steht auch die Klärung der Motivation der einzelnen Paarteile und die Frage, inwiefern Motivierbarkeit vorhanden ist (Stierlin, Rücker-Embden, Wetzel & Wirsching, 2001, S. 55).32 32 Erstgespräche können dadurch zustande kommen, dass sie »den Klienten (1) behördlich verordnet oder (2) von Netzwerkangehörigen angeraten wurden, und (3) […] von Klienten selbst initiiert wurden« (Kähler & Gregusch, 2015, S. 29). Bei Paarberatung ist es üblich, dass eine Person des Paars das Erstgespräch initiiert hat (Ebbecke-Nohlen, 2000b, S. 22). Von einem institutionell verordneten Zwangskontext kann nicht gesprochen werden.

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Die ratsuchende Person steht nun vor der Aufgabe, ihr Problem zu präsentieren. Als Problem in einem Beratungsgespräch kann also nur gelten, was versprachlicht wurde (Nothdurft, 1984). Die ersten Problempräsentationen sind selektiv bestimmt. Klient*innen müssen »aus der potentiellen Vielfalt an Sachverhaltsdarstellungen diejenige auszuwählen, die aus ihrer Sicht das Problem in besonderer Weise deutlich macht« (Bauer, 2014, S. 235 f.). Klient*innen oder Ratsuchende setzen Relevanzen und stufen tendenziell das Problem zuerst herab, im Sinne eines einfachen Einstiegs (Kallmeyer, 2000, S. 239). Wesentliche Dimensionen der Problempräsentation sind eine »Selektionsaufgabe (wesentliche Aspekte des Sachverhalts für die Darstellung auswählen), eine Typisierungsaufgabe (die Aspekte in ihrer Eigenheit deutlich machen) und eine Anordnungsaufgabe (die Aspekte in eine Reihenfolge bringen)« (Nothdurft, 1984, S. 64). Ein Problem muss daher nicht objektiv vorhanden sein, hinreichend ist vielmehr, dass eines wahrgenommen (oder vorgegeben) wird (Niehaus, 2014, S. 15). Das Anliegen33 formt sich aus »impliziten, also latenten Quellen, die den PatientInnen im Moment des Erstgesprächs nicht per se zugänglich sind, die sich vielmehr im Verlauf des Gesprächs interaktiv entwickeln, entfalten und – im günstigen Fall – von den Therapeut/innen erkannt werden« (Mathys et al., 2013). Das Anliegen manifestiert daher, was mit der Problemstellung in der Beratung gemacht werden soll, und wird somit interaktiv hervorgebracht (Nothdurft, 1984, S. 66 ff.). Zwecks Entwicklung einer Problemsicht gilt es, zunächst alle bedeutsamen Informationen, die vom Ratsuchenden präsentiert und durch zusätzliche Exploration gewonnen wurden, zusammenzutragen und zu systematisieren (Nothdurft et al., 1994, S. 12).34 Die Problemexplikation ist gekennzeichnet durch typische Aushandlungsmuster, die sich im interaktiven Zusammenspiel der Redebeiträge herausbilden und stabilisieren (Nothdurft, 1997, S. 114 ff.). Dabei regelt sich, wie aufeinander Bezug genommen wird, und es werden Themen interaktiv aufgegriffen, ignoriert oder umgedeutet (Buttny, 1996). Beispielsweise nutzen Berater*innen Präzisierungsfragen, um auf ein geschildertes Problem näher einzugehen, das sie als beratungswürdig deklarieren. Sie beteiligen sich also »aktiv an der Definition der spezifischen Problemlage für die Beratung und können deren Gegenstand dadurch zu einem guten Stück mitgestalten« (Knauth & Wolff, 1989, S. 330, Herv. i. Orig., siehe Unterkapitel 33 Ein Anliegen verweist im Gegensatz zu einem Problem definitorisch auf eine stellenweise im Vagen liegende Sache und auf das gleichzeitige Vorliegen explizierter und latenter Kommunikation (Mathys et al., 2013). 34 Kritisch zum Prozess der Anamnese und deren organisatorischer Abhängigkeit innerhalb von Erstgesprächen in der Psychiatrie die Studie von Wyssen-Kaufmann (2015).

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2.4). Von den Berater*innen verfolgte Beratungskonzepte und für bestimmte Formen der Beratung von ihnen erworbenes Spezialwissen sind als Einflussfaktoren zu nennen. In konstruktivistisch-systemischen Beratungen zeigt sich bei Problembesprechungen, dass weniger direktive Instruktionen erfolgen, sondern versucht wird, eine veränderte Sicht auf das Problem zu initiieren (Miller & Silverman, 1995). Die soziale Konstruktion von Problemdefinitionen in diesen Settings ist untrennbar mit den kontextualisierenden Praktiken der Berater*innen verbunden, die die Umstände der Klient*innen in der Regel als familiäre Probleme darstellen, sowie mit ihrem Interesse, passende Lösungen für die Probleme zu finden (Miller & Silverman, 1995, S. 738). Idealerweise sollen dies in Interaktion mit den Klient*innen aus ihnen heraus entwickelte Lösungen sein (Graf, 2022, S. 154; Miller & Silverman, 1995, S. 733). Dabei wird hervorgehoben, dass »›Gespräche‹ auch das Hauptmedium der ›Hilfe‹ darstellen und nicht bloß die vordiagnostische Arbeit, in deren Rahmen der Praktiker die ›Fakten‹ und ›Symptome‹ zusammenträgt« (Turner, 1976, S. 172). Die Klient*innen werden von Anfang an damit vertraut gemacht, dass Reden und Kommunizieren den Hauptbestandteil von Beratung ausmachen. Bei einem Mehr-Personen-Setting wird von den Ratsuchenden auch verlangt, »in Gegenwart von Laienzuhörern zu sprechen, d. h. in Gegenwart von Personen, die – wie er selbst – Laien sind in bezug auf die Klasse der Probleme, die den Status des ›Patient-Seins‹ legitimieren« (S. 164 f.). Dies geht eng mit der Lösungsentwicklung und -verarbeitung einher, die sich ebenfalls als »komplexes Ineinander von Aktivitäten […] entfaltet« (Nothdurft et al., 1994, S. 13). Diese Phase wird mit der Formulierung eines konkreten Lösungsvorschlags beendet (S. 14). Danach folgt die Situationsauflösung. Verabschiedung und Begrüßung in Beratung und Therapie stellen interpersonale Rituale dar (Streeck, 2002). Wie diese ausgeführt werden, gibt Aufschluss über die therapeutische Beziehung und in psychoanalytischen Settings Hinweise auf Übertragungen (Streeck, 2002, S. 35). Die Gesprächsstruktur veranschaulicht, dass ausgehandelt wird, wie Beratung auszusehen hat. Beraten als Interaktionsform muss jedoch zwischen den Beteiligten anerkannt werden (Kallmeyer, 2000). Dabei wird deutlich, dass auch in institutionalisierten und standardisierten Beratungssettings keine Vorstellung der Beteiligten über Beratung vorangenommen werden kann. Hierbei bedarf es einer spezifischen »Einsozialisation des/der KlientIn in die interaktiven Regeln des Beratens und Beraten Werdens und eine[r] Aushandlung da­rü­ ber, was im gewählten institutionellen Kontext als Beratung deklariert wird« (Bauer, 2014, S. 234). Erstgespräche stellen einen besonderen Raum dar, um Menschen, die eine Beratung aufsuchen, als Adressat*innen von Beratung zu © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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konstruieren. Die Struktur von Erstgesprächen bringt zutage, dass bestimmte Rollen eingenommen werden müssen. Dabei werden den Menschen, die eine Beratung aufsuchen, »klientInnenbezogene Rollen zugewiesen […] und die Einsozialisation in die spezifische Form der institutionell vorgesehenen beraterischen Kommunikation erfolgt« (Bauer, 2014, S. 234). Demnach bedeutet institutionelle Kommunikation, dass in Interaktionen zwischen Berater*innen und potenziellen Ratsuchenden Letztere »nicht nur nach Maßgabe von ­institutionellen Zielsetzungen ›prozessiert‹« (Hitzler & Messmer, 2008, S. 250), sondern auch »zuerst als Fälle ›produziert‹ werden (Hitzler & Messmer, 2008, S. 250). Ratsuchende werden zu Klient*innen bzw. Adressat*innen »gemacht« (Bittner, 1981). Besonders in Erstgesprächen ist zu präzisieren, ob Zuständigkeit und damit verbundene Zuschreibungen passend sind (Kähler & Gregusch, 2015, S. 49). Prozessierung bzw. Herstellung der Rollen sind interaktive Aufgaben, »mit denen die am Beratungsgespräch Beteiligten ständig umgehen müssen, d. h. unabhängig davon, ob gerade Problemsachverhalte rekonstruiert oder Lösungen gesucht, vorgeschlagen oder plausibilisiert werden« (Nothdurft et al., 1994, S. 15). Es bedarf einer reziproken Verständigung darüber, worum es in der Beratung gehen soll und welche Rollen dabei zugeschrieben werden. Die Kommunikation darüber erfolgt jedoch nicht nur auf einer manifesten Ebene. Latent ist die Verständigung und Herstellung der Rollen verwoben sowohl mit den Aufgaben und damit der Struktur eines Erstgesprächs als auch mit den Leitbildern und Vorstellungen von Partnerschaft. Mit dieser Perspektive rückt die Bearbeitung institutioneller Strukturprobleme vermehrt in den Blick.

2.3 Kommunikative Konstruktion von Erstgesprächen: Rahmenanalyse als Situationsdefinition Wie bereits beschrieben handelt es sich bei Beratung um eine institutionelle Form der Kommunikation, die sich von Alltagskommunikation unterscheidet (Drew & Heritage, 1992). Beratung stellt hier eine Interaktionsform dar, in der eine Übereinkunft zwischen den Beteiligten hergestellt wird, wie gemeinsam gehandelt werden soll (Bauer, 2014, S. 232). Erstgespräche sind der zentrale Ort zur interaktiven Herstellung des Beratungsrahmens (Bauer & Bolay, 2013). Es geht dort u. a. um eine wechselseitige »Sozialisation des Klienten(systems) oder Patienten(systems) zum Klienten(system) oder Patienten(system)« (Hildenbrand, 1999, S. 124, Herv. i. Orig.) bzw. um die relationale Klärung, was der Fall ist (Bauer, 2014, S. 232). Dazu bedarf es einer reziproken Verständigung darüber, worum es in der Beratung gehen soll. Diese wechselseitige Aushandlung lässt © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sich erkenntnistheoretisch mit Erving Goffmans Rahmenkonzept einer Situation definieren (Goffman, 1980; Hildenbrand, 1999). Soziale Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass »zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können« (Goffman, 2001, S. 55). Vorab erfolgt eine Differenzierung zwischen Rahmen (frame/übersubjektive Geordnetheit/sozialer Sinn) und Rahmung (framing/subjektive Deutungen/ Sinn aktualisierende Praxis) (Hettlage, 2022). Inspiriert von Gregory Batesons Arbeiten zum Spielverhalten von Tieren und dessen Verwendung des Ausdrucks (Bateson, 1985, S. 241 ff.) entwickelte Goffman seinen Rahmenbegriff. Er unterscheidet zwischen primären und sozialen Rahmen. Ein primärer Rahmen macht »einen sonst sinnlosen Aspekt zu etwas Sinnvollem« (Goffman, 1980, S. 31) und ermöglicht »die Lokalisierung, Wahrnehmung, Identifikation und Benennung einer anscheinend unbeschränkten Anzahl konkreter Vorkommnisse, die im Sinne des Rahmens definiert sind« (S. 31). Primäre Rahmen sind im Allgemeinen nicht bewusst. Soziale Rahmen dagegen liefern »einen Verständigungshintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Lebewesens, in erster Linie des Menschen, beteiligt sind« (S. 32). Somit entspricht ein Rahmen einer Perspektive oder einer Wirklichkeitskonstruktion, wie ein vorhandenes Problem betrachtet und verstanden werden kann (Vogd, 2002, S. 325). Rahmen sind »zentrale Elemente der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und der subjektiven Orientierung im Alltag« (Hildenbrand, 1999, S. 125). Zu bedenken ist, dass stets mehrere Rahmen Anwendung in einer Situation finden (Goffman, 1980, S. 35).35 Verschiedene Rahmen führen zu diversen Problemsichten und sind daher »nicht als etwas Festes bzw. Starres anzusehen, sondern stellen ihrerseits dynamische Wirklichkeitskonstruktionen dar, die hochsensitiv auf soziale Interaktionen reagieren können« (Vogd, 2002, S. 343). Sie dienen dazu, soziale Interaktionen einzuordnen und »Orientierung über die Regeln und vorherrschenden Sinngebungen in einer bestimmten Interaktion« (Bauer, 2014, S. 232) zu geben. Rahmen sind hier als Teil von »sozialen Handlungen und kollektiven Aktivitäten« (Knoblauch, 2007, S. 172) zu verstehen und lassen sich an Gesprächen besonders illustrieren, sie sind verhandelbar und müssen interaktiv stets neu hergestellt werden (Knoblauch, 2007, S. 174). Rahmen sind prozesshaft zu verstehen und damit auch »anfällig für Veränderungen« (Hildenbrand, 1999, S. 125) und können sich überlagern, sodass eine Interaktion mehrfach gerahmt sein kann. 35 »Natürlich steht manchmal ein bestimmter Rahmen im Vordergrund und liefert eine erste Antwort auf die Frage ›Was geht hier eigentlich vor?‹. Die Antwort: ein Ereignis oder eine Handlung, die mittels eines primären Rahmens beschrieben ist« (Goffman, 1980, S. 35).

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Nach Vogd findet Praxis »in einer ›polykontexturalen‹ Gleichzeitigkeit verschiedenster Funktionsbezüge statt, die das intentionale Bewusstsein des Einzelnen überschreiten und deren Prioritäten in kommunikativen Prozessen immer wieder ausgehandelt werden müssen« (Vogd, 2002, S. 323). Die professionelle Situation wird somit innerhalb des Rahmens hergestellt und in der Situation bestätigt. Trotz dieser Aushandlungen und Transformationen weisen Rahmen ebenfalls eine gewisse Beständigkeit auf (Hildenbrand, 1999, S. 125). Es steht daher vor Beginn einer Beratung grundlegend fest, was währenddessen passieren soll (Sander, 2012, S. 18).36 Rahmen sind bei der Orientierung und Entlastung behilflich. Durch die Vorabdefinitionen einer sozial vorgegebenen Situation »sind sowohl für die Professionellen wie für die KlientInnen bestimmte Handlungen erwartbar, andere eher unwahrscheinlich« (S. 18). Rahmung kann als fortwährende Herstellungspraxis definiert werden, bei der die Interaktionsteilnehmenden sich wechselseitig die Definition der Situation verdeutlichen (Soeffner, 2015). Rahmung erscheint als »die erlebende und handelnde Umsetzung von Sinn, aus Goffmans Sicht als kontingent, subjektiv anforderungsreich und anfällig« (Willems, 1997, S. 90). Die Interaktionsteilnehmenden stellen »implizit, kaum bewußt, für sich fest, was für sie die Situation ist oder sein sollte, und sie verhalten sich – bis auf weiteres – entsprechend« (Soeffner, 2015, S. 162). Innerhalb professioneller Interaktionen in institutionalisierten Settings wird ausgehandelt, »welchen Verhaltensspielraum man sich wechselseitig in den zumeist sehr klar definierten Rollen von KlientInnen und Professionellen zugesteht« (Sander, 2012, S. 26). In diesen Situationen entstehen neben einfacheren auch komplexe Rahmenstrukturen, die insofern störanfällig sind, als »ihre Aufrechterhaltung in höherem Maße von dem Gelingen eines wechselseitigen In-Übereinstimmung-Bringens von Bedeutungsgehalten der InteraktionsteilnehmerInnen abhängt« (S. 19).37 Auch in Therapiesettings werden der institutionelle Rahmen und dessen Einfluss immer dezidierter erörtert (Miller, 2018). In institutionalisierten Beratungssettings wird erwartet, dass Ratsuchende sich als »Homo consultabilis« (Thiersch, 1989) – des zur Beratung fähigen Menschen – präsentieren bzw. interaktiv herstellen lassen. In Erstgesprächen 36 Auch Rahmenbrüche sind möglich (Goffman, 1980, S. 378), beispielsweise wenn eine Beraterin im Erstgespräch die Adressatin um Hilfe fragt. 37 Die Interaktionsteilnehmenden übernehmen eine Doppelrolle: »Sie sind Akteure und gleichzeitig Interpreten eigener und fremder Handlungen. Sie handeln und interpretieren auf der Grundlage eines durch Sozialisation und Erfahrung erworbenen und innerhalb ihrer Kultur gesellschaftlich weitgehend geteilten und ebenso weitgehend routinisierten Vorwissens, das ihnen jeweils ein mehr oder weniger bewußtes Repertoire von typischen Bedeutungen, Handlungen und Auslegungen zur Verfügung stellt« (Soeffner, 2015, S. 161).

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wird somit auf Rahmen, die schon vorab wirksam werden, zurückgegriffen. Drei Bedeutungsebenen spielen bei der Konstruktion von »Homo consultabilis« bzw. der Adressat*innen eine Rolle. Wie sich Adressat*innen besonders in Erstgesprächen herstellen lassen und welche Ebenen darauf latent einwirken, wird im Folgenden genauer herausgearbeitet.

2.4 Bedeutungsebenen der Herstellung von Adressat*innen Nach der Bedeutung des Erstgesprächs in Beratungen und der Notwendigkeit der Prozession zu Klient*innen bzw. Adressat*innen38 wird der Untersuchungsfokus im Folgenden auf die Möglichkeiten der Herstellung von Adressat*innen auf der Mikroebene gelegt, die vor allem in Erstgesprächen zum Tragen kommen. Dafür werden die Bedeutungsebenen näher definiert und dahingehend ausgelegt, dass sie sich spezifisch auf die interaktive Herstellung der Situation anwenden lässt, auch um zu verdeutlichen, wie Adressat*innen in bestimmten psychosozialen Settings latent gerahmt werden und welche Diskurse die entsprechenden Orientierungen prägen. Die Ebenen heben die Verwobenheit von Mikro-, Meso- und Makroebene hervor, die nun detailliert beschrieben wird. Der Adressat*innenbegriff wurde maßgeblich von Thiersch (2013) und weiteren Wissenschaftler*innen vorangetrieben (Bauer & Bolay, 2013; Bitzan & Bolay, 2017; Graßhoff, 2015). Er stammt initial aus der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik, findet jedoch in weiteren psychosozialen Praxisfeldern, wie beispielsweise Beratung und Therapie, seine Berechtigung (bspw. Schleider & Huse, 2011). Auf drei Ebenen finden Prozesse der Herstellung von Adressat*innen statt: (1) gesellschaftlich und sozialpolitisch, (2) organisational und institutionell und auf der (3) Interaktionsebene (Bitzan & Bolay, 2017; Graßhoff, 2015). (1) Gesellschaftliche und sozialpolitische Rahmung

Wer als Adressat*in verstanden wird, steht im Zusammenhang mit der jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Situation (Thiersch, 2013, S. 18) und kann nur im Zusammenspiel dieser Aspekte und der aktuellen Funktion von Beratung 38 Die Begrifflichkeiten wie Klient*innen, Kund*innen, Adressat*innen, Patient*innen und Nutzer*innen beschreiben zunächst »ein Bezugverhältnis von sozialen Akteuren zu personenbezogenen sozialen Dienstleistungskontexten« (Hanses, 2013, S. 100). Dahinter stecken »nicht nur differente Konstrukte und Bezeichnungen von Menschen, die mit Sozialpädagogik in irgendeiner Form in Berührung kommen, sondern auch verschiedene theoretische Zugänge« (Graßhoff, 2008, S. 400). Hier wird im Weiteren nur auf die theoretischen Zugänge des Adressat*innenbegriffs – zusammengefasst durch die Ebenen – eingegangen.

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betrachtet werden. Wer als Adressat*in konstruiert wird, hängt davon ab, welche Probleme oder Lebensphasen im gesellschaftlichen Diskurs, d. h. von außen, als bearbeitungswürdig erscheinen und eine Intervention benötigen (Bitzan & Bolay, 2013, S. 42 f.). Dies wird im Kontext der sozialstaatlichen Bearbeitung sozialer Probleme gerahmt (Bitzan & Bolay, 2017, S. 16). Soziale Probleme sind keine Tatsachen, sondern »zurückzuführen auf gesellschaftliche Übereinkünfte, auf machtvoll durchgesetzte gesellschaftliche Ordnungen, die auch immer wieder neu bestätigt, hergestellt und verändert werden müssen« (S. 17). An sozialen Problemen zeigt sich, »was in der modernen Gesellschaft als ›normal‹, mithin als akzeptiert und anerkannt angesehen wird und welche Verhaltensweisen als abweichend, konfliktreich, ›schwierig‹ bewertet werden und demzufolge eine helfende oder kontrollierende Intervention nach sich ziehen« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 16). Nach Groenemeyer (2010a, 2013) werden soziale Probleme kollektiv interpretiert und »für deren Bearbeitung, Kontrolle oder Lösung eine gesellschaftliche bzw. politische Verantwortung angemahnt und erwartet […]; sie sind Gegenstand öffentlicher Diskussionen, politischer Maßnahmen und Regelungen, und zu ihrer Bearbeitung sind spezialisierte öffentliche Institutionen geschaffen worden« (Groenemeyer, 2013, S. 758). Die Debatte richtet sich auf die »richtige« Deutung und Behandlung sozialer Probleme (Groenemeyer, 2013, S. 760). Dabei sind Betroffene, Advokat*innen, Expert*innen aus der Wissenschaft, politische Parteien und (Lobby-)Verbände, soziale Bewegungen und (Massen-)Medien beteiligt, die jeweils eigene Deutungen und Perspektiven einbringen (Schetsche, 1996, S. 39 ff.; 2014, S. 85 ff.). Der Konstruktionsgedanke wird deutlich, wenn soziale Probleme im historischen Verlauf betrachtet werden. Unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen »lässt sich gut erkennen, dass jeweils geltende Übereinkünfte mit gesellschaftlichen Entwicklungen und vor allem auch mit Auseinandersetzungen um Ordnungsverhältnisse verbunden sind, in denen sich mit Reichweiten (Grenzen) und damit immer wieder mit neuen Definitionen dessen, was als ›normal‹ gilt, auseinandergesetzt wird« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 17 f.). © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Es wird also deutlich, dass als solche definierte soziale Probleme in ihrer Bedeutsamkeit immer eingebunden sind in aktuelle gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Debatten, die von unterschiedlichen Akteur*innen mit diversen, auch widersprüchlichen Interpretationen und Deutungsangeboten geführt werden (Groenemeyer, 2013, S. 761). Diese relationale Herstellungsleistung spiegelt sich im Terminus »doing social problems« (Groenemeyer, 2010a). Sämtliche Akteur*innen liefern aus ihrer Wirklichkeit heraus Erklärungen für soziale Probleme, »stellen die Dringlichkeit ihrer Bearbeitung und Kontrolle dar und schaffen so gleichzeitig Legitimation für politische Interventionen und Maßnahmen« (Groenemeyer, 2013, S. 761). Angebote der Beratung bzw. Hilfe sind von Normalitätsvorstellungen über die Lebensführung von Gesellschaftsmitgliedern gerahmt (Bitzan & Bolay, 2017, S. 16). Nur durch die Klärung dessen, was soziale Probleme sind – »gesellschaftlich erzeugte Problemlagen und […] damit verbundene […] Herausforderungen in der Gestaltung der Lebensführung« (S. 17) und ihr Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt – kann definiert werden, wer zur*zum Adressat*in von Beratung wird. Die Normsetzung als Sollzustand definiert die Abweichung, das Problem. Bitzan und Bolay (2017) unterscheiden dabei zwei Ebenen: Auf der ersten, vordergründigen Ebene sind es die Personen selbst, die ein Pro­blem benennen und eventuell Unterstützung bei der Problembewältigung bzw. -lösung suchen. Überdies zählen als Adressat*innen Personen aus dem privaten und/oder professionellen Umfeld, die ein Problem sichtbar machen und auf dessen Bearbeitungsbedürftigkeit hinweisen. Die zweite, tieferliegende Ebene ist »immer eine mehr oder weniger bewusste Vorstellung davon, was als richtig, normal, angepasst, also sozial unproblematisch, d. h. nicht veränderungsbedürftig anerkannt wird« (S. 17). Damit vollzieht sich ein relationaler und reziproker Prozess »von kollektiven diffusen Erwartungen und Problemempfindungen und der Institutionalisierung bestimmter Maßnahmen der Problembearbeitung […], der letztlich auch verifiziert, was jeweils als soziales Problem gelten soll« (S. 19). Eng verbunden mit der Konstruktion von Adressat*innen ist daher die Analyse sozialer Bedingungen und Strukturen von Marginalisierung sowie deren Verbundenheit (Produktion und Reproduktion) in Sozialer Arbeit und Beratung (Kessl, 2013, S. 253). Nicht nur bei der Konstruktion normativer Partnerschaft (Unterkapitel 2.1) zeigt sich die machtvolle Festlegung, die sich als im gesellschaftlichen Diskurs verhandelte historisch stets wandelt. Deutlich wird, dass es in der Paarberatung darum gehen soll, den vermeintlich individuell festgelegten Soll-Zustand zu erreichen, wenngleich er von vorherrschenden Partnerschaftsvorstellungen geprägt ist.

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Bedeutungsebenen der Herstellung von Adressat*innen

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(2) Organisationale und institutionelle Rahmung

Die Herstellung von Adressat*innen ist abhängig von der institutionellen und organisationalen Rahmung. Auf dieser Ebene bekommen die Funktionslogik und die Macht der Institutionen ihren Platz, da die interaktive Konstruktion von Adressat*innen »immer eingebunden in die Logiken und Selbstverständnisse der Institutionen und Organisationen der jeweiligen Bereiche« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 50) ist. Mit der »Institutionalisierung bestimmter Organisationen und Maßnahmen der Problembearbeitung oder sozialen Kontrolle werden Erwartungen im Alltag über die Existenz und Berechtigung von Problemkategorien verifiziert« (Groenemeyer, 2010b, S. 14). Erst wenn eine bearbeitende Organisation vorhanden ist, werden Problematisierungen explizit und treten offizielle Ansprechpartner*innen für (potenziell) Betroffene hervor (Groenemeyer, 2013, S. 761). So verkörpern diese Organisationen und Institutionen »erfolgreich etablierte allgemeine Kategorien von sozialen Problemen, die durch spezifisch geschultes Personal dann auf konkrete Personen und Situationen angewendet werden« (Groenemeyer, 2010b, S. 16). Durch die alltägliche Bearbeitung in diesen Institutionen wird das abstrakte soziale Problem als konkrete Betroffenheit konstruiert. Dabei entwickelt die Organisation ein »Eigenleben der Interpretation und Bearbeitung von Problemkategorien« (S. 16). Deutlich wird, dass sowohl die Ursachen für die Probleme als auch deren Lösung und Bearbeitung beim Individuum liegen (S. 36). Zu beantworten ist dabei die Frage, ob die Person mit ihrem Anliegen ein Fall für diese Organisation darstellt (Bitzan & Bolay, 2017, S. 51). Die institutionelle »Adressatenkonstruktion manifestiert sich somit darin, welche Angebote überhaupt gemacht werden bzw. für bestimmte Gruppen erreichbar sind« (Bitzan &  Bolay, 2017, S. 51). Lediglich falls »Hilfe- oder Angebotsbedarf institutionell festgestellt wird, werden Personen zu Adressat_ innen« (Bitzan & Bolay, 2013, S. 39). Und nicht nur dann, sondern auch wenn ein Bedarf durch eine spezifische Ansprache formuliert wird, wie beispielsweise Paarberatung, werden Menschen zu Adressat*innen konstruiert (S. 42), denn »Institutionen der Problembearbeitung haben jeweils spezifische Mechanismen entwickelt, über die aus individuellen Subjekten angepasste Klienten und Klientinnen werden können« (Groenemeyer, 2010b, S. 44). In diesem Kontext bestimmen die Institutionen über die Relevanz von Informationen, die dahingehend selektiert und nach institutionellen Vorgaben interpretiert werden (S. 44).39 So kommt es darauf an, »in welchen institutionellen Kontexten die 39 Im Rahmen der Hilfen zur Erziehung (SGB VIII) stehen beispielsweise eher erzieherische Informationen im Vordergrund, während in der klinischen Sozialarbeit im Krankenhaus gesundheitliche Informationen von Relevanz sind.

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Kontaktaufnahme mit den Adres­­sat_in­­nen erfolgt« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 51). Der professionelle Blick ist durch die institutionelle Verortung der Beratung eingegrenzt. Adressat*innen werden selektiv gelesen, abhängig davon, in welchem Setting das Hilfe- bzw. Unterstützungsangebot stattfindet (Thiersch, 2013, S. 29). Der institutionell erzeugte Status als Adressat*in »setzt also in der Regel eine Besonderung und häufig eine Stigmatisierung voraus, die wiederum spezifische Versatzstücke in den subjektiven Deutungsprozessen der Adressat_innen bilden« (Bitzan & Bolay, 2013, S. 43). Diese fallen nicht zwangsläufig negativ aus, vielmehr können Hilfe und Unterstützung auch als Chance zur Verbesserung der Lebensumstände gedeutet werden (Bitzan & Bolay, 2017, S. 52). Daher sind die Rahmenbedingungen von (Paar-)Beratung ebenso entscheidend wie ihr institutioneller Rahmen. (3) Konstruktion von Adressat*innen in der Interaktion

Nach Thiersch (2013) ist die Stimme der Adressat*innen ein »selbstverständliches Moment jeder pädagogischen Kommunikation« (Thiersch, 2013, S. 24). Das verdeutlicht die Notwendigkeit der aktiven Teilnahme der Adressat*innen an der Unterstützung (Groenemeyer, 2010b, S. 45). Äußerungen von Adres­ sat*innen veranschaulichen ihr Verständnis von ihrem Leben, von sich und ihrer Lebensgeschichte sowie dessen sukzessive Transformation (Sander, 2012, S. 26). Adressat*innen bringen selbst konkrete Anliegen und Aufträge gegenüber professionellen Fachkräften ein und heben dabei ihre Vorstellungen von der eigenen Hilfebedürftigkeit hervor (Dewe & Otto, 2018, S. 1416). Diese Arbeit ist determiniert davon, welches Bild Adressat*innen und auch professionelle Akteur*innen von einer guten Gesellschaft und einem guten Miteinander haben (Thiersch, 2013, S. 29). In den Interaktionsprozessen zwischen Adressat*innen und Professionellen werden die Kategorien sozialer Probleme daher (re)produziert und die Adressat*innen »beteiligen sich aktiv daran, indem sie Symptome schildern, Rechtfertigungen vorbringen und entsprechende Informationen zum Fall liefern« (Groenemeyer, 2010b, S. 46). Die Professionellen antizipieren in diesem Prozess, welche Informationen sie für wichtig erachten und wie sie diese interpretieren (S. 46). Somit konstituiert das Deuten und Handeln professioneller Fachkräfte in der konkreten professionellen Interaktion den »Fall« (Rüegger, 2021; siehe auch Unterkapitel 2.4). Dass der Konstruktionsprozess von Professionellen und Organisationen ausgeht und Adressat*innen »nur Objekte der Konstruktionen« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 33) darstellen, wäre eine einseitige Einschätzung. Die relationale Per­ spektive von Bitzan und Bolay verdeutlicht, dass Adressat*innen handlungsfähig sind und über Konstruktionsspielraum verfügen. Mit Blick auf die relationale © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Bedeutungsebenen der Herstellung von Adressat*innen

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Konstruktion von Adressat*innen ist ohnehin zu schauen, »wie viel Spielräume die Akteure haben, selbst Einfluss darauf zu nehmen, was sie zu AdressatInnen macht, wie also ihre Lebenssituationen und Erfahrungen definiert werden« (Bolay, 2014, S. 266). Gleichermaßen ist zu beachten, inwieweit vorgegebene Definitionen in Selbstkonstruktionen der Adressat*innen einfließen (Bitzan & Bolay, 2013, S. 44). Wie Adressat*innen interaktiv hergestellte Situationen »deuten, aufgreifen, prägen, verändern, bestätigen oder beenden, und wie sie mit den Sozialarbeiter_innen in einem spezifischen Kontext aushandeln, was aus welcher Perspektive jeweils unter Sozialer Arbeit verstanden wird und wie das Feld zu ›bespielen‹ ist« (Aghamiri & Streck, 2018, S. 107), beeinflusst, wie und überhaupt Situationen der Beratung und Sozialen Arbeit entstehen. Es verweist darauf, dass Adressat*innen »in ihren Sinn- und Handlungsorientierungen, in ihrem Selbst- und Weltbezug durch die lebensweltlichen Rahmen, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biographischen Selbstthematisierungen geleitet sind« (Hanses, 2013, S. 99). In die Konstruktion des*der Adressat*in fließen professionelle sowie alltagstheoretische Deutungen ein, sodass Adressat*innen stets »je spezifische biographische Selbstkonstruktionen mit sich [tragen, Anm. d. A.], die in der Wechselwirkung von (direkten oder vermittelten) Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit und dem eigenen Bewältigungshandeln entstanden sind« (Bolay, 2014, S. 270). Indes können Beratende eher als »schwache Akteure« mit eingeschränktem Potenzial an Handlungsmächtigkeit gelten (Kessl, 2013).40 Die Adressat*innen stehen vor der Aufgabe, diese Definitionen ihrer selbst und ihrer Situation zu beurteilen, zu bewältigen und in ihr Selbstbild zu integrieren (Bitzan & Bolay, 2013, S. 43). Damit zusammenhängend sind sie vor allem am Anfang einer Zusammenarbeit damit beschäftigt, »abzutasten oder auszuloten, was ihnen die Kommunikation bringen kann, und ob es sich lohnt, sich einzulassen« (Thiersch, 2013, S. 26). »Wer also ›Adressat_in‹ wird, bestimmt sich weder aus der Handlung eines ›autonomen‹ Subjekts noch allein aus einem sozialpolitisch-institutionellen Definitionsprozess. Vielmehr treffen unterschiedliche Deutungen, Zumutungen, Wahrnehmungen und Problematisierungen zusammen, ohne dass sie

40 Oelerich und Schaarschuch setzen ihren Schwerpunkt innerhalb der sozialpädagogischen Nutzer*innenforschung darauf, die Nutzer*innen als »aktive Subjekte« zu verstehen (Schaarschuch & Oelerich, 2005, S. 16; 2020, S. 22). Sie fokussieren dabei die »Praxen der Beteiligten im Dienstleistungsprozess, also ihre Handlungsvollzüge und die diesen zugrunde liegenden systematisch verschiedenen Perspektiven und Deutungen« (Schaarschuch & Oelerich, 2005, S. 10).

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immer zusammenpassen würden – das erzeugt Widersprüche, die die Adressat_innen aushalten bzw. bewältigen müssen« (Bitzan & Bolay, 2013, S. 41). Die Konstruktion, wer Adressat*in wird oder auch nicht, ist also relational zu sehen. Sie ist kein einseitiger Prozess, sondern ein »interaktives Wechselspiel der gegenseitigen Formung (Adressierung und Readressierung) – wenngleich unter unterschiedlichen Machtmöglichkeiten« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 37).41 »Das Prozessergebnis ist dabei, Adressat_innen zu konstruieren, also in einem bestimmten Status zu ›erzeugen‹. […] [Es zeigt sich], dass es sich dabei durchaus um gestaltbare Prozesse handelt, die sehr viel mit der professionellen Haltung, mit dem institutionellen Setting und der Koaktion der Betroffenen zu tun haben« (Bitzan & Bolay, 2017, S. 40). Die Herstellung von Adressat*innen für Beratung ist ein wechselseitiger Interaktionsprozess (Graßhoff, 2015, S. 72), in dem die beschriebenen drei Ebenen zusammenlaufen und »die entscheidenden Faktoren« (Bitzan & Bolay, 2013, S. 44) darstellen, anhand derer bestimmt wird, wie aus Menschen mit Bedürfnissen in konflikthaften Situationen Adressat*innen der Beratung werden. Das Konstruieren eines Adressat*innenstatus innerhalb einer institutionellen Kommunikation ist ein komplexes und vor allem relationales Unterfangen, das diversen Diskursen, illustriert anhand der drei Ebenen, ausgesetzt wird. In diesem Zusammenhang ergeben sich, so wurde deutlich, zwei Aspekte der Erforschung von Adressat*innen innerhalb von Interaktionen in psychosozialen Situationen in Bezug auf die latente Dimension: die Kommunikation zwischen den Interaktionsbeteiligten und die grundsätzliche Struktur professioneller Interaktionen (Bitzan & Bolay, 2017, S. 36). Im Folgenden werden Studien vorgestellt, die die Herstellung von Adressat*innen innerhalb eines Gesprächs untersuchten und die Wirkmächtigkeit institutioneller Kommunikation verdeutlichen.

41 Bitzan und Bolay entwickelten den relationalen Adressat*innenbegriff (Bitzan & Bolay, 2013, 2017, 2018).

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3 Forschungsstand zur Herstellung von Adressat*innen in institutionellen Kommunikationen

Um die latenten Strukturen zur Konstruktion von Adressat*innen in institutionalisierten Gesprächen von Paarberatung sichtbar zu machen, wird zunächst der aktuelle Forschungsstand rezipiert. Die Analyse von Beratungsgesprächen und deren Herstellung von Adressat*innen als Phänomen sind in verschiedenen Disziplinen Forschungsgegenstand. So können besonders Forschungen aus der Sozialen Arbeit und aus der (Psycho-)Therapieforschung herangezogen werden. Die Darstellung des Forschungsstands wird auf Forschungen, die sich auf die institutionelle Kommunikation innerhalb von Beratungsgesprächen beziehen, eingegrenzt.42 Es geht nicht um die subjektive Professionellen- und/oder Adressat*innensicht, sondern um die interaktive Herstellung in Gesprächen von Professionellen und Adressat*innen in psychosozialen Handlungsfeldern. Es werden Forschungen dargestellt, die auf unterschiedliche Art und Weise zeigen, an welchen grundsätzlichen Strukturen sich Adressat*innenkonstruktion orientiert. Dabei stehen Studien im Vordergrund, die Erwachsene als Adressat*innen in den Blick nehmen und sowohl beraterische Settings als auch Erstgespräche zum Gegenstand haben.

3.1 Empirie der Konstruktion von Adressat*innen in psychosozialen Gesprächen In der Sozialen Arbeit, besonders im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, gibt es breite Ansätze der Adressat*innenforschung, die u. a. die Professionellen (Thieme, 2013), die Selbstsichten von Adressat*innen (Bitzan, Bolay & Thiersch, 42 Deppermann unterscheidet fünf gängige Untersuchungsformen bei Gesprächen (2008, S. 15 ff.): (1) die Gesprächspraktiken, (2) die kommunikativen Gattungen bzw. Genres oder Kommunikationsereignisse, (3) die Bewältigung von Interaktionsproblemen und -aufgaben, (4) die institutionelle Kommunikation und (5) die Kommunikationsporträts sozialer Gruppen und Milieus.

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2006; Graßhoff, 2013; Schaarschuch & Oelerich, 2005) oder die interaktive Herstellung des Falls untersuchen (Hitzler, 2012; Rüegger, 2021). Hier werden auch Folgen sozialer Hilfen kritisch thematisiert (Weinbach et al., 2017). Im Hinblick auf die Gespräche innerhalb institutioneller Kommunikation zeigt sich in den Forschungen (wie bereits unter 1.2 erwähnt), dass Erstgespräche eine zentrale Stellung bei der Konstruktion von Adressat*innen einnehmen (Bitzan & Bolay, 2017, S. 43). Die Studie von Bittner (1981) illustriert dies besonders, wenn sie verdeutlicht, dass in Erstgesprächen die Hilfe suchende Person erst »zum Klienten (gemacht)« wird (Bittner, 1981, S. 109). Es wurden u. a. 15 Erstgespräche in einer psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche mit einem Tonband aufgenommen und transkribiert, wobei zehn Gespräche ausgewertet wurden. Nach Bittners Auswertung muss ein »Eigenanteil an den Problemen sowie an ihrer Bewältigung vom Ratsuchenden anerkannt werden; der Anwesende muß immer auch Beteiligter, Betroffener sein« (S. 109, Herv. i. Orig.). Die Bewerkstelligung dessen zeigt sie anhand der strukturellen Abläufe von Erstberatungsgesprächen (siehe dazu näher Unterkapitel 2.2). Besonders in der Erzählphase wird der*die Adressat*in dahingehend adressiert, dass ihren Aussagen »eine subjektive Bedeutung bei[ge]messen [wird], [sie] sich selbst somit explizit als Klient ausweisen und anerkennen« (S. 123) soll. Es muss ein Leidensdruck für die Beratungsperson erkennbar sein (S. 125). Dazu muss eine Hilfebedürftigkeit festgestellt werden, d. h., Schwierigkeiten müssen expliziert und darauf aufbauend »als zu ›bearbeitende‹ Probleme« festgesetzt werden (S. 125). Am Ende eines Erstgesprächs steht als Ergebnis eine gemeinsam ausgehandelte Problemdefinition fest (S. 127). Adressat*innen können sich weigern, den Adressierungsangeboten nachzukommen, indem sie beispielsweise bei der Beantwortung einer Frage das von der Beratungsperson festgelegte Thema übergehen, das Gespräch selbst beenden und/oder ein Scheitern konstatieren (S. 130 ff.). Bittner fokussiert die interaktive Adressat*innenherstellung und deren Notwendigkeit im Beratungsgespräch. Die nächste Studie stellt ebenfalls Erstgespräche ins Zentrum. Bauer und Bolay (2013, S. 50) untersuchten anhand von Erstgesprächen zwischen Schulsozialarbeiter*innen und Jugendlichen im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) aus mikroanalytischer Perspektive, »wie sich die organisatorische Rahmung der Schule in Gesprächen zwischen SchulsozialarbeiterInnen und AdressatInnen niederschlägt«. Die Gesprächsausschnitte entstammen einer Studie zur Schulsozialarbeit an berufsbildenden Schulen (Bauer, Brunner, Morgenstern & Volkmar, 2005). Unter anderem wurden Aufnahmegespräche mit Jugendlichen, die neu an die Schule gekommen sind, und Schulsozialarbeiter*innen aufgenommen und interpretiert. Die Jugendlichen werden zuerst als Schü© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ler*innen angesprochen, als »potenziell problembehaftet kategorisiert« (Bauer & Bolay, 2013, S. 55) und aufgefordert, sich dementsprechend zu präsentieren (als »problembehaftete Schüler*in«). Die Schulsozialarbeit, so zeigt sich, agiert hier stellvertretend für die Institution Schule. Die Jugendlichen haben nur begrenzt Handlungsspielraum, sich diesen Kategorisierungen zu widersetzen. Die vorgenommenen Adressierungen verdeutlichen die Asymmetrie, d. h. die ungleiche Machtposition, in der Interaktion. Die institutionelle Rahmung des Erstgesprächs »verhindert es, dass die Schulsozialarbeiterinnen sich in erster Linie an den subjektiven Sichtweisen der Jugendlichen orientieren und ihre eigenen professionellen Bearbeitungsstrategien dezidiert an deren individuellen Anliegen und Bedürfnissen ausrichten« (S. 57). Als repressive Mechanismen kristallisierten sich hier »die starke Vorstrukturierung des Gesprächs durch die Professionellen, die Begrenzung der Themen und der Rekurs auf bereits vorliegendes Wissen über die Adressatinnen« (S. 57) heraus. Zwar scheint ein gewisser Handlungsspielraum für die Schulsozialarbeiter*innen vorhanden zu sein, der allerdings von der Organisation Schule beschränkt wird. Zusammenfassend wurde sichtbar, »dass trotz bestehender individueller Handlungsspielräume, professionelle Rollendefinitionen der Schulsozialarbeit nur im konkreten Bezug auf die Schule als Institution denkbar sind, eine professionelle Rollendefinition jenseits dieser Institution erscheint schlichtweg nicht möglich« (S. 58). Akteur*innenspezifische Rollen und Positionen in Abhängigkeit von der insti­ tutionellen Verortung haben einen erheblichen Einfluss darauf, wie Adressat*innen etikettiert werden (Bauer, 2010, S. 261). Durch die asymmetrische Kon­stellation kann davon ausgegangen werden, dass Professionelle einen größeren und machtvolleren Gestaltungsraum besitzen als Ratsuchende. Beispielsweise wurde in der Untersuchung von Schäfter (2010) zu Beratungsbeziehungen in der Sozialen Arbeit als zentrales Element die funktionale Asymmetrie (S. 211) herausgearbeitet.43 Die institutionelle Verortung als leitende Kategorie für die Herstellung von Adressat*innen zeigt sich ebenfalls in der Studie von Böhringer, Karl, Müller, Schröer und Wolff (2012). Forschungsgegenstand 43 Die Asymmetrie zeigt sich z. B., indem Fachkräfte festlegen, wie lange ein Beratungsgespräch dauert und wann das nächste Gespräch stattfindet, oder in dem Bemühen, die Klient*innen zu verstehen und sich mit ihren Problemen und Schwierigkeiten zu beschäftigen (Schäfter, 2010, S. 283). Berater*innen/Therapeut*innen können vereinzelt Sachverhalte/Themen für unerheblich markieren und ignorieren (Sarangi & Slembrouck, 1996) und die Einflussmöglichkeit von Adressat*innen auf Gespräche und Entscheidungen geringhalten (Nijnatten, 2006).

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waren Gespräche zwischen Kund*innen der U25-Abteilungen in Jobcentern und ihren persönlichen Ansprechpartner*innen, die mittels ethnomethodologischer Konversationsanalyse ausgewertet wurden. Auch in Gesprächen im Jobcenter wird die Asymmetrie der Kommunikation bei der Bearbeitung der Anliegen deutlich, besonders wenn den Kund*innen dargelegt wird, »dass sie eigentlich über keinen Entscheidungsspielraum verfügen« (Böhringer et al., 2012, S. 243). Dennoch wird sich so lange wie möglich »an der Fiktion einer gemeinsamen Problemlösung« (S. 243) orientiert. Hier zeigt sich, dass Adressat*innen und Professionelle aufeinander angewiesen sind, denn ohne »gemeinsame Abstimmungsleistung« (S. 248) kann keine gemeinsame Problemlösung und somit keine »Hervorbringung der Dienstleistung(en)« (S. 248) möglich sein. Beide Parteien arbeiten gemeinsam daran, »den Fall erkennbar bearbeitbar zu halten« (S. 242). Dazu »›spielen‹ beide Seiten dieses ernste Spiel, ohne allzu sehr aus den ›Rollen‹ zu fallen« (S. 246). Auch zeigt sich, dass genderbezogene Kategorisierungen »eher subtil, manchmal uneindeutig und von den Gesprächspartner/-innen unbemerkt im Gespräch verwendet werden« (Böhringer et al., 2012, S. 99). Als Grundlage dienen hetero-normative Annahmen (S. 101). Vergeschlechtlichte Kategorisierungen werden bei den Gesprächen dafür genutzt, um »Plausibilität herzustellen« (S. 134), sodass Gender bei diesen institutionellen Gesprächen »interaktiv (re-)produziert, aber nicht unbedingt reflexiv bearbeitet wird« (S. 136). Auch zeigen Böhringer und Kolleg*innen, dass Kund*innen in den Gesprächen »›sich hilfsbedürftig zeigen‹ (doing ›hilfsbedürftig‹)« (S. 241) und dies im Wechselspiel mit der professionellen Fachkraft gemeinsam produziert wird (S. 241). Richter (2013) arbeitet heraus, wie Familien als passend für eine institutionelle Hilfe im Rahmen eines Mehr-Personen-Settings konstituiert werden. In ihrer Forschung zu konkreten Gesprächspraktiken in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) untersucht sie, wie sich »ein sozialpädagogischer Bezug auf Familie herstellt bzw. wie Familie von den Akteuren in ihren sozialen Praktiken konstituiert wird« (Richter, 2013, S. 26). Ausgangslage ist, dass SPFH durch strukturelle Rahmenbedingungen und institutionelle Anforderungen geprägt ist, die Eltern (vor allem Mütter) und Professionelle bewältigen müssen. Richter untersuchte konversationsanalytisch institutionelle Gesprächspraktiken dreier Familien, die SPFH erhielten. Dazu begleitete sie SPFH-Fachkräfte in den Familien zwischen vier und zwölf Wochen. Richters Analyse ergab, dass professionelle Fachkräfte bei den Gesprächen Probleme und Ziele fokussieren und eine Defizitperspektive auf die Familien einnehmen. Unterstrichen wird dies insofern, als Professionelle durch Verwendung von Fachbegriffen ihren Status als Expert*innen verdeutlichen (S. 279). Überdies wird markiert, dass © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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die professionelle Fachkraft die Expertise für Themenauswahl und -setzung (S. 289) habe. Den Adressat*innen wird ein »Vetorecht« eingeräumt. Hierbei werden die divergenten Machtpositionen sichtbar, die sich auch in anderen Adressierungspraxen zeigen. Die Professionellen sind darauf aus, im SPFHGespräch Kooperativität zu erlangen und dahingehend »die Adressatin für die Hilfe zu gewinnen und diese Kooperation […] aufrechtzuerhalten« (S. 274). Sie erwarten von den Adressat*innen, ebenfalls bemüht zu sein, eine Koalition mit den Professionellen zu bilden und den »institutionellen Anforderungen und Aufgaben nach[zu]komm[en]« (S. 283). Dies setzt jedoch ebenfalls voraus, dass defizitäre Zuschreibungen (»hilfebedürftig«, »schwach«) implizit hervorgebracht werden (S. 283). Auch zeigt sich eine »Markierung geschlechtlicher Kodierung, die von den Professionellen unreflektiert ausgeht und ein patriarchal organisiertes Geschlechterverhältnis« in Partnerschaften (re)produziert (S. 284). Ebenfalls wird kommunikativ eine »starke Eltern- bzw. Erwachsenenorientierung (›Mütterorientierung‹) gegenüber einer schwach ausgeprägten Kind­orientierung« (S. 270, Herv. i. Orig.) ausgedrückt. Geschlechtliche Codierung bedeutet, dass Hauptansprechpersonen in der SPFH Mütter und diese damit vorgängig Familienverantwortliche und Hilfeempfänger*innen sind. Den Eltern, vornehmlich Müttern, wird nur situativ die Möglichkeit gegeben, Machtpositionen einzunehmen (S. 292). Adressat*innen können sich dann als »stark«, selbstbewusst und als Expert*innen ihrer Lebens- und Problemlagen präsentieren (S. 277). Dadurch wird die Adressierung als Nutzer*in einer sozialen Dienstleistung abgelehnt und es kommt zu keiner Passung zwischen den »ko-produzierten Identitäten als Professionelle und Nutzerin« (S. 277). Richter differenziert analytisch zwischen »Power in Discourse« und »Power behind the Discourse« und zeigt, dass Fachkräfte in der SPFH einen extern begründeten Machtüberhang haben und die Eltern nur situativ Machtpositionen einnehmen können. Wie Erwachsene in institutionellen Hilfesettings die Auswahl ihrer Problempräsentation darauf abstellen, eine Passung zur Institution herzustellen, arbeiten auch Cedersund und Säljö (1994) heraus, indem sie Gespräche zwischen Sozialarbeiter*innen und Adressat*innen analysierten, die Serviceagenturen einer staatlichen Wohlfahrtsorganisation in Schweden kontaktierten, um öffentliche Hilfe zu beantragen. In diesen Gesprächen wird entschieden, inwieweit ein Hilfebedarf entsteht und Ansprüche geltend gemacht werden können (S. 229). Dazu wurden 25 Gespräche mit dem Tonband aufgenommen. Darin erzählen Adressat*innen ihre Vorgeschichte so, dass sie den Bedürfnissen der Institution entsprechen und ihren Hilfebedarf verdeutlichen (S. 254). Außerdem konstruieren die Adressat*innen ihre Problemgeschichten in einer Hinsicht, die sie als © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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vernünftig und als Betroffene unglücklicher Umstände erscheinen lassen, die jeder*m passieren könnten (S. 255). Die Präsentation der Klient*innen wird somit interaktiv durchgeführt und fungiert als vorläufige »construction of the ›case‹« (S. 239). Best (2020) veranschaulicht in ihrer Beratungsstudie,44 dass auf Adressat*innenseite eine Erwartungshaltung hinsichtlich der eigenen Rolle besteht. Diese drückt sich aus in »einer Offenheit, in einem Willen, am Anliegen zu arbeiten sowie in Aufmerksamkeit und Disziplin, wodurch eine Analogie zur Schüler*innenrolle an einigen Stellen erkennbar wird« (S. 171). Gleichzeitig zeigten Adressat*innen ebenfalls Erwartungen an die zu beratende Person: »eine individuelle Anpassung der Beratung an Adressat*innenbedürfnisse, eine sinnvolle Methodenauswahl und -umsetzung sowie eine Identifikation von und Fokussierung auf wichtige Themen des Klientels [sic!]« (S. 171). Dass die Verständigung über das Anliegen zwischen Professionellen und Adressat*innen sowie »die Entwicklung von Zuversicht bezüglich der Realisierung« (S. 268) zentrale Aspekte sind, illustriert Hansjürgens (2018) u. a. anhand von Erstgesprächen in einer Suchtberatungsstelle. Die Anliegenorientierung der professionellen Fachkräfte bewegt sich dabei »in einem Kontinuum zwischen Realisierung der Konstruktion der Klient_innen und Anpassung dieser an die Strukturen und Regeln des Feldes suchtbezogener Hilfen« (S. 274). Fachkräfte reagierten positiv mit Vertrauen gegenüber den Adressat*innen, wenn das Anliegen mit den feldspezifischen Hilfestrukturen konvergent war bzw. absehbar schien (S. 272). Adressat*innen sollten sich kommunikativ auch »authentisch und selbstreflexiv« (S. 278) zeigen, d. h. »sich öffnen«, damit Fachkräfte ein »Vorangehen« (S. 278) erkennen können. An der Studie von Rüegger (2021)45 wird deutlich, dass schon in der Gesprächseröffnung die Erzählaufforderung nicht vollkommen frei, sondern thematisch passend zur Institution formuliert wird (S. 314). Dadurch wird die Problemschilderung und Exploration der Adressat*innen eingegrenzt »und die Klientel richtet im Prozess des Hervorbringens von Fallwissen ihre Problem44 Es wurden Videoaufzeichnungen von Beratungssitzungen mittels Kopfkameras durch die Teilnehmenden der Beratung erstellt. Ausgewählte Videoaufnahmen wurden daraufhin in videobasierten fokussierten Einzelinterviews mit Klient*innen und Berater*innen eingesetzt. 45 Datengrundlage waren aus sieben Fällen Tonaufzeichnungen sozialarbeiterischer Gespräche (u. a. Schulsozialarbeit und sozialpädagogische Familienbegleitung) und teilweise Protokolle teilnehmender Beobachtung, deren Erhebung im Rahmen der Studie »Diagnostik und Arbeitsbeziehungen in der Sozialen Arbeit« (Becker-Lenz, Gautschi & Rüegger, 2015) erfolgt war. Ergänzt wurden diese Daten durch Dokumente, die in der jeweiligen Praxis eingesetzt oder hergestellt wurden, wie auch durch Interviews mit den Adressat*innen und professionellen Fachkräften.

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schilderung […] an diesen organisatorisch vorgegebenen Erwartungsstrukturen aus« (S. 322). Folgende Fragen waren bei ihrer Studie forschungsleitend: »Wie wird der Fall zum Fall in den Interaktionen im Prozess der Falldiagnose und welche Sinnstruktur wird in der Verständigung darüber, was der Fall ist, zum Ausdruck gebracht?« (S. 5). Rüegger arbeitete vier übergreifende Handlungssegmente heraus: (1) Begrüßung und Gesprächseröffnung, (2) Problemschilderung und Exploration, (3) Ausblick auf Interventionsvorhaben sowie (4) Gesprächsbeendigung (S. 301). Die Gesprächseröffnung konstituiert initial u. a. die Situation mit einem bestimmten Zweck und Ziel (S. 313). Sozialarbeiter*innen gebrauchen bei der Inanspruchnahme von Hilfe Normalisierungen, präsentieren Interventionen als Möglichkeitserweiterung, stellen eigene Kompetenzen dar oder nehmen eine inhaltliche Konkretisierung bezogen auf den Auftrag vor (S. 314). Innerhalb der Problemschilderung und Exploration werden Klient*innen dazu aufgefordert, »allfällige Anliegen oder ihre Perspektive auf einen bestimmten Sachverhalt zu schildern, wobei mit der Gesprächseröffnung bereits ein thematischer Fokus vorgegeben wurde« (S. 314). Rüegger arbeitet hinsichtlich der Herstellung fallrelevanten Wissens Kernprozesse heraus: »(1) das Hervorbringen von Fallwissen; (2) das Selektionieren; das (3) Verschränken/Relationieren sowie das (4) Etablieren als geteiltes fallrelevantes Wissen, die sich im Laufe einer Problemschilderung und Exploration zu den verschiedenen Aspekten eines Falles und seiner Problematik wiederholen« (S. 316). Im Ergebnis werden laut Rüegger »die Probleme der Lebensführung, die (vermeintliche) Hilfsbedürftigkeit sowie die Form der Hilfe […] interaktiv über diese Kernprozesse hergestellt« (S. 317). Dass eine negative Kategorisierung der Adressat*innen zwar »sozial dispräferiert, in der Sache jedoch unumgänglich« (Messmer & Hitzler, 2007, S. 62) ist, verdeutlichen Messmer und Hitzler (2007) u. a. in ihrer Analyse von Hilfeplangesprächen. Dazu wurden 14 Hilfeplangespräche zur stationären Heimunterbringung aus vier Heimeinrichtungen und Jugendämtern in NordrheinWestfalen aufgezeichnet und konversationsanalytisch interpretiert (S. 44). An den Gesprächen nahmen mehrere Professionelle und Klient*innen teil. Es wird deutlich, »wie die soziale Produktion von Klienten vonstattengeht, welche kommunikativen Muster dafür maßgeblich sind und welche Konsequenzen sich für die Beteiligten daraus ergeben« (S. 41). Die erste Variante der Klient*innenproduktion vollzieht sich über das Muster sozialer Adressierung bzw. Identi© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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fizierung (S. 47). Die Teilnehmenden, sowohl Klient*innen als auch Professionelle, markieren sich durch Selbstetikettierungen (S. 48). Verdinglichung bzw. Objektivierung bewirken eine weitere Variante der Klient*innenproduktion, die mit den Formen »Reden über« und »Reden mit« einhergeht. Bei »Reden über« werden Adressat*innen zu passiven Zuhörenden deklariert, was die Asymmetrie weiter hervorhebt (S. 54). Die dritte Variante der Klient*innenproduktion erfolgt über eine soziale Kategorisierung der Klient*innen, indem »spezifische Verhaltensattribute zugeschrieben« (S. 47), dadurch Klient*innen als solche kenntlich gemacht werden und sich ein dezidierter Hilfebedarf ergibt. In der Negativkategorisierung tritt die Orientierung an einer Ist-Soll-Differenz zutage (S. 68). Die vierte Variante der Klient*innenproduktion realisiert sich über das Muster der Passung (S. 47): Es »produziert den Klienten als einen legitimen Hilfeempfänger, für dessen Probleme und Defizite sich institutionell Abhilfe findet« (S. 69, Herv. i. Orig.). Je deutlichere Abweichungen anhand der Ist-Soll-Differenz festgestellt wurden, desto zielführender und passender können Hilfen beschlossen werden. Das bedeutet, dass Klient*innen »zweckbestimmt produziert« (S. 69) werden. Juhila (2003) zeigt in ihrer Einzelfallstudie, wie in einem niedrigschwelligen Krisenzentrum, das freiwillig aufgesucht wird, Konstruktionen »schlechter Klient*innen« entstehen können.46 Die konstruierten Merkmale einer*s »guten« Klient*in lassen sich folgendermaßen beschreiben: Die Person akzeptiert, dass sie die von den Sozialarbeiter*innen angebotene Unterstützung benötigt; sie ist motiviert, sich von den Fachleuten helfen zu lassen; sie behandelt die Vorschläge der Sozialarbeiter*innen als kompetent und stellt sie nicht mit eigenem Wissen infrage; sie kritisiert nicht die Politik/Führung der helfenden Organisation oder die Art und Weise, wie die Sozialarbeiter*innen ihre Arbeit durchführen (S. 93). Eine umgekehrte Liste würde die Merkmale von »schlechten« Klient*innen beschreiben und die untersuchte Institution und ihre Regeln sichtbar machen (S. 93). Dies zeigt sich in Gesprächen beispielsweise durch offene Meinungsverschiedenheiten bezüglich der institutionellen Identität und der Verantwortlichkeiten der Klient*innen (S. 94). Meinungsverschiedenheiten zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen illustrieren die ungeschriebenen moralischen Regeln des institutionellen Dialogs, die Anlass zu der Frage geben, ob die Umgangsformen der Beratung Verhandelbares enthalten oder ob die Positionierung als Klient*in immer eine Orientierung an der Problembesprechung und an der Annahme von Hilfe verlangt (S. 94). 46 Die Gespräche sind Teil eines Datenkorpus, der aus Gesprächen zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen in verschiedenen Organisationen der Sozialen Arbeit besteht.

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Forschungen zu Paarberatung und -therapie sind zuvörderst Teil von (Psycho-)Therapieforschung. Aus der Perspektive auf Mikroprozesse sprachlichen Helfens zeigen Graf, Scarvaglieri und Spranz-Fogasy (2019) auf, dass über die diversen psychosozialen Kontexte, wie Psychotherapie oder Coaching, hinweg Ähnlichkeiten bestehen. Deutschsprachige Forschungen zur Verknüpfung institutioneller Kommunikation mit Paarberatungsgesprächen liegen bislang nicht vor. Daher werden im folgenden Unterkapitel englischsprachige Studien herangezogen.

3.2 Qualitative (Psycho-)Therapieforschungen zur relationalen Herstellung von Paarberatung Anhand der Resultate der oben replizierten Studien wird zunächst deutlich, wie abhängig das Setting für die Konstruktion von Adressat*innen ist (siehe auch Böhringer, Hitzler & Richter, 2022, S. 23). Im deutschsprachigen Raum ist das Setting der Paarberatung bzw. -therapie noch nicht erforscht. Rezipierte Ansätze aus englischsprachigen Forschungen zu Paartherapie und deren institutionellem Einfluss zeigen sich in der qualitativen (Psycho-)Therapieforschung, die ihren Schwerpunkt auf diskursive, narrative und konversationsanalytische Forschungsmethodologien und -methoden legt (Rober & Borcsa, 2016; Tseliou & Borcsa, 2018). Um den Einfluss der institutionellen Ebene auf die Kommunikation in Paarberatung darzustellen, sind Studien zu beachten, die vermehrt das therapeutische System innerhalb der institutionellen Kommunikation in Paartherapie betrachten. Generell zeigt sich auch in englischsprachigen Veröffentlichungen, dass Gespräche regeln, wie aufeinander Bezug genommen wird, und dabei Themen interaktiv aufgegriffen, ignoriert oder umgedeutet werden (Buttny, 1996). Therapeut*innen versuchen im Anschluss an Problempräsentationen der Adressat*innen, Umdeutungen vorzunehmen, indem sie minimale Zustimmung gewähren und dann zu einer differenzierten Darstellung übergehen, d. h. einen singulären Aspekt des Gesagten der Adressat*innen mit Relevanz versehen, aber andere Implikationen entnehmen oder das Gesagte als Gesprächsressource verwenden, um therapeutische Deutung zu formulieren (Buttny, 1996, S. 148). Die Studie von Janusz, Matusiak und Peräkylä (2021, S. 1) befasst sich mit der Frage, inwiefern in Erstgesprächen von Paartherapien asymmetrische Kommunikationsbalancen zwischen Therapeut*innen und Partner*innen entstehen und wie erstere darauf Einfluss nehmen. Asymmetrien der Zugehörigkeit treten regelmäßig zusammen mit dem Ausschluss eines*r Partner*in aus © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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der therapeutischen Interaktion auf. Mithilfe der Konversationsanalyse und des Systems SOFTA (System for Observing Family Therapy Alliances) (Escudero & Friedlander, 2017) wurden vier Transkripte von Erstgesprächen analysiert. Asymmetrien der Zugehörigkeit und Beteiligung können Therapeut*innen mittels zweier Maßnahmen angehen: (1) In ausgleichenden Bewegungen integrieren Therapeut*innen die vernachlässigte Gesprächsperson des Paars wieder in das Gespräch. (2) In systemischen, paarorientierten Interventionen stellen Therapeut*innen die Symmetrie von Affiliation und Partizipation her, indem sie sich nicht nur um die einzelnen Partner*innen kümmern, sondern auch das Paar als eine soziale Einheit ansprechen. In der Studie schienen allerdings Therapeut*innen dazu zu neigen, eine*n »bevorzugte*n« Partner*in in Bezug auf Asymmetrien von Zugehörigkeit und Partizipation zu haben (S. 9). Miller und Silverman (1995) zeigten in ihrer vergleichenden Studie, dass der Familienkontext in Familientherapiezentren, in denen auch Paarprobleme besprochen wurden, als Interpretationsrahmen für besprochene Probleme diente. Innerhalb von Paarberatung und -therapie beschreiben Paare ihre Probleme jeweils eher von einem individualistischen Standpunkt aus (Froude & Tambling, 2014). Dadurch finden in diesen Settings unterschiedliche Prozesse der Formulierung von Problemen zwischen den Partner*innen statt (Edwards, 1995). Edwards untersuchte Paarberatungen und erforschte, wie Ereignisbeschreibungen funktionieren, wenn die jeweiligen Partner*innen über ihre Probleme sprechen. Er identifizierte eine Reihe sprachlicher Mittel, wie z. B. die Verwendung von Modalverben oder Wenn-dann-Strukturen. Es scheint, dass Partner*innen diese einsetzen, um Ereignisse, die sie als routinemäßig oder außergewöhnlich für die Routine konstruieren, zu beschreiben. Kurri und Wahlström (2003) haben die Aushandlung des Adressat*innenseins (negotiating clienthood) und die moral order einer Beziehung im Rahmen von Paartherapie untersucht. Die analysierte Sitzung dieser Einzelfallstudie fand in einer Universitätsklinik für Psychotherapie in Finnland statt. Es handelt sich um die fünfte Sitzung von insgesamt sieben, an der das Paar, zwei ausgebildete Familientherapeuten und eine Fachkraft in Ausbildung teilnahmen. Eine Sequenzanalyse der Sitzung ergab, dass das Aushandeln der Klient*innenschaft im Zentrum des therapeutischen Prozesses steht und einen notwendigen Rahmen bildet, um die Sitzung als Raum für die Beschäftigung mit anderen Themen im Paarleben zu etablieren (Kurri & Wahlström, 2003, S. 63). Im Fokus ist dabei, wie die diskursiven Praktiken der Beteiligten im Paartherapieprozess eine Arena für Problemformulierungen, Zugehörigkeitskategorisierungen und andere Mittel der Adressat*innenkonstruktion schaffen und wie diese einen Rahmen für die Aushandlung der moral order der Beziehung insgesamt bildet (S. 63). In der © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Analyse des Paartherapiegesprächs wurde die Konstruktion von Klient*innen durch Aufspüren einiger der Praktiken beobachtet, mit denen die Gesprächsteilnehmenden definieren, worauf das therapeutische Gespräch ausgerichtet sein sollte. Die Praktiken der Klient*innen bestanden darin, neue Themen einzuführen, sich gegenseitig zu beschuldigen und damit die Klient*innenposition anzubieten. Die Klient*innen nutzten verschiedene diskursive Methoden, um sich der Klient*innenkategorisierung zu widersetzen oder diese zu ändern: Entschuldigung, Rechtfertigung, Gegenbeschuldigung und Umformulierung. Die Verhandlung darüber, wer Adressat*in der Paartherapie zu sein habe, war mit Fragen über die Einflussmöglichkeiten auf Erfahrungen, Handlungen und Ereignisse sowie mit der Verpflichtung, dafür Verantwortung zu übernehmen, verbunden (S. 77 f.). Die diskursiven Züge der Therapeut*innen wirkten nicht nur der einseitigen Konstruktion von Klient*innen entgegen, sondern konzen­ trierten sich darauf, das Problem zu präzisieren und neu zu erzählen. Sie führten eine alternative Konstruktion ein, nämlich die Beziehung selbst als Adressat*in der Therapie (S. 79). Zusammengefasst beeinflusst der institutionelle Rahmen der Paarberatung, verbunden mit der Frage des Adressat*innenseins, die Darstellung des Paars und seiner Aushandlung der moral order. In dem Sammelband von Borcsa und Rober (2016a) werden die Besonderheiten verschiedener qualitativ-diskursiver Forschungsperspektiven auf Paartherapie illustriert. Anhand gemeinsam genutzten Materials einer Paartherapie wird folgender Frage nachgegangen: »In which ways can we do research on the process of MFT, respecting the specificity of the setting?« (Rober & Borcsa, 2016, S. 7, Herv. i. Orig.). Auf drei Beiträge aus dem Sammelband, die die Frage der Konstruktion von Adressat*innen berühren, sei kurz eingegangen. Laitila (2016) widmet sich den vier zu Beginn einer Paartherapie herausbildenden Interaktionsmustern:47 (1) responsives, nicht herausforderndes Einlassen und Einstimmen des*r Therapeut*in, gekennzeichnet durch die Verwendung der Worte beider Partner*innen, Stellen offener Fragen, Wiederholung oder geringfügige Umformulierung der Äußerungen des Paars; (2) metaphorische Verschiebungen durch alle Teilnehmenden; (3) gemeinsame Handlungen der Partner*innen zur Darstellung der Paarbeziehung (als Szene des gemeinsamen Verstehens) während der Vorstellung und (4) aktive Handlungen des*r Therapeut*in zur Gestaltung des therapeutischen Gesprächs, wie Fragen stellen oder Redewechsel einleiten. Erkennbar wurden die Interaktionsmuster bereits in der ersten Sitzung ko-kon­ 47 Die Analyse erfolgte unter Verwendung des dialogischen Instrumentariums von Seikkula et al. (2012), Dialogical Investigations in the Happenings of Change (DIHC) und der Konzepte des Narrative Processes Coding System (NPCS).

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struiert. Avdi (2016) hingegen verdeutlicht mittels Diskursanalyse, dass der*die Therapeut*in durch die Konstruktion neuer Beziehungsbedeutungen, die Verringerung von Schuldzuweisungen und die Aushandlung stärker agierender Subjektpositionen Veränderungsprozesse initiierte. Es zeigte sich, dass diese Veränderungen in erster Linie durch minimale Interventionen des*der Therapeut*in erreicht wurden, da die Mehrheit der Äußerungen darauf ausgerichtet war, intersubjektives Verständnis zu schaffen, anstatt die subjektiven Interpretationen auf direktem Wege zu verändern. Besonders Wahlström (Wahlström, 2016) fokussiert erneut den institutionellen Rahmen, der durch das Paar hervorgebracht wird, und veranschaulicht mithilfe einer Kombination von Konversations- und Diskursanalyse, wie durch relevante Positionierungen und Bedeutungskonstruktionen der Teilnehmenden die Paartherapie als Arena für die Konstruktion der moral order der Beziehung der Partner*innen etabliert wird. Insbesondere Problemkonstruktionen beinhalten häufig Verhandlungen über das Adressat*innensein, d. h. Diskussionen darüber, wer das Problem hat und wer sich ändern sollte. Dabei wurde offensichtlich, dass die Paarbeteiligten in ihrer Beziehung ganz unterschiedliche Interessen verfolgten. Die Dilemmata und Unterschiede bei der Aushandlung der moral order der Beziehung sind Ausdruck dieser unterschiedlichen Lebenssituationen der beiden Erwachsenen. Avdi und Lerou (Avdi & Lerou, 2020) untersuchen in ihrer Studie, wie das Problem in einer systemischen Paartherapie gemeinsam (re)konstruiert wird und wie Therapeut*innen emotional auf Erzählungen des Paars reagieren, um ein gemeinsames Problemverständnis zu evozieren. Im Kern lauten die Ergebnisse auch hier, dass Aussagen von Therapeut*innen dazu dienen, Intersubjektivität zu erzeugen, und weniger direkte Sinnveränderungen darstellen. Die Therapeut*innen konzentrierten sich auf das Schaffen eines Dialogs zwischen den Paarbeteiligten, um neue gemeinsame Bedeutungen/Sinngehalte zu bewirken.

3.3 Zusammenfassung: Forschungsgegenstand, Fragestellung und Ziele der Studie Beratung stellt einen »Typus kommunikativen Handelns« (Dewe & Schwarz, 2019, S. 17) und somit eine Form der geregelten Kooperation dar. Beratung als Institution ist zudem eine »Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert« (Gukenbiehl, 2016, S. 174). Als institutionalisierte Form hilfreicher Kommunikation verdeutlicht sie, dass die Interaktion mit institu© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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tionellen Vorgaben insofern verwoben ist (Bauer, 2016), als sich institutionelle Kommunikation in prägenden Charakteristika von Alltagskommunikation unterscheidet (Drew & Heritage, 1992). Beratung ist somit strukturell abhängig von Feld und Setting. Im Vordergrund moderner Paarberatung steht die kommunikative Begleitung der gesellschaftlichen Anforderung individueller Paaraushandlungen unter Ungewissheiten. In diesem Sinne ist sie »eine Intervention mit dem Ziel, die Beziehungsqualität und -stabilität zu verbessern, d. h. die Zufriedenheit beider Partner mit der Beziehung zu erhöhen sowie eine Trennung zu verhindern« (Roesler, 2018, S. 334). Die sich aus der Vielzahl gegenwärtiger Paarleitbilder und der damit verbundenen Bedürfnisse beider Partner*innen aus der Dyade ergebende Themenvielfalt erhöht die Komplexität von Paarberatung (Ebbecke-Nohlen, 2014, S. 346). Besonders in Erstgesprächen wird von den Teilnehmenden manifest und latent ausgehandelt, wie (Paar-)Beratung auszusehen hat. Aber selbst in institutionalisierten und standardisierten Beratungssettings kann nicht bei allen Beteiligten eine Vorstellung über Beratung vorangenommen werden. Hierbei sind eine spezifische »Einsozialisation des/der KlientIn in die interaktiven Regeln des Beratens und Beraten Werdens und eine Aushandlung darüber, was im gewählten institutionellen Kontext als Beratung deklariert wird« (Bauer, 2014, S. 234), notwendig. Erstgespräche stellen einen besonderen Ort dar, um Menschen, die eine Beratung aufsuchen, zu Adressat*innen von Beratung zu machen (Bittner, 1981). Ihnen werden »klientInnenbezogene Rollen zugewiesen […] und die Einsozialisation in die spezifische Form der institutionell vorgesehenen beraterischen Kommunikation erfolgt« (S. 234). Dieser Prozess ist nur wechselseitig zu verstehen, der somit die Berater*innen miteinschließt (Hildenbrand, 1999). Die Herstellung von Adressat*innen in Beratung ist also ein Prozess wechselseitiger Interaktion (Graßhoff, 2015, S. 72) und als nicht nur bewusste Konstruktionsleistung abhängig von gesellschaftlicher und sozialpolitischer Rahmung, organisationaler und institutioneller Ebene sowie der professionellen Interaktion (Bitzan & Bolay, 2017; Graßhoff, 2015). Entsprechende Adressierungsprozesse im Kontext psychosozialer Gespräche wurden in der Sozialen Arbeit vermehrt untersucht (Unterkapitel 3.1). Im Ergebnis sind Konstruktionsprozesse mit einer Asymmetrie unter den Teilnehmenden verbunden (Schäfter, 2010). In institutioneller Kommunikation werden asymmetrische Arbeitsbeziehungen etabliert (Böhringer et al., 2012; Messmer & Hitzler, 2007) und »so der Relationalität eine komplementäre Logik gegeben« (Böhringer et al., 2022, S. 23). Akteur*innenspezifische, von der institutionellen Verortung abhängige Rollen und Positionen haben erheblichen Einfluss darauf, wie Adressat*innen konstruiert werden (u. a. Bauer & Bolay, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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2013; Hansjürgens, 2018; Richter, 2013; Rüegger, 2021). Auch in Therapien werden der institutionelle Rahmen und dessen Einfluss auf individuelle Prozesse dezidierter erörtert (Miller, 2018). Asymmetrien in Paarberatungen und -therapien sind mit der Gefahr bevorzugter Ansprache nur einer*s Partner*in verbunden (Janusz et al., 2021). Auch das Hervorbringen eines gemeinsamen Problemverständnisses des Paars (Avdi & Lerou, 2020) durch das Schaffen eines intersubjektiven Verständnisses (Avdi, 2016) ist als Strukturmerkmal kenntlich geworden. Insbesondere Problemkonstruktionen umfassen häufig Verhandlungen über das Adressat*innensein, d. h. Diskussionen darüber, wer das Problem hat und wer sich ändern sollte (Kurri & Wahlström, 2003; Wahlström, 2016). Die Aushandlung des Adressat*innenseins hat Auswirkungen auf die moral order einer Beziehung innerhalb der Paartherapie (Kurri & Wahlström, 2003). In therapeutischen Gesprächen wird die Paarbeziehung als soziale Institution mit einer bestimmten moral order begriffen. Adressat*innenkonstruktion spielt somit auch in der Paarberatung eine bedeutende Rolle. Eine forschende Ausrichtung auf dieses Element von Paarberatung, nicht nur als Aushandlung der moral order des Paars, hat bislang nur spärlich stattgefunden und zeigt sich hier als relevante Forschungslücke. Welchen Einfluss die Konstruktion von Adressat*innen und die Herstellung von Ratsuchenden in der Paarberatung haben, wird die vorliegende Studie näher untersuchen. Anknüpfend an die modernen Herausforderungen individueller Paarbeziehungsgestaltung steht die institutionelle Kommunikation im Fokus der Analyse. Signifikanten Aufschluss verspricht die Untersuchung von Beratungsgesprächen mit Paaren als eine spezifische Form von institutioneller Kommunikation. Mit dieser Perspektive rückt die latente Bearbeitung institutioneller Strukturprobleme in den Blick. Mit dem Interesse an Beratungsgesprächen stehen im Weiteren vor allem institutionalisierte Formen der Interaktion im Vordergrund. Empirisch untersucht werden somit die folgenden Fragen: 1. Welche latenten Adressat*innenkonstruktionen werden in Erstgesprächen von Paarberatung sichtbar? 2. Wie beeinflussen diese Adressat*innenkonstruktionen den Umgang mit den Herausforderungen moderner Paargestaltung innerhalb systemischer Paarberatung? Das Forschungsziel besteht darin, die Besonderheit der institutionellen Kommunikation innerhalb von Paarberatungen zu verdeutlichen, wobei die Bedeutung des Erstgesprächs hervorgehoben werden soll. Dabei werden die sich abzeichnenden latenten Strukturen oder, um mit Goffman (1980) zu sprechen: Rahmen, von Adressat*innenkonstruktion näher erforscht. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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4.1 Methodologische und methodische Einordnung der Forschungsfrage Die vorliegende Forschung geht der Frage nach, welche latenten Adressat*innenkonstruktionen in Paarberatung sichtbar werden, und richtet sich insbesondere auf Erstgespräche systemischer Paarberatung, verstanden als soziale Situationen im Sinne Goffmans. Anhand dieser Gespräche wird aufgezeigt, wie das Setting latente Adressat*innenkonstruktionen beeinflusst, und dabei in den Blick genommen wird die Ko-Konstruktion, also die gemeinsame Herstellung des Handlungsfelds durch die Professionellen und die Paare. Um solche Momente gemeinsamer Herstellung anzusprechen, werden Situationen analysiert, in denen Professionelle und Adressat*innen miteinander agieren. Die für diesen Zweck gewählte Gesprächsanalyse ermöglicht eine strukturelle Beschreibung der Ko-Konstruktion und Ko-Produktion einer Situation (Deppermann, 2008) und integriert damit institutionelle Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Kontexte in die Rekonstruktion konkreter Interaktionen zwischen professionellen Fachkräften und Adressat*innen innerhalb von Paarberatung. Folgende Forschungsfragen sind leitend: 1. Welche latenten Adressat*innenkonstruktionen werden in Erstgesprächen von Paarberatung sichtbar? 2. Wie beeinflussen diese Adressat*innenkonstruktionen den Umgang mit den Herausforderungen moderner Paargestaltung innerhalb systemischer Paarberatung? Forschungsschwerpunkt ist die Rekonstruktion der Struktur des kommunikativen Handelns der beteiligten Personen bzw. die »Prozessstrukturen der Herstellung« (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021, S. 23). Ziel ist es, die »Strukturierungsprinzipien also die Hervorbringungsregeln, kurzum, den sozialen Sinn, welcher der jeweiligen Praxis zugrunde liegt und sie formt« (Fischer, 2013, S. 110, Herv. i. Orig.), für die Adressat*innenkonstruktion herauszuarbeiten. Die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Grundannahme lautet, dass diese Strukturen regelerzeugtes und regelgeleitetes Handeln darstellen (Oevermann, 1993) und den Beteiligten explizit unbekannt sind (Soeffner, 2015, S. 168), »obschon sie sich strukturorientiert verhalten und diesen Sinn immer wieder selber herstellen« (Fischer, 2013, S. 110). Diese auf Goffman beruhende Strukturperspektive kann durch die Rekonstruktion der Interaktionsstruktur mittels detaillierter Sequenzanalyse (Soeffner, 2015, S. 166) einzelner Fälle mit der Objektiven Hermeneutik methodisch umgesetzt werden. Zunächst wird daher die Methodologie der Objektiven Hermeneutik detailliert.

4.2 Methodologie der Objektiven Hermeneutik Die Objektive Hermeneutik, die im Wesentlichen auf Ulrich Oevermann und seine Forschungsgruppe (Oevermann, Allert, Konau & Krambeck, 1979)48 zurückgeht, ist ein »Verfahren der Textinterpretation mit dem Anspruch, die Geltung der Interpretation an intersubjektive Überprüfbarkeit zu binden« (Wernet, 2009, S. 11). Ihr zentrales Anliegen besteht »in einer methodischen Kontrolle der wissenschaftlich-empirischen Operation des Verstehens« (S. 11, Herv. i. Orig.). Sie geht von der Annahme aus, »dass sich die sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstituiert und in Texten materialisiert« (S. 12), und nutzt als Datengrundlage Texte, die einen direkten Zugang zur zu untersuchenden Wirklichkeit darstellen. Und deren sinnhafte Struktur soll von der Objektiven Hermeneutik kontrolliert erfasst werden, um mittels textstrukturellen Verstehens Aussagen über die Wirklichkeit treffen zu können. Texte stellen »Protokolle der Wirklichkeit« (S. 12, Herv. i. Orig.),49 Protokolle demnach »vertextete soziale Wirklichkeit« (S. 12) dar. Die Begriffe »Text« und »Protokoll« beziehen sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf denselben Sachverhalt von Ausdrucksgestalt:

48 Grundlegender zur Methodologie siehe Oevermann (1981, 2000), zu anderen – auch kritischen – Auseinandersetzungen und Weiterentwicklungen Objektiver Hermeneutik beispielsweise Becker-Lenz, Franzmann, Jansen und Jung (2016), Hildenbrand (2017), Reichertz (1997, 2002), Wernet (2009, 2021); überblickshaft zu Objektiver Hermeneutik beispielsweise Brüsemeister (2008), Garz und Raven (2015), Kleemann, Krähnke und Matuschek (2013), Przyborski und Wohlrab-Sahr (2021). 49 »Dabei kann es sich um gegenständliche Objektivierungen in Produkten, um hinterlassene Spuren, um Aufzeichnungen vermittels technischer Vorrichtungen, um intendierte Beschreibungen, um institutionelle Protokolle oder um künstlerische oder sonstige bewußte Gestaltungen handeln, und die Ausdrucksmaterialität kann sprachlich oder in irgendeinem anderen Medium der Spurenfixierung oder der Gestaltung vorliegen« (Oevermann, 2002, S. 3 f.).

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Methodologie der Objektiven Hermeneutik

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»Text meint deren symbolischen Charakter und Protokoll deren ausdrucksmateriale Erscheinung« (Oevermann, 2002, S. 4). Die Textinterpretation fußt auf der Annahme der Regelgeleitetheit sozialen Handelns (Oevermann, 1993, S. 115; siehe 4.1), wonach, »jede Handlung, jede soziale Praxis, sich in einem Raum regelerzeugter Möglichkeiten bewegt« (Wernet, 2009, S. 13): »Die Welt, in der sich handelnde Subjekte bewegen, ist von Regeln bestimmt, welche den Handlungen erst Bedeutung verleihen und einen Raum möglicher Verhaltensweisen für die Subjekte aufspannen« (Oevermann, 1993, S. 115). Soziales Handeln richtet sich also entlang dieser Regeln aus. Die Interpretation von Protokollen sozialen Handelns erfolgt in Bezug auf das jeweils vorliegende Regelwissen (Wernet, 2021, S. 146). Hier beruft sich Oevermann auf die Lebenspraxis als Konzept, das nicht nur handlungsfähige Subjekte, sondern auch soziale Gebilde fasst, die in ihrer Sinnstrukturiertheit rekonstruierbar sind (Oevermann, 1996, S. 77). Lebenspraxen, also alle menschlichen Handlungen und sozialen Gebilde, reproduzieren und transformieren sich notwendigerweise nach rekonstruierbaren Regeln: Die Lebenspraxis kann sich der Regelgeleitetheit nicht entziehen oder sie hintergehen (Oevermann, 1993, S. 178).50 Oevermann unterscheidet analytisch nach Erzeugungsregeln (Parameter I) und Auswahlregeln (Parameter II) (Oevermann, 2002, S. 8). Das bedeutet, dass »die sprachlich erzeugten objektiven Bedeutungen den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen und nicht umgekehrt der je subjektiv gemeinte bzw. intendierte Sinn die objektive Bedeutung von Ausdrücken erzeugt« (S. 1). Die Bedeutung der Handlung, für die sich ein Subjekt schließlich entscheidet, wird erst vor dem Hintergrund der anderen möglichen, aber nicht gewählten Verhaltensweisen deutlich. In einer bestimmten Situation wählen Subjekte unter den durch soziale Regeln eröffneten Möglichkeiten bestimmte Handlungen aus. Diese Auswahl erfolgt nicht statisch, sondern wird in einem Prozess getroffen, da jede getroffene Entscheidung Handlungsalternativen nach sich zieht (Wernet, 2009, S. 15). Dieses Muster, das einer bestimmten Interaktion zugrunde liegt und bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten einer spezifischen Systematik folgt, wird als Fallstruktur bezeichnet (Oevermann, 1991, S. 271). »Der Strukturbegriff verweist darauf, dass die Selektionen, die eine Lebenspraxis vornimmt, nicht beliebig sind und nicht zufällig variieren. Die Selektionen selbst folgen einer Struktur. Und erst ihre Strukturiertheit verleiht der 50 Eine Einführung in Oevermanns Theorie der Lebenspraxis geben Garz und Raven (2015).

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Lebenspraxis ihre Identität. Die objektiv-hermeneutische Textinterpretation zielt auf die Rekonstruktion der Strukturiertheit der Selektivität einer protokollierten Lebenspraxis« (Wernet, 2009, S. 15, Herv. i. Orig.). Soziale Regeln der Wirklichkeit sind nicht hintergehbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass unerwartete, regelverletzende Handlungsentscheidungen eines handelnden Subjekts nicht möglich wären. Die Objektive Hermeneutik beruht auf dem Verfahren der Sequenzanalyse, deren Logik darin besteht, »den tatsächlichen Ablauf als eine Sequenz von Selektionen zu sehen, die jeweils an jeder Sequenzstelle, d. h. einer Stelle des Anschließens weiterer Einzelakte oder -äußerungen unter nach gültigen Regeln möglichen sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind« (Oevermann, 1991, S. 270). Oevermann versteht unter Sequenzialität nicht ein simples zeitliches oder räumliches Nach- oder Hintereinander, sondern »die mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft« (Oevermann, 2002, S. 7).51 Das bedeutet, dass die Selektivität einer Lebenspraxis sich prozessual vollzieht (Wernet, 2009, S. 16). Entscheidend wird hier das Zusammenspiel der oben beschriebenen Parameter I und II. Die Erzeugungsregeln (Parameter I) bilden die Gesamtheit der Sequenzierungsregeln, vermittels derer die an einer vorhandenen Sequenzstelle sinnlogisch möglichen Anschlüsse erzeugt werden. Zu diesem Parameter gehören grundlegend die Regeln der sprachlichen Syntax, pragmatische Regeln des Sprechhandelns sowie die logischen Regeln für formale und materialsachhaltige Schlüssigkeit (Oevermann, 2002, S. 8). An jeder Sequenzstelle erzeugen diese Sequenzierungsregeln einen Spielraum von Optionen, aus denen dann die je konkrete Handlungsinstanz eine auswählen muss. Parameter II umfasst Auswahlprinzipien und -faktoren, d. h. »alle Komponenten und Elemente der Disponiertheit der verschiedenen beteiligten Lebenspraxen oder Handlungsinstanzen« (S. 8), und bestimmt, welche eröffnete Option über den realisierten Anschluss konkret ausgewählt wird. Diese Gesamtheit

51 Oevermann betont, dass jede konkrete Praxis im menschlichen Leben eröffnet und beschlossen wird. Deshalb ist es besonders aufschlussreich, Eröffnungs- und Beschließungsprozesse, wie z. B. die Begrüßung, zu interpretieren (Oevermann, 2002, S. 7).

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der Dispositionen einer konkreten Lebenspraxis in ihrer Eigenart zeigt sich in deren Fallstruktur. »Und so besteht die Rekonstruktion einer Fallstruktur nicht in der Sammlung und Systematisierung von Merkmalen einer protokollierten Lebenspraxis, sondern darin, die Selektivität dieser Lebenspraxis in der Rekonstruktion der Ablaufstruktur der fallspezifischen Entscheidungen zu formulieren« (Wernet, 2009, S. 16, Herv. i. Orig.). Die also prozessual zu verstehende objektiv-hermeneutische Textrekonstruktion der Fallstruktur betrachtet die Abfolge der konkreten Selektionen vor dem Hintergrund der jeweils möglichen Anschlussalternativen. Das bedeutet, dass die objektiv-hermeneutische Interpretation auf eine Strukturrekonstruktion abzielt, da die Handlungsoptionen durch Regeln bestimmt sind (Oevermann, 1993, S. 178). In der Logik der Objektiven Hermeneutik sind sich die handelnden Subjekte der einer konkreten Interaktionssituation zugrunde liegenden Fallstruktur nicht manifest bewusst, sondern sind nur latent vorzufinden. Die Fallstruktur kommt erst aufgrund der Regelgeleitetheit sozialen Handelns zustande (S. 115): »Im weitesten Sinne versucht der Begriff der latenten Sinnstruktur dem Umstand Rechnung zu tragen, dass unser Handeln immer auch von Motiven geleitet ist, über die wir nicht rational verfügen, die wir häufig nicht einmal kennen« (Wernet, 2019, S. 63). Die Objektive Hermeneutik als Verfahren beruft sich auf die Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen des Texts entlang geltender Regeln (Wernet, 2021, S. 27). Erst im Prozess der Rekonstruktion der Fallstruktur kann die latente Sinnstruktur herausgearbeitet und bewusst gemacht werden. Die Darlegung einer Fallstruktur verweist stets schon auf eine »allgemeine, fallkontrastierende und fallübergreifende Theoriebildung« (Wernet, 2019, S. 57). Ergebnisse mehrerer Einzelfallstrukturrekonstruktionen werden zu einer generellen Struktur verdichtet. »Jede einzelne Fallrekonstruktion ist schon als solche eine Strukturgeneralisierung. Denn ihr je konkretes Ergebnis […] bildet einen konkreten Fall in seiner inneren Gesetzlichkeit ab, die seine Autonomie bzw. den Grad seiner Autonomie als das Ergebnis seiner Individuierungsgeschichte ausmacht. Wie häufig dieser Fall sonst noch vergleichbar oder ähnlich auftaucht, wie viele weitere ›token‹ dieses ›type‹ es also empirisch gibt, ist für diese Hinsicht der Strukturgeneralisierung vollständig unerheblich« (Oevermann, 2002, S. 14). © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die Fallstrukturgeneralisierung sagt nichts über die Häufigkeit eines Merkmals im Sinne einer statischen Verallgemeinerung aus, sodass eine empirisch gesättigte Theoriebildung nicht möglich ist. Die Objektive Hermeneutik beansprucht dagegen eine Theoriebildung »in der Sprache des Falles« (Wernet, 2009, S. 19). »Der analysierte Fall ist immer schon allgemein und besonders zugleich. Denn in jedem Protokoll sozialer Wirklichkeit ist das Allgemeine ebenso mitprotokolliert wie das Besondere im Sinne der Besonderheit des Falls. Der konkrete Fall ist insofern schon mehr als ein Einzelfall, als er ein sinnstrukturiertes Gebilde darstellt« (Wernet, 2009, S. 19). Das bedeutet, dass die Allgemeinheit einer Fallstruktur unter Mitwirkung geltender Regeln und die Besonderheit einer konkreten Lebenspraxis in der (typischen) Selektivität ihrer Entscheidungen zutage treten. Und dieser Besonderungsprozess ist selbst wiederum durch allgemeine Strukturgesetzlichkeiten bestimmt. Die Fallstrukturgeneralisierung beabsichtigt »eine begriffliche Würdigung der Ergebnisse der Fallrekonstruktion […] im Sinne der Formulierung einer materialen, empiriegesättigten Theorie« (Wernet, 2009, S. 20, Herv. i. Orig.). Objektive Hermeneutik kann angewendet auf Beratungs- und Therapiegespräche einerseits die Fallstruktur des Problems des*der Patient*in und andererseits die Struktur der Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in sichtbar machen (Leber & Oevermann, 1994, S. 389). Dabei wird das Allgemeine ebenso mitprotokolliert wie das Besondere im Sinne der Besonderheit des konkreten Falls. Der Fokus auf den konkreten Fall innerhalb der sozialen Praxis Paartherapie wird nach Borcsa (2016, S. 109) wie folgt untergliedert: »the individual biographical level (with the respective personal socialization effects by agents like family of origin, institutions, political structures, etc.), the level of the couple as a social system, and, finally, the therapeutic system, comprising the couple and the therapist(s)«. Das therapeutische System wird im Folgenden als Fall bestimmt.

4.3 Methodisches Vorgehen Um die latenten Adressat*innenkonstruktionen in Erstgesprächen von Paarberatung zu rekonstruieren, ist ein Forschungsdesign erforderlich, welches die KoKonstruktion des Handlungsfelds durch die Professionellen und der Paare in den Blick nimmt. Die Genese der Studie wird nun dahingehend detailliert erläutert. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Methodisches Vorgehen

4.3.1 Datenerhebung und Fallauswahl Zur Bearbeitung der Forschungsfrage wurden Sitzungen von Paarberatungen aufgezeichnet (siehe 4.1) und das Datenmaterial im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Hochschule Nordhausen erhoben. Das Forschungsprojekt »Relational Mind in Events of Change in Multiactor Therapeutic Dialogues – Relationales Selbst und Momente der therapeutischen Veränderung in systemischer Paarberatung und -therapie«52 (Projektleitung: Prof.  Dr.  Maria Borcsa) beschäftigt sich mit der Interaktion von Paaren und Berater*innen innerhalb einer Paarberatung bzw. -therapie. Ziel des Forschungsprojekts war es, die bedeutsamen Momente der Interaktion zu erkennen und zu untersuchen, welchen Einfluss diese auf die Ergebnisse der Therapie bzw. Beratung haben (Borcsa et al., 2014). Teilnehmende des Forschungsprojekts waren Personen, die Paarberatung in Anspruch nahmen, sowie zwei systemisch ausgebildete Berater*innen (Co-Berater*innenteam, siehe 1.2.2). Leitidee war, dass das CoBerater*innenteam aus einer weiblich und einer männlich gelesenen Person bestand53. Alle Berater*innen54 wurden über das Forschungsprojekt in persönlichen Gesprächen informiert und über den Grad der Anonymisierung aufgeklärt. Auch wurde ihr Einverständnis zur Teilnahme eingeholt. Es erfolgte ein standardisiertes Vorgehen, das nun detailliert vorgestellt wird. Zuerst wurden potenzielle Paare für eine Paarberatung und -therapie akquiriert, indem auf der Website des Instituts die Beratungsmöglichkeit beworben und das Forschungsprojekt näher erläutert wurde. Zudem wurden Aushänge u. a. in sozialen Einrichtungen in der näheren Umgebung platziert. Eine Rundmail an 52 Das Forschungsprojekt wurde geführt von der Universität Jyväskylä (Finnland). Weitere Kooperationspartner*innen waren die Universitäten in Thessaloniki (Griechenland), Barcelona (Spanien) und Brno (Tschechische Republik). Die Academy of Finland förderte 2013–2016 das beantragte Projekt (Seikkula, Karvonen, Kykyri, Kaartinen & Penttonen, 2015), allerdings standen den internationalen Kooperationspartner*innen aus dieser Förderung lediglich ideelle Ressourcen zur Verfügung. Finanziell wurde die Kooperation in Deutschland unterstützt von der Rentenversicherung Mitteldeutschland, dem Forschungsförderfonds der Hochschule Nordhausen, der Systemischen Gesellschaft (SG) und der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Die Laufzeit für dieses Projekt war von Oktober 2013 bis Dezember 2023 angesetzt. Vorliegende Forschung, welche am Institut für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung (ISRV ) angesiedelt ist, wurde von der Ethikkommission der Friedrich-Schiller-Universität Jena als unbedenklich begutachtet (Bearbeitungsnummer: 3953–12/13). 53 Bis auf eine Paarberatung, bei der zwei Beraterinnen involviert waren, ist dies auch so umgesetzt worden. Bei den geschlechtlichen Kategorisierungen handelt es sich stets um Selbstzuschreibungen der betreffenden Personen (Butler, 1991; Villa, 2012). 54 Um die Anonymität der Berater*innen zu wahren, wird auf die Darstellung der Berater*innenakquise für die Veröffentlichung verzichtet.

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potenzielle Stakeholder wurde versendet und die lokale Presse machte auf das Angebot und auf das Forschungsprojekt aufmerksam. In diesen Aufrufen wurden die Begrifflichkeiten Paarberatung und Paartherapie synonym verwendet. Daraufhin kontaktierte jeweils eine Person des Paars telefonisch oder per E-Mail die Projektleiterin oder eine der Forschungsmitarbeiterinnen. Anlässlich eines ersten Telefonats wurden das Forschungsvorhaben, der Ablauf der Paarberatung und die Rolle der Paare näher erläutert. Auch Funktionsweise und Zweck der Forschung wurden spezifiziert. Nach Zustimmung der kontaktierenden Person zur Vorgehensweise wurde der Kontakt zu den potenziellen Berater*innen vom Forschungsteam aufgenommen. Die Berater*innen wandten sich dann unter deren Einverständnis an die Kontaktperson und vereinbarten einen Termin. Telefonisch wurde über die Sitzungsdauer (circa 1 Stunde und 45 Minuten inklusive der Informationen über das Forschungsprojekt) informiert. Vor der ersten Sitzung wurde von mir oder einer weiteren Forschungsmitarbeiterin ein Brief oder eine E-Mail mit kurzen Informationen zum Forschungsprojekt an das Paar bzw. an eine Person des Paars gesendet. Die Formulare zur Aufklärung der Teilnehmenden, eine Einverständniserklärung mit Hinweisen zu Datenschutz und Anonymisierung und ein Fragebogen zu grundlegenden Angaben zum Paar und den einzelnen Personen wurden mitgeschickt. Die ausgefüllten Formulare (jedes Paarmitglied einzeln) wurden entweder per Post zurückgeschickt oder zur ersten Beratungssitzung mitgebracht. Der Fragebogen wurde nur für Forschungszwecke verwendet, die jeweiligen Berater*innen erhielten keinen Einblick. Außerdem füllten die Berater*innen Formulare mit der Einverständniserklärung und einem Aufklärungsbogen aus. Die Beratungssitzungen fanden in einer Einrichtung statt, die über einen Gruppen- und Beratungsraum mit sechs Kameras verfügte. Eine einseitig durchsichtige Scheibe ermöglichte den Einblick vom Beobachtungsraum in den Beratungsraum. In der Mitte des Beratungsraums standen vier Stühle einander zugewandt im Viereck. Dazwischen auf dem Boden lag das Mikrofon. An der Wand vor der Einwegscheibe befand sich ein Tisch. Die Adressat*innen saßen stets mit dem Rücken zur Einwegscheibe. Alle Beratungen wurden auf Video aufgezeichnet.55 Die Beratungen waren kostenfrei56.

55 Die Filmaufnahme und die anschließende Transkription sind als Protokoll für Interaktionen bestens geeignet (Fischer, 2013, S. 114). Der technische Aufwand und die potenziell damit verbundenen Schwierigkeiten für Videoaufnahmen sind dennoch nicht zu unterschätzen (Kamera schaltet sich zu spät ein oder im Verlauf ab, Tonqualität ist unzureichend usw.). 56 Es wurde mit einem Eigenbetrag von mindestens 20,00 € beworben. Aus Verwaltungsgründen konnten diese jedoch nicht erhoben werden.

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Methodisches Vorgehen

Vor dem Raum empfing die Forschungsmitarbeiterin die Paare zu den Sitzungen.57 Die Paare konnten vor der ersten Sitzung die ausgefüllten Unterlagen abgeben und Fragen stellen. Dann füllten die Paare jeweils einzeln vor jeder Sitzung eine Selbsteinschätzung über sein/ihr Wohlbefinden (CORE-OM [Lyne, Barrett, Evans & Barkham, 2006] in der deutschen Version) und die Outcome Rating Scale ([Miller, Duncan, Brown, Sparks & Claud, 2003] in der deutschen Version) aus. Währenddessen traf das Co-Berater*innenteam ein. Alle vier Personen nahmen vorgegebene Plätze im Beratungsraum ein. Ich oder eine weitere Forschungsmitarbeiterin stellte die an der Decke befestigten Kameras ein. Danach erfolgte das Signal, dass die Technik eingestellt war und die Paarberatung beginnen konnte. Während der Paarberatung saß meistens ich oder eine weitere Forschungsmitarbeiterin hinter der Einwegscheibe und betrat erst am Ende der Sitzung wieder den Beratungsraum. Die während der dann stattfindenden Paarberatung mit dem Co-Berater*innenteam gestellten Fragen und angewandten Methoden waren nicht vorgegeben und konnten von den Berater*innen bestimmt werden. Am Ende jeder Beratung wurde ein Reflecting Team (Andersen, 2018)58 durchgeführt. Die Sitzungen fanden immer in der gleichen Konstellation statt. Das Setting für die darauffolgenden Beratungssitzungen konnte daher nicht frei gewählt werden (wie bspw. Einzelsitzungen). Am Ende jeder Sitzung gaben alle Anwesenden eine schriftliche Einschätzung zur Interaktion während der Sitzung (Fragebogen: Session Rating Scale [Duncan et al., 2003] in der deutschen Version) ab. Am Ende der ersten Sitzung informierten die Berater*innen die Ratsuchenden erneut über das Forschungsprojekt und über die folgende Sitzung, bei der zusätzlich Herzfrequenzen aufgenommen werden sollten.59 Falls notwendig konnte die Forschungsmitarbeiterin hinzugezogen werden, um weitere Informationen zum Projekt zu geben und Fragen und Unklarheiten in Bezug auf 57 Insgesamt begleitete ich 21 Sitzungen, eine weitere Forschungsmitarbeiterin fünf Sitzungen. Während einiger Sitzungen war auch die Projektleiterin Prof. Dr. Maria Borcsa im Beobachtungsraum anwesend. 58 Nach einer kurzen an das Paar gerichteten Erläuterung setzten sich die beiden Berater*innen kurz vor Ende der Sitzung zueinander und redeten im Beisein des Paars über die Sitzung. Das Paar hörte zu. Nach dem Gespräch konnten die Paarmitglieder, sofern sie Anlass sahen, Stellung dazu nehmen. 59 Bei mindestens zwei Sitzungen (ca. zweite und fünfte Sitzung) wurden Messungen der Reaktionen des vegetativen Nervensystems vorgenommen (Herzschlag). Die Messungen wurden bei allen Teilnehmenden durchgeführt. Innerhalb von 24 Stunden nach diesen Messungen wurde mit jedem*r beteiligten Gesprächspartner*in ein Einzelinterview durchgeführt. Während des Interviews wurden drei bis vier Ausschnitte der aufgezeichneten Beratungssitzung betrachtet und diese mit der Projektmitarbeiterin diskutiert (Selbstkonfrontations-Interview) (Borcsa et al., 2014; Borcsa & Janusz, 2021; Vall et al., 2018).

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die Untersuchung mit dem Paar zu klären. In den weiteren Sitzungen wurden noch mehr Daten aufgenommen (für mehr Informationen Borcsa et al., 2014). Insgesamt wurden Erstgespräche mit sechs Paaren vereinbart, wobei ein Erstgespräch vorher abgesagt wurde. Es wurden somit Paarberatungen mit fünf heterosexuellen Paaren durchgeführt.60 Dabei waren insgesamt sechs systemisch ausgebildete Berater*innen tätig. Ein Berater und eine Beraterin führten bei vier Paaren die Beratung durch. An einer Beratung waren zwei Beraterinnen beteiligt. Die Paarberatungen dauerten zwei bis sieben Sitzungen im Abstand von jeweils circa vier Wochen. Da sich die Forschungsfrage auf Erstgespräche und deren latente Kon­struktion von Adressat*innen bezieht, sind notwendigerweise die Erstgespräche für die Rekonstruktionen heranzuziehen. Die Rekonstruktion mit einer hermeneutischen Perspektive bedeutet »zunächst und vor allem die Arbeit am Einzelfall« (Soeffner, 2015, S. 112). Daher wurde zuerst ein Erstgespräch intensiv rekonstruiert. Es handelte sich um das erste Paar, das im Rahmen des Forschungsprojekts Paarberatung in Anspruch nahm (Code: N001). Auch in der objektiven Hermeneutik wird eine komplexe Forschungsfrage in der Regel nicht anhand einer einzigen Fallrekonstruktion beantwortet werden können (Oevermann, 2002, S. 17). Die Fälle werden nach dem Kriterium des maximalen Kontrasts ausgewählt (Oevermann, 2002, S. 18). Für das anstehende »fallrekonstruktiv vorgenommene ›theoretical sampling‹ […] auf der Grundlage des erhobenen Datensatzes« (Wernet, 2021, S. 106) wurde ein zweites Erstgespräch (Code: N004) herangezogen, um die »typologische Verschiedenheit der Erscheinungen im Universum möglichst gut auszuloten und ein Übersehen von für die allgemeine Untersuchungsfrage relevanten Typen zu verhindern« (Oevermann, 2000, S. 128). Als die die Auswahl des zweiten Gesprächs begründende kontrastive Vergleichsdimension wurde das differente Beratungsvorgehen der Berater*innen herangezogen. Daraufhin ergab sich die nächste Kontrastdimension, die sich im vorzeitigen Abbruch der Paarberatung als Ganze (nach der zweiten Sitzung) zeigte. Darauf aufbauend wurde ein drittes Erstgespräch (Code: N002) rekonstruiert. Das vierte Erstgespräch (Code: N005) wurde als weitere Kontrastfolie herangezogen, da die Paarberatung eine atypische Beratungsprozessstruktur aufwies. Um einen Vergleich und dadurch die Besonderheit von Erstgesprächen herauszukristallisieren, waren die Letztgespräche der jeweiligen Paarberatungen für eine kontrastive Rekonstruktion innerhalb der Fälle heranzuziehen. Letztgespräche dienen als Kontrastdimension zu den Erstgesprächen, da einerseits 60 Die Rekonstruktion der Werbung für die Paarberatung und -therapie zeigte die Tendenz, dass mit dieser Werbung nur ein bestimmtes Milieu angesprochen wurde.

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Methodisches Vorgehen

Adressat*innen weiterhin konstruiert werden (Adressierungsprozesse), andererseits der Abschied vom Beratungsprozess in Interaktion verhandelt wird (Deppermann & Lucius-Hoene, 2008) und somit eine Form der De-Adressierung stattfindet (Bitzan & Bolay, 2017, S. 44). Zwei Paarberatungsprozesse wurden nach der zweiten bzw. nach der vierten Sitzung abgebrochen. Beim dritten rekonstruierten Erstgespräch handelte es sich um solch eine abgebrochene Sitzung. Da kein formales Letztgespräch stattfand, wurde diese Rekonstruktion im Interpretationsprozess nicht weiterverfolgt. Die drei anderen Erstgespräche wiesen einen abgeschlossenen Paarberatungsprozess auf, sodass weitere Rekonstruktionen vorgenommen und zur abschließenden Fallauswahl ausgezeichnet wurden. 4.3.2 Datenaufarbeitung und Transkription Die Videoaufzeichnungen wurden transkribiert. Da strukturale Interpretationen nicht der Präzision eines Transkriptionssystems wie GAT 2 bedürfen – was beispielhaft an den Interpretationen in Oevermann (2010) und Wernet (2021) deutlich wird –, sind die Transkriptionsregeln des vereinfachten Transkriptionssystems nach Lamnek und Krell (2016, S. 766) genutzt worden, nach denen Pausen, Überschneidungen, Geräusche und Gesten transkribiert werden.61 Alle Transkripte wurden durchgängig anonymisiert, indem Daten wie Namen, Zeitangaben, Orte, Berufe, Organisationen usw., die Rückschlüsse auf die Person zulassen könnten, geändert wurden. Es erfolgte also eine Anonymisierung direkter personenbezogener und auf Personen beziehbarer Merkmale, aber auch indirekter, spezifischer personenbezogener Merkmale, wobei beispielsweise äquivalente Berufe (bspw. statt Malerin wurde Maurerin verwendet) eingesetzt wurden. Im Rahmen der Interpretationswerkstätten wurden Namen und Orte geändert, aber nicht die Berufe, um die Interpretationen nicht zu verfälschen. Alle Transkriptausschnitte wurden vor der Interpretation ausgedruckt auf Papier ausgeteilt und nach der Interpretation wieder eingesammelt, um eine Weiterverbreitung zu verhindern. Bei Online-Fallwerkstätten wurde darauf hingewiesen, dass das Material nach der Interpretation sofort zu löschen war und nicht verteilt werden durfte. 61 »Gestische und mimische Ausdrucksformen können in einer Interaktion dem Sinngehalt sprachlicher Interaktionen nicht sinnlogisch widersprechen, sie drücken dasselbe aus. […] Mit diesem Punkt ist keineswegs gesagt, daß Gesten und Mimik nicht für sich genommen interessant und wichtig wären, sondern nur, daß für die Erschließung einer Lebenspraxis und ihrer Kommunikation die Sprache das komplexeste, reichhaltigste und in gewisser Weise auch hinreichende Ausdrucksmaterial darstellt und daher eine methodische Priorität genießen sollte« (Franzmann, 2016, S. 21).

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4.4 Datenauswertung Die Bearbeitung der Forschungsfrage erfordert eine Auswertungsmethode, die sowohl Strukturen als auch Prozesse in Interaktionen zu analysieren vermag. Objektive Hermeneutik trägt als Auswertungsmethode der Bedeutsamkeit der Verschränktheit von Subjekt und Struktur für die adressat*innenbezogene beraterische Forschung Rechnung. Die Sequenzanalyse ermöglicht mit ihrer Rekonstruktionsweise, die latenten Sinnstrukturen der Konstruktion von Adressat*innen im Paarberatungsgespräch zu explorieren. Die Auswertung der Transkripte der Sitzungen erfolgt mit der Methode der Objektiven Hermeneutik. Um dem qualitativen Gütekriterium der »kommunikativen Validierung« (Flick, 2010; Steinke, 2015) in Form einer kollegialen Validierung zu entsprechen, wurden die Beratungstranskripte in unterschiedlichen Interpretationsgruppen ausgewertet, besonders in der Interpretationswerkstatt Objektive Hermeneutik an der Martin-Luther-Universität Halle (Saale), der Forschungswerkstatt Qualitative Bildungs- und Sozialforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, innerhalb des Promotionskolloquiums der Erstbetreuerin, aber auch in Interpretationsgruppen von Doktorand*innen mit ähnlichen und verwandten Forschungsinteressen. Sowohl mit der Erst- als auch mit der Zweitbetreuerin wurden Interpretationen, Ergebnisse und begleitende Theoriefragen regelmäßig diskutiert. Auch im besuchten Promotionsstudiengang »Qualitative Bildungs- und Sozialforschung« an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und in diversen Kolloquien, Workshops und auf nationalen und internationalen Konferenzen wurden Forschungsschritte und -ergebnisse präsentiert, diskutiert und reflektiert. 4.4.1 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation Die objektiv-hermeneutische Textinterpretation folgt fünf Prinzipien (Wernet, 2009):62 Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequenzialität, Extensivität und Sparsamkeit. Sie verbinden Methodologie und Methode der objektiven Hermeneutik. Auf der einen Seite beziehen sie sich auf methodologische Begründungen des Verfahrens, auf der anderen Seite stellen sie konkrete Schritte für das Interpretationsverfahren dar. 62 Auch hier sei erwähnt, dass sie in den diversen Auslegungen der Objektiven Hermeneutik unterschiedlich zusammengefasst werden können. Diese Prinzipien können als kleinster gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Auslegungen der Objektiven Hermeneutik angesehen werden (Reichertz, 2002).

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Datenauswertung

Das Prinzip der Kontextfreiheit bedeutet nicht, dass die Umstände einer Interaktion bei deren Interpretation außer Acht gelassen werden. Das Prinzip weist darauf hin, dass »die Einbeziehung des Kontextes erst dann eine gehaltvolle und strukturerschließende, methodisch kontrollierte Operation darstellt, wenn zuvor eine kontextunabhängige Bedeutungsexplikation vorgenommen wurde« (Wernet, 2009, S. 22, Herv. i. Orig.). Die Einbeziehung des Kontexts erfolgt erst nach der kontextfreien Interpretation, da sie der kontextfreien Bedeutungsexplikation »systematisch nachgeordnet« (S. 21, Herv. i. Orig.) ist. Damit wird vermieden, dass der Text ausschließlich durch den Kontext verstanden wird. Diese Gefahr wäre groß, wenn man die Kontextbedingungen sofort als Informationen in den Interpretationsprozess aufnehmen würde. In der Interpretationspraxis äußert sich dies dahingehend, dass im ersten Schritt gedankenexperimentelle Kontexte (Wernet, 2021, S. 42) gesucht werden, die mit den Äußerungen im Text kompatibel erscheinen. Das erste Herangehen an einen Text ist also mit einer »künstlichen Naivität« (Wernet, 2009, S. 23) verbunden. Das bedeutet, dass methodisch versucht wird, das Wissen um den im Erkenntnisinteresse liegenden Gegenstand bewusst auszublenden. Im zweiten Schritt wird der reale Kontext, in dem die Interaktion stattgefunden hat, kontrastierend (gegen die zuvor kontextunabhängig generierten Lesarten) gestellt. In diesem Sinne ist die Einbeziehung des realen Kontexts ein methodisch kontrollierter Interpretationsschritt. Das Prinzip der Wörtlichkeit besagt, dass die zur Interpretation herangezogenen Texte wörtlich genommen werden, um eine methodologische Kontrolle zu gewährleisten (Wernet, 2009, S. 24). Die Ebene der latenten Sinnstrukturen wird sofort verlassen, sobald bei der Interpretation kleine oder große Ungereimtheiten im Text geglättet werden. Dies passiert schon, sobald die Interpretierenden überlegen, wie die sprechende Person im Text wohl etwas gemeint haben könnte. Das heißt, dass »die Bedeutungsrekonstruktion den tatsächlich artikulierten Text in seiner protokolliert vorliegenden Gestalt nicht ignorieren darf, auch und gerade dann nicht, wenn innertextliche Widersprüche auftreten« (S. 23). Das Prinzip der Wörtlichkeit zielt bei der Interpretation auf die latenten Sinnschichten einer Äußerung, das heißt »auf diejenigen Bedeutungsdimensionen, die offenkundig nicht im intentionalen Horizont des Textes stehen und die auch nicht mit den Meinungen, Überzeugungen und Selbstinterpretationen eines Falls übereinstimmen müssen« (S. 25). Von den Interpretierenden wird daher gefordert, die »lebenspraktischen-alltagsweltlichen Haltungen und Maximen der wechselseitigen Anerkennung nicht auf den Gegenstand der Interpretation anzuwenden« (S. 26). Das Prinzip Sequenzialität verlangt, den Text ernst zu nehmen und bei der Interpretation dem Ablauf des protokollierten Texts Schritt für Schritt und prä© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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zise zu folgen (Wernet, 2021, S. 47). Interpretierende suchen nicht nach Textsegmenten, die bedeutungsvoll oder brauchbar erscheinen.63 Nur wenn einzelne Interakte im Ablauf einer Interaktion einbezogen werden, wird deren Bedeutung als Handlungsentscheidungen einer spezifischen Lebenspraxis rekonstruierbar. Hierfür ist es bei der Sequenzanalyse erforderlich, den Text, der einer zu interpretierenden Stelle folgt, zunächst nicht zu beachten (S. 47). Das Prinzip der Sequenzialität verdeutlich erneut, dass Textwissen nicht zur Begründung von Lesarten herangezogen werden darf (Wernet, 2009, S. 29). Sobald eine Textstelle intensiv interpretiert ist, kann im Text die nächste darauffolgende Sequenz herangezogen werden, um die »sequenzielle Entfaltung der Bedeutungsstruktur zu rekonstruieren« (S. 30). Wie bereits verdeutlicht ist die Sinnstrukturiertheit sozialer Realität nicht hintergehbar (S. 32). Das bedeutet, dass die Sinnstruktur an jeder Stelle eines Protokolls rekonstruierbar ist und sich an geringen Datenmengen vollständig durchführen lässt (Wernet, 2021, S. 91). Es ist nicht notwendig, das gesamte Datenmaterial auszuwerten. Die Interpretation muss jedoch sinnlogisch erschöpfend sein, das heißt, »dass die gedankenexperimentellen Kontexte typologisch vollständig ausgeleuchtet werden müssen« (Wernet, 2009, S. 33). Das Prinzip der Extensivität bedeutet nicht, alles zu interpretieren, sondern einen Teil ausführlich zu interpretieren, bis mögliche Lesarten typologisch erschöpfend benannt sind (S. 34). So kann die latente Sinnstruktur einer Interaktion durch die extensive Interpretation eines Protokollteils vollständig rekonstruiert werden. Das Prinzip der Sparsamkeit macht darauf aufmerksam, dass beim Bilden von Lesarten nur solche Geschichten herangezogen werden, die sich direkt aus dem Text heraus begründen lassen und »ohne weitere Zusatzannahmen über den Fall von dem zu interpretierenden Text erzwungen« (S. 35) werden. Dem Text dürfen keinesfalls Bedeutungen unterstellt werden, die sich nicht aus ihm heraus begründen lassen und somit seine Regelhaftigkeit verletzen würden (Wernet, 2021, S. 44). Das Prinzip der Sparsamkeit wird nicht nur bei der Bildung von Lesarten gefordert, sondern will vor allem die Fallstrukturhypothesen aus dem Text heraus begründbar machen und an das Textprotokoll binden (Wernet, 2009, S. 37). Auch hier wird eine methodisch kontrollierte Interpretation bezweckt.

63 Die Suche nach bedeutungsvollen Textstellen ist dann erlaubt, wenn dies »im Anschluss an vollständig durchgeführte Sequenzanalysen geschieht und wenn die neu ausgewählte Textstelle ihrerseits nach den Regeln der Sequenzanalyse interpretiert wird« (Wernet, 2009, S. 31, Herv. i. Orig.).

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Datenauswertung

4.4.2 Methodisches Vorgehen der Textinterpretation von Interaktionspraxis Objektive Hermeneutik rekonstruiert Fallstrukturen durch die Anwendung einer Sequenzanalyse. Die Interpretation der Protokolle des sozialen Handelns basiert dabei auf dem Regelwissen der Interpretierenden. Oevermann charakterisiert das methodische Vorgehen als Kunstlehre (Oevermann et al., 1979, S. 391; Soeff­ner, 2015, S. 113), d. h., der forschungspraktische Handlungsablauf ist nicht standardisierbar (Hildenbrand, 2005, S. 14). Im weiteren Verlauf werden die einzelnen Schritte der Fallrekonstruktion von Wernet (2009) beachtet, ergänzt durch Kramer (Kramer, 2016).64 Wernet (2009) gliedert die Textinterpretation in zwei Schritte: Vor einer Sequenzanalyse finden eine Fallbestimmung und eine Interaktionseinbettung statt. Fallbestimmung und Interaktionseinbettung

Eine Fallrekonstruktion beginnt mit der Formulierung einer Fragestellung. Das Forschungsinteresse, das der Auswahl und der Interpretation der Texte zugrunde liegt, soll deutlich expliziert werden (Wernet, 2021, S. 53). Diese Explikation nennt Oevermann Fallbestimmung oder anders ausgedrückt: »Was ist der Fall?« (Wernet, 2009, S. 53). Ziel ist es, »die theoriesystematische Bedeutung des Interpretationsvorhabens zu klären« (S. 54). Ein Protokoll der Wirklichkeit wird erst durch eine konkrete Fragestellung zu einem Fall (Wernet, 2021, S. 53). Überdies erfolgt eine Interaktionseinbettung, bevor mit der Textinterpretation begonnen werden kann. Hier wird geklärt, welcher Protokollstatus dem zu interpretierenden Text zukommt, um »die Besonderheiten der protokollierten Praxisform, die fallunspezifisch die Textstruktur charakterisieren, kenntlich zu machen« (Wernet, 2009, S. 54, Herv. i. Orig.).65 Fallbestimmung und Interaktionseinbettung justieren die darauffolgende Interpretation auf ein spezifisches Erkenntnisinteresse (Wernet, 2021, S. 57). 64 Wie erwähnt diversifiziert sich auch das methodische Vorgehen der Objektiven Hermeneutik. Reichertz (2002) zeigt auf, dass Oevermann und seine Mitarbeiter*innen es teilweise grundlegend veränderten (S. 128 f.), und formuliert fünf Varianten: (1) Die summarische Interpretation unter Heranziehung eines breiten Kontextwissens, (2) die Feinanalyse auf acht verschiedenen Ebenen, (3) die Sequenzanalyse ohne Einbezug des Kontexts, (4) die Interpretation der objektiven Sozialdaten aller Interaktionsteilnehmenden sowie (5) die Veranschaulichung der Interpretationsergebnisse in Form einer Glosse. Diverse Einführungsbände und -beiträge verweisen ebenfalls auf geringfügige Differenzen der methodischen Vorgehensweisen. 65 Forschungspraktisch ist es notwendig, stets weitere Texte außerhalb des untersuchten Handlungstexts zu lesen, um zu erfahren, was in einer bestimmten Lebenswelt zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Mehrheitsgesellschaft als »normal« angesehen wurde bzw. wird (Reichertz, 1997, S. 48). Zudem ist eine Interpretation in Gruppen unerlässlich.

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Anlage der Studie und methodischer Zugang

Dreischritt bzw. Vierschritt der Textinterpretation

Wernet spricht bei der Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik von einem Dreischritt: (1) Geschichten erzählen, (2) Lesarten bilden und (3) diese Lesarten mit dem tatsächlichen Kontext konfrontieren (Wernet, 2009, S. 39). Kramer (2016) fügt nach dem 2. Schritt Wernets noch Schritt (3) Formulierung wohlgeformter Anschlussmöglichkeiten ein. Die dargestellten Schritte beschreiben eine methodentechnische Prozedur, um die Gleichursprünglichkeit dieser Schritte analytisch aufzulösen und die Interpretation einer methodischen Kontrolle zu unterziehen (Wernet, 2009, S. 51). (1) Geschichten erzählen

Im ersten Schritt werden Geschichten zu einer vorliegenden Textsequenz, die interpretiert werden soll, erzählt. Wernet gibt zwei Einschränkungen für Geschichten, in denen der Text vorkommen könnte: »(i) Sie sollen nicht im Rahmen des tatsächlichen Äußerungskontextes liegen, sondern diesen Kontext verlassen. (ii) Es sind nur solche Geschichten erlaubt, in denen der Text uns als angemessene sprachliche Äußerung erscheint« (Wernet, 2009, S. 39). Inwieweit eine Geschichte zulässig ist, wird in der Interpretationsgruppe diskutiert, wobei sich gewissermaßen kollektiv auf das intuitive Regelwissen berufen wird. Sobald keine neuen Geschichten mehr hinzukommen, also keine Geschichte hinzukommt, in der der zu interpretierende Text keine andere Bedeutung als in den anderen Geschichten erhält, kann davon ausgegangen werden, dass das Spek­ trum der zu erzählenden Geschichten erschöpft ist (S. 66). (2) Lesarten bilden

Im zweiten Schritt werden die Lesarten auf Grundlage der erzählten Geschichten gebildet. Es wird gefragt, was die Geschichten strukturell gemeinsam haben. Mitunter wird dadurch, dass bestimmte Geschichten in ihrer Bedeutung keine Differenzen aufweisen, nur eine Lesart gebildet, häufig sind es jedoch zwei bis drei. Sie sagen jedoch noch nichts über den konkret vorliegenden Fall aus, wenngleich aus ihnen die fallunspezifische Textbedeutung resultiert (Wernet, 2021, S. 45). Um eine große Varianz bei den Lesarten bei den Mitgliedern in den Forschungswerkstätten anzuregen, wurde, wenn nötig, ein Arbeitsblatt mit deutungsanregenden Fragen (Brüsemeister, 2008) ausgehändigt. Dies sollte das Bilden von Lesarten erleichtern. (3) Formulierung wohlgeformter Anschlussmöglichkeiten

In diesem von Kramer (2016, S. 185) ergänzend vorgeschlagenen Schritt geht es um gedankenexperimentelle Überlegungen, wie es im Text (also die Inter© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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aktions- oder Handlungsfolge) unter Berücksichtigung der konstruierten Lesarten sinnhaft weitergehen könnte. Dieser Schritt verdeutlicht, dass der Fall besonders ist, weil »eine spezifische Wahl unter den gedankenexperimentell formulierten Möglichkeiten getroffen« (Wernet, 2009, S. 30) wurde. Sobald die Überlegungen zu den Anschlussmöglichkeiten explizit herausgearbeitet und den jeweiligen Lesarten zugeordnet werden können, erfolgt die Einbeziehung der nächsten Sequenz (Kramer, 2016, S. 186). Die aktuell interpretierte Sequenzstelle wird nicht isoliert stehen gelassen, sondern mit dem vorangegangenen, interpretierten Text und dessen bisher interpretatorisch entfalteter Fallstruktur in Beziehung gesetzt (Wernet, 2009, S. 70). Während am Anfang einer Sequenzanalyse das Hervorbringen verschiedener Lesarten und Geschichten im Vordergrund steht, verlagert sich die Analyse sukzessive auf deren Überprüfung und begründeten Ausschluss (Kramer, 2016, S. 187). (4) Lesarten mit Kontext konfrontieren

Im vierten Schritt werden die Lesarten, also die kontextfreie, fallunspezifische Rekonstruktion mit dem realen Äußerungskontext sowie der darin eingelassenen Aussageintention des Texts konfrontiert. Auf diese Weise kann die Besonderheit einer Fallstruktur erschlossen und entsprechend Fallstrukturhypothesen formuliert werden (Wernet, 2021, S. 47). Der Drei- bzw. Vierschritt bildet das Grundmuster einer praktischen Interpretation. Wie bereits erwähnt ist dies jedoch nicht standardisierbar. Im letzten Schritt einer Fallrekonstruktion werden die empirischen Ergebnisse in die theoretischen Ausgangsüberlegungen der Interpretation eingebunden (Wernet, 2009, S. 85).

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5 Empirische Ergebnisse: Fallrekonstruktionen dreier Paarberatungen

In diesem Kapitel wird expliziert, welche latenten Adressat*innenkonstruktionen sich in den Paarberatungen mittels Objektiver Hermeneutik rekon­struieren ließen und auf welche tieferliegenden Strukturen diese verweisen. Diese Strukturen zeigten sich ambivalent, relational und widersprüchlich und können, was im anschließenden Kapitel detaillierter erörtert wird, als Spannungsfelder beschrieben werden. Vorab werden die Fallrekonstruktionen von drei Paarberatungen vorgestellt und in ihren Besonderheiten beschrieben. Die Darstellungen der drei Fallrekonstruktionen folgen einem einheitlichen Aufbau. Nach der einführenden Falleinbettung wird zunächst die Rekonstruktion des Erstgesprächs mit einer vorläufigen Fallstrukturhypothese beschrieben. Kontrastierend dazu erfolgt die Rekonstruktion des letzten Gesprächs der Paarberatung mit einer weiterführenden vorläufigen Fallstrukturhypothese. Abschließend wird mittels Vergleichs der Analysen aus Erst- und Letztgespräch die übergreifende Fallstrukturhypothese der jeweiligen Paarberatung umrissen. Bei den Rekonstruktionen der Erstgespräche erfolgt zuerst eine extensive Auslegung der Eröffnungssequenz, um das Interpretieren mit der Objektiven Hermeneutik zu verdeutlichen und den Erkenntnisprozess nachvollziehbar abzubilden (Przyborski &  Wohlrab-Sahr, 2021, S. 510). Die Anfangssequenzen der Protokolle sind für die Objektive Hermeneutik bedeutsam, da »darin die folgenreiche Strukturierungsfunktion von Praxis-Eröffnungen enthalten ist« (Leber & Oevermann, 1994, S. 389). Auch bei Erstgesprächen verspricht die Analyse des Beginns Erkenntnisse darüber, wie das System seine Struktur bildet (Borcsa, 2016, S. 109). In einem zweiten Schritt werden falsifizierende Textstellen hinzugenommen (Wernet, 2009, S. 61), in denen sich (weitere) Positionierungen des Paars zeigen. Darüber hinaus werden aufgrund der Forschungsfragen Transkriptauszüge dargestellt, in denen strukturelle Anforderungen von Erstgesprächen bearbeitet, d. h. Anliegen, Pro­ bleme und Lösungen von Berater*innen thematisiert werden und dahingehend © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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rekonstruiert66. Anschließend werden die Schließungssequenzen analysiert (Leber & Oevermann, 1994, S. 389). Alle Sequenzen wurden zunächst »unabhängig voneinander, d. h. ohne daß die Ergebnisse einer Sequenzanalyse eines Ausschnittes stützend berücksichtigt worden wären« (Leber & Oevermann, 1994, S. 390), rekonstruiert. Danach wurden die Rekonstruktionen miteinander verbunden, um eine übergeordnete Fallstrukturrekonstruktion zu entwickeln. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit und einer Komplexitätsreduktion wird die Feinanalyse nur in der Eröffnungssequenz des Erstgesprächs abgebildet. Alle anderen Rekonstruktionen, auch die der Letztgespräche, werden komprimiert abgebildet. Der vorab explizierte Drei- bzw. Vierschritt regelt nicht die Darstellung der Interpretation. Die schriftliche Interpretation verzichtet in der Regel auf das ausführliche Geschichtenerzählen und verwendet es nur zur Plausibilisierung der Lesarten (Wernet, 2009, S. 51 f.). Zwischen den rekonstruierten Sequenzen wird der Verlauf der Sitzung komprimiert geschildert.67

5.1 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler 5.1.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens Die in diesem Unterkapitel analysierte systemische Paarberatung setzte sich aus vier Teilnehmenden zusammen: dem zu beratenden Paar, Frau BrandtZiegler und Herr Ziegler, sowie den beiden Berater*innen, Frau Rosten und Herr Wahlenburg. Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler sind verheiratet und haben ein gemeinsames Kind (Max, 4 Jahre alt). Frau Brandt-Ziegler hat zudem ein Kind (Finn, 10 Jahre alt) aus einer vorherigen Beziehung, das überwiegend bei ihr lebt. Alle leben in einem vor Kurzem erbauten Haus in einem Dorf. Frau Brandt-Ziegler hat auf eigenen Wunsch den Kontakt aufgenommen und Bedarf einer Paarberatung gegenüber der Projektleiterin angemeldet. Sie ist zu dieser Zeit Anfang 30 Jahre alt und weist eine abgeschlossene Ausbildung im sozialen Bereich auf. Derzeit ist sie Studentin in einem pädagogischen Studien66 Da die latente Bearbeitung von institutionellen Strukturproblemen rekonstruiert wird, werden somit keine Aussagen über das professionelle Handeln der Berater*innen oder über die generelle Wirksamkeit der Paarberatungen getroffen. 67 Um auch hier die Anonymität der Berater*innen zu wahren, mussten Teile der Rekonstruktionen für die Veröffentlichung gekürzt werden.

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gang. Im vorab zugeschickten Fragebogen (Abschnitt 4.3.1) nennt sie folgende Gründe für ihre Teilnahme an der Paarberatung: – »verbessertes Verstehen von meinem Partner und mir, – die Optimierung von Kommunikation und Interaktion im geschützten Raum.« In der Beratung möchte sie folgende Themen ansprechen: – »Zeitmanagement (Zeitinseln für mich und für uns als Paar), – Bedürfniswahrnehmung und -ausdruck, – ›tragfähige Zukunftsperspektiven‹ entwickeln.« Herr Ziegler ist ein Jahr jünger als Frau Brandt-Ziegler und hat sein Studium abgeschlossen. Er arbeitet als Beamter im höheren Dienst mit Leitungsfunktion im Schichtsystem. Im vorab verschickten Fragebogen nennt er folgende Gründe, aus denen er sich in eine Paarberatung begibt: – »Wunsch meiner Frau, – Der Umstand, dass sowohl uns als Paar/Familie geholfen wird, und wir auch noch einen wissenschaftlichen Beitrag leisten können.« Als Themen, die er innerhalb der Beratung ansprechen möchte, führt er Folgendes im Fragebogen auf: – »Anregungen zur Stressbewältigung innerhalb der Familie, – weniger Impulsivität in Streitgesprächen entwickeln.« Die Beraterin Frau Rosten ist Mitte 40 und arbeitet u. a. freiberuflich als systemische Beraterin und Coachin. Der Berater Herr Wahlenburg arbeitet an einem Klinikum sowohl als Logopäde als auch als systemischer Paar- und Familienberater. Frau Rosten und Herr Wahlenburg kennen sich aus der Ausbildung zur systemischen Paar- und Familientherapie und haben vor längerer Zeit gemeinsam Beratungen durchgeführt. Frau Rosten hat Herrn Wahlenburg angefragt, ob er diese Paarberatung im Rahmen des Forschungsprojekts gemeinsam mit ihr durchführen möchte. Insgesamt fanden sechs Sitzungen innerhalb von sieben Monaten in einem Abstand von jeweils circa einem Monat statt. Im ersten Gespräch wurden zunächst fünf Sitzungen verabredet; aus Forschungsgründen wurde im Beratungsprozess noch eine sechste Sitzung initiiert. Der vierte Termin wurde aus organisatorischen Gründen vom Paar abgesagt. Die Beratungen fanden in einem Raum mit sechs fest installierten Kameras statt. Hinter einer zwischen Beratungsraum und einem angrenzenden Raum © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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eingesetzten Einwegscheibe war eine wissenschaftliche Mitarbeiterin anwesend (bis auf die letzte Sitzung war das meine Person), die das Paar vorab begrüßte und einwies sowie die Fragebögen vor und nach den Sitzungen austeilte. Ihr kam in diesem Setting die Forscherinnenrolle zu, sie war nicht Bestandteil des Reflecting Teams, das am Ende jeder Beratung vor dem zu beratenden Paar durchgeführt wurde (Abschnitt 4.3.1). 5.1.2 Das Erstgespräch Im Folgenden werden die Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion des Erstgesprächs dieser Paarberatung in verdichteter Form dargestellt, wenngleich nicht die Rekonstruktion in ihrer Fülle dargestellt wird. Die Nachvollziehbarkeit soll trotzdem gegeben sein. Nachfolgend wird ausführlicher auf die Rekonstruktionsergebnisse entlang des Gesprächsverlaufs in der Gesprächseröffnung eingegangen. 5.1.2.1 Gesprächseröffnung und gegenseitige Vorstellung

Wie bereits verdeutlicht (Unterkapitel 4.2) wird die Gesprächseröffnung des Erstgesprächs eingehend untersucht. Die Gesprächsaufzeichnung beginnt folgendermaßen: Frau Hille:68 Vielen Dank für die Geduld (.), kann jetzt losgehen. Der Sprechakt der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Forschungsprojekts eröffnet die Sequenz und stellt gleichzeitig den Anfang des Protokolls dar. Folgende Geschichten können generiert werden, in denen die Äußerung »Vielen Dank für die Geduld (.) kann jetzt losgehen« sinnhaft und angemessen erscheint. 1. Es findet ein Online-Meeting mehrerer Personen statt, von denen einige sich noch nicht kennen. Am Anfang bestehen technische Probleme (schlechter Ton, kein Bild). Alle Teilnehmenden warten, bis eine Person die Situation technisch so herstellt, dass das eigentliche Meeting beginnen kann. Die Person sagt: »Vielen Dank für die Geduld (.), kann jetzt losgehen«, bevor das Online-Meeting zum intendierten Zweck nach Behebung der technischen Probleme starten kann.

68 In den Interpretationen innerhalb der Forschungswerkstätten war nicht ersichtlich, welche Person einen Sprechakt äußerte. Diese Information wurde erst bei der Kontexthinzuziehung genannt und ist hier zur besseren Orientierung vorangestellt.

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2. Es findet ein Seminar mit zwei Dozentinnen statt. Die Studierenden und eine Dozentin sitzen im Seminarraum und warten auf die zweite. Diese kommt erst einige Minuten nach Beginn und sagt diesen Satz. 3. Ein Elternpaar hat einen Termin bei einer Beratungsstelle. Die Eltern kommen ein paar Minuten zu spät. Während sie das Büro der Beraterin betreten, sagt der Vater zur Beraterin: »Vielen Dank für die Geduld (.), kann jetzt losgehen.« Bei der Untersuchung der Kontexte auf gemeinsame strukturelle Merkmale lässt sich feststellen, dass der Sprechakt »Vielen Dank für die Geduld (.), kann jetzt losgehen.« unabhängig vom jeweiligen Kontext impliziert, dass etwas nicht routiniert abläuft. Es scheint, dass es vorab eine Ausnahmesituation gab. Mit diesem Sprechakt wird verdeutlicht, dass die Ausnahmesituation beendet ist und der eigentliche Start bzw. das routinierte Handeln beginnen kann. Überdies ist erkennbar, dass es sich um ein institutionalisiertes Setting handelt, in dem die Teilnehmenden sich (teilweise) noch nicht begegnet sind. Es handelt sich um eine neu formatierte Situation. Als Lesarten lassen sich generieren, dass eine Hintergrundtätigkeit innerhalb des institutionalisierten Settings vorab ausgeführt wird. Es handelt sich dabei um eine standardisierte Situation bzw. die Person ist regulär dafür verantwortlich. Die äußernde Person gibt die Struktur vor bzw. ist notwendig für den Ablauf. Somit besitzt diese Person eine Strukturierungsverantwortung für dieses Setting oder für das Bereitstellen des Eigentlichen. Es sind Anfangsprobleme zu erkennen, die damit zusammenhängen, dass jemand anderes noch einen Part hat, es noch einen anderen Rahmen gibt (das Eigentliche). Die anderen involvierten Personen/andere involvierte Person hat man warten lassen. Der Sprechakt markiert, dass etwas zu spät erfolgt ist und das Eigentliche anfangen kann. Der Anfang ist nicht selbstverständlich, er muss erst gesetzt werden. Gleichzeitig wird etwas Neues eröffnet. Der Sprechakt stellt eine Minimalform für eine Entschuldigung dar mit gleichzeitiger Information, dass ein Ablauf starten kann. Das routinierte Handeln kann beginnen, was auf ein institutionalisiertes Setting deutet. Mit der Aussage »Vielen Dank für die Geduld (.), kann jetzt losgehen.« wird somit etwas Neues eröffnet, für das Frau Hille (zunächst) nicht mehr verantwortlich ist. Sie gibt die Strukturierungsverantwortung für das nun neu Beginnende in diesem Moment ab. Sie spricht mit diesem Sprechakt keine bestimmte Person an, sondern richtet die Aussage an alle Anwesenden. Alle Personen im Raum scheinen angesprochen zu sein und besitzen potenziell die Möglichkeit, die Strukturierungsverantwortung zu übernehmen. Es wäre nun © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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zu erwarten, dass diejenige Person spricht, die die Verantwortung für das weitere Gespräch übernimmt. Die Person, die antwortet, fühlt sich für den weiteren Verlauf – so eine Anschlussmöglichkeit – zuständig, sodass das Eigentliche innerhalb dieses institutionalisierten Settings nun beginnen kann. Frau Brandt-Ziegler: [Danke. Frau Rosten: Alles klar]. ((Hille verlässt den Raum.)) Herr Wahlenburg: Gut (.) schön. Frau Rosten: Ja. Frau Brandt-Ziegler antwortet als eine der Ersten darauf und bedankt sich. Sie zeigt durch das »Danke« eine gewisse (Mit-)Verantwortlichkeit für die Rahmung des Gesprächs. Die darauffolgende Aussage von Frau Rosten (»Alles klar«) zeigt ebenfalls eine Verantwortlichkeit für dieses Setting an. Der offizielle Teil, d. h. das Eigentliche, kann nun beginnen. Innerhalb dieser Sprechakte und während Frau Hille den Raum verlässt, wird geklärt, wer die weitere Verantwortung für diese institutionalisierte Situation übernimmt und wie die anderen Anwesenden sich dazu positionieren. Es gibt mehrere Personen, die in die Startsituation involviert sind. Man muss zunächst einen Zustand herstellen, der alle in eine Startposition versetzt. Frau Rosten und Herr Wahlenburg transportieren eine Selbstverständlichkeit und eine Routine mit dem Eigentlichen, was nun startet. Sie positionieren sich hier als zwei gleichberechtigte Gesprächspartner*innen. Für Frau Brandt-Ziegler scheint es etwas Besonderes, dass es jetzt losgehen kann. Gleichzeitig ist eine Mitverantwortlichkeit für die Rahmung erkennbar, sonst hätte sie schweigen und den offiziellen Start abwarten können. Frau Brandt-Ziegler positioniert sich hier als eine wissende Person bzw. als Mitverantwortliche und bringt sich damit in eine handlungsermächtigende Position. Die Teilnehmenden positionieren sich hier als aus freien Stücken sich in diesem institutionalisierten Setting Befindende. Es zeigt sich dabei eine Asymmetrie zwischen Frau BrandtZiegler und Frau Rosten sowie Herrn Wahlenburg. Während Letztere eine Routine vorweisen, ist es für Frau Brandt-Ziegler eine besondere Situation. Im Anschluss müsste, wenn sich diese Lesart verfestigt, eine Aushandlung darüber stattfinden, wie das institutionalisierte Setting nun offiziell beginnt und gemeinsam weiter gestaltet wird. Zudem verweist das »Danke« auf die Besonderheit dieser Forschungssituation, wenn der Kontext kurz hinzugezogen wird. Durch die Teilnahme an der Forschung kommen die Partner*innen in die Position, nicht nur Bittsteller*innen zu sein bzw. einen Rat zu erfragen, sondern auch der Forschung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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etwas zurückzugeben. Die eigene Person und die Besonderheit des Problems werden damit hervorgehoben und gewinnen an Gewicht. Damit verbunden ist das Rekurrieren auf eine Freiwilligkeit, an dieser Form des Settings (Paarberatung innerhalb einer Forschungsprojekts) teilzunehmen. Hier treten die unterschiedlichen Rahmen, Forschung und Beratung, deutlich in ihrer Gleichzeitigkeit hervor. Das Besondere daran ist, dass dennoch Rückschlüsse über die Konstruktion von Adressat*innen in diesem Paarberatungssetting vorgenommen werden können.  err Wahlenburg: Dann denke ich, stellen wir uns alle mal ganz kurz vor. H Frau Rosten: Genau. Herr Wahlenburg: Jetzt mach’ ich mal als Ältester hier ((Frau Rosten lacht)) malFrau Rosten: Mach mal. Herr Wahlenburg: -den Start. Herr Wahlenburg leitet eine Vorstellungsrunde ein, Frau Rosten bestätigt dieses Vorgehen. Die Struktur des Anfangens sieht nun vor, dass alle Anwesenden sich vorstellen. Herr Wahlenburg setzt mit seinem »Dann denke ich« fort, dass gemeinsam verhandelt wird, wie es nun weitergeht. Durch Transparentmachen der nächsten Schritte einigen sich Herr Wahlenburg und Frau Rosten darauf, wie es in dem institutionalisierten Setting weitergehen soll, nämlich mit einer Vorstellungsrunde, bei der sich alle Anwesenden gleichermaßen vorstellen. Sie stellen sich als Dyade dar, die sich abgestimmt hat und den gleichen Ablauf verfolgt. Von den anderen Anwesenden wird nicht interveniert, sodass diese beiden Personen die Verantwortung für die Anfangsrahmung und die Struktur dieses Settings einvernehmlich übernehmen. Seinem Vorschlag »stellen wir uns alle mal ganz kurz vor« kann jedoch von allen Teilnehmenden widersprochen werden. Er stellt es zur Disposition. Die Struktur des Gesprächs wird hier zur Verhandlung ausgeschrieben. Mit seiner Aufforderung, sich vorzustellen, bezieht er alle anwesenden Personen, auch sich selbst, ein. Allen Anwesenden wird somit eine Mitverantwortlichkeit für dieses Setting zugesprochen, auch wenn die Strukturierungsverantwortung über das Setting bei Herrn Wahlenburg und Frau Rosten liegt, da sie vorschlagen bzw. bestätigen, dass nun eine Vorstellungsrunde stattfindet. Herr Wahlenburg übernimmt die Einführung in die Vorstellungsrunde und beginnt. Jedoch wird dies von ihm infrage gestellt, indem er die Möglichkeit eröffnet, ihm zu widersprechen. Auch zeigt sich hier, dass Herr Wahlenburg sich auf keine starre Struktur des institutionalisierten Settings beruft. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Wahlenburg begründet, weshalb er anfängt, obwohl er die Vorstellungsrunde selbst vorgeschlagen hat und auch in der Position zu sein scheint, sich als Erster vorstellen zu dürfen. Dabei handelt es sich um kein fachliches, sondern um ein soziales Argument. Beispielsweise muss sich bei Vorstandssitzungen der*die Chef *in nicht legitimieren anzufangen. Herr Wahlenburg legitimiert sich aus seiner alltäglichen sozialen Rolle heraus, d. h., er benutzt das Argument, »Ältester« zu sein. Im Gegensatz dazu hätte er, da er in dieser Position ist, auch seine berufliche Rolle bzw. kein Argument anführen können. Herr Wah­ len­burg stellt somit nicht seine Rolle des Strukturverantwortlichen innerhalb dieses Settings in den Fokus. Durch die Begründung mit einem sozialen Argument und das Transparentmachen der Ablaufstruktur werden die anderen Teilnehmenden in dem Sinne angesprochen, dass neben dem Inhalt des Gesprächs auch die Struktur des institutionellen Settings zur Verhandlung steht. Frau Rosten und Herr Wahlenburg stellen dies als übliches Verfahren dar. Die Arbeit an dieser Rahmung erfolgt über eine gegenseitige positive Bezugnahme, die nicht inhaltlich ist, sondern darin besteht, dass man sich bestätigt, die Möglichkeit des Widerspruchs eröffnet und sich nicht auf die Rolle der Strukturverantwortlichen beruft. Die vorhandene Asymmetrie wird hier am Anfang geringgehalten, indem allen Beteiligten in diesem Setting die Möglichkeit des Widerspruchs zugesprochen wird. Die Struktur des Gesprächs wird neben dem Inhalt zur Verhandlung ausgeschrieben. Es kann widersprochen werden, es wird aber nicht gefragt, wer anfangen möchte. Dadurch wird die Möglichkeit des Eingreifens wieder eingegrenzt bzw. mit einer höheren Hürde versehen. Eine Mitverantwortlichkeit wird allen Anwesenden zugestanden. Herr Wahlenburg: […] Ja, ich bin Ralf Wahlenburg ähm ähm ((deutet auf Frau Rosten)) wir haben zusammen die die systemische Familien- und Paartherapie-Ausbildung, kennen uns seit 2000 bis 2003 glaube ich gemacht (.) und haben uns da kennengelernt und haben auch schon in der Zeit zusammengearbeitet (.) und ähm als ich von Frau Rosten die Anfrage kriegte, ob wir das< nochmal wieder versuchen wollen, und ja, das frischen wir nochmal auf. Ähm ich bin seit 1985 Logopäde, hab aber auch noch andere Berufsausbildungen, auch Künstlerisches, hab zuerst im Erwachsenenbereich gearbeitet, dann habe ich als Lehrkraft gearbeitet fünf Jahre und jetzt arbeite ich schon seit 1999 in einem Krankenhaus und äh eigentlich auf allen Stationen, aber hauptsächlich jetzt auf der Neurologie und ähm mit Kindern auf der Inneren und ich habe auch ein Leben lang Kinder- und Jugendlichenpsychiatriepraxis gemacht, war in Gruppen und Familien und teilweise auch Paarberatung, wenn das Kind sozusagen aus der Situation dann draußen ist und © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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es dann besser ist, das ganze (   ). ((Frau Brandt-Ziegler: Mhm)) Das so (.) als kleines Fenster, das ist, genügt erst mal so?69 Herr Ziegler: Wo sind Sie da, in , oder? Herr Wahlenburg: Ja, ich arbeite da im Klinikum und ähm, ja und die Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie ist auch da. Herr Wahlenburg setzt die Vorstellungsrunde mit seiner eigenen Vorstellung fort. Er verortet sich dabei als Teil einer Dyade (Expert*innenteam) in diesem Setting. Er situiert sich in einem gemeinsamen »Wir«. Die Verbindung zwischen Herrn Wahlenburg und Frau Rosten wird stark gemacht, wodurch die Rolle, Teil einer Dyade zu sein, bestärkt wird. Das Gemeinsame spielt dabei eine bedeutende Rolle. Es wird eine verlässliche Beziehung dargestellt, weniger zwei einzelne Expert*innen. Die Tragfähigkeit der funktionierenden Beziehung wird betont. Durch die Darstellung einer gut funktionierenden Dyade wird der Fokus in diesem institutionalisierten Setting, hier Beratung, betont: Es geht um Dyaden (das Gegenüber und das Expert*innenteam), weniger um Einzelpersonen. In dieser Beratung sollen sich nicht zwei Expert*innen und zwei Klient*innen gegenübersitzen, sondern zwei Dyaden. Außerdem wird eine Dyade als funktionierend dargestellt, wenn Gemeinsamkeiten herausgestellt werden. Den Anwesenden wird die »Beziehungsgeschichte« von dem Expert*innenteam transparent gemacht. Herr Wahlenburg erwähnt als Erstes eine Ausbildung, die er zusammen mit Frau Rosten absolviert hat, und dient als Begründungsfigur, weshalb er in diesem Setting sitzt. Es handelt sich um eine Paartherapie- bzw. ein Paarberatungssetting, da sich darauf zuerst bezogen wird. Die institutionelle Zugehörigkeit wird über die gemeinsame Ausbildung mit Frau Rosten und seine berufliche Expertise verdeutlicht. Es erfolgt eine Verankerung in den Kontext der Paarberatung. Diese Form der Positionierung scheint an dieser Stelle offenbar erklärungsbedürftig oder legitimationspflichtig. Auch die anderen Teilnehmenden des Settings werden hier somit angesprochen, bei der Darstellung der Struktur der Vorstellung zu folgen und zu begründen, weshalb sie, im Sinne eines Wir, hier sitzen. Die Struktur der Paarberatung wird hier nicht als Frage formuliert, sondern durch zur Diskussion gestelltes transparentes Handeln und durch Vorbildfunktion. In der Anwendung wird gezeigt, wie die Paarberatung ablaufen soll. 69 Innerhalb des Sprechakts von Herrn Wahlenburg wurden einige persönliche Daten entfremdet, um die Anonymität zu wahren. Die Rekonstruktionen des Sprechakts in den Interpretationsgruppen erfolgten mit den Originalangaben, um die latenten Sinnstrukturen nicht zu verfälschen.

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Er nennt nicht zuerst seine derzeitige berufliche Tätigkeit. Die genannte Ausbildung stellt keine Grundausbildung, sondern eine Weiterqualifizierung dar. Die Aufzählung der diversen Berufsausbildungen verdeutlicht sein Expertentum. Auffällig ist das breite Spektrum seiner beruflichen Qualifikationen, die er aufzählt. Auch seine künstlerische Ausbildung wird erwähnt. Herr Wahlenburg nimmt den Anspruch der ganzheitlichen Berufsvorstellung wörtlich (Vorstellung einer ganzheitlichen Berufsrolle): Namensnennung, Erwähnung der notwendigen Qualifikation und Darstellung, wie es zur Zusammenarbeit mit Frau Rosten kam, sowie des berufsbiografischen Lebenslaufs. Privates (Kinder, Beziehungsstatus) wird nicht erwähnt. Das heißt, die Legitimation für seine Position in diesem Setting wird über die Vielzahl seiner Ausbildungen hergestellt. Er stellt sich als Experte in diesem Setting dar. Die Kompetenzdarstellung wird durch die Hervorhebung der Anfrage, die an ihn herangetragen wurde, unterstützt (»ähm als ich von Frau Rosten die Anfrage kriegte«). Herr Wahlenburg macht die Möglichkeit des Scheiterns auf (»nochmal wieder versuchen wollen«). Die Interaktion bekommt einen Versuchsstatus. Nicht nur die Beziehung zwischen Frau Rosten und Herrn Wahlenburg, sondern die Routine des Miteinanderarbeitens wird noch einmal versucht und somit aufgefrischt. Der Verweis auf eine Mitverantwortung aller Anwesenden zeigt sich hier als Strukturelement und wird aufrechterhalten. Das Paar wird somit als Mitwirkende bzw. Mitverantwortliche der Paarberatung angesprochen, was in Verbindung zur Reziprozität innerhalb dieses Settings steht. Herr Wahlenburg sichert sich direkt an das Paar gerichtet ab, dass seine bisherigen Ausführungen zu seiner Person ausführlich genug waren. Er macht den Raum für Nachfragen auf. Es gibt keine festen bzw. starren Routinen bei der Vorstellungsrunde. Herr Wahlenburg geht individuell auf die Wünsche des Paars ein. Er spricht das Paar direkt mit einer Nachfrage an. Die Gestaltung bzw. Mitwirkung innerhalb des Settings wird angenommen. Frau Brandt-Ziegler nimmt das von Herrn Wahlenburg unterbreitete Angebot eines mitverantwortlichen Settings an (»Mhm«). Herr Ziegler antwortet direkt mit einer Frage darauf und akzeptiert das Adressierungsangebot von Herrn Wahlenburg. In diesem Setting kommt es zur Rahmungsherstellung, dass alle Anwesenden ein Mitspracherecht bzw. eine Mitverantwortung in unterschiedlichem Ausmaß haben, auch im Hinblick darauf, was die Berater*innen über ihre Personen erzählen. Es lässt sich festhalten, dass das Paar in der bisherigen Interaktion als Paar angesprochen und nicht nur auf seine derzeitigen Probleme reduziert wird, indem auch andere Rollen (berufliche Seite, das Gemeinsame des Paars) erwähnt werden. Zusammenfassend und den Kontext hinzuziehend, dass es sich um ein Erstgespräch einer Paarberatung handelt, zeigt sich, dass das zu © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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beratende Paar in diesem Setting animiert wird, den Inhalt und die Struktur des Gesprächs zu verhandeln. Sie werden als Mitgestaltende hergestellt, die das Gelingen der Paarberatung mitverantworten. Besonders Frau Brandt-Ziegler, aber auch Herr Ziegler, orientiert sich an dieser Form der Adressierung. Die Struktur des Erstgesprächs wird neben dem Inhalt zur Verhandlung ausgeschrieben. Eine Mitverantwortlichkeit wird allen Anwesenden zugestanden, jedoch mit unterschiedlichen Möglichkeiten. Damit zusammenhängend wird eine Freiwilligkeit als Orientierung offeriert. Die weiteren Anwesenden werden nun dahingehend konstruiert, sich als Dyade mit Gemeinsamkeiten und funktionierenden Anteilen darzustellen. Aspekte, die die einzelnen Personen darstellen, sind im Beruflichen verortet (Ausbildung, Arbeitsplatz). Weniger Einzelpersonen, sondern Systemzusammenhänge, hier Dyaden, werden fokussiert. Die Einzelperson kommt in der beruflichen Rolle zum Tragen. Bevor die nächste rekonstruierte Szene dargestellt wird, erfolgt eine kurze Einbettung dessen, was im weiteren Verlauf dieser Sitzung passiert. Nach Herrn Wahlenburg stellt sich Frau Rosten vor. Frau Rosten präsentiert sich im Rahmen ihrer Vorstellung zuerst in ihrer privaten und dann in ihrer beruflichen Rolle. Im Unterschied zu Herrn Wahlenburg werden auch private Dinge genannt. Sie zeigt auf, dass sie von der Ausbildung und ihrem familiären Background her alle expliziten und impliziten Kriterien erfüllt, um systemische Paarberatung durchzuführen. Nach der Vorstellung der Berater*innen stellt sich nach einem kurzen Aushandlungsprozess zunächst Frau Brandt-Ziegler vor. Sie zählt zuerst private Stationen auf (»bin ähm jetzt 31 Jahre alt, wir sind verheiratet seit ((lächelt)) 2009, ich vergess’ das immer. Wir haben zusammen (---) also eigentlich haben wir zusammen zwei Kinder« [N001_01, Z. 50–52]) und geht dann auf ihren berufsbiografischen Lebenslauf im Zusammenhang mit den Herausforderungen als Mutter zweier Kinder ein. Sie stellt sich als Einzelperson dar. Sie beschreibt sich allumfassend und ausführlich – und dies nicht nur in ihren Problemanteilen. Danach erfolgt die Vorstellung von Herrn Ziegler. Er fängt mit seinem Alter an und springt dann zu seiner Kindheit und über die Scheidung seiner Eltern (»Ähm (.) wo ich elf war, haben sich meine Eltern scheiden lassen, ist die Familie quasi zu Bruch gegangen« [N001_01, Z. 86–87]). Darauf aufbauend erzählt er von seiner Berufsbiografie. Beide präsentieren sich nicht nur bezogen auf ihre Probleme, die sie zur Beratung geführt haben, sondern stellen ebenfalls ihre Kindheit und Berufsbiografie dar. Herr Ziegler präsentiert sich auch in den Anteilen, die nicht nur die Paarberatung betreffen. Daran schließt die nächste rekonstruierte Sequenz an, die das Paar als Dyade ver© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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deutlicht und die erste Problempräsentation, ein elementares Strukturelement von Erstgesprächen, beinhaltet. An dieser Stelle wird vertiefend rekonstruiert, inwieweit sich die Freiwilligkeit, die Fokussierung auf funktionierende Dyaden und die Mitverantwortung des Settings strukturieren. Dabei wird eine Sequenz rekonstruiert, die eine Interaktion des Paars beinhaltet. 5.1.2.2 Etablierung des Settings und erste Problempräsentation des Paars

Im Folgenden wird auf die vorherigen Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion der Eingangssequenz dieser Paarberatung aufbauend eine Sequenz rekonstruiert, in der sich das zu beratende Paar in einer Interaktion befindet. Die vorläufigen Lesarten und Andeutungen der Fallstrukturhypothese werden nun falsifiziert.  err Ziegler: […] So familiär hast du ja schon erläutert, (2) was gibt’s dazu H [noch zu sagen. Frau Brandt-Ziegler: Nur die Stelle,] wo du eingestiegen bist, habe ich ausgespart, die habe ich dir gelassen ((lächelt)). Es entspinnt sich ein Dialog zwischen den Partner*innen. Herr Ziegler vergewissert sich, ob er bei seiner vorab getätigten Erzählung nichts vergessen hat, und leitet ein, das Gemeinsame des Paars zu erläutern, wie von den Berater*innen offeriert. Frau Brandt-Ziegler greift in das Erzählte von Herrn Ziegler ein und antwortet auf seine Frage. Sie übernimmt die Rahmung über die Vorstellung der emotional orientierten Geschichte, wie sie zum Paar geworden sind. Sie agiert hier als Verantwortliche für die Struktur und den Inhalt des Gesprächs gegenüber ihrem Mann. Sie positioniert ihn als Mit-Erzähler der gemeinsamen Geschichte. Sie weist ihrem Mann eine subalterne Position zu. Die Möglichkeit wurde vorab eröffnet, dass jede Person in dem Setting als Mitgestaltende*r des Inhalts aber auch der Struktur agieren kann und somit auch eine Mitverantwortung trägt. Hier wird dies von Frau Brandt-Ziegler wieder eingelöst, die das Gespräch zwischen sich und ihrem Mann ordnet. Dies wird von den Berater*innen zugelassen. Auch präsentiert sich das Paar als aktive Mitherstellende des Fallwissens, indem es dezidierte Informationen preisgibt. Die Formulierung des Gesprächsanlasses (Probleme in der Paarbeziehung) ist bis zu dieser Stelle nicht erkennbar. Da es sich bei dieser institutionellen Kommunikation um ein Gespräch im Kontext der Paarberatung handelt, wäre es naheliegend und zu erwarten gewesen, dass man sich entsprechend problembehaftet auf der Paarebene präsentiert. Innerhalb dieser Gesprächseröffnung steht aber die Darstellung der funktionierenden Dyade im Fokus, die weiter expliziert wird. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Ziegler: Ja, Zweitausend-undFrau Brandt-Ziegler: [Sechs. Herr Ziegler: Sechs] war’s, ne? ((Frau Rosten lacht)) Ja, ja. Am Geburtstag des Kleinen, also des Großen ja eigentlich ((Frau Rosten: Hm)), äh sind wir dann zusammengekommen (1) und haben uns dann 2009 entschieden, dass wir an Nachwuchs arbeiten wollen (.) und war vor allem von Miriam70, aber das fand’ ich auch wichtig, war’s wichtig, ähm dass wir dann sozusagen in Sack und Tüten sind, dass wir uns auch dazu entschließen, zu heiraten und (---) das hast du ja nicht erwähnt, weil du ja auch ’nen leiblichen Vater hast und ’nen Stiefvater und die Situation nicht immer leicht war und deswegen wurde das im, es stimmt irgendwo, alles im Rahmen ((Frau Rosten: Hm)) sein. […] Nun wird die Geschichte, wie sie zu einem Paar geworden sind, erläutert. Dieser Sprechakt richtet sich wieder an die Berater*innen. Dabei stehen nicht mehr die einzelnen Personen des Paars im Fokus der Darstellung, sondern das Paar als Dyade und darüber hinaus eingebettet in eine Familie. Die Vorstellung der gemeinsamen Paargeschichte erfolgt anhand von Zahlen und Ereignissen (Zusammenkommen, Kind, Hochzeit) im Zusammenhang mit schwierigen Bedingungen. Die vorab geplanten Schritte deuten auf ein institutionalisiertes Ablaufmuster hin. Die gemeinsame Familiengeschichte weist Projektcharakter auf. Hier steht nicht die Sozialbeziehung im Vordergrund, sondern das Abarbeiten des Projekts »Familie«. Das heißt, aus dem Paar werden verheiratete Eltern, die »an Nachwuchs« arbeiten. Wenn Familiengeschichte und Familiengründung als Projekt betrachtet werden, dann wird sich an normativ geprägten Vorstellungen abgearbeitet. Es gibt ein Ideal, das durch das Arbeiten erreicht werden soll. Durch Zielsetzungen (Heirat, Kind etc.) werden Meilensteine erreicht bzw. darauf hingearbeitet, um das normative Ideal der Familie zu erreichen. Frau Brandt-Ziegler trägt, so in dem Sprechakt rekonstruiert, die Verantwortung für die Familie und nimmt die Rolle einer Projektleiterin ein. Das Projekt Familie ist ursprünglich Frau Brandt-Zieglers Projekt, zu dem Herr Ziegler dazugekommen ist. Es ist hier bedeutsam, dass die Paargeschichte nicht nur die Geschichte über die Dyade, sondern darüber hinaus die Familiengeschichte beinhaltet. Dabei werden die Herausforderungen, die das Paar zu bewerkstelligen hat, expliziert. Die erste Problemexplikation, und somit Legitimation, in dem passenden Setting zu sein, erfolgt über die Darstellung der Paar- und Familienwerdungsgeschichte. Das Paar stellt sich auch in seinen funktionierenden und normativ »normalen« Anteilen vor und damit umfassender als nur im Hinblick auf das 70 Anonymisierter Vorname von Frau Brandt-Ziegler.

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eigentliche Problem. Zur Legitimation des Aufsuchens dieser Paarberatung wird verdeutlicht, dass beide Probleme wahrnehmen. Herr Ziegler positioniert sich und seine Frau als problembehaftet. Ohne Darstellung der Hilfebedürftigkeit wird von Problemen mit den äußeren Strukturen berichtet. Überdies nimmt Frau Brandt-Ziegler auch hier eine Strukturierungsrolle gegenüber ihrem Mann ein und positioniert sich als Gestaltende in diesem Setting. Mitgestaltung und Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden zeigen das selbstermächtigende und autonome Handeln einer Frau. Die Darstellung des Paars erfolgt in einer funktionierenden Dyade, die normativ die Meilensteine erreicht hat (im Projektcharakter). In Ansätzen ist hier schon die erste Problemexplikation zu erkennen: Nicht das Erreichen der normativen Meilensteine wird als belastend dargestellt, sondern die äußere Umwelt, die Einfluss auf die Beziehung nimmt. Mitgestaltung und Freiwilligkeit, die leitend in diesem Setting sind, ebnen den Weg dafür, dass das Paar von sich aus Probleme benennt. Um diese Strukturdynamik klarer zu rekonstruieren, wird die nächste rekonstruierte Sequenz herangezogen. Bis dahin passiert in der Paarberatung Folgendes: Aufbauend auf die Kennlernsituation berichten Herr Ziegler und Frau BrandtZiegler, wie sie geheiratet haben. Dabei begründen sie, weshalb sie dies »still und heimlich« (N001_01, Z. 107–108) taten. Die familiäre Situation mit den Eltern schien schwierig, sie sparten auf ein Haus hin und waren somit finanziell eingeschränkt. Anschließend berichtet Herr Ziegler nach Aufforderung von Frau Brandt-Ziegler über die Wohnsituation und den damit zusammenhängenden finanziellen Druck. Die ersten Andeutungen von Schwierigkeiten werden genannt, mit denen das Paar konfrontiert ist. Sie stellen sich dabei als Dyade dar. Sie bleiben in der detaillierten Darstellung des Paars und des Kontexts, in dem es verhaftet ist. Die Ebene des Paars wird geschildert und dabei eine Dramaturgie aufgebaut, bis es zur Formulierung des Anliegens kommt. Um die jeweiligen Fallstrukturen zu falsifizieren und zu spezifizieren, wird eine Sequenz rekonstruiert, die eine Interaktion mit Frau Rosten, der Beraterin, umfasst. Dabei wird deutlich, wie die Berater*innen mit den von selbst genannten Problemen umgehen. 5.1.2.3 Formulierung des Anliegens und Problemexplikation als Aushandlungsprozess

Nach der allgemeinen Vorstellung der Teilnehmenden der Paarberatung folgt nun die Sequenz ab der zehnten Minute, in der ein erstes Anliegen formuliert wird. Hier steht eine Interaktion mit der Beraterin im Fokus und es wird zu © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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zeigen sein, inwieweit Freiwilligkeit und Mitwirkungsverantwortung aufrechterhalten werden können und wie sich der Fokus auf funktionierende Dyaden auch in der Formulierung des Anliegens durchsetzt.  rau Brandt-Ziegler: Es ist immer so viel zu tun und keiner weiß, wie er’s F jetzt schaffen soll. ((Herr Wahlenburg: Ja)) Und dann sind wir eben auch beide, kommen wir beide nicht aus Handwerksfamilien, auch wenn ((Frau Rosten: Ja)) unsere Väter schon viel selber machen und so, aber als Kind ((Frau Rosten: Ja)) bekommt man davon nicht so viel mit und Stefan lebte bei seiner Mutter, ab dem er elf war und ich war nie Kind ((lacht)) und war auch relativ schnell an anderen Dingen als an Familie und wie baut man dies und das interessiert (.) und da haben wir einfach irgendwie ganz schön Probleme, wenn wir auf einmal selber irgendwas machen wollen. Frau Brandt-Ziegler zeigt auf, welche aktuellen Probleme sie im Allgemeinen (»etwas«) hat (verallgemeinernd). Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler leben in einem regelbasierten Kollektiv (hier die Eltern von beiden als Großfamilie)71 und sie bekommen Probleme, wenn sie plötzlich selbst etwas tun und sich somit spontan verhalten. Das »Wir« stellt eine kritische Masse dar, d. h., wenn nur eine Person die Regeln infrage stellt, wird es nicht wahrgenommen. Aber wenn es von beiden getan wird, kann es zum Problem werden. Sie als Paar haben diese Probleme mit den Eltern. Die Verantwortung dafür, dass sie nicht handwerklich arbeiten können, wird nicht nur in ihnen selbst gesehen, sondern im Kollektiv, d. h. in den jeweiligen Eltern des ratsuchenden Paars. Dabei spielt es keine Rolle, wie und wann sie selbst handwerkeln wollen. Es stellt einen Akt des Widerstands gegenüber den Eltern dar, wenn sie als Handwerker*innen handeln, obwohl sie anscheinend nicht handwerkeln können. Frau Brandt-Ziegler versteht sich hier jedoch als Teil der Großfamilie (Kollektiv) und wird durch die aufgestellten Regeln durch das Leben geleitet. Es gibt also etwas, das Frau Brandt-Ziegler selbst tun will, und sie muss sich dafür von den Eltern lösen. Das Regelsystem dieser Großfamilie sieht keine individuellen Entscheidungen vor. Der Umstand, dass Frau Brandt-Ziegler auch eine eigene Wahl haben will, wird als störend für die Eltern und die Stiefmutter dargestellt. Dabei reiche es schon aus, nur an eine Abweichung zu denken, um aufzufallen. Das heißt, es gibt etwas, das Frau Brandt-Ziegler selbst machen will (hier handwerkeln), und 71 Frau Brandt-Ziegler wuchs in einer Patchworkfamilie mit einer Schwester auf. Herr Ziegler wuchs nach der Trennung bei der Mutter auf und hat ebenfalls eine Schwester. Die jeweiligen Eltern wohnen in Nachbardörfern. In den Interpretationswerkstätten wurden diese Informationen erst im Rahmen der Kontexthinzuziehung genannt.

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dafür muss sie sich von diesem Kollektiv lösen. Ihren Mann nimmt sie dabei mit in Haftung (»wir«) und verdeutlicht damit die Paardyade. Die Unterstützung der Eltern kann nicht in Betracht gezogen werden, was für Frau Brandt-Ziegler auch ein Problem darstellt. Die erfolgte Problemexplikation bezieht sich nicht auf Probleme innerhalb der Paardyade, sondern auf Probleme des Paars mit dem Kollektiv (Eltern und Schwiegermutter). Und das ist das Bedeutende hier: Nicht ein Problem innerhalb des Paars, sondern Probleme des Paars mit den Herkunftsfamilien werden expliziert. Das Problemverursachende liegt, so verhärtet sich eine Lesart, außerhalb der Beziehung. Frau Brandt-Ziegler stellt sich und ihren Mann als Paar dar, jedoch liegen die Probleme nicht innerhalb des Paars, sondern außerhalb. Sie zeigt sich einerseits hilfebedürftig und geht dem impliziten Anspruch nach zu explizieren, weshalb sie und ihr Mann eine Paarberatung aufsuchen. Gleichzeitig ist die Hilfebedürftigkeit nicht innerhalb des Paars verortet. Die darin enthaltene Formulierung des Anliegens konzentriert sich auf den Umgang mit den Schwierigkeiten mit den (Schwieger-)Eltern als Paar. Das heißt, das normativ-funktionierende Paar wird in der Darstellung aufrechterhalten. Frau Rosten: Okay. (.) Ja so uns interessiert natürlich zu Anfang einer Beratung, was führt Sie her, was war der Wunsch, gerade jetzt äh Paarberatung in Anspruch zu nehmen? Gibt’s ’n aktuellen Anlass?72 Frau Rosten setzt eine neue Markierung, die den Beginn eines Gesprächs strukturieren könnte, obwohl dieses Gespräch bereits seit zehn Minuten stattfindet. Frau Rosten lässt eine innere Strukturvorstellung darüber erkennen, wie der Beginn einer Paarberatung durchgeführt werden sollte. Sie verweist dabei auf die standardisierte Vorstrukturierung und verdeutlicht somit die Asymmetrie in ihrer Beziehung zu dem Paar. Es wird sich auf Aufbau und Einhaltung von Strukturen am Anfang konzentriert. Sie beruft sich auf eine Vorstrukturierung als eine Art innerer Leitfaden. Frau Rosten legt auf diese Art fest, dass die Problemexplikation erst wahrgenommen wird, wenn die dazugehörige Frage gestellt ist. Sie verweist damit auf standardisierte Prozesse und verdeutlicht die Asymmetrie zu dem Paar. Zudem spricht Frau Rosten in einer Wir-Form und nimmt Herrn Wahlenburg mit in Haftung. Sie positioniert sich als abgestimmte Dyade mit Prozesskenntnis und Gestaltungsmacht. Das Fokussieren der Wir-Gesellschaft 72 Diese Textsequenz wurde unter dem Schwerpunkt von Vertrauen in einer Publikation veröffentlicht (Hille, Piel, Taube & Tiefel, 2021). Interpretationsergebnisse und Schlussfolgerungen beziehen sich auf die relationale Herstellung von Vertrauen (doing trust).

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bei beiden Dyaden in diesem Gespräch – das Berater*innen-Paar spricht das zu beratende Paar in Wir-Form an – verdeutlicht eine Ambivalenz. Das »Wir« des Paars wird von Frau Brandt-Ziegler definiert, die ihren Mann integriert, während sie aber die Strukturgebende in der Beziehung ist. Frau Rosten fragt beide jedoch abermals als Paar, weshalb sie zur Paarberatung gekommen sind. Sie fordert nun von beiden aus der Perspektive des Paars eine Begründung, weshalb sie zur Paarberatung gekommen sind. Die Entscheidung, wer zuerst antwortet, überlässt sie wiederum dem Paar und reproduziert Freiwilligkeit und Mitgestaltung respektive Mitverantwortung als Bedingung für eine Paarberatung. Das Interesse an der Beratung muss von dem zu beratenden Paar zu Beginn expliziert werden, wobei die situative Komponente stark betont und das Paar nach einer Begründung für »gerade jetzt« gefragt wird. Die Bedürftigkeit soll verdeutlicht werden, um Paarberatung in Anspruch nehmen zu dürfen. Hier steht nicht mehr die funktionierende Dyade in ihrer Ganzheitlichkeit im Fokus. Auf das vorher implizit benannte Problem von Frau Brandt-Ziegler mit dem äußeren Umfeld wird nicht eingegangen. Nun soll ein spezifisches Pro­ blem genannt werden. Es wird somit ein latentes Problem innerhalb des Paars erwartet, das es zur Paarberatung geführt hat. Eine gewisse Reflexivität wird bei Herrn Ziegler und Frau Brandt-Ziegler vorausgesetzt, um ein innerhalb der Paarbeziehung bestehendes Anliegen bzw. Problem zu explizieren. Struktur und Inhalt der Paarberatung legt die Beraterin fest. Mitwirkung und Mitgestaltung, bei der Vorstellungsrunde noch möglich, scheinen bezüglich der Klärung des Anliegens eingeschränkter zu sein.  rau Brandt-Ziegler: Also ich hab’ den Wunsch geäußert ((Frau Rosten F Mhm.)) Willst du trotzdem was dazu sagen? Herr Ziegler: Ich kann ja dann anschließen, weil bei mir gibt’s nichts zu sagen von mir. Frau Brandt-Ziegler: Ja, also ich hab’ den Wunsch geäußert, das ist ähm (1) die Chance, dass wir, ich sag’ mal, (--) also ich datiere es immer auch mit dem Hauskauf oder kurz danach ähm, das war nochmal ’ne Zusatzbelastung auf unsere Beziehung drauf, wo’s wirklich auch angefangen hat, stressig zu werden, auch zwischen uns turbulent zu werden, dass wir nicht mehr wirklich, wie bis dahin eigentlich, im Gleichschritt in die eine Richtung gelaufen sind, in die gleiche Richtung also ich möcht’ nicht sagen, dass wir (.) mittlerweile andere Ziele verfolgen, das ist nicht so, aber unsere (.) Marsch(.)art hat sich schon unterschieden voneinander, ne? und dann dann (1) naja durch den Schichtdienst und durch die Kinder und durch alles, was so dranhängt, ist auch viel liegen geblieben einfach. […] © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Brandt-Ziegler spricht nun nur für sich und nicht mehr für beide (IchKonstruktion anstatt Wir-Konstruktion). Sie spricht als Einzelperson, die auf Wunschebene versucht, eine Antwort zu geben. Nicht ein Problem führt sie zur Paarberatung, sondern Frau Brandt-Zieglers Wunsch ist dafür verantwortlich, dass sie als Paar jetzt bei der Paarberatung sind. Sie positioniert sich als selbstreflexive und wissende Person, die die Problematik verstanden hat. Damit macht sie ihren Mann zum eigentlichen Adressaten der Paarberatung. Sie fügt sich der Aufforderung von Frau Rosten und geht nicht noch einmal auf das Pro­ blem, das sie vor dem Redebeitrag von Frau Rosten benannt hatte, ein. Der erste Versuch der Problemdarstellung, d. h. die Verstrickungen mit den (Schwieger-) Eltern, wird von Frau Brandt-Ziegler abgebrochen. Das nun dargestellte Pro­ blem befindet sich auf der Paarebene bzw. ist innerhalb der Paarbeziehung verortet. Das hat jedoch zur Folge, dass keine Vorstellung als Dyade mehr möglich ist, sondern nun Ich-Darstellungen notwendig sind. Durch den Fokus auf ein innerdyadisches Problem positioniert sie ihren Mann nun als Adressaten der Paarberatung. Obwohl dieser keinen Wunsch geäußert hat, fragt sie ihn, ob er trotzdem etwas auf Frau Rostens Frage antworten möchte. Durch die Art der Darstellung ihrer Problemsicht weist sie ihrem Mann erneut eine subalterne Position zu und erteilt ihm zu einem von ihr bestimmten Zeitpunkt das Rederecht. Auch hier tritt sie als Strukturierende auf, die das Gespräch zwischen sich und ihrem Mann ordnet. Dies wird von den Berater*innen zugelassen, obwohl sich dadurch die Problemexplikation von der Paardyade auf die Einzelperson Frau Brandt-Ziegler verschiebt. Herr Ziegler überlässt die Beantwortung der Frage seiner Frau und zeigt damit zugleich eine Widerständigkeit gegenüber der Paarberatung. Frau Brandt-Ziegler möchte als Thema ihr Ideal von Beziehung (Projekt Familie) auffrischen. Es zeigt sich die Vorstellung, dass Beziehung etwas ist, woran gearbeitet wird, und es legitim ist, in einer Paarberatung mit professioneller Hilfe daran zu arbeiten. Ein potenzieller Anschlusspunkt an das Beziehungsideal ist die romantische Vorstellung von Liebe, die immer wieder optimiert werden soll. Die Beziehung wird an bestimmten Standards gemessen, nach Ansicht von Frau Brandt-Ziegler soll wieder eine Standardisierung nach ihren Vorstellungen stattfinden. Es scheint, dass Frau Brandt-Ziegler die Richtung vorgibt und Herr Ziegler mitläuft/teilnimmt. Sie verfolgen zwar noch dieselben Ziele, aber die »Marsch(.)art«, um die Ziele zu erreichen, d. h. die Vorstellung davon, in welcher Zeit diese Ziele erreicht werden sollen, scheint unterschiedlich. Sie scheinen aus dem Takt geraten zu sein. Jetzt besteht der Wunsch, durch einen Anstoß von außen wieder in den richtigen Rhythmus zu kommen. Die Passivität des einen und die Aktivität der anderen werden in diesem Setting © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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als Problem in der Paarbeziehung inszeniert. Dabei handelt es sich um eine Problemdarstellung, die mit einem Reflexionsprozess verbunden ist. Durch die Auseinandersetzung mit den Rollen innerhalb der Partnerschaft soll dem Ideal von Beziehung nähergekommen werden. Als Rekonstruktion lässt sich bis hier festhalten, dass eine Orientierung an der Struktur Paar erfolgt. Schon mit der Vorstellung wird die Berater*innendyade der Paardyade gegenübergestellt und auch vom Paar aufgegriffen. Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler stellen sich dementsprechend als funktionierendes, Normen erfüllendes Paar dar. Dies steht jedoch im Widerspruch zum Anliegen. Die Problemdarstellung soll sich qua institutionalisiertes Setting auf innerdyadische Schwierigkeiten beziehen. Das Paar, insbesondere Frau BrandtZiegler, greift die Rahmung – es muss ein innerdyadisches Problem expliziert werden – auf. In den ersten zehn Minuten wurde besonders durch Herrn Wah­ lenburg die Figur stark gemacht, dass bei den Klient*innen als Personen und als Paar nicht nur die Probleme im Mittelpunkt stehen, sondern sie auch in ihren anderen Verortungen wahrgenommen werden. Frau Brandt-Ziegler ließ sich auch darauf ein und erzählte, welche Schwierigkeiten bestehen, nämlich die Strukturen, die von ihren und seinen Eltern auf sie gelegt werden. Dabei handelt es sich nicht um ein Problem, das zwischen den Beteiligten des Paars zu verorten ist. Sondern es handelt sich um ein Problem, das das Paar mit seiner Umwelt hat. Mit der Klärung des Anliegens und der Problemexplikation gerät diese Fokussierung in den Hintergrund. Nun wird das Paar als problembehaftet innerhalb der Paarbeziehung konstruiert. Die Bedürftigkeit soll nun verdeutlicht werden. Der erste Versuch der Problemdarstellung wird von Frau Brandt-Ziegler abgebrochen. Das »schwerwiegendere« Problem mit den Eltern des Paars wird nicht mehr für eine Problembearbeitung in Betracht gezogen. Frau Brandt-Ziegler folgt dem Adressierungsangebot von Frau Rosten und bezieht sich bei der expliziten Problemdarstellung auf die Schwierigkeiten auf der Paarebene. Das Paar wird dabei derart hergestellt, dass es ein bestimmtes, konkretes, als Wunsch geäußertes Problem hat. Dabei wird eine hohe Selbstreflexivität gefordert. Es muss ein Problem benannt werden können bzw. ein Wunsch, wie es anders sein soll. Eine Orientierung an einer Idealvorstellung einer Paarbeziehung erfolgt. Frau Brandt-Ziegler zeigt sich einerseits den Berater*innen hilfebedürftig und folgt den Anforderungen. Andererseits zeigt sie sich selbstermächtigend, indem sie gegenüber ihrem Mann als Strukturierende auftritt. Herr Ziegler zeigt sich widerständig, indem er deutlich macht, dass er nicht die Beratung aufsuchen wollte und die Redeverantwortung und -strukturierung an seine Frau übergibt. Das Paar wirkt somit auf die Struktur der Beratung (Mit© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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wirkung) und trägt damit eine Mitverantwortung für das Setting. Zwar wird das Paar jeweils angesprochen, jedoch stellt Frau Brandt-Ziegler ihren Mann als Hauptadressaten dieser Paarberatung heraus. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass beide freiwillig diese Paarberatung aufsuchen und einen Wunsch/ein Ziel für diese Beratung aufweisen. Die am Anfang herausgestellte Mitwirkung bei der Beratung steht damit in einem engen Zusammenhang. Das Paar wird eingeladen, Themen und Struktur der Paarberatung mitzubestimmen. Im weiteren Verlauf wird diese Möglichkeit immer mehr eingeschränkt, indem sich die Beraterin auf eine vorstrukturierte Vorgehensweise beruft. Die Strukturierung auf der Berater*innenebene wird nicht in die Hände des Paars gelegt. Die Dramaturgie der Problemdarstellung wird wieder von Frau Brandt-Ziegler strukturiert, die Herrn Ziegler erneut eine subalterne Position zugesteht. Inwieweit die Strukturelemente des Erstgesprächs auch in der Phase der Krisenbewältigung bzw. Lösungsfokussierung aufrechterhalten bleiben, zeichnet sich in der Rekonstruktion einer weiteren Sequenz ab. Vorab erfolgt zunächst eine Zusammenfassung des weiteren Verlaufs der Paarberatung. Anschließend an diese Sequenz berichtet Frau Brandt-Ziegler über die verschiedenen Lebensbereiche der Familie, die belastend auf die Paarbeziehung wirken: Finanzen, Haus, ältestes Kind Finn, Herkunftsfamilien von beiden. Sie geht wieder zurück von einem innerdyadischen Problem zu den Problemen des Paars mit den äußeren Umständen (»Patchwork als Belastung, Haus als Belastung, (1) dein Schichtdienst als Belastung, mein Nicht-Einkommen als Belastung, ja und dann ist es natürlich so, dass jeder so seinen Rucksack aus seiner Herkunftsfamilie mitbringt« [N001_01, Z. 215–218]). Als Herrn Ziegler die Frage von Frau Rosten gestellt wird, was ihn zur Paarberatung führe, nennt er seine Frau als Grund (»meine Frau führt mich mit hierher« [N001_01, Z. 243]). Er führt nach nochmaliger Anregung von Frau Rosten aus, dass er der Meinung sei, dass sie die Probleme auch alleine lösen können, aber die Zeit für die Problemlösung immer knapper würde, er aber hoffnungsvoll sei, dass es sich mit der Zeit ändern würde. Dann beschreibt Herr Ziegler die belastete Beziehung zu Finn, was er als Problem bei sich verortet (»spreche ich jetzt vor allem (nur) mal für mich« [N001_01, Z. 263–264]). Als Problem beschreibt Herr Ziegler dann, dass »wir ja hin und wieder’n Disput über die Erziehung an sich haben« (N001_01, Z. 268–269). Er fragt sich jedoch, ob das in diesem Setting bearbeitet werden soll, da es sich vordergründig nicht um eine Paarproblematik handelt. Frau Rosten greift das Thema mit Finn auf und lässt diesem Thema Raum in dieser Beratung, indem sie Fragen dazu stellt und Herr Ziegler seine Problematik mit Finn und seinem Verhalten verdeut© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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licht. Er endet mit der Beschreibung von Finn als »triebgesteuertes Bündel« (N001_01, Z. 306) und »Es gibt nur, ich will, was mir guttut und alles andere ist Wurst« (N001_01, Z. 309). Herr Wahlenburg fragt anschließend nach den Rückzugsorten des Paars und macht deutlich, dass daran gearbeitet werden könne, um ein entspannteres Verhältnis zu Finn zu entwickeln. Damit formuliert Herr Wahlenburg ein Anliegen, das in der Paarberatung bearbeitet werden könnte: »Es wär’ ja spannend, mal rauszubekommen, (wo) Sie diese Insel haben, wo Sie so was ausleben können, jeder für sich« (N001_01, Z. 311–312). Herr Wahlenburg antwortet mit einem allgemeinen Ratschlag (»wenn man das Verhalten und die Person voneinander trennt« [N001_01_324–325]), den er dann auf Herrn Ziegler und Finn bezieht. Frau Brandt-Ziegler nimmt daraufhin wieder eine Strukturierungsleistung vor, indem sie wieder die Belastungen thematisiert. Dabei greift sie Herrn Wahlenburgs erste Anliegenformulierung auf und macht ihren Mann erneut zum Adressaten der Beratung, indem sie über seine »Grundanspannung« (N001_01, Z. 359) spricht. Frau Brandt-Ziegler sieht sich selbst weniger beratungsbedürftig, wenn sie sagt: »Dieser Herkunftsrucksack, ich glaube, den hab’ eben nicht nur ich, den hast auch du und ich glaube, auch das ist nochmal ’n großes Thema, was es zu bearbeiten gilt, auch wenn ich da vielleicht nicht, (---) vielleicht sogar nicht mal dabei sein sollte oder so« (N001_01, Z. 370–373). Frau Rosten fragt nun nach der Sicht von Herrn Ziegler und holt seine Einschätzung ein. Die Problemexplikation verdeutlicht, dass die äußeren Belastungen sich nun auf die Beziehungen auswirken. Herr Wahlenburg offerierte zu ergründen, wie jede einzelne Person sich um Auszeiten kümmert. Frau Brandt-Ziegler zeigt nun auf, dass sie gut für sich sorgt, um mit den Belastungen umzugehen (»Akku aufladen, also ich schaff ’ dann schon meine Räume« [N001_01, Z. 422]). Sie positioniert sich hier nicht als Adressatin dieser Anliegenformulierung von Herrn Wahlenburg, versteht aber wiederum Herrn Ziegler als Adressaten dafür, dass es zwischen beiden wieder entspannter ist. Sie präsentiert sich handlungsfähig. Nach einer weiteren Anliegenfrage von Frau Rosten zeigt sich Herr Ziegler einverstanden mit der Anliegenformulierung von Herrn Wahlenburg (»Akku aufladen […] ich denke, dass es sich lohnt« [N001_01, Z. 474–475]). Dies wird nun als Anliegen im weiteren Verlauf besprochen, Frau Brandt-Zieglers Anliegen (»mir würde es, glaube ich, helfen, (1) wenn ich die Dinge auch mal anders sehen könnte, als ich sehe« [N001_01, Z. 492–493]) wird nicht weiterverfolgt. Über den Umgang mit Belastungen, auch aus der Kindheit, wird mit Herrn Wahlenburg anschließend gesprochen. Das Anliegen für diese Sitzung zeigt sich dadurch gesetzt, da nun eine andere Phase des Erstgesprächs durch Herrn Wahlenburg eingeleitet wird: Er spricht von einem »Vergangenheitsrucksack« (N001_01, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Z. 499), der im Beratungsraum von beiden platziert werden soll. Herr Ziegler beantwortet diese Frage zuerst. Herr Wahlenburg verdeutlicht nach dieser Interventionsmethode seinen nächsten Schritt: »Frau Rosten hat ja eben gefragt, was wäre so ʼn gutes Ergebnis von der heutigen Stunde ähm (1) und für mich wäre die nächste Frage, ähm wo gibt’s einen einen gemeinsamen Wunsch, ʼne gemeinsame Idee, wo es hingehen soll?« (N001_01, Z. 534–537). Hier bezieht er sich wieder auf Frau Rosten und stellt das Beratungsteam als ein Team dar, das sich abstimmt und eine einheitliche Struktur der Beratung verfolgt. Es erfolgt die Absage auf das Anliegen von Frau Rosten, in der Vergangenheit von Herrn Ziegler zu arbeiten. Gleichzeitig ist sein Ziel dieser Beratung zukunftsgerichtet und handlungsorientiert: »darauf auszurichten, dass es eine Veränderung gibt« (N001_01, Z. 540). Herr Wahlenburg macht seine Expertise hier deutlich und legt fest, was in diesem Setting bearbeitbar ist und welcher Fokus (Zukunft, Handlungsorientierung) eingenommen wird. Frau Brandt-Ziegler verdeutlicht ihren Wunsch nach Wertschätzung innerhalb der Partnerschaft. Es entspinnt sich ein kurzer Dialog von Frau Rosten und Frau Brandt-Ziegler darüber, der dadurch gekappt wird, dass Herr Wah­ lenburg noch die Sicht von Herrn Ziegler einfordert. Er verdeutlicht zudem, dass nicht nur geredet, sondern auch gehandelt werden solle (z. B. gemeinsam ein Spiel spielen), aber »diese Dinge sollten vielleicht dann doch (1) irgendwie geplant werden« (N001_01, Z. 616). Auch hier greift Herr Wahlenburg Herrn Zieglers Aussage auf und das Organisieren von Zeit steht als Thema im Fokus der Beratung. Es wird darüber diskutiert, wann sich jeder von dem zu beratenden Paar Zeit für etwas Schönes nimmt (bspw. ausgiebig Frühstücken) – einzeln und gemeinsam. Dabei verhaften Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler in einer Problemdarstellung, indem sie die bisherigen Aktionen als zu wenig und zu selten definieren. Sie zeigen sich hier beide als hilfebedürftig und unterstützungsnotwendig. Herr Wahlenburg setzt nun den Fokus auf die Einzelpersonen und fragt, wann sie einzeln für sich Auszeiten suchen, um den Akku aufladen zu können. Vorab veranschaulicht er, dass »Sie sich mit diesem Alltag arrangieren müssen in einer Art und Weise, dass die Belastung irgendwie runtergefahren« (N001_01, Z. 707–709) wird. Frau Brandt-Ziegler verdeutlicht wieder, dass sie sich Freiräume nimmt, aber ihr Mann nicht. Herr Ziegler zeigt sich hier hilfebedürftig, weil er, wie er sagt, nicht wisse, wohin er sich zurückziehen könne, um Kraft zu tanken. Frau Rosten versucht, durch Fragen herauszufinden, wo Herr Ziegler sich Freiräume nimmt und in welche Themen er sich »festbeißen« (N001_01, Z. 805) kann. Nach der Beantwortung der Frage, leitet Herr Ziegler noch einmal einen Themenwechsel ein, indem er auf seine Probleme mit Finn zurückkommt: »Ich mag auch nicht gerne äh © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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(2) hm naja, die Kontrolle verlieren, das klingt jetzt natürlich sehr hart, aber dass ich zum Beispiel bei Finn resignieren muss im Moment, ist schwierig für mich« (N001_01, Z. 846–848). Frau Brandt-Ziegler zieht die Bilanz, dass Herr Ziegler »ganz, ganz starke Vorstellungen [hat] (---) und denen entspricht Finn nicht« (N001_01, Z. 885–886). Sie positioniert wieder Herrn Ziegler als Adressaten dieser Beratung. Daran schließt die nächste rekonstruierte Textstelle an. Um die bisherigen Fallstrukturideen zu falsifizieren und damit zu spezifizieren, wird nun eine Sequenz näher rekonstruiert, die eine Interaktion mit Herrn Wahlenburg und dem Paar umfasst. Diese verdeutlicht, wer für die Lösungen der Probleme verantwortlich ist. Gleichzeitig veranschaulicht die folgende rekonstruierte Stelle die gegenseitige Angewiesenheit und die damit zusammenhängende Mitverantwortung und Freiwilligkeit als Voraussetzung für dieses Setting. Zudem spielt eine Rolle, wer in diesem Setting Adressat*in zu sein hat. 5.1.2.4 Krisenbewältigung und Problemlösung

Diese rekonstruierte Sequenz findet ungefähr nach einer Stunde Paarberatung statt. Frau Brandt-Ziegler spricht hier, wie vorab angedeutet, über ihren Sohn Finn.  rau Brandt-Ziegler: Egozentrisch ist er auch bis zum bis zum Verrecken. F (1) Und das [geht dir Frau Brandt-Ziegler verdeutlicht die familiäre Belastung an einem Beispiel mit Finn. Sie nimmt hier die Position einer Bewertenden ein und präsentiert sich somit als selbstermächtigende und autonome Person, die eine Charaktereigenschaft von jemand anderem beurteilt und alltagssprachlich eine Diagnose formuliert. Hier thematisiert Frau Brandt-Ziegler wieder ein Problem, das nicht auf der Paarebene verortet ist. Die Probleme mit den äußeren Belastungen werden wieder als Thema der Paarberatung gesetzt und damit Herr Ziegler zum eigentlichen Adressaten der Paarberatung gemacht. Es wird der Versuch gestartet, über die Probleme mit Finn äußere Belastungen als mögliches Thema für die Paarberatung zu setzen. Frau Brandt-Ziegler begibt sich zwar freiwillig in die Situation einer Paarberatung, sieht sich jedoch nicht als zu Beratende an. In diesem Setting positioniert sie sich als Mitwirkende und Strukturierende gegenüber ihrem Mann.  err Wahlenburg: Und was] was glauben Sie, wie hoch muss er das noch H drehen, dass Sie anfangen, für sich gut zu sorgen? Herr Ziegler: Für uns gut zu sorgen? Herr Wahlenburg: Ja. (4) © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Wahlenburg setzt mit der Verschlimmerungsfrage, eine gängige systemische Fragetechnik (Beilfuß, 2018, S. 215), eine bewusste und zielführende Intervention ein. Es ist unklar, ob sie entweder als Paar oder als einzelne Personen angesprochen werden (abhängig davon, ob »Sie« an eine oder mehrere Personen gerichtet ist). Es ist jedoch davon auszugehen, dass Herr Ziegler angesprochen wird, da Frau Brandt-Ziegler in ihrer Vorrede die problembehaftete Beziehung zwischen ihm und Finn verdeutlichte. Durch die Nachfrage von Herrn Ziegler scheint sich eine Irritation über den Vorschlag von Herrn Wahlenburg auszudrücken, die Krisenbearbeitung, die durch die Frage impliziert wird, auf die Paarebene zu bringen. Herr Wahlenburgs Sprechakt deutet jedoch auf den Versuch hin, dass nicht nur die Problemexplikation auf das Paar bezogen werden soll, sondern auch die Krisenbearbeitung. Herr Ziegler und auch die Berater*innen nehmen Frau Brandt-Ziegler als Adressatin für diese Beratung mit in Haftung, da Herr Wahlenburg dem Fokus auf die Paarebene seine Zustimmung erteilt. Die Problemlösung wird hier wieder auf die Paarebene gebracht. Diesmal übernimmt dies auch Herr Ziegler, der sich somit nicht als alleiniger Hauptadressat positioniert und sich der Positionierung seiner Frau widersetzt. Nicht nur das Problem sollte sich auf das Paar beziehen, sondern auch die Lösung, wenngleich sich die Darstellung dieses Problems auf die Charaktereigenschaft des Sohns bezieht und dem Charakter einer Diagnose gleichkommt. Finns Egozentrik, die bei Frau Brandt-Ziegler als unveränderbare Eigenschaft dargestellt wird, wird von Herrn Wahlenburg als steuerbares und damit veränderbares Verhalten beschrieben. Herr Wahlenburg weist darauf hin, dass Frau Brandt-Zieglers Perspektive auch nur eine Konstruktion und damit änderbar sei. Herr Wahlenburg zieht eine Verbindung von dem Verhalten des »Egozentrikers« zu dem Verhalten seiner Eltern. Aus der Perspektive von Herrn Wahlenburg wird das beschriebene egozentrische Verhalten des Sohns als schlimm deklariert, weil die Eltern selbst nicht gut für sich sorgen. Das Paar wird angesprochen als Eltern, die fähig sind, Stellschrauben zu drehen, dies aber noch nicht tun. Verhaltensänderung ist somit möglich, sobald sich die Sich-Verhaltenden reflexiv dessen bewusst sind. Hier wird eine reflexive Ebene angeregt, bisherige Sichtweisen zu bedenken, um dann neue Handlungsmöglichkeiten zu erlangen. Auf die Handlungsempfehlung von Herrn Wahlenburg wird nicht eingegangen. Frau Brandt-Ziegler: Hast du’s verstanden? Herr Ziegler: [Nee. Naja. Frau Brandt-Ziegler: Ich find’, es war wieder fies.] Herr Wahlenburg: Es war fies? © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Brandt-Ziegler: Ja. Herr Wahlenburg: [(Warten Sie, ich versuche es, ich sag’s mal  ) Frau Brandt-Ziegler: Wie viel Raum muss er nochFrau Brandt-Ziegler nimmt wieder die Rolle der Strukturierenden ein, indem sie u. a. ihren Mann fragt, ob er die Frage verstehe, und somit ein Übersetzungsangebot leistet. Sie bezieht diese Frage nicht nur auf sich, sondern auch auf ihren Mann. Zudem spricht sie mit ihrer Aussage »Hast du es verstanden?« die Berater*innen an. Sie vergegenwärtigt sich und den anderen, dass sie selbst die Frage verstanden habe. Sie positioniert sich hier als Nicht-Adressatin und konstruiert somit Herrn Ziegler erneut zum Hauptadressaten der Paarberatung. Das Verstehen kann nur im Subjekt und nicht im Paar verortet sein. Darüber hinaus führt sie eine Bewertung der Frage von Herrn Wahlenburg durch (»es war wieder fies«). Hier zeigt sich, dass Frau Brandt-Ziegler sich selbst eher als Co-Strukturierende und Nicht-Adressatin positioniert. Herr Ziegler nimmt die Frage von Herrn Wahlenburg auf und beginnt, da­ rauf zu antworten. Dies wird jedoch von Frau Brandt-Ziegler unterbunden. Sie strukturiert, worauf Herr Ziegler antworten soll. Herr Wahlenburg bricht seinen Versuch, zu strukturieren und neue Möglichkeitsräume zu erkunden, ab und nimmt sich wieder zurück. Damit lässt er zu, dass das Setting nicht stark strukturiert ist, sondern sich gesprächsförmig gestaltet. Herr Ziegler: (Ich sag’ mal, es fällt mir ja] schwer, das alles so [(   ) Frau Brandt-Ziegler: Wie viel Raum] soll er denn noch einnehmen, bevor wir ihm Einhalt gebieten? Herr Wahlenburg: Naja, das könnte-das wär’ dann noch ʼn anderer Schritt. Frau Rosten: Finn sorgt gut für sich.73 Darauf aufbauend springt Frau Brandt-Ziegler auf die Anfangsfrage von Herr Wahlenburg zurück. Diese wird insoweit umformuliert, dass nun nicht Herr Ziegler derjenige ist, der an sich arbeiten soll. Sondern Finn gerät nun in den Fokus, sein Verhalten wird als problembehaftet deklariert. Es wird ein Paarberatungsthema initiiert, das außerhalb der Paardyade verortet ist, nämlich, und das wird hier konkreter, bei Herrn Ziegler und Finn. Frau Brandt-Ziegler lehnt auf diese Weise die Adressierung als Ratsuchende in diesem Erstgespräch 73 Diese Textsequenz wurde unter dem Schwerpunkt relationaler Krisenhaftigkeit in einer Pu­ blikation veröffentlicht (Tsirikiotis, Schmidt, Hille & Bauer, 2023, i. E.). Interpretationsergebnisse und Schlussfolgerungen beziehen sich auf eine professionstheoretische Perspektive.

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diskursiv ab. Sie zeigt vielmehr einen Zugewinn an Handlungsfähigkeit durch die Selbstdefinition als Co-Beraterin gegenüber ihrem Mann. An dieser Stelle greifen beide Berater*innen ein und begrenzen damit Frau Brandt-Ziegler in ihrer Position. Frau Rosten fokussiert eine Struktur und eine Lösung in der Dyade, denn der Sohn ist nach ihrer Ansicht in der Lage, gut für sich zu sorgen. Sowohl die Berater*innen als auch die Frau arbeiten daran, dass Herr Ziegler sich als beratungswillig und hilfebedürftig darstellt. Gleichzeitig soll die Lösung der Probleme im Paar verortet sein. Daran wirkt auch Herr Ziegler mit. Hier zeigt sich ein Ringen um die Fallperspektive. Einerseits wird die Perspektive der Probleme des Paars, für sich gut zu sorgen und Möglichkeiten des Krafttankens zu nutzen, als Anliegen behandelt. Andererseits wird daran gearbeitet, dass Herr Ziegler die Problematik mit dem Sohn zum Thema macht. Es wird sich zuerst auf die Paarebene geeinigt und das Problem und die Lösung im Paar verortet. Frau Brandt-Ziegler zeigt wieder einen Zugewinn an Handlungsfähigkeit durch die Selbstdefinition als Strukturierende gegenüber ihrem Mann, nimmt sich aber in der Lösungsfokussierung wieder mit hinein. Herr Wahlenburg versucht Frau Brandt-Ziegler hier wieder nicht als Strukturierende anzusprechen und begrenzt dabei ihr autonomes Handeln. Die institutionelle Verortung wird durch die Frage und die Korrektur des Beraters Herrn Wahlenburg bemerkbar. Nicht nur die Problemexplikation ist auf der Paarebene verortet, sondern auch Krisenbewältigung und Lösungsfindung. Eine zu explizite Adressierung von Frau Brandt-Ziegler als Ratsuchende könnte den Effekt der Absage an dieses Setting mit sich bringen. Jedoch sollen beide an der Problemlösung beteiligt sein. An dieser Stelle bezieht auch Herr Ziegler Stellung dahingehend, dass er sich nicht zum alleinigen Hauptadressaten machen lässt und seine Frau zur Mitwirkung verpflichtet. Der Fokus soll nicht auf Finn liegen (»Finn sorgt gut für sich«), er soll nicht Thema der Paarberatung sein, sondern das Paar. Hier zeigt sich auch wieder, wie schwierig das Setting Paarberatung aufrechtzuerhalten und das Paar als Paar herzustellen ist, besonders wenn Kinder und dadurch Familienthemen in den Vordergrund drängen. Die Probleme, die sie dem Kind zuschreiben, werden so verhandelt, dass das Paar wieder handlungsfähig wird. Dem Paar wird sein Einfluss auf die Probleme verdeutlicht und die Mitverantwortung der Partner*innen an dem Verhalten von Finn aufgezeigt. Auch zeigt sich hier, dass die Problemlösung durch Reflexion des eigenen Verhaltens initiiert werden soll. Der weiterführende Dialog entspinnt sich zwischen den Berater*innen und Herrn Ziegler, der darin endet, dass Herr Ziegler die Frage beantwortet (»Da bin ich jetzt erst mal überfragt, da kann ich jetzt so nichts sagen« [N001_01, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Z. 934]). Frau Rosten und Herr Wahlenburg sehen die Lösung darin, dass das Paar jeweils einzeln gut für sich sorgen solle. Danach verdeutlicht Herr Wah­ lenburg anhand einer Geschichte, weshalb es wichtig wäre, dass Herr Ziegler gut für sich sorgt. Herr Wahlenburg hält somit an seiner Lösung des Problems fest, d. h., erst wenn die Einzelpersonen innerhalb eines Paars und hier einer Familie gut für sich sorgen, dann ändert sich auch der Umgang mit den wahrgenommenen Belastungen. Abschließend läutet Frau Rosten die letzte Phase des Erstgesprächs ein. Es erfolgt das reflektierende Gespräch von Frau Rosten und Herrn Wahlenburg, bei dem über die Paarberatung im Beisein des Paars gesprochen wird. Dort wird zuerst von Herrn Wahlenburg nochmals hervorgehoben, dass »im Moment so tragend das Thema Selbstfürsorge« (N001_01, Z. 993–994) ist. Er verdeutlicht noch einmal die Wichtigkeit seines festgelegten Anliegens für diese Beratung. Frau Rosten rekapituliert den Ablauf der Sitzung und die angesprochenen Themen und endet damit, dass sie passend für dieses Setting sind: »Also es wird bestimmt nicht einfach, (1) das ist auch deutlich geworden, aber (---) da ist glaube ich schon viel von beiden Seiten, jeder auf seine Weise, die ja sehr unterschiedlich ist, aber ich glaub’, dass da was drin ist. Und ich bin gespannt, (---) wie wir noch weiterarbeiten miteinander« (N001_01, Z. 1034–1037). Nach dem Reflecting Team erfolgt die letzte rekonstruierte Sequenz, die die Bilanzierung aus Sicht des Paars verdeutlicht und den Abschluss des Erstgesprächs dieser Paarberatung darstellt. 5.1.2.5 Bilanzierung und Verabschiedung

Wie Oevermann (2002) und Goffman (1980) anmerken, ist es aufschlussreich, die Eröffnungs- und Schließungssequenzen bzw. -rahmen objektiv-hermeneutisch zu rekonstruieren. Daher erfolgt nun die Rekonstruktion einer Textstelle, die nach dem Reflecting Team stattfindet.  Rosten: Mhm. Ja. (5) Was war für Sie ((zu Herrn Ziegler)) (---) interessant? (7) Oder wo gibt es Punkte, wo Sie denken, hier würde ich beim nächsten Mal gerne anknüpfen? Frau Rosten lenkt in die Richtung, dass es ein weiteres Gespräch geben wird. Das Paar wird somit als passend für dieses Setting angesprochen. Das Anknüpfen zeigt auf, dass offene Themen bestehen, die beim nächsten Mal besprochen werden können. Es wird nach den Interessen von Herrn Ziegler gefragt, auch auf ihn bezogen und weniger auf das Paar. Hier wird nach der Ansicht von Herrn © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Ziegler, nach ihm als Individuum, gefragt. Es wird eingefordert, dass er hier etwas interessant finden und sich gegebenenfalls auch mit dem zuvor Gesagten identifizieren soll. Hier wird er angesprochen als jemand, der sich eines Pro­ blems und dessen Lösungsentwicklung bewusst ist. Es erfolgt eine Aufforderung zur Beteiligung. Am Ende wird sich auf die freiwillige Mitwirkung und die Bereitschaft auf Veränderung berufen. Frau Brandt-Ziegler: ((notiert sich etwas)) (18) Herr Ziegler: Tja, ʼne Hilfestellung bei der Findung dieser kleinen (2) ähm Möglichkeiten, (3) unseren Alltag ((seufzt)) schöner zu gestalten, ums mal ein bisschen salopp zu sagen. (5) Herr Ziegler bezieht sich auf das Paar und weniger auf sich. Er antwortet in einer verschachtelten distanzierten Ausdrucksweise. Es handelt sich nicht um eine konkrete, sondern allgemein formulierte Aussage. Die Lösungsfokussierung wird von Herrn Ziegler auf die innerdyadische Paarebene bezogen. Es müsse sich mehr gemeinsame Zeit genommen werden, sodass der Alltag schöner werde. Für ihn ist der Alltag schön, es geht jetzt um Kleinigkeiten, damit er noch schöner gestaltet werden kann. Er suche nach Möglichkeiten der Entspannung für sich, so wie Herr Wahlenburg das Thema auch als passend für das Paar an sie herangeführt hat. Er geht somit auf die Lösungsvorschläge der Berater*innen ein. Gleichzeitig wird dies wieder eingeschränkt, indem seine Veränderungsbereitschaft sich nur auf für eine Beratung nebensächliche Möglichkeiten bezieht. Herr Ziegler geht hier nicht noch einmal auf die Problematisierung der Beziehung zwischen ihm und Finn ein. Obwohl er am Anfang des Erstgesprächs verdeutlicht, dass er keine Probleme hat bzw. nicht den Wunsch hatte, zu kommen, positioniert sich Herr Ziegler am Ende des Erstgesprächs als Adressat der Beratung, der eigenes Verhalten als veränderungswürdig erachtet. Gleichzeitig positioniert er sich hier nicht als alleiniger Adressat dieser Paarberatung, sondern bezieht seine Frau mit ein, insbesondere auf der Ebene der Alltagsverschönerung, die er als Thema der weiteren Paarberatungen benennt. Seine problematisierte Beziehung zu Finn wird dabei als Thema für die weitere Beratung ausgeschlossen. Der Fokus, den er hier setzt, ist, dass das Paar Lösungen sucht, die beide Partner*innen als Paar betreffen. Dabei werden die Erwartungen niedrigschwellig formuliert. Hier sind die Probleme von Herrn Ziegler weniger dramatisch verortet.  rau Brandt-Ziegler: Aber da müssten Sie ja zu uns nach Hause kommen F und sagen (    mal zehn Minuten   ). Das müssen wir schon selber machen. (10) © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Brandt-Ziegler evaluiert die Aussage ihres Manns. Laut Gesprächsstruktur wäre Frau Brandt-Ziegler nicht an der Reihe gewesen, etwas zu sagen. Sie nimmt sich jedoch das Rederecht und positioniert sich selbst als Bewertende gegenüber Herrn Ziegler. Sie fordert eine Eigenaktivität von ihrem Mann ein, um die Situation zu verändern. Es zeigt sich hier, dass Frau Brandt-Ziegler die Paarberatung für ihren Mann initiiert hat. Er soll sich ändern, mehr Eigenaktivität zeigen, dann verbessert sich auch die Paarbeziehung. Seine Mitwirkungsbereitschaft an dieser Paarberatung scheint für Frau Brandt-Ziegler nicht ausreichend zu sein. Einerseits erwartet sie Hilfe von der Paarberatung, andererseits besteht sie darauf, die Situation als Paar zu meistern. »Das müssen wir schon selber machen« ist im Kontrast zum Besuch der Paarberatung zu sehen. Er wünscht sich Hilfestellung und seine Partnerin bedenkt bereits die genaue Umsetzung. Frau Brandt-Ziegler und die Berater*innen arbeiten – aus unterschiedlichen Gründen – daran, dass Herr Ziegler Adressat dieser Paarberatung wird. Gleichzeitig wird auch immer deutlicher, dass Frau Brandt-Ziegler als Adressatin kon­ struiert wird. Sie begreift sich beim Bewusstmachen und Reflektieren von Problemen aber nicht als Adressatin. Dort ist ihr Mann verortet. Dessen Thema »Alltag schöner […] gestalten« und die damit einhergehenden Veränderungsmöglichkeiten bezogen auf die Paarbeziehung lehnt Frau Brandt-Ziegler als Thema ab. Dafür sei keine Beratung notwendig. Auf der Handlungsebene, außerhalb des Settings, verortet sie sich aber sehr wohl als Adressatin. Im Unterschied zu den vorherigen Sequenzen wird hier auch die Handlungsebene und weniger die Reflexionsebene angesprochen. Auf die darauffolgende Frage von Herrn Wahlenburg, die eine Beobachtungsperspektive einfordert, antwortet Herr Ziegler wieder insoweit, als er sich als Paar dieser Paarberatung sieht und das Paar »offensichtlich gewillt ist, auch daran zu arbeiten« (N001_01, Z. 1054–1055), um gemeinsam Veränderung hervorzubringen. Frau Brandt-Ziegler bilanziert in ihrer Rückmeldung das Gespräch und fasst es ähnlich wie Frau Rosten zusammen. Sie nimmt eine Vorgehensweise der Berater*innen innerhalb des reflektierenden Gesprächs an, nämlich »auch irgendwie (1) auch transparent zu sein« (N001_01, Z. 1064– 1065). Hier zeigt sich wieder vermehrt ihre Positionierung als Mitgestaltende, die sich etwas aus dem professionellen Handeln der Berater*innen mitnimmt und dies auf die Beziehung überträgt. Herr Ziegler nimmt am Ende eine Bewertung des Reflecting Teams als Methode vor: »die äh Reflexion zwischen ihnen beiden habe ich auch sehr spannend-, allerdings frage ich mich wiederum, inwieweit diese offene Reflexion wiederum einflussnehmend ist im Rahmen der Therapie. Da (---) sage ich ganz ehrlich, blockiere ich mich wahr© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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scheinlich (wieder) selber, muss jetzt versuchen, mich davon freizumachen« (N001_01, Z. 1081–1085). Die Berater*innen gehen nicht darauf ein, sondern Frau Rosten schlägt die nächsten vier weiteren Termine vor (ein Termin pro Monat), die in vorheriger Absprache mit Herrn Wahlenburg und dem Forschungsteam festgelegt worden waren. Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler bestätigen, dass sie sich diese Termine einrichten können, Schichtdienst verschoben und Kinderbetreuung organisiert wird. Damit endet die erste Sitzung der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler mit den Berater*innen Frau Rosten und Herrn Wahlenburg. 5.1.2.6 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs

Im Erstgespräch erfolgt eine Orientierung an der Struktur Paar, die immer wieder neu verhandelt wird. Dies wird in der Vorstellung vom Berater*innenteam eingeführt und vom Paar aufgegriffen. Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler stellten sich als funktionierendes, Normen erfüllendes Paar dar und machen damit einen Widerspruch zum Anliegen deutlich. Die Problemdarstellung muss sich, qua institutionalisiertes Setting, auf innerdyadische Schwierigkeiten beziehen. Das Paar, insbesondere Frau Brandt-Ziegler greift die Rahmung – es muss ein innerdyadisches Problem expliziert werden, um Paarberatung in Anspruch zu nehmen – auf. Die ersten zehn Minuten wurde besonders durch Herrn Wahlenburg die Figur stark gemacht, dass bei den Adressat*innen als Personen und als Paar, nicht nur die Probleme im Mittelpunkt stehen, sondern sie auch in ihren anderen Verortungen wahrgenommen werden. Frau BrandtZiegler lässt sich auch darauf ein und erzählt über Strukturen, die von ihren und seinen Eltern auf sie gelegt werden. Dabei handelte es sich nicht um ein Pro­blem zwischen den Partner*innen, sondern um ein Problem des Paars mit seiner Umwelt. Mit der Klärung des Anliegens und der Problemexplikation gerät dies aber in den Hintergrund. Nun wird das Paar als problembehaftet innerhalb der Paarbeziehung angesprochen. Die Bedürftigkeit soll nun verdeutlicht werden, um berechtigterweise Paarberatung in Anspruch zu nehmen. Der erste Versuch der Problemdarstellung wird von Frau Brandt-Ziegler abgebrochen, als das Problem mit den Eltern nicht als Problembehandlung für die Paarberatung wahrgenommen wird. Danach bezieht sie sich bei der expliziten Problemdarstellung auf die Schwierigkeiten auf der Paarebene. Die Berater*innen fokussieren die Paardyade in der Problemexplikation, aber auch in der Krisenbewältigung und der Problemlösung. Bei der Verhandlung der Problemlösung zeigt sich die Aushandlung darüber, wer Adressat*in dieser Paarberatung sein soll, deutlich. Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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werden als ein Paar konstruiert, das ein bestimmtes, konkretes, als Wunsch geäußertes Problem hat. Dabei wird eine hohe Selbstreflexivität gefordert. Es muss ein Problem benannt werden können bzw. ein Wunsch, wie es anders sein soll. Eine Orientierung an einer Idealvorstellung einer Paarbeziehung erfolgt. Einerseits wird als Anliegen die Perspektive der Probleme des Paars, für sich gut zu sorgen und Gelegenheiten zum Krafttanken wahrzunehmen, behandelt, andererseits daran gearbeitet, dass Herr Ziegler hier die Problematik mit dem Sohn zum Thema macht. Dabei wird versucht, sich auf die Paarebene zu einigen und das Problem und die Lösung im Paar zu verorten. Eine zu explizite Adressierung Frau Brandt-Zieglers als Ratsuchende könnte den Effekt der Absage an dieses Setting mit sich bringen. Jedoch sollen beide an der Problemlösung beteiligt sein. Es erfolgt eine fragile Aushandlung darüber, inwieweit Herr Ziegler der Hauptadressat zu sein hat und Frau Brandt-Ziegler zur Mitwirkung verpflichtet wird. Frau Brandt-Ziegler zeigt sich einerseits den Berater*innen hilfebedürftig (bezogen auf ihren Mann), andererseits selbstermächtigend, indem sie gegenüber ihrem Mann als Strukturierende auftritt. Herr Ziegler zeigt sich widerständig, indem er deutlich macht, dass er nicht die Beratung aufsuchen wollte, und die Redeverantwortung und -strukturierung an seine Frau übergibt. Das Paar wirkt somit auf die Struktur der Beratung (Mitwirkung) und trägt Mitverantwortung für das Setting. Zwar wird das Paar jeweils angesprochen, jedoch stellt Frau Brandt-Ziegler ihren Mann als Hauptadressaten dieser Paarberatung heraus. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass beide freiwillig diese Paarberatung aufsuchen, einen Wunsch/Ziel für diese Beratung aufweisen und an der Struktur der Beratung mitwirken. Das Paar wird eingeladen, selbst die Themen und die Struktur der Paarberatung zu bestimmen. Im weiteren Verlauf wird diese Möglichkeit immer mehr eingeschränkt, indem sich die Beraterin auf eine vorstrukturierte Vorgehensweise beruft. Die Strukturierung auf der Berater*innenebene wird nicht in die Hände des Paars gelegt. Die Dramaturgie der Problemdarstellung wird wieder von Frau Brandt-Ziegler strukturiert und damit Herrn Ziegler eine subalterne Position zugeschrieben. Die Berater*innen verstehen Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler gleichermaßen als aktiv Ratsuchende in diesem Setting. Innerhalb der Beziehung verdeutlicht Herr Ziegler selbst keine Probleme zu haben, Frau Brandt- Ziegler hingegen bewertet ihren Mann als veränderungsbedürftig (nicht sich). Einerseits den Mann als Hauptadressaten der Beratung zu platzieren und andererseits Paarberatung mit der Orientierung an der Dyade durchzuführen, stellt eine widersprüchliche Herausforderung dar. Die Struktur der Paarberatung sieht eine Orientierung an innerdyadischen Problemen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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und Anliegen vor, dennoch nimmt sich das Paar immer wieder heraus, andere Probleme (wie mit Finn) anzusprechen und es zum Thema der Paarberatung zu machen. Die Berater*innen reagieren wiederholt mit einer Paarlösung, die jedoch nur Herrn Ziegler adressiert. Themen, die angesprochen werden, bringen die Berater*innen zurück auf die Paarebene, indem ein Bezug dazu hergestellt wird. Frau Brandt-Ziegler positioniert sich selbst zwischen Co-Beraterin und Ratsuchender. Dieses Changieren kann von den Berater*innen nur begrenzt bewältigt werden: Mal spielen sie mit, mal grenzen sie es ein. 5.1.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung Um die Besonderheiten des Erstgesprächs herauszukristallisieren, wird als Kontrastfolie das letzte Gespräch dieser Paarberatung herangezogen. Es ist das sechste Gespräch in einem Zeitraum von sieben Monaten. Allen ist vorab bewusst, dass es sich um die letzte Sitzung handelt. Am Anfang der Beratung befand sich Max, der jüngste Sohn (vier Jahre alt), ebenfalls im Beratungsraum. Als Grund wurde eine fehlende Betreuungsmöglichkeit genannt. Nach circa 20 Minuten wurde er von einer Freundin des Paars abgeholt. Im Folgenden werden aufbauend auf der Rekonstruktion des Erstgesprächs die Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion des letzten Gesprächs dieser Paarberatung in verdichteter Form dargestellt. 5.1.3.1 Eröffnung und Einladung zur Lösungsexplikation

Die Interpretationen der Letztgespräche erfolgten ohne Einbezug des Kontexts der vorangegangenen Rekonstruktionen. Da der Schwerpunkt auf den Erstgesprächen liegt, werden die Rekonstruktionen verkürzter dargestellt. Hier handelt es sich nicht um den Beginn des Protokolls, sondern der Einstieg erfolgt mit der institutionellen Eröffnungsfrage durch die Beraterin. Es wurde vorab, während die wissenschaftliche Mitarbeiterin die Technik vorbereitete, besprochen, wo der ältere Sohn Finn während der Beratung betreut wird. Max ist zu dieser Zeit noch anwesend im Raum.  rau Rosten: Und wir starten ja immer gern mit der Frage W W G. Was war F gut (---) seit der letzten Sitzung? (3) Was in den anderthalb Minuten vorab besprochen wurde, wird von Frau Rosten nicht als Anfang gesehen, sondern sie setzt den Beginn hier vorstrukturiert und »künstlich« ähnlich wie beim Erstgespräch mittels Vorstrukturierung des Gesprächs. Die Beraterin Frau Rosten macht hier deutlich, dass sie den Anfang © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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setzt. Sie bezieht sich auf eine regelmäßige und wiederkehrende Struktur (»wir starten ja immer gern«). Auch eingangs der zweiten und dritten Sitzung wurde diese Frage in ähnlicher Form gestellt. Diese Vorstrukturierung bzw. Routinisierung der Beratungsmodi geht nicht gesprächsförmig auf das vorherige Gespräch ein. Die Frage ist fallunspezifisch. Sie könnte in jeder Beratung gestellt werden. Die Beraterin bezieht hier den Berater Herrn Wahlenburg mit ein (»wir«). Auch wird bei diesem Sprechakt deutlich, dass die Berater*innen gerne vorstrukturiert mit dieser Frage starten. Die Abkürzung wird genutzt, um sich auf einen geteilten Horizont zu berufen. Es ist ein Referieren auf einen gemeinsamen Code der Beteiligten und gleichzeitig auf einen professionellen Code, der darauf verweist, dass Paarberatung diesen Anfang von den Berater*innen gesetzt bekommt. Das Paar ist hier mit einer Anfangsstruktur konfrontiert, die für alle Paarberatungen gilt und sich nicht individualisiert entwickelt hat. Es erfolgt die sofortige Auflösung der Abkürzung. Die Frage impliziert, dass seit der letzten Sitzung etwas gut verlief. Das heißt, die Beratung setzt voraus, dass etwas bewertet werden soll. Es verbleibt nicht nur auf der deskriptiven Ebene. »Seit der letzten Sitzung« impliziert Veränderungen, die mit der Paarberatung zu tun haben. Die hohe Strukturierungsleistung von Frau Rosten legt die Richtung fest. Der Mitwirkungsraum hinsichtlich der Struktur des Gesprächs ist damit eingeschränkt. Mit der WWG-Frage vollzieht sich eine doppelte (formale und inhaltliche) Strukturierung. Erstens setzen die Berater*innen den Anfang der Beratung und zweitens soll aus der seit der letzten Sitzung vergangenen Zeit etwas positiv erinnert, beurteilt und vorgestellt werden. Das Paar wird dahingehend angesprochen, dass die Struktur am Anfang von den Berater*innen festgelegt wird, seit der fünften Sitzung Ideen aus den Sitzungen umgesetzt wurden und dies etwas Positives bewirkt hat. Es erfolgt eine Orientierung an den positiven Veränderungen, die hier als Erfolg für diese Paarberatung stehen. Es wird Raum geboten, die positiven Veränderungen außerhalb der Paarberatung, ihre Wahrnehmung und Integration in den Alltag zu verdeutlichen. Das Paar wird aufgefordert, die eigenen Lernerfolge und deren positive Auswirkungen auf die Paarebene darzustellen. Der Raum für weitere Problemexplikation wird geschlossen. Wie im Erstgespräch wird die Perspektive des Paars betont. Das Paar wird beidseitig angesprochen. Zudem stellt sich Frau Rosten mit Herrn Wahlenburg als Dyade dar und eine Gemeinschaft aus allen Teilnehmenden dieser Sitzung her. Die Struktur wird von Anfang an klar formuliert und nicht wie im Erstgespräch zur Verhandlung ausgeschrieben. So zeigen sich die Berater*innen als abgestimmt und routiniert, d. h. als in ihrem Agieren bewährt. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Als Differenz zum Erstgespräch lassen sich für den Anfang zwei Punkte verdeutlichen. Erstens wird auf etwas Positives (auf der inhaltlichen Ebene) fokussiert und zweitens auf bereits getätigte oder wahrgenommene Veränderungen angespielt. Die Arbeit und Veränderungen zwischen den Sitzungen werden als gegeben vorausgesetzt. Damit einher geht die stärkere Einschränkung bei der Mitwirkung des Paars auf der Strukturebene. Durch das Abfragen der Lösungen scheint weniger Verhandlungsspielraum vorhanden zu sein, was in der letzten Sitzung noch besprochen werden kann. Dies deutet darauf hin, dass die Veränderungsbereitschaft des Paars von den Berater*innen als gegeben vorausgesetzt wird, da keine Verhandlung darüber (über das Anliegen) stattfindet. Frau Brandt-Ziegler: Nicht so viel, ehrlich gesagt. Herr Wahlenburg: Was war gut? Frau Brandt-Ziegler reagiert zuerst auf die Frage von Frau Rosten und geht der Aufforderung zunächst nach. Es erfolgt eine Quantifizierung, die negativ ausfällt. »Ehrlich gesagt« verdeutlicht, dass sich der Frage widersetzt und die Antwort begrenzt wird. Der positiven Konnotation wird nicht nachgegangen und somit der vorab festgelegten Gesprächsstruktur nicht entsprochen. Es erfolgen eine Widersetzung und Evaluation und weniger eine Beschreibung, was seit der letzten Sitzung als gut empfunden wurde. »Ehrlich gesagt« zeugt von einer Undiskutierbarkeit. Es sind ihre Emotionen, die sie anbringt, die so subjektiv sind, dass sie ihr nicht abgesprochen werden können. Wörtlich genommen will sie nicht lügen. Sie bricht damit mit dem vorstrukturierten und für die Beratung routinisierten Start der Sitzung. Es erfolgt eine Negativbewertung, gleichzeitig nimmt sie die Adressierung an und setzt sich als Adressatin dieser Paarberatung, die der Frage bzw. der Struktur des Settings widerspricht. Frau Brandt-Ziegler eröffnet den Raum, um ein Problem zu explizieren, und formuliert eine Negativbeschreibung, warum nicht so viel Positives erreicht wurde. Dies steht konträr zu der Struktur des Hervorhebens positiver Veränderungen und der Hervorhebung der Lernerfolge innerhalb der Paarberatung, die im Alltagsleben angekommen sind. Damit positioniert sie sich als eine Person, die die Veränderungen, die im Erstgespräch dargelegt und in den weiteren Sitzungen bearbeitet wurden, nicht wahrnimmt. Ihre Bewertung lautet, dass die Paarberatung bis jetzt keine längerfristigen positiven Veränderungen gebracht habe. Sie distanziert sich somit davon, dass dies hier die Struktur des Anfangs eines Letztgesprächs, d. h. der Hervorhebung der positiven Veränderungen, sein soll. Frau Brandt-Ziegler setzt sich einer Verabschiedung mit einer positiven Darstellung entgegen. Herr Wahlenburg beruft sich augenblicklich wieder darauf. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die Berater*innen haben die Möglichkeit, entweder die festgelegte Struktur weiterzuverfolgen oder sich auf die Veränderung durch Frau Brandt-Ziegler einzulassen. Herr Wahlenburg verdeutlicht die erste von beiden Optionen und geht nicht auf das Angebot von Frau Brandt-Ziegler ein. Er unterstreicht das »wir« von Frau Rosten und nimmt ihre Strukturierungsleistung auf. Indem wörtlich die Frage wiederholt und die Formulierung beibehalten wird, zeigt sich eine Strukturierungshierarchie. Die Struktur scheint hier für Frau Brandt-Ziegler nicht verhandelbar. Das Paar soll reflektieren, was sich positiv entwickelt hat und im Alltag wahrgenommen wurde. Frau Brandt-Ziegler wird damit in der Mitgestaltung begrenzt und an die vorgegebene Struktur erinnert. Sie wird damit als eine Person konstruiert, die ihren Blick erst vom Negativen abwenden muss, um die positiven Veränderungen sehen zu können. Sie wird damit in ihren Vorstellungen darüber, was noch weiterbearbeitet werden soll, limitiert. Eine weitere Problemexplikation neben der Darstellung des Lernerfolgs in Verbindung mit positiven Veränderungen hat hier keinen Platz. Von beiden Berater*innen wird an der Vorstrukturierung festgehalten. Gleichzeitig positioniert sich Herr Wahlenburg, indem er die Frage wörtlich wiederholt, in einer eingespielten und funktionierenden Dyade mit Frau Rosten. Frau Brandt-Ziegler: Was war gut? ((Max läuft zur Tür)) Herr Wahlenburg: Mhm, wir haben [nicht gefragt »Wie viel?« Herr Ziegler: Max, bleib bitte hier.] (1) ((Max verlässt den Raum)) Frau Brandt-Ziegler: Na wir haben erfolgreich (1) die Kaufaktion mit dem (---) neuen Auto abgeschlossen gemeinsam und haben uns da in der Verhandlung ganz gut geschlagen. ((Herr Ziegler: Mhm)) (2). Frau Brandt-Ziegler geht nun auf die Aufforderung ein und wiederholt die Frage. Jetzt haben drei der vier anwesenden Personen die Frage ausgesprochen. Durch das Selbststellen der Frage gewinnt sie an Mitgestaltungspotenzial und positioniert sich als Mitwirkende. Indem sie die Struktur sich selbst vorgibt, distanziert sie sich zugleich von der vorgegebenen Struktur der Berater*innen. Sie präsentiert sich nun von sich aus als lösungsbehaftet (und nicht problembehaftet). Ihr Agieren als Strukturgebende verdeutlicht das Changieren zwischen Co-Beraterin und Adressatin. Ihre Ausführung hinsichtlich dessen, was gut funktioniert hat, bezieht sich auf einen organisatorischen Punkt. Die Organisation von Alltag auf der Handlungsebene scheint für sie gut gelaufen zu sein. Die Abwicklung gemeinsamer organisatorischer Belange hat geklappt. Es wird nicht auf etwas Positives innerhalb der emotionalen Beziehung/Kommunikation des Paars fokussiert. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Es lässt sich festhalten, dass eine Aushandlung der Beratungsstruktur zwischen der Berater*innendyade und Frau Brandt-Ziegler erfolgt, bei der die Vorgabe der Berater*innen nach einem kurzen Aushandlungsprozess handlungsleitend wird. Frau Brandt-Ziegler präsentiert sich somit als Adressatin dieser Paarberatung und beantwortet die WWG-Frage. Der Fokus liegt damit nicht mehr auf der Problemexplikation oder der Herstellung des gemeinsamen Anliegens, sondern auf Lösungsperspektiven und der Betonung des Positiven. Frau Brandt-Ziegler distanziert sich von der Struktur des letzten Gesprächs und präsentiert sich als Adressatin, die Probleme exploriert, an denen weiter (und somit weiterführend in anschließenden Gesprächen) gearbeitet werden sollte. Da diese Möglichkeit von den Berater*innen begrenzt wird, erfolgt eine Distanzierung von der Frage und von dem Setting. Sie positioniert sich einerseits als Adressatin, die der Aufforderung nachkommt und gleichzeitig einen Moment der Mitgestaltung für sich als Co-Beraterin schafft. Die Mitwirkung wird da­ rauf eingegrenzt, inwieweit vorab entwickelte Lösungen/Ideen umgesetzt wurden und zu einer Verbesserung der Beziehungsqualität geführt haben. Dabei orientiert sich Frau Brandt-Ziegler an einer alltäglichen Situation und daran, wie diese auf der Handlungsebene gemeistert wurde. Die Verbesserung der Beziehung des Paars wird dabei außen vorgelassen. Vom Berater*innenteam wird die Orientierung an einer Dyade vorausgesetzt. Die im Erstgespräch erst hergestellte Orientierung am Paar ist längst verinnerlicht. Wie sich im weiteren Verlauf das Ringen um die Struktur und potenziell geeignete Lösungen entwickelt, wird in der nächsten rekonstruierten Szene dargestellt. Vorab erfolgt eine kurze Darstellung des Verlaufs bis dahin. Auf eine Frage von Herrn Wahlenburg hin verdeutlicht Frau Brandt-Ziegler, dass sich nicht bewusst Zeit genommen wurde zu erzählen, was gut gelaufen sei. Hier bleibt das negative Beantworten der Frage auf der Beziehungsebene bestehen. Frau Rosten stellt eine ähnliche Frage nun Herrn Ziegler (»Was war für Sie gut?« [N001_06, Z. 48]), der bei seiner Antwort hervorhebt, dass er, wie in den letzten Sitzungen erarbeitet, etwas für sich gemacht habe (mit Freunden). Herr Ziegler zeigt an, dass er die in der Sitzung entwickelten Ideen angenommen und umgesetzt hat. Dies bleibt Thema, denn sowohl Herr Wah­ lenburg als auch Frau Rosten konkretisieren mit Fragen, wann er sich das nächste Mal wieder Zeit für sich nehmen würde und welche Umstände er dafür benötige. Herr Ziegler antwortet konkret mit Ideen, wie »abends mal laufen gehen oder so« (N001_06, Z. 73–74). Nachdem ein Termin dafür gefunden wurde, beziehen sich die Berater*innen explizit auf die letzte Sitzung, in der das Familienbrett (Ludewig, 1983; Ludewig & Wilken, 2000) genutzt wurde, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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und fragen nach den »Nachwirkungen« (N001_06, Z. 91). Da Frau BrandtZiegler und Herr Ziegler sich nicht außerhalb der Beratung über die Nachwirkungen des Familienbretts ausgetauscht haben, stellt Frau Rosten nun diesen Raum zur Verfügung. Frau Brandt-Ziegler positioniert sich in der Antwort darauf als problembehaftet, da die äußeren Umstände, die sie in der ersten Sitzung schon deutlich machte, sie immer noch belasten. Überdies stellt sie heraus, dass sie noch hilfebedürftig sei (»Und dazu müsste ich normalerweise gucken, wie wir unsere eigenen Ressourcen besser nutzen, (---) aber das kriege ich irgendwie nicht hin« [N001_06, Z. 193–195]). Als Idee nennt sie selbst, dass eine Liste mit allen Verpflichtungen angefertigt werden solle, um dann die unnötigen zu streichen. Jedoch sieht sie sich selbst nicht in der Lage, dies zu tun (»Das ist bei mir so ʼn generelles Problem, glaube ich auch, ich mülle mich immer mit ganz vielen Dingen zu, um dann zu merken, ist viel zu viel« [N001_06, Z. 209–211]). Darauf folgt die nächste rekonstruierte Sequenz. Während dieser Zeit ist Max, der jüngste Sohn, immer noch anwesend. Die Berater*innen stellen fortwährend Fragen und gehen nicht auf Äußerungen von Max ein. Die Fokussierung der Partner*innen auf Probleme und die Aushandlung der Struktur dieser Paarberatung zeigt sich in der nächsten rekonstruierten Sequenz. 5.1.3.2 Versuch der Lösungsfokussierung nach Problemexplikation

Wie in der Rekonstruktion des Erstgesprächs wird auf die bisherigen Ergebnisse der vorab rekonstruierten Eingangssequenz Bezug genommen und eine Sequenz rekonstruiert, in der sich das zu beratende Paar hinsichtlich einer Frage der Beraterin in einer Interaktion befindet.  rau Rosten: Ja, aber das könnte ja hier ʼn erster Schritt sein, zu überlegen, F was die ersten drei Dinge sind, die Sie miteinander verabschieden, (---) ja? Um mehr Raum zu gewinnen. Aufeinander zu, miteinander, füreinander. (2) Nutzen Sie das, der Alltag holt Sie schnell genug wieder ein. (2) Wie in der zuvor rekonstruierten Sequenz wird eine Positivkonnotation erwartet von etwas, das das Paar »miteinander verabschieden« solle. Das Wort »verabschieden« deutet eher auf eine formale Sprache, die darauf verweist, dass hier eine Orientierung an einem Minimalkonsens stattfinden sollte. Dieser Minimalkonsens wird als symbolischer Akt deklariert. Wenn es gelingt, sich auf einen Minimalkonsens zu einigen, dann ist eine Form der Lösung, wie von den Berater*innen fokussiert, gefunden. Die Partner*innen werden als Paar © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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angesprochen, das grundlegende Aspekte klären muss, um zusammenzubleiben und sich nicht zu »verabschieden«. Das Finden der drei Dinge wird als etwas Positives und als Minimalkonsens im vertraglichen Sinne konnotiert, das der Lösungsentwicklung dienen könnte. Die konditionale Formulierung »könnte« eröffnet den Raum, innerhalb dieser Beratung darüber nachzudenken. Während im ersten Teil vor allem exploriert werden soll, was Positives zwischen den Sitzungen stattgefunden hat und welche in den Sitzungen entwickelten Lösungen auf der Handlungsebene umgesetzt wurden, wird hier wieder die Reflexionsebene angesprochen. Die Lösung, die im ersten Teil nicht in der emotionalen Beziehung des Paars verortet wurde, wird hier auf genau diese Ebene bezogen und soll Thema der letzten Beratung werden. Es geht hier nicht um die Evaluation der Umsetzung, sondern eine Verschiebung der Lösung von der Handlungs- auf die Reflexionsebene. Der positive Blick mit einer positiven Evaluation bleibt bestehen. Die Evaluation tritt hier in den Hintergrund, das Finden des positiv konnotierten Minimalkonsenses auf der Paarebene in den Vordergrund. Dabei scheint es krisenhaft, einen Minimalkonsens zu finden. Frau Rosten bezieht in ihre Lösungsstrategie wieder beide »miteinander« ein. Das Paar wird angesprochen als Akteur, der eine Lösung entwickelt und umsetzt. Dies wird jedoch als die größte Herausforderung gerahmt. Das Aufrechterhalten der dominanten Orientierung an Lösungen und der Evaluation positiver Veränderungen durch die Paarberatung auf der Handlungs- und Reflexionsebene scheint in der letzten Sitzung prekär. Gleichzeitig wird das Paar als hilfebedürftig positioniert, sodass es die letzte Sitzung für das Finden dieser Lösungen noch nutzen sollte. Der Sprechakt scheint weniger auf das Paar personalisiert, sondern fallunspezifisch formuliert. Es geht dabei weniger um eine konkrete Krisenbewältigung, sondern um die Veränderung einer Sichtweise. Das Beratungsgespräch zeigt sich hier nicht gesprächsförmig, hier stellt die Beraterin eine Aufgabe, die nun erledigt werden soll. Die drei Dinge bilden eine konkrete Sache, die mit nach Hause genommen werden kann. Die fallunspezifische Formulierung kristallisiert heraus, dass eine Problemexplikation mit intensiver Lösungsentwicklung bei der letzten Sitzung nicht mehr erfolgt, auch wenn das Paar sich als problembehaftet darstellt. Als Lösung kann hier bereitgehalten werden, dass ein Erkennen und ein Hervorrufen des bereits Herausgearbeiteten stattfinden. Eine intensive Erarbeitung des Minimalkonsenses wird nicht als Raum eröffnet.  err Ziegler: Ja, wir nutzen die Zeit weiter dafür, zu gucken, was ist gemacht H und äh (---) beziehungsweise wie ist es gemacht. (.) Was hat der andere nicht gemacht. (.) Wie hat der andere jetzt was blöd gesagt und so. Also mich nervt © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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das jetzt übelst und ich hab’ da auch kein Bock mehr drauf. Entweder kriegen wir das jetzt gebraten, mal ʼn Plan zu machen, (.) vielleicht einmal die Woche, aber (1) wir halten uns ja nur an Sachen fest, die eigentlich Nebensache sind, unwichtig sind. Herr Ziegler thematisiert das Aufeinanderzugehen als Problemformulierung. Seine Aussage ist nicht zukunftsorientiert, wie eigentlich in der Frage angelegt, sondern der Blick richtet sich auf die Vergangenheit. Er widersetzt sich dem Auftrag von Frau Rosten. Herr Ziegler positioniert sich und das Paar weiterhin als Hilfesuchende, die den Alltagsstress nicht bewältigen können. Hier wird die Gegenwart der Beziehung, aber auch die Gegenwart in diesem Setting angesprochen (»jetzt«). Somit wird auch eine Kritik an der bisher stattgefundenen Beratung und den dezidierten Lösungen, die im Alltag nicht umsetzbar zu sein scheinen, formuliert. Herr Ziegler deutet darauf hin, dass schon die ganze Zeit darauf geschaut wird und kein Fortkommen in den von ihm als bedeutend erachteten Punkten erreicht wurde (Organisation des Alltags). Die Kritik ist somit auch auf die Beratungssituation bezogen. Die Nützlichkeit der bisherigen Paarberatung wird als nicht sichtbar dargestellt. Das »Jetzt« deutet auf die Dringlichkeit und das Bewusstsein darüber, dass es sich um die letzte Sitzung der Paarberatung handle. Herr Ziegler verdeutlich mit »wir halten uns ja nur an Sachen fest« das Vorhandensein starrer Routinen. Er stellt hier Frau Brandt-Ziegler die Frage (das Ultimatum), dass sie, wenn sie das bisherige Leben möchte, nun bestimmte Vorstellungen aufgeben müsse und nicht daran »festhalten« könne. Seine pragmatische Lösung ist die Fokussierung auf einen Plan auf der Handlungsebene. Die Reflexionsebene, verbunden mit dem Finden eines Minimalkonsenses, wird damit als weniger wichtig deklariert. Das Verharren auf der Reflexionsebene und auf dem »Wie« der Kommunikation wird von Herrn Ziegler negativ bewertet (»Wie hat der andere jetzt was blöd gesagt«). Es bedarf nun einer Lösung auf der Handlungsebene (»mal ʼn Plan zu machen«). Er positioniert sich damit einerseits als Adressat dieser Paarberatung, andererseits auch als Co-Berater sowie als Kenner der Lösung, der Frau Brandt-Ziegler folgen soll. Somit erfolgt ein Negieren des vorab Bearbeiteten bzw. Thematisierten in diesem Setting, das zu »Nebensachen« degradiert wird. Herr Ziegler lässt seine Frau hören, wie er negativ über den Beziehungsalltag spricht, und geht damit eine indirekte Konfrontation ein. Er positioniert seine Frau zugleich als Adressatin einer Problemlösung. Frau Brandt-Ziegler: Die für dich unwichtig sind. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Brandt-Ziegler spricht nun direkt Herrn Ziegler an (»dich«) und weist den Versuch, die Nebensachen als unwichtig in einem »Wir« zu verorten, zurück. Frau Rosten wird nicht angesprochen und auch kein Bezug zum Minimalkonsens genommen. Die Absage erfolgt hinsichtlich der Lösungsidee von Herrn Ziegler. Die Lösungsfokussierung von Herrn Ziegler wird nicht angenommen. Unterschiedliche Gewichtungen der Probleme des Paars und deren Lösungen (eher auf der Handlungsebene oder in der Kommunikation) treten hier zutage. Kein Minimalkonsens wird hier in den Blick genommen, sondern eine Aushandlung darüber, welches Anliegen hier nun geklärt werden soll. Für Frau Brandt-Ziegler scheinen nicht die organisatorischen Abstimmungsschwierigkeiten im Vordergrund zu stehen, zumal sie diese in der vorherigen Rekonstruktion als »gut gelaufen« bewertet hat. Herrn Zieglers Anliegen, sie zur Hauptadressatin der Beratung zu machen, wird abgelehnt und zurückgespielt. Herr Ziegler wird als Adressat wieder in die Beratung von Frau Brandt-Ziegler geholt. Einem Minimalkonsens wird auch von ihr eine Absage erteilt. Der Veränderungsbedarf wird an Herrn Ziegler festgemacht und er somit erneut als Hauptadressat dieser Beratung hergestellt. Das Paar zeigt sich in dieser rekonstruierten Sequenz durch die akute Problemexplikation noch einmal innerhalb der Dyade als problembehaftet. Der Unterschied ist, dass Herr Ziegler die Lösung auf der Handlungsebene verortet (»Plan zu machen«), während Frau Brandt-Ziegler an der Verbesserung der Kommunikation durch Reflexion festhält. Einigkeit scheint beim Paar darüber zu bestehen, dass noch keine passenden Lösungen für den Alltag gefunden wurden. Dies steht konträr zur offerierten Struktur der Berater*innen, Positives und Erreichtes zu explizieren. Während die Berater*innen das bisher Bearbeitete thematisieren und eine Reflexionsebene anstreben, zielt Herr Ziegler auf eine pragmatische Lösung ab. Er spricht damit eine Veränderung auf der Handlungsebene an, die Frau Brandt-Ziegler wesentlich vornehmen soll. Reflexion und bisher Bearbeitetes genügen seinen Zielvorstellungen der Paarberatung demnach nicht. Herr Ziegler nimmt die Rolle eines Mitgestalters ein, indem er eine Lösung auf der Handlungsebene vorschlägt. Gleichzeitig stellt dies ein Ultimatum an seine Frau dar, das diese zurückweist. Die Partner*innen verdeutlichen eine differente Problemexplikation. Es steht im Raum, was das Problem sein und anlässlich der letzten Sitzung behandelt werden soll (von den Partner*innen), während die Berater*innen den Raum der Aushandlung dafür stark begrenzen. Das Paar widersetzt sich dieser Ausrichtung auf Lösungen und Positives innerhalb der Paarbeziehung. Um zu rekonstruieren, worauf sich die Berater*innen nach den differenten Problemexplikationen berufen und wie das Paar sich dazu positioniert, wird eine weitere Sequenz herangezogen. Dazwischen passiert folgendes: © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Rosten fragt: »Was könnten Musterunterbrechungen sein? Dessen was Sie grade geschildert haben?« (N001_06, Z. 233), was nicht beantwortet wird. Das Streitgespräch zwischen dem Paar geht weiter und wird von den Berater*innen circa fünf Minuten laufen gelassen, bis es Herr Wahlenburg mit einer Erklärung aus einer vorherigen Sitzung beendet. Dabei transportiert er die Lösung, die er schon im Erstgespräch benannt hat: »[W]o gibt es Möglichkeiten, den den Akku aufzuladen, wo gibt’s Möglichkeiten, Freiräume zu schaffen, erst mal für jeden alleine und dann zusammen« (N001_06, Z. 313–314). Frau Brandt-Ziegler verdeutlicht, dass sie sich in letzter Zeit sehr gut um sich selbst gekümmert habe, dies jedoch mit schlechtem Gewissen (»Ich kümmer mich mehr um mich als du dich um dich. Damit fühle ich mich schlecht. (---) Aber ich kann nichts dagegen tun, weil ich kann’s dir nicht verordnen, dich um dich zu kümmern« [N001_06, Z. 357–359]). Nicht nur stellt sie sich hier als Person dar, die Lösungen umsetzt, gleichzeitig positioniert sie ihren Mann wieder als Hauptadressaten dieser Paarberatung – ähnlich wie in der ersten Sitzung. Im Unterschied dazu zeigt sie sich hier weniger als Co-Beratende, sondern als sich weiterentwickelnde und Aufgaben erfüllende Ratsuchende und eröffnet damit eine Differenz zu ihrem Mann. Bevor sie die Antwort von ihrem Mann hören kann, verlässt Frau Brandt-Ziegler den Raum, um mit der Person zu telefonieren, die Max zeitnah abholen soll und dies einige Zeit später auch tut. Herr Ziegler differenziert, er habe das Verhalten seiner Frau zum Anlass genommen, um auch zu schauen, was gut für ihn sei – und »das ist mir auch eben da teilweise gelungen« (N001_06, Z. 371). Frau Rosten hält weiterhin an der Lösungs- und Zielfokussiertheit fest, indem sie fragt: »­[ W]ie gelingt es Ihnen, mehr davon zu machen?« (N001_06, Z. 388). Die Sitzung wird nun wieder von den Problembeschreibungen von Herrn Ziegler und Frau Brandt-Ziegler dominiert, die verdeutlichen, weshalb es nicht geht. Herr Ziegler bezieht sich dabei auf Haushalt, Alltag und Kosten, die hinderlich sind (»das ist ja nun meistens immer mit Kosten verbunden« [N001_06, Z. 394]). Frau Brandt-Ziegler bezieht sich auf die Kommunikation zwischen den beiden und die emotionalen Befindlichkeiten beider und äußert, sich von ihm nicht wahrgenommen zu fühlen (»ich hab’ das Gefühl, dass ich (1) oder dass wir im Moment völlig aneinander vorbeireden. Ich sage, mir geht’s scheiße, nimm mich in den Arm, und Stefan sagt, ich kann nicht. Und Stefan sagt, mir geht’s scheiße, lass mich in Ruhe. Und ich sag, ich kann nicht« [N001_06, Z. 436–439]). Herr Wahlenburg knüpft daran an und fragt beide jeweils, ob diese Verhaltensweisen von früher aus der Kindheit bekannt seien. Frau Rosten deutet es so, dass »die Sprache der Liebe des anderen« (N001_06, Z. 536–537) vom Gegenüber noch nicht immer verstanden werde (»wenn Sie © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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beide (.) von Ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen auch berichten (---) und das könnte ʼne Erklärung sein, dass Sie eben (.) diese Sprache noch nicht verstehen können, weil eben einfach zu viel noch- (.) viel zu viel davorsteht« [N001_06, Z. 541–543]). Danach macht Herr Wahlenburg das Thema auf, wie mit gegenseitiger Wertschätzung umgegangen wird und stellt dabei fest: »[E]s geht hier ganz, ganz klar um Wertschätzung. (---) Und (1) ähm (---) Sie beiden machen wahnsinnig viel (1) und schauen aber scheinbar im Moment (.) auf all die Dinge, die nicht funktionieren, (1) ja? Und (1) Sie ermöglichen sich eigentlich (.) ʼne ganze Menge, ja?« (N001_06, Z. 558–562). Daraufhin erklärt er, dieses Verhalten Herrn Zieglers rühre von einem Muster aus der Kindheit her, und kommt zum Schluss, dass »nach Abschluss dieser Situation hier an dem heutigen Tag vielleicht nochmal ʼne Hilfe suchen (.) mit ʼn bisschen Abstand, wo Sie einfach gucken, (---) wie können Sie diese (1) Wertschätzung für sich« (N001_06, Z. 604–607). Und »ich glaube, Sie brauchen dafür Unterstützung. (2) Über dieses Projekt hinaus, denke ich mal. Und vielleicht wird’s Ihnen auch guttun, dass Sie da nicht sozusagen hier ((bewegt die Hände in der Luft)) in so ʼner Situation sind« (N001_06, Z. 620–623). Frau Rosten knüpft daran mit »praktische[n] Ideen« (N001_06, Z. 623) an und erzählt die Geschichte des Manns, der sich Bohnen von der einen Hosentasche in die andere packt, wenn er Dinge wertschätzen kann. Frau Rosten fordert das Paar dann auf zu benennen: »Wofür hätten Sie schon heute eine Bohne von rechts nach links gepackt?« (N001_06, Z. 658). Das Paar benennt einige Situationen und Frau Rosten verdeutlicht, dass Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler ihre gegenseitige Wahrnehmung und Wertschätzung selbst verändern können (»es liegt in Ihren Händen, daran was zu verändern« [N001_06, Z. 686–687]). Herr Ziegler merkt an, dass es für ihn hart sei, auf Arbeit den Umgang mit Menschen gut hinzubekommen, aber zu Hause nicht. Es folgt ein kurzes Gespräch mit den Berater*innen darüber, das damit abschließt, dass Herr Wahlenburg die alten Muster und deren Auswirkungen anmerkt (»und Sie aber unterschiedliche Muster (1) gelernt haben, damit klarzukommen« [N001_06, Z. 744–745]). Frau Rosten schlägt vor, sich »gegenseitig als Übende oder als Trainierende an der Stelle (1) beobachten und auch betrachten [zu] können« (N001_06, Z. 748), und bescheinigt den beiden, mitten in der Arbeit an der Beziehung zu stecken. Daraufhin interveniert Frau Brandt-Ziegler und verdeutlicht, es leid zu sein, immer wieder Vorschläge zu machen. Sie habe ein Buch über Alltagskommunikation gelesen und viel dabei gelernt, möchte dies aber nicht anwenden (»ich hab’ (---) das Gefühl gehabt, nachdem ich das Buch gelesen hab’, (.) ich hab’ da jetzt ʼn ganz wertvollen Schlüssel in der Hand, (1) aber ich könnt’n wegschmeißen. (1) Ich will den nicht benutzen« [N001_06, Z. 773– © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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776]). Es entspinnt sich ein Gespräch darüber, welche »Sprache der Liebe« (Frau Rosten, N001_06, Z. 791) Herr Ziegler spreche. Daran schließt die nächste rekonstruierte Sequenz an, die verdeutlicht, dass die Berater*innen an der Struktur des Hervorhebens von bereits positiven Veränderungen festhalten. 5.1.3.3 Festhalten an der Lösungsfokussierung

Die nächste rekonstruierte Sequenz fand im letzten Drittel der Sitzung (50. Minute) statt. Zu dieser Zeit war Max schon einige Zeit nicht mehr anwesend. Herr Ziegler verdeutlicht, dass er auch gerade das Buch über Alltagskommunikation lese, aber nicht in dem Tempo wie Frau Brandt-Ziegler. Daraufhin entspinnt sich folgender Dialog. Frau Rosten: Ja, aber bei der Sache würde ich jetzt einfach mal würdigen wollen, dass Sie ((zu Herrn Ziegler)) es überhaupt (---) angefangen haben. So, also wie ist das für Sie ((zu Frau Brandt-Ziegler)), we- dass Ihr Mann damit angefangen hat? [Ist daDas »Ja« bestätigt etwas Vorangegangenes, das durch das »aber« wieder eingegrenzt bzw. korrigiert wird. Es muss noch etwas hinzugefügt bzw. verändert werden am vorherigen Sprechakt. Er kann nicht so stehen gelassen werden und eine Korrektur des Inhalts muss aus der Perspektive von Frau Rosten erfolgen. Die Formulierung »würdigen wollen« ist eine Ankündigung einer Würdigung, keine tatsächlich realisierte. Eine Lesart könnte darauf hindeuten, dass es sich noch um einen Abstimmungsprozess handelt, in dem noch geklärt wird, inwieweit dies zu würdigen sei. Dies ist dann noch abhängig von den Sichtweisen und Meinungen der anderen Beteiligten. Frau Rosten arbeitet darauf hin, dass Frau Brandt-Ziegler dieser Würdigung zustimmt. Gleichzeitig wird mit diesem Sprechakt eine Richtung vorgegeben, bei der eine deutliche Gegenmeinung einen hohen Begründungsaufwand mit sich ziehen würde. »Die Sache«, d. h. das Anfangen des Buchs, wird von Frau Rosten als anerkennungswert gerahmt. »Einfach mal würdigen wollen« deutet nun darauf hin, dass die Anerkennung aus Perspektive von Frau Rosten in dem Vorherigen nicht den gewünschten Raum eingenommen hat. Die zu Beginn offerierte Vorstrukturierung mithilfe der Hervorhebung des erreichten Positiven wird hier bekräftigt. Das minimale Einbringen bzw. Anfangen wird hervorgehoben und gleichzeitig verdeutlicht, dass es sich um eine Minimalforderung handelt. Herr Ziegler wird durch diese Ansprache, dass der Minimalanforderung entsprochen wurde und © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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diese gewürdigt werde, infantilisiert. »Ihr Mann« verweist auf das relationale Beziehungsverhältnis zu Frau Brandt-Ziegler. Er wird in Bezug zu ihr gesetzt, nicht nur in der partnerschaftlichen Beziehung, sondern auch hinsichtlich der geschlechtlichen Relation. Durch das Würdigen des Anfangens wird schon der Minimalkonsens als zunächst ausreichend (für einen Mann) definiert. Als Ziel steht nicht die gleichberechtigte emotionale Arbeit. Beide arbeiten daran, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Dies soll erkannt und gewürdigt werden. Für die emotionale Arbeit an der Beziehung wird Frau Brandt-Ziegler in die vordergründige Verantwortung gebracht. Es wird nun nach einer Wertung gefragt (»Wie ist das für Sie«) und eine Antwort eingefordert, die sich auf eine positive Emotions- und Gefühlsebene bezieht. Frau Brandt-Ziegler: Das ist gut,] [(na   ) Frau Rosten: Ist das etwas], wo Sie sagen (.) können, okay, dann warte ich halt nochmal (.) zehn Wochen vielleicht. ((Frau Brandt-Ziegler: Ja)) ((lacht kurz leise)) Keine Ahnung, ob das realistisch ist. Frau Brandt-Ziegler geht auf die Aufforderung von Frau Rosten ein und nimmt eine positive Evaluierung vor. Sie folgt der von Frau Rosten angebotenen Struktur. Es handelt sich um eine allgemeine Bestätigung der Aussage von Frau Rosten und somit um eine unkonkrete Bewertung seitens Frau Brandt-Zieglers. Das »das« kann entweder »die Sache würdigen« oder sich auf das »Anfangen« beziehen. Die positive Bewertung gilt nicht dem Mann, sondern der Sache – ein Buch zu lesen beginnen. Auf den Sprechakt bezogen verdeutlicht »gut«, dass zwar eine positive Bewertung erfolgt, aber noch Verbesserungsbedarf und Optimierungspotenzial besteht. Herr Ziegler wird von Frau Brandt-Ziegler so zu einem Objekt ihrer Vorstellung gemacht. Die Sache ist noch nicht abgeschlossen, das Anfangen ist noch nicht zu Ende deklariert, sondern weiterer Handlungsbedarf wird angetragen. Da Frau Rosten Frau Brandt-Ziegler unterbricht, kommt es zu keiner weiteren Ausformulierung. Das deutet darauf hin, dass der Sprechakt für den weiteren Verlauf nicht notwendig gewesen wäre. Der von Frau Rosten aufgemachte Handlungszwang, dem Frau Brandt-Ziegler folgt, scheint obsolet zu sein. Es geht weniger um ein Einholen von Responsivität, sondern um das Mitteilen von positivem Erreichten. Eine Bewertung oder Einschätzung von Frau BrandtZiegler wird hier nicht fokussiert. Im Sprechakt von Frau Rosten wird ein Ungleichgewicht bezüglich des Wissenstands des Paars deutlich. Dies soll gelöst werden, indem sich Frau Brandt-Ziegler zurücknimmt und ihrem Mann Zeit gibt. Der Blick auf die posi© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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tive Veränderung wird wiederhergestellt, indem Frau Brandt-Ziegler das Tempo ihres Manns anerkennt. Herr Ziegler wird hier schon als jemand angesprochen, der sich auch zum Thema Partnerschaft und Kommunikation weiterbilden möchte. Frau Brandt-Ziegler wird von Frau Rosten als Person konstruiert, die den Umgang ändern bzw. zunächst ausharren muss. Der veränderte Umgang soll bei Frau Brandt-Ziegler zu einer Lösung des Problems führen. Dafür soll Frau Brandt-Ziegler ihre Erwartungen mehr zurücknehmen. Die Einstellung zum Verhalten des anderen soll geändert werden. Die Lösung liegt nicht darin, das Handeln zu ändern, sondern die Reflexionsebene umzugestalten. Dies wird wieder an die Frau als Hauptverantwortliche für die emotionale Arbeit innerhalb der Beziehung herangetragen. Die Adressat*innen werden damit konfrontiert, dass in einer Beziehung Kompromisse und Anerkennung des Gegenübers notwendig sind. Frau Rosten unterstellt dabei, dass sie schon positive Veränderungen sehen bzw. wahrnehmen könnten, wenn sie wollten. Nicht die Situation selbst muss verändert werden, sondern die Sicht darauf. Sie spricht gleichzeitig das Paar darauf an, dass es noch an diesem positiven Wahrnehmen arbeiten müsse. Frau Brandt-Ziegler wird dahingehend aufgefordert, die bisherigen und unterstellten kommenden Änderungen mehr zu würdigen. Das Erarbeiten neuer Handlungsroutinen, wie einen Plan erstellen, wird nicht aufgegriffen. Es gehe nicht um Veränderung auf der Handlungsebene, sondern um ein Bewusstmachen des bereits vorhandenen Positiven.  rau Brandt-Ziegler: Ja, ich versuch’ mich halt so lange (.) über Wasser zu F halten. Herr Wahlenburg: Ja, [hmFrau Brandt-Ziegler: Bis] er mal kommt und sagt, du, jetzt bin ich an dem Punkt. (1) Herr Wahlenburg: Bis er kommt. (1) Frau Brandt-Ziegler: Das ist so lange. Wissen [Sie, wie so ʼn Angelhaken wiegt? Herr Wahlenburg: Verstehen Sie den Unterschied?] (1) Ja? Verstehen Siehaben Sie grade (---) gemerkt, ich hab’ ein Wort (.) weggelassen? (2) Ich habe gesagt, bis er kommt. (1) Das macht ʼn Unterschied. (4) Die in Form einer Anstrengung, eines Kraftaufwands benötigte Ausdauer wird hervorgehoben. Ein Leidensdruck und dessen Dringlichkeit werden betont. Auf den Leidensdruck wird von Herrn Wahlenburg insofern eingegangen, als er durch das Weglassen von »mal« unterstellt, dass Herr Ziegler eine Änderung vornehmen wird. Damit wird Kritik an der von Frau Brandt-Ziegler vor© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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getragenen Dringlichkeit geübt: Sie soll noch länger warten – es aushalten –, dann wird ihr Mann eine Veränderung von sich aus vornehmen. Das »mal« stellt eher die Ausnahme Frau Brandt-Zieglers dar, dass Herr Ziegler weder Veränderungswunsch noch -vermögen habe. Frau Brandt-Ziegler wird durch Herrn Wahlenburg in die Position gesetzt, an der Problemlösung insofern aktiv teilzunehmen, als sie länger warten und davon ausgehen soll, dass Herr Ziegler ihr eine positive Veränderung präsentieren wird. Herr Wahlenburg macht Frau Brandt-Ziegler zur Adressatin der Beratung. Auf die von Frau Brandt-Ziegler eingeführte Dringlichkeit und die angedeutete zeitliche Begrenzung des Wartens wird nicht explizit eingegangen. Die immanente Trennungsoption (bzw. ein »Dann-nicht-mehr-Warten«) findet keine Resonanz, es erfolgt stattdessen die Anweisung von Herrn Wahlenburg, weiter zu warten, mit der Unterstellung, dass Herr Ziegler reagieren wird. Zusammengefasst wird innerhalb der letzten Sitzung am positiven Erreichten festgehalten und weniger neue Problemexplikationen aufgemacht. Ein Erarbeiten neuer Lösungsmöglichkeiten steht nicht zur Debatte, sondern das Wahrnehmen und Reflektieren bisheriger positiver Veränderungen. Dabei wird Einigkeit unter allen Teilnehmenden hergestellt, dass es weiterer Übung bedarf, nicht den Mangel, sondern die Erfolge zu betonen. Die Berater*innen würdigen bereits das Anfangen und definieren den von Herrn Ziegler angebotenen Minimalkonsens als zunächst ausreichend. Als Ziel steht nicht die gleichberechtigte emotionale Arbeit, sondern das positive Wertschätzen der Minimalanstrengung Herrn Zieglers. Frau Brandt-Ziegler wird als Hauptadressatin angesprochen und die emotionale Arbeit an der Beziehung in ihre Verantwortung gelegt. Daraufhin folgt eine fast zehnminütige Sequenz, in der Herr Wahlenburg seine Metapher ausformuliert und er und Frau Rosten zu dem Paar sprechen und es anregen, die kleinen Dinge im Alltag gegenseitig zu würdigen. Der Redeanteil innerhalb der Beratung hat sich nun gewendet, da Frau Brandt-Ziegler und Herr Ziegler immer weniger beitragen. Herr Wahlenburg stellt die Wunderfrage (»[W]enn Sie morgen aufwachen (---) und es hat sich ʼne sehr positive Veränderung in Ihrer (.) Situation als Paar und als Familie ergeben, woran würden Sie das als Erstes erkennen?« [N001_06, Z. 968–970]), die von beiden ausführlich beantwortet wird. Frau Rosten leitet daraufhin eine Evaluationsfrage ein: »Wir haben uns jetzt ungefähr ʼn halbes Jahr getroffen, (1) wo stehen Sie jetzt, was sind (---) Ihre nächsten Schritte, die Sie gehen möchten? (1) Die jeder (.) für sich gehen möchte, aber die Sie vor allem auch gemeinsam gehen möchten? (7) Was ist Ihnen (.) wichtig geworden bis heute?« (N001_06, Z. 1056–1059). Beide beantworten die Frage, wobei Frau Brandt© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Ziegler bedauere, dass im Alltag noch nicht viel angekommen sei bzw. sie die kleinen Veränderungen nicht wahrnehme. Daraufhin entspinnt sich ein Gespräch, in dem Herr Ziegler diesen auf ihm lastenden »Erwartungsdruck« (N001_06, Z. 1111) kritisch bewertet. Frau Rosten und Herr Wahlenburg plädieren dafür, sich als Trainierende und Lernende (»Wir sind alles Lernende.« N001_06, Z. 1145) zu verstehen. Daraufhin wird das letzte Mal das Reflecting Team durchgeführt. Nach dem Reflecting Team findet folgende rekonstruierte Sequenz statt, die verdeutlicht, wie die Konstruktion als Adressat*innen über diese Paarberatung hinaus erfolgt. 5.1.3.4 Entlassen aus der Paarberatung

Wie beim Erstgespräch theoretisch erörtert, folgt eine Rekonstruktion der Schließungssequenz. Daher wird eine Textstelle interpretiert, die nach dem Reflecting Team stattfindet und das Beenden der Paarberatung thematisiert.  rau Rosten: Ja, in dieser Konstellation war das ja heute tatsächlich die letzte F Sitzung, das ist mir noch wichtig zu sagen, weil äh Herr Wahlenburg dann (.) eben auch gar nicht mehr zur Verfügung steht ähm (---) terminlich (---) und es gibt sowieso auch ʼne Sommerpause hm für (.) das gesamte Projekt, (---) aber wenn Sie danach Bedarf haben sollten, in (1) einer ähnlichen Konstellation äh hier wieder einsteigen zu wollen, dann können Sie sich auch gerne (---) wieder an Frau Meier74 in dem Fall wenden. (1) Aber das können Sie ja gut entscheiden auch über eine längere Sommerpause jetzt, ob das für Sie nochmal infrage kommt oder ob Sie’s (.) dabei bewenden lassen wollen, weil (.) eben einfach schon vieles jetzt klar geworden ist. (2) Frau Rosten verdeutlicht auch, dass aus im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt stehenden strukturellen Gründen die Paarberatung in der bekannten Konstellation beendet werden müsse. Die äußeren Umstände bringen die Berater*innen nun dazu, diese Paarberatung für beendet zu erklären. Als Argumentation wird nicht aufgeführt, dass das Paar nun an einem Punkt in der Beratung angelangt sei, an dem sie als erfolgreich beendet gelten könne. Durch die Vermischung des Forschungsprojekts und der beraterischen Praxis wird deutlich, dass das Paar weiterhin angesprochen wird als ein Paar, das noch Paarberatung nötig hat. »Wieder einsteigen« verdeutlicht, dass der therapeuti74 Eine Forschungsmitarbeiterin.

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sche Prozess aus der Perspektive der Beraterin noch nicht zu Ende ist. Der Einstieg ist wieder möglich, aber in einer »ähnlichen« Konstellation. Die Beraterin Frau Rosten eröffnet einerseits die Option, weiterhin Beratung aufzusuchen, verhindert sie andererseits, da sie nicht bei den beiden Berater*innen in dieser Konstellation passieren könne. Die Verantwortung, Hilfe einzufordern, wird in die Hände des Paars gelegt. Ein Fokus liegt auf der Freiwilligkeit von beiden, zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere Hilfeform aufzusuchen. Ein zweiter Fokus spricht die Reflexionsebene an, die im Erkennen der eigenen Beratungswürdigkeit und -notwendigkeit liegt oder im Erkennen dessen, was die Partner*innen innerhalb dieser Paarberatung gelernt und erarbeitet haben. Wenn das Paar anerkennt, dass es sich um eine Pause ihres Beratungsprozesses handelt (Sommerpause), hat es auch schon seinen eigenen Hilfebedarf erkannt. Als Erkenntnisprozess kann auch das positive Verdeutlichen bisheriger Veränderungen gesehen werden. Das Paar wird daher als weiter beratungswürdig betrachtet, weil es die positiven Veränderungen dieser Paarberatung bislang nicht offenbart hat. Die institutionelle Verortung (Paarberatung und Forschungsprojekt) geht damit einher, dass die Veränderungswahrnehmung und das Einüben der neuen Routinen einem begrenzten Zeitrahmen unterliegen.  err Ziegler: Na so, wie ich’s verstanden habe, (---) war ja schon die Nachricht H drin ähm (1) sicherlich sind Ansätze vorhanden, aber (---) bei der Umsetzung (.) sehen Sie noch Hilfe irgendwo (1). Frau Rosten: Letztlich entscheiden Sie’s aber. Herr Wahlenburg: Also ichHerr Ziegler: Hilfebedarf wollte ich sagen. Herr Ziegler vollzieht hier eine Übersetzungsleistung und eine stellvertretende Krisendeutung. Zusammenfassend finden dabei ein Abschlussresultat und eine Evaluation statt. Auf der Handlungsebene wird in Anbetracht des erforderlichen Erarbeitens neuer Routinen ein Hilfebedarf gesehen. Die Reflexion der Gegebenheiten, wie es Frau Brandt-Ziegler verfolgt, wird nicht als Hilfefokus gesetzt. Auch der Idee einer für das Wahrnehmen positiver Veränderungen notwendigen Reflexion wird eine Absage erteilt. Nur bei der Erarbeitung auf der Handlungsebene wird das Angebot des Weiterführens der Beratung als positiv deklariert. Eine Fortsetzung der Beratung kann stattfinden, wenn sie sich auf die Handlungsebene bezieht. Frau Rosten verdeutlicht, dass aus einer professionellen Perspektive noch Hilfebedarf beim Paar besteht, dieses aber selbst entscheiden solle. Das Insistie© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ren auf der Entscheidung des Paars erscheint zugleich als beabsichtigter Impuls in diese Richtung. Es wird dabei wieder auf die Freiwilligkeit und die dadurch erst entstehende Veränderung hin konstruiert. Dies wird aber nicht klar formuliert, sondern auf die eigene Entscheidung verwiesen. Gleichzeitig erfolgt eine Distanzierung von Herrn Zieglers Äußerungen. Nicht auf der Handlungsebene, sondern im Perspektivenwechsel durch Reflexion ist aus Sicht der Berater*innen eine positive Entwicklung hin zu neuen Routinen möglich. Das Dilemma, einerseits das Paar mit positiven und neuen Routinen aus der Beratung zu entlassen und gleichzeitig noch Hilfebedarf zu konstatieren, wird hier deutlich.  err Wahlenburg: Also ich glaube, Unterstützung kann nie schaden. ((A3 H mhm)) (1) Grade, wenn man äh (.) in in Mustern verharrt, die (---) hm im Moment noch verletzen beim anderen und bei sich selber auch setzen, ne? Sie verletzen sich ja teilweise selber durch Ihr Verhalten (---) und da ist es hilfreich einfach, wenn jemand ab und zu mal von draußen draufguckt und sagt- (---) Frau Rosten: -was schon gut läuft. ((lacht kurz)) Herr Wahlenburg nimmt eine Art Bagatellisierung bzw. Normalisierung von Beratung bzw. »Unterstützung« vor. Er benennt auf direkte Art und Weise seine Problemdeutung. Es wird eine Erklärung vorgenommen, weshalb die Beratung nicht positiv und abschließend beendet werden kann. Die Verantwortung dafür wird beim Paar belassen. Es könne nicht positiv geendet werden, da das Paar für Veränderung nicht ausreichend zugänglich sei (»verharren in alten Mustern«). Herr Wahlenburg fokussiert hier weniger den Bedarf auf der Handlungsebene, den Herr Ziegler wünscht, sondern wieder die Reflexionsebene. Die alten Muster müssen sich bewusst gemacht werden. Es erfolgen Verletzungen, die nicht durch Pläne gelöst werden können. Daher bedarf es weiterer Hilfe. Gleichzeitig kommt für diese Paarberatung in der letzten Sitzung ein Ziel zum Vorschein: die emotionale Ebene bzw. Verbundenheit und das Aufeinander-angewiesenSein. Das bedeutet, den*die Partner*in wertschätzen, nicht verletzen und sich mit der eigenen Biografie und deren Auswirkungen auf die Partnerschaft auseinandersetzen. Hier zeigt sich der Spannungsbogen am Ende, das der Befristung des Forschungsprojekts und damit auch der beraterischen Praxis geschuldet ist. Einerseits möchten die Berater*innen das Paar aus der Paarberatung in die Selbstständigkeit entlassen. Andererseits wird noch Hilfebedarf gesehen. Die Ambivalenz des Settings, einerseits positiv und erfolgsorientiert zu enden, was jedoch das Paar nicht zulässt, andererseits noch Hilfebedarf zu erkennen, aber die Verantwortung nicht mehr bei den Berater*innen zu lassen, sondern © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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dem Paar zu geben, wird hier deutlich. Die Entscheidung über eine weitere Unterstützung wird beim Paar belassen. Wenn das Enden mit dem Sichtbarmachen positiver Veränderungen durch die Paarberatung aus Perspektive der Berater*innen nicht zufriedenstellend ausfällt, wird weitere Hilfe offeriert und normalisiert. Im weiteren Verlauf formuliert Herr Wahlenburg einige Ideen, was die nächsten Schritte des Paars sein könnten (»dann haben wir unseren (---) sagen wir mal siebten Termin, aber den machen wir mit uns selber (.) äh im Park oder äh (---) nachdem wir kurz im Eiscafé uns ʼn Eis geholt haben oder äh (1) nachdem wir in der Badewanne gesessen haben oder oder (.) sonst was, ja?« [N001_06_1251–1254]). Herr Wahlenburg offeriert, dass er finde, dass das Paar die Zeit auch gut nutzen könne. Vorab wurden von dem Paar Verletzungen offenbart, die, so ist der Rat der Berater*innen, mit gemeinsamer Zeit weniger werden. Daran schließt Frau Rosten an (»Was hindert Sie daran, genau diese Zeit für sich weiterhin zu reservieren?« [N001_06_1250]). Gemeinsame zu verbringende Zeit wird erneut als Ratschlag formuliert, damit sich die Partner*innen nicht weiter verletzen. Die Berater*innen machen aber deutlich, dass sie Schwierigkeiten beim Paar sehen, dies umzusetzen. Dem Paar wird die Lösung des Problems mitgeteilt: gemeinsam Zeit verbringen. Daraufhin erfolgt die Verabschiedung, bei der sich gegenseitig gedankt wird. Damit endet die letzte Sitzung der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler mit den Berater*innen Frau Rosten und Herrn Wahlenburg. 5.1.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs

In diesem letzten Gespräch vollzieht sich eine wiederholte Aushandlung der Beratungsstruktur und der daraus entstehenden thematischen Festlegung. Die Berater*innen folgen einer Vorstrukturierung, die bereits erarbeitete Lösungen und Reflexion der positiven Veränderungen durch die neu erarbeiteten Routinen fokussiert. Neue Problemexplikationen sind nicht beabsichtigt. Die Berater*innendyade orientiert sich inzwischen routiniert an der Paardyade, die im Erstgespräch erst hergestellt wurde. Frau Brandt-Ziegler distanziert sich von dieser Struktur des letzten Gesprächs und präsentiert sich als Adressatin, die Probleme exploriert, an denen weitergearbeitet werden soll. Da diese Möglichkeit von den Berater*innen begrenzt wird, erfolgt eine Uminterpretation von Frage und Setting. Sie benennt zwar eine alltägliche Situation, wie sie als Paar gemeinsam auf der Handlungsebene etwas gemeistert haben. Der Status quo © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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der Kommunikation und der intimen Beziehung zwischen dem Paar werden dabei außen vorgelassen und nicht exploriert. Frau Brandt-Ziegler positioniert sich als Adressatin, die der Aufforderung nachkommt, und schafft gleichzeitig einen Moment der Mitgestaltung für sich als Co-Beraterin. Im weiteren Verlauf zeigt sich das Paar durch die akute Problemexplikation als krisenbehaftet und folgt nicht der Struktur, positive Veränderungen zu evaluieren. Bei der Entwicklung der Problemlösung tritt innerhalb des Paars eine Differenz zutage. Einigkeit herrscht aber darin, dass noch keine passenden Lösungen für den Alltag gefunden wurden. Dies geht konträr zu der offerierten Struktur der Berater*innen, Positives und Erreichtes zu explizieren. Während die Berater*innen weiterhin auf das bisher Bearbeitete und auf eine Reflexionsebene zielen, die bewusster werden müsse, zielt hier Herr Ziegler auf eine pragmatische Lösung ab. Er spricht damit eine Veränderung auf der Handlungsebene an, die wesentlich Frau Brandt-Ziegler vornehmen solle. Reflexion und das bisher positiv Bearbeitete genügen dem von ihm anvisierten Ziel der Paarberatung nicht. Herr Ziegler nimmt hier selbst die Rolle eines Beraters ein, indem er eine Lösung auf der Handlungsebene vorschlägt. Die Fokussierung auf Lösungen und Positives innerhalb der Paarbeziehung erscheint prekär. Die Berater*innen halten daran trotzdem fest und fokussieren im weiteren Verlauf auf das Verdeutlichen bisheriger positiver Veränderungen. Sichtweise und Reflexion sollen verändert werden. Gleichzeitig wird noch Handlungsbedarf von allen Teilnehmenden dafür gesehen. Die emotionale Arbeit an der Beziehung wird hier vordergründig Frau Brandt-Zieglers Verantwortung unterstellt. Als Ziel steht nicht die gleichberechtigte emotionale Arbeit, sondern das positive Wahrnehmen der Minimalanstrengung Herrn Zieglers. Frau Brandt-Ziegler wird hier als Hauptadressatin angesprochen. Auf den von ihr angedeuteten Leidensdruck wird nicht eingegangen. Ein Verdeutlichen des bisher erreichten Positiven steht im Fokus. Einerseits entspricht Frau BrandtZiegler der Herstellung als Hauptverantwortliche für die emotionale Arbeit an der Beziehung. Andererseits manifestiert dies, dass die weitere Veränderungsarbeit bei Herrn Ziegler als Hauptadressat dieser Beratung liegt. Gleichzeitig kommt für diese Paarberatung in der letzten Sitzung ein Ziel zum Vorschein: die emotionale Ebene bzw. Verbundenheit und das Aufeinanderangewiesen-Sein. Das bedeutet, den*die Partner*in wertzuschätzen, nicht zu verletzen und sich mit der eigenen Biografie und deren Auswirkungen auf die Partnerschaft auseinanderzusetzen. Die Berater*innen konstruieren das Paar als Personen mit einem hohen Reflexionsvermögen. Frau Brandt-Ziegler wird als dafür verantwortlich positioniert, im Gegensatz dazu muss Herr Ziegler für die emotionale Arbeit noch gewonnen werden. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die Ambivalenz des Settings wird am Ende deutlich: einerseits positiv und erfolgsorientiert enden, da Reflexion und Veränderung der Perspektiven stattgefunden haben, andererseits insofern Hilfebedarf erkennen, als das Paar noch nicht routiniert auf diese Veränderung zurückgreift. Allerdings kann die Verantwortung dafür nicht mehr bei den Berater*innen verbleiben, sondern ist dem Paar zu übertragen. Die Entscheidung über eine weitere Unterstützung wird beim Paar belassen. Wenn das Enden mit dem Sichtbarmachen positiver Veränderungen durch die Paarberatung aus Perspektive der Berater*innen nicht zufriedenstellend ausfällt, wird weitere Hilfe offeriert und normalisiert. Herr Ziegler insistiert dabei zuletzt auf einer besonderen Beachtung der Handlungsebene – dann wäre auch eine Weiterführung einer Hilfe möglich. Herr Ziegler orientiert sich an Plänen, die den Alltag strukturieren, und will nicht über Emotionen und Muster sprechen. Für Frau Brandt-Ziegler hat die Beratung nicht den Effekt gebracht, den sie für Herrn Ziegler und damit für die Beziehung intendiert hatte. Die Berater*innen stellen sich als funktionierende Dyade dar und bilden damit eine Einheit. Das Nicht-Erreichen der Ziele dieser Paarberatung, weder beim Paar noch bei der Berater*innendyade, scheint hier dominant hervor. 5.1.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch Durch die Kontrastierung der vorläufigen Fallstrukturhypothesen des Erst- und Letztgesprächs der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler lässt sich die Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs detaillierter verdeutlichen. Im Erstgespräch muss die Orientierung an der Paardyade im größeren Maß als beim Letztgespräch immer wieder neu verhandelt werden. Zudem stellt sich durch den Vergleich die Vergegenwärtigung des innerdyadischen Pro­ blems und der daraus resultierenden Krisenbewältigung bzw. Problemlösung als Besonderheit im Erstgespräch dar. Verdeutlichen lässt sich dies an der Problemexplikation. Frau Brandt-Ziegler erläutert zu Beginn des Erstgesprächs ihre Perspektive auf Schwierigkeiten, nämlich die Strukturen, die ihnen von den Eltern und Schwiegereltern auferlegt werden. Dabei handelt es sich um kein Problem zwischen den Paarbeteiligten, sondern um eines, das das Paar mit der Umwelt hat. Mit der Klärung des Anliegens und der Problemexplikation gerät diese Fokussierung in den Hintergrund. Nun wird das Paar in seiner Beziehung als problembehaftet konstruiert. Die Bedürftigkeit soll nun verdeutlicht werden. Frau Brandt-Ziegler bezieht sich bei der expliziten Problemdarstellung infolge einer Hinleitung Frau Rostens auf die Schwierigkeiten auf der Paarebene. Die Berater*innen fokussieren die Paardyade in der Problemexplikation, aber auch in der Krisenbewältigung und in der Problemlösung. Diese Aushandlung zeigt © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sich im Erstgespräch prekär. Im letzten Gespräch richtet sich das Paar auf immer noch vorhandene innerdyadische Beziehungsprobleme. In der Konstruktion der Berater*innendyade hat das Paar ein bestimmtes, konkretes, als Wunsch geäußertes Problem. Dabei wird eine hohe Selbstreflexivität gefordert. Auf diese wird sich wieder im Letztgespräch berufen. Zudem wird vorausgesetzt, dass beide diese Paarberatung freiwillig aufsuchen und einen Wunsch/ein Ziel haben. Das Paar wird damit zusammenhängend im Erstgespräch dahingehend angesprochen, dass Verhaltensänderungen immer möglich seien. Dabei wird zwischen Reflexion und Handlung immer wieder changiert. Bei der Entwicklung der Problemlösung im Letztgespräch tritt innerhalb des Paars eine Differenz hervor, die bereits im Erstgespräch Spuren hinterlassen hat. Herr Ziegler verortet die Problemlösung auf der Handlungsebene, um Struktur in den Alltag zu bringen, während Frau Brandt-Ziegler an der Verbesserung der Kommunikation durch Reflexion festhält. Die Berater*innen konstruieren das Paar als Personen mit hohem Reflexionsvermögen. Eng damit verbunden ist die am Anfang herausgestellte Mitwirkung in der Struktur der Beratung. Das Paar wird eingeladen, die Themen und die Struktur der Paarberatung mitzubestimmen. Im weiteren Verlauf wird diese Möglichkeit immer mehr eingeschränkt, indem sich auf eine vorstrukturierte Vorgehensweise berufen wird. Die Strukturierung der Berater*innendyade wird nicht in die Hände des Paars gelegt. Im letzten Gespräch der Paarberatung zeigt sich, dass Beratungsstruktur und daraus entstehende thematische Festlegungen immer wieder verhandelt werden. Die Berater*innen folgen der Vorstrukturierung, wonach der Fokus nicht mehr auf einer Problemexplikation und einer Herstellung eines gemeinsamen Anliegens liegt, sondern auf bereits erarbeiteten Lösungen und einer Reflexion der positiven Veränderungen durch neu erarbeitete Routinen. Probleme sollen hier nicht mehr besprochen werden. Die Struktur der Paarberatung sieht zwar eine Orientierung an innerdyadischen Problemen und Anliegen vor, dennoch nimmt sich das Paar im Erstgespräch immer wieder heraus, Probleme mit der Umwelt anzusprechen und zum Thema der Paarberatung zu machen. Die Berater*innen reagieren wieder mit einer Paarlösung, die jedoch nur Herrn Ziegler adressiert. Durchweg werden Themen angesprochen und dann von den Berater*innen immer wieder auf die Paarebene bezogen. Während der Paarberatung verdeutlicht Herr Ziegler, eigentlich keine Probleme in der Paarbeziehung zu haben, und äußert zunächst keinen Leidensdruck. Frau Brandt-Ziegler positioniert sich selbst wechselhaft zwischen CoBeraterin und Ratsuchende. Dieses Changieren kann von den Berater*innen nur begrenzt bewältigt werden: Mal spielen sie es mit, mal grenzen sie es ein. Im © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Laufe des Erstgesprächs wird erkennbar, dass sowohl die Berater*innen als auch Frau Brandt-Ziegler versuchen, den Mann als Hauptadressaten der Beratung herzustellen, die Paarberatung aber an der Dyade zu orientieren. Die Orientierung an einer Idealvorstellung von Paarbeziehung zeigt sich in der Art der Kommunikation, die auf Augenhöhe stattfinden, der Kompromissfindung dienen und wobei beide Personen aufeinander zugehen und nicht zu emotional werden sollen. Die emotionale Arbeit an der Beziehung wird vor allem Frau Brandt-Ziegler zugewiesen. Als Ziel steht nicht die gleichberechtigte emotionale Arbeit. Einerseits entspricht Frau Brandt-Ziegler der Herstellung als Hauptverantwortliche für die emotionale Arbeit an der Beziehung, andererseits wird damit Herr Ziegler als Hauptadressat dieser Beratung konstruiert. Die gemeinsame Lösungsorientierung verdeutlicht das Ziel dieser Paarberatung: die emotionale Ebene bzw. Verbundenheit und das Aufeinander-angewiesenSein.

5.2 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau Schmidt und Herrn Schneider 5.2.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens Die in diesem Unterkapitel analysierte systemische Paarberatung setzte sich aus vier Teilnehmenden zusammen: dem zu beratenden Paar, Frau Schmidt und Herr Schneider, sowie den beiden Berater*innen, Frau Povski und Herr Vechten. Frau Schmidt und Herr Schneider leben in fester Partnerschaft in einer gemeinsamen Wohnung in einer Kleinstadt. Frau Schmidt ist Anfang 50 und arbeitet als Servicekraft in einer Behörde. Sie war verheiratet. Aus der geschiedenen Ehe stammt ein Kind, das sich im Erwachsenenalter befindet und selbstständig lebt. Im Fragebogen nennt sie folgenden Grund, weshalb sie an der Paarberatung teilnehmen möchte: »Bessere Bewältigung der Konflikte mit Partner.« In der Beratung möchte sie Folgendes erreichen: »Beziehung retten!« Herr Schneider ist 40 Jahre alt und gelernter Elektriker. Derzeit besucht er eine psychiatrisch-psychotherapeutische Tagesklinik. Er gibt im Fragebogen folgende bei ihm gestellte Diagnosen an: »Schwere depression [sic!] ohne psychotische Symptome, Burn-Out-Erschöpfung, Störung der Impulskontrolle.« Im vorab verschickten Fragebogen benennt er als Gründe, sich in eine Paarberatung zu begeben: »Aggressivität gegenüber meiner Partnerin in den Griff bekommen.« Folgende Themen möchte er demnach innerhalb der Beratung ansprechen: »Mich entschuldigen zu können. Beziehung retten!« © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Zur Paarberatung fanden sie über die Empfehlung des zuständigen Psychologen aus der Tagesklinik. Herr Schneider meldete sich telefonisch bei der Forschungsmitarbeiterin, um ein Erstgespräch zu vereinbaren. Daraufhin wurden die entsprechenden Unterlagen (siehe 4.3.1) zugesandt und ein erster Termin vereinbart. Frau Povski ist Sozialpädagogin und systemische Supervisorin und absolviert derzeit eine Weiterbildung zur systemischen Paartherapeutin. Herr Vechten ist Mediziner, hat sich auf Psychotherapie spezialisiert und eine Weiterbildung zum systemischen Berater und Therapeut absolviert. Frau Povski und Herr Vechten haben vorab noch nicht zusammengearbeitet. Insgesamt wurden sieben Sitzungen innerhalb von sieben Monaten in einem Abstand von jeweils circa einem Monat durchgeführt. Die Beratungen fanden in einem Raum mit sechs fest installierten Kameras statt. Hinter einer zwischen Beratungsraum und einem angrenzenden Raum eingesetzten Einwegscheibe war eine wissenschaftliche Mitarbeiterin anwesend (bis auf die letzte Sitzung war das meine Person), die das Paar vorab begrüßte und einwies sowie die Fragebögen vor und nach den Sitzungen austeilte. 5.2.2 Das Erstgespräch Im Folgenden werden die Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Rekon­ struktion des Erstgesprächs dieser Paarberatung in verdichteter Form dargestellt. Es wird ausführlicher auf die Rekonstruktionsergebnisse entlang des Gesprächsverlaufs in der Gesprächseröffnung eingegangen. 5.2.2.1 Eröffnung und erste Erwartungsformulierungen

Wie bereits verdeutlicht (Unterkapitel 4.2) wird ein detaillierter Blick auf den Beginn der systemischen Paarberatung gelegt.  err Vechten: Ich frage nur deshalb, weil immer, wenn ich mich orientieren H möchte, Herr Vechten bezieht sich auf etwas vorab Gesagtes. Dadurch wird deutlich, dass das Gespräch nicht sofort aufgezeichnet wurde und einige Zeit vergangen ist, bis die Aufnahme startete. Folgende Geschichten können generiert werden, in denen der getätigte Sprechakt angemessen erscheint. 1. Ein Wanderer hat sich im Wald verlaufen und trifft auf eine fremde Wanderin. Er fragt nach örtlichen Orientierungspunkten, die die Gefragte anscheinend © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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irritieren. Der Wanderer erklärt nun, wonach er sich orientiert (bspw. Sterne, Straßen, Bäume). 2. Es findet ein Vorabgespräch im Rahmen einer Einzeltherapie statt. Die Klientin erzählt ihre Lebensgeschichte. Der Therapeut hat den Faden verloren und fragt nach, von welchem Lebensabschnitt gerade gesprochen wird, und begründet dies mit einem fachlichen Argument, um sich im Gesprächsverlauf wieder zurechtzufinden. 3. Eine Person ist zu Gast zum Abendbrot bei einer gerade kennengelernten Familie. Die Abendbrotsituation ist ihr fremd. Um nichts falsch zu machen, fragt die Person, wie das Abendessen routiniert stattfindet, z. B. ob vorab gebetet wird. Diese Person begründet ihr Verhalten, indem sie diesen Satz sagt. Es wird Orientierung benötigt, um ein neues System zu verstehen und sicherzugehen, welche formellen und informellen Regeln angewendet werden. Bei der Untersuchung der Kontexte auf gemeinsame strukturelle Merkmale lässt sich feststellen, dass der Sprechakt »Ich frage nur deshalb, weil immer, wenn ich mich orientieren möchte,« kontextunabhängig impliziert, dass zunächst mehr Informationen bzw. Wissen benötigt werden, um neues Wissen in die innere Strukturlogik einzuordnen. Der Sprechakt lässt mehrere Lesarten zu. Einerseits kann er als eine Art Rechtfertigung gelesen werden, in dem Sinn, dass das vorab Gesagte vom Gegenüber nicht gut verstanden wurde und deswegen noch einmal nachgefragt werden muss. Auch kann es als eine Form der Erklärung gelesen werden. Herr Vechten macht transparent, dass er für eine Orientierung mehr Informationen benötigt. Er grenzt mit dieser Aussage ein, was er sich wünscht, worauf sein Gegenüber antworten soll, um ihm Orientierung zu geben. Die anderen anwesenden Personen scheinen notwendig, damit er sich orientieren kann. Das »immer« deutet auf eine generalisierende Verarbeitung hin. Für Herrn Vechten scheint es eine Grundstruktur zu geben, an der er sich orientiert – wie ein innerer Leitfaden. Die Veröffentlichung seines Orientierungswunschs verdeutlicht, dass er sich in einer Position befindet, dies zu tun und andere danach zu fragen, ihm dabei behilflich zu sein. Auch zeigt sich, dass es sich um eine gerade erst entstandene, für die Beteiligten so noch nicht erlebte Situation handelt. Nicht allen Anwesenden ist die Struktur dieses Settings geläufig. Es bedarf einer Erklärung, weshalb Herr Vechten eine Frage stellt. Indem er seine Herangehensweise begründet und erklärt, stellt er Transparenz her. Das Transparentmachen gilt den Beweggründen der sprechenden Personen. Dem Gegenüber wird nun ein Interesse an den eigenen Strukturierungsleistungen bzw. -hilfestellungen unterstellt. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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[…] ((Frau Schmidt: Mhm)), dann äh muss ich es ein bissl genauer wissen. Also, selbstverständlichHerr Vechten rahmt die Situation als solche, in der sich am Anfang orientiert werden muss. Durch das »muss« wird ein Zwang angedeutet. Herr Vechten macht hier transparent, dass er detaillierte Informationen benötigt, um sich zu orientieren. Der Anfang einer Situation sieht somit Orientierung durch detaillierte Informationen vor. Indem er sich auf mehrmalige vorherige Situationen beruft, begründet Herr Vechten sein Vorgehen mit Erfahrungswissen und der daraus entstandenen Routine. In der Folge muss eine detaillierte Informationsgrundlage vom Gegenüber geschaffen werden. Das Gegenüber wird als inte­ ressiert konstruiert bzw. die Notwendigkeit angedeutet, die Irritation näher zu erläutern. Herr Vechten positioniert sich durch das Berufen auf Erfahrungswissen und Routine in einer höhergestellten Position und hebt das in der Beratungssituation sich entfaltende asymmetrische Verhältnis hervor, indem er sein Handeln expliziert. Gleichzeitig stellt er Transparenz hinsichtlich seiner Arbeits- bzw. Herangehensweise her. Zusammengefasst ist der Anfang gekennzeichnet davon, dass die zu Beratenden als Personen angesprochen werden, die an der Transparenzherstellung und an dem Expertenwissen von Herrn Vechten interessiert sind. Außerdem werden die Gegenüber aufgefordert, die für die Prozessierung der anvisierten Situation nötigen Informationen bereitzustellen, damit Herr Vechten sich innerhalb dieser neuen Situation orientieren kann. Eine Anschlussmöglichkeit ergibt sich, wenn im Folgenden Herr Vechten erklärt, welche Informationen er bzw. warum er sie zur Orientierung benötigt. Frau Schmidt: Mh, Richtung . Herr Vechten: Ja, so in der Richtung ((Frau Schmidt: Mhm)). Und ich mach viele Seminare ((Frau Schmidt Mhm)) hier im Raum und ich finde es nicht nur optisch schön, sondern ich finde auch, dass die schön mitmachen und so ((lacht)), wenn man sie einmal dann äh begeistert hat fürs Thema oder so, dann ist das ʼne feine, feine Arbeitssituation. Da können wir beide ja ((schaut zu Frau Povski)), seitdem wir uns kennen ((lacht)) wir-jaFrau Schmidt antwortet sofort auf die vorab gestellte Frage von Herrn Vechten, die nicht aufgenommen wurde. Frau Schmidt zeigt, dass sie über das eingeforderte Wissen bzw. die Informationen verfügt und der Aufforderung kurz und knapp nachkommt. Die benannte Region scheint einen gemeinsamen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Erfahrungshorizont zu bilden, da sie überregional kaum bekannt ist. Hier wird sich auf einen Mikrokosmos berufen, indem sich zwar Frau Schmidt besser auskennt, aber auch Herr Vechten Erfahrungen gesammelt habe. Mit »Ja« validiert Herr Vechten die Aussage von Frau Schmidt und strukturiert diesen Gesprächsinterakt. Der Anfang dieser Situation ist somit geprägt davon, eine asymmetrische Zusammenarbeit als gewinnbringend darzustellen. Dies erfolgt mittels Darstellung der Kompetenz und der Verortung. Hier ist bedeutsam, dass Herr Vechten viele Seminare in dem Frau Schmidt vertrauten Raum anbietet. Ferner verdeutlicht er seine Kompetenzen, da er »viele Seminare« anbietet. Herr Vechten positioniert sich selbst als Experte in Frau Schmidts Raum. Die anderen Anwesenden werden damit als Personen angesprochen, denen die Kompetenz/das Expertenwissen noch verdeutlicht werden muss.75 Gleichzeitig positioniert er die Gegenüber als Personen, die interessiert sind an seiner Transparenz und seinem Expertenwissen. Dass »die schön mitmachen« infantilisiert die Teilnehmenden in seinen Seminaren. Dies bezieht er nicht nur auf die Teilnehmenden seiner Seminare, sondern auf alle in dem Bundesland lebenden Menschen. Dies bleibt jedoch oberflächlich und diffus, da nicht explizit darauf eingegangen wird, welche Seminare er anbietet, wer Teilnehmende sind, und pauschal alle aus dem Bundesland angesprochen werden. Eine »feine feine Arbeitssituation« herrscht, wenn die Personen aus dem Bundesland sich für seine Ideen begeistern lassen. Die Verantwortung für die Initiierung einer guten Arbeitssituation wird bei ihm verortet. Durch die Kompetenzdarstellung realisiert Herr Vechten eine Begründungsfigur seines Expertentums und eine Zuschreibung von Kompetenz. Diese Kompetenz bzw. das Expertentum wird mit Erfahrungswissen und Routine in dem Feld begründet. Der Beginn des Erstgesprächs ist geprägt von Herrn Vechtens Werben für sich als Experte und dem Bemühen um Transparenz. Dabei bezieht er sich nicht nur auf die eigene Person. Eine Vergemeinschaftung mit einer weiteren Person, hier Frau Povski, erfolgt ansatzweise (»wir beide«, »seitdem wir uns kennen«). Hier wechselt er von einem Ich zum Wir und beruft sich auf ein wechselseitiges Verhältnis, auf etwas Verbindendes, das auf den Raum und nicht auf ihre Zusammenarbeit bezogen ist. Das bedeutet, dass im Auftakt des Erstgesprächs die Überzeugung, an einen Experten mit Erfahrung und Begeisterungsfähigkeit gelangt zu sein, von wesentlicher Bedeutung ist. Das 75 Hier könnte es sich um eine Mehrfachadressierung auch in Richtung des Forschungsteams handeln (siehe dazu auch Rüegger, 2021). Er adressiere dabei nicht nur Frau Schmidt und Herrn Schneider, sondern die zweite Beraterin Frau Povski und mich, die Forschungsmitarbeiterin, da ich hinter der Einwegscheibe sitze. Frau Povski, Frau Schmidt und ich sind zu dem Zeitpunkt in dem Raum »« beruflich und/oder privat verortet.

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Paar wird weiterhin als solches angesprochen und muss zunächst begeistert werden, um eine Arbeitsgrundlage zu schaffen. Die Berater*innendyade wird kurz positiv dargestellt, wenngleich in einer asymmetrischen Lage. Unter Beachtung des Kontexts, lässt sich sagen, dass Herr Vechten zwar eine Verantwortung für das Setting besitzt und dies deutlich macht, sich aber gleichzeitig als Kenner und Experte in dem Raum von Frau Schmidt anpreist. Die Kompetenzdarstellung entwickelt sich im Gespräch (gesprächsförmig) und bezieht sich nicht auf eine Vorab-Struktur. Herr Vechten positioniert sich als einzelner Experte, der Informationen von dem Paar benötigt, um sein Wissen bedarfsgerecht anzubringen. Dies bezieht sich auf zu thematisierende Inhalte. Das Paar (und die zweite Beraterin Frau Povski) werden als dafür erst noch zu Begeisternde angesprochen. Auch wenn er sich auf Seminare beruft, verdeutlicht er hier, was er von seinem Gegenüber in einem professionellen Setting, hier Beratung, erwartet: Er fordert das Paar als Interessierte an seiner Expertise und als von seiner Kompetenz Profitierende. Nicht das Berater*innenteam wird stark gemacht, sondern die Einzelperson als Experte.  rau Povski: Gut, ich sag erst mal ganz kurz was. Wir beide freuen uns, dass F Sie heute hierhergekommen sind und wir werden nachher viele Fragen haben an Sie. Nun ergreift Frau Povski das Wort. Durch das »Gut« wird das vorher Gesagte von Herrn Vechten abgeschlossen. Sie spricht in der Ich-Form. Frau Povski geht nicht gesprächsförmig auf das Gesagte von Herrn Vechten ein, sondern in einen vorstrukturierten Ablauf über. Sie kündigt dies an und verdeutlicht damit den Strukturwechsel. Dabei wechselt sie in die Wir-Form. Der offizielle Charakter der Begrüßung führt in das institutionalisierte Gespräch ein. Der Sprecher*innenwechsel wird angekündigt und markiert den Wechsel der Vorgehensweise. Der offizielle Start setzt ein zusammenarbeitendes Berater*innenteam voraus, das abgesprochen agiert. Frau Povski kündigt an, was unter der Struktur von Paarberatung verstanden werden kann, nämlich dass das Paar viele Fragen zu beantworten habe. Sie gibt eine Orientierung für das Paar, das direkt angesprochen wird – und begründet dies nicht wie Herr Vechten. Mit »nachher« wird deutlich gemacht, dass vor der Formulierung von Fragen noch etwas anderes stattfinden wird. Der vorstrukturierte Rahmen dieser Paarberatung wird illustriert, indem erst die Bedingungen für dieses Setting angetragen werden, bevor die inhaltlichthematische Paarberatung startet. Die Eingrenzung auf von den Berater*innen festgelegte Fragen fokussiert nur auf etwas Bestimmtes, was das Paar ausmacht. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Es stehen somit nicht die singulären Personen des Paars im Fokus, sondern nur das, was von den Berater*innen als passend für dieses Setting, als erfragenswürdig erachtet wird. Frau Povski stellt die Asymmetrie zum Paar her, indem sie die Anforderung an das Paar bestimmt und damit die Struktur der Beratung transparent macht. Sie grenzt das zu beratende Paar in einer eher passiven Rolle als Antwortende ein. Eine Mitgestaltung der Struktur des Settings wird nicht offeriert. Bezüglich der Anfangssequenz kann festgehalten werden, dass Frau Povski sich auf einen vorstrukturierten Aufbau beruft, der das Paar als passiv Handelnde (Reagierende) adressiert. Die Struktur des Erstgesprächs wird über einen vorstrukturierten Ablauf hergestellt. Weiterhin bezieht sie sich auf das Berater*innenteam. Herr Vechten bezieht sich eher gesprächsförmig auf das Gesagte und stellt sich als Experte dar, der sein Expertentum mittels Kompetenzdarstellung zur Verfügung stellt (individueller Fokus) und damit dem Paar hilfreich sein kann. Die Struktur des Erstgesprächs wird durch ihn über das Expertentum, d. h. durch die Sicherheit bzw. das Vertrauen in die eigene Kompetenz (des Beraters) hergestellt. Frau Povski stellt die Asymmetrie zum Paar durch das Berufen auf die Strukturverantwortung her. Beide verdeutlichen auf unterschiedliche Weisen die vorherrschende Asymmetrie und die eingeschränkte Möglichkeit struktureller Mitgestaltung. Dem Paar – als Informationsgebende – werden seine Mitwirkungspflichten als Bedingung für diese Paarberatung verdeutlicht. Inhaltlich ist eine Beteiligung notwendig und wird auch eingefordert. Dem Paar wird implizit ein Mitteilungsbedarf unterstellt (Fragen beantworten), welcher auf dem Anliegen für diese Paarberatung basiert. Es werden Interesse am Expertentum des Beraters und Freiwilligkeit, dieses Setting aufzusuchen, um Veränderungen herbeizuführen, vorausgesetzt. Bevor die nächste rekonstruierte Szene dargestellt wird, erfolgt eine kurze Einbettung, was im weiteren Verlauf dieser Sitzung passiert. Frau Povski leitet mit »wir möchten erst mal noch ganz kurz uns vorstellen« (N004_01, Z. 17–18) die Vorstellung ihrer Person ein. Sie nennt ihren vollen Namen, ihren Heimatort und ihre aktuelle Arbeitsstätte, ihren ehemaligen Arbeitsbereich und ihre Ausbildung in »systemischer Familien- und Paartherapie und auch in Supervision« (N004_01, Z. 22–23). Sie deutet auf Herrn Vechten (»das ist mein Kollege« [N004_01, Z. 28–29]) und bevor er mit seiner Vorstellung beginnt, nennt sie ihren Familienstatus (verheiratet) und führt ihre beiden Kinder auf. Herr Vechten beginnt ebenfalls mit seinem Namen, dessen besonderer Aussprache – »also das ist immer ein bissl schwierig mit dem T« (N004_01, Z. 33–34) – und begründet, weshalb er es als wichtig empfindet, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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darauf hinzuweisen »Aber das ist schon wichtig, also dass man zudem den Namen auch weiß« (N004_01, Z. 35). Nach der Nennung seines Wohnorts stellt er die Umwege in seiner Berufsbiografie vor. Er beschreibt seine körperlichen Einschränkungen und wie sich dies auf die Beratung auswirkt. Auch er erwähnt seine systemische Ausbildung und erklärt: »Systemisch heißt, äh, wenn ich Sie jetzt angucke, sind Sie für mich ein System (-) und trotzdem Herr Schneider, ja? Aber mit vielen Subsystemen, Untersubs-, äh, also Sonnensystem, Blut-Kreislaufsystem, da gehören natürlich noch Muskeln dazu und dann gibt es ein psychisches System, das aber manchmal sagt: Nee ich will nicht. (-) Keine Lust« (N004_01, Z. 58–63). Gleichsam erklärt er dem Paar auf Nachfrage, was unter Supervision zu verstehen sei – auch diese Ausbildung hat er absolviert. Am Ende seiner Vorstellung äußert er, dass er in einer Beziehung lebe und keine Kinder habe. Er schließt die Vorstellung mit: »Müssen Sie noch was wissen?« (N004_01, Z. 67–68), Frau Schmidt verneint und Herr Vechten erklärt, weshalb Fragen auch nicht immer beantwortet werden müssen. Herr Schneider und Frau Schmidt werden nicht zu einer Vorstellung ihrer Personen eingeladen. Stattdessen geht es mit der im Folgenden rekonstruierten Gesprächssequenz weiter. Aufschlussreich wird in der Analyse die Frage sein, ob weitere Bedingungen an das Paar herangetragen werden und wie das Paar auf die Erwartungen reagiert. 5.2.2.2 Besonderung der vorgegebenen Struktur

Im Folgenden wird eine Sequenz rekonstruiert, in der Herr Schneider die herangetragenen Bedingungen eingrenzt. Vorab erwähnt Frau Povski, dass sie nun knapp 90 Minuten Zeit gemeinsam haben und am Ende ein Gespräch zwischen den Berater*innen vor dem Paar (das Reflecting Team, der Begriff wird aber nicht genannt) stattfinden würde. Dann erfolgt folgender Sprechakt.  rau Povski: […] Und so zehn Minuten oder ʼne Viertelstunde vor Ende werF den wir zwei ((deutet auf sich und Herr Vechten)) mal kurz ins Gespräch gehen. Wir bleiben hier drin. Und das ist für Sie dann einfach ʼne Gelegenheit, mal zuzuhören, wie wir so ein bisschen über Sie, ja wir sagen immer so freundliches Tratschen, oder wir werden uns unterhalten über den Prozess, ja? Und da, also was hier- was wir gesehen haben, was wir gehört haben. Da können Sie einfach mal zuhören, ob da was dabei ist, was anklingt bei Ihnen. Frau Povski rahmt diese Paarberatung, wie in der ersten Sequenz deutlich wurde, und hält an einem vorstrukturierten Ablaufmuster fest. Die Formulie© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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rung »dem Gespräch zuhören« während des Reflecting Teams impliziert Frau Povskis Vorstellung, dass vorher das Paar aktiv gewesen sein muss, auch wenn noch unklar ist, worin diese Aktivität bestehen soll (außer Fragen beantworten). Beim beschriebenen Reflecting Team dürfen die Partner*innen zuhören. Die Gelegenheit wird als Option gerahmt, die in eine Art von Handlungsanweisung eingebunden ist. Das Paar hört dem Expert*innenurteil zu, im Sinne einer Empfehlung. Die Erwartungen und Bedingungen für diese Paarberatung werden kommuniziert und begrenzen somit den Handlungsspielraum des Paars, an den Strukturen etwas zu verändern. Das Reflecting Team nimmt bei der Vorstellung der Struktur den dominanten Platz ein, auch wenn dieser Part erst für das Ende der Beratung vorgesehen ist. Was vor dem Reflecting Team geschieht, wird nicht detailliert. Nur die Besonderung der Struktur wird hervorgehoben, nicht der allgemeine Ablauf dieser Paarberatung. Klar wird lediglich, dass viele Fragen gestellt werden. Der bisherige Ablauf dieses Erstgesprächs bleibt nebulös. Es gibt keine inhaltliche Orientierung, jedoch eine Strukturvorstellung, d. h. dessen, was formal passieren wird. In diesem Setting inhaltlich zu Besprechendes wird offengehalten. Dem Paar wird zu verstehen gegeben, dass es bezüglich der Ablaufstruktur dieser Beratung eher weniger Mitgestaltungsmöglichkeiten hat. Im Reflecting Team wird besprochen, so die Ankündigung, was in diesem Erstgespräch gesehen und gehört wurde. Dem Paar soll ein Spiegel vorgehalten werden, was impliziert, dass im Gespräch Probleme oder problematisches Verhalten benannt werden. Die Beratungsstruktur sieht folglich vor, dass über Fragen Problematisches oder Außergewöhnliches im Laufe des Gesprächs aufgezeigt wird, über das die Berater*innen im Nachgang vor dem Paar öffentlich »tratschen« können. Stark krisenhafte Probleme erhalten also eher weniger Raum. Das Paar wird aufgefordert, etwas von dem Gesagten, das bei ihnen angedockt hat, was besonders wichtig war, zu benennen. Indes wird verdeutlicht, dass es auch verständlich wäre, wenn nichts Anklang findet. Frau Povski scheint, bezogen auf den Nutzen des Reflecting Teams für das Paar, eine geringe Erwartungshaltung zu haben. Sie zeigt eine initiale Unsicherheit darüber, inwieweit das Paar dem Anspruch der Reflexionsfähigkeit für die Paarberatung genügt. In dieser Übersetzungsleistung wird der strukturelle Ansatz von Paarberatung deutlich, welcher beim Paar Selbstreflexionsvermögen zum Ausgangspunkt macht, damit weitere Aushandlungsprozesse folgen können. Freiwilligkeit und Mitwirkung an der inhaltlichen Gestaltung der Paarberatung basieren auf dem Wissen über dieses Format. Die Berater*innen setzen dies als gegeben voraus und heben nur die Besonderung – das Reflecting Team – hervor. Frau Povski spricht somit das Paar als problembelastete Akteur*innen an, die von ihr und Herrn Vechten durch das Gespräch geleitet werden. Das Vor© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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handensein eines Anliegens wird unterstellt. Das Berater*innenteam bestimmt den Beratungsablauf, erläutert aber nicht, sondern verweist lediglich auf das Reflecting Team als Besonderung dieser Paarberatung. In der Struktur bzw. Rahmung werden keine Mitgestaltungsmöglichkeiten offeriert. Die Struktur der Paarberatung geht von einem Modell aus, wonach den Problemen auf der Ebene der Reflexion begegnet werden kann. Am Anfang des Erstgesprächs steht das Ausloten, welche Formen von Reflexionsvermögen das Paar (bzw. die Paarteile) vorweist. Für das Berater*innenteam beruht Paarberatung auf der Annahme hohen Reflexionsvermögens und der Prämisse, Probleme prinzipiell mittels Reflexion (nachdenken, überlegen, hören und wirken lassen, auf neue Gedanken und Erklärungen kommen) angehen zu können. Diese Anforderung scheint im Hinblick auf die Ratsuchenden brüchig und nicht sicher umsetzbar zu sein. Um dieses Vermögen belastbar beurteilen zu können, müssen die von den Berater*innen gestellten Fragen so weit wie möglich beantwortet werden. Neben der Freiwilligkeit beim Aufsuchen der Paarberatung und der Einsicht, dass ein gemeinsames Problem gesehen wird, wird Reflexionskompetenz zum entscheidenden Merkmal gelingender Beratung. Das anschließende Expert*innenurteil soll folglich Veränderungsprozesse auf der Reflexionsebene anregen. Überdies wird das Paar als gemeinsame Einheit und als veränderungswillig angesprochen.  err Schneider: Ich müsste vielleicht noch mal sagen ((Frau Povski: Ja?)), H dass ich schon in einer Therapie jetzt bin. Frau Povski: Ja. Das schauen wir jetzt [gleich, jaHerr Schneider: Aggression] und Depression. Herr Schneider, der nicht direkt aufgefordert wurde, etwas zu sagen, bricht vorsichtig (Verwendung des Konditionalis und mit Ankündigung) mit der Vorstrukturierung von Frau Povski. Der vorsichtige Bruch mit dem vorstrukturierten Ablauf kann als Form der Unsicherheit bezüglich der Struktur der Paarberatung bei den Ratsuchenden gelesen werden. Es scheint jedoch eine bedeutsame Information zu sein, die eine Unterbrechung der Struktur notwendig erscheinen lässt. Herr Schneider spricht hier von sich (individueller Fokus) und nicht in der Paardyade. Der Einschub markiert den Hinweis, dass Herr Schneider sich schon in Therapie befinde. Frau Povski hält zunächst an der Vorstrukturierung des äußeren Rahmens fest. Eine Besprechung der Aussage von Herrn Schneider wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wenn die äußere Struktur aus ihrer Perspektive dies vorsieht und/oder die Klärung der Rahmenbedingungen für diese Paarberatung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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beendet ist. Die weitere knappe Konkretisierung von Herrn Schneider über seine Diagnosen stellt das Krankheitsbild und damit sich selbst in den Fokus. Er positioniert sich mit dieser Information als hilfebedürftig und verdeutlicht, dass er bereits in einem anderen Hilfesetting an sich arbeite. Es erfolgt damit eine Eingrenzung seines Veränderungspotenzials für diese Paarberatung. Herr Schneider limitiert Handlungsänderungsvermögen und Mitarbeit in diesem Setting durch seine Aussage und verdeutlicht, den geäußerten Erwartungen nicht entsprechen zu können. Er positioniert sich als dieses Setting freiwillig Besuchender, der aber in seinen Möglichkeiten zur Reflexion und Veränderung begrenzt sei. Durch die zusätzliche Teilnahme an diesem Setting schreibt er sich somit eine Nicht-Adressat*innen-Position zu (im Gegensatz zur anderen Therapie) und positioniert indirekt Frau Schmidt als Hauptadressatin der Paarberatung. Frau Povski: Ja. Also da schneiden Sie gerade ein wichtiges Thema an. Bei Ihnen gibt es also schon Therapieerfahrungen. ((Herr Schneider nickt)) (2) Also Sie waren schon einmal in einer Therapie? Herr Schneider: ((nickt)) Ich bin immer noch in der Tagesklinik. Frau Povski: Ja, in einer Tagesklinik sind Sie. Mhm. (2) Herr Vechten: Äh, wir machen uns ein paar Notizen, weil, das kann man nicht alles im Kopf behalten und das ist mir noch wichtig, dass- so, Sie hatten so ein ganz klein bisschen so, äh, die Stimme gesenkt (.) wegen Aggression und Depression, ja? ((Herr Schneider nickt)) Das ist der Einweisungsgrund, weshalb Sie da- und Sie sind wie lange in der Therapie? Herr Schneider: Ich glaub’ ((schaut zu Frau Schmidt)) Oktober, November war ich noch mal da. Und jetzt bin ich sei- es ist jetzt die zweite Woche, wo ich wieder drin bin. Herr Vechten: Mhm. (2) Aber Sie fühlen sich so, dass wir (.) miteinander reden können? Herr Schneider: Ja. Nun verlässt Frau Povski den vorstrukturierten Ablauf. Der Einschub von Herrn Schneider wird als »wichtiges Thema« bewertet und damit positiv konnotiert. Frau Povski stellt Herrn Schneider als jemanden dar, der sich angesichts seiner eigenen »Therapieerfahrungen« mit Beratung bzw. Therapie auskenne. Sie bezieht seine Aussage somit auf abgeschlossene Erfahrungen von Therapieprozessen. Während Herr Schneider seine Eingegrenztheit bestärkt, erfolgt über die Deutung des vorhandenen Erfahrungswissens über Therapie eine Aufwertung, die die Expertise von Herrn Schneider hervorhebt. Indes wird auf seine Positionierung des Nicht-Adressaten nicht eingegangen. Seine Erfahrung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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bezieht sich jedoch auf Einzeltherapie. Es erfolgt ein Aushandeln der Teilnahme und Veränderungsmöglichkeit innerhalb dieser Paarberatung. Mithilfe der Konkretisierung »Tagesklinik« wird die eigene Positionierung von Herrn Schneider nicht aufgeweicht, sondern eher verstetigt. Auch das Hervorheben der Expertise wird durch den Hinweis auf das laufende Therapieverfahren (»immer noch«) eingegrenzt. Das Argument der Expertise wird damit negiert und Herrn Schneiders eigene Positionierung als Nicht-Adressat bleibt bestehen. Das Aushandeln der Teilnahmebedingungen und der Veränderungsmöglichkeit von Herrn Schneider innerhalb dieser Beratung wird durch Herrn Vechtens Aussage weitergeführt. Herr Vechten bestätigt ihm, dass er hier teilnehmen könne, solange ein Miteinander-Reden möglich sei. Eine Abschwächung der Teilnahmebedingungen gegenüber Herrn Schneider geht vom Berater aus. Nicht mehr Reflexion und Veränderung, sondern das Reden miteinander wird als Anspruchsvoraussetzung markiert und damit eine geringe Mitwirkungsbereitschaft vorausgesetzt. Dadurch wird die Positionierung von Herrn Schneider als Nicht-Adressat untergraben. Bei dieser Paarberatung fungieren beide Partner*innen als Mitwirkende. Jedoch werden hier die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Beteiligung gesetzt. Herr Schneider ist schon Adressat, wenn er teilnimmt und kommuniziert. Sein Veränderungs- und Reflexionspotenzial wird damit abgeschwächt. Da es auf der kommunikativen Ebene notwendig ist, dass sich beide beteiligen, wird er als Ratsuchender mit eingeschränkten Teilnahmebedingungen und Veränderungsmöglichkeiten angesprochen. Hier erfolgt zusammengefasst ein Verhandeln über die Veränderungsmöglichkeit und den Anspruch eines Ratsuchenden respektive Veränderungsbereiten innerhalb der Paarberatung. Es wird ausgelotet, ob angesichts der therapeutisch bereits behandelten Einschränkung eine weitere Paarberatung möglich bzw. notwendig und mit welchem Fokus wer Hauptadressat*in dieses Settings ist. Auf der Paarebene werden die unterschiedlichen Wissensstände zu Beratung und Therapie und die dadurch eingeführte Einschränkung deutlich, die ebenfalls darauf hinauslaufen, Frau Schmidt als Hauptadressatin (und Herrn Schneider als beschränkt veränderungsfähig) zu konstruieren. Dies zeigt sich auch in der Verhandlung über die zugeschriebene Reflexionsmöglichkeit, auf die diese Paarberatung abzielt. Reflexionsvermögen hinsichtlich der Partnerschaft und das Einfühlen in den*die andere*n Partner*in treten hier als notwendige Voraussetzungen zutage. Dennoch wird die Dyade in der gemeinsamen Mitwirkung an diesem Setting angesprochen. Wie mit dieser Selbstpositionierung von Herrn Schneider umgegangen wird, zeigt sich im weiteren Verlauf und an der nächsten rekonstruierten Sequenz. Bis dahin wurde Folgendes besprochen: © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Schneider äußert: »Wir wollen ja auch irgendwann was ändern« (N004_01, Z. 106). Daraufhin fragt Herr Vechten, wieder gesprächsförmig aufgreifend, was er gerne ändern wolle. Herr Schneider möchte, dass die Beziehung ruhiger und weniger gestritten wird. Er möchte »Tipps« (N004_01, Z. 167), denn er wisse, dass er daran schuld sei, aber nicht, wie er das ändern solle (»Ich sehe schon, dass das- dass das alles von mir aus kommt, der- der ganze Stress und alles. Bloß ich weiß nicht, was ich selber ändern kann« [N004_01, Z. 172–173]). Er stellt sich dabei als hilflos dar. Herr Vechten greift dies auf: »[…] zur Paarbeziehung gehören Zweie« (N004_01, Z. 175). Er verdeutlicht, dass bei einer Paarberatung beide Personen an sich arbeiten und ihr Verhalten ändern müssen, und deklariert dies als ersten Tipp. Herr Schneider beschreibt, dass, wenn er wütend sei, man es ihm nicht recht machen könne. Herr Vechten deutet dies um in: »Sie sind also ein temperamentvoller Mann. (3) Noch nicht auf die Idee gekommen, dass das was mit Temperament zu tun hat?« (N004_01, Z. 184–185). Herr Vechten fragt Frau Schmidt, inwieweit ihr Partner temperamentvoll sei. Daraufhin beschreibt Frau Schmidt, dass die Paarsituation seit einem Jahr eskaliere. Ihre derzeitige Strategie sei: »Ich geh, wenn er seinen Anfall hat, gehe ich ins Nachbarzimmer und bleib erst mal zwei Stunden weg oder hau auch ganz einfach ab von der Wohnung« (N004_01, Z. 213–215). 5.2.2.3 Problemexplikation als Aushandlungsprozess zweier Individuen

In der nächsten rekonstruierten Sequenz befindet sich das Paar im direkten Dialog. Hier kann rekonstruiert werden, wie die beiden sich selbst und den*die Partner*in als Adressat*innen positionieren.  err Vechten: ((zu Herrn Schneider)) Ist das gut für Sie], wenn sie erst mal H [rausgeht aus der Situation? Herr Schneider: Grade ist das] Problem für mich eher, dass ich mich dann hier alleine gefühlt habe, dass sie mich dann stehen lässt, wo man mich daHerr Vechten spricht hier direkt eine Person an, verteilt das Rederecht und verdeutlicht einmal mehr die Struktur des Fragens und Antwortens. Hier wird auf die problematischen Paarsituationen im Alltag fokussiert und auf die individuellen Sichtweisen durch die direkte Ansprache des*der Partner*in darauf eingegangen. Der relationale Aspekt und die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung werden als Problem zwischen den beiden gesetzt und bisherige Lösungsstrategien (»rausgeht aus der Situation«) einer Bewertung des*der anderen ausgesetzt. Der Fokus der Beratung liegt auf der Paarinteraktion, den eige© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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nen Anteilen und der eigenen Involvierung in die Paarproblematik. Hier wird Herr Schneider direkt angesprochen, aber in Verbindung zur Partnerin (Reden über anwesende Dritte). Es erfolgen eine subjektorientierte Fokussierung auf der Paarebene sowie die emotionale Bewertung einer Handlung, in diesem Fall Frau Schmidts Lösungsstrategie. Herr Schneider unterbricht Herrn Vechten. Auf das zuvor geschilderte Problem von Frau Schmidt (die Wutanfälle von Herrn Schneider) wird nicht eingegangen. Es erfolgt keine Kommentierung seiner Wutanfälle, sondern ein individuelles Problem, das ihn betrifft, wird evoziert. Es ist ein Sprechen über eine vergangene Situation (»gefühlt habe«), die jedoch bis in die Gegenwart Auswirkungen zeigt (»grade«). Das Alleinfühlen wird als primäres Problem gerahmt. Herr Schneider beschreibt nochmals den wiederkehrenden Ablauf und seine Relevanzsetzung, welches Problem in diesem Setting besprochen werden soll. Er inszeniert sich als Ausgelieferter (»wo man mich da«). Frau Schmidt schafft mit ihrem Weggehen aus der Situation Tatsachen, denen Herr Schneider nichts entgegensetzen könne. Er positioniert sich als hilflos in Bezug auf das Alleinsein und -gelassen werden. Es liege in der Handlungsmacht von Frau Schmidt, etwas anders zu machen bzw. zu verändern. Die vorher eröffnete relationale Bedingtheit der Paarproblematik wird hier nicht aufgegriffen. Herr Schneider positioniert sich als hilflos dem Verhalten seiner Partnerin ausgeliefert. Er begreift sich also zwar als hilfebedürftig, aber sieht sich nicht veränderungsfähig. Er setzt die Problemexplikation auf das Handeln von Frau Schmidt fest und konstruiert sie als Hauptadressatin für die Veränderung und damit für diese Paarberatung. Aus ihren subjektiven Perspektiven kommunizieren die Partner*innen den Berater*innen unterschiedliche bearbeitungsbedürftige Probleme. Herr Schneider inszeniert sich als Hilfloser der Situation, an der Frau Schmidt ihren Anteil habe. Änderung bzw. Verbesserung werden Frau Schmidt auferlegt. Herr Schneider hat schon am Anfang des Erstgesprächs verdeutlicht, durch seine Eingebundenheit in eine andere Therapie den Schwerpunkt im Reden miteinander zu sehen und weniger in der eigenen Veränderung. Keine Paarproblematik an sich wird gerahmt, sondern die individuelle Problemexplikation scheint hier hervor. Frau Schmidt: Was soll ich denn aber machen, wenn du nicht-, dich nicht öffnest. Also ich-, es-, ich hab’-kann ja gar nichts machen, wenn du deinen Wutanfall kriegst. Was soll ich denn machen? Frau Schmidt expliziert, keine anderen Handlungsmöglichkeiten zu kennen, um mit seinem »Wutanfall«, die vorherige besprochene Problematik, umzugehen. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Schmidt spricht – eine Besonderheit in diesem Setting – ihren Partner direkt an.76 Sie positioniert sich als Akteurin mit aufgebrauchtem Handlungsrepertoire. Frau Schmidt begründet ihr Weggehen damit, dass Herr Schneider sich nicht öffne. Sie koppelt ihren Anteil an der Veränderung an eine Verhaltensänderung von Herrn Schneider. Eine Situation der gegenseitigen Zuschreibung von Verantwortung für die ersten Verhaltensänderung zeigt sich hier. Frau Schmidt weist die Positionierung als alleinige Hauptadressatin von sich und positioniert sich als Person, die nicht mehr weiterweiß und den Rat eines Experten benötigt, um wieder handlungsfähig zu sein. Eine Verantwortung, Verhalten zu verändern – durch Tipps der Expert*innen – macht sie deutlich. Dabei nimmt sie jedoch Herrn Schneider mit in die Verantwortung, auch er muss sich ändern. Herr Schneider hingegen positioniert sich als nicht veränderungsfähig. Bei der Problemexplikation ist man sich in der Hinsicht einig, dass die Wutanfälle von Herrn Schneider problembehaftete Situationen hervorrufen, aber im Vordergrund der Paarberatung steht nun der Umgang mit diesen Wutanfällen. Nicht die Wutanfälle werden als »das« Problem weiterverhandelt, sondern der Umgang mit ihnen. Die differenten Problemexplikationen implizieren, dass der*die jeweils andere sich zuerst verändern müsse. Es wird die Struktur aufgemacht, dass zwei einzelne Personen ein Problem haben, das sie mit individuellen Anteilen für die Paarebene lösen können. Jede Person stellt sich allein hilfebedürftig dar, sie sehen sich aber nicht zusammen als im Miteinander problembehaftetes Paar. Nun ist aufschlussreich, welches Thema und welche Personen die Berater*innen als beratungswürdig deklarieren und ob wieder eine Paarebene aufgemacht oder an der jeweils individuellen Perspektive festgehalten und damit ein*e Hauptadressat*in konstruiert wird. Auch soll rekonstruiert werden, wie sich an den angenommenen Voraussetzungen der Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft abgearbeitet wird.  err Schneider: Deswegen sage ich ja, normal kann man mir, wenn ich H wütend werde, mir kann man’s nicht recht machen. Ob sie jetzt geht oder ob sie bleibt, mir kann man es nicht recht machen. Herr Vechten: Ich frage jetzt mal äh, könnte es sein, dass Ihrer Frau es ähnlich geht wie Ihnen? Dass sie auch nicht weiß, was sie machen soll? Für den schwierigen Umgang mit den Wutanfällen nimmt Herr Schneider sich in die Verantwortung und positioniert sich als Opfer seiner selbst. Herr Schnei76 Die Bedeutung der direkten Ansprache für die partnerschaftliche Interaktion in dieser Paarberatung wird hier nicht näher erläutert (siehe dazu Kulbarsch, 2015).

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der zeigt sich außerstande, sein Verhalten zu ändern, deswegen könne er auch keine Handlungsalternativen aufzeigen. Darüber hinaus verbündet er sich mit Frau Schmidt, indem er bestätigt, dass sie keine andere Option habe, als sich so zu verhalten, wie sie sich verhalte, und relativiert damit die vormals direkte Adressierung von Frau Schmidt. Herr Schneider positioniert sich als das Problem und präsentiert sich damit erneut als hilflos. Mit den »normalen« Handlungsmöglichkeiten, die Frau Schmidt zur Verfügung stehen (»Ob sie jetzt geht oder ob sie bleibt«), scheint eine Problemlösung nicht möglich zu sein. Damit präsentiert er sich und ebenfalls seine Partnerin als hilflos. Herr Schneider fragt daher nach außeralltäglichen und außergewöhnlichen Handlungsmöglichkeiten für Frau Schmidt, weil man es Herrn Schneider mit dem »normalen«, derzeit verfügbaren Verhaltensrepertoire nicht recht machen könne. Herr Schneider spricht wieder die Berater*innen an und geht nicht in den eröffneten Dialog mit seiner Partnerin. Außerhalb der Paardyade zu suchende Hilfe wird insofern als notwendig deklariert, als die normalen alltäglichen Strategien nicht zufriedenstellende Lösungen mit sich bringen. Im Zusammenhang mit der Unterstützung von außen wird die Expertise professioneller Fachkräfte angesprochen. Die Suche nach Expertise richtet sich auf den Umgang mit Herrn Schneiders Wutanfällen, nicht aber auf deren Bearbeitung. Frau Schmidt wird somit als Verantwortliche für »außeralltägliche« Tipps und Ratschläge beim Umgang mit den Wutanfällen von Herrn Schneider adressiert. Herr Vechten greift nun gesprächsförmig das Gesagte auf. Es erfolgt ein Einholen der Paarbedeutung für dieses Setting und ein Einholen von Herrn Schneider durch direkte Ansprache dazu. Herr Vechten markiert mit seiner Frage die gemeinsame Handlungsunfähigkeit und beidseitige Hilflosigkeit. Frau Schmidt wird als Person gegenüber Herrn Schneider positioniert, die auch Unterstützung in der Problembewältigung benötigt. Bisher verdeutlichte nur Frau Schmidt, dass sie nicht wisse, was sie machen solle. Herr Schneider hingegen hat sein Verhalten normalisiert (er kann nicht anders) und sieht die Veränderungsnotwendigkeit bei Frau Schmidt. Er thematisiert nicht, dass er nicht weiß, was er machen soll. An dieser Stelle der Paarberatung wird vom Berater fokussiert, dass eine beidseitige Hilflosigkeit der Partner*innen notwendig für diese Paarberatung ist. Er erteilt der Idee eine Absage, dass nur eine Person Hauptadressat*in dieser Paarberatung sein kann. Durch ähnliche Ausgangslagen, die hier konstruiert werden, werden wieder beide als Adressat*innen dieser Paarberatung konstruiert und ihre Veränderungsbereitschaft als notwendige Ausgangsbasis einer Paarberatung betont. Es erfolgt dadurch ein Fokussieren der Paarebene. Eine Problemlösung kann nur auf Paarebene realisiert werden. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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 rau Schmidt: Mhm. Ich weiß auch nicht, was ich machen soll. ((Herr VechF ten: Ja)) Ich bin da ein bisschen ratlos. Herr Vechten: Sie ((deutet auf Herrn Schneider)) haben meine Frage verstanden? Frau Schmidt antwortet, obwohl Herr Schneider angesprochen wird. Sie macht nochmals deutlich, dass sie nicht wisse, wie sie ihr Verhalten ändern solle. Durch das »auch« wird markiert, dass sie verstanden hat, dass sich Herr Schneider ebenfalls hilflos fühle. Dabei wird evoziert, dass innerhalb von Paarberatung Ratschläge und Tipps von Expert*innen gegeben werden, weil die zu Beratenden keine Ideen zur Lösungsmöglichkeit gefunden haben. Damit positioniert sie sich zwar als Adressatin, aber nicht als alleinige Hauptadressatin dieser Paarberatung. Herr Vechten geht nicht auf das Gesagte von Frau Schmidt ein und wendet sich direkt Herrn Schneider zu. Das Rederecht wird hier vom Berater verteilt. Da kein inhaltliches Eingehen auf ihren Beitrag erfolgt, geht er nicht auf ihre Frage und ihre Positionierung als hilflos ein. Im Fokus steht hier nicht die versprachlichte Hilflosigkeit von Frau Schmidt, sondern deren Wahrnehmung durch Herrn Schneider. Herr Vechten nimmt ihn wieder in die Pflicht, auf die Frage zu antworten sowie seine Hilflosigkeit und die seiner Frau zu bestätigen. Herr Vechten folgt weiter seiner Struktur, dass innerhalb seiner Beratung ein Problembewusstsein beiderseits und füreinander vorhanden sein muss. Die Frage grenzt Herrn Schneiders Handlungsfähigkeit und Veränderungsmöglichkeit ein. Gleichzeitig steht die Arbeit an der Gewinnung des Manns für dieses Setting im Fokus. Die Bereitschaft von Frau Schmidt, an diesem Setting teilzunehmen und sich zu verändern, wird somit als gegeben vorausgesetzt. Herr Vechten stellt mit dieser Frage eine starke Strukturierung des Gesprächs in den Vordergrund und stärkt seine Rolle als Experte. Zusammengefasst findet einerseits eine Pathologisierung und damit eine Einschränkung der Veränderungsmöglichkeit statt, andererseits wird die relationale Bedingtheit der Beziehung hervorgehoben, wonach beide als Adressat*in dieser Paarberatung agieren und somit verantwortlich für Veränderungen sind – aber mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Bei Frau Schmidt wird die Veränderungsbereitschaft als gegeben vorausgesetzt, bei Herrn Schneider muss diese noch hergestellt werden. Ein Problembewusstsein und die Notwendigkeit der Beratung wurden durch den Berater verdeutlicht – und damit Veränderungsbereitschaft eingeholt. Das Erstgespräch sieht hier vor, dass beide an sich und der Paarbeziehung arbeiten wollen und bereit dazu sind, sich zu verändern. Für die Struktur lässt sich hier festhalten, dass Herr Vechten sich weiterhin als Experte darstellt, indem er das Paar als Hilfebedürftige positioniert. Er lässt © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sich von den Partner*innen bestätigen, dass sie sich selbst als Hilfebedürftige wahrnehmen, ohne Hilfe von außen die Probleme nicht lösen können und den*die Partner*in ebenfalls als handlungsunfähig wahrnehmen. Die relationale Verbindung und dadurch die Ansprache beider als Adressat*innen der Paarberatung wird deutlich. Der vorherigen einseitigen Zuschreibung des*der anderen als Adressat*in wird hier etwas entgegengesetzt, indem einem Partner die relationale Bedingtheit der Beziehung nahegebracht wird. Da Herr Schneider seiner Frau noch Handlungsmöglichkeiten unterstellt, wird an dieser Stelle ein Problembewusstsein evoziert, dass seine Frau auch keine mehr sehe. Es wird daran gearbeitet, dass der*die Partner*in wahrnimmt, dass der*die andere auch handlungsunfähig ist. Veränderungswilligkeit wird Frau Schmidt bereits unterstellt und auch von ihr generell präsentiert, für Herrn Schneider muss sie noch hergestellt werden. Inwieweit Herr Schneider die Notwendigkeit eigener Veränderungsbereitschaft (an)erkennt oder einen anderen Umgang findet, soll die Aushandlung des Anliegens verdeutlichen. Frau Povski fragt kurze Zeit darauf, was sich seit ungefähr einem Jahr verändert habe. Herr Schneider und Frau Schmidt berichten davon, dass der Sohn von Herrn Schneider eine Zeit lang bei ihnen gewohnt habe und dies sehr problematisch verlaufen sei. Die familiären Schwierigkeiten wirkten sich dann, so Herr Schneider, auf die Beziehung aus: »Dann sind meine Freundin und mein Sohn nicht zurechtgekommen und dadurch sind wir halt wieder nicht zurechtgekommen« (N004_01, Z. 269–271). Herr Schneider berichtet, seitdem der Junge wieder zurück bei der Mutter sei, »fühl ich mich halt ein bisschen allein gelassen, weil ich ja jetzt (2) loslassen muss von dem Jungen« (N004_01, Z. 286–288). Frau Povski fragt nach der Sichtweise von Frau Schmidt, die über Schwierigkeiten mit der Mutter des Sohns berichtet. Herr Vechten kommt zu dem Schluss: »Aber natürlich will die Frau was von Ihnen. Da geht’s um zwei Frauen, die sich, ne? Die auch um den Mann kämpfen und vor allem ums Kind« (N004_01, Z. 323–325). Frau Schmidt berichtet über die schwierige Zeit, als der Junge bei ihnen gelebt habe, was auch an den unterschiedlichen Erziehungsstilen liege. Überdies verdeutlichen beide, dass Frau Schmidt keine Kinder mehr gewollt habe. Nach Thematisierung des Altersunterschieds verdeutlicht Frau Schmidt nochmals: »Ich wollte kein Kind mehr haben eigentlich. Ich wollte eigentlich mit ihm ein richtiges, schönes, ruhiges Partnerschaftsleben führen« (N004_01, Z. 384–385). Auf Nachfrage von Herrn Vechten berichten die Partner*innen jeweils von ihrer Arbeit. Seit der Sohn bei ihnen lebte, war Herr Schneider krankgeschrieben. Darauf © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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aufbauend fragt Herr Vechten beide, wie sie ein Paar geworden seien. Es entspinnt sich ein Dialog über die Paargenese. Besonders Herr Schneider wird angefragt: »Was hat Ihnen so gefallen an dieser Frau?« (N004_01, Z. 533). Es wird weiter über die Paargenese gesprochen, besonders über die Entscheidung des Zusammenziehens. Dieser Dialog wird von Frau Povski unterbrochen und sie fragt Frau Schmidt, welche Erwartungen sie an die Paarberatung habe. Daraufhin antwortet diese, dass »Sie uns erst mal ein bisschen helfen und dass ein bisschen wieder in den Griff kriegen. Bisschen die Beziehung retten« (N004_01, Z. 689–690). Sie wünsche sich, dass Herr Schneider lerne, »sich bei mir zu entschuldigen, wenn er mal einen Fehlgriff getan hat« (N004_01, Z. 695–696). Daraufhin nimmt kurze Zeit später Herr Vechten die Aussage wieder auf. 5.2.2.4 Aushandlung des Anliegens der Paarberatung

In der nächsten rekonstruierten Sequenz wird verhandelt, was die Paarberatung leisten könne. Anhand der Anliegenklärung wird die Struktur von Paarberatung thematisiert.  err Vechten: Das heißt also, ich habe verstanden, Sie [zu Frau Schmidt] H wollen, dass wir ein bisschen Ihre Beziehung retten? Herr Vechten paraphrasiert das vorab von Frau Schmidt Gesagte und nimmt eine Verstehensperspektive ein. Es wird abgeklärt, ob er es richtig zusammengefasst und zutreffende Schlüsse daraus gezogen hat. Mit dieser Form von Übersetzungsangebot formuliert Herr Vechten, dass »ein bisschen« gerettet werden soll. Sprechaktlogisch kann man etwas retten oder nicht – verdeutlicht wird, dass Berater*innen keine Beziehung retten können, auch nicht ein bisschen. Dieses Anliegen wird somit teilweise zurückgewiesen. Herr Vechten nimmt die Redewendung von Frau Schmidt auf. Allerdings spricht er nicht von »die Beziehung retten«, sondern formuliert in »Ihre Beziehung retten« um. Es erfolgt eine direkte Ansprache an Frau Schmidt. Frau Schmidt wird dahingehend angesprochen, dass sie selbst nur die Beziehung retten könne. Und sie wird aufgefordert, sich dazu zu positionieren. Wenn eine Beziehung gerettet werden soll, müssen Szenarien berichtet werden, in denen etwas rettungswürdig erscheint. Diese Auftragsklärung bzw. stellvertretende Deutung ist pädagogisierend formuliert. Herr Vechten beschreibt das Erstgespräch als Setting, das nicht standardisiert ist. Als Berater stellt er eine solche Auftragsfrage, die zwar schon als Teil des Prozesses zu verstehen, aber auch so diffus ist, dass sich nicht deutlich abgrenzt, was alles in diesem © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Erstgespräch besprochen werden kann bzw. darf. Die Verständigung darüber erfolgt über die Perspektive der stellvertretenden Deutung, die deshalb schon einen Teil der Bewältigung darstellt, und weniger die konkrete Aushandlung des Anliegens. Es wird verhandelt, was das Setting Paarberatung als Struktur vorsieht: das Anliegen und die zuständige Verantwortung klären. Die Verantwortung über den Erfolg der Paarberatung wird an Frau Schmidt zurückgegeben. An der Struktur der Freiwilligkeit und des Interesses an Ratschlägen und Tipps von Expert*innen zur Problemlösung wird festgehalten.  rau Schmidt: Weiß ich nicht, ob das jetzt mit da mit reinfließen kann in F diese Paartherapie, ob das im Rahmen der Möglichkeiten steht, ich weiß es nicht, was so das Anliegen der Paartherapie eigentlich ist. Ich weiß es nicht. Frau Schmidt spricht (noch) nicht über ihr eigenes Anliegen, sondern über das, was in diesem institutionalisierten Setting möglich ist. Der Paarberatung/therapie wird implizit eine Eigenlogik unterstellt, die einer vorgeschriebenen, als nicht verhandelbar deklarierten Struktur folgt. Frau Schmidt positioniert sich selbst als Person, die nicht weiß, was hier verhandelt werden kann. Die Berater*innen werden von Frau Schmidt indirekt als Akteur*innen angesprochen, die eine feste Struktur der Paarberatung vorgeben und somit auch legitimieren sollen, ob das formulierte Anliegen »Beziehung retten« Teil der Beratung sein kann. Frau Schmidt spielt den Ball zurück und Herr Vechten ist somit erneut in der Detaillierungspflicht. Sie möchte, dass »Beziehung retten« Thema dieser Beratung ist, und positioniert sich als Nicht-Expertin bezüglich der äußeren Rahmenstruktur und der thematischen Inhalte. Sie bezieht sich in ihrem Sprechakt auf »Paartherapie«. Es scheint kein dezidiertes Bewusstsein darüber zu herrschen, was Therapie in diesem Setting und in der Tagesklinik bedeutet – und es wird auch nicht aufgeklärt. Die Struktur der Beratung ist für das Paar unklar. Auch die Begrifflichkeit »Beziehung retten« ist uneindeutig und inhaltlich nur vage bestimmt. Die Struktur (äußerer Rahmen wie auch Themen), nach der gesucht wird, wird als festgeschrieben deklariert. Frau Povski: [Was wäre denn Ihr Anliegen? Herr Vechten: Wir wollen ja wissen, was Ihr Anliegen ist.] Frau Schmidt: Na das habe ich eben gerade gesagt ((lacht)). Der Ball wird von beiden Berater*innen gleichzeitig zurückgespielt. Die Aussagen beider können als Übersetzungsversuch an Frau Schmidt gewertet werden. Hier wird noch einmal direktiver formuliert, dass eine Auftragsklärung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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vorgesehen und eingefordert wird. Paarberatung ist nur möglich, wenn die Berater*innen wissen, welche Problemlösung besprochen werden soll (Vorhandensein eines konkreten reflexiv zugänglichen Anliegens). Herr Vechtens »wir wollen ja wissen« impliziert, dass Frau Schmidt weiß, was ihr Anliegen/ das Anliegen des Paars ist, und es wird unterstellt, dass dieses manifest-reflexiv zugänglich ist. Für die Berater*innen hat dieses Gespräch nach einer bestimmten Struktur abzulaufen und am Anfang ist nach dem Anliegen zu fragen. Es wird vorausgesetzt, dass das Paar um diese Struktur des Beratungsgesprächs weiß. Frau Schmidt verweist mit »Na das habe ich eben gerade gesagt« auf das vorab Gesagte. Durch die Unterstellung bzw. Vorstellung, dass die Berater*innen gewisse Erwartungen hegen, beruft sie sich auf deren Expert*innentum. Frau Schmidt spricht den Berater*innen eine größere Verantwortung für die Struktur (Rahmen und Inhalt) der Paarberatung zu als sich selbst. Struktur und Passgenauigkeit des Anliegens für die Paarberatung werden hier verhandelt. Frau Schmidt evoziert als Strukturmerkmal das Expert*innentum der Berater*innen.  rau Povski: Also es geht ja um Ihr Anliegen, also was was Sie gern möchten, F [was Sie erreichen wollen. Frau Schmidt: Ich weiß ja nicht mal,] was Sie so für Vorstellungen haben. Frau Povski: Äh, Erfolgsgarantie gibt’s hier nicht, oder? Frau Schmidt: Nee, dass sowieso nicht. Herr Vechten: Und Vorstellungen haben wir noch gar keine. Frau Schmidt: Achso. ((Herr Vechten: Das ist ja [( jetzt hier-))) Ich war ja auch schon mit äh bei ihm in der Tagesklinik mit bei Herrn Dacher. Habe ich schon ein paar Sitzungen mitge- mitgemacht ((Frau Povski: Ja)) und da, der nudelt einen ja aus. Also da bin ich jedes Mal heulend rausgegangen ((Frau Povski: Ah ja)). Das war dann ((lacht)) mein letzter Ausweg, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Frau Povski gibt nun mit »was Sie gern möchten, was Sie erreichen wollen« ein Übersetzungsangebot für das Anliegen hinein. Für die Berater*innen gibt es eine innere Struktur, wie dieses Gespräch abzulaufen hat. Dies ist Teil der Expertise, auf die sich Frau Schmidt beruft. Die Struktur beinhaltet, dass am Anfang nach dem Anliegen gefragt wird. Es wird als Voraussetzung deklariert, dass das Paar um diese Struktur des Beratungsgesprächs weiß. Frau Povski und Herr Vechten halten an ihrer Struktur fest, dass die inhaltlich-thematische Ausgestaltung der Anliegenklärung durch das Paar erfolgen muss. Frau Schmidt wird fortwährend als reflexiv zugänglich, ihr Anliegen oder ihre Wünsche und Ziele betreffend, angesprochen. Hier entsteht ein Bild von Paarberatung, die helfen will, aber © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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unzulässigerweise etwas voraussetzt: das Wissen über das Anliegen und die Struktur von Paarberatung. Auf Frau Schmidts Positionierung der Nicht-Wissenden hinsichtlich Paarberatung wird nicht eingegangen. Es wird ihr dahingehend kein Angebot gemacht, sie wird auf sich selbst zurückgeworfen. Die Hervorbringung eines expliziten Änderungswunschs, der sich zunächst auf Frau Schmidt bezieht und ihr reflexiv zugänglich ist, steht im Vordergrund. Neben der Strukturvorstellung werden die Rollenverständnisse über Ratsuchende und Berater*innen verhandelt. Die Berater*innen setzen auf diese Offenheit des Paars, also auf eine Prozessgestaltung, die Autonomie und Selbstbestimmung der Ratsuchenden hochhält. Das Paar wird dabei insofern als »kundig« bezüglich seiner Problem- und Krisenwahrnehmung (ähnlich wie der systemische Grundsatz: Klient*in ist Expert*in) konstruiert, als es sein Anliegen formulieren kann. Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung betreffend werden Tipps und Ratschläge von den Berater*innen als notwendig erachtet. Das bedeutet, dass bei der Struktur der Paarberatung kaum Mitgestaltung in Betracht kommt, wenngleich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Paarberatungsthemen eine Mitgestaltungspflicht angemahnt wird. Diese Struktur des Beratungsgesprächs offerieren Herr Vechten und Frau Povski, wenngleich dies nicht unmittelbar anschlussfähig an Frau Schmidts offerierten Vorstellungen ist, die sich stärker auf eine externe Bestimmung der Paarberatung beruft. Frau Schmidt bezieht sich als Orientierung auf Herrn Dacher, den Therapeuten aus der Tagesklinik, die Herr Schneider besucht. Die Differenz der Settings zeigt sich in Frau Schmidts Äußerung. Frau Schmidt und Herr Schneider sind schon längere Zeit durch die Diagnosen von Herrn Schneider im medizinischen Kontext verhaftet. Therapie hat dort, durch den Versorgungsauftrag und die Orientierung an einem Krankheitsbild eine – so eine Lesart – andere Struktur. Herr Schneider gilt dort als der Patient, Frau Schmidt wird als Angehörige von Herrn Schneider gerahmt. Es erfolgte somit eine »medizinisch-therapeutische Sozialisation« bezogen auf die Struktur von Therapien. Bei der Paartherapie bzw. -beratung, die hier stattfindet, sind die Voraussetzungen anders strukturiert. Entgegen den Erfahrungen aus der Tagesklinik basieren die Voraussetzungen der Paarberatung/-therapie auf Freiwilligkeit und konstruieren sich in der Struktur einer Dienstleistung. Das Paar ist mit einer Paarberatungsstruktur konfrontiert, im Rahmen derer sie überlegen, was der*die andere denkt und erwartet und wie man damit umgeht (in der Verhandlung und auch mit selbstreflexiven Erwartungen/Anteilen). Die Struktur der Paarberatung geht daher davon aus, wonach die Probleme auf der Ebene der Interaktion verhaftet sind und weniger das Krankheitsbild einer Person für die Probleme verantwortlich ist. Diese Struktur setzt somit einen hohen Selbst© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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reflexionsanteil bei dem Paar voraus. In der Struktur der Anliegenklärung werden die Partner*innen einerseits als reflexiv und wissend, andererseits als Ratsuchende manifestiert. Letztlich gehen sowohl die Ratsuchenden, hier Frau Schmidt, als auch die Berater*innen davon aus, dass die andere Seite gewisse Vorstellungen hat, was Gegenstand der Paarberatung sein sollte bzw. sein könnte. Paarberatung wird in ihrer Struktur verhandelt. Die Freiwilligkeit des Aufsuchens dieses Settings und die Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung setzen als bedeutende Orientierungsaspekte der Paarberatung ein hohes Selbstreflexionsvermögen voraus. Die Partner*innen werden als Expert*innen ihres Problems angesprochen, aber nicht als Expert*innen für die Problemlösung. Auf der einen Seite wird Offenheit suggeriert, die intensiv auf eine die Autonomie und Selbstbestimmung der Ratsuchenden betonende inhaltliche Prozessgestaltung setzt. Andererseits besteht der Anspruch, dass mithilfe der Tipps und Ratschläge der Expert*innen eine Entwicklung initiiert bzw. aktiv gestaltet werden muss. Die von Herrn Vechten und Frau Povski angebotene Struktur des Beratungsgesprächs ist nicht anschlussfähig an Frau Schmidts Vorstellungen einer stärker extern bestimmten Paarberatung – sowohl die äußeren Rahmenbedingungen als auch die inhaltlich-thematische Anliegenklärung betreffend. Nachfolgend wird über die Therapie bei Herrn Dacher gesprochen, die Frau Schmidt als »Erleichterung« (N004_01, Z. 760) empfand. Herr Schneider berichtet, dass er »so viel verletzt worden« (N004_01, Z. 780) sei, dass es ihm beispielsweise schwerfalle, sich zu entschuldigen. Herr Vechten fragt daraufhin nach Spitznamen, die sie sich gegenseitig geben, bis Frau Povski gegenüber Herrn Schneider die Wünsche von Frau Schmidt zusammenfasst: »Das Entschuldigen von Ihrer Seite oder auch weniger Schimpfwörter zu verwenden im Gespräch und auch die Aggressivität vielleicht etwas runterzufahren. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das hören?« (N004_01, Z. 825–828). Herr Schneider beschreibt, nicht zu wissen, woran die Ausbrüche liegen. Herr Vechten fragt daraufhin Herrn Schneider: »Was braucht Ihre Frau denn, dass sie Sie besser versteht?« (N004_01, Z. 862–863). Als erste Lösung wird gemeinsam eruiert, dass Herr Schneider die Arme weiter öffnen und sie umarmen könne. Auf die Frage von Frau Povski, wie viel Zeit Frau Schmidt sich, dem Paar, noch gebe, antwortet sie: »Dreiviertel Jahr, ich weiß es nicht« (N004_01, Z. 952). Worauf Herr Schneider entgegnet, dass »jemand in der Therapie dabei ist, der das Ähnliche hatte wie ich und dass es bei dem mehrere Jahre gedauert hat. (7) Wir können bloß darauf hinarbeiten, Schritt für Schritt« (N004_01, Z. 967–969). Frau Schmidt meint: »Es geht immer ʼne Zeit lang, mal 14 Tage, drei Wochen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ohne Stress. Das haben wir auch schon durchgehalten und dann kommt wieder ein Knall ohne Ende« (N004_01, Z. 974–976). Frau Povski greift dies auf und fragt: »Sie haben eben gesagt, es ging irgendwie schon mal. Äh wie war das?« (N004_01, Z. 984–985). Frau Schmidt berichtet dann vom Urlaub in der Türkei: »Das ging super« (N004_01, Z. 986), und Herr Schneider sei dort »ein anderer Mensch« (N004_01, Z. 991) gewesen. Auf die Frage von Frau Povski: »Was glauben Sie, woran hat es gelegen?« (N004_01, Z. 993), antwortet Herr Schneider: »Die ganze Kultur da« (N004_01, Z. 994). Im weiteren Verlauf wird über die Türkei, deren Kultur und positiven Auswirkungen auf die Beziehung gesprochen. Beide Berater*innen sind interessiert daran zu erfahren, »was macht die Türkei aus« (N004_01, Z. 1098). Frau Schmidt erwähnt den »Bauchtanz« (N004_01, Z. 1110), den sie auch selbst tanzt. Daran schließt sich inhaltlich die nächste rekonstruierte Sequenz an, die eine Lösungsexplikation fokussiert und aushandelt. Dabei zeigt sich, wie der Umgang mit der Selbstreflexion und den anderen Strukturbestandteilen der Paarberatung verhandelt wird. 5.2.2.5 Lösungsfokussierung auf der Handlungsebene

Im Rahmen dieser ersten Entwicklung einer Lösung auf Handlungsebene wird erörtert, wie eine Lösung im Sinne der Berater*innen aussehen kann und wer für sie verantwortlich gemacht wird.  err Vechten: Also, wenn wir beide nun sagen würden, wir dürfen das nicht, H aber einfach, wir verschreiben Ihnen jetzt einmal in der Woche äh einmal so ein Türkei-Fluidum zu Hause. Was halten Sie davon? Es erfolgt von Herrn Vechten eine Ankündigung im Konditionalis, die weiter ausformuliert wird. »Also« deutet daraufhin, dass vorab Optionen differenziert besprochen wurden und nun zusammengefasst werden. Es geht um das zukünftige Handeln und dessen Optionen werden besprochen sowie entsprechende Entscheidungen eingefordert. »Beide« spricht eine Vergemeinschaftung mit Frau Povski an und evoziert das Einholen einer Stellungnahme oder Meinung beim Gegenüber, d. h. bei Frau Schmidt und Herrn Schneider. Es zeigt sich ein Appell oder eine Form der Überredung zum praktischen Handeln. Der Sprechakt »wir dürfen das nicht« verweist auf eine Bezugnahme auf ein Regelwerk, das nicht expliziert wurde und somit nicht für alle zugänglich ist. Letztlich wird eine Widersetzung herangezogen. Durch den Einschub kann der Aushandlungsprozess, der einen Gegensatz zum Verschreiben einer Lösung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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darstellt, umgangen werden. Expertokratisch wird ein Ratschlag gegeben und somit eine Lösung verschrieben. Ein Aushandlungsprozess der Lösung wird nicht offeriert. Die Formulierung, ein »Türkei-Fluidum« zu »verschreiben«, bedient einen fachsprachlichen Jargon: Verschreiben bedeutet eine Unumgänglichkeit. Um gesund zu werden, muss das Verschriebene eingenommen bzw. durchgeführt werden. Gleichzeitig transportiert »verschreiben« Expertise. Die Verschreibung beruft sich auf ein Kennen der Lösung bzw. der Heilung, das zunächst (besonders bei Ärzt*innen) alternativlos erscheint und nicht zur Disposition gestellt wird. Gleichzeitig wird damit etwas – das zu Behandelnde – bei dem Paar pathologisiert. Das Verschriebene wird durch die Nachfrage »Was halten Sie davon?« zu etwas Realistischem. Es wird eine Äußerung damit eingeholt, weniger eine konkrete Entscheidung zu diesem Verschriebenen. Es soll Stellung bezogen und das Verschriebene per se nicht infrage gestellt werden. Bedeutung und Häufigkeit der Verschreibung werden zur Aushandlung gestellt, das »Türkei-Fluidum« an sich ist gesetzt. Es handelt sich um einen expertokratischen Tipp, der strukturell berechtigt, aber inhaltlich-thematisch noch gestaltungsbedürftig ist. Zudem ist die Lösung auf der Interaktionsebene des Paars angesiedelt. Es geht weniger um eine Reflexion von beispielsweise Kommunikation, sondern die Wahrnehmung einer Beziehungsverbesserung durch Handlung. Dies bezieht sich mehr auf eine Handlungs- und weniger auf eine Reflexionsebene der Lösung. Der Sprechakt deutet auf den bisherigen Aushandlungsprozess bei der Lösungsfindung bzw. die Dringlichkeit eines solchen im Rahmen der Beratungsstruktur hin. Er impliziert, dass Frau Schmidt und Herr Schneider zu einer Lösungsfindung (oder gar für den gesamten Prozess) nur schwerlich zu bewegen sind. Beide werden als zu Überzeugende adressiert.  rau Schmidt: Machen wir ja öfters mal. Die Shisha machen wir ja auch ab F und zu an. Das ist ja auch so ʼne [Urlaubserinnerung. Frau Schmidt kommentiert, dass die Idee als nicht verschreibungspflichtig gewertet werden muss, da sie schon durchgeführt wird. Dennoch wird näher erläutert, was selbst unter dem »Türkei-Fluidum« verstanden wird und aus welchen Bestandteilen (»Shisha«) es besteht. Hier wird eine Konkretisierung emotional als »Urlaubserinnerung« eingebettet. Das »Türkei-Fluidum« erhält eine andere Bewertung bzw. Nutzen. Während Herr Vechten das »Türkei-Fluidum« als Lösung für die genannten Probleme begreift, steht es bei Frau Schmidt für die Erinnerung an den schönen Urlaub und wird nicht im Sinn eines positiven Paaraspekts verstanden oder zur Verbesserung der Paarbeziehung genutzt. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Das »Türkei-Fluidum« erhält hier die Bedeutung der schönen Urlaubszeit. Es wird nicht als die perfekte und ausreichende Medizin bzw. Lösung für das Beziehungsproblem deklariert. Eine mögliche Lesart ist, dass die Häufigkeit der Anwendung infrage gestellt wird: Wie es jetzt sei, reiche es noch nicht aus. Herr Vechten: Das ist ʼne] Pfeife, ja? Frau Schmidt: Mhm ((nickt))‚ ne Wasserpfeife, mhm. Herr Vechten: Mhm, genauso ist es. Frau Schmidt: Und dann trinken wir Tee von da unten ((Herr Vechten Ja)), den wir uns mitgebracht haben. ((Herr Vechten: Ahja)) Frau Povski: Also Sie haben schon ein paar Elemente [von der Türkei (bisher). Frau Schmidt: Ja ja.] Dann immer mal Musik, muss ich ihn ein bisschen volldudeln, das nicht so gefällt. ((lacht)) Die Bauchtanzmusik. Herr Vechten: Ja, ja das würde heißenFrau Povski: ((zu Herrn Vechten)) Wasserpfeife, Tee? Es erfolgt eine Konkretisierung dessen, was unter Urlaubserinnerung verstanden und umgesetzt wird. Die Erinnerungen an den Urlaub, weniger die Elemente, die mit der Türkei verbunden sind, werden in den Alltag zu Hause integriert. Die Urlaubserinnerung stellt eine Besonderung dar: die Freude über das Fremde, das nicht Bestandteil des Alltags wird. Frau Schmidt positioniert sich als Aktive, die ausprobiert, und auch als dafür Zuständige. Die Überprüfung der Bestandteile des Türkei-Fluidums realisieren dagegen die Berater*innen. Eine Verständigung darüber, inwieweit nun von der Konkretisierung der Urlaubserinnerung oder des Türkei-Fluidums gesprochen wird, ist hier nicht vorgesehen. Die Berater*innen halten an dem Türkei-Fluidum als Lösung fest und deklarieren, dass die Urlaubserinnerungen häufiger in den Alltag überführt werden müssen, um als Fluidum für die Beziehung hilfreich zu wirken. »Shisha« und »Tee« können vom Paar noch als gemeinsame Elemente der Erinnerung an die Türkei genutzt werden. Die Eingrenzung erfolgt dann bei der Musik. Die ist nur für Frau Schmidt schön und wird individualisiert. Es gäbe nur einzelne Elemente für beide. Wasserpfeife und Tee stehen hier für Entspannung. Mit Bauchtanzmusik können gewisse erotische Zugzwänge entstehen. Bauchtanzen und dazu Musik hören stehen für Erotik,77 die durch die Individualisie-

77 Die historische Bedeutung des orientalischen Tanzes (Bauchtanz) und neuzeitlich eingebettet in kulturelle Globalisierung findet sich bei Wohler (2009).

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rung der Vorliebe eine Absage erfährt. Die Entspannung aus dem Urlaub kann zu Hause zelebriert werden, die erotische Komponente jedoch nicht.  err Vechten: Es gefällt ihm nicht, ja? ((Frau Schmidt: Musik)) Die DudelH musik gefällt ihm nicht. Frau Schmidt: ((zu Herrn Schneider)) Nicht so, oder? Ich weiß es nicht. Herr Schneider: ((erwidert leise etwas – unverständlich)) Herr Vechten: Aha. (3) Herr Schneider: Ich hab’ da meine Musik. Herr Vechten: Achso. Würden Sie ((zu Herrn Schneider)) die Musik aussuchen und sie tanzt Bauchtanz? (Geht das?) Frau Schmidt scheint sich nicht sicher zu sein, inwieweit die Musik ihm gefällt. Herr Schneider bleibt bei seinen Vorstellungen (»meine Musik«). Der Bauchtanz als Lösungsstrategie wird am Ende von Herrn Vechten als passendes Mittel für das Türkei-Fluidum insistiert und stellt keine gemeinsam getroffene Entscheidung dar. Um den Mann wird die Lösung herumgebaut, wenn seine Musik für den Bauchtanz herangezogen wird. Herr Schneider wird hier positioniert als Mann, den man für die Paarberatung nicht verprellen dürfe. Es bedarf einer Orientierung an seinen Vorstellungen, um ihn für die Paarberatung zu halten. Die Lösung bzw. das Türkei-Fluidum soll Anwendung finden, indem sie Bauchtanz zu der von ihm bevorzugten Musik durchführt. Sie soll etwas tun, damit er Gefallen an dieser Situation und an der Lösung findet. Indem sich das Paar bei der Lösungsentwicklung an Interaktion orientiert, werden Ambivalenzen deutlich. Frau Schmidt wird ein deutlich aktiverer Part als Herrn Schneider zugesprochen. Seine Handlungsmöglichkeit wird fortwährend als eingeschränkt verhandelt. Wie am Anfang der Paarberatung bei der Anliegenklärung wird eine Mitgestaltung des Inhaltlich-Thematischen auch bei der Lösungsentwicklung offeriert. Die Ausgestaltung der Lösung wird ausgehandelt, aber die Lösung selbst – das Türkei-Fluidum – wird nicht als verhandelbar deklariert. Die Lösung ist innerhalb des Paars in der Interaktion verortet, realisiert sich also unter Beteiligung beider. Die Ausgestaltung der Lösung zeigt eine Asymmetrie innerhalb der Verantwortlichkeit des Paars. Sie bringt Frau Schmidt in eine aktivere Rolle und bringt sie durch das Vorführen einer erotischen Handlung zudem in eine vulnerable Position gegenüber Herrn Schneider. Frau Schmidt nimmt diese Form der Lösungsentwicklung und -ausführung an bzw. stellt sie nicht infrage. Herrn Schneider wird ein kleinerer Part – das Aussuchen der Musik – zugeteilt, welche keine großen Risiken für seine Einlassungen in die Paarinteraktion bereithält. Die Anforderung, dass die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Problemlösung unter Beteiligung beider Partner*innen zu erfolgen habe, wird damit rudimentär erfüllt, jedoch offensichtlich nicht gleichberechtigt bzw. sind die Partner*innen nicht in gleichem Maße beteiligt. Die Paarbeziehung wird entthematisiert und auf ihren funktionalen Ablauf reduziert. Tipps werden auf der Handlungsebene gegeben. Es geht nicht um Empfindungen oder Umstände, die zu (Nicht-)Wohlbefinden geführt haben, sondern um das Funktionieren der Beziehung im technischen Sinn. Tipps auf der Handlungsebene erfordern keine tiefgreifende Reflexion. Eine intensive Problemexplikation ist hier nicht mehr vorgesehen, sondern an Veränderungen und Lösungen wird gearbeitet. Es steht nicht im Vordergrund, Paar und Pro­ blem zu verstehen, sondern (Handlungs-)Lösungen zu initiieren. Die Partner*innen werden nicht als die Expert*innen in eigener Sache begriffen, aber in die Lösungsumsetzung einbezogen. Zusammengefasst wird hier expliziert, dass die Berater*innen eine Expert*innenlösung zugunsten einer reinen Handlungsebene preisgeben. Allein die Konkretisierung auf der Handlungsebene wird erörtert. Dabei steht nicht mehr zu Debatte, ob diese Lösungsmöglichkeit zum und für das Paar passt. Es handelt sich um eine Lösung, die besonders Interaktion in den Blick nimmt und beide Partner*innen – als Paar – einbezieht. An der Lösung (Bauchtanz) wird Frau Schmidt größere Beteiligung zugesprochen. Daraus wird die Idee weiterentwickelt, wie ein »türkischer Abend« (N004_01, Z. 1172) aussehen könnte. Zusammenfassend wird sich geeinigt, dass Herr Schneider die Musik aussucht und Essen einkauft. Frau Schmidt wählt ein Kostüm und führt Bauchtanz vor. Herr Vechten fragt Herrn Schneider, ob ihm das gefallen würde, der darauf antwortet: »Man könnte es probieren mal. Mehr können wir ja erst mal nicht machen« (N004_01, Z. 1221–1222). Frau Schneider wird von Frau Povski gefragt, wie für sie die Vorstellung eines türkischen Abends sei, die darauf antwortet: »Na, schön. Würde ich mich freuen drüber« (N004_01, Z. 1226). Daraufhin wird diskutiert, wann und wie oft bis zum nächsten Mal dieser türkische Abend stattfinden soll. Herr Schneider plädiert für »spontan« (N004_01, Z. 1350). Herr Vechten fasst zusammen: »Das heißt, da sind Sie auch flexibel in dem Fall und würden aber sozusagen wissen, also zwei Mal im Monat geht’s uns gut« (N004_01, Z. 1358–1359). Über einen längeren Zeitraum wird erarbeitet, wie sie sich fühlen würden, wenn sie den türkischen Abend durchgeführt hätten. Frau Schmidt nennt u. a. »super« (N004_01, Z. 1469), »erotisch« (N004_01, Z. 1471), »begehrenswert« (N004_01, Z. 1473). Herr Schneider nennt »zufrieden« (N001_01, Z. 1520), »Wärme« (N004_01, Z. 1523) und »geborgen« (N004_01, Z. 1529). Herr Vech© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ten gibt daraufhin eine Hausaufgabe auf: »Dass Sie einfach mal aufschreiben, was verbinden Sie mit dem Türkeiurlaub« (N004_01, Z. 1573–1574). Es entspinnt sich ein Gespräch über die wahrgenommenen kulturellen Unterschiede zwischen der Türkei und Deutschland. Daraufhin greift Herr Vechten nochmals die genannten Empfindungen auf und gibt als weitere Hausaufgabe auf: »Wenn Sie da mal gucken, (1) es einfach mal tauschen, dass Sie ein bisschen was zu Wärme, Geborgenheit aufschreiben und Sie mal ein bisschen gucken, was ist erotisch, was ist begehrenswert. (1) Sich einfach mal Gedanken machen« (N004_01, Z. 1654–1657). Frau Povski verdeutlicht in diesem Zusammenhang: »Also wir geben ja hier nur Anregungen, aber die Arbeit müssen Sie dann machen« (N004_01, Z. 1670–1671). Herr Vechten fasst die drei erarbeiteten »Hausaufgaben« (N004_01, Z. 1686) zusammen und thematisiert dann die Arbeitsbeziehung zu Frau Povski, da sie ihn zum ersten Mal mit Vornamen angesprochen hat, und resümiert: »Wir nähern uns auch an, das ist auch ʼne schöne Sache« (N004_01, Z. 1728–1729). Frau Povski erläutert nun das Reflecting Team gegenüber dem Paar. Die Berater*innen führen dann die Reflexion im Rahmen des Reflecting Teams durch und stellen positiv heraus, wie sehr die beiden an »dieser Paarbeziehung arbeiten« (N004_01, Z. 1752). Herr Vechten resümiert: »Ich habe ein gutes Gefühl zu den beiden« (N004_01, Z. 1810). Beide heben hervor, wie viel jede*r von ihnen an dieser Beziehung arbeite und dass diese Paarberatung »eigentlich nur so der i-Punkt« (N004_01, Z. 1834) sei. Am Ende des reflektierenden Gesprächs sprechen die Berater*innen darüber, dass sie sich eine Weiterarbeit in dieser Viererkonstellation gut vorstellen können. Nach dem Reflecting Team fragt Herr Vechten: »Können Sie mit uns was anfangen, was wir so gerade losgelassen haben?« (N004_01, Z. 1890–1891), was Frau Schmidt und Herr Schneider bejahen. Daraufhin fragt Frau Schmidt, wie viele Paare sich angemeldet haben und ob sie die einzigen seien. Daran schließt die letzte rekonstruierte Sequenz an, die die Bilanzierung aus Sicht des Paars verdeutlicht und den Abschluss des Erstgesprächs dieser Paarberatung darstellt. 5.2.2.6 Verabschiedung und Suche nach klarem Bekenntnis

Im Fokus dieser rekonstruierten Sequenz stehen die Abfrage der Bereitschaft zu einem weiteren Termin und das Bekenntnis zu dem offerierten Setting.  rau Povski: Mhm. Gut, dann die Frage, ob wir den nächsten Termin ausF machen wollen. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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»Mhm. Gut.« schließt das Gesagte ab, ohne inhaltlich nochmals darauf einzugehen, und deutet das Berufen auf eine Vorstrukturierung an, die in diesem institutionalisierten Setting vorherrscht: die Terminabsprache am Ende, in der ein Folgetermin zur Verhandlung ausgeschrieben wird. Anders wäre das beispielsweise beim Jobcenter, dessen institutioneller Rahmen ein weiteres Gespräch determiniert. Es verweist auf die Freiwilligkeit des Besuchs dieses Settings, das dadurch einen Dienstleistungscharakter aufrechterhält. Frau Povski bietet dem Paar einen Aushandlungsprozess an, ob ein weiterer Termin stattfinden soll. Dies wird durch »wir« aufgeweicht und zeigt auch die Verwobenheit von Frau Povski in diese Terminierung. Die neuen Termine stehen in einer gewissen Abhängigkeit von Frau Povski. Schließlich kann »wir« auch als Vergemeinschaftung gelesen werden. Eine Reziprozität in der weiterführenden Zusammenarbeit wird sichtbar. Sowohl Berater*innen als auch Frau Schmidt und Herr Schneider werden hier als Entscheidende ins Boot geholt, inwieweit ein neuer Termin stattfinden soll. Es wird reziprok verhandelt (es wird nicht nach wann, sondern nach ob gefragt). Dieser Sprechakt lässt Raum, einen Folgetermin zu diskutieren. Die Einleitung »dann die Frage« zeigt eine Selbstbezogenheit zu der Frage, ob ein weiterer Termin vereinbart werden soll. Die Einleitung gewährt auch die Option keines weiteren Termins. Die indirekten und unbestimmten Umschreibungen lassen eine Hintertür offen, dem weiterführenden Termin eine Absage zu erteilen. Das Paar wird hier zu Nutzenden einer Dienstleistung, die freiwillig in Anspruch genommen werden kann, adressiert. In dieser Situation wird das Paar als problembehaftet angesprochen. Durch diese Frage wird ebenfalls geklärt, ob das Paar oder Einzelne weiterhin die Notwendigkeit verspüren, die Probleme durch Expertise von außen zu lösen. Gleichzeitig wird mit dieser Frage evoziert, ob die gerade absolvierte Beratung den Ansprüchen bzw. Vorstellungen entsprochen hat. Ebenso kennzeichnet die Beraterin mit der Frage nach einem weiteren Termin zusätzlichen Bedarf. Durch die Markierung »wir« wird diese Lesart abgeschwächt. Herr Vechten: Ja. Können Sie sich vorstellen, dass wir was machen wollen? Herr Vechten signalisiert Zustimmung (»Ja«), aber die Frage, ob ein weiterer Termin stattfinden soll, wird aufgeweicht und auf eine inhaltliche Ebene verschoben. Gleichzeitig ist die Frage direkt an das Paar gerichtet, von dem eine Positionierung eingefordert wird. Herr Vechtens Aussage verdeutlicht, dass die Berater*innen Handlungsbedarf sehen und weitere Termine für notwendig erachten. Durch die Ansprache als Paar wird ihm eine Stellungnahme abverlangt. Dies verdeutlicht, dass dieses Setting Freiwilligkeit und Veränderungsbereit© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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schaft voraussetzt, zu der das Paar sich bekennen muss. Tut es das nicht, erteilt es dem Setting eine Absage. Dies macht Herr Vechten noch einmal deutlicher, indem er sich auf ein klares Bekenntnis bezieht. Frau Povskis Frage orientiert sich nach Folgeterminen und stellt dabei infrage, ob sie diese wollen. Dringlichkeit kommt nicht zum Ausdruck. Die Berater*innen bieten ihre Leistung an. »Was« ist eher unspezifisch. Das, was beim nächsten potenziellen Termin stattfinden könnte, wird nicht konkretisiert, sondern nur die Bereitschaft, inhaltlich zu arbeiten, abgefragt. Die Berater*innen verdeutlichen die Strukturverantwortung, nicht aber die Führungsstruktur (»was machen«). Zudem wird von beiden Berater*innen der Beratungsbedarf des Paars angesprochen. Es steht hier nur zur Verhandlung, ob das Paar mit dieser Form der Paarberatung und mit diesen Berater*innen weiterarbeiten möchte. Das Paar soll sich aktiv dazu bekennen, weiterhin freiwillig diese Dienstleistung in Anspruch nehmen zu wollen. Die beratungsdynamische Situation kann nicht vom Forschungskontext abgekoppelt werden. Die Berater*innen sind nicht nur von der Freiwilligkeit abhängig, sondern auch von der Investition, die das Paar für das Forschungsprojekt leistet. Es ist eine Herausforderung, sich selbst und das Paar aktiv als Gegenstand eines Forschungsprojekts zu begreifen. Es handelt sich auch um eine künstlich produzierte Krisensituation im Sinne des Forschungsprojekts, für die es ebenfalls ein Bekenntnis des Paars vonseiten der Berater*innen bedarf.  err Schneider: Also von meiner Seite aus stell ichʼs mir ganz gut vor. ((schaut H zu Frau Schmidt)) Herr Vechten: Schön. ((zu Frau Schmidt)) Sie auch? Herr Schneider markiert, dass er für eine weitere Zusammenarbeit zugänglich ist. Durch das Verwenden der gleichen Worte wie Herr Vechten wird der gemeinsame Aushandlungsprozess fokussiert, zu dem ein positives Bekenntnis erfolgt. Herr Schneider nimmt eine Ich-Perspektive ein. Aus dem positiven Bekenntnis für eine weitere Zusammenarbeit lässt sich schließen, dass diese Paarberatung für Herrn Schneider passend strukturiert ist. Eine direkte und endgültige Entscheidung wird nicht getroffen. Die Entscheidung wird durch einen Blick zu Frau Schmidt von ihr abhängig gemacht. Die Verantwortung wird an Frau Schmidt delegiert und dies zum Bestandteil der Entscheidung für weitere Termine gemacht. Herr Vechten hat hier die Führung des Gesprächs übernommen und bewertet die Aussage von Herrn Schneider in knapper Form positiv. Eine detaillierte © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Beschreibung, was daran als »schön« erachtet wird, erfolgt nicht. Das Bekenntnis zur weiteren Zusammenarbeit steht im Fokus, nicht deren inhaltliche Ausgestaltung oder Bedingungen. Hier zeigt sich die Voraussetzung, dass beide als Paar dieses Setting freiwillig aufsuchen. Herr Vechten unterbricht mit seinem Sprechakt den angestrebten Aushandlungsprozess von Herrn Schneider mit Frau Schmidt und übernimmt hier die direkte Ansprache an Frau Schmidt. Er wechselt von einer indirekten Ansprache an das Paar in eine direkte Ansprache an die Frau. Die Entscheidung über die Leistung hängt nun von Frau Schmidt ab, ohne sie (und ihr freiwilliges Mitarbeiten) kann keine weitere Paarberatung erfolgreich stattfinden. Es erfolgt eine Aufforderung, sich zu positionieren. Diese direktive Ansprache setzt eher voraus, dass Frau Schmidt an einer Weiterarbeit interessiert ist. Eine Verneinung bedürfte hier einer starken Begründungsfigur. Im Gegensatz steht dazu die vorherige Anrede, die einen umfassenderen Aushandlungsprozess und auch das Verneinen des Settings mit sich brachte. Diese, so scheint es hier, bezog sich eher auf das Bekenntnis von Herrn Schneider, auf das hier abgezielt wurde. Das Werben um Herrn Schneider für diese Paarberatung und der Umstand, aktiver Part der Lösung zu sein, werden positiv bestätigt.  rau Schmidt: Ja, da muss ich aber in meinen schlauen Dienstplan gucken. F ((lacht)) Wann ich wieder kann. ((lacht)) Herr Vechten: Sie haben bloß ne Vorstellung, die sich-, dies ist das erste JaFrau Schmidt: Ja. Herr Vechten: – und nicht die Einschränkung ((Frau Schmidt: Ja)) und das lässt sich alles ((Frau Schmidt: Ja, auf jeden Fall)) machen. Ja? Ganz klar, schön. Das ist eher so ’n Hinweis, fiel mir gerade nur auf. Ja, reicht. Und dann gucken wir [(in den Kalender führt). Frau Schmidt: Ja is ja.] Ja is ja. Durch den »schlauen Dienstplan« erfolgt eine weitere Abgabe der Verantwortung durch Frau Schmidt an einen nicht von ihr verantworteten Dienstplan. Eine weitere Zusammenarbeit wird nicht an einem klaren Bekenntnis festgemacht, sondern an den strukturell-organisatorischen Rahmenbedingungen, die eine Teilnahme erst ermöglichen. Dies kann als generelle Zustimmung verstanden werden, die nicht bestätigt werden muss. Die Verantwortung, weiter in diesem Setting teilzunehmen, formt sich zur Verpflichtung. Die Wichtigkeit der Arbeit und die Eingebundenheit in andere Dinge werden hervorgehoben und somit die Bedeutung der Paarberatung und letztlich die Dringlichkeit eines solchen Settings abgeschwächt. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vechten fordert ein klares Bekenntnis zur weiteren Zusammenarbeit von Frau Schmidt. Es stellt eine Form der Rüge gegenüber Frau Schmidt dar, während Herr Schneider für sein in Abhängigkeit von Frau Schmidt gesetztes Bekenntnis gelobt (»schön«) wird. Es bedarf einer direkten Zustimmung von Frau Schmidt. Diese wird verpflichtet zur freiwilligen Teilnahme und zur Bereitschaft der Veränderung durch Problemlösung. Gleichzeitig verdeutlicht dies, dass Frau Schmidt an der Veränderung der größere Anteil zugeschrieben wird. Frau Schmidt wiederholt nun mehrmals das Ja. Gleichzeitig wird das eingeforderte klare Bekenntnis nachgeholt. Die Ambivalenz gegenüber der weiteren Teilnahme bleibt bestehen und zeigt sich hier einerseits in der Verantwortung, an diesem Setting teilzunehmen, und andererseits darin, einer Ungewissheit ausgesetzt zu sein, wie dies im weiteren Verlauf nun passieren soll. Der expertokratische Rat, weiterhin eine Paarberatung aufzusuchen, wird befolgt. Das unklare Bekenntnis verdeutlicht aber auch eine Unzufriedenheit, die sich schließlich in der Delegation der Entscheidung an äußere Rahmenbedingungen (»schlauen Dienstplan«) zeigt. Zusammengefasst wird vom Paar durch die Ansprache als Paar eine Stellungnahme eingefordert, da das Setting setzt Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft voraussetzt. Frau Povskis Frage nach Folgeterminen zieht das ursprüngliche Bekenntnis des Paars zur Paarberatung in Zweifel. Obwohl aus der Berater*innenperspektive weitere Beratungstermine als notwendig eingestuft werden, wird keine Dringlichkeit offeriert. Und auch die Führungsstruktur wird trotz Führung durch die Berater*innen nicht deutlich. Ohne dass die Struktur von Paarberatung geklärt oder benannt wurde, wird am Ende des Erstgesprächs mit der Terminabfrage deren Bewertung durch das Paar eingefordert. Die Struktur wird nicht deutlich gemacht. Das Werben Herrn Schneiders für diese Paarberatung und der Umstand, einen aktiven Part bei der Lösung zu übernehmen, werden positiv bestätigt. Die Verantwortung, in diesem Setting weiter teilzunehmen, wird bei Frau Schmidt eher als Form der Verpflichtung deutlich. Ihr klares Bekenntnis wird sehr viel deutlicher eingefordert. Die Struktur der Paarberatung setzt hier den Fokus auf Interaktion, daher wird der einseitigen Zuschreibung des Mannes als Hauptadressaten (durch sein Krankheitsbild) nicht entsprochen. Eher im Gegenteil: Den aktiveren Part bei der Lösungsentwicklung liegt bei Frau Schmidt und wird von ihr akzeptiert. Anschließend erfolgt eine Absprache drei weiterer Paarberatungstermine. Damit endet die erste Sitzung der Paarberatung von Frau Schmidt und Herrn Schneider mit den Berater*innen Frau Povski und Herrn Vechten. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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5.2.2.7 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs

Der Anfang dieser Paarberatung wird von den unterschiedlichen Praxen der Berater*innen geprägt. Frau Povski beruft sich auf ein vorstrukturiertes Vorgehen und spricht das Paar als passiv Handelnde (Reagierende) an. Weiterhin bezieht sie sich auf das Berater*innenteam. Herr Vechten bezieht sich eher gesprächsförmig auf das Gesagte und stellt seine Expertise, dem Paar hilfreich zu sein, in den Fokus. Hierbei wird die Struktur des Erstgesprächs über das Expertentum, d. h. durch die Sicherheit/das Vertrauen in die eigene Kompetenz (des Beraters) hergestellt. Der Berater beruft sich nur auf seine Person (individueller Fokus). Die Beraterin fokussiert die fachlich vorgegebene Struktur ebenso wie die Relevanz des Berater*innenteams. Beide verdeutlichen damit auf unterschiedliche Weise die vorherrschende Asymmetrie und die eingeschränkte Mitgestaltungsmöglichkeit an der Struktur des Erstgesprächs. Am Anfang des Erstgesprächs wird die Erwartung an das Paar als Informationsgebende in ihrer Mitwirkungspflicht deutlich und zur Bedingung für diese Paarberatung gemacht. Ihnen wird ein Mitteilungsbedarf unterstellt und somit auch ein Anliegen für diese Paarberatung. Dies setzt eine gewisse Freiwilligkeit voraus, dieses Setting aufzusuchen, um Veränderungen herbeizuführen, und ein Interesse an dem Expertentum der Berater*innen. Der Anfang dieses Erstgesprächs ist geprägt über das Voraussetzen über den allgemeinen Ablauf von Paarberatungen. Struktur bzw. Rahmung räumen keine Mitgestaltungsmöglichkeiten ein. Am Anfang steht das Ausloten des Reflexionsvermögens des Paars (bzw. der Paarteile). Die angebotene Beratungsstruktur impliziert, dass ein Paar freiwillig bei der Paarberatung ist, weil es ein Problem hat, das es auf einer Reflexionsebene bearbeiten und lösen zu können glaubt. Strukturell sind Reflexion der Partnerschaft und Einfühlung in den*die andere*n Partner*in notwendig. Beide werden als veränderungswillig und als Einheit angesprochen. Herr Schneider positioniert sich zunächst als hilfebedürftig und verdeutlicht, dass er in diesem Setting nur eingeschränkt änderungsbereit oder -fähig ist. Sein Handlungsänderungsvermögen und seine Mitarbeit in diesem Setting grenzt er selbst mit Verweis auf Diagnosen ein. Den Erwartungen kann er also nicht entsprechen. Abschwächungen der Teilnahmebedingungen gegenüber Herrn Schneider gehen vom Berater aus. Nicht mehr das Reflektieren und Verändern, sondern das Reden miteinander wird als Anspruchsvoraussetzung markiert und lediglich geringe Mitwirkungsbereitschaft eingeholt. In dieser Paarberatung fungieren also beide Partner*innen als Mitwirkende, nehmen aber unter unterschiedlichen Voraussetzungen an diesem Setting teil. Während Herr Schneider als Adressat akzeptiert ist, wenn er teilnimmt und kommuni© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ziert, wird sein Veränderungs- und Reflexionsvermögen abgeschwächt. Für Frau Schmidt gilt diese Abschwächung nicht. Dennoch wird die Dyade in der gemeinsamen Mitwirkung an diesem Setting angesprochen. Das Paar kommuniziert den Berater*innen aus der jeweiligen subjektiven Perspektive unterschiedliche zu bearbeitende Probleme. Nicht die Paarpro­ blematik selbst wird gerahmt, sondern individuelle Problemwahrnehmungen expliziert und die Partner*innen weisen sich gegenseitig die erste Verhaltensänderung zu. Sie positionieren sich selbst als diejenigen, die nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen. Frau Schmidt positioniert sich aber als Person, die den Rat eines Experten benötigt, um wieder handlungsfähig zu sein. Im Gegensatz dazu positioniert sich Herr Schneider als veränderungsunfähig. Die Berater*innen verdeutlichen die relationale Bedingtheit der Beziehung und den Aspekt, dass beide verantwortlich für Veränderungen sind – aber mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Es lässt sich festhalten, dass Herr Vechten sich weiterhin als Experte darstellt, indem er das Paar als Hilfebedürftige positioniert und anspricht, dass die Partner*innen sich selbst auch als Hilfebedürftige wahrnehmen sowie explizit bestätigen, ohne Hilfe von außen keine Probleme lösen zu können. Zudem müssen sie jeweils den*die Partner*in als handlungsunfähig wahrnehmen. Die Struktur des Erstgesprächs sieht hier vor, dass sich beide ratlos zeigen. Veränderungswilligkeit wird Frau Schmidt bereits unterstellt, während sie für Herrn Schneider noch hergestellt werden muss. Das Paar wird von den Berater*innen insofern als »kundig« bezüglich seiner Problem- und Krisenwahrnehmung (ähnlich wie der systemische Grundsatz: Klient*in ist Expert*in) konstruiert, als es sein Anliegen formulieren kann. Die Paarberatung sieht als Strukturelement vor, dass nach dem Anliegen gefragt wird. Es wird dabei eine hohe Autonomie von dem Paar gefordert. Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung betreffend werden Tipps und Ratschläge von den Berater*innen als notwendig erachtet. Das bedeutet, dass bei der Struktur der Paarberatung kaum Mitgestaltung in Betracht kommt, wenngleich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Paarberatung eine Mitgestaltungspflicht gesetzt ist. Beim Inhalt darf das Paar gestalten und den Fokus legen. Die Struktur der Paarberatung geht weiterhin davon aus, wonach die Probleme auf der Ebene der Interaktion verhaftet sind. Den Problemen wird mit Kommunikationsverbesserung begegnet. Nun wird in diesem Setting ein (hohes) Selbstreflexionsvermögen vom Paar gefordert. Und das Paar ist mit einer Paarberatungsstruktur konfrontiert, die von Reflexionen dahingehend gekennzeichnet ist, was der*die andere denkt und erwartet und wie damit umzugehen ist (in der Verhandlung und auch mit eigenen selbstreflexiven Erwartungen/ Anteilen). In der Struktur der Anliegenklärung werden die Partner*innen einer© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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seits als reflexiv und wissend und andererseits als Ratsuchende positioniert. Eine inhaltlich-thematische Mitgestaltung wird angeboten, und die Partner*innen werden als Expert*innen ihres Problems angesprochen, aber nicht als Expert*innen für die Problemlösung. Auf der einen Seite wird Offenheit suggeriert, die intensiv auf eine die Autonomie und Selbstbestimmung der Ratsuchenden betonende Prozessgestaltung setzt. Andererseits besteht der Anspruch, dass mithilfe der Tipps und Ratschläge der Expert*innen eine Entwicklung passiert bzw. passieren muss. Die Freiwilligkeit des Aufsuchens dieses Settings und die Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung setzen als bedeutende Orientierungsaspekte der Paarberatung ein hohes Selbstreflexionsvermögen voraus. Die von Herrn Vechten und Frau Povski angebotene Struktur des Beratungsgesprächs ist nicht anschlussfähig an Frau Schmidts Vorstellungen einer stärker extern bestimmten Paarberatung – sowohl die äußeren Rahmenbedingungen als auch die inhaltlich-thematische Anliegenklärung betreffend. Die Struktur der Paarberatung wird von den Berater*innen nicht deutlich gemacht. Es ist nicht klar, was hier besprochen werden kann oder nicht. Der Bauchtanz wird am Ende von Herrn Vechten als passendes Mittel für das Türkei-Fluidum akzeptiert. Hier wird die Ausgestaltung der Lösung ausgehandelt, aber die Lösung selbst – das Türkei-Fluidum – wird nicht als verhandelbar deklariert. Die Lösung ist innerhalb des Paars in der Interaktion verortet, realisiert sich also unter Beteiligung beider. Die Ausgestaltung der Lösung zeigt eine Asymmetrie innerhalb der Verantwortlichkeit des Paars. Sie bringt Frau Schmidt in eine aktivere Rolle und durch das Vorführen einer erotischen Handlung auch in eine asymmetrische Position gegenüber Herrn Schneider. Diese Form der Lösungsentwicklung und -ausführung wird von Frau Schmidt angenommen bzw. nicht infrage gestellt. Herrn Schneider wird ein kleinerer Part – das Aussuchen der Musik – zugeteilt. Die Minimalanforderung lautet, die Problemlösung unter Beteiligung beider Partner*innen, d. h. des Paars, zu erarbeiten – hier jedoch offensichtlich nicht gleichberechtigt bzw. in gleichem Maße beteiligt. Die Paarbeziehung wird dabei auf ihren funktionalen Ablauf reduziert. Es erfolgen Tipps auf der Handlungsebene. Es geht nicht um Empfindungen oder Umstände, die zu (Nicht-)Wohlbefinden geführt haben, sondern um das Funktionieren der Beziehung im technischen Sinn. Tipps auf der Handlungsebene erfordern keine tiefgreifende Reflexion. 5.2.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung Insgesamt wurden sieben Sitzungen innerhalb von sieben Monaten im Abstand von jeweils circa einem Monat durchgeführt. Um die Besonderheiten des Erst© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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gesprächs herauszukristallisieren, wird als Kontrastfolie das siebte und damit letzte Gespräch dieser Paarberatung herangezogen. 5.2.3.1 Eröffnung und Veränderungsdarstellung Wie bereits verdeutlicht (Unterkapitel 5.1) erfolgt wieder eine Rekonstruktion der Gesprächseröffnung. In der Interpretation wurde wie beim Erstgespräch vorgegangen (Unterkapitel 4.4). Da der Schwerpunkt auf den Erstgesprächen liegt, werden die Rekonstruktionen verkürzt dargestellt. Es handelt sich hier um den Beginn des Protokolls.

 rau Povski: Gut. (2) Ja, heute ist der dritte Juli und wir haben heute ein F bisschen eine besondere Sitzung. ((Frau Schmidt: Oh)) Ja. Also wir müssten heute erst mal unsere vorläufig letzte Sitzung machen ((Frau Schmidt: Mhm)), weil, zum einenFrau Povski kündigt an, dass neben dem routinierten Vorgehen auch eine Besonderung stattfinden wird. Das Besondere ist heikel gerahmt, es wird vorsichtig eingeführt.78 »Sitzung« wird in arbeitsweltlichen Kontexten verwendet und verweist auf das professionelle Setting und auf einen institutionalisierten Ablauf. Diese Ablaufstruktur entspricht diesmal nicht der Routine. Da die Ankündigung am Anfang passiert, wird deutlich, dass sie den Rahmen betrifft. Somit wird die Nicht-Routine, im Sinne des Krisenhaften, auf besondere Weise eingeführt. Aus einer äußeren Logik ergibt sich der Zwang, dass dies die letzte Sitzung darstellt. Dieser Teil gehört noch nicht zur Struktur der Beratung. Aus nicht inhaltlichen und eher organisatorischen Gründen wird diese Paarberatung für beendet erklärt. Die Ebenen des Forschungsprojekts und der Krisenbearbeitung (Paarberatung) werden hier vermengt. Ein Reziprozitätsproblem wird ersichtlich. Die beratungsdynamische Situation kann nicht abgekoppelt werden von der Überlagerung des Forschungskontexts. Durch die Paarberatung entstand eine Routine und dadurch eine Verbesserung, die inhaltlich-thematisch aber noch nicht beendet zu sein scheint. Der Sprechakt »vorläufig« hält die Tür offen, den Prozess zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Frau Schmidt äußert mit der Reaktion »Oh« eine Überraschung. Dies lässt die Lesart zu, dass der Umstand der letzten Sitzung vorab nicht kommuniziert wurde. Die letzten Sitzungen erfahren eine positive Konnotierung. Eine Bewertung wird im folgenden Sprechakt vorgenommen. 78 Bei heiklen Themen und Negativkonnotierungen werden u. a. sprachliche Relativierungen eingesetzt (Messmer & Hitzler, 2007, S. 69), dies ist auch hier erkennbar.

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Frau Schmidt: -Das ist ja schade. Frau Povski: Ja, zum einen geht’s um die Finanzen im Projekt. ((Frau Schmidt: Mh)) Die sind leider nicht unendlich ((Frau Schmidt: Mhm)) und (2) da ist jetzt erst mal so ein Schnitt drin ((Frau Schmidt: Mhm)), dass wir uns selber erst mal kümmern müssen, dass es weitergeht, ((Frau Schmidt: Mhm)). Forschungsmittel und zum anderen haben wir jetzt erst mal sowieso eine Sommerpause. Also das ist jetzt mit den anderen Paaren auch so, ((Frau Schmidt: Mhm)) auch die pausieren jetzt (2) und Sie sollten dann einfach für sich schauen, wie gehts Ihnen damit. Wie gehts Ihnen jetzt in der Zeit, wo Sie nicht mehr zu uns kommen (.) und wie läuft das zu Hause. ((Frau Schmidt und Herr Schneider nicken)) Also sollte irgendwas passieren oder zwischenkommen, können Sie natürlich sich melden [und dann würden wir uns schonFrau Schmidt: Na mal gucken.] Frau Povski: – in der Pflicht sehen, Ihnen zu helfen, Sie zu unterstützen. Müssten Sie mal gucken. Frau Schmidts Sprechakt drückt Bedauern aus. Dieser Ausdruck scheint so bedeutend, dass Frau Povski unterbricht. Das Paar steht vor einem Handlungsproblem, das durch Beratung gelöst werden soll, und konstruiert sich hier nicht als Proband*innen eines Forschungsprojekts, sondern als Ratsuchende einer Paarberatung. Frau Povski führt weitere Erklärungen an, die jedoch vage formuliert sind. Hier wird das Forschungsprojekt, besonders »Finanzen« und »Forschungsmittel«, als Begründung aufgeführt. Das Paar ist hier ein Fall für die Forschung und nicht der Beratung. Der Rahmen wird durch die Forschung gesetzt und dieser Rahmen sieht nicht vor, dass dieses Paar weiterberaten wird. Frau Povski changiert zwischen den strukturellen Anforderungen der Forschung und der Paarberatung. Die strukturellen Rahmenbedingungen der Forschung im Zusammenhang mit der Beratung werden erläutert, stehen aber nicht zur Debatte. Nachdem Argumente bezogen auf das Forschungsprojekt aufgeführt wurden, wird durch Verweis auf die »Sommerpause« und deren Nutzen für das Paar ein inhaltliches, auf die Paarberatung bezogenes Argument aufgebaut. Dann erfolgt eine Fokussierung auf die Zeit nach der Beratung. Alle Paare, die die Beratung im Rahmen des Forschungsprojekts aufgesucht haben, können die Sommerpause selbstreflexiv nutzen, um zu bestimmen, wie sich neue Routinen etabliert haben und welche Veränderungen eingetreten sind. Durch die Vagheit der Formulierung (wie »Schnitt«) und die Verwendung des Konditionalis zeigt Frau Povski das Austarieren dieser Zwiespältigkeit © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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zwischen professionellem Anspruch und der Ebene der Forschungslogik. Für das Paar gibt es nun folgende Möglichkeiten, dem zu begegnen: Entweder es stellt sich als hoffnungslos angesichts einer Dauerkrise dar. Dann wären die Berater*innen in der Pflicht, die Beratung fortzusetzen. Da bereits ein Beenden der Beratungssituation forciert wird, müsste das Paar dies begründen. Oder es expliziert, dass die Beratung bis hierher Erfolge gebracht habe und es nun ohne Unterstützung den Alltag meistern könne. Zudem wäre eine dritte Ausprägung zwischen diesen beiden Polen möglich.  err Schneider: Nach der letzten Sitzung jetzt ging es eigentlich die ganze H Zeit. [Haben wir uns ganz gut verstanden. Frau Schmidt: Mhm, kann man so sagen.] Frau Povski: Das würde uns sowieso mal interessieren, [wie ging es Ihnen seit der letzten Sitzung? Frau Schmidt: Naja, es ging ging ganz gut, ja.] Haben, ich habe es so gemacht, ihn schön angefasst und angeguckt. Mit der einen Sache, was mir nicht so gefallen hat. ((lacht)) Wie (1) (immer diese) Sache ver- [versuchen wir umzusetzen. Frau Povski: Erzählen.] Erzählen Sie doch bitte mal, was haben Sie umgesetzt und wie hat es funktioniert. Sie haben es eben schon [angedeutet? Herr Schneider macht die Beratungslogik auf und beginnt das Beratungsgespräch, indem er eine Einschätzung zur Zeit seit der letzten Sitzung vornimmt. Er übernimmt hier die Strukturierungsleistung der beraterischen Situation. Somit positioniert er sich ebenfalls als Adressat dieser Beratung und nicht als Proband eines Forschungsprojekts. Die Eröffnung der Beratungssituation erfolgt durch Herrn Schneider selbst und nicht durch eine inszenierte Frage der Berater*innen. Die Evaluation bzw. Einschätzung der Beziehung im Alltag ist positiv. Somit wird angezeigt, dass eine Veränderung seit dem letzten Gespräch positiv wahrgenommen wurde und ein Beenden des Settings möglich ist. Frau Povski holt die Strukturierungsleistung, die vorab Herr Schneider eingeleitet hat, nach. Es wird damit zementiert, dass die Berater*innen (»wir«) sich für die Strukturierung des Beratungsgespräch verantwortlich zeigen und der Rahmen des Forschungsprojekts nicht mehr zur Debatte steht. Paarberatung wird mit dieser Frage wieder inszeniert, auch wenn sie sich gesprächsförmig durch Herrn Schneider schon ergab. Nach Ankündigung und Erläuterung der Besonderheit wird nun in das vorstrukturierte Vorgehen der Paarberatung, das routiniert Anwendung findet, übergegangen. Die Struktur der Paarberatung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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wird eingeholt und damit die Erläuterung der Logik des Forschungsprojekts abgeschlossen. Rahmengestaltung und Strukturverantwortung für die Paarberatungssituation werden wieder von der Beraterin übernommen. Auch Frau Schmidt geht nicht noch einmal auf den Forschungskontext ein, sondern verdeutlicht, vergangene Ratschläge umgesetzt zu haben. Frau Schmidt positioniert sich hier als Beziehungsverantwortliche, die Ratschläge befolgt. Diese werden kleinschrittig abgefragt und nach der neuen Veränderung gefragt. Bis hierher hat Herr Schneider nur evaluiert, aber noch nicht dargestellt, was er anders gemacht hat. Frau Schmidt deutet an, dass sie freiwillig die Ratschläge umgesetzt habe. Die Umsetzung erfolgte auf der Handlungsebene und nicht auf einer Reflexionsebene. Aber die Aktivität der Veränderung wird beim Paar relational festgemacht. Die Handlungsebene wird durch die Beraterin mit der Aufforderung zur Detaillierung forciert. Dabei verbleibt der Fokus auf den positiven Veränderungen. In der Aussage von Frau Schmidt wird deutlich, dass ihr verändertes Handeln die Beziehung verändert habe. Frau Schmidt übernimmt die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars und somit gehen die Veränderungen und das Etablieren neuer Routinen von ihr aus. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich zu Beginn das Spannungsfeld des Settings, einerseits in ein Forschungsprojekt eingebettet zu sein und andererseits eine Paarberatung durchzuführen, bei der Beraterin zeigt. Herr Schneider und auch Frau Schmidt positionieren sich durch ihre Evaluation sofort als Teilnehmende einer Paarberatung und gehen auf die Ansprache als Proband*innen eines Forschungsprojekts nicht ein. Das Paar bilanziert die bislang erarbeiteten Lösungen positiv. Frau Schmidt zeigt an, die Ratschläge freiwillig umgesetzt zu haben. Die Umsetzung erfolgte auf der Handlungsebene. Die Handlungsebene wird durch die Beraterin mit der Aufforderung der Detaillierung weiter forciert. Aber die Aktivität der Veränderung wird beim Paar relational festgemacht. In der Aussage von Frau Schmidt wird deutlich, dass ihr angepasstes Handeln die Beziehung verändert hat. Die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars wird von Frau Schmidt übernommen und auch das Etablieren neuer Routinen geht von ihr aus. Daran anschließend berichtet Frau Schmidt, wie sie mitteile, wenn ihr was nicht passe. Danach erzählt sie vom »Dauerstress von der Arbeit« (N004_07, Z. 44–45). Es entspinnt sich ein Gespräch darüber, wie sich Herr Schneider und Frau Schmidt nach ihrer Arbeitsschicht darüber unterhalten. Frau Povski fragt kurze Zeit später Herrn Schneider, ob sich bei ihm in den letzten drei Wochen auch etwas positiv verändert habe und verbindet dies unmittelbar © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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mit der Anschlussfrage: »Was glauben Sie denn, woran hat es gelegen, dass es so gut gelaufen ist?« (N004_07, Z. 152). Herr Schneider nimmt Bezug auf die vorherige Sitzung (»was wir das letzte Mal aufgezeichnet hatten mit den elterlichen Teilen und dem Kinderteil so« [N004_01, Z. 153–154]). Frau Schmidt beschreibt, dass sie »das Mütterliche ein bisschen zurückgenommen habe« (N004_07, Z. 171), und Herr Schneider äußert, dass er »nicht so so so eben aufbrausend werde« (N004_07, Z. 172). Herr Schneider berichtet, dass sie sich die Arbeitsaufgaben »so ein bisschen geteilt« (N004_07, Z. 189–190) haben. Es kam laut Herrn Schneider dazu, weil Frau Schmidts »Formulierung kam dann eben so nicht mehr so garstig« (N004_07, Z. 209–210). Frau Povski und Herr Vechten stellen beiden weiterhin konkrete Nachfragen, die die Veränderung fokussieren, wie: »Was haben Sie dann gesagt?« (N004_07, Z. 226), und: »Und wie geht’s Ihnen damit, wenn Sie diese Sachen so-?« (N004_07, Z. 236–237). Frau Povski geht dann noch einmal auf die Aussage von Frau Schmidt ein, dass sie das Mütterliche zurückgenommen habe, und fragt: »Wie haben Sie denn das gemacht?« (N004_07, Z. 244). Frau Schmidt antwortet: »Kann ich jetzt gar kein Beispiel nennen, wo ich sage- Weiß ich jetzt nicht« (N004_07, Z. 249–250). Daran schließt die nächste rekonstruierte Sequenz an, die die Verantwortlichkeit für Veränderungen und Lösungsentwicklungen differenziert veranschaulicht. 5.2.3.2 Fokussierung auf positive Veränderungen

Anhand der nächsten rekonstruierten Sequenz wird ersichtlich, wie die Veränderungen gerahmt werden und wie das Paar die Veränderungen durch zirkuläres Nachfragen wahrnimmt. Folgender Gesprächsausschnitt bezieht sich auf das Zurücknehmen des »Mütterlichen« von Frau Schmidt.  err Vechten: […] Würde aber heißen, wir können ja Ihren Partner mal fraH gen. Was hat er gemerkt? Wie wie ist es so, (3) dass sie die Reflexion kriegt? Also jetzt wir haben ja gefragt- Sagt sie, ich weiß es eigentlich so nicht und das ist auch normal, dass das dann da nachher nicht mehr ja nicht mehr aktuell ist, aber es kann ja in Ihrem Fall nicht schaden zu wissen wo ist der- Wir nennen sowas Triggerpunkt, wo. Herr Vechten fordert Herrn Schneider auf zu beschreiben, wie er die Veränderung seiner Partnerin bemerkt habe. Die Ankündigung des Sprecher*innenwechsels wird transparent gegenüber Herrn Schneider gemacht (»dass sie die Reflexion kriegt«). Er macht es transparent gegenüber dem Mann und nicht der © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau, da von ihr in der dritten Person gesprochen wird. Herr Schneider wird, so die Lesarten, entweder als Experte in eigener Sache angesprochen oder als Person, bei der überprüft werden muss, ob sie das veränderte Verhalten auch wahrgenommen hat. Die Frage von Frau Povski wird kritisiert und das Nicht-Wissen gegenüber Frau Schmidt normalisiert, indem es als »normal, dass das dann da nachher nicht mehr ja nicht mehr aktuell ist« gerahmt wird. Andererseits wird Frau Povski bezogen auf das Wissen über einen »Triggerpunkt« wieder als Expertin integriert. Die fachliche Kompetenz wird dargestellt. Im Gegensatz zum Erstgespräch erfolgt dies unter Referieren auf die Berater*innendyade und nicht auf einen einzelnen Experten. Die Asymmetrie gegenüber den Adressat*innen bleibt insofern bestehen, als expertokratisches Wissen vor dem Paar präsentiert wird. Die zirkuläre Frage von Herrn Vechten spart aber aus, was genau Frau Schmidt anders gemacht hat und worin sich das Fehlen des Mütterlichen zeigte. Der Schwerpunkt liegt auf dem Triggerpunkt von Herrn Schneider und dass Frau Schmidt erlernt, wann sie sich anders gegenüber ihrem Partner zu verhalten habe, damit kein Triggerpunkt entfacht wird und Streitigkeiten entstehen.  err Schneider: Naja es war ja erst, dass überhaupt, dass mal das grob StreiH cheln. Das hat sie ja gelassen. ((Frau Schmidt lacht)) ((Herr Vechten: Ja.)) Frau Povski: Das hatten wir mal. Herr Schneider: Wie gesagt, das ist jetzt nicht mehr so die Pflicht jetzt. Vorher kam es mir immer vor wie, du musst jetzt das machen und dies machen und jetzt ist es eben halt ne Bitte. Könntest du das machen für mich. ((Herr Vechten: Ja.)) Da mache ich das auch gerne für sie. ((Frau Povski: Mhm.)) ((Herr Vechten: Mhm-hm.)) ((Frau Povski: Mhm-hm.)) Herr Vechten: Also würdest du das mal übernehmen oder ja, so. Das heißt nicht zu sagen so du musst jetztHerr Schneider: – Und vorher kam es mir so, du bist jetzt das Kind. Du du hast deine Verpflichtungen. Du musst das jetzt mal machen, ne. Also nur so. (2) Herr Schneider macht an konkreten Handlungen bzw. Unterlassungen eine Änderung im Verhalten von Frau Schmidt fest. Dies wird gerahmt als positive Evaluation der Beziehungsqualität. Es erfolgt eine Reflexion über Soll- und Ist-Zustand der Beziehung. Die Herangehensweise von Frau Schmidt in der Ansprache von Herrn Schneider wird als positiv evaluiert. Es erfolgt dabei eine Orientierung an der Normvorstellung, dass Beziehungen symmetrisch und auf Augenhöhe stattfinden sollen. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Schneider positioniert sich hier als derjenige, der Aufgaben erfüllt, wenn er darum gebeten wird. Es geht weniger um die Erfüllung der Haushaltsaufgaben, sondern um die Form der Anfrage. Es wird als Erfolg gewertet, dass Frau Schmidt diesbezüglich eine andere Kommunikation entwickelt hat. Dennoch übernimmt Frau Schmidt weiterhin die Verantwortung in der Beziehung, was beispielsweise die Haushaltsführung anbelangt. Dass er sich aus freien Stücken mehr am Haushalt beteiligt, wird in dieser Sequenz nicht verhandelt. Hier wird die Beziehung auf Augenhöhe gerahmt, wenn Frau Schmidt um Mithilfe im Haushalt bittet. Ein eigenverantwortliches Handeln wird von Herrn Schneider nicht positioniert. Die Hauptverantwortung für den Haushalt wird bei Frau Schmidt festgemacht und nicht kritisch reflektiert. Hier steht eher die Ansprache des Manns als erwachsene Person im Fokus. Dies wird durch die Aussage der Berater*innen unterstützt.  rau Povski: Also fühlen Sie sich jetzt auch eher wahrgenommen so als- in F Ihrer Erwachsenen- und auch Ihrer Männerrolle? (8) Nehmen Sie ((zu Frau Schmidt)) da auch eine Veränderung wahr bei ihm? Frau Schmidt: Mhm. Also er ist ruhiger. Herr Schneider: Wir haben ja viel [gelacht. Frau Schmidt: Nicht mehr so aggressiv.] Frau Povski: Sie haben viel gelacht. Frau Schmidt: Ja, das stimmt. Ich habe an Ihre Worte gedacht. Wenn er lacht, dann geht die Sonne auf. ((Frau Povski: Ja.)) Da denk ich immer dran. ((lacht)) Will ich lieber, dass er viel lacht. Frau Povski: Und die ist heute schon oft aufgegangen. ((Herr Schneider: Ja.)) ((Frau Schmidt: Ja.)) Die positive Evaluierung steht im Vordergrund dieses letzten Settings. Die neuen Routinen auf der Handlungsebene werden reflektiert. Im Vordergrund steht Frau Schmidts Perspektive auf Herrn Schneider. Es erfolgt eine Evaluierung, wie Herr Schneider auf die Verhaltensänderungen von Frau Schmidt reagiert und bei ihm positive Veränderungen hervorgebracht haben. Ausgangspunkt sind die Veränderungen im Verhalten von Frau Schmidt, auf die eine neue Reaktion von Herrn Schneider erfolgt. Sie ist weiterhin diejenige, die als Hauptverantwortliche für die Veränderungen in der Beziehung gerahmt wird. Dies wird hier von allen Beteiligten als gegeben vorausgesetzt. Die Wünsche von Frau Schmidt sind an das Verhalten von Herrn Schneider gekoppelt (»Will ich lieber, dass er viel lacht.«). Ihre eigenen Wünsche, die Herr Schneider gegebenenfalls mit im Blick haben könnte, werden hier nicht thematisiert. Frau © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Schmidt wird von allen als Hauptadressatin und damit als Initiatorin positiver Veränderungen angesprochen. Herr Schneider bleibt Adressat zweiter Klasse. Was Herr Schneider unternimmt, um ruhiger zu sein, wird nicht thematisiert. Beide gehen den Aufforderungen nach, Fragen zu beantworten und positive Veränderungen zu explizieren. Sie halten sich an die von den Berater*innen vorgegebene Struktur. Es scheint keine Unsicherheit mehr über die Struktur von Paarberatung zu geben und die Fragen der Berater*innen werden routiniert beantwortet. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das Paar in seiner Interaktion angesprochen wird. Freiwilligkeit und Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung müssen hier nicht explizit hergestellt und ausgehandelt werden. Sie werden als etabliert betrachtet. Auch ermöglicht die Vorstrukturierung der Sitzung eine unvermittelte Reflexion positiver Veränderungen auf der Handlungsebene. Dabei hat Frau Schmidt ihr Verhalten geändert, was Herr Schneider als gut reflektiert. Frau Schmidt veränderte auf der individuellen Ebene ihr Verhalten, damit Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Sie muss eingegrenzt werden, damit er mehr Raum in der Beziehung einnehmen und sie als Paar auf einer Paarebene agieren können. Frau Povski fragt daraufhin Frau Schmidt: »Wie haben Sie das denn gemerkt, also woran? (2) Dass er sich so verändert hat« (N004_07, Z. 295–296). Es entspinnt sich ein Gespräch darüber, was Frau Schmidt geändert habe und welche Veränderungen vonseiten Herrn Vechten wichtig wären, dass sie bleiben (»Da muss der Kopf mal angefasst werden, aber nicht immer und vor allem nicht von hinten« [N004_07, Z. 326–327]). Frau Povski leitet dann über: »Kommen wir doch mal zu dem, was wir uns heute vorgenommen haben« (N004_07, Z. 366), sie wolle »gemeinsam Bilanz ziehen, was ihnen so diese sechs, sieben Sitzungen gebracht haben« (N004_07, Z. 374–375). Dazu werden mehrere Symbolkarten auf dem Boden verteilt und das Paar sucht fünf Karten zu folgender Frage von Frau Povski aus: »Sie schauen bitte mal, wenn Sie so an die sechs Sitzungen denken, was nehmen Sie mit für sich« (N004_07, Z. 395–396). Nach einer Aushandlung stellt zunächst Frau Schmidt, dann Herr Schneider seine fünf Karten vor. Beide nehmen positiv Stellung zum Gehörten des*der anderen. Danach werden vom Paar die Karten auf dem Boden in eine Reihenfolge gelegt. Nach gemeinsamer Auswertung und Kommentierung stellt Herr Vechten die nächste Frage: »Was glauben Sie, worauf würden Sie demnächst mehr achten wollen?« (N004_07, Z. 603–604). Herr Schneider möchte »besser zuhören« (N004_07_678). Herr Vechten fragt daraufhin, was er sich von Frau Schmidt wünsche, »was Sie da machen könnte« (N004_07, Z. 682). Weiter© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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hin formuliert Herr Schneider, dass er »Ziele nicht so hoch stellen« (N004_07, Z. 718) möchte, und Frau Povski und Herr Vechten erarbeiten durch Fragen und Ratschläge mit ihm, wie das ginge und worin erste Schritte bestehen könnten (»Ja, das ist, finde ich, so toll sagen nicht zu hohe Ziele, gibt es eins, wo Sie sagen, da werde ich demnächst als erstes Mal hingucken?« [N004_07, Z. 749–751]). Danach formuliert Frau Schmidt, dass sie mehr »Augenkontakt« (N004_07, Z. 834) einsetzen möchte, dass bei Streitigkeiten beide »in Ruhe darüber reden« (N004_07, Z. 882) und Briefe schreiben. Daraufhin erarbeitet Herr Vechten mit Herrn Schneider, wie viel Prozent er die »Sonne« am Tag sein kann. Danach erinnert Frau Povski: »Dann hatten wir noch eine dritte Frage« (N004_07, Z. 1001). Daran schließt sich die nächste rekonstruierte Sequenz an. Auf der inhaltlichen Ebene wurden die positiven Veränderungen durch das Paar evaluiert. Im nächsten Abschnitt zeigt sich der Einfluss der Vorstrukturierung auf das Gespräch. 5.2.3.3 Verdeutlichung der Hauptadressatin für die Zukunft

Nach der positiven Evaluation der Vergangenheit wird der Blick in die Zukunft gerichtet. An dieser rekonstruierten Sequenz zeigt sich, wie die Partner*innen anhand einer Projektion in die Zeit nach der Paarberatung als Adressat*innen von Beratung hergestellt werden. Frau Povski: Wir können uns noch Zeit nehmen für die Frage. Frau Povski markiert, dass noch Zeit für die Besprechung eines bestimmten Gesichtspunkts ist. Dies scheint als Zusatz gerahmt, der nicht notwendig für den Verlauf der Sitzung ist. Das eigentliche Ziel der Berater*innen wurde als ausreichend erfüllt deklariert. Es wird sich an dem vorstrukturierten Ablauf orientiert. Der Abschluss in seiner Strukturiertheit steht im Vordergrund, weniger gemessen am Anliegen und an den Themen, die von dem Paar mitgebracht wurden. Die Frage bzw. der Ablauf wurde von den Berater*innen vor dem Gespräch festgelegt, die ihr Ziel erreicht haben, sodass Zusätzliches passieren kann. Ein positiver Abschluss der Paarberatung wurde damit vorab von der Beraterin konstruiert. Frau Povski nimmt in ihrer Strukturierung Herrn Vechten mit ins Boot und ruft einen geteilten Erfahrungshorizont zwischen den beiden auf. Ein Berufen auf Expertise wird deutlich, ebenso die limitierte Mitgestaltung des Paars hinsichtlich äußerer und inhaltlich-thematischer Struktur. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vechten: Wir können uns noch Zeit nehmen, für unsere Reflexion auch? ((Frau Povski: Mhm)) Das ist klar. Das wissen Sie, dass wir das ((Frau Schmidt: Mhm)) nicht verändern. Ich habe mal gelernt sich dann eins, damit die Hürden gar nicht so hoch werden als Letztes und worauf kann ich mich heute noch freuen und das aber nicht abhängig machen vom Verhalten der anderen. Frau Schmidt: Na ich versuche es. Ich weiß schon was. Es erfolgt eine erneute Regieabsprache des Beraters vor dem Paar, obwohl Frau Povski vorstrukturiert hat. Es ist eine erneute Entscheidung, sich Zeit für die Frage zu nehmen. Herr Vechten beantwortet die Frage selbst und gibt damit die Struktur vor. Es erfolgt eine explizite Rahmenleistung bei einer letzten Sitzung, die in den vorherigen Sitzungen stets so stattgefunden hat, sodass sich eine unveränderliche Routine entwickeln konnte. Dass dies die letzte Sitzung ist, wird gerahmt. Herr Vechten nimmt eine expertokratische Rolle durch die erneute Strukturierungsleistung ein. »Das ist klar« stellt die Ordnung wieder her, dass er eine beraterische Funktion innehat und sich nun auf Erfahrungswissen des Paars mit Paarberatung beruft. Der Arbeitsauftrag »worauf kann ich mich heute noch freuen« fokussiert etwas Positives. Hier wird eine Perspektive des Freuens aufgemacht und das Beenden der Paarberatung an positiven Aspekten orientiert. Die Fokussierung auf das Positive, im Sinne von schon Erreichtem, bilanziert, dass das Krisenhafte, das das Paar dazu veranlasst hat, die Paarberatung aufzusuchen, nicht mehr so wirksam ist. Vielmehr wird durch Hervorhebung des Positiven eine Abnabelung des Paars von der Paarberatung initiiert. Bei positiven und freudvollen Momenten, die im Leben »überwiegen«, bedarf es keiner Paarberatung. Gleichzeitig wird diese Perspektive vom Berater durch seinen expertokratischen Rat (»aber nicht abhängig machen vom Verhalten der anderen) eingeschränkt. Die Paarberatung kann demnach nicht abschließend beendet werden und eine »Restkrisenhaftigkeit« bleibt. Ähnlich wie eine Endlostherapie könnte auch eine Endlosberatung initiiert werden, die aber hier an den institutionellen Bedingungen scheitert. Das Paar will aus nach Einschätzung der Berater*innen an Routinen festhalten und diese beibehalten. Eine Restkrisenhaftigkeit wird ihm aber unterstellt. Das positiv Bearbeitete scheint hier als prekär und nicht ausreichend routiniert gerahmt zu werden. Zudem wird die Dyade angesprochen und kein direktes Rederecht verteilt. Das Paar wird nun aufgefordert, selbst zu verhandeln, wer auf diese Frage zuerst antwortet. Das Paar hat nun die Möglichkeit, sich wieder krisenhaft darzustellen oder sich darauf einzulassen und abschließend etwas Freudvolles darzustellen. Frau © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Schmidt folgt dem Arbeitsauftrag, über etwas Positives zu berichten, und positioniert sich damit als Wissende und als Beteiligte, die in der Beratung etwas gelernt hat. Gleichzeitig zeigt sich eine Unsicherheit (»Na ich versuche es«), ob sie den Übergang in die Phase ohne Beratung selbstbewusst beschreiten kann. Dennoch vollzieht sie hier eine selbstständige Strukturierung und zeigt mit dem positiven Formulieren einer Freude, dass sie nun keine Adressatin mehr dieser Paarberatung sein muss.  err Vechten: Sie merken, da ist sie schon wieder zu schnell und diese kindH liche Freude wollen wir ihr auch mal noch lassen, ((Frau Schmidt lacht)) das heißt, also die dritte Frage heißt dann immer, worauf kann ich mich heute noch freuen. Wir nennen sowas ein Ausleitungsritual. Ja, denn wir gehen auseinander und zu sagen, aha, es gibt auch draußen noch etwas, worauf ich mich noch freuen will oder kann und dann, Sie erinnern sich, als Sie mir vorhin sagen, ich muss noch Rasen mähen, das was sah nicht wie Freude aus. ((Frau Schmidt: Nee.)) Das wäre dann vielleicht nicht so das vorzunehmen. ((Herr Schneider: Mhm.)) Ja, dass wir uns da nicht da die Falle wieder um die Füße legen. Okay. Frau Povski: Aber wichtig wäre noch, dass ((Herr Vechten: Ja.)) das, worauf Sie sich freuen können, ((Herr Vechten: Ja.)) dass Sie da einfach nicht abhängig sind vom ((Herr Vechten: Ja.)) vom Willen anderer, ((Herr Vechten: Ja.)) dass Sie sich die Freude selber machen können oder [dass die einfach da ist. Herr Vechten: Genau so ist es.] Herr Vechten macht Frau Schmidt zum Objekt seiner Aussage, indem er in der dritten Person über sie spricht. Durch die sofortige Antwort ohne Aushandlung mit Herrn Schneider wird ihr dieses Verhalten als das Krisenhafte verdeutlicht. Somit ist das die Beratung veranlassende Problem, nämlich ihr Zu-schnell-Sein, noch nicht gelöst. Frau Schmidt wird als immer noch krisenhaft dargestellt, die in ihren neuen Verhaltensweisen noch nicht routiniert ist. Das selbstständige Handeln von Frau Schmidt wird damit eingegrenzt und sie wird als aktive Ratsuchende von Paarberatung adressiert. Überdies wird die Paarproblematik (oder ein Teil davon) in dem Verhalten von Frau Schmidt festgemacht. Hier steht nun das Verhalten einer einzelnen Person im Fokus, das verändert werden muss, um die Beziehung zu verbessern. Frau Schmidts routiniertes Verhalten wird hier markiert, aber nicht ihr, sondern Herrn Schneider gegenüber. Herr Schneider wird als unterstützungswürdig in der Durchsetzung gegenüber seiner Partnerin gerahmt. In dem demokratischen Gefüge hebt Herr Vechten Herrn Schneider auf eine machtvollere Position als © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Schmidt, indem ihr Verhalten infantilisiert wird. Hier kommt keine Symmetrie innerhalb der Partnerschaft zum Ausdruck, sondern der Mann soll innerhalb dieser Beziehung eine machtvollere Position erhalten, indem Frau Schmidt sich mehr zurücknimmt. Es wird ihr etwas zugestanden, aber die Veränderung entscheiden die Männer. Die Asymmetrie wird gegenüber der Frau aufgemacht. Die Freude wird als naiv dargestellt. Alle anderen in diesem Setting – so jedenfalls werden sie von Herrn Vechten angesprochen – kennen das Problemhafte von Frau Schmidt, das Zu-schnell-Sein, bereits. Herr Schneider wird somit in eine Rolle gebracht, das Verhalten seiner Partnerin zu bewerten und zu bestimmen. Zusammengefasst zeigt sich hier die Ambivalenz der Berater*innen, einerseits die Paarberatung positiv enden zu lassen und Veränderungen bzw. neue Routinen zu würdigen. Andererseits wird anhand der erneuten Ratschläge und Tipps offenbart, dass sie weiteren Paarberatungsbedarf adressieren. Sie deuten nach wie vor bestehenden Handlungsbedarf innerhalb des Beziehungsgefüges zwischen Frau Schmidt und Herrn Schneider an. Frau Schmidt soll sich begrenzen, damit Herr Schneider mehr Raum in der Beziehung erhält. Herr Schneider formuliert, dass sie »schon was zusammen herausgesucht« (N004_07, Z. 1030) haben, nämlich »Freunde zu treffen« (N004_07, Z. 1051). Herr Vechten erläutert, nicht »schon wieder in die Erwartungshaltung zu viel hinein [zu interpretieren] und das erfüllt sich nicht« (N004_07, Z. 1057–1058). Herr Vechten greift daraufhin noch einmal das Thema einer Karte auf, nämlich dass Herr Schneider mehr »die Zähne auseinandermache« (N004_07, Z. 1076), und bettet dies ein als eine »Bitte an Sie oder auch ein Wunsch, manchmal darf ja auch der Therapeut einen Wunsch haben« (N004_07, Z. 1079–1080). Herr Schneider berichtet, dass er dies in anderen Kontexten mache (»Zu Hause« [N004_07, Z. 1091] und »bei der Feuerwehr« [N004_07, Z. 1100]). Es folgt eine Begründung durch Herrn Vechten (»Ja, also wenn ich mich so anstrengen muss, Ihnen zuzuhören, dann tut es mir manchmal weh« [N004_07, Z. 1112– 1113]), und von Frau Povski, dass andere Menschen »manchmal auch die Lust« (N004_07, Z. 1114) verlieren. Es wird daraufhin von den Berater*innen ausgehandelt, dass am Ende »Wir wollen ja reflektieren« (N004_07, Z. 1133) ansteht und nun erst das Paar damit anfängt. An dieser Stelle schließt die nächste rekonstruierte Sequenz an.

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5.2.3.4 Beendigung durch gegenseitige positive Rückmeldung

Auch hier ist es aufschlussreich, wie die Paarberatung beendet wird. Daher wird eine Textstelle analysiert, die vor dem Reflecting Team stattfindet und das Ende der Paarberatung thematisiert.  rau Povski: […] und Sie beide ((Herr Vechten: Genau)) haben jetzt einF fach mal Gelegenheit ((Herr Vechten: Ja)), nochmal was zu sagen, was Ihnen wichtig ist, ((Herr Vechten: Mhm-hm)) wir wir befinden uns auch im Lernprozess, na. Das Paar soll eine Gelegenheit nutzen und Bilanz ziehen. Durch die Aufforderung hat die Situation pädagogischen Charakter. Es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen. Es geht um eine Rechtfertigung des bzw. eine Positionierung in Relation zum Gesagten. Hier von einer Möglichkeit zu sprechen, deutet da­ rauf hin, dass diese auch zu ergreifen und nicht auszuschlagen sei. Es ist keine Gelegenheit, sondern eine Verpflichtung. Die Vorstruktur der Paarberatung sieht vor, dass am Ende eine Evaluation der Berater*innen vorgenommen werden soll und ein »Expert*innenurteil« über sie gesprochen werden kann. Eine solche Rollenumkehrung geht insofern mit einer Krisenhaftigkeit einher, als die Performanz misslingen kann und expertokratisch interveniert werden muss. Das Paar wurde vorhergehend überwiegend positiv evaluiert mit Eingrenzungen besonders bei Frau Schmidt, jetzt sollen die Berater*innen positiv evaluiert werden. Das Paar muss nun zeigen, dass es keiner Beratung mehr bedarf. Am Ende wird also eine Schein-Reziprozität hergestellt und wie bisher steht das Festhalten am vorstrukturierten Ablauf im Vordergrund.  err Vechten: Ja und vielleicht auch, wie haben Sie uns erlebt, ((Frau Povski: H Ja.)) das wäre auchFrau Povski: -So eine Rückmeldung einfach nochmal. ((Herr Vechten: Ja.)) Herr Vechten: Ein kleines bisschen, weil das macht es noch rund. Ja. Herr Vechten spezifiziert, dass er eine Einschätzung des Paars bezüglich der Berater*innen in der Ausgestaltung ihrer Rolle hören möchte, und korrigiert Frau Povskis Aussage. Es wird nach der Beurteilung einer Performance, die über ein Feedback hinausgeht, gewissermaßen einem Expert*innenurteil gefragt. Potenziell ist dies eine Öffnung für ein Krisengespräch über die Gestaltung der Paarberatung. Frau Povskis Aussage schließt das eröffnete krisenhafte Gespräch über die Arbeit der Berater*innen. Das Beziehen auf die Struktur wird wieder hervor© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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gehoben und dadurch die Aussage von Herrn Vechten zurückgenommen. Herr Vechten geht wieder, wenngleich abgeschwächt, seiner Wunschformulierung nach und beruft sich dabei auch auf die Vorstrukturierung. Die äußere Struktur sieht nun das Evaluieren der Berater*innen vor, aber dies wird nicht als intrinsische Motivation der Berater*innen gerahmt. Die Evaluation wird als Ausnahme gerahmt. Es zeigt sich ein Verhandeln darüber, ob diese Evaluation eher als Feedbackrunde für die Paare oder Bewertung der Arbeit der Berater*innen fungieren soll. Fest steht, dass die Vorstrukturierung dieses Settings am Ende eine Form der Evaluation vorsieht. Über die Art und Weise bzw. die Thematik der Feedbackrunde sind die Berater*innen uneins. Dabei wird das Paar als Paar angesprochen. Frau Schmidt: Willst du ((schaut zu Herrn Schneider)) zuerst etwas sagen? ((Herr Schneider schaut zu Frau Schmidt und deutet auf sie)) (3) Ich war zum Anfang wirklich skeptisch, ((Frau Povski: Mhm)) aber ich bin super positiv von der ganzen überhaupt von der ganzen Sache jetzt beeindruckt. Ich habe viel mitgenommen ((Frau Povski: Mhm)) in den ganzen Sitzungen, denke oft an die Worte oder an die Situationen, die wir hier durchgesprochen haben. Vermittlung war super gut, also ((Herr Vechten: Mhm-hm)) war zufrieden. ((lacht)) Weiterzuempfehlen. ((Frau Povski: Mhm-hm)) Bereue es nicht, dass wir uns da hier angemeldet haben. Es hat doch ein bisschen hat geholfen. Es hat auf jeden Fall geholfen. ((Frau Povski: Mhm)) Frau Schmidt initiiert einen Aushandlungsprozess mit Herrn Schneider über die Reihenfolge des Antwortens, der eine Selbstverständlichkeit impliziert, dass erstere beginnt: Frau Schmidt hat auf jeden Fall etwas zu sagen. Herr Schneider kann noch etwas sagen, bevor die Reflexion beginnt, die dann Frau Schmidt vornehmen wird. Auch hier wird erkennbar, dass Frau Schmidt sich als Hauptadressatin positioniert und gleichzeitig als diejenige, die innerhalb der Beziehungsdyade den aktiveren Part übernimmt. Eine positive Transformation wird dargestellt. Es wird versucht, einen Aneignungsprozess zu beschreiben, der jedoch brüchig bleibt. Frau Schmidt positioniert sich weniger als Aktive der Paarberatung, sondern eher als Zuschauerin. Die eigene Involviertheit in den Beratungsprozess wird nicht hervorgehoben, sondern der Beratungsverlauf und dessen Unterhaltungswert kommentiert. Der Selbstbezug kommt nicht zum Tragen. Die Formulierung »viel mitgenommen« wird nicht konkretisiert. Frau Schmidt unternimmt den Versuch einer positiven Rückmeldung über etwas, in das sie weniger involviert war. In ihrer Vorstellung von Paarberatung ist die Expertise der Paarberater*innen weiterhin ton© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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angebend. Frau Schmidt orientiert sich dabei an den expertokratischen Tipps und Anregungen (»denke oft an die Worte«), die sie von den Berater*innen erhalten hat. Sie gibt das gewünschte positive Feedback und folgt damit dem vorstrukturierten Ablauf. Herr Schneider fasst für sich wie folgt zusammen: »Ich bin auch mit Ihnen ganz zufrieden gewesen oder bin immer noch zufrieden und haben viel mitgenommen« (N004_07, Z. 1165–1166). Im anschließenden Reflecting Team resümiert Herr Vechten: »Ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Ich bin sehr dankbar für deine Arbeit mit mir, dass hat mir sehr sehr gut gefallen und ich bin auch der Meinung, dass wir den beiden so ein bisschen was ebnen konnten auf diesen Wegen« (N004_07, Z. 1197–1200), und übergibt Frau Povski ein Geschenk. Frau Povski hebt hervor: »Die beiden nehmen viel mit und sind jetzt erst mal zufrieden, dass es so in Gang gekommen ist, und da bin ich sehr dankbar für ne, da bin ich dir dankbar für, dass das so gut gelaufen ist und da bin auch dem Paar dankbar« (N004_07, Z. 1256–1259). Zum Schluss bedanken sich alle beieinander. Damit endet die letzte Sitzung der Paarberatung von Frau Schmidt und Herrn Schneider mit den Berater*innen Frau Povski und Herrn Vechten. 5.2.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs

Die Berater*innen initiieren eine vorstrukturierte Reflexion der positiven Veränderungen auf der Handlungsebene und ihrer Auswirkungen auf die Beziehungsebene. Frau Schmidt positioniert sich dahingehend, dass sie freiwillig die Ratschläge umgesetzt hat. Aber die Aktivität der Veränderung wird beim Paar relational festgemacht. In der Aussage von Frau Schmidt wird deutlich, dass ihr verändertes Handeln die Beziehung beeinflusst hat. Die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars wird von Frau Schmidt übernommen. Auch gehen Veränderungen und neue Routinen von ihr aus. Frau Schmidt positioniert sich als diejenige, die innerhalb der Beziehungsdyade den aktiveren Part einnimmt. Es erfolgt eine Orientierung an der Normvorstellung, dass Beziehungen symmetrisch auf Augenhöhe stattfinden. Herr Schneider positioniert sich als derjenige, der Aufgaben erfüllt, wenn er darum gebeten wird. Es wird als Erfolg gewertet, dass sie eine andere Kommunikation hinsichtlich der Beteiligung an der im Haushalt anfallenden Arbeit etabliert hat. Dennoch übernimmt Frau Schmidt weiterhin die Verantwortung in der Beziehung. Die positive Evaluierung des Paars steht im Vordergrund dieses letzten Settings. Die Vorstrukturierung der Sitzung rückt die Refle© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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xion positiver, auf der Handlungsebene vollzogener Veränderungen für das Paar in den Vordergrund. Frau Schmidt hat ihr Verhalten geändert, was Herr Schneider als gut reflektiert. Die Frau verändert auf der individuellen Ebene ihr Verhalten, damit Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Herr Schneiders Wahrnehmung, dass er sich gegenüber Frau Schmidt durchsetzen soll/ kann, wird gestärkt. Eine Symmetrie innerhalb der Partnerschaft wird hier nicht fokussiert, sondern der Mann soll in der Beziehung eine machtvollere Position erhalten, indem Frau Schmidt sich mehr zurücknimmt. Ein weiterer über die Paarberatung hinaus bestehender Handlungsbedarf wird hier von den Berater*innen noch aufgemacht. Hier zeigt sich die Ambivalenz der Berater*innen, einerseits die Paarberatung positiv enden lassen zu wollen, indem Veränderungen bzw. neue Routinen gewürdigt werden, und andererseits noch Handlungsbedarf für die Zukunft zu sehen, sich also nicht sicher zu sein, ob die Paarberatung zu positiven Veränderungen geführt hat. Es geht nicht um die in der ersten Sitzung gewünschten Veränderungen, sondern darum, dass sich etwas zum Positiven verändert hat und dies vom Paar wahrgenommen wird. Im Laufe der Sitzung wird positiv berichtet, was sich auf der Paarebene verändert hat. Frau Schmidt hat ihr Verhalten geändert, was Herr Schneider als gut reflektiert. Hier zeigt sich ein Gender Bias: Die Partnerin verändert auf der individuellen Ebene ihr Verhalten, um eine gleichberechtigte Beziehung (wieder)herzustellen. Sie muss eingegrenzt werden, damit er mehr Raum in der Beziehung einnehmen kann und sie als Paar auf einer Paarebene agieren. Dazu wird ihr Partner in eine anweisende und machtvollere Reflexionsrolle ihr gegenüber gebracht. Gleichzeitig soll Frau Schmidt sich noch mehr in der Partnerschaft zurücknehmen. Die Vorstrukturierung der Sitzung bewirkt hier die Reflexion positiver Veränderungen auf der Handlungsebene. Die darüber hinaus gegebenen Ratschläge bilden einen Versuch, dies über die Paarberatung zu verstetigen und als Idee für eine neue Routine zu initiieren. An dieser Stelle zeigt sich die Vorstellung von Paarberatung, wonach die Expertise der Paarberater*innen tonangebend ist und Adressat*innen weniger eigene Expertise in der Lösungserarbeitung einbringen können. Dies zeigt sich auch in der Abschlussintervention, bei der Frau Schmidt die Expertise der Berater*innen hervorhebt. 5.2.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch Durch die Kontrastierung der vorläufigen Fallstrukturhypothesen des Erst- und Letztgesprächs der Paarberatung von Frau Schmidt und Herrn Schneider lässt sich die Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs detaillierter verdeutlichen. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Im Erstgespräch wird die Orientierung an der Expertise der Berater*innen und der Struktur des Gesprächs ersichtlich, die immer wieder im größeren Maße als beim Letztgespräch neu verhandelt wird. Frau Povski beruft sich auf eine Vorstrukturierung der Paarberatung. Herr Vechten orientiert sich bei der Struktur des Erstgesprächs an seinem Expertentum, d. h. dem Vertrauen in die eigene Kompetenz und der Überzeugung, damit dem Paar hilfreich zu sein. Beide verdeutlichen somit auf unterschiedliche Weise die vorherrschende Asymmetrie und die eingeschränkte Möglichkeit für das Paar, die Struktur des Erstgesprächs mitzugestalten. Die äußere Rahmenstruktur gewährt keine Mitgestaltungsmöglichkeiten. Auf der inhaltlichen Ebene ist eine Beteiligung notwendig und es wird auch dazu aufgefordert. Das Paar wird dabei als Informationsgebende angesprochen. Ihnen wird ein Mitteilungsbedarf unterstellt und somit auch ein Anliegen für diese Paarberatung. Im Erstgespräch werden die differenten Ansichten hinsichtlich inhaltlicher Mitgestaltung verhandelt. Die Berater*innen setzen in der Prozessgestaltung auf Offenheit, Autonomie und Selbstbestimmung der Ratsuchenden. Das Paar wird als »kundig« bei der Problem- und Krisenwahrnehmung in eigener Sache angesprochen. Die Struktur der Berater*innen impliziert, dass ein Paar freiwillig bei der Paarberatung ist, weil es ein gemeinsames Problem reflektiert angehen möchte. Am Anfang der Paarberatung steht das Ausloten des dem Paar bzw. den Partner*innen eigenen Reflexionsvermögens. Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung erfordern Tipps und Ratschläge der Berater*innen. Einerseits wird hier eine Mitgestaltung bezogen auf die inhaltliche Anliegenausgestaltung offeriert. Das Paar wird als Experte seines Problems, aber nicht der Problemlösung angesprochen. Die Ambivalenz zeigt sich hier in der Verantwortung, an diesem Setting teilzunehmen, und der Ungewissheit darüber, wie sich dies im weiteren Verlauf vollzieht. Es erfolgt ein Ringen um die Struktur dieser Paarberatung. Die Struktur von den Berater*innen wird nicht deutlich gemacht. Die Partner*innen werden von den Berater*innen zurückhaltender darüber aufgeklärt, welcher Struktur diese Beratung folgt. Die von Herrn Vechten und Frau Povski verfolgte strukturelle Idee von Paarberatung, wonach die Expertise der Paarberater*innen tonangebend ist und Ratsuchende weniger Mitgestaltungsspielraum bei der Lösungs- und Krisenbearbeitung beanspruchen können, ist nicht anschlussfähig an Frau Schmidts Vorstellungen, wonach sowohl die äußeren Rahmenbedingungen als auch die inhaltlich-thematische Ausgestaltung von Paarberatung extern festgelegt ist. Das zeigt sich darin, dass auch die Anliegenklärung von den Berater*innen befürwortet werden soll. Diese umfängliche äußere Rahmenherstellung zeigt sich im letzten Gespräch nicht mehr. Dort © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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erfolgt trotz geänderter äußerer Rahmenbedingungen ein unproblematisches Herstellen der Beratungssituation, die im letzten Gespräch sogar von Herrn Schneider ausgeht. Das Erstgespräch erfordert also eine gewisse Reflexion über die Partnerschaft und das Einfühlen in den*die andere*n Partner*in. Dazu müssen die Fragen der Berater*innen so weit wie möglich beantwortet werden. Das Paar wird als veränderungswillig angesehen. Die Lösung liegt auf Paarebene in der Interaktion, kann demnach auch nur unter Beteiligung beider Partner*innen erarbeitet werden. Bei der Lösungsexplikation werden Tipps auf der Handlungsebene gegeben und weniger auf der Kommunikationsebene reflektiert. Es geht nicht um Empfindungen oder Umstände, die zu (Nicht-)Wohlbefinden geführt haben, sondern um das Funktionieren der Beziehung im technischen Sinn. Die Paarbeziehung wird hier entthematisiert und auf ihren funktionalen Ablauf reduziert. Tipps auf der Handlungsebene erfordern keine tiefgreifende Reflexion. Das Paar gilt nicht als Experte für die Lösungsidee, wird aber in die Lösungsumsetzung einbezogen. Im Kontrast zum Letztgespräch wird dieses Element besonders deutlich, da dort die erarbeiteten Lösungen auf der Handlungsebene evaluiert werden. Beide werden als Hilfesuchende angesprochen, jedoch werden die unterschiedlichen Voraussetzungen verhandelt. Herr Schneider positioniert sich als hilfebedürftig und verdeutlicht, in diesem Setting eingeschränkt änderungsbereit zu sein. Er grenzt sein Handlungsänderungsvermögen und damit sein Veränderungspotenzial für diese Paarberatung ein, sodass er den Erwartungen der Berater*innen nicht entsprechen kann. Mit der Teilnahme an diesem Setting macht er sich zum Nicht-Adressaten und positioniert indirekt Frau Schmidt als Hauptadressatin der Paarberatung. Von den Berater*innen geht eine Abschwächung der Teilnahmebedingungen für Herrn Schneider aus. Nicht mehr Reflexion und Wandel, sondern das Reden miteinander wird hier als Anspruchsvoraussetzung markiert. Es wird eine geringe Mitwirkungsbereitschaft eingeholt. Während Herr Schneider schon ein Adressat ist, wenn er teilnimmt und kommuniziert, wird sein Veränderungspotenzial abgeschwächt. Dennoch ist es auf der kommunikativen Ebene notwendig, dass beide sich als Adressat*innen an dieser Paarberatung beteiligen. Er wird hier als Adressat mit eingeschränkten Teilnahmebedingungen und Veränderungsmöglichkeiten konstruiert. Frau Schmidt hat ihrer Eigenkonstruktion zufolge ihr Handlungsrepertoire aufgebraucht. Ihren Anteil an der Veränderung koppelt sie an eine Verhaltensänderung von Herrn Schneider. Herr Schneider und Frau Schmidt positionieren sich selbst als diejenigen, die nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen. Frau Schmidt stellt sich aber als Ratsuchende dar, die sich an Expert*innen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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wendet, um wieder handlungsfähig zu sein. Herr Schneider dagegen positioniert sich als nicht veränderungsfähig. Die Berater*innen verdeutlichen die relationale Bedingtheit der Beziehung und den Aspekt, dass beide verantwortlich für Veränderungen sind – aber mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Veränderungswilligkeit wird Frau Schmidt bereits unterstellt, während sie für Herrn Schneider noch hergestellt werden muss. Die differenten Adressat*innenkonstruktionen von Herrn Schneider und Frau Schmidt nehmen im ersten Gespräch einen Verhandlungsraum ein, der im Letztgespräch nicht mehr zur Debatte steht. Dort wird die Verantwortung für die emotionale Beziehung von Frau Schmidt übernommen. Auch Veränderung und Etablierung neuer Routinen gehen von ihr aus. Die erarbeitete Lösung impliziert also eine asymmetrische Verantwortlichkeit des Paars und bringt Frau Schmidt in eine aktivere Rolle. Diese Form der Ansprache wird von Frau Schmidt angenommen – es sind die von ihr gewünschten Tipps und Ratschläge, die nicht im größeren Ausmaß reflektiert werden (müssen). Herrn Schneider wird ein kleinerer Part in der Lösungsentwicklung offeriert. Die Minimalanforderung lautet, die Problemlösung unter Beteiligung beider Partner*innen, d. h. des Paars, zu erarbeiten – hier jedoch offensichtlich nicht gleichberechtigt bzw. in gleichem Maße beteiligt. Im Letztgespräch sorgt dies nicht mehr für Irritationen, da die Routine der Paarberatung mittlerweile bekannt ist. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Frau Schmidt im Letztgespräch uneingeschränkt einräumt, die Ratschläge freiwillig umgesetzt zu haben. In der Aussage von Frau Schmidt wird deutlich, dass ihr verändertes Handeln die Beziehung beeinflusst hat. Die Struktur der Paarberatung zeichnet sich darin aus, dass die Probleme auf der Ebene der Interaktion verhaftet sind, welchen mit Kommunikationsverbesserung begegnet werden kann. Nun wird in diesem Setting ein (hohes) Selbstreflexionsvermögen vom Paar gefordert. Und das Paar ist mit einer Paarberatungsstruktur konfrontiert, die von Reflexionen darüber gekennzeichnet ist, was der*die andere denkt und erwartet und wie damit umzugehen ist (in der Verhandlung und auch mit eigenen selbstreflexiven Erwartungen/Anteilen). Bei der Lösungsexplikation werden aber Tipps auf der Handlungsebene gegeben und es wird weniger auf der Kommunikationsebene reflektiert. Es geht nicht um Empfindungen oder Umstände, die in der Vergangenheit zu (Nicht-)Wohlbefinden geführt haben, sondern um das zukünftige Funktionieren der Beziehung. Die Paarbeziehung wird dabei entthematisiert und auf ihren funktionalen Ablauf reduziert. Wie im Erstgespräch richten sich Lösungen auf die Interaktion und integrieren beide – als Paar. Die Lösung spricht Frau Schmidt als Hauptadressatin an © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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und wird um die Bedürfnisse des Manns herumgebaut. Er nimmt die Rolle desjenigen ein, den man nicht verprellen und in die Lösung einbeziehen will. Dies geht auf Kosten der Verletzlichkeit der Frau. Sie soll etwas tun, damit er Gefallen an dieser Situation und an der Lösung findet. Die Verinnerlichung dessen zeigt sich ebenfalls im Letztgespräch. In der Aussage von Frau Schmidt wird deutlich, dass ihr verändertes Handeln die Beziehung beeinflusst hat. Sie übernimmt die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars und steht für Veränderungen und neue Routinen ein. Im Kontrast zum Letztgespräch wird dieses Element besonders deutlich, da dort die erarbeiteten Lösungen auf der Handlungsebene evaluiert werden. Es wird als Erfolg gewertet, dass sie eine andere Kommunikation hinsichtlich der Beteiligung an der im Haushalt anfallenden Arbeit etabliert hat. Dennoch übernimmt Frau Schmidt weiterhin die Verantwortung in der Beziehung, beispielsweise die Haushaltsführung betreffend. Dass er sich aus freien Stücken mehr am Haushalt beteiligt, wird nicht verhandelt. Hier wird nicht die Beziehung auf Augenhöhe bzw. eine Arbeitsteilung in den Blick genommen. Die Hauptverantwortung für den Haushalt und die emotionale Beziehungsarbeit wird von allen Teilnehmenden ohne weitere Reflexion bei Frau Schmidt verankert.

5.3 Rekonstruktion der Paarberatung von Frau und Herrn Vogt 5.3.1 Darstellung der Paarsituation und des Interaktionsrahmens Die in diesem Unterkapitel analysierte systemische Paarberatung setzte sich aus vier Teilnehmenden zusammen: dem zu beratenden Paar, Frau Vogt und Herr Vogt, sowie den beiden Berater*innen, Frau Rosten und Herr Klingebiel. Frau Vogt ist 55 Jahre alt, promoviert und ist stellvertretende Leiterin eines Unternehmens. Herr Vogt ist 53 Jahre alt, ebenfalls promoviert und ist als Leiter eines großen Instituts tätig. Gemeinsam haben sie zwei Kinder, 24 und 19 Jahre alt. Sie sind seit fast 30 Jahren verheiratet, leben seit einem halben Jahr getrennt: Herr Vogt im gemeinsamen Haus, Frau Vogt in einer angemieteten Wohnung. Frau Vogt antwortete auf die Frage nach den Gründen für eine Paarberatung in dem vorab zugeschickten Fragebogen folgendermaßen: »Ich habe mich nach 28 Jahren Ehe und 34 Jahren Zusammensein von meinem Mann getrennt.« Sie gibt an, dass es der Wunsch von ihr und ihrem Mann sei, die Unterstützung aufzusuchen. In Bezug auf mögliche Themen bzw. Ziele der Beratung antwortet sie: »Ich möchte wissen, ob unsere Beziehung in irgendeiner Weise noch zu retten ist, bzw. die Beziehung so problemlos wie möglich zu beenden.« © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vogt gibt als Gründe für die Paarberatung »Eheprobleme, Trennung« an und vermerkt, dass er die Initiative für das Aufsuchen von Unterstützung ergriffen habe. Er möchte eine »Klärung der Ursachen und mögliche Perspektiven« innerhalb der Paarberatung erreichen. Die Beraterin Frau Rosten ist, wie bereits im Zusammenhang mit der Paarberatung von Frau Brandt-Ziegler und Herrn Ziegler vorgestellt, Mitte vierzig und arbeitet als Abteilungsleiterin in einem Unternehmen sowie freiberuflich als systemische Beraterin und Coachin. Herr Klingebiel ist Mitte vierzig, hat ebenfalls eine Leitungsfunktion im gleichen Unternehmen wie Frau Rosten inne und ist ausgebildeter systemischer Coach und Berater. Insgesamt fanden sieben Sitzungen statt, wobei die ersten sechs Sitzungen im monatlichen Intervall erfolgten. Der vorgesehene siebte Termin wurde von Frau Vogt abgesagt, da sie herausgefunden hatte, dass Herr Vogt eine neue Partnerschaft eingegangen war. Es folgten mehrere E-Mails und Telefonate zwischen dem Paar und den Berater*innen. Drei Monate später fanden sie wieder zu einem siebten Gespräch, das Abschlussgespräch dieser Paarberatung, zusammen. 5.3.2 Das Erstgespräch Im Folgenden werden die Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Re­kon­ struk­tion des Erstgesprächs dieser Paarberatung in verdichteter Form dargestellt. 5.3.2.1 Eröffnung und gegenseitige Vorstellung Wie bereits verdeutlicht (Unterkapitel 4.2) erfolgt ein detaillierter Blick auf die Gesprächseröffnung des Erstgesprächs. Sie beginnt, nachdem die Forschungsmitarbeiterin das Zeichen gegeben hatte, dass alle Kameras eingestellt sind, die Aufzeichnung läuft und die Beratung anfangen kann. Um die Vorgehensweise der Objektiven Hermeneutik erneut zu verdeutlichen, wird im ersten Sprechakt zuerst ohne Hinzuziehung des Kontexts eine Analyse vorgenommen. Im weiteren Verlauf wird der Kontext des Erstgesprächs einer Paarberatung hinzugenommen.

 rau Rosten: Das heißt, wir dürfen auch offiziell starten. ((lacht)) Herzlich F willkommen hier in . Da Frau Rosten sich auf etwas vorab Gesagtes bezieht, wird deutlich, dass die Situation bereits läuft. Folgende gedankenexperimentelle Geschichten können entworfen werden, in denen der getätigte Sprechakt angemessen erscheint. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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1. Es findet eine Reise im Rahmen einer geführten Busfahrt statt. Der Fahrer gibt der Reisebegleiterin ein Zeichen, dass nun das inkludierte Begleitprogramm gestartet werden kann. Die Reisebegleiterin nimmt das Mikrofon und sagt zu den Reisenden, die schon länger auf ihren Plätzen sitzen, diesen Satz. 2. Zu Beginn einer wissenschaftlichen Tagung befinden sich die Teilnehmenden im Tagungssaal und unterhalten sich. Die Veranstalterin wartet darauf, dass alle technischen Geräte (Mikrofon, Beamer) funktionieren. Nachdem sie das Okay von der Technik erhalten hat, sagt sie diesen Satz. 3. Dieser Satz wird im Rahmen einer Fernsehtalkshow getätigt. Alle Gäste sitzen auf ihren zugewiesenen Plätzen und sind in ein informelles VorabGespräch verwickelt, das noch nicht Teil der Aufzeichnung ist. Es werden die letzten Handgriffe getätigt, bis die rote Lampe der Aufnahme läuft und die Moderatorin diesen Satz sagt. Alle Geschichten verdeutlichen einen Übergang zu einem Nächsten. Das Nächste wird angekündigt und etwas Neues beginnt. Es gibt eine externe In­stanz, die den legitimen Start dessen, was dann passieren soll, verantwortet. Frau Rosten hat dabei eine verantwortende Rolle und steht für eine größere Gruppe (»wir«). Sie inszeniert sich als Vertretung einer offiziellen Institution, die mit der Stadt oder dem bestimmten Ort in dieser Stadt verbunden ist. Die Stadt spielt eher eine geringfügige Rolle, vielmehr wird der besondere Ort (»hier«) innerhalb dieser Stadt herausgestellt. Das Gegenüber, ob nun Publikum oder Reisegruppe, wird insofern angesprochen, als vorab kein oder kaum Bezug zu dem bestimmten Ort in der Großstadt genommen wurde. Es geht um den Anlass (Reise, Tagung, Fernsehshow) an diesem besonderen öffentlichen Ort, der gleichzeitig nicht spezifiziert bzw. explizit benannt wird. Eine mögliche Lesart ist die einer Vermeidungsfigur, diesen Ort und den damit zusammenhängenden Anlass explizit zu benennen. Das, was eigentlich nicht öffentlich stattfindet, erhält einen öffentlichen und formalisierten Charakter. Eine weitere Lesart ist, dass dieser Ort so als gegeben vorausgesetzt wird, allen bekannt ist und daher nicht genannt werden muss. Durch die Inszenierung in das nun beginnende Formale wird das vorherige als noch nicht zum Eigentlichen dazugehörend gerahmt. Es wurde damit vorab eine künstliche Informalität inszeniert, die durch den offiziellen Start abgebrochen wird. Allen Lesarten gemein ist, dass Frau Rosten den offiziellen Ablauf mit einem künstlichen Start beginnt. Frau Rosten spricht eine offizielle Rolle (Reisende, Teilnehmer*innen, Gäste) beim Gegenüber an und eröffnet damit eine Distanz. Gleichzeitig wird eine Informalität vor dem getätigten Sprechakt inszeniert. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Durch das Berufen auf eine offizielle Struktur wird die Inszenierung fortgesetzt. Die offizielle Begrüßung (»Herzlich willkommen«) trägt eine Freiwilligkeit an das Publikum bzw. an das Gegenüber heran, an dieser institutionalisierten Situation teilzunehmen und sie positiv zu konnotieren. Man muss zunächst verdeutlichen, dass alle involvierten Personen in Startposition versetzt werden. Im Anschluss müsste eine Aushandlung darüber stattfinden, wie das institutionalisierte Setting offiziell fortgesetzt und gemeinsam gestaltet wird. Frau Vogt: Danke.  rau Rosten: Dann fang ich gleich wirklich einfach mal mit ʼner kurzen VorF stellungsrunde an, (.) alle vier, so ((Frau Vogt: Ja)) dass wir das (.) Gröbste wenigstens voneinander wissen. ((Herr Vogt: Mhm)) Frau Vogt fühlt sich angesprochen und bedankt sich. Sie zeigt durch »Danke« eine gewisse Mitverantwortlichkeit für die Etablierung der offiziellen Struktur an, akzeptiert damit die ihr zugeschriebene formale Rolle und positioniert sich als Person, die aus freien Stücken an dieser institutionalisierten Situation teilnimmt. Während Frau Rosten eine offizielle Rolle einnimmt, positioniert sich Frau Vogt mit »Danke« als Teilnehmerin dieser Situation, die dennoch nicht für den offiziellen Ablauf verantwortlich ist. Es wird sich über die Begrüßung, also eine Leistung, die nun startet, bedankt. Besonders bei den ersten beiden entfalteten Geschichten wird deutlich, dass ein Bedanken der offiziellen Begrüßung eine Form eines reziproken Geschäftsverhältnisses verleiht. Es wird nun eine Leistung (Reisetour, Vortrag, Interview) erwartet, für die auch etwas zurückgegeben wird (Bezahlung, Zur-Verfügung-Stellen für ein Interview in einer Fernsehshow). Dadurch erhält die Situation Dienstleistungscharakter. Zudem verweist »Danke«, bei Hinzuziehung des Kontexts, auf die Besonderheit dieser Forschungssituation (ähnlich wie in Abschnitt 5.1.2.1). Durch die Teilnahme an der Forschung kommt das Paar in die Position, nicht nur einen Rat zu erfragen, sondern auch der Forschung etwas zurückzugeben. Die eigene Person und die Besonderheit des Problems werden damit hervorgehoben und gewinnen an Gewicht. Frau Vogt rekurriert somit darauf, freiwillig an dieser Form des Settings (Paarberatung innerhalb eines Forschungsprojekts) teilzunehmen. Hier tritt erneut die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Rahmen – Forschung und Beratung – deutlich hervor. Frau Rosten deutet mit »Dann fange ich gleich wirklich mal an« eine festgeschriebene Struktur an, wie es weitergeht. Es ist ein vorsichtiges Herantasten an den offiziellen Ablauf der Situation, denn der Programmpunkt – Einlei© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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tung der Vorstellungsrunde – wird erläutert und in seiner Funktion transparent dargestellt. Die Struktur des Anfangens sieht nun vor, dass alle Anwesenden sich vorstellen. Herr und Frau Vogt stimmen dem Ablauf zu, sodass die Verantwortlichkeit für die Strukturierung dieses Settings bei Frau Rosten belassen wird. Frau Rosten stellt sich ohne vorherige Aushandlung darüber zuerst vor. Im Sinne einer Dienstleistung – als eine Lesart – präsentiert sie zunächst das Produkt bzw. sich als die Person, die die Leistung erbringt. Sie verdeutlicht in einer ambivalenten und verdeckten Form ihre Rolle als Verantwortliche für dieses Setting und damit als Strukturgebende: Einerseits beruft sie sich auf eine Symmetrie (»alle vier«) und andererseits benutzt sie die Verantwortlichkeit qua Rolle, um Struktur herzustellen. Das Paar wird damit als für die Leistung zu Gewinnende angesprochen. Die Vorstellung aller Anwesenden verdeutlicht ebenfalls eine Mitverantwortlichkeit aller für das Gelingen dieser Situation. Die Struktur der Paarberatung setzt voraus, dass sich die Partner*innen aktiv beteiligen. Dieser Umstand wird kritisch gerahmt. Das Paar wird derart konstruiert, dass die Berater*innen Aufwand betreiben müssen, damit sie der Struktur von Paarberatung freiwillig folgen. Allen Anwesenden wird somit eine Mitgestaltung für dieses Setting zugesprochen, auch wenn die Strukturierungsverantwortung für das Setting bei Frau Rosten liegt. Die strukturelle Mitgestaltung des Paars ist eingeschränkt, da Frau Rosten auf der inhaltlichen (»ganz kurz«) und strukturellen (»Dann fang ich gleich […] an«) Ebene Vorgaben macht. »Alle vier« verweist darauf, dass sich eingangs der Sitzung die Beteiligten kurz vorstellen. Hier steht nicht die ganze Person im Fokus, sondern nur in einem ausgewählten Maß und in begrenztem Zeithorizont. Dies deutet darauf hin, dass zu einem anderen Zeitpunkt der Paarfokus mit mehr Gesprächszeit im Vordergrund stehen wird. Die Anfangssequenz ist davon geprägt, dass eine aktive Teilnahme an das Paar herangetragen wird – eine gegenüber den erwartbaren Ansprüchen an eine Dienstleistung ambivalente Rahmung. Der aktive Part des Paars an der Beratung, d. h. die Mitwirkungsbereitschaft, wird vakant gerahmt. Es muss im weiteren Verlauf deutlich werden, inwieweit sich die Einsicht in die Notwendigkeit freiwilliger aktiver Teilnahme, statt nur etwas zu erwarten, weiter entfaltet.  rau Rosten: […] Ja, ich heiße Corinna Rosten, bin 44 Jahre alt, verheiratet, F hab’ zwei Kinder im Alter von (.) 11 und 15 Jahren, (.) wohne (--) zu einem Teil in und zu einem anderen Teil in ((lacht)). In mit Familie, hier (.) zur Arbeit. (.) Genau, bin Abteilungsleiterin © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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in einem Unternehmen seit, äh, , also noch relativ frisch. Und das ist unsere gemeinsame (.) erste Beratung hier mit Ihnen.79 Frau Vogt: Echt? Herr Vogt: Och? Frau Rosten: Genau, weil, äh, (.) wir arbeiten auch noch in unterschiedlichen Abteilungen (--) und, ja, (.) ich find’ das ganz spannend, äh, (.) dass auch das jetzt eben (.) in diesem Rahmen dann möglich wird. (--) Ja, was gibt es noch zu sagen? Ich habʼ die Leitungsfunktion für , das haben Sie dann wahrscheinlich auch schon gelesen (.) und einer meiner Schwerpunkte ist […] unter anderem eben auch Paarberatung, (--) ja (--) und (.) Sie sind jetzt das dritte Paar, (.) das ich in diesem Rahmen berate, (--) und (--) ich bin ganz gespannt. (.) Vielleicht mal so weit. ((deutet auf Herrn Klingebiel)) Frau Rosten beginnt mit ihrer eigenen angekündigten Vorstellung. Zunächst werden private Informationen (Alter, Beziehungsstatus, Kinder) aufgeführt. Dabei werden normative Vorstellungen über Beziehung ins Zentrum gerückt (Unterkapitel 1.1). Das heißt, die Legitimation für ihre Position in diesem Setting wird zunächst über den Status einer privaten, ausgehandelten Beziehung an zwei Wohnorten hergestellt. Die Kompetenzdarstellung erfolgt daraufhin über den Status einer Abteilungsleiterin. Frau Rosten stellt sich hierbei in Ich-Form und somit als Individuum dar. Es erfolgt ein kurzer Bezug zur Beratungsdyade, gerahmt als noch nicht lange bestehend und somit ohne Routine (»gemeinsame erste Beratung«). In dieser Konstellation wird hervorgehoben, dass es für alle ein Erstgespräch ist und sich damit noch keine eingespielte Struktur bei den Berater*innen formalisiert hat. Diese Einschränkung bzw. weitere Lesart hebt die nicht vorhandene Arbeitsroutine der Berater*innendyade hervor. Die Verbindung zwischen Herrn Klingebiel und Frau Rosten wird dann durch die gemeinsame Situierung in einem Unternehmen gestärkt, gleichzeitig durch Verortung in unterschiedlichen Abteilungen wieder individualisiert. Die Gemeinsamkeit in der Anstellung als Abteilungsleiter*in und somit im Status spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Es werden zwei einzelne Expert*innen konstruiert. Die diversen Themenschwerpunkte ihrer Abteilungen verdeutlichen ihr Expertentum. Die Expertisen- und Kompetenzdarstellung erfolgt ebenfalls individuell und auf das Forschungsprojekt bezogen. Die Routine innerhalb der 79 Innerhalb dieses und des folgenden Sprechakts von Frau Rosten wurden personenbezogene Daten entfremdet, um die Anonymität zu wahren. Die Rekonstruktionen des Sprechakts in den Interpretationsgruppen erfolgten mit den Originalangaben, um die latenten Sinnstrukturen nicht zu verfälschen.

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Beratung in diesem Forschungsprojekt (»in diesem Rahmen«) wird von Frau Rosten als einzelne Beraterin hervorgehoben. Das Berater*innenteam wird als noch nicht routiniert konstruiert. Die Kompetenzdarstellung als Beraterin wird nach den Äußerungen des Paars – beide bringen ihr Erstaunen über die fehlende vorherige Zusammenarbeit der Berater*innen zum Ausdruck – nachgeholt. Im nicht aufgenommenen Teil vor der Paarberatung muss angeklungen sein, dass Frau oder/und Herr Vogt sich über die Berater*innen vorab informiert haben (»das haben Sie dann wahrscheinlich auch schon gelesen«). Damit verbunden ist eine Erwartung an die Paarberatung, von Expertise, Professionalität und Routine geprägt zu sein. Herr und Frau Vogt offenbaren also einen Anspruch und eine Leistungserwartung an diese Paarberatung. Der von Frau Rosten geforderten Mitwirkung wird mit einem Anspruch auf eine Dienstleistung begegnet. Die anderen Teilnehmenden werden aufgefordert, bei der eigenen Darstellung der vorgegebenen Vorstellungsstruktur zu folgen. Die »kurze« Darstellung der Beratung bezieht sich hier auf die Einzelperson, besonders auf das Private und den Status. Frau Rosten versichert sich nicht, ob ihre auf sich bezogenen Ausführungen ausführlich genug waren, sondern schließt diese selbst (»Vielleicht erst mal so weit«) und übergibt an Herrn Klingebiel. Sie beruft sich somit auf eine Vorstruktur der Vorstellung ihrerseits, die nicht zur Verhandlung ausgeschrieben wird. Das Mitspracherecht über die Struktur der Paarberatung wird eingegrenzt. Zusammenfassend und den Kontext vermehrt hinzuziehend lässt sich festhalten, dass eine offizielle Situation gerahmt wird, in der die Beraterin ihre Vorstrukturierung und ihre Strukturverantwortlichkeit für dieses Setting verdeutlicht. Dieser Asymmetrie bezüglich der Verantwortung für das Setting steht gegenüber, dass die eigene Kompetenzdarstellung nicht über die Beratungsexpertise des Berater*innenteams erfolgt, sondern über den individuellen Status der Beraterin. Somit wird die Dyade eher als problembehaftet dargestellt. Die Partner*innen werden als Einzelpersonen angesprochen. Der Fokus auf die Einzelpersonen wird aber nicht als Fokus für die weitere Paarberatung gerahmt. Ferner erfolgt die Darstellung der Leistung, hier Paarberatung. Damit verknüpft ist eine Erwartungshaltung, die der erwarteten Mitarbeit ambivalent gegenübersteht. Denn gleichzeitig wird das Paar dahingehend angesprochen, aktiv zu dieser Beratung beizutragen. Es kann nicht nur »konsumiert« oder ein fertiges Endprodukt erwartet werden. Das Paar positioniert sich zunächst als Erwartende einer Leistung. Die Beraterin macht diese Erwartung abhängig von der Freiwilligkeit der Mitwirkung des Paars. Bevor die nächste rekonstruierte Sequenz dargestellt wird, erfolgt eine kurze Einbettung des weiteren Verlaufs der Sitzung. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Auch Herr Klingebiel thematisiert zuerst seine räumliche Verortung, dann seinen beruflichen Werdegang (Promotion, systemische Ausbildung). Daraufhin erläutert er die inhaltlichen Schwerpunkte und verschiedenen Aufgaben seiner Abteilungsleitung. Am Ende seiner Vorstellung nennt er seinen Lebensmittelpunkt, Alter und Kinder. Legitimation erfolgt auch hier über den Status, weniger über die Beratungsexpertise. Frau Vogt nimmt die Art der Vorstellung der Berater*innen auf und stellt sich selbst als Einzelperson vor. Ähnlich wie Frau Rosten stellt sie ihren Beziehungsstatus, ihre Kinder (»noch verheiratet«, »Ich habe zwei Töchter« [N005_01, Z. 55–56]) und ihren beruflichen Status dar und geht auf ihre Promotion ein. Die fachliche Expertise wird auf Nachfrage von Frau Rosten kurz dargestellt. Herr Vogt nennt zuerst seinen Beruf und, dass er eine Leitungsposition in einem Institut innehabe. Außerdem nennt er die zwei gemeinsamen Kinder. Auch Herr Vogt wird nach seiner beruflichen Spezialisierung gefragt, die er kurz erläutert. Frau Vogt verdeutlicht daraufhin, dass sie »34 Jahre zusammen« (N005_01, Z. 76) und »verheiratet seit 28 Jahren« (N005_01, Z. 87) seien. Sie präsentieren das Verbindende auf der Paarebene in knapper Form durch die Nennung des Beziehungsstatus und der Kinder. Daraufhin erfolgt die nächste rekonstruierte Sequenz. Hier zeigt sich, inwieweit sich der Fokus von den Einzelpersonen immer weiter auf das Paar verschiebt. 5.3.2.2 Erste Aufforderung der Problemexplikation

Nach der allgemeinen Vorstellungsrunde folgt die Sequenz, in der ein erstes Anliegen erfragt wird. Eine Interaktion mit der Beraterin und die Aushandlung des Paars über die Problemexplikation stehen im Vordergrund. Hier ist ebenfalls zu rekonstruieren, inwieweit Freiwilligkeit und Mitwirkungsverantwortung angesprochen werden und sich der Fokuswechsel von Einzelperson zu Paar vollzieht.  rau Rosten: Ja, (--) Was führt Sie her? Was ist der möglicherweise [aktuF elle Auslöser? Frau Rosten fordert von beiden aus der Perspektive des Paars eine Begründung, weshalb sie zur Paarberatung gekommen sind. Die Entscheidung, wer zuerst antwortet, wird dem Paar überlassen. Die Berater*innen sehen ihrer Struktur folgend vor, nach einer Legitimation zu fragen, weshalb das Paar diese Beratung aufsucht. Dabei werden beide gleichzeitig als Paar angesprochen, die Einzelpersonen stehen nun nicht mehr im Fokus. Eine gewisse Reflexivität und Einsicht wird von Herrn Vogt und Frau Vogt vorausgesetzt, ihr Paarbeziehungs© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Problem bzw. Anliegen für die Beratung explizit zu benennen. Das Paar – so wird es konstruiert – kann eine Leistung von den Berater*innen in ihrer Expertise erwarten bzw. hegt bestimmte Vorstellungen, welche Veränderungen diese Paarberatung hervorbringen soll. Hier wird dezidiert mit der ersten Frage ein asymmetrisches Expert*in-Lai*in-Verhältnis aufgemacht. Das »Was« zielt auf eine Beschreibungsebene ab und ist damit weniger konfrontativ als beispielsweise »Warum kommen Sie?«. Die Formulierung verschleiert jedoch nicht, dass von einem Hilfebedarf ausgegangen wird. Das Paar ist nun gefordert, eine gewisse spezifische Problematik und Bedürftigkeit zu explizieren und etwas preiszugeben. Demnach wird die Thematisierung eines schwelenden dauerhaften Paarproblems erwartet, das sie zur Paarberatung geführt hat. Die Paardyade wird als problembehaftet gerahmt. Der erste Satz dieses Sprechakts eröffnet einen größeren Möglichkeitsraum für Beschreibungen. Es können beispielsweise auch diffuse Gefühle genannt werden. Im zweiten Satz des Sprechakts wird die situative Komponente betont und eine Begründung für »aktuelle Auslöser« erfragt. Die Formulierung »aktuelle Auslöser« impliziert, dass es vorab schon mehrere schwierige Situationen gab, und fokussiert einen der Paarberatung vorausgehenden Leidensprozess. Der Stimulus des ersten Satzes ist zuerst offen formuliert und wird mit dem zweiten Satz auf den Auslöser eingeschränkt. Es wird nun eher eine akute Situationsund weniger eine Problembeschreibung gefordert und damit ausgedrückt, dass es einen Auslöser gebe, bevor Ratsuchende eine Paarberatung aufsuchen. Das Paar wird insofern als kundig seiner selbst, bezogen auf Problem- und Krisenwahrnehmung, konstruiert, als die Partner*innen einen konkreten Auslöser und ein daraus resultierendes Anliegen formulieren können. Mit der zweiten Frage wird das Paar als Fachpersonen (ähnlich wie der systemische Grundsatz: Klient*in ist Expert*in) ihrer Situation konstruiert. Selbstreflexivität wird angesprochen, indem Paarberatung als zur Problemlösung notwendiges Instrument gesehen wird. Damit wird die Freiwilligkeit der Partner*innen, eine Paarberatung aufzusuchen, vorausgesetzt. Die Ambivalenz des Settings zeigt sich in der Aushandlung zwischen dem Selbst-Mitarbeiten (das Paar muss sich jetzt und hier mit seinen Problemen präsentieren und ist darin zur Mitwirkung verpflichtet) und der Erwartung einer Veränderung durch das zugeschriebene Expert*innentum (die mit der Inanspruchnahme einer Dienstleistung einhergeht). Frau Rosten spricht eine Dyade an und delegiert damit die Entscheidung, wer als Erstes antwortet. Das Paar wird in die Situation gebracht, dies zu verhandeln. Die Frage lässt nur Raum für eine Person offen, das Problem zu explizieren. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Vogt: ((schaut zu Herrn Vogt)) Herr Vogt: ((deutet, ohne sie anzusehen, auf Frau Vogt))] Das Paar ist nun in der Situation auszuhandeln, wie sie mit der gemeinsamen Ansprache als Paar umgehen. Frau Vogt geht mit dem Schauen zu Herrn Vogt einen Aushandlungsprozess mit ihm ein. Herr Vogt verteilt mit seiner nonverbalen Kommunikation (deuten) das Rederecht an Frau Vogt. Er weist die Frage weiter und geht nicht in einen Aushandlungsprozess mit Frau Vogt. Es erfolgt daher kein Zusammenschluss oder ein Angebot der Dyade mit Frau Vogt. Herr Vogt positioniert sich eher als Mitstrukturierer der Paarberatung, indem er das Rederecht verteilt. Diese Form der Aushandlung deutet darauf hin, dass nicht ausgehandelt werden muss, wer zuerst das gemeinsame Problem präsentiert, sondern wer zuerst seine Sicht der Problemexplikation äußert. Zwischen dem Paar – so eine Lesart – herrschen differente Ansichten über die Problematik der Partnerschaft. Dies deutet darauf hin, dass vorab keine gemeinsame Problemexplikation erfolgte. Die gemeinsame Ansprache als Paar scheitert hier.  rau Vogt: Also unsere, äh, Beziehung war immer (.) ziemlich schwierig. Also, F was heißt (.) schwierig, volatil, (.) also nicht langweilig, ne? ((Frau Rosten: Mhm)) Und, ähm ((räuspert sich)), die schwierigen Phasen werden dann, äh (1), intensiver (--) sodass ich, ähm ((räuspert sich)) Anfang dieses Jahr, äh, ins Frauenhaus gegangen bin. (--) Und zwei Mal zu einem Frauenhaus war und dann das dritte Mal bin ich endgültig ausgezogen. (--) Und das am Tag nach dem Abiball, bin ich ausgezogen und jetzt habe ich meine eigene Wohnung (---) und ich komme hierher, um, um einfach zu gucken, was die Zukunft, ob ich, äh, die Zukunft weiterführe mit meinem Mann oder ob ich einfach alleine jetzt, weil ich hab’ den Schritt gemacht, (--) ich kann auch alleine, aber es wär’ natürlich schade, 34 Jahre wegzu(.)schmeißen. Ich hab’ mein, äh (--), mein Land verlassen, ich hab’, ähm (--), wirklich mein, äh (.) ((räuspert sich)) Lebenspunkt immer nach Helmut80 gerichtet, auch mit Freude, (.) bin, hab’ auch selber was erreicht, aber, ähm (.), das, nach meiner (--) Ansicht geht es nich’ mehr. Frau Vogt kommentiert nicht die Handlung ihres Manns, sondern bezieht sich auf die Frage von Frau Rosten. Ihre Aussage stellt zunächst eine verallgemeinernde Evaluation der Beziehung dar. Es gebe keinen aktuellen Aus80 Anonymisierter Vorname von Herrn Vogt.

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löser, denn die Beziehung sei schon immer schwierig gewesen. Es wird als Dauerzustand beschrieben, dass die Beziehung »ziemlich schwierig« sei. Dieser »schwierige« Grundton wird als Normalzustand in der Vergangenheit dargestellt. Die Problemexplikation über die Beziehung wird in einer verabsolutierenden Äußerung verdeutlicht. Es wird ein Problembewusstsein hinsichtlich der Beziehung evoziert, jedoch die Anteile weder des Partners noch die eigenen herausgestellt. Die Beziehung wird als Phänomen an sich verdinglicht (»unsere Beziehung«). Das Zusammensein dieser beiden einzelnen Personen führt zu einer schwierigen Beziehung. Die subjektiven Anteile werden in den Hintergrund gerückt. Diese Form der Darstellung positioniert Frau Vogt als NichtInvolvierte. Das Wort »Beziehung« fokussiert die emotionale Verbundenheit (das Wort Ehe würde eher auf den institutionellen Charakter verweisen). Es geht nicht um Probleme auf der Handlungsebene, z. B. Regelung im Haushalt oder der Care-Arbeit, sondern um Probleme der emotionalen Beziehung und des Umgangs miteinander. Die aus der problembehafteten Beziehung entstandenen Konsequenzen (»zwei Mal zu einem Frauenhaus war und dann das dritte Mal bin ich endgültig ausgezogen«) werden hier von ihr aus subjektorientierter Perspektive formuliert. Frau Vogt bleibt dabei dem individuellen Blick verhaftet und lässt sich nicht als Paar ansprechen. Die präzisen Ausformulierungen und Spezifizierungen präsentieren eine reflexive Haltung bzw. sie positioniert sich als selbstreflexiv. Frau Vogt formuliert als Ziel, was ihr die Gespräche bringen könnten (»um einfach zu gucken«). Die eigene Person und die eigenen Anteile werden als nicht veränderungsnotwendig dargestellt. Das bedeutet, dass sie sich hier als freiwillig das Setting aufsuchend und die Notwendigkeit der Bearbeitung des Problems reflektierend positioniert. Das Setting wird zwar freiwillig besucht, unmittelbare Änderungsbereitschaft aber nicht angedeutet. Der Mann wird somit als Hauptadressat dieser Paarberatung adressiert. Herr Vogt ist derjenige, der an seinem Verhalten etwas ändern muss, um die Beziehung zu verändern. Frau Vogt positioniert sich in einer passiven und reagierenden Haltung. Als weitere Lesart ist möglich, dass die Paarberatung zu neuen Selbsterkenntnissen bei ihr führen soll, die sie in eine aktivere Rolle versetzen würden. Zusammenfassend lässt sich an dieser Sequenz rekonstruieren, dass die Beraterin die Paarebene fokussiert, jedoch zurückgewiesen wird. Die Ambivalenz, die sich neben der Paaransprache aufzeigt, liegt in der hier ausgehandelten Form der Paarberatung: einerseits eine Leistung, die zu individueller Selbsterkenntnis führen soll, andererseits die Bedingung, dass das Paar im Fokus der Einsicht und Veränderung steht. Die Paarbeziehung wird problematisierend dargestellt. Die Veränderung soll beim Mann erfolgen und nicht auf der Paarebene. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Dies steht konträr zu der Herstellung der Paardyade in der Problemexplikation seitens der Beraterin. Frau Vogt positioniert sich als reflexiv und freiwillig das Setting besuchend, indem sie eine Notwendigkeit herausstellt. Aber bezogen auf Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung wird ein Dienstleistungsgedanke offenbart, der sich dann auf Veränderungsanregungen bei Herrn Vogt bezieht. Um diese Strukturdynamik näher zu rekonstruieren, sei eine weitere Sequenz analysiert. Bis dahin wird in der Paarberatung Folgendes besprochen: Herr Vogt reagiert darauf, indem er sich wie folgt äußert: Er sehe »Fragezeichen nach dem (1) wieso und wo denn die wirklichen, die wahren Wurzeln sind, (.) die Ursachen für die (.) letztlich ja jetzt Trennung« (N005_01, Z. 111–113) und »kann das nochmal zusammenkommen?« (N005_01, Z. 120). Er möchte »ʼne Klärung finden« (N005_01, Z. 125). Frau Rosten stellt beiden daraufhin die Frage: »Sie sagen, das hat sich gelohnt hier zu sein, was müsste dann passiert sein?« (N005_01, Z. 134–135). Frau Vogt wünscht sich »Klarheit« (N005_01, Z. 136) und erwähnt, dass sie vor circa zwei Jahren schon mal eine Paarberatung aufgesucht haben, aber »Mein Mann ist zweimal hingegangen. Und als die ist- (--) um die brenzlige Themen ging, (--) ist e-, hat er gesagt, ich steh’ auf und gehe« (N005_01, Z. 143–145). Auf Frau Rostens Frage: »Klarheit und Reflexion in Bezug auf was genau?« (N005_01, Z. 151– 152), berichtet Frau Vogt, dass sie sich »nicht mehr sicher im Haus« (N005_01, Z. 156) fühlte und dass ihr Mann das Thema »der Gewalt überhaupt nicht in Gesicht, (--) äh, sehen oder, oder zugeben« (N005_01, Z. 159–160) könne. Nach Aufforderung von Frau Rosten stellt Herr Vogt klar: »Also da sind wir ganz anderer Meinung« (N005_01, Z. 168). Herr Vogt bezieht dazu Stellung und meint: »was das Thema auch Gewalt angeht. Ich finde das ist (--) maßlos (--), äh, äh, übertrieben« (N005_01, Z. 178–179) und »habe mir daraufhin von dir auch schriftlich geben lassen, dass ich nicht gewalttätig bin« (N005_01, Z. 199–200). Weiterhin benennt er, dass auch die Kinder bezeugen könnten, dass nach dem vorletzten Frauenhausaufenthalt von Frau Vogt »dieses aggressive Potenzial gerade in der letzten Phase, nachdem ich im Krankenhaus war, aus dem Krankenhaus zurückkam, (---) doch sehr groß war deinerseits« (N005_01, Z. 202–204). Auf die Frage von Frau Rosten: »was wäre für Sie heute ein gutes Ergebnis?« (N005_01, Z. 211), formuliert Herr Vogt den Wunsch nach »Coolness« (N005_01, Z. 217) und »Erdung um, um, um sich dann vielleicht ʼn bisschen mehr Vertrauen zu erarbeiten, (.) um aufeinander zuzugehen« (N005_01, Z. 219–220). Frau Vogt geht nicht darauf ein, sondern sagt, dass sie den Zettel nur unterschrieben habe, damit er nicht mehr explodiere. Sie beschreibt daraufhin, wie es dazu kam, dass sie ein weiteres Mal © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ins Frauenhaus gegangen sei. Daraufhin beschreibt Herr Vogt eine Situation, in der Frau Vogt »sich nicht mehr im Griff [hatte], die Kinder sind auch weinend davongelaufen« (N005_01, Z. 309). Frau Vogt beschreibt daraufhin ihre Angst in dieser Situation, dass er wieder gewalttätig werden könne. Daraufhin erklärt Herr Vogt, weshalb er sich die Unterschrift habe geben lassen. Und er nennt Situationen, in denen Frau Vogt ihm gegenüber gewalttätig war. Frau Vogt beschreibt daraufhin: »der hat mich angegriffen, de-ich bin eine große Frau (--), ich verteidige mich dann« (N005_01, Z. 360–361). Wie sich die weitere Positionierung und die Aushandlung über die Adressat*innenschaft gestalten, zeigt sich in einer Interaktion, in die alle vier Teilnehmenden involviert sind. 5.3.2.3 Individuell zuschreibende Problempräsentationen Anhand der nächsten rekonstruierten Sequenz wird deutlich, wie die Berater*innen versuchen, eine Veränderungsbereitschaft herzustellen. Diese Sequenz fand ab der 22. Minute statt.

 rau Vogt: […] im Frauenhaus haben die mich davor gewarnt, weil die ham’ F gesagt, das wird jetzt sehr, sehr gefährlich Frau Vogt, weil er das gegen sie (.) verwendet, obwohl er sie angegriffen hat. Herr Klingebiel: Mhm ja, mich-mi-mir würde nochmal ’ne andere Frage interessieren, also Sie haben ja gesagt, Herr Vogt, Sie sind (--) bei der letzten Paartherapie, (--) äh (--), [also Frau Vogt schildert eine Situation, in der eine emotionale Belastung und eine potenzielle Drohung thematisiert werden. Das wahrgenommene Bedrohungspotenzial ihres Manns wird durch die Hinzunahme einer dritten Instanz, hier das Frauenhaus, unterstützend verdeutlicht. Der Mann ist aus Frau Vogts Perspektive derjenige, der sein Verhalten – hier physisches Angreifen – ändern solle, um eine Veränderung in der Beziehung hervorzurufen. Der Berater Herr Klingebiel leitet mit »mich-mi-mir würde nochmal ’ne andere Frage interessieren« einen Themenwechsel ein. Durch den Konditionalis ist der Abbruch aufgeweicht. Der Abbruch des Vorherigen erfolgt mit dem Argument des persönlichen Interesses. Das Interesse des Beraters wird hier als Strukturelement der Beratung eingeführt. Überdies kündigt er die Frage an und verdeutlicht damit, dass er in diesem Setting die Fragen stellt und damit Informationen einholt. Die Frage ist von weiterem Interesse, Vorheriges wird damit inhaltlich beendet und etwas anderes eingeführt. Der Bezug zum Vorherigen ist © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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nur durch »was anderes« erkennbar. Auf das vorher implizit benannte Problem von Frau Vogt wird inhaltlich nicht eingegangen. Es wird nun eine neue Markierung gesetzt, was als passendes Thema für die weitere Beratung gesehen wird. Das vorab Gesagte wird als nicht passend für das Setting Paarberatung gerahmt. Herr Klingebiel spricht direkt Herrn Vogt an und fokussiert nicht auf die vorherigen Vorwurfsschilderungen, sondern auf das institutionelle Setting, die zu einem früheren Zeitpunkt aufgesuchte Paartherapie. Das Verhältnis zwischen Herrn Vogt und der letzten Paartherapie wird nun thematisiert. Der Berater holt Informationen ein, die die Perspektive des Manns, Herrn Vogt, fokussieren, die damit eine Wichtung erfährt. Interesse beschreibt etwas Positives, dahin geht die Aufmerksamkeit. Herr Vogt erhält nun das Rederecht und die Auskunftspflicht. Die Perspektive des Manns wird auf diese Weise gegenüber den Aussagen von Frau Vogt aufgewertet. Das Abbrechen und das ausbleibende inhaltliche Eingehen auf Frau Vogts Schilderungen verstärken dies. Frau Rosten: -nach der zweiten Sitzung.] Herr Klingebiel: -nach der zweiten Sitzung, äh, gegangen. (---) Ähm, also auch um das Thema, war schon irgendwie jetzt hier grade (---). Herr Vogt: Ich hab’s nicht mehr in Erinnerung. Frau Rosten spezifiziert gegenüber Herrn Klingebiel und dem Paar, dass der Abbruch nach der zweiten Sitzung erfolgte. In der Frage scheinen sich die Berater*innen durch die nun gemeinsame Fragestellung einig zu sein. Eine Kooperation innerhalb des Berater*innenteams wird, im Gegensatz zum Beginn, präsentiert. Die Formulierung »Gegangen« hat etwas Beschwichtigendes. Eine direkte Konfrontation mit dem Abbruch der letzten Paarberatung durch Herrn Vogt wird vom Berater umgangen. Der auslösende Grund für den Abbruch wird damit uneindeutig und nicht direkt angesprochen. Die letzte Paartherapie wird hier zum Teil der Paargeschichte gemacht. Es scheint, als ob die vorherige Paartherapie und ihr abruptes Ende aufgearbeitet werden sollen, bevor zu den Themen übergegangen wird, die das Paar zur vorherigen Paartherapie gebracht hat. Die Paartherapien werden normalisiert dargestellt. Sie stellen einen Teil der alltäglichen Lebenspraxis dar. Die Partnerschaft in der Vergangenheit ist auch hier problematisierend fokussiert. Herr Klingebiel konstruiert damit Herrn Vogt als noch für die Mitwirkung zu gewinnende Person. Dadurch wird Herr Vogt in behutsamer Art und Weise in Haftung genommen und als Auskunftgeber und weniger als Beschuldigter (in dem Sinn, dass der Abbruch der letzten Paartherapie von ihm ausging) © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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angesprochen. Herr Vogt muss sich nun positionieren und wird aktiv aufgefordert, sich als Informant zu beteiligen. Er wird zum Adressaten dieser Beratung gemacht, indem er sich aktiv an dieser Beratung beteiligen und reflexiv auf emotionale Punkte aus der Vergangenheit eingehen soll. Dies wird insofern positiv gerahmt, als Herr Vogt als Informant mit interessanten Aussagen für Herrn Klingebiel angesprochen und gegenüber seiner Frau herausgehoben wird. In behutsamer Weise spricht Herr Klingebiel an, dass auch Herr Vogt involviert und an der problembehafteten Beziehung beteiligt ist. Dem Wunsch, eine Auskunft darüber zu geben, kommt Herr Vogt nicht nach. Er könne sich nicht erinnern und beruft sich auf das Vergessen: Die kognitiven Grenzen des Gedächtnisses verhindern eine Antwort auf die Frage. Dadurch kann eine generelle Kooperationsbereitschaft und Freiwilligkeit des Aufsuchens der Beratung weiterhin signalisiert und gleichzeitig das Thema umgangen werden. Bedeutung der vorherigen Paartherapie und ihr Anteil an der Paargeschichte werden als nicht relevant – da nicht erinnerungswürdig – dargestellt. Die Gewalt in der Vergangenheit, die eigene Involviertheit und die daraus entstandenen Probleme werden als weitere Themen für diese Sitzung negiert. Herr Vogt steuert hier also die inhaltliche Strukturierung des Gesprächs.  rau Vogt: Also er ist nicht gegangen, sondern als ich das [Thema, ähm F Gewalt,Herr Klingebiel: Er ist nicht mehr gekommen.] Frau Vogt: -hat er gesagt, jetzt steh’ ich aber auf [und gehe,Frau Rosten: Ah, okay.] Frau Vogt: -wenn und dann hab’ ich das gelassen, weilHerr Klingebiel: Mhm und Sie ((deutet auf Herrn Vogt)), ja, mi- mich würde es interessieren, wie haben Sie denn geschafft, zum einen jetzt, ähm, äh, die Entscheidung zu treffen, nochmal, äh (---), ʼne, äh, in ʼn Beratungsgespräch zu gehen? (1) Ähm, und wie geht’s Ihnen jetzt grade? Weil jetzt sind Sie ja, sind wir auch grad’ wieder in demFrau Vogt wendet sich mit ihrem Sprechakt an die Berater*innen und bringt die Gewalt direktiv erneut als Thema in diese Paarberatung ein. Die Deutungshoheit verbleibt nicht beim Berater oder Herrn Vogt, da das Thema Gewalt und dessen Verwobenheit mit der letzten Paarberatung explizit genannt werden. Herr Vogt verknüpft das Thema Gewalt mit der Beendigung der letzten Paartherapie. Frau Vogt übernimmt die inhaltliche Strukturierung des Gesprächs, manifestiert die Deutungshoheit und verdeutlicht damit die unterschiedliche Wahrnehmung des Abbruchs der letzten Paartherapie. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Klingebiel weicht die Aussagen von Frau Vogt mit »nicht mehr gekommen« auf. Das behutsame Gewinnen von Herrn Vogt für diese Beratung steht hier weiterhin im Vordergrund. Dafür korrigiert er das Gesagte von Frau Vogt. Herr Klingebiel geht zurück zu seiner Struktur und spricht wieder Herrn Vogt an. Die Deutungs- und Strukturierungshoheit wird hier ausgehandelt, die der Berater bei sich verortet. Es erfolgt wieder eine Ankündigung, geleitet von seinem Interesse. Das, was nun fokussiert wird, wird als besonders interessant im Gegensatz zum vorher von Frau Vogt Gesagten hervorgehoben. Das behutsame Gewinnen von Frau Vogt für diese Paarberatung ist somit nicht vordergründig. Damit geht die Unterstellung einher, dass sie sich bereits als Adressatin dieser Paarberatung versteht. Anstelle auf das Thema Gewalt einzugehen, fokussiert der Berater den Entscheidungsprozess hin zu einer erneuten Paarberatung. Die verklausulierte Sprache konfrontiert Herrn Vogt nicht direktiv mit dem Gewaltthema. Herr Klingebiel spricht Herrn Vogt einen Erfolg zu (»Geschafft«) und unterstellt somit Herrn Vogt eine Transformation seiner Veränderungsbereitschaft von der ersten zu dieser Paarberatung. »Geschafft« impliziert dennoch, dass auch etwas beratungswürdig ist. Hier wird nun von »Beratungsgespräch« gesprochen. Es wird als ein Vorabgespräch deklariert und weniger als eine Therapie, die auf Veränderungen abzielt. Diese Paarberatung wird als niedrigschwellig für Herrn Vogt gerahmt. Eine direktive Veränderungsbereitschaft bzw. Krisenbewältigung wird damit gegenüber Herrn Vogt reduziert. Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass die Entscheidung, erneut eine Paarberatung aufzusuchen, von Herrn Vogt ausging. Die Legitimation der Beratung wird damit eingeholt und die Verantwortung, sich aktiv an der Beratung zu beteiligen, verdeutlicht. Es wird betont, dass der Berater bei Herrn Vogt Beratungsbedürftigkeit voraussetzt. Eine Ambivalenz zwischen »DirektivSein« und »Nicht-verprellen-Wollen« zeigt sich hier gegenüber Herrn Vogt. Sowohl der Berater als auch Frau Vogt arbeiten in jeweils unterschiedlichem Tempo daran, Herrn Vogt zum Adressaten dieser Beratung zu machen bzw. für diese Beratung zu gewinnen. Ihre Vorgehensweisen unterscheiden sich jedoch: Während Frau Vogt direktiv die Handlungsbeschränkung von Herrn Vogt hervorbringt, ist das Vorgehen von Herrn Klingebiel behutsam und nicht direktiv. Das behutsame Gewinnen für die Paarberatung erfolgt nicht gegenüber Frau Vogt. Deutlich wird, dass Herr Klingebiel sich an der Dyade für die weitere Problemexplikation und Lösungsfindung orientiert. Dies geht damit einher, dass sich beide Paarteile als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Bei Frau Vogt wird dies als gegeben angenommen, bei Herrn Vogt wird daran gearbeitet. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vogt: Wenn ich das höre? ((deutet auf Frau Vogt)) Herr Klingebiel: Ja. Herr Vogt: Geht mir nicht gut. Ich find das se-sehr belastend, aber die Situation damals, wenn ich mich so äh zurückerinnere an diese zwei äh Sitzungen bei der Paartherapeutin (---), ähm liefen so ab, dass wirklich en détail Dinge geschildert wurden, die ich auch nicht unterschreiben konnte, dieser, in dieser Form der Schilderung. (1) Und das kam hinzu, (--) dass äh ich nach und nach das Gefühl hatte, dass die Therapeutin (.) auch parteiisch wurde, erstens. […] Eine emotionale Betroffenheit wird mit »geht mir nicht gut« angezeigt und initiiert, dass über die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten gesprochen wird – ein Bruch gegenüber dem gerade Gesagten. Herr Vogt kommt auf die Belastungen der letzten Paartherapie und nicht auf die erneute Legitimation dieser Paarberatung zurück. Es erfolgt eine Thematisierung der Paartherapie und deren institutionelle Verortung und weniger der Gründe, weshalb die Paartherapie aufgesucht wurde. Die detaillierte Schilderung seiner Involviertheit in die Gewalt während der letzten Paartherapiepraxis wird negativ bewertet. Es geht nicht darum, ob er gewalttätig war, sondern die Schilderung wird als störend markiert. Statt seiner selbst und seines Anteils an der Gewalt wird das Setting der letzten Paartherapie reflektiert. Es zeigt sich ein Ringen um die Deutungshoheit der Beziehungshistorie zwischen Herrn und Frau Vogt und damit verbunden, wer sich innerhalb dieser Paarberatung verändern sollte und Adressat*in ist. Für diese Paarberatung zeigen sich differente Anliegen und Vorstellungen daraus zu entwickelnder Krisenbewältigung. Das Verständnis, das Herr Vogt offeriert, integriert keine Aufarbeitung und reflexive Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Vergangenheit. Die Berater*innen müssen von dem jeweiligen Verständnis der Paarberatung überzeugt werden. Damit geht dann auch einher, wer die Person ist, die sich verändern soll. Zusammenfassend wird an dieser rekonstruierten Sequenz sichtbar, dass einerseits von Herrn Klingebiel und Frau Vogt versucht wird, Herrn Vogt als Adressaten der Paarberatung zu konstruieren, und zwar anhand der thematischen Setzung der Gewalt und deren Besprechung in der vorherigen Paartherapie. Während Frau Vogt direktiv die Handlungsbeschränkung von Herrn Vogt hervorbringt, ist das Vorgehen von Herrn Klingebiel behutsam und nicht direktiv. Er orientiert sich an der Dyade für die weitere Problemexplikation und Lösungsfindung. Damit geht einher, dass beide Paarteile sich als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Bei Frau Vogt wird dies als © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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gegeben vorausgesetzt, bei Herrn Vogt wird daran gearbeitet. Sowohl Frau als auch Herr Vogt ringen damit, wer Hauptadressat dieser Paarberatung ist und sich verändern muss. Dies erfolgt in der Aushandlung darüber, welche Themen innerhalb dieser Paarberatung thematisiert werden und als Anliegen verhandelt werden können. Gleichzeitig zeigen sich für diese Paarberatung differente Anliegen und Vorstellungen daraus zu entwickelnder Krisenbewältigung. Herr Vogt zieht eine Aufarbeitung und reflexive Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Vergangenheit nicht in Betracht. Das damit einhergehende Verständnis von Paarberatung ist stärker auf die Zukunft ausgerichtet und steht dem Verständnis von Frau Vogt, die eine Thematisierung und Verarbeitung der Vergangenheit und damit auch ein Schuldeingeständnis bezüglich der Gewalt seitens Herrn Vogts anstrebt, diametral entgegen. Um die jeweiligen Fallstrukturen zu falsifizieren und zu spezifizieren, wird die Sequenz einer Interaktion von Frau Rosten mit dem Paar rekonstruiert. Sie verdeutlicht, welches Anliegen in der Paarberatung weiterverhandelt wird. Vorab sei wieder der Gesprächsverlauf bis dahin zusammengefasst. Herr Vogt beschreibt, dass er sich aufgrund der Ausbildungen von Frau Rosten und Herrn Klingebiel für diese Paarberatung entschieden habe und deswegen »Ergebnisse erwarte, ja, (---) das uns weiterbringt« (N005_01, Z. 421– 422). Anschließend fragt Frau Rosten das Paar: »Was vermuten Sie, woran liegt es, dass Sie diese explosiven Stimmungen so gut herstellen können?« (N005_01, Z. 439–440). Frau Vogt berichtet dann über Herrn Vogts »krankhafte[n] Ordnungszwang« (N005_01, Z. 446) und von Beispielen, wie er ihre Hausschuhe fotografiert habe, als sie nicht gerade nebeneinanderstanden. Herr Klingebiel fragt Frau Vogt daraufhin, »Was denken Sie, wie viele Frauen ähm zufrieden wären, wenn die Männer 50 Prozent von dieser Fähigkeit hätten?« (N005_01, Z. 478–479), und ob für sie diese Fähigkeit zu ausgeprägt sei. Nachdem Frau Vogt beschrieben hat, dass diese Fähigkeit »völlig übertrieben« (N005_01, Z. 486) sei, fragt Frau Rosten Frau Vogt: »Was ist denn Ihre [Fähigkeit], die zur explosiven Stimmung beiträgt?« (N005_01_493–494). Frau Vogt nennt, wenn sie unordentlich sei, auch wenn sie sich selbst nicht als unordentlich sehe. Sie bekomme von Herrn Voigt »dann ewig ewige E-Mail wie schlampig und wie dreckig und so weiter« (N005_01, Z. 525–526). Frau Rosten fragt daraufhin: »Was noch aus Ihrer Sicht? Von Ihrer Seite? (1) Was könnte Ihren Mann (--) in so ʼne explosive Stimmung versetzen?« (N005_01_528– 530). Frau Vogt berichtet dann, dass ein Parkzettel oder ihre Handyrechnung »Grund genug [sei], drei Tage lang nicht mit mir zu reden« (N005_01, Z. 534). Im weiteren Verlauf wird Herr Vogt von Frau Rosten aufgefordert, die Fragen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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zu beantworten. Zuerst beschreibt er: »Ich unterschreibe vieles und habe vieles (--), arbeite auch an vielem« (N005_01_589). Er geht kurz auf sein wohlbehütetes Elternhaus im Gegensatz zu ihrem problematischen ein und nimmt dann Stellung, »was diese Spannung ähm (---) in mir ausgelöst haben könnte« (N005_01, Z. 614–615). Rückwirkend betrachtet sei vieles von seinem Verhalten für ihn »auch unerträglich« (N005_01, Z. 616). Herr Vogt beschreibt, dass Frau Vogt ihm am Ende der Beziehung »alles Mögliche vorgeworfen« (N005_01, Z. 625) habe, aber seiner Ansicht nach »diese großen Vorwürfe (.) absolut entkräftet wurden« (N005_01, Z. 638). Daraufhin schildert Herr Vogt ein Ereignis, in dessen Verlauf Frau Vogt ihn angegriffen habe, und berichtet, dass er in dem einen Jahr der Trennung, sich »neu erfunden« (N005_01, Z. 677) habe. Er wünsche sich, dass Frau Vogt seine Veränderung als ein »positive[s] Signal« (N005_01, Z. 689) deute, um in der Zukunft »zumindest zivilisiert […] kommunizieren [zu] können« (N005_01, Z. 693–694). Herr Klingebiel fragt daraufhin, ob seine »Fähigkeit, zur explosiven Stimmung beizutragen, bisschen abgenommen« (N005_01, Z. 702) habe, woraufhin Herr Vogt zusammenfasst: »[…] ich sag’ auch, dass ich Fehler gemacht habe und dass ich vieles nicht gut finde aus heutiger Sicht. Aber ich möchte, glaub’ ich, auch fast behaupten, dass (-) da auch immer zwei dazugehören, und ich bin irgendwie der alleinige Täter, das glaub’ ich einfach nicht« (N005_01, Z. 714). Auf Frau Rostens Fragen, wie gemeinsame Freunde sie erleben, geht Frau Vogt noch einmal darauf ein, dass der Vater von Herrn Vogt in »der Psychiatrie gelandet« (N005_01, Z. 737) sei. Sie beschreibt, dass er Sachen gesagt habe, wie: »Du bist kein Promi. Du hast auch gesagt, du bist keine Frau, was kannst du überhaupt« (N005_01, Z. 766). Frau Rosten fasst zusammen, dass Frau Vogt sehr verletzt sei, und fragt Herrn Vogt: »Wie erklären Sie sich wiederum, dass Ihre Frau sich so verletzt fühlt?« (N005_01, Z. 784). Herr Vogt beschreibt, wie er sich bei Frau Vogt diese »extreme Explosion, die sich jetzt letztes Jahr er-ereignet hat« (N005_01, Z. 818), erkläre. Als Begründung dafür führt er das »massiv gestörte Verhältnis (wie) bis zum heutigen Tag noch zu deiner Mutter« (N005_01, Z. 823–824), den »ziemlich gestörten Ho-Hormonhaushalt aufgrund der Wechseljahre« (N005_01, Z. 826–827) und »eine (-) panische Angst, woher die auch kommt, vor mir als Täter« (N005_01, Z. 830) an. Frau Rosten kehrt daraufhin zu ihrer »Ausgangsfrage, was die Freunde anbelangt« (N005_01, Z. 840–841), zurück. Zuerst berichtet Frau Vogt, von einer Freundschaft mit einem Kollegen und seiner Familie, die jedoch für sie passé war, als er meinte: »Es gibt doch keine Beweise dafür, dass du geschlagen worden bist« (N005_01, Z. 854). Darüber hinaus führt sie an, dass sie in der Partnerschaft in einer »derma­ ßenen Isolation« (N005_01, Z. 860) lebten. Es wird im weiteren Verlauf eine © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Situation in Gegenwart von Freund*innen von Frau Vogt beschrieben, als ein Freund ihr gegenüber äußerte: »Du ich hab’ einmal jetzt geseh’n, wie Helmut sein kann. Ich kann dir wirklich glauben jetzt« (N005_01, Z. 918–919). Herr Vogt legt nach Aufforderung von Frau Rosten, welche Freunde er sehe, dar: »will ich jetzt nicht komplett widersprechen, aber in dieser äh Ausschließlichkeit stimmt das nicht, wie du es beschreibst« (N005_01, Z. 943–944), und nennt seine Sicht, weshalb die Freundschaft mit dem Kollegen und weitere beendet wurden. Herr Klingebiel fragt daraufhin: »Und diese Freunde, was würden die sagen über Sie als Paar?« (N005_01, Z. 981). Frau Vogt verdeutlicht daraufhin, dass sie »hervorragend s-geschauspielt« (N005_01, Z. 992) habe und: »Ich hab’ mich erniedrigt gefühlt und immer drum gebettelt, dass alles wieder gut ist« (N005_01, Z. 1002–1003). Herr Vogt unterbricht Frau Vogt und fügt an, dass sie ihm keine Freiräume gelassen habe: »Ich konnte nicht mich zurückziehen, du hast es nicht zugelassen« (N005_01, Z. 1035– 1036). Im weiteren Verlauf beschreibt Frau Vogt mehrere Situationen, in denen sie sich »zutiefst verletzt« (N005_01, Z. 1081) von Herrn Vogt gefühlt habe. Herr Vogt beschreibt, wie er die Situationen wahrgenommen habe bzw. seine Erklärungen dazu. Frau Rosten stellt mit ihrer nächsten Frage die Zeit, die sie getrennt leben, in den Fokus und fragt: »Wie oft sehen Sie sich und wie gestalten Sie Ihre Treffen dann?« (N005_01, Z. 1127). Herr Vogt beschreibt, dass seine Frau »abgetaucht« (N005_01, Z. 1128) sei, und Frau Vogt erläutert, dass sie sich »bedroht gefühlt« (N005_01, Z. 1148) habe. Danach wird über die Ausnahmen gesprochen, wobei Frau Vogt genügend Geld, Haus und die Töchter aufzählt. Herr Vogt nennt die gemeinsamen Reisen. Daraufhin verdeutlicht Herr Vogt, dass er die Darstellungen von Frau Vogt in dieser Paarberatung »sehr extrem« (N005_01, Z. 1349) empfinde, woraufhin sich Frau Vogt rechtfertigt. 5.3.2.4 Fokussierung auf Veränderung und Gemeinsamkeit An der folgenden Sequenz wird die weitere Zielführung dieser Paarberatung verhandelt und die Rekonstruktion falsifiziert, inwieweit Herrn Vogts Vorstellung von Paarberatung an die seitens der Berater*innen offerierte Beratungsstruktur anschlussfähig ist. Dieser Sprechakt fand im letzten Drittel der Sitzung statt.

 rau Rosten: Sie-Sie sind ja gestartet in diese Sitzung äh ((deutet auf Herrn F Vogt)). Sie haben das ausgedrückt mit, ich möchte mehr Coolness und Erdung hier gewinnen. Ähm ((deutet auf Frau Vogt)), Sie haben dazu, glaube ich, auch ein ja gehabt, das wäre für Sie auch ein ganz gutes [Ergebnis. Frau Vogt: ((nickt)) Ja, ja, ja.] © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Frau Rosten beruft sich auf die genannten Wünsche/Ziele, die am Anfang der Sitzung von Herrn Vogt eingebracht wurden (siehe 5.3.2.2 im deskriptiven Part). Sie kommt auf etwas zurück, das vorab besprochen wurde. Dies als Bezugspunkt am Ende einer Sitzung zu nehmen, verdeutlicht, dass das, was vorab stattfand, aus der Perspektive der Beraterin als nicht passend zu diesem Setting gerahmt wird. Es ist eine Form der Rüge, wenn hier erneut daran erinnert wird, was als Ziel formuliert wurde, und konstatiert wird, dass sich eine Bereitschaft, daran zu arbeiten, bisher nicht gezeigt habe. Auf diesen vorstrukturieren Verlauf – Ziele festlegen und bearbeiten – beruft sich Frau Rosten und kehrt zu diesem Punkt zurück. Zuerst wird das Paar angesprochen (»Sie-Sie sind ja«), was dann in ein Ansprechen von Herrn Vogt als Einzelperson mündet (»deutet auf Herrn Vogt«). Die Fokussierung auf die Einzelpersonen bei der Erarbeitung des Ziels veranschaulicht, dass schon der Start vom Paar aus nicht auf eine Paarperspektive ausgerichtet war: Unterschiedliche Ziele wurden definiert und so konnte bis hierher kein gemeinsames Paarziel initiiert werden. Das Gewinnen von »Coolness« und »Erdung« wird den einzelnen Partner*innen als Ziel zugesprochen. Es handelt sich nicht um ein Ziel auf der Paarebene. Hier wird nicht die Paar-, sondern die individuelle Perspektive angesprochen und von der Beraterin aufgegriffen. Frau Rosten bezieht sich auf den von Herrn Vogt am Anfang der Sitzung geäußerten Wunsch: »Coolness« und »Erdung« sollen gewonnen werden. Coolness stellt eine Form der Normierung und Erdung eine Selbstoptimierung dar, beides auf ein Subjekt bezogen, das sich effizient optimieren möchte. »Gewinnen« kann als nicht lebensnotwendig gelesen werden, da es ein Zusatz zu etwas darstellt. Die geforderte Optimierung von Herrn Vogt wird nun für das Paar das gemeinsame Ziel. Herrn Vogts Ziele für diese Paarberatung zeigen sich anschlussfähiger an die von den Berater*innen offerierte Beratungsstruktur. Hier wird der Konsens über das Ziel der Paarberatung hergestellt. Dieser ist jedoch brüchig, da er mit einer Falsifizierung gegenüber Frau Vogt verbunden ist. Sie wird in Gewand einer Nachfrage mit in Haftung genommen. Frau Rosten holt sich dabei aber weniger eine Rückversicherung ein, sondern erinnert Frau Vogt daran, diesem Ziel ebenfalls zugestimmt zu haben. Hier steht das individuell formulierte Ziel von Herr Vogt im Fokus, das er sich eingangs selbst gestellt hat. Die Wünsche von Frau Vogt an sich selbst bzw. an Herrn Vogt werden hier außen vorgelassen. Über die Ansprache eines Ziels mit der Abfrage der Übereinkunft wird eine Gemeinsamkeit konstruiert. Beide werden als individuelle Personen dahingehend angesprochen, jeweils auf eine Selbstoptimierung abzuzielen. Das Ziel liegt nicht mehr auf der gemeinsamen Paar-, sondern auf © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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der individuellen Ebene. Die Ziele setzen weniger auf Aufarbeitung und Reflexion, sondern auf Perfektionierung, um mit zukünftigen Situationen besser umgehen zu können. Die Beratung setzt den Schwerpunkt auf die Erarbeitung neuer Routinen bzw. Umgänge im zukünftigen Miteinander. Es erfolgt eine Zustimmung von Frau Vogt, wem oder was sie zustimmt, wird aber nicht deutlich. Die Möglichkeit, die Ziele zu korrigieren, wird nicht in Anspruch genommen. Mit der Orientierung an den Zielen von Herrn Vogt wird wieder das Paar zum Hauptadressaten gemacht. Durch die Verwendung des Konditionalis bleibt das Erreichen der Ziele im Vagen. Frau Rosten: Wenn ich jetzt auf die Zeit gucke ähm und denk-wir haben jetzt einiges (---) hören dürfen, so nenn’ ich das mal ähmHerr Vogt: Sind Sie schockiert. Frau Rosten: Nö, das wollt’ ich gar nicht sagen, [aber ((lacht)) (das nicht) Frau Vogt: (Es gibt sicher Schlimmeres.)] ((lacht)) Der weitere Sprechakt von Frau Rosten stellt eine erneute Form der Rüge dar, dass noch einmal daran erinnert werden muss, was als Ziel formuliert wurde, und bisher weniger daran gearbeitet wurde. »Hören dürfen« verweist darauf, dass Informationen gesammelt wurden, aber noch keine Veränderungslogik und Lösungsentwicklung stattgefunden hat. Das »dürfen« verharmlost das vorher Gesagte und somit auch die besprochene häusliche Gewalt. Auf die Problematiken und gegenseitigen Beschuldigungen geht Frau Rosten nicht ein. Das, was bis dahin passierte, wird hier als nicht passend für das Setting Paarberatung gerahmt. Das von Frau Rosten als gemeinsam definierte Ziel scheint nun zu der Struktur dieser Paarberatung zu passen: Es wird nicht nach einer schuldigen Person gesucht, sondern über das zukünftige Miteinander gesprochen. Die angestrebten Veränderungen sollen sich auf zukünftige Lösungsentwicklungen beziehen. Gleichzeitig werden die Wünsche von Frau Vogt in den Hintergrund gerückt. Die Erinnerung an diese Ziele der Paarberatung wird pädagogisch gerahmt und infrage gestellt, dass diese immer noch passend seien. Die Ziele und Anliegen werden jedoch nicht neu verhandelt bzw. angepasst. Herr Vogt beendet den Satz von Frau Rosten mit dem Eingeständnis, dass man über das vorherige Gesagte schockiert sein könne. Gleichzeitig wird die Kompetenz von Frau Rosten degradiert, indem ihr ein Schock unterstellt wird. Herr Vogt zielt auf eine Bewertungsebene des Vorherigen und weniger auf eine sich daraus ergebende Perspektive für die Zukunft ab. Der Fokus der gemeinsamen Zielsetzung wird insofern durch die Kommentierung in den Hintergrund gerückt, als dies einen anderen thematischen Schwerpunkt initi© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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iert. Das Erreichen der vorab genannten Ziele wird damit als weniger bedeutend für diese Paarberatung gerahmt. Frau Rosten: Ähm (---) ich überlege (1). Wir müssen ja gleich mal über Termine reden, denk’ ich, und gucken, wann’s weitergehen kann. Wie wir das auch vor allem äh (-) koordinativ hinbekommen. Ähm (-) ich frage mich, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen, was wäre für Sie so ʼn erster kleiner Schritt und das fänd’ ich spannend, wenn das auch jeder beantworten würde, so ein erster kleiner Schritt, um zu dieser Coolness, zu dieser Erdung hinzukommen. (-) Der auch machbar ist. Der für Sie spürbar ist. Wo Sie sagen, Sie kommen das zweite Mal hierher und sagen, ja, was wir uns bei unserem ersten Treffen vorgenommen haben (--), ähm konnten wir gemeinsam (3) leben. Frau Vogt: Also ich-ich find’ das nicht so schlimm, das-die Sachen vielleicht, ich komm’ vielleicht aus ein anderer Kultur(-)kreis, wie-wo die alle oder so, die solche Sachen auf den Tisch knallt und ich find’ es gut, den Dreck rauszukehren und drüber und du find-findest es vielleicht unheimlich verletzend und das kann ich verstehen, aber es ist eine geschützte Raum hier und [dafür kommen wir, aberFrau Rosten geht nicht erneut auf den anvisierten Themenwechsel von Herrn Vogt ein, sondern hält an dem vorstrukturierten Ablauf fest. Dieser sieht vor, dass über das Erreichen der Ziele bis zur nächsten Sitzung gesprochen wird. Im Sprechakt von Frau Rosten wird das Paar als an den gemeinsam hergestellten Zielen arbeitende Dyade angesprochen. Weitere Termine werden als notwendig gerahmt und nicht zur Verhandlung ausgeschrieben. Die Paarberatung verfolgt an dieser Stelle keine Reflexion der Ziele und ihrer Angemessenheit bzw. Passung für beide bzw. für die Paarberatung. Frau Rosten zielt auf eine Veränderung ab, nämlich eine neue erarbeitete Routine im Umgang zwischen den Partner*innen. Für jede Begegnung in der Zukunft werden Coolness und Erdung als notwendig deklariert. Durch die Vagheit der Formulierungen und das Insistieren auf einer Mitwirkung wird das Paar hier auf niedrigschwellige Art als Adressat konstruiert. Die Erarbeitung einer Veränderung erfolgt nicht durch einen Expert*innenrat, sondern indem Reflexion angeregt wird, was sich dann durch verändertes Verhalten auf der Handlungsebene zeigt. Frau Vogt fokussiert in ihrem Sprechakt jedoch nicht, wie sie neue Routinen für die Zukunft entwickelt. Sie positioniert sich bezogen auf das zukunftsorientierte Ziel nicht als veränderungsbereit. Eine Vorstellung von Paarberatung wird deutlich, die zunächst weniger auf Veränderung aus ist, sondern eine Klärung der Vergangenheit bezweckt. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Struktur von Paarberatung kommen hier zutage. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das Paar durch die Herstellung eines gemeinsamen Ziels bzw. Anliegens für diese Paarberatung als deren Adressat fokussiert wird. Der Fokus dieser Ziele liegt in der Erarbeitung neuer Routinen bzw. Verhaltensweisen für zukünftige alltägliche Begegnungen. Eine Reflexion oder Besprechung der häuslichen Gewalt steht bei diesem Erstgespräch nicht im Zentrum. Bei der Erarbeitung dieser Ziele sind die individuellen Personen angesprochen, die an dem gemeinsamen Ziel arbeiten. Beide werden als veränderungswürdig konstruiert. Gleichzeitig wird sich an den Zielen des Manns orientiert und diese als gemeinsame Ziele hergestellt, d. h. als passend für das Setting gerahmt. Dabei werden die unterschiedlichen Vorstellungen von Paarberatung verhandelt. Während Frau Rosten auf der Handlungsebene Veränderungen für das zukünftige Miteinander fokussiert, die auch kompatibler mit den Vorstellungen bzw. Wünschen Herrn Vogts erscheinen, offenbart Frau Vogt eine abweichende Vorstellung von Paarberatung: Sie verfolgt eine Klärung vergangener Situationen. Damit widersetzt sie sich der Ziel- bzw. Lösungsfokussierung von Frau Rosten. Herr Vogt geht auf seine formulierten Wünsche nicht ein und adressiert damit Frau Vogt wieder als diejenige, die sich verändern soll – er macht sie zur Hauptadressatin. Frau Vogt adressiert jedoch weiterhin ihren Mann hinsichtlich anstehender Veränderungen. Bis hierher wurde offensichtlich keine gemeinsame Vorstellung von Paarberatung initiiert, bei der sich beide als veränderungswillig positionieren. Daran anschließend fragt Frau Rosten: »Was würden Sie in der Zwischenzeit ähm für einen ersten machbaren Schritt halten, um zu dieser Coolness, zu dieser Erdung zu [kommen]?« (N005_01, Z. 1426–1428). Frau Vogt möchte »nachdenken« (N005_01, Z. 1439) und schließt ein weiteres persönliches Treffen mit ihrem Mann aus, weil es für sie zu gefährlich sei. Herr Vogt könne sich vorstellen »mit dir ʼn kleinen Spaziergang zu machen, mich mit dir im Kaffeehaus zu treffen (---) äh einfach mal über Dinge zu reden, da wiederhole ich mich, die nichts mit diesen Paarthemen zu tun haben« (N005_01, Z. 1502–1504). Daraufhin wird besprochen, wann sich Frau Vogt gegenüber Herrn Vogt sicher fühlen würde. Frau Vogt benennt, dass er seine Probleme angehen solle, und sie sich mehr Romantik wünsche. Herr Vogt kommentiert dies zusammenfassend: »Als der Kontakt total gekappt wurde, kann man doch nicht erwarten, dass ich jetzt sag, ich verehre dich, ich liebe dich, ich liege dir zu Füßen« (N005_01, Z. 1564–1566).

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Daraufhin leitet Frau Rosten das Reflecting Team ein, dem folgende rekonstruierte Sequenz entspringt. Voraussetzungsvoll für das Ende dieser Paarberatung ist, wie mit den unterschiedlichen Vorstelllungen umgegangen wird. 5.3.2.5 Aushandlung der Vorstellung von Paarberatung

Für die Rekonstruktion der Schließungssequenz wird eine Gesprächsstelle herangezogen, die im Übergang vom Reflecting Team zur Beendigung des Paarberatungsgesprächs stattfand.  rau Rosten: Mhm. (1) Und was man sich natürlich immer fragt äh nach F Paarberatungen, ist, ob die Frau sich in ihrem weiblichen Part gesehen gefühlt hat und der Mann sich in seinem männlichen Part ähm (Herr Klingebiel: Mhm)) gesehen fühlt. ((Herr Klingebiel: Mhm)) Mhm. (2) Soweit? Herr Klingebiel: Ja. ((Herr Klingebiel und Frau Rosten drehen ihre Stühle wieder zu Herrn Vogt und Frau Vogt)) Frau Rosten verdeutlicht mit ihrer Frage, inwieweit in der Beratung genügend auf Geschlecht eingegangen wurde. Die Unsicherheit darüber kleidet sich hier in eine scheinbar routinierte Frage als Strukturelement. Sie vermeidet eine Selbstauskunft, indem sie es als allgemeines Strukturelement (Reflexion über etwas) betitelt. Es zeigt sich eine Unsicherheit über die Struktur der Beratung, bezogen auf die geschlechtliche Komponente. Frau Rosten offeriert eine heteronormative Paarvorstellung. Dabei werden zwei Einzelpersonen, Mann und Frau, mit unterschiedlichen Bedürfnissen konstruiert. Die Paarebene zwischen Frau und Herrn Vogt steht hier nicht zur Debatte, da die Unterschiedlichkeit qua Geschlecht hervorgehoben wird. Es geht hier um eine Beziehung zu den Partner*innen und die Unsicherheit dahingehend, ob diese immer gut bedient wurde. Die nicht gemeinsam gefundene Struktur der Paarberatung wird damit thematisiert. Durch Bezugnahme auf die eigene Person vermeidet Frau Rosten eine direkte Konfrontation mit dem Paar. Eine Antwort auf die Frage des Sehens der femininen und maskulinen Parts bleibt offen und wird von der Beraterin nicht als Gesprächsfaden aufgegriffen. Frau Rosten: (3) Jeder einen Satz, wer möchte anfangen? Herr Vogt: ((lacht laut)) Frau Vogt: ((lächelt, deutet auf Herrn Vogt)) Du (bist.) Frau Rosten: Also wirklich unter dem Motto, was für Sie interessant ist. (1) Herr Vogt: Interessant ist? [War heute? Frau Rosten: Mhm, zum Weiterarbeiten.] © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vogt: Ach zum WeiterFrau Rosten: -aus diesem Gespräch jetzt [eben. Herr Vogt: Ja.] (3) Hoffnung (1) Hoffnung, dass äh sich irgend ʼne Klärung ergibt. ((Frau Rosten: Mhm)) Ja, damit die Zukunft (1) ähm möglich ist. Die Beraterin Frau Rosten eröffnet, dass innerhalb der Sitzung etwas Interessantes angesprochen worden sei, worauf das Paar nun zurückgreifen könne. Die Vagheit der Formulierung deutet auf eine Unsicherheit dahingehend hin, inwieweit die Frage anschlussfähig ist und ob überhaupt in dieser Sitzung etwas als »interessant« deklariert werden könne. Hiermit wird auch eine Evaluation eingefordert, inwieweit die Paarberatung inhaltlich Veränderungen auf der Reflexionsebene ausgelöst hat, die für eine weitere Arbeit aufgegriffen werden könnten (»zum Weiterarbeiten«). Frau Rosten stellt nur die Reihenfolge der Antworten zur Diskussion. Eine Aushandlung des Paars steht an, begleitet durch ein Lachen Herrn Vogts. Frau Vogt entscheidet direktiv, dass Herr Vogt zunächst antworten solle. Hier strukturiert Frau Vogt, dass er als derjenige, der sich auch verändern soll, zunächst antwortet. Er wird von ihr weiterhin als derjenige positioniert, der sich verändern soll und damit Hauptadressat dieser Paarberatung ist. Eine Irritation seitens Herrn Vogts über den Arbeitsauftrag wird auf der Sprechaktebene verhandelt. Bei Herrn Vogt zeigt sich eine Schwierigkeit, an die Frage anzuknüpfen: Er sucht nach etwas, das dazu berechtigt, die Paarberatung weiterzuführen. Herr Vogt wirft einen generellen Blick in die Zukunft. Es ist eine Phrase, die positiv formuliert ist und ein weiteres Treffen nicht ausschließt. Es wird als Wunsch eine »Klärung« formuliert, die den Fokus auf die Gegenwart bzw. Zukunft legt. Eine reflexive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird hier nicht vollzogen. Es konnte keine konkrete Veränderungsperspektive, sei es nun auf der Reflexions- oder Handlungsebene, erarbeitet, Struktur und auch Ziel dieser Paarberatung nicht ausgehandelt werden. Überdies wird daran deutlich, dass diese Beratung noch nicht den Weg der Klärung eingeschlagen hat. Gleichzeitig wird die Perspektive des Paars aufgemacht: Es zeigt sich, dass keine gemeinsame Vorstellung von Paarberatung initiiert wurde. Keine*r der Partner*innen positioniert sich von sich aus als veränderungsbereit. Hier zeigt sich bei beiden erneut der Dienstleistungsgedanke, wonach eine Veränderung der Situation (»Klärung«) stattfinden könne, ohne sich selbst zu verändern. Nach der Antwort von Frau Vogt auf die Frage werden die nächsten Termine vereinbart. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Damit endet die erste Sitzung der Paarberatung von Frau Vogt und Herrn Vogt mit den Berater*innen Frau Rosten und Herrn Klingebiel. 5.3.2.6 Vorläufige Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs

Das Erstgespräch ist von der Forderung einer aktiven Teilnahme des Paars geprägt. Das ergibt insofern eine Ambivalenz, als das Paar in der Beratung eine Dienstleistung erwartet. Das Paar wird zunächst dahingehend angesprochen, etwas erwarten zu dürfen und etwas zurückzugeben. Damit verknüpft ist eine Erwartungshaltung, die der erwarteten Mitarbeit und -wirkung entgegensteht, denn gleichzeitig wird das Paar aufgefordert, aktiv zu dieser Paarberatung etwas beizutragen. Es kann nicht nur »konsumiert« oder ein fertiges Produkt erwartet werden. Eingangs wird eine offizielle Situation gerahmt, in der die Beraterin ihre Strukturverantwortlichkeit und ihre Vorstrukturierung deutlich macht. Das Paar wird zu Beginn als Einzelpersonen und nicht als Paar angesprochen. Das Individuelle wird jedoch als Ausnahme am Anfang durch die Berater*innen hervorgehoben. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass eine Paarebene durch die Beraterin zwar anvisiert, jedoch zurückgewiesen wird. Die Problemexplikation erfolgt subjektorientiert. Ambivalent ist neben der Paaradressierung die Form der Paarberatung, die immer wieder ausgehandelt wird: einerseits eine Leistung, die zu einer Selbsterkenntnis führen soll, andererseits die Bedingung, dass das Paar im Fokus der Einsicht und Veränderung steht. Ausgehend von dem Paar soll die Veränderung der Subjektebene (beim jeweils anderen Paarteil) erfolgen und nicht auf der gemeinsamen Paarebene. Dies läuft der Herstellung der Paardyade in der Problemexplikation, die von der Beraterin ausgeht, zuwider. Sowohl Frau als auch Herr Vogt ringen damit, wer Hauptadressat*in dieser Paarberatung ist und sich verändern muss. Dies realisiert sich in der Aushandlung darüber, welche Themen in dieser Paarberatung besprochen werden und als Anliegen verhandelt werden können. Gleichzeitig offenbaren sich differente Anliegen und Vorstellungen sich daraus entwickelnder Krisenbewältigung. Der Mann offenbart hier kein Verständnis einer Aufarbeitung und reflexiven Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Vergangenheit. Er versteht Paarberatung als auf die Zukunft gerichtet, was Frau Vogts Ansatz und Anspruch klar widerspricht. Ihr Verständnis von Paarberatung zeigt sich in der Thematisierung und Verarbeitung der Vergangenheit und bezweckt damit auch ein Schuldeingeständnis seitens Herrn Vogts. Herr Vogts offeriertes Verständnis von Paarberatung scheint anschlussfähiger an die seitens der Berater*innen offerierte Beratungsstruktur. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Sowohl der Berater als auch Frau Vogt arbeiten in jeweils unterschiedlichem Tempo daran, Herrn Vogt zum Adressaten dieser Beratung zu machen bzw. ihn für diese Beratung zu gewinnen. Der Berater orientiert sich zur weiteren Problemexplikation und Lösungsfindung an der Dyade Paar. Damit geht einher, dass beide Paarteile sich als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Bei Frau Vogt wird dies als gegeben vorausgesetzt, bei Herrn Vogt wird daran gearbeitet. Das behutsame Gewinnen für die Paarberatung erfolgt hier nicht gegenüber Frau Vogt. Eine Unterstellung, dass sie sich als Adressatin dieser Paarberatung versteht, geht damit einher. Die Berater*innen halten an der gemeinsamen Herstellung des Paars als Adressat dieser Paarberatung fest. Dies erfolgt im weiteren Verlauf durch die Herstellung eines gemeinsamen Ziels bzw. Anliegens für diese Paarberatung: Neue Routinen bzw. Verhaltensweisen für zukünftige alltägliche Begegnungen sollen erarbeitet werden. Eine Reflexion oder Besprechung der häuslichen Gewalt steht bei diesem Erstgespräch nicht im Zentrum. Bei der Erarbeitung dieser Ziele sind die individuellen Personen angesprochen, die an dem gemeinsamen Ziel arbeiten. Beide werden als veränderungswürdig angesehen. Gleichzeitig wird sich an den Zielen des Manns orientiert, diese als gemeinsame Zwecke hergestellt und als passend für das Setting gerahmt. Frau Rosten umreißt auf der Handlungsebene Veränderungen für das zukünftige Miteinander, die mit den Vorstellungen bzw. Wünschen von Herrn Vogt kompatibler erscheinen. Währenddessen bleibt Frau Vogt bei ihrer Vorstellung von Paarberatung und widersetzt sich erneut dieser Ziel- bzw. Lösungsfokussierung. Auch Herr Vogt zeigt sich hinsichtlich seiner eigenen Ziele nicht veränderungswillig. Hauptadressatin bleibt für ihn Frau Vogt. Es konnte keine gemeinsame Vorstellung von Paarberatung hergestellt sowie keine konkrete Veränderung, sei es auf der Reflexions- oder der Handlungsebene, initiiert werden. Im Erstgespräch geht es weniger um die Situierung eines Paarberatungsgesprächs aus der Sicht des Paars. Die Berater*innen versuchen, mit bestimmten Fragen ein Setting zu situieren, das sich darin auszeichnet, Wünsche, Veränderungsmöglichkeiten, Ziele, neue Lösungsmöglichkeiten zu erfragen und zu erarbeiten. Das Paar geht aber weniger darauf ein, als vielmehr den Raum dafür zu nutzen, um sich gegenseitig anhand der Vergangenheit die Unterschiedlichkeit ihrer individuellen Wahrnehmungen zu präsentieren. Die Berater*innen müssen sich zu den Gewaltschilderungen verhalten. Sie tun dies hier, indem sie sie ein Stück weit verharmlosen/ befrieden und die relationale Bedingtheit hervorheben. Die Gewalt wird nicht direktiv thematisiert.

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5.3.3 Das letzte Gespräch der Paarberatung Insgesamt fanden sieben Beratungssitzungen statt. Den vorab festgelegten ursprünglichen Termin für die siebte Sitzung hat Frau Vogt abgesagt, da sie herausgefunden hatte, dass Herr Vogt eine neue Partnerin hat. Nach mehreren Kontakten mit Frau Rosten wurde ein siebter Termin vereinbart, an dem beide teilnahmen. Zwischen der sechsten und der siebten Sitzung lag eine dreimonatige Pause. 5.3.3.1 Veränderung des Anliegens und Anliegenklärung

Es handelt sich im Folgenden um den Beginn der Beratungssitzung. An dem Sprechakt wird deutlich, dass die Aufnahme nicht bereits mit der Eröffnung der Beratung einsetzte. Es ist die erste aufgenommene Frage der Beraterin an Herrn Vogt. Zuvor teilte Herr Vogt mit, dass er »keine andere Möglichkeit als die Scheidung mehr sehe« (N005_07, Z. 1) und sich wünsche, dass sie »respektvoll miteinander umgehen« (N005_07, Z. 7–8).  rau Rosten: Woran würden Sie denn einen respektvollen Umgang erkennen? F Was schwingt da für Sie mit? Frau Rosten greift die Formulierung von Herrn Vogt auf. Durch »erkennen« folgt sie einer Abfragelogik, nach der ein vordefiniertes Wissen zu einem respektvollen Umgang er- und abgefragt wird. Es wird nach der eigenen Perspektive (»für Sie«) gefragt und damit die individuellen Strategien hinterfragt. Es geht um seine Art und Weise respektvollen Umgangs. Verbunden mit der direkten Ansprache scheint allerdings infrage gestellt zu werden, inwieweit Herr Vogt subjektiv einen respektvollen Umgang bisher erkennen würde. An »mitschwingen« wird ein weiteres Thema, das dem respektvollen Umgang innewohnt, erkennbar. Es wird von der Beraterin gesetzt, dass Herr Vogt ein weiteres Thema/Problem, verbunden mit dem respektvollen Umgang, habe (im Sinn einer thematischen Vorder- und Hinterbühne, d. h. ein Thema, weshalb ein gepflegter Umgang bisher nicht möglich gewesen sei). Hier liegt eine beraterische Situation vor, in der ein reflexiver Moment für Herrn Vogt (wieder) geschaffen werden soll. Der beraterische Moment zeigt sich hier, indem das Wahrnehmungsdefizit, das Frau Rosten bei Herrn Vogt unterstellt, in den Fokus rückt und eine Reflexion darüber daran anschließt. Frau Rosten eröffnet mit ihrer Frage eher die Problemexplikation wieder als sie zu schließen. Sie ist an dieser Stelle noch nicht mit der Abwicklung und Schließung der Paarberatung beschäftigt, sondern noch mitten in der Problembearbeitung. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Es wird damit ein neues Anliegen für dieses Letztgespräch eröffnet, indem Reflexion angeregt wird. Herr Vogt wird weiterhin als beratungswürdig konstruiert.  err Vogt: Na immer die Schuldfrage. ((Frau Rosten: Mhm)) Also wenn’s H immer wieder um die Schuldfrage geht. Du bist ja schuld, dass es so weit gekommen ist, wegen dir musste ich ausziehen, wegen dir ist es jetzt, bin ich jetzt hier und äh das ((deutet in Richtung Frau Vogt)) kam ja oder kommt ja immer wieder äh-dieses ähm-. Herr Vogt geht auf die von Frau Rosten angebotene thematische Hinterbühne ein. Er nennt die Problemdimension eines respektvollen Umgangs, nämlich die Schuldfrage. Das Erkennen eines respektvollen Umgangs, beispielsweise auf der Handlungsebene, wird nicht expliziert. Vielmehr wird eine Verbindung zwischen der Schuldfrage und dem respektvollen Umgang hergestellt. Es wird nicht deutlich, um welches konkrete Paarproblem es sich bei der Schuldfrage handelt und welche konkreten Gründe die benannten Schritte (»so weit gekommen«; »ausziehen«) nach sich gezogen haben. Eine reflexive Änderung im Umgang innerhalb der Beziehung von Herrn und Frau Vogt zeigt sich hier nicht. Die äußeren Umstände (neue Partnerin von Herrn Vogt) haben zu einer Transformation innerhalb der Beziehung – die Scheidung – geführt. Hier findet keine individuelle reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst statt. Die Schuldfrage und damit die Aufarbeitung der Vergangenheit sollen nicht thematisiert werden. Das Klären der Schuldfrage wird von Herrn Vogt weiterhin nicht als Thema für diese Paarberatung gesetzt und darüber hinaus nicht mit einem respektvollen Umgang in Zusammenhang gebracht. Der respektvolle Umgang wird als Zukunftsaspekt deklariert, der ohne Schuldvorwürfe von Frau Vogt realisiert werden soll.  rau Rosten: Das wär’ ja jetzt sozusagen ʼne Negativformulierung, wenn Sie F sich stattdessen etwas wünschen könnten, was wäre das? (1) Herr Vogt: Joa, wir haben beide, sind, wir haben uns beide so entwickelt, dass es einfach besser ist, sich zu trennen. Frau Rosten: Mhm. Herr Vogt: Aber verbunden zu bleiben, weil wir ((deutet auf Frau Vogt)) haben Gemeinsamkeiten, nicht nur die Kinder, und das meine ich, dass man das auch, also auch die guten, die positiven Seiten zumindest ähm sich irgendwie bewahrt. Frau Rosten detailliert die Problemexplikation, indem sie eine Anliegenklärung (Wünsche) erfragt. Auch hier zeigt sich eher ein weiteres Erarbeiten als eine © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Schließung der letzten Sitzung, da Reflexionsprozesse angeregt werden. Herr Vogt wird als redebedürftig und weiterhin beratungswürdig angesprochen. Herr Vogt wird als jemand konstruiert, der eine Kommunikation mit seiner Frau in einem geschützten Rahmen (Beratung) benötigt. Frau Rosten zielt ebenfalls nicht auf eine Klärung der Schuldfrage ab, sondern bleibt beim Erkennen des respektvollen Umgangs. Ihr Anliegen ist nicht die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern der Umgang in der Zukunft. Diese Art des Beratungsfokus ist kompatibel mit den von Herrn Vogt offerierten Vorstellungen. In dieser beraterischen Situation soll ein reflexiver Moment für Herrn Vogt (wieder) geschaffen werden. Es wird nach einem neuen Anliegen für diese Paarberatung gesucht, indem Reflexion angeregt wird. Auf der Reflexionsebene wird eine Veränderung von Herrn Vogt – eine veränderte Haltung – angesprochen. Dieses Letztgespräch ähnelt im Aufbau durch die Problemexplikation und eine Anliegenklärung einem Erstgespräch. Dabei liegt der Fokus auf einer positiven Wunschformulierung für die Zukunft. Eine Evaluation oder ein Berufen auf bisherige erarbeitete Lösungen erfolgen nicht. Für Herrn Vogt stehen eine Reflexion der Vergangenheit und eine Klärung der Schuldfrage nach wie vor nicht zur Debatte. Er fokussiert das positive Funktionieren der Beziehung in der Zukunft als Ziel. Diese Darstellung zeigte sich auch schon im Erstgespräch. Es kommt daher die Frage auf, inwieweit bei Herrn Vogt eine Veränderung von innen (durch Reflexion) stattgefunden hat. Die Transformation hat sich durch äußere Umstände (neue Partnerin) ergeben. Zusammengefasst wird das im Letztgespräch initiierte Setting eher als ein Erstgespräch gerahmt. Die Berater*innen fokussieren auf eine Problembearbeitung und versuchen, Reflexionsprozesse zu starten. Im Unterschied zu einem Erstgespräch werden Wünsche für die Zukunft nach der Paarberatung erfragt. Bei den Berater*innen zeigt sich das Dilemma, dass sie die Paarberatung beenden, auch wenn Frau Rosten noch Handlungsbedarf konstruiert – durch das Erfragen von Wünschen. Die Dienstleistungsperspektive von Herrn Vogt kommt hier insofern zum Vorschein, als er sich eine Veränderung der Situation wünscht, ohne selbst etwas dafür an seiner Person verändern zu wollen. Herr Vogt zeigt sich als freiwillig an diesem Setting teilnehmend, indem er einen Wunsch formuliert. Aber er positioniert sich nicht als veränderungswürdig. Herr Klingebiel fragt Frau Vogt nach ihren Wünschen. Sie beschreibt, dass »zum Beispiel Weihnachten ähm mit den Kindern zu verbringen« (N005_07, Z. 49–50) schön wäre. Daraufhin merkt sie an, dass »wenn wir irgendwie weg miteinander gehen, dann fängt das wieder mit einem Verhältnis an« (N005_07, Z. 62–63). Frau Vogt kontrastiert »ich finde es einfach schade, das © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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einfach hinzuschmeißen, aber wenn mein Mann das will, dann will ich ihn zu nichts zwingen« (N005_07, Z. 93–95). Frau Rosten fragt daraufhin: »Gutes und Gemeinsames bewahren zu können, (---) wie könnte das praktisch aussehen?« (N005_07, Z. 110). Herr Vogt erläutert auf die Frage, dass »man die Kinder nicht mehr oder überhaupt nicht mehr in diese in diesen Konflikt mit einbettet« (N005_07, Z. 113–114). Frau Vogt merkt zu einer Scheidung an: »Du wirst um deinen Teil kämpfen und ich werde um meinen Teil kämpfen, also da gibt’s einfach materiale Interessen« (N005_07, Z. 127–129). Es erfolgt ein Austausch zwischen Frau und Herrn Vogt über das Haus und dessen emotionale Bedeutsamkeit. Frau Rosten fragt daraufhin, »wie Sie diese Sitzung nutzen wollen« (N005_07, Z. 184–185). Es folgt ein Gespräch d ­ a­rüber, wie oft Frau Vogt nach der Trennung das gemeinsame Haus, in dem Herr Vogt nun wohnt, ohne Absprache betreten habe. Daraufhin fragt Frau Rosten: »Was können Sie selber dazu beitragen, damit die Sitzung so wird, wie Sie sie gerne hätten?« (N005_07, Z. 226–227). Herr Vogt merkt zu Frau Vogts Argumentationslinie an: »Ich bin nicht schuld dran, dass ich, dass die Situation jetzt so ist, wie sie ist. Ich würde gerne wieder mit dir zusammenleben, aber du hast jetzt eine Freundin. Also diese Argumentationslinie funktioniert nicht« (N005_07, Z. 244–247). Frau Vogt entschuldigt sich dafür und es erfolgt eine Auseinandersetzung, wer aus welchen Gründen die Scheidung eingereicht bzw. zurückgezogen habe. Weiterhin merkt Frau Vogt an: »Mein Mann bedeutet mir mir viel, wird er auch nach der Scheidung« (N005_07, Z. 313–314). Herr Vogt resümiert daraufhin, dass »unsere Beziehung äh schon lange nicht mehr intakt war und wir a-glaube ich auch nicht in der Lage sind, das zu reparieren« (N005_07, Z. 336–337). Es wird dann über die vorherige Sitzung diskutiert, in der Frau Rosten Herrn Vogt gefragt hat, ob »denn da jemand« (N005_07, Z. 355) wäre, woraufhin Herr Vogt reagiert, er habe »nicht geantwortet« (N005_07, Z. 357) und »meine Frau meinte sich erinnern zu können, ich hätte gesagt nein« (N005_07, Z. 359–360). Frau Rosten bestätigt ihm daraufhin: »Nee, Sie haben nicht geantwortet« (N005_07, Z. 361). Daraufhin erfolgt die nächste rekonstruierte Sequenz. Die neue Partnerin Herrn Vogts verändert die Situation, in der sich das Ehepaar befindet. Das bedingt eine Anpassung der Zielsetzung für die Paarberatung, die nun erfolgt. 5.3.3.2 Gemeinsame Lösungsfokussierung im letzten Gespräch

An dieser Sequenz wird fokussiert, was in der letzten Beratungssitzung noch bearbeitet bzw. besprochen werden kann. Dabei zeigt sich eine Ambivalenz in © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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der Konstruktion der Dyade einerseits als Paar und andererseits als Getrennte wie auch in den daraus entstehenden differenten Erwartungen an diese Sitzung.  rau Rosten: So. ((lacht kurz leise auf )) Genau. (1) Ja, also ich höre sehr deutF lich, Sie ((zu Herrn Vogt)) haben sich ja-, also es ist ʼne Entscheidung gefallen. Und die Frage ist jetzt äh, welche Leitlinie kann Ihnen helfen, um um ((Frau Vogt: Ja)) um Ihrem Wunsch nachzukommen, einen gepflegten Umgang miteinander zu planen, nenn ich’s mal so. Frau Rosten nimmt eine stellvertretende Deutung vor. Herrn Vogts Entscheidung wird als explizit und offensichtlich gerahmt. Für andere Anwesende scheint dies aus Perspektive von Frau Rosten noch nicht so verständlich zu sein. Für diese weitere Person, hier Frau Vogt, wird ein Übermittlungs- und Verständnisangebot offeriert. Die gefallene Entscheidung wird nicht mehr thematisiert. Die Konsequenzen der Entscheidung können im weiteren Verlauf dieser Sitzung als Thema noch verhandelt werden. Die Entscheidung zur Scheidung wird von Herrn Vogt entpersonalisiert (»es ist ʼne Entscheidung gefallen«) und das einseitige Faktum zu einem Faktum für alle gemacht. Die Entscheidung ist losgelöst von einer Person und nimmt damit auch Frau Vogt mit in Haftung. Es geht nicht mehr darum, wer welchen Part an dieser Entscheidung hat, sondern dieses Faktum ist nun für beide gültig. Mit den Konsequenzen der Scheidung soll nun gemeinsam umgegangen werden. Dies wird als Thema für den weiteren Verlauf der Sitzung von Frau Rosten festgesetzt. Eine »Leitlinie« dient zur Orientierung, indem sie Wissen vorgibt und Komplexität reduziert. Der Umgang miteinander kann nur stattfinden, wenn er vorab »geplant« wird. Ein »gepflegter Umgang« scheint zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Es bedarf daher eines Plans, um in die Richtung eines gepflegten Umgangs zu kommen. Der Sprechakt »gepflegter Umgang« verweist eher auf eine altmodische, pädagogische Sprache und unterstellt ein vorheriges Fehlen eines solchen gepflegten Umgangs. Es wird darauf hingewiesen, dass ein Umgang erst kultiviert werden müsse. Das vorsichtige Herantasten von Frau Rosten unterstreicht, wie prekär es scheint, einen Umgang gemeinsam zu planen. Die Möglichkeit der konstruktiven Handhabe des Beziehungsproblems wird als prekäres Ziel gerahmt. Damit wird deutlich, dass ein gepflegter Umgang mit Leitlinien ein Ziel ist, das derzeit nicht erfüllbar scheint. Dennoch hält Frau Rosten daran fest, für die Zukunft neue Routinen zu etablieren, indem sie Reflexionsfragen stellt. Beide werden dabei als freiwillig anwesend, veränderungswillig und interessiert an diesem Ziel adressiert. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die Wunschformulierung von Herrn Vogt zu Beginn der Sitzung wird hier wieder aufgegriffen. Einerseits zeigt sich die Kompatibilität des Anliegens mit der Struktur der Paarberatung, andererseits wird deutlich, dass diese Frage noch nicht geklärt werden konnte. Es bleibt im Vagen, inwieweit der zukunftsorientierte Blick und der gepflegte Umgang von beiden Partner*innen gleichermaßen verfolgt werden. Im Versuch, ein gemeinsames Anliegen für diese Beratung zu finden, wird Frau Vogt erneut an Herrn Vogts Wunsch angegliedert. Gleichzeitig wird die relationale Bedingtheit mit diesen Folgen der Scheidung als gemeinsame Paarangelegenheit gerahmt.  rau Vogt: Also ich denke, es wird jetzt einen einen Kampf irgendwann ausF brechen, wenn mein Mann die Scheidung einreicht, und ich denke, man muss das aber separat sehen von von das, was in der Familie pa-passiert, ne? Also man muss das irgendwie trennen können. Frau Rosten: Naja, ich sag mal so, es muss ja nicht jede Scheidung mit ʼnem Kampf äh einhergehen, es gibt ja durchaus auch Scheidungen, die positive Beispiele sein könnten. ((Frau Vogt: Mhm)) Und die Frage ist ja, was kann jeder Einzelne von Ihnen dazu beitragen? Frau Vogt: ((nickt)) Mhm. ((zuckt mit den Schultern)) Herr Vogt: Also [ich kennFrau Rosten: Was sind] Sie bereit beizutragen? Herr Vogt: Also ich hab’ ʼne sehr, sehr gute Bekannte, die ich schon lange kenne, die jetzt ähm verheiratet ist, zwei Kinder hat und die jetzt auch sich scheiden wird, ja, und äh da ist das so, die haben das den Kindern gemeinsam erzählt, die äh, es ist völlig, es läuft völlig friedlich ab. Anstatt auf eine Leitlinie einzugehen oder einen gepflegten Umgang miteinander zu spezifizieren, wird Vorheriges verunglimpft. Der von Frau Rosten offerierten Struktur, den gepflegten Umgang für die Zukunft zu besprechen, wird hier nicht entsprochen. Es wird sich auf eine Kausalität berufen: Wenn Herr Vogt die Scheidung einreiche, dann würde ein Kampf ausbrechen. Es ist eine Androhung, deren Ursächlichkeit auf Herrn Vogt zurückgeführt wird. Der eigene Anteil daran wird außen vorgelassen. Es erfolgt eine Trennung zwischen Elternebene (mit Kindern) und Paarebene. Die Familie als Ganzes solle unberührt weiter bestehen – unabhängig von der Trennung. Bezogen auf die Paarebene bleibt es ambivalent: Entweder es erfolgt keine Scheidung oder es bricht ein Krieg aus. Der gepflegte Umgang kann daher nur auf der Familienebene oder bei Nicht-Scheidung auch auf der Paarebene verhandelt werden. Einem gepflegten Umgang bei einer Scheidung wird von Frau Vogt © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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eine Absage erteilt – sie widersetzt sich dem von Frau Rosten als gemeinsam konstruierten Anliegen. Frau Rosten positioniert das Paar als einzelne Personen, die individuell etwas tun können, um an dem Ziel zu arbeiten. Die Wünsche von Herrn Vogt, die eher der hier offerierten Beratungsstruktur entsprechen, werden aufgegriffen und als gemeinsame Ziele verfolgt. Frau Rosten fokussiert als gemeinsames Anliegen einen gepflegten Umgang, der sich in einer friedlich vollzogenen Scheidung zeigen würde. Das normativ-orientierte Ziel bei Scheidungen ist hier vordergründig, im Guten auseinanderzugehen und keinen Rosenkrieg entstehen zu lassen (und damit eine Harmonielösung zu forcieren). An denen soll jede*r individuell arbeiten. Hier werden die Einzelpersonen (»jeder Einzelne«) angesprochen. Die Paarperspektive wird im Ziel festgeschrieben. Frau Rosten hält an der Etablierung neuer Routinen fest und setzt dies als Thema gegenüber Frau Vogt. Herr Vogt hält ebenfalls an dem Anliegen, das er eingebracht hat und das von Frau Rosten als gemeinsames Anliegen begründet wurde, fest. Der gepflegte Umgang zeigt sich hier in einer friedlichen Scheidung. Die Beziehungskrise und die Frage der Schuld thematisiert Herr Vogt nach wie vor nicht. Seine Dienstleistungsperspektive kommt auch hier zum Vorschein, wenn er sich Veränderung der Situation wünscht, ohne selbst etwas dafür an sich verändern zu wollen (keine Selbstbeteiligung). Frau Vogt bleibt für ihn diejenige, die sich verändern solle. Die Struktur der Paarberatung hat hier in dem Letztgespräch die Tendenz zur Befriedung und Deeskalation. Bei Konstellationen, in denen eine Person den Konflikt forciert, wird dies normativ bearbeitet und es erzeugt ein Problem der Neutralität gegenüber beiden Partner*innen. Dies führt hier dazu, dass Frau Vogts Sichtweise und Handlungsproblem eingeschränkt werden. Die Beratung fokussiert eine positive Veränderung/neue Routinen für die Zukunft und agiert damit auf der Seite des Streitverhinderns. Das letzte Gespräch forciert keine vertiefte Bearbeitung von Gefühlen und Emotionen, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Zurückliegende Geschehnisse und Schuldfrage werden hier nicht mehr zur Klärung ausgeschrieben. Als gemeinsames Anliegen wird das Anliegen von Herrn Vogt hergestellt. Frau Vogt erteilt dem eine Absage. Eine weitere Verhandlung findet nicht statt. Sowohl die Beraterin als auch Herr Vogt konstruieren seines weiterhin als das gemeinsame Anliegen für diese Paarberatung. Herr Vogt verbindet dies mit einer Verhaltensänderung von Frau Vogt und nicht mit einer eigenen. Sowohl Frau Rosten als auch Herr Vogt sprechen Frau Vogt als Adressatin dieser Paarberatung an. Sie wird als diejenige positioniert, die sich veränderungsbereit zeigen und am Ziel des gepflegten Umgangs arbeiten solle. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Wie sich das Anliegen und die damit verbundene Lösungsfokussierung im Sinne der Befriedung weiterentwickeln, zeigt sich in der nächsten rekonstruierten Sequenz. Bis dahin wird Folgendes besprochen: Herr Vogt merkt an: »ich würde also alles daransetzen, dieses Haus zu, für die Familie auch zu halten, auch für die Kinder als Erbschaft nachher« (N005_07, Z. 393–395). Daraufhin erfolgt ein Gespräch über die mögliche Finanzierung des Hauses und wer darin leben könne. Frau Rosten fasst zusammen, dass beide »für Ihre Kinder das Beste […] erreichen« (N005_07, Z. 527) wollen. Es folgt ein Gespräch, wer wen wie noch einmal verführt habe, nachdem die Scheidung von Frau Vogt eingereicht worden sei, während Herr Vogt sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewollte habe. Frau Rosten fragt: »Wie wollen wir die äh verbleibenden 45 Minuten gut miteinander gestalten?« (N005_07, Z. 792–793). Frau Vogt meint daraufhin, dass sie »gerne Weihnachten mit der Familie verbringen« (N005_07, Z. 802–803) würde. Frau Rosten schlägt vor: »Vielleicht ist es ja hilfreich, wenn Sie mit so einem ersten kleinen Schritt hier auch rausgehen und schon mal geklärt haben, wie Sie’s Weihnachten ungefähr machen wollen« (N005_07, Z. 829–830). Nachdem Frau Vogt ihre Ideen verbalisiert hat, sagt auch Herr Vogt zu Weihnachten: »Ich würd’ gern’ mit der Familie bleiben also mit auch mit den Kindern, klar« (N005_07, Z. 881–882), und »es muss für mich äh eben klar sein, dass meine Privatsphäre Privatsphäre bleibt« (N005_07, Z. 889–890). Herr Klingebiel fragt darauf aufbauend Herrn Vogt: »Was könnte Ihre Frau dazu beitragen, dass sozusagen Sie sich wieder in Ihrer Privatsphäre geschützt fühlen?« (N005_07, Z. 898–899). Herr Vogt meint: »Nach vorne äh konstruktiv kommunizieren« (N005_07, Z. 999) können. Es entspinnt sich noch einmal ein Gespräch darüber, ob und wie Weihnachten in Familie miteinander verbracht werden kann. Herr Vogt merkt an, dass es dafür »Spielregeln, damit das auch funktionieren kann« (N005_07, Z. 1093), benötige. Auf Nachfrage von Herrn Klingebiel, wie diese Spielregeln aussehen könnten, formuliert Frau Vogt: »Also ich hätte nicht weiter mit dem Mann, den ich verlassen hätte, und ich hätte aber sehr gern mit dem Mann, den ich jetzt vorfinde« (N005_07, Z. 1118–1119), gelebt. Frau Rosten resümiert: »Das braucht auch ʼne Zeit der Trauer« (N005_07, Z. 1174). Es entspinnt sich ein Dialog zwischen Frau und Herrn Vogt über die anstehende Scheidung. Frau Rosten leitet folgende Frage ein: »Wenn wir uns jetzt ähm (gleich) trennen und Sie gehen dann jeder wieder Ihre eigenen Wege ähm, welche Arten der Kommunikation äh funktionieren gut bei Ihnen?« (N005_07, Z. 1235–1236). Daraufhin wird über die verschiedenen Kommunikationswege gesprochen, die derzeit zwischen ihnen möglich wären und welche © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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nicht. Es erfolgt ein Gespräch über das Haus und dessen Bedeutung für die gemeinsamen Kinder. Frau Rosten kommt auf den zuerst genannten Wunsch dieser Sitzung zurück und fragt: »Wie können wir weiterkommen (gezielt) als Eltern, was im Sinne Ihrer Kinder auch so ʼne möglichster, möglichst großer Kompromiss für Sie selbst wäre« (N005_07, Z. 1304–1305). Es entfaltet sich ein Gespräch über die Bedeutung des Hauses für die Kinder und für Herrn und Frau Vogt. Herr Vogt merkt dabei an, dass er sich vorstellen könne, auszuziehen und in einer Großstadt zu leben. Frau Vogt erwidert daraufhin, eine »Grund-Bereuung kommt auf mich zu, weil ich hab’ auch immer wieder vorgeschlagen, ich hab’ gesagt, wir bleiben doch nicht ein Leben lang in-, ziehen wir nach . Du hast gesagt, NEIN, Großstadt, nie« (N005_07, Z. 1465–1468). Frau Rosten rahmt dies als »Trauerarbeit« (N005_07, Z. 1470), Herr Vogt als »Schuldfrage« (N005_07, Z. 1484). Frau Rosten schlägt daraufhin »Trauerrituale« (N005_07, Z. 1492) vor, gibt einige Beispiele, wie diese aussehen könnten, und richtet sich zusammenfassend an Frau Vogt: »Hier werden Sie, hier werden Sie nichts mehr erreichen« (N005_07, Z. 1508). Herr Vogt äußert: »Ich fühl’ mich grade echt, entschuldigen Sie, dass ich das sage, ich fühl’ mich so ein bisschen wieder in, in die Ecke gestellt oder a-a-als der Täter« (N005_07, Z. 1526–1527). 5.3.3.3 Direkte Lösungsfokussierung gegenüber Einzelpersonen

An dieser Sequenz wird deutlich, was der Berater als Lösungsmöglichkeit in diesem Setting offeriert und inwieweit dabei eine Paarperspektive beibehalten wird. Frau Vogt: -vorschlage, Städtereise, wenn ich vorschlage, [irgendwas, es wird immer ab-, abgelehnt. Herr Vogt: Ja, aber das ist alles Schuld undHerr Klingebiel: Aber, aber] aber an dem Punkt müssen Sie sich vielleicht auch von was verabschieden, nämlich sozusagen von dem von dem Mechanismus, äh sich als äh Schuldiger äh darstellen oder sich selbst [SchuldgeFrau Rosten: (zu lassen/zulassen)] Herr Klingebiel: -Schuldgefühle zu machen aufgrund ihrer Äußerungen. Das Paar wird in seinem Streitdialog von Herrn Klingebiel direktiv (»Aber, aber, aber«) unterbrochen. Er spricht nur Herrn Vogt an. Hier wird eine außeralltägliche Deutung eingebracht, die sich gesprächsförmig eingliedert. Es stellt eine Kritik an der bisherigen Praxis von Herrn Vogt, sich Schuldgefühle zu gönnen, dar. Da Schuldgefühle üblicherweise als eine Last markiert werden, ist eine Verschiebung der Intention von Schuld erkennbar. Der gängigen Praxis Herrn Vogts © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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wird hier ein Automatismus unterstellt. Es würde von außen ein Mechanismus in Gang gesetzt, dem Herr Vogt ausgesetzt zu sein scheint. Diesem müsse er sich, so der Ratschlag, widersetzen. Es erfolgt eine Abschwächung der Kritik durch »vielleicht«. Dies rahmt den Ratschlag eher als eine Empfehlung, die die Entscheidung ihm überlässt. Dieser Ratschlag liegt auf der Reflexionsebene, die auf ein verändertes Handeln von Herrn Vogt abzielt. Zwei Lesarten lassen sich bilden: Der Mechanismus dient entweder dazu, sich als Schuldiger darzustellen, oder bewirkt, sich selbst Schuldgefühle zu machen – aufgrund von Frau Vogts Äußerungen.81 Beiden Lesarten gemein ist, dass Schuld als relationales Phänomen markiert wird. Herr Vogt entlastet sich von seinen eigenen Anteilen am Schuldigsein. Durch die Fokussierung auf Schuld als relationales Phänomen wird dennoch ein Anteil bei Herrn Vogt festgelegt. Herr Vogt wird als jemand positioniert, bei dem eine Verhaltensänderung notwendig wäre, um eine Lösung zu fokussieren. Hier wird somit Herr Vogt als Ratsuchender hergestellt, indem er ein Reflexionsangebot als Lösung erhält, um eine neue Handlungsroutine zu etablieren. Das Lösungsangebot wird nur ihm offeriert. Eine Lösung, die auf das Paar oder für beide Partner*innen Bestand hätte, wird hier nicht mehr fokussiert. Der relationalen Klärung der Schuldfrage als Thema für diese Paarberatung wird gleichzeitig eine Absage erteilt. Es geht hier nur um den individuellen Umgang von Herrn Vogt mit Schuld. Herr Vogt wird dahingehend aufgefordert, sein Verhalten zu ändern und bei sich neue Routinen im Umgang zu etablieren. Er wird gleichermaßen als freiwillig an dieser Paarberatung teilnehmend und veränderungswillig positioniert, auch wenn kein gemeinsames Ziel etabliert wurde und er sich nicht als Hauptadressat positioniert. Herr Vogt: Genau. Herr Klingebiel: Äh Frau Rosten hat gra-grade gesagt, Sie erreichen jetzt hier nichts mehr. Frau Vogt: Nee, nee. Herr Klingebiel: Ja? (mit   ). Was Sie schon noch erreichen ist, dass dass Sie sich in die Ecke gestellt fühlen und ähm das ist natürlich auch schwierig,

81 Die vorherigen Sprechakte von Herrn und Frau Vogt hinzuziehend ist davon auszugehen, dass die Äußerungen von Frau Vogt gemeint sind, da vorab ein Streitgespräch stattgefunden hat, in dem Herr Vogt aufgrund der Äußerungen von Frau Vogt sich als Schuldiger darstellen lässt. Die Lesart, dass er sich von Frau Vogt zum Schuldigen machen lässt, ist eine Kritik an Frau Vogt. Es geht nicht um Schuld, sondern um das Verabschieden des Mechanismus »Schuld«, der durch ein bestimmtes Verhalten von Frau Vogt in Gang gesetzt werden würde.

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dass das zu lernen nach äh nach 34 Jahren (einmal) zu sagen, naja, meine Frau, ähm die trauert jetzt und die regt sich jetzt vielleicht drüber auf ähm, dass ich jetzt vielleicht mit meiner neuer Partnerin Dinge mache ähm, die sie mit mir hätte machen wollen, ist ja nachvollziehbar, aber die Frage ist immer noch die, müssen Sie sich da sozusagen in die Ecke gestellt fühlen? Sondern äh Sie können ja damit auch anders umgehen und sagen, naja, das ist halt das Muster, aber das hat jetzt mit mir erst mal ( jetzt weniger) zu tun. Frau Rosten: Also die die Frage, ziehen Sie sich die Jacke Schuld an oder lassen Sie die Jacke Schuld liegen? Herrn Vogts »genau« lässt hier mehrere Lesarten zu. Eine Lesart wäre, dass Herr Vogt als Schuldiger dargestellt wird und dies bestätigt. Auf den relationalen Moment der Aussage der Berater*innen wird dabei nicht Bezug genommen. Er verkennt die eigene Involviertheit in den Mechanismus des »Schulddarstellers« und somit die Handlungsempfehlung. Nach einer anderen Lesart präsentiert er sich hier durch die Zustimmung veränderungswürdig. In dem Herausheben der nicht gemeinsamen Krisenbewältigung oder Lösungsentwicklung (»Sie erreichen jetzt hier nichts mehr«) wird dem Setting Paarberatung vom Berater eine Absage erteilt. Es wird als gescheitert beurteilt, auf der Paarebene ein gemeinsames Anliegen und eine Veränderungsperspektive zu initiieren. Es zeigt ebenfalls Kritik daran, dass die jeweilige Selbstpositionierung als Nicht-Adressat*in und die Positionierung des*der Partner*in als Hauptadressat*in die Initiierung einer Paarberatung verhindert hat. Ein gemeinsames Anliegen ist gescheitert. Die Möglichkeit, die hier erneut offeriert wird, ist das Verändern des eigenen – hier Herrn Vogts – Handelns, also eine Fokussierung auf eine individuelle Lösung. Herr Vogt wird an seinen eigenen Anteil erinnert und dahingehend als aktiver Veränderungspart für die Zukunft angesprochen. Die Wendung ist hier, dass Frau Vogt zugesprochen wird zu trauern. Ihr wird damit eine passive Rolle in der Krisenbewältigung zugeteilt. Die aktive Rolle in der Veränderung (des Problems von Herrn Vogt) wird Herrn Vogt selbst zugewiesen. Eine Veränderung kann Herr Vogt nur noch bei sich festmachen, gegebenenfalls würde das auch zu einem veränderten Begegnen auf Paarebene führen. Er wird damit vom Berater als noch veränderungsbereit angesprochen – im Gegensatz zu Frau Vogt, die Herr Klingebiel mit seiner Aussage als nicht mehr veränderungsbereit bezogen auf das gemeinsame, d. h. Herrn Vogts Ziel, adressiert. Herr Vogt: Ja [(      ) ich mein’Herr Klingebiel: Auch irgendwo (     )] © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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 err Vogt: Ich finde eben immer, dass es zwei äh Parteien und zwei Beteiligte H gibt, ((Herr Klingebiel: Mhm)) mal mehr, mal weniger [positioniert Frau Vogt: Ich bin immer allein in (der      )] Herr Vogt: Aber aber alles, was ich aus aus der Ecke hör’, ist eben solitäre Schuld und das ((stößt Luft aus))Die vorab gebildeten Lesarten von Herrn Vogts »genau« werden durch die jetzigen Sprechakte dahingehen verfeinert, dass sich ein Verkennen der eigenen Verwicklung in den Mechanismus des »Schulddarstellers« und somit eine Ablehnung der Handlungsempfehlung abzeichnen. In der Handlungslogik, die sich von den Berater*innen ausgehend zeigt, sieht die Paarberatung es nicht vor, Schuld oder Nicht-Schuld zuzuweisen, sondern die relationale Perspektive einzunehmen und Kommunikation zu verbessern. Dies rahmt Herr Vogt als Schuldbefreiung oder wenigstens relationale Bedingtheit der Schuld. Er verkennt bzw. minimiert damit seine eigene Involviertheit als »Schulddarsteller«. Auf den Ratschlag geht er nicht ein. Herr Vogt positioniert sich dahingehend nicht als Ratsuchender, indem er einen Teil durch Verhaltensänderung an der nun eigenen Problemlösung beiträgt. Es bleibt bei der relationalen Problemexplikation und der von Frau Vogt offerierten Beteiligung. Herr Vogt positioniert sich als Nicht-Veränderer, der den relationalen Aspekt des problematischen Miteinanders fokussiert, die Veränderungsnotwendigkeit bei seiner Frau festmacht und sie erneut als Hauptadressatin positioniert. Zusammengefasst scheitert auch die individuelle Problemlösung dieser Paarberatung. Dem Paar wird keine Möglichkeit einer gemeinsamen Lösungsentwicklung gegeben. In dieser letzten Sitzung kann keine gemeinsame Krisenbewältigung oder Lösungsentwicklung initiiert und auch kein Rahmen mehr dafür gefunden werden. Die Möglichkeit, die hier nun offeriert wird, ist das Entwickeln einer individuellen Lösung durch Handlungsanpassung – hier bei Herrn Vogt. Eine Veränderung kann Herr Vogt nur noch bei sich festmachen. Diese Lösungsfokussierung wird von Herrn Vogt nicht aufgegriffen. Auch eine Krisenbewältigung auf der individuellen Ebene, hier bei Herrn Vogt, konnte nicht initiiert werden. Er bleibt bei der relationalen Problemexplikation und die Anteile der Frau an dem Problem werden weiterhin von ihm herausgestellt. Eine individuelle Veränderungsbereitschaft stellt sich nicht ein. Frau Vogt wird erneut als Hauptadressatin von Herrn Vogt positioniert, der sich selbst damit als Nicht-Veränderer herausstellt. Frau Rosten merkt daraufhin noch einmal an, dass »die richtige Dosis rauszufinden […] Wie viel Ex-Mann, wie viel Ex-Frau äh können Sie dann zukünftig © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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und wollen Sie vor allem auch vertragen?« (N005_07, Z. 1584–1586). Danach findet zum letzten Mal das Reflecting Team statt. Herr Klingebiel (»aber im Vergleich zu anderen Sitzungen ähm fand’ ich heute ʼn absolut deutlichen Fortschritt schon sichtbar« [N005_07, Z. 1612–1613]) und Frau Rosten (»ich fand heute in dieser Sitzung auch ganz schön, dass ab und an ähm neben viel Betroffenheit auch schon mal ähm ʼn bisschen Humor drin war« [N005_07, Z. 1621–1623]) ziehen zunächst einen positiven Vergleich zu den bisherigen Sitzungen. Daraufhin wird aufgezählt, was dem Paar in dieser letzten Beratung gelungen sei, um einen Konsens zu finden. Daraufhin regt Herr Klingebiel fragend an: »[…] mach’ ich sozusagen mein eigenes Glück oder Unglück vom anderen Menschen abhängig« (N005_07, Z. 1644–1645), und Frau Rosten ergänzt: »Wie können sie das vielleicht auch äh in Zukunft ähm ja regeln oder was kann sie noch tun, damit bei ihm die Entschuldigung ankommt« (N005_07, Z. 1657–1658). Am Ende des Reflecting Teams schlägt Frau Rosten vor, dass sich Herr und Frau Vogt in einem Jahr wiedertreffen und dann »so ʼne Art Rückblick zu machen, was ist uns gut gelungen? Wie haben wir die Dosis bestimmt? War sie bekömmlich? War sie eher nicht bekömmlich an mancher Stelle? Wie können wir in das nächste Jahr wieder gemeinsam blicken? Und von dem mehr machen, was bekömmlich war« (N005_07, Z. 1681–1684). Frau Rosten resümiert: »Sie haben hart gearbeitet alle beide« (N005_07, Z. 1687– 1688), und Herr Klingebiel fügt hinzu, dass »einige Scheidungsprozesse dann tatsächlich, wie sie ablaufen, äh weniger emotional intensiv laufen ähm würden, wenn äh die beiden Parteien sich im Vorfeld äh so austauschen, wie sie beiden« (N005_07, Z. 1690–1692). Daran schließt sich die nächste rekonstruierte Sequenz an – der Abschluss dieses Letztgesprächs. 5.3.3.4 Funktionale Beendigung der Paarberatung Auch hier wird nun das Ende der Sitzung und damit die Schließungssequenz näher rekonstruiert.

Herr Klingebiel: Dann wünschen wir alles Gute für den weiteren Weg. Der Sprechakt ist unspezifisch und vage, da keine Person direkt angesprochen wird. Dadurch erhält er etwas Floskelhaftes mit unspezifischem Bezug zu Gegenüber oder Situation. Der »weitere Weg« verdeutlicht, dass etwas noch nicht abgeschlossen ist und die Gegenüber »weiteres« vor sich haben. Auch wird eine Distanz zum weiteren Weg aufgemacht und damit die Nicht-Involviertheit © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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hervorgehoben. Die bisherige Verantwortung wird abgegeben. Dadurch wird deutlich, dass etwas noch nicht zu Ende gebracht wurde. Das Problem besteht immer noch, aber die Unterstützungsleistung wird beendet. Das Gegenüber, hier das Paar, muss nun wieder ohne Unterstützung die Probleme bearbeiten bzw. die Krise bewerkstelligen. Zudem wird sich nicht auf das während der Beratung gemeinsam Erarbeitete berufen. Der positive Abschluss der Paarberatung steht hier im Fokus. Frau Vogt: [Danke. Frau Rosten: Ganz viel Kraft.] Die richtige Dosis. Frau Vogt: Ja. Danke. Frau Rosten: Und vielleicht eben die Idee, sich das Datum mal einzuschreiben. Frau Vogt: Genau, ja. Frau Rosten: Genau und wenn Sie irgendwie das Gefühl haben, Sie wollen doch nochmal irgendwie äh Unterstützung oder so, unsere Adressen hätten Sie. Frau Vogt: Jaja. Frau Rosten: – und ähm Frau Vogt: Ja. Gut. Auch Frau Rosten markiert die Zukunft als eine schwierige Zeit für das Paar, die »ganz viel Kraft« benötige. »Die richtige Dosis« knüpft nun etwas Vorheriges an, das innerhalb dieser Sitzung als Problemlösung ausgearbeitet wurde. »Die richtige Dosis« wird als Wunsch für die Zukunft mit auf den Weg gegeben. Das Paar muss jetzt selbst diese Dosis finden, nicht mehr mit den Berater*innen innerhalb des beraterischen Prozesses. Ergänzend wird eine Intervention auf der Paarebene aufgeführt (»Datum mal einzuschreiben« bezieht sich auf eine Problemlösung, die Frau Rosten im Reflecting Team entwickelt hat). Diese Problemlösung wurde somit mit dem Paar nicht zur Diskussion gestellt. Es ist ein Auslagern einer Intervention auf Paarebene in die Zukunft ohne Paarberatung. Während Herr Klingebiel am Ende dieser Sitzung eine Schließungsfigur entworfen hat, stehen Frau Rostens Interventionswiederholungen für ein Beibehalten der Beratungspraxis. Die Nicht-Abgeschlossenheit des Beratungsprozesses wird hier deutlich. Frau Rosten bringt erneut einen Ratschlag an, um neue Routinen für die Zukunft zu etablieren. Auch am Ende der Paarberatung werden sie als Veränderungsbereite angesprochen. Die Notwendigkeit, sie auf diese Weise anzusprechen, dringt bei Frau Rosten hervor. Frau Vogts kurze Sprechakte verfolgen – ähnlich wie Herrn Klingebiels Einlassungen – eine Schließung der Situation und Beendigung der Paarberatung. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Herr Vogt: ((kneift das Gesicht zusammen, steht auf, schüttelt den Kopf, dreht Frau Vogt, Frau Rosten und Herrn Klingebiel den Rücken zu, holt ein Taschentuch aus seiner Tasche und reibt sich die Augen ab)) Herr Klingebiel: (Ist das) auch Trauer? (2) Frau Rosten: Ja, das ist wichtig. Frau Vogt: Ja. Herr Vogt: ((setzt sich wieder hin)) Frau Rosten: ((leise)) (   ) Herr Vogt: ((drückt sich 12 Sekunden lang das Taschentuch an die Augen)) Okay. Frau Rosten: Ja, können wir auch stehen lassen. (6) Frau Vogt: Was soll ich jetzt sagen ((lacht kurz)), ich hab’ mich stark die ganze Sitzung da vorhin gebremst ( ), ne? Herr Vogt: Pff, wie geht’s weiter? Wir unterschreiben noch was, oder? Herr Vogt zeigt eine starke Gefühlsregung. Der Schließungsprozess von Herrn Klingebiel wird durch eine erneute Frage an Herrn Vogt unterbrochen. Die Paarberatungspraxis wird wieder geöffnet, indem auf den Moment fokussiert wird. Herrn Vogts Gefühlsregung bekommt damit eine Besonderung im Verabschiedungsprozess. Für das Weinen wird eine Interpretation angeboten – Trauer – und damit eine Wiedereröffnung des Beratungsprozesses eingegrenzt. Auch Frau Rostens »können wir auch stehen lassen« hegt diese Tendenz zur Wiederaufnahme ein und sorgt dafür, dass die Gefühlsregung nicht weiter thematisiert wird. Herr Vogt hat mit seinem Aufstehen, Wegdrehen, Hinsetzen zeitlich Raum und Aufmerksamkeit eingenommen. Er steht mit seinen Gefühlen in dem Moment im Mittelpunkt. Seine Gefühlsäußerungen werden durch das kurze Eingehen darauf gewürdigt. Frau Vogt hebt in ihrem Sprechakt hervor, dass sie sich emotional während der Sitzung gebremst habe, was eine eingeschränkte Problemexplikation bewirkt haben könnte. Dadurch wird auch von Frau Vogt die Schließung der Paarberatung unterbrochen und die Beratungssituation wieder aufgemacht. Von den Berater*innen wird auf ihre versprachlichte Gefühlslage nicht eingegangen. Ihre Gefühle werden nicht – für einen kurzen Moment – beachtet. Die Schließung wird durch Herrn Vogts abschließendes Verweisen auf das »Unterschreiben« weiter vorangetrieben. Durch das Insistieren auf den weiteren Fortgang und das Unterschreiben wird die Ebene der Paarberatung endgültig verlassen und der Wechsel auf die Forschungsebene vollzogen. Durch das erneute kurze, jeweils individuelle Aufmachen einer Paarberatungssituation in der Schließungssequenz wird erkennbar, dass ein erfolgreiches © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Beenden dieser Paarberatung jeweils nicht möglich ist. Die jeweiligen Anliegen von Frau und Herrn Vogt fanden keine Klärung aus individueller Perspektive. Darüber hinaus zeigt sich die unterschiedliche Wertigkeit von Gefühlsregungen bzw. das Aufmachen von Beratungsbedarf gegenüber Herrn Vogt und Frau Vogt. Während auf seine Gefühlsäußerung positiv eingegangen wird, werden ihre nicht kommentiert. In der Schließungssequenz zeigt sich das Dilemma dieser Paarberatung: Es muss nun eine Schließung aufgrund der Rahmenbedingungen dieses Beratungsprozesses mit dem Eingeständnis erfolgen, dass eine gemeinsame Vorstellung von Paarberatungspraxis nicht initiiert worden ist. Gleichzeitig zeigt sich noch Handlungsbedarf bei der Problemlösung dieses Paars, da weder eine gemeinsame noch eine individuelle Problemlösung entfaltet wurde. Daraufhin betritt die Forschungsmitarbeiterin den Raum und verteilt den Abschlussbogen. Damit endet die Aufnahme und die letzte Sitzung der Paarberatung von Frau und Herrn Vogt mit den Berater*innen Frau Rosten und Herrn Klingebiel. 5.3.3.5 Vorläufige Fallstrukturhypothese des letzten Gesprächs

Der Anfang des Letztgesprächs ist gekennzeichnet von einem erneuten Erarbeiten einer Problemexplikation mit einer Lösungsfokussierung auf den zukünftigen Umgang miteinander. Ein Aufarbeiten der Vergangenheit ist nicht Gegenstand der Paarberatung, sondern der Umgang in der Zukunft wird hier als Anliegen verhandelt. Es wird nach einem neuen Auftrag für diese Paarberatung gesucht, indem Reflexion angeregt wird. Herr Vogt wird weiterhin als beratungswürdig positioniert. Das Letztgespräch ähnelt angesichts der Problemexplikation und der Anliegenklärung einem Erstgespräch. Ziel ist eine positive Wunschformulierung für die Zukunft. Eine Evaluation oder ein Berufen auf bisher erarbeitete Lösungen erfolgt nicht. Herrn Vogt zeigt sich an einer Reflexion der Vergangenheit und einer Klärung der Schuldfrage nicht interessiert, im Vordergrund steht für ihn das positive Funktionieren der Beziehung als Getrennte, eine Verantwortungsübernahme bezogen auf die Schuldfrage hingegen nicht zur Debatte. Diese Darstellung zeigte sich auch schon im Erstgespräch. Die Wunschformulierung von Herrn Vogt zu Beginn des Letztgesprächs wird von den Berater*innen als gemeinsames Anliegen aufgegriffen. Einerseits ist dieses Anliegen mit der Struktur der Beratung kompatibel, andererseits wird offenbar, dass diese Frage noch nicht geklärt werden konnte, und Herrn Vogt/dem Paar nach wie vor unterstellt, noch keine Veränderung routinisiert zu haben. Es wird versucht, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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ein gemeinsames Anliegen für diese Beratung zu finden, wobei Frau Vogt dem Wunsch von Herrn Vogt untergeordnet wird. Gleichzeitig wird die relationale Bedingtheit mit diesen Folgen als gemeinsame Paarangelegenheit gerahmt. Die Wünsche von Herrn Vogt, die normativ eher der hier offerierten Beratungsstruktur entsprechen, werden aufgegriffen und als gemeinsame Ziele formuliert. Die Struktur der Paarberatung tendiert in dem Letztgespräch bezogen auf die Zukunft zur Befriedung und Deeskalation. Dies führt hier dazu, dass Frau Vogts Sichtweise und Handlungsproblem eingeschränkt werden. Die Beratung agiert im Sinn einer Streitverhinderung. Das letzte Gespräch forciert das noch mehr, da keine vertiefte Bearbeitung von Gefühlen und Emotionen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, Raum finden kann. Die Klärung der Vergangenheit und der Schuldfrage werden nicht mehr thematisiert. Als gemeinsames Anliegen wird das Anliegen von Herrn Vogt von der Beraterin hergestellt, das von Frau Vogt abschlägig beschieden wird. Eine weitere Verhandlung findet dennoch nicht statt, sondern sowohl die Beraterin als auch Herr Vogt konstruieren es fortwährend als gemeinsames Anliegen der Paarberatung. Sie arbeiten beide daran, Frau Vogt als in dieser Hinsicht veränderungswillig zu positionieren. Im weiteren Verlauf ändert sich die Ansprache mit Blick auf die Lösung weg vom Paar hin zu den Einzelpersonen. Dem Paar wird die Fähigkeit gemeinsamer Lösungsentwicklung abgesprochen. In dieser letzten Sitzung zeigt sich, dass keine gemeinsame Krisenbewältigung oder Lösungsentwicklung initiiert werden konnte. Die Möglichkeit, die nun offeriert wird, ist das Entwickeln einer individuellen Lösung durch eine Verhaltensänderung bei Herrn Vogt. Eine Veränderung kann Herr Vogt nur noch bei sich festmachen. Diese Lösungsfokussierung wird von Herrn Vogt nicht aufgegriffen. Es bleibt bei der relationalen Problemexplikation, wobei er die Anteile der Frau an dem Problem weiterhin herausstellt und keine Veränderungsbereitschaft erkennen lässt. Herr Vogt positioniert Frau Vogt wieder als Hauptadressatin und sich selbst damit als Nicht-Adressaten. Indem er sich eine Veränderung der Situation wünscht, ohne selbst etwas dafür an sich zu verändern, verdeutlicht er seine Dienstleistungsperspektive. Frau Vogt fokussiert weniger die Erarbeitung eines Umgangs mit der neuen Situation, sondern bleibt in Problemexplikationen und Trauer um Herrn Vogts Transformation durch die äußeren Umstände (neue Partnerin) verhaftet. Angesichts der Rahmenbedingungen dieses Beratungsprozesses muss mit dem Eingeständnis geschlossen werden, keine gemeinsame Vorstellung von Paarberatungspraxis initiiert zu haben. Gleichzeitig zeigt sich noch Handlungsbedarf bei der Problemlösung dieses Paars, da keine gemeinsame und auch individuelle Problemlösung entfaltet werden konnte. Die jeweiligen Anliegen von Frau und Herrn Vogt fanden keine Klärung aus je individueller Perspek© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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tive. Darüber hinaus zeigt sich die unterschiedliche Wertigkeit von Gefühlsregungen bzw. das Aufmachen von Beratungsbedarf gegenüber dem Mann und der Frau. Während auf seine Gefühlsäußerung positiv eingegangen wird, werden ihre nicht kommentiert. Das Letztgespräch wird als Erstgespräch gerahmt. Die Berater*innen fokussieren auf eine Problembearbeitung und versuchen, Reflexionsprozesse zu starten. Da eine andere Konstellation der Beziehung vorherrscht als bei den vorherigen Gesprächen, realisiert sich der Modus »Erstgespräch«. Im Unterschied zu einem Erstgespräch wird allerdings ein Zukunftswunsch für die Zeit nach der Paarberatung abgefragt. Bei allen Teilnehmenden ist das Dilemma erkennbar, die Paarberatung in Anbetracht noch vorhandenen Handlungsbedarfs zu beenden. 5.3.4 Fallstrukturhypothese bezogen auf das Erstgespräch Mittels Kontrastierung der vorläufigen Fallstrukturhypothesen des Erst- und Letztgesprächs der Paarberatung von Frau und Herrn Vogt lässt sich die Fallstrukturhypothese des Erstgesprächs detaillierter verdeutlichen. Im Erstgespräch zeigt sich eine Ambivalenz in der Herstellung der Situation dahingehend, dass die Darstellung der Leistung, hier Paarberatung, erfolgt und das Paar derart adressiert wird, etwas erwarten zu dürfen und zurückgeben zu können, indem sie sich in diese Forschungssituation begeben. Damit verknüpft ist eine Erwartungshaltung, die der zu erwartenden Mitarbeit ambivalent gegenübersteht. Das Erstgespräch, so zeigt die Hinzuziehung der Rekon­ struktion des Letztgesprächs, ist geprägt von der Formulierung einer aktiven Teilnahme des Paars, die mit den vom Paar ausgehenden Ansprüchen an eine Dienstleistung ambivalent gerahmt wird. Eine offizielle Situation wird hergestellt, indem die Beraterin ihre Strukturverantwortlichkeit und Vorstrukturierung verdeutlicht. Die individuelle Kompetenz der Berater*innen wird jeweils hervorgehoben, während die Kompetenz des Berater*innenteams eher eingeschränkt wird. Somit wird die Dyade durch die Hervorhebung des Individuellen eher als problembehaftet dargestellt. Es erfolgt eine Orientierung an der Paardyade. Dies geht damit einher, dass beide Paarteile sich als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Frau Vogt wird also nicht behutsam für die Paarberatung gewonnen, sondern ihre Bereitwilligkeit als gegeben vorausgesetzt, bei Herrn Vogt hingegen wird daran gearbeitet. Sie wird als sich bereits als Adressatin dieser Paarberatung Verstehende angesprochen. Sowohl der Berater als auch Frau Vogt arbeiten, in jeweils unterschiedlichem Tempo, daran, dass Herr Vogt ebenfalls Adres© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sat dieser Beratung wird. Die Ambivalenz darin zeigt sich im konträren Vorgehen: Während Frau Vogt direktiv die Handlungsbeschränkung Herrn Vogts hervorbringt, ist das Vorgehen Herrn Klingebiels behutsam und nicht direktiv. Die Berater*innen halten im Erstgespräch an der gemeinsamen Herstellung des Paars als Adressat dieser Paarberatung fest. Dies erfolgt im weiteren Verlauf durch die Herstellung eines gemeinsamen Ziels bzw. Anliegens für diese Paarberatung: die Erarbeitung neuer Routinen bzw. Verhaltensweisen für zukünftige alltägliche Begegnungen. Bei der Erarbeitung dieser Ziele sind die Individuen angesprochen, die an dem gemeinsamen Ziel arbeiten. Beide werden als veränderungswürdig konstruiert. Im Verlauf des Erstgesprächs wird die Fokussierung der Berater*innen auf die Paardyade vom Paar zurückgewiesen. Sowohl Frau als auch Herr Vogt ringen damit, wer Hauptadressat dieses Erstgesprächs ist und sich verändern muss, und zwar in der Aushandlung darüber, welche Themen innerhalb dieser Paarberatung besprochen werden und als Anliegen verhandelt werden können. Gleichzeitig zeigen sich differente Anliegen und Vorstellungen daraus zu entwickelnder Krisenbewältigung für diese Paarberatung. Herr Vogt intendiert keine Aufarbeitung und reflexive Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Vergangenheit. Damit geht ein auf die Zukunft gerichtetes Verständnis von Paarberatung einher, das Frau Vogts Auffassung entgegenläuft. Sie zielt vielmehr auf eine Thematisierung und Verarbeitung der Vergangenheit und bedingt damit auch ein Schuldeingeständnis Herrn Vogts ab. Ausgehend von dem Paar soll die Veränderung der Subjektebene (beim jeweils anderem Paarteil) erfolgen und nicht auf der gemeinsamen Paarebene. Das Paar positioniert sich als Dienstleistungsnehmende. Eine Dienstleistungsperspektive kommt sowohl im Erst- als auch im Letztgespräch zum Vorschein, wenn sich beide eine Veränderung der Situation wünschen, ohne selbst etwas verändern zu wollen. Beide positionieren sich als reflexiv und passend hinsichtlich der Problemexplikation für das Setting. Aber bezogen auf Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung wird ein Leistungserbringungsgedanke erkennbar, der die Veränderungspflicht ausschließlich bei dem*der jeweiligen Partner*in verortet: Er*sie soll sich mithilfe der Berater*innen verändern, aber im Sinn der jeweils eigenen Vorstellungen. Dies steht konträr zur Herstellung der Paardyade, die von den Berater*innen ausgeht. Die Berater*innen stellen Herrn Vogts Anliegen als gemeinsames her, das von Frau Vogt eine Absage erhält. Eine weitere Verhandlung findet nicht statt, sondern sowohl die Beraterin als auch Herr Vogt konstruieren es weiterhin als gemeinsames Anliegen für diese Paarberatung. Im weiteren Verlauf bieten die Ziele des Manns die entscheidende Orientierung, werden als gemeinsame Ziele hergestellt und als passend für das Setting gerahmt. Dabei werden die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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unterschiedlichen Vorstellungen von Paarberatung verhandelt, wobei die Berater*innen auf der Handlungsebene Veränderungen für das zukünftige Miteinander fokussieren, die mit Herrn Vogts Vorstellungen bzw. Wünschen kompatibler erscheinen. Herrn Vogts Anliegen zeigt sich anschlussfähiger an die offerierte Beratungsstruktur. Dies schält sich in der Heranziehung des Letztgesprächs besonders heraus. Ein Aufarbeiten der Vergangenheit steht dort ebenfalls nicht an. Auch im Letztgespräch ist Herr Vogt nicht an einer Klärung der Schuldfrage interessiert. Hier wird eher das positive Funktionieren der Beziehung als Getrennte als Ziel herauskristallisiert. Verantwortungsübernahme bezogen auf die Schuldfrage steht nicht zur Debatte. Währenddessen offenbart Frau Vogt eine andere Vorstellung von Paarberatung und widersetzt sich wieder dieser Ziel- bzw. Lösungsfokussierung. Die Verhaltensänderung ist in den Einzelpersonen konstruiert und wird dann für das gemeinsame Ziel als fruchtbar deklariert. Dies geht jedoch konträr zu Herrn und Frau Vogt, die jeweils den*die Partner*in als Hauptadressat*in dieser Paarberatung und sich selbst nicht als veränderungswürdig positionieren. Im Letztgespräch zeigt sich mit Blick auf die eine Änderung der Ansprache weg vom Paar hin zu den Einzelpersonen. Dem Paar wird die Fähigkeit einer gemeinsamen Lösungsentwicklung abgesprochen. Die angebotene Möglichkeit besteht in der Entwicklung einer individuellen Lösung durch Handlungsanpassung bei Herrn Vogt. Es bleibt bei der relationalen Problemexplikation und die Anteile der Frau an dem Problem werden weiterhin von ihm herausgestellt. Eigene Veränderungsbereitschaft ist nach wie vor nicht zu erkennen. Frau Vogt wird erneut als Hauptadressatin von Herrn Vogt positioniert und dieser stellt sich selbst damit als Nicht-Adressat dieser Paarberatung heraus. Am Ende des Erstgesprächs zeigt sich, dass auch die Berater*innen unsicher sind, inwieweit eine Veränderung auf Reflexions- und Handlungsebene angeregt worden ist. Eine gemeinsame Vorstellung von Paarberatung konnte nicht initiiert werden. Zudem konnte keine konkrete Veränderung, sei es auf Reflexionsoder Handlungsebene, in Gang gebracht werden. Die Berater*innen versuchen, mit bestimmten Fragen ein Paarberatungsgespräch zu situieren, das nach Wünschen, Veränderungsmöglichkeiten, Zielen sowie neuen Lösungsmöglichkeiten fragt und an diesen Aspekten arbeitet. Das Paar nutzt vielmehr den Raum, um sich anhand vergangener Geschehnisse die Unterschiedlichkeit ihrer individuellen Wahrnehmungen zu präsentieren. Dabei wird jeweils der*die Partner*in als Hauptadressat*in positioniert und sich selbst geringere Beratungs- und somit Veränderungsbedürftigkeit zugewiesen. In der Schließungssequenz des Letztgesprächs zeigt sich dieses Dilemma: Der Beratungsprozess muss mit dem Eingeständnis geschlossen werden, keine gemeinsame Vorstellung von Paar© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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beratungspraxis initiiert zu haben. Gleichzeitig zeigt sich noch Handlungsbedarf bei der Problemlösung dieses Paars, da weder eine gemeinsame noch eine individuelle Problemlösung entfaltet werden konnte. Die jeweiligen Anliegen von Frau und Herrn Vogt fanden keine Klärung aus individueller Perspektive. Die Berater*innen stehen im Erstgespräch vor der Situation, sich zu den gewaltvollen Schilderungen zu verhalten. Die Gewalt wird nicht direktiv thematisiert. Die Struktur der Paarberatung hat die Tendenz zur Befriedung und Deeskalation. Dies führt hier dazu, dass Frau Vogts Sichtweise und Handlungsproblem eingeschränkt werden. Die Beratung agiert hier unter der Prämisse der Streitverhinderung. Das letzte Gespräch intensiviert dies insofern, als keine vertiefte Bearbeitung von Gefühlen und Emotionen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, Raum finden kann. Auch im Letztgespräch zeigt sich eine Differenz dahingehend, dass Gefühlsregungen unterschiedlich gewertet werden. Während auf seine Gefühlsäußerung positiv reagiert wird, werden ihre nicht kommentiert.

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6 Kontrastierung der Fälle: Spannungsfelder der Adressierung in Paarberatung

Die Sequenzanalyse systemischer Paarberatung eröffnet über den Fallvergleich differente Perspektiven auf die latente Konstruktion von Adressat*innen in solchen methodisch strukturierten Mehr-Personen-Settings. Dabei wurde deutlich, dass der Prozess der Adressat*innenkonstruktion durch kommunikative Aushandlungen zwischen allen Beteiligten Personen – changierend sowohl als Einzelpersonen als auch als Dyaden (Paar und Beratungsteam) – bestimmt wird. Diese Kommunikationen scheinen latent maßgeblich durch zwei sich wechselseitig beeinflussende Dimensionen bestimmt zu sein: a) die Art der Beratungsprozess-Strukturierung und b) die dahinterliegenden Zuschreibungen und Annahmen über Paardynamiken, wie sie z. B. auch in Paarleitbildern (Abschnitt 1.1.2) deutlich werden. Die Art und Weise der Krisenbearbeitung des Paars hängt demnach von den im Beratungsprozess dominierenden Adressierungen ab. Die Rekonstruktion dieser latenten Prozesse von Adressierung auf Basis der Kontrastierung der Fallstrukturhypothesen macht in allen Paarberatungen Ambivalenzen sichtbar, die in ihrer Komplexität folgend als Spannungsfelder systematisiert werden. a) Art der Beratungsprozess-Strukturierung 1. Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin 2.  Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten 3.  b) Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit 1. Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft 2. Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung – Orientierung am Anliegen des Manns 3. Frau als an der Beziehung Arbeitende – Eingrenzung von Erwartungen

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6.1

Kontrastierung der Fälle

Art der Strukturierung des Paarberatungsprozesses

In den Rekonstruktionen der drei Paarberatungen zeigte sich, dass strukturelle Anforderungen an Erstgespräche mit der latenten Konstruktion von Adressat*innen zusammenhängen. 6.1.1 Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin Paarberatung ist ein Mehr-Personen-Setting, das vier Personen involviert, die sich gleichfalls in zwei Dyaden (Paar und Berater*innenteam) aufteilen und die latente Konstruktion der Adressat*innen beeinflussen. Dabei können Paare mal als Einzelpersonen und mal als Dyade adressiert werden. In der Rekonstruktion der Erstgespräche zeigt sich aber, dass die Berater*innen eine Orientierung an der Paardyade als Adressatin durchsetzen, indem sie die Vorstrukturierung des Gesprächs reproduzieren (Unterkapitel 2.2). Die Berater*innen strukturieren das Beratungsgespräch zu Beginn durch Fragen nach dem Anliegen, wie: »Was führt Sie her, was war der Wunsch, gerade jetzt äh Paarberatung in Anspruch zu nehmen?« (N001_01, Z. 137), oder: »Ja, (--) Was führt Sie her? Was ist der möglicherweise aktuelle Auslöser?« (N005_01, Z. 92). Innerhalb des Erstgesprächs werden von den Berater*innen beide Partner*innen adressiert und aufgefordert zu explizieren, weshalb sie dieses Setting aufsuchen. Dabei wird intendiert, dass ein innerdyadisches Problem expliziert wird, das das Paar gemeinsam zur Paarberatung geführt hat. Der Besuch einer Paarberatung wird durch die Probleme auf der Paarebene legitimiert. Während im Letztgespräch die Verhandlung an einem innerdyadischen Problem nicht mehr ausgehandelt werden muss bzw. daran scheitert, zeigt sich dies als sich wiederholende Besonderheit im Erstgespräch. Die Berater*innen im ersten Fall richten sich entgegen der Problemexplikation des Paars, wie Schwierigkeiten mit Schwiegereltern, auf die innerdyadische Paarebene (Abschnitt 5.1.2.3) und adressieren die Paardyade als problembehaftet. Im letzten Gespräch wiederum fokussiert das Paar auf innerdyadische Beziehungsprobleme, die noch vorhanden seien. Vom Paar geht zu Beginn des Letztgesprächs eine starke Problemorientierung aus, nicht aber von den Berater*innen. In der zweiten rekonstruierten Paarberatung erfolgt die Adressierung des Paars mittels Verdeutlichung des gemeinsamen Leidensdrucks: »Ich frage jetzt mal äh, könnte es sein, dass Ihrer Frau es ähnlich geht wie Ihnen? Dass sie auch nicht weiß, was sie machen soll?« (N002_01_Z. 228–229). Auch hier wird die Fokussierung auf beide in einer relationalen Verbindung beibehalten. Die Bewusstmachung der Sichtweise des anderen dient dazu, den © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Art der Strukturierung des Paarberatungsprozesses

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subjektorientierten Blick zu verlassen und einen paarorientierten Blick einzunehmen. Beide Partner*innen werden in ihren individuellen Anteilen aber nur bezogen auf die Paardyade angesprochen, um auf der Paarebene eine Verbesserung zu erreichen, die beide auch verspüren. Probleme sollen in der Paarinteraktion und weniger aus subjektiver Perspektive (z. B. Krankheitsbild) formuliert werden. Die Kommunikation und das Begegnen als Paar stehen im Fokus dieser Paarberatung. Eine relationale Bedingtheit wird eingeführt – wenn gemeinsam das Problem besprochen wird, dann kann es durch Kommunikation und Begegnung bewältigt werden. Im weiteren Verlauf der Erstgespräche zeigt sich, wie die Adressat*innen mit der Adressiertheit als Einheit bzw. Paar umgehen. In einer Variante sind Tendenzen zu erkennen, sich der Adressierung zunächst zu entziehen, indem die Partner*innen sich als Einzelpersonen darstellen und auch das Ziel der Beratung auf sich beziehen und weniger auf die gemeinsame Beziehung. Bei der ersten rekonstruierten Paarberatung unterstrich der Partner, das Setting unfreiwillig aufgesucht zu haben, und die Partnerin begab sich in die Rolle einer Co-Beraterin. Beide ließen sich nicht als Adressat*innen positionieren, sahen aber jeweils den*die andere*n in dieser Rolle und verhinderten eine Paaradressierung (Abschnitt 5.1.2.3). Auch in der zweiten rekonstruierten Paarberatung wurde darum gerungen, wer Hauptadressat*in dieser Paarberatung sei und damit auch diejenige Person, die etwas verändern könne bzw. solle. Der Mann stellt sich im Beratungsverlauf als hilflos und ohne Veränderungspotenzial dar. Nur seine Partnerin könne sich ändern und sei somit die Hauptadresssatin dieser Paarberatung. Die differenten Problemexplikationen machen jeweils den*die andere*n Partner*in zum*zur Hauptadressat*in dieser Paarberatung. Die Berater*innen widersetzen sich dieser Perspektive und betonen wiederholt die relationale Bedingtheit der Beziehung(sprobleme). Die Struktur des Erstgesprächs drängt darauf, dass beide sich als ratlos positionieren, um einen Dyadenblick als Gemeinsamkeit zu evozieren (Abschnitt 5.2.2.3). Auch in der dritten rekonstruierten Paarberatung fokussieren die Berater*innen die Paardyade und stoßen auf Widerstand der Ratsuchenden. Deren Problemexplikation ist subjektorientiert, jedoch bezogen auf die Beziehung. Ausgehend vom Paar soll die Veränderung der Subjektebene beim jeweils anderen Paarteil stattfinden und nicht auf der gemeinsamen Paarebene. Sowohl die Berater*innen als auch die Frau arbeiten daran, dass der Mann ebenfalls Adressat dieser Beratung wird, d. h. ihn für diese Beratung zu gewinnen. Beide Paarteile sollen sich als Adressat*innen dieser Beratung verstehen (Abschnitt 5.3.2.3). Die durch die Berater*innendyade dominierte Struktur der Paarberatung sieht eine Orientierung an innerdyadischen Problemen und Anliegen vor. Den© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

noch nehmen sich die Paare außerdem immer wieder heraus, andere Probleme anzusprechen und zum Thema der Paarberatung zu machen. Die Berater*innen aus der ersten Paarberatung reagieren wieder mit einer Paarlösung, die jedoch nur den Mann adressiert. Angesprochene Themen werden von den Berater*innen immer wieder auf die Paarebene gebracht. Die Frau positioniert sich selbst zwischen Co-Beraterin und Ratsuchende und bringt sich wiederholt in diese individuellen Differenzpositionen, die eine Paaradressierung eher verhindern. Dieses Changieren kann von den Berater*innen nur begrenzt bewältigt werden. Die Lösungsentwicklung der zweiten rekonstruierten Paarberatung orientiert sich am »Funktionieren« der Beziehung im technischen Sinn. Die Lösung richtet sich auf die Interaktion und integriert beide – als Paar. Der Fokus auf das Paar wird in der Beendigung des Erstgesprächs deutlich, bei der vom Paar durch die Ansprache als Paar eine Stellungnahme hinsichtlich einer Fortführung der Zusammenarbeit eingefordert wird. In der dritten Paarberatung wird zwecks Lösungsentwicklung von den Berater*innen der gemeinsame Konsens hergestellt, wenngleich in den Einzelpersonen und nicht im Paar adressiert. Dieser Konsens ist der Versuch, eine gemeinsame Zielsetzung des Paars zu initiieren. Über die Ansprache eines Ziels mit der Abfrage der Übereinkunft wird eine Gemeinsamkeit konstruiert. Hauptadressat ist nun das Paar, indem sich nach den Zielen des Manns gerichtet wird. Dabei wird auch die Perspektive der Dyade deutlich. Während des Erstgesprächs muss zusammenfassend ein innerdyadisches Problem expliziert werden, weshalb das Paar gemeinsam zur Paarberatung gekommen ist. Die Dyade wird als Adressatin also schon zu Beginn der Anliegenklärung und der Problemexplikation deutlich. Der Umgang des Paars mit dieser Paaradressiertheit vollzieht sich zunächst eher darin, den*die Partner*in als Hauptadressat*in zu positionieren. Dabei wird der jeweils individuelle Fokus stark gemacht. Die Dyade als Adressatin setzt jedoch voraus, dass die relationale Bedingtheit von Problemen und deren gemeinsame Bearbeitung im Vordergrund stehen. Somit wird von den Berater*innen die Dyade auch in der Krisenbewältigung und Lösungsentwicklung für eine bessere gemeinsame Beziehung fokussiert, an der das Paar jeweils mitarbeitet. Dafür wird Freiwilligkeit bei beiden Partner*innen unterstellt, dieses Setting aufzusuchen (Abschnitt 6.1.2). Gleichzeitig halten die Berater*innen zwar an der Paarperspektive fest, können den Umgang des Paars damit aber nur begrenzt bewältigen. Dass eine differente Veränderungsmöglichkeit adressiert wird (dezidierter 6.1.2) und die Problemlösung geschlechtsspezifische Besonderheiten insofern vorweist, als sie sich an den Zielen der Männer ausrichtet (dezidierter 6.2.2), ergibt hier ein erstes Spannungsverhältnis. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Art der Strukturierung des Paarberatungsprozesses

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6.1.2 Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz Im nächsten Spannungsfeld wird hervorgebracht, wie sich Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz herauskristallisieren. Adressat*innen werden dabei potenziell problem- und lösungsbehaftet adressiert. Im Rahmen des Erstgesprächs wird von den Berater*innen zuerst an beide adressiert und danach gefragt, weshalb sie da seien (Abschnitt 6.1.1). Dies zielt darauf ab, dass beide einen Veränderungsbedarf innerhalb der Beziehung erkennen. Es zeigt sich, dass sich das Paar zwar als freiwillig anwesend positioniert, die Veränderungsbereitschaft bzw. -möglichkeit zunächst aber jeweils bei dem*der Partner*in verortet. In der ersten rekonstruierten Paarberatung scheint der Mann auf Wunsch seiner Frau anwesend zu sein, beteiligt sich dann aber aktiv. Bezüglich der Beziehung äußert der Partner zunächst keine Probleme und sie begreift ihn als veränderungswürdig (nicht sich). Die Frau konstruiert ihren Mann als Adressaten der Paarberatung und positioniert sich selbst als Co-Beratende. Am Ende des Erstgesprächs wird der Mann als jemand angesprochen, der sich eines Problems und dessen Lösung bewusst ist. Es wird sich auf die freiwillige Mitwirkung und die Bereitschaft zur Veränderung berufen. Die Frau positioniert ihren Mann als veränderungsnotwendig. Seine offerierte Mitwirkungsbereitschaft an dieser Paarberatung ist für sie nicht ausreichend. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass beide freiwillig diese Paarberatung aufsuchen und einen Wunsch/ein Ziel für diese Beratung hegen. Die anfangs herausgestellte Mitwirkung an der Struktur der Paarberatung steht damit in engem Zusammenhang: Das Paar wird eingeladen, Themen und Struktur der Paarberatung mitzubestimmen. Im weiteren Verlauf wird diese Möglichkeit immer mehr eingeschränkt, indem sich die Beraterin auf eine vorstrukturierte Vorgehensweise beruft und die gemeinsame Bearbeitung und bestenfalls Lösung eines Problems in den Vordergrund rückt. Wiederholt werden die Probleme zwischen dem Mann und seinem Sohn thematisiert, deren Lösung aber auch als gemeinsames Ziel ausgerufen werden, an dem beide arbeiten wollen (siehe 6.2.2). Auch der Mann positioniert sich hier nicht als alleiniger Adressat der Paarberatung, sondern bezieht seine Frau auf der Ebene der Alltagsverschönerung ein, die er als relevantes Thema der weiteren Paarberatung begreift. Die problematische Beziehung zu seinem Sohn wird als Thema für die weitere Paarberatung ausgeschlossen. Er setzt hier den Fokus, dass das Paar Lösungen sucht, die sie beide als Paar betreffen, und beide sich dabei veränderungsbereit zeigen. Eine Thematisierung der Veränderungsmöglichkeiten in der Paarbeziehung, die der Mann, aber auch die Berater*innen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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immer wieder für die weitere Paarberatung anführen, wehrt die Frau ab und zieht selbst keine Veränderung in Betracht. Bei der zweiten rekonstruierten Paarberatung wird das Paar ebenfalls als freiwillig anwesend konstruiert, weil ein gemeinsames Problem fokussiert wird. Beide werden auch als veränderungswillig adressiert. Freiwilligkeit und Bereitschaft werden vorausgesetzt. Der Berater adressiert das Paar als an seiner Expertise Interessierte und von seiner Kompetenz Profitierende. Das Paar wird zudem als Informant und ihrer Mitwirkungspflicht Nachkommende adressiert. Ihnen wird darüber hinaus Mitteilungsbedarf unterstellt und somit auch ein Anliegen für diese Paarberatung, welches ein freiwilliges Aufsuchen der Beratung voraussetzt. Im weiteren Verlauf vollzieht sich ein Verhandeln über die Veränderungsmöglichkeit. Der Mann grenzt das Veränderungspotenzial bei sich ein. Er positioniert sich als freiwillig an diesem Setting teilnehmend und Teil des Problems zu sein. Dabei präsentiert er sich als hilflos, schreibt sich die Position als NichtAdressat zu und positioniert seine Partnerin als diejenige, die Veränderungen herbeiführen könne. Ihren Eigenanteil an der Veränderung bindet die Frau jedoch an eine Verhaltensänderung ihres Partners. Sie positioniert sich als veränderungswillig, aber nur in Abhängigkeit von der Veränderungsbereitschaft ihres Manns. Dabei wird aus Perspektive der Berater*innen deutlich, dass beim Mann die Veränderungswilligkeit noch hergestellt werden muss, während bei der Frau keine weitere Arbeit als notwendig deklariert wird. Es zeigt sich, dass er als Adressat konstruiert wird, wenn er freiwillig teilnimmt und innerhalb der Paarberatung kommuniziert. Sein Potenzial für Veränderung und sein Reflexionsvermögens werden seitens der Berater*innen abgeschwächt. Eine größere Veränderungsmöglichkeit wird der Frau unterstellt, da diese die Form der Adressierung bei der Lösungserarbeitung annimmt und bedient. Das Erstgespräch der dritten rekonstruierten Paarberatung ist geprägt davon, dass eine aktive Teilnahme an das Paar adressiert wird. Diese Adressierung steht jedoch konträr zu den Ansprüchen an eine Dienstleistung (das Problem wird für sie gelöst), die vom Paar ausgehen. Das Paar wird dahingehend adressiert, aktiv an dieser Paarberatung teilzunehmen, sich veränderungsbereit und -willig zu zeigen und sich damit an den Vorgaben der Berater*innen zu orientieren. Das Paar erwartet eine Leistung, die allerdings von der Freiwilligkeit seines Mitwirkens abhängig ist. Sie besuchen das Setting zwar freiwillig und sehen die Notwendigkeit einer Veränderung, weisen diese aber dem jeweils anderen zu – beide sehen den*die jeweils andere*n als Hauptadressat*in. Beide positionieren sich als reflexiv und passend für das Setting hinsichtlich der Problemexplikation. Aber bezogen auf die Lösungsentwicklung und Krisenbewältigung wird ein Leistungserbringungsgedanke offenbart, der sich dann auf © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Veränderungsanregungen bei dem*der Partner*in bezieht. Der Berater positioniert behutsam den Mann als Veränderungsbereiten, indem er ihm eine Veränderungsbereitschaft unterstellt. Der Mann wird von den Berater*innen als Adressat dieser Beratung konstruiert, indem er sich aktiv an dieser Beratung beteiligen und reflexiv auf emotionale Aspekte aus der Vergangenheit eingehen soll. Die Berater*innen verdeutlichen ihm gegenüber, eine Beratungsbedürftigkeit bei ihm zu sehen. Das behutsame Gewinnen für die Paarberatung erfolgt hier nicht gegenüber der Frau. Damit geht einher, dass ihr unterstellt wird, die Paarberatung freiwillig aufzusuchen und veränderungswillig zu sein. Bei ihr wird eine Veränderungsbereitschaft als gegeben vorausgesetzt. Gleichzeitig zeigen sich differente Anliegen und Vorstellungen der daraus entstehenden Veränderungsbereitschaft. Das Paar besucht zwar freiwillig die Paarberatung, aber die individuell präferierte Beratungsstruktur begreift jeweils den*die Partner*in, und nicht die eigene Person, als veränderungsnotwendig. Damit geht nur eine Freiwilligkeit bei den jeweils Einzelnen einher, wenn der eigenen präferierten Beratungsstruktur gefolgt wird. Das weitere Verhandeln darüber zeigt sich bei der Erarbeitung von Lösungen (siehe 6.1.3). Ein freiwilliges Aufsuchen des Settings bewirkt nicht zwangsläufig Veränderungsbereitschaft. Auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Hilfe vermag dies nicht per se. Diese muss, so zeigt sich hier, erst hergestellt und ausgehandelt werden. Bei allen drei Paarberatungen wird den Paaren eine Selbstreflexivität unterstellt, die sie die Notwendigkeit erkennen lässt, zur Lösung ihrer Probleme eine Paarberatung aufzusuchen. Die Beratungsstruktur orientiert sich an der Freiwilligkeit des Aufsuchens dieses Settings und an dem Problembewusstsein. Mit dem Bewusstsein der notwendigen Veränderung wird unterstellt, dass jeweils beide Partner*innen auch veränderungsbereit sind. An dieser grundlegenden Veränderungsbereitschaft halten die Berater*innen trotz wahrnehmbarer Widerstände konsequent fest und fordern diese ein. Die Ambivalenz dahingehend zeigt sich im Umgang der Paare damit (siehe 6.2). Als (versuchter) Aushandlungskompromiss ergibt sich, dass beide Partner*innen als Veränderungsbereite adressiert werden, wenngleich mit unterschiedlichen Voraussetzungen (siehe 6.2.2 und 6.2.3). Gleichzeitig besteht der Anspruch, dass eine Entwicklung der Beziehung durch das Erarbeiten neuer Routinen passieren muss (siehe 6.1.3). 6.1.3 Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten Aufbauend auf dem Initiieren und Aushandeln einer beidseitigen Veränderungsbereitschaft zeigt sich der Anspruch auf eine im Erstgespräch erarbeitete Lösung(smöglichkeit). Die Adressat*innen positionieren sich dahingehend © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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entweder als hilfebedürftig und/oder den*die Partner*in als unterstützungswürdig. Das hat direkten Einfluss darauf, was zum Anliegen gemacht wird und zum nächsten Spannungsfeld führt: Die erarbeiteten Veränderungen zielen als Lösung darauf ab, neue Paarroutinen zu entwickeln. Wie bei allen Paarberatungen, so auch bei der ersten, muss ein Problem bzw. ein Wunsch, wie es anders sein soll, benannt werden können. Die Struktur der Paarberatung sieht eine Orientierung an innerdyadischen Problemen und Anliegen vor. Das Paar spricht dennoch immer wieder andere Probleme (wie mit dem Sohn) an und versucht, es zum Thema der Paarberatung zu machen. Die Berater*innen reagieren wieder mit einer Paarlösung, die jedoch nur den Mann adressiert. Das Paar wird dahingehend adressiert, dass Veränderungen im Verhalten der Partner*innen stets möglich seien. Dabei wird immer wieder zwischen Reflexions- und Handlungsangeboten changiert. Verhaltensänderung wird als möglich konnotiert, sobald dem Paar reflexiv eine neue Sichtweise bewusst wird. Bei der Entwicklung der Problemlösung im Letztgespräch zeigt sich im Paar die Differenz, deren Spuren schon im Erstgespräch zu erkennen sind: Der Mann verortet die Problemlösung auf der Handlungsebene, um Struktur in den Alltag zu bringen, während die Frau an der Verbesserung der Kommunikation durch Reflexion festhält. Während die Berater*innen weiterhin das Bewusstmachen der Reflexionsebene bezwecken, zielt der Mann auf eine pragmatische Lösung ab. Er orientiert sich an Plänen, die den Alltag strukturieren, und zieht ein Gespräch über Emotionen und Muster nicht in Betracht. Die Berater*innen können nicht mehr als Anregung und Motivation zur Reflexion und zum Handeln bieten. Dieses Changieren zwischen Reflexionsangeboten durch beispielsweise Metaphern und Verschlimmerungsfragen prallt auf den Wunsch nach Handlungsanweisungen seitens des Manns, der den Vorstellungen der Frau, die reflexive Veränderungsprozesse beim Mann angeregt wissen möchte, entgegenläuft. Dies zeigt sich besonders an der Schlusssequenz des Erstgesprächs, wobei der Mann nicht noch einmal auf die Problematisierung der Beziehung zwischen ihm und seinem Sohn eingeht. Die Frau wird auf der Ebene der Alltagsverschönerung einbezogen, die er als Thema der weiteren Paarberatungen verortet. Im Unterschied zu den vorherigen Sequenzen wird hier auch die Handlungsebene und weniger die Reflexionsebene forciert. Am Anfang des Letztgesprächs der ersten rekonstruierten Paarberatung wird wieder die Reflexionsebene angesprochen, indem das Positive zwischen den Sitzungen reflektiert werden soll. Vorab lag der Fokus auf dem Handeln und dortigen positiven Veränderungen, nun liegt er auf der Reflexionsebene im kognitiven Bereich. Die Berater*innen fokussieren weniger eine konkrete Krisenbewältigung, sondern eine Veränderung der Sichtweise. Die pragmati© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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sche Lösung des Manns liegt in der Fokussierung auf einen Plan auf der Handlungsebene. Die in den letzten Sitzungen verstärkt integrierte Reflexionsebene wird damit negiert. Dabei moniert der Mann, dass vorab nur auf der Reflexionsebene (Gefühlsebene) neue Routinen bzw. Veränderungsprozesse angeregt worden seien. Die neuen Routinen, die auf der Reflexionsebene in den vorherigen Sitzungen erarbeitet wurden, sind aus seiner Perspektive nicht auf der Handlungsebene angekommen. Die Frau verfolgt weniger eine niedrigschwellige Routineveränderung im Alltag auf der Handlungsebene, sondern vielmehr eine emotionale Auseinandersetzung und Reflexion bezüglich der Beziehung des Paars und zu dem Sohn. Das Erstgespräch der zweiten rekonstruierten Paarberatung orientiert sich an der Expertise der Berater*innen und der Vorstruktur des Gesprächs. Zunächst geht die von den Berater*innen angebotene Struktur der Paarberatung von einem Modell aus, das Problemen auf der Ebene der Reflexion begegnet. Am Anfang der Paarberatung steht das Ausloten, über welches Reflexionsvermögen das Paar (bzw. die Paarteile) verfügt. Als Struktur ist hier herauszulesen, dass eine gewisse Reflexionsmöglichkeit über die Partnerschaft und das Einfühlen in den*die andere*n notwendig ist. Dies wandelt sich im Laufe des Erstgesprächs, sodass Veränderungen eher anhand konkreter Tipps auf der Handlungsebene erarbeitet werden. Diese Tipps auf der Handlungsebene erfordern keine tiefgreifende Reflexion. Es steht nicht im Vordergrund, das Paar und das Pro­ blem zu verstehen, sondern Lösungen zu initiieren. Die Konkretisierung auf der Handlungsebene (Beziehungsverbesserung durch Handlung) wird hier als Lösung erarbeitet. Im Kontrast zum Letztgespräch wird dieses Element besonders deutlich, wenn dort die erarbeiteten Lösungen auf der Handlungsebene evaluiert werden. In der dritten Paarberatung zeigen sich differente Anliegen und Vorstellungen daraus entwickelter Krisenbewältigung. Das Verständnis, das vom Mann offeriert wird, zielt nicht auf eine Aufarbeitung und reflexive Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Vergangenheit. Damit geht ein auf die Zukunft gerichtetes Verständnis von Paarberatung einher, das demjenigen der Frau, die eine Thematisierung und Verarbeitung der Vergangenheit und damit auch ein Schuldeingeständnis ihres Manns anvisiert, zuwiderläuft. Auch die Berater*innen setzen nicht auf ein reflexives Aufarbeiten der Vergangenheit, sondern einen Umgang in der Zukunft. Die Berater*innen halten im Erstgespräch an der gemeinsamen Herstellung des Paars als Adressat der Paarberatung fest. Dies erfolgt im weiteren Verlauf durch die Formulierung eines gemeinsamen Ziels bzw. Anliegens für diese Paarberatung. Letztlich sollen neue Routinen bzw. Verhaltensweisen für zukünftige alltägliche Begegnungen erarbeitet werden. Die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

Berater*innen versuchen, zunächst auf der Reflexions-, dann auf der Handlungsebene Veränderungen für das zukünftige Miteinander anzuregen. Die Verhaltensänderung ist an die Einzelpersonen adressiert und wird dann für das gemeinsame Paarziel als fruchtbar deklariert. Währenddessen widersetzt sich das Paar dieser Ziel- bzw. Lösungsfokussierung (dezidierter 5.3.4). Am Ende tritt hervor, dass auch die Berater*innen unsicher sind, inwieweit eine Veränderung auf der jeweils individuellen Reflexions- und Handlungsebene initiiert worden ist. Es zeigt sich, dass keine gemeinsame Vorstellung von Paarberatung hergestellt wurde und somit keine gemeinsame Zielsetzung für die neuen Routinen – weder auf der Reflexions- noch auf der Handlungsebene – erarbeitet werden konnte. Das Paar geht aber weniger darauf ein, als vielmehr anhand des Vergangenen seine divergierenden Wahrnehmungen zu präsentieren, sodass weder auf der Reflexions- noch auf der Handlungsebene eine Veränderung initiiert werden kann. Es geht in den Paarberatungen eher um eine Zukunftsorientierung der Beziehung, entweder anhand von Lösungsangeboten auf der reflexiven Ebene, kognitiv initiierten Perspektivenwechseln und/oder durch konkretes Erarbeiten von Handlungen. Es wird eine Bereitschaft zur Erarbeitung von Lösungen adressiert. Die Lösungen, ob auf Handlungs- oder Reflexionsebene, sind auf das zukünftige Miteinander gerichtet. In der ersten Paarberatung wird auf eine Reflexionsebene fokussiert. Indem über Verhalten nachgedacht wird, soll Veränderung entstehen. Bei der zweiten Paarberatung wird eher die Handlungsebene angesprochen und weniger auf eine Reflexion gesetzt. Hier wird deutlich auf der Handlungsebene festgeschrieben, wer was zu leisten hat (beim Bauchtanzabend) und was dann jeweils dabei getan wird. Im Lauf der Paarberatung ergibt sich die strukturelle Entwicklung, dass das Paar als solches neue Routinen etabliert und eine Veränderungsdynamik entsteht. Dies erfolgt durch reflexive Angebote oder durch Erarbeiten konkreter Handlungen. Zu diesem Zweck ist eingangs das Reflexionsvermögen des Paars (bzw. der Paarteile) abzustecken. Bei der dritten Paarberatung zeigen schon die differenten Anliegen, dass keine gemeinsame Veränderungsperspektive (ob reflexiv oder auf der Handlungsebene) initiiert werden kann. Aber auch diese wird immer wieder ausgehandelt und der Versuch unternommen, Voraussetzungen mittels gemeinsamer Zielsetzung zu bestimmen. Das Paar zeigt sich dennoch fortwährend widerständig. Veränderungsperspektive und daraus entstehende neuen Routinen formen sich abhängig davon, welches Anliegen die Beratung behandelt. Dies wird im folgenden Unterkapitel aufgegriffen.

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Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit

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6.2 Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit In den Rekonstruktionen der drei Paarberatungen zeigte sich, dass heteronormative Annahmen mit der Konstruktion von Adressat*innen zusammenhängen, verdeutlicht im Diskurs über normative Vorstellungen von Partnerschaft, in der Unterschiedlichkeit der Adressierung von Mann und Frau und in der Verhandlung von Verantwortlichkeiten. 6.2.1 Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft In den Vorstellungsrunden am Anfang der Erstgespräche wird das normative Verständnis der Berater*innen von Partnerschaft und Familie deutlich: Kinder, Familienstand, Status, Bildung. Alle Berater*innen gehen auf unterschiedliche Weise darauf ein. Dabei ist auffällig, dass private Informationen eher von den Beraterinnen preisgegeben werden. Sie erwähnten in allen Erstgesprächen ihren Beziehungsstatus und die Anzahl ihrer Kinder, beispielsweise »bin 44 Jahre alt, verheiratet, hab’ zwei Kinder im Alter von (.) 11 und 15 Jahren« (N005_01, Z. 28–29). Die männlichen Kollegen erwähnten solche Kontexte nicht oder erst abschließend. Sie legitimieren ihre beratende Position in diesem Setting über die Nennung einer Vielzahl von Ausbildungen, wie »ich bin seit 1985 Logopäde, hab aber auch noch andere Berufsausbildungen« (N001_01, Z. 15–16). Sie stellen sich als Experte in diesem Setting dar und verdeutlichen den damit einhergehenden Status. Die Beraterinnen erwähnen ebenfalls ihre Ausbildungen und legitimieren ihre fachliche Expertise, ziehen aber auch ihren privaten Status zur Kompetenzdarstellung und als Legitimationsfigur für ihre Expertise heran. In der Vorstellung während des Erstgesprächs (erster Fall) wurde die Beratungsdyade als funktionierende Dyade präsentiert. Es wird eine verlässliche Beziehung dargestellt, weniger zwei einzelne Expert*innen. Durch die Darstellung einer »gut funktionierenden« Dyade wird der Fokus in diesem Setting betont: Es geht um Dyaden (das Gegenüber und das Expert*innenteam), weniger um Einzelpersonen. Zudem wird eine Dyade als funktionierend dargestellt, wenn Gemeinsamkeiten herausgestellt werden. Den Anwesenden wird die »Beziehungsgeschichte« vom Expert*innenteam transparent gemacht. Die gut funktionierende Berater*innen-Dyade zeigt sich in der emotionalen Verbindung. Eine Ausnahme stellt die letzte rekonstruierte Paarberatung dar, in der die Reaktion des Paars die hervorgehobene fehlende gemeinsame Arbeitsroutine des Berater*innenteams negativ rahmt. Das bedeutet, Paarberatung orientiert sich an der Darstellung als Einheit auf Berater*innenseite. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

In zwei Erstgesprächen stellen sich in den Vorstellungsrunden auch die Paare vor. Das Paar in der ersten Paarberatung geht auf Lebensereignisse ein, die mit seinem Problem zunächst nichts zu tun zu haben und mit den Vorstellungen der Berater*innen verknüpft zu sein scheinen. So erfolgt die Vorstellung einer gemeinsamen Paargenese anhand von Zahlen und Ereignissen (Zusammenkommen, Kind, Hochzeit) im Zusammenhang mit schwierigen Bedingungen. Die vorab geplanten Schritte deuten auf ein institutionalisiertes Ablaufmuster hin. Die gemeinsame Familiengeschichte hat Projektcharakter. Hier steht nicht die Sozialbeziehung im Vordergrund, sondern das Abarbeiten des »Projekts Familie«: Aus dem Paar werden Eltern, die am Nachwuchs arbeiten. Wenn Familiengeschichte und Familiengründung als Projekt betrachtet werden, sind normativ geprägte Vorstellungen prägend: Ein Ideal wird angestrebt. Durch Zielsetzungen (Heirat, Kind etc.) werden Meilensteine erklommen bzw. darauf hingearbeitet, um das normative Ideal der Familie zu erreichen. Verantwortung für das »Projekt Familie« wird bei der Frau verortet. Die Darstellung des Paars erfolgt in einer funktionierenden Dyade, die normativ die Meilensteine erreicht hat (im Projektcharakter). Das zu Erwartende wurde eingelöst und als Grundlage für die Erläuterung einer funktionierenden Dyade herangezogen. Es erfolgt eine Orientierung an der Idealvorstellung einer Paarbeziehung, die hier mit Heirat und Kindern einhergeht. Die Paargeschichte beinhaltet nicht nur die Historie der Dyade, sondern auch die Familiengeschichte. Die Orientierung an einer Idealvorstellung von Paarbeziehung expliziert sich in der ersten rekonstruierten Paarberatung auch im weiteren Verlauf, wenn in der Art der Kommunikation bzw. des Streitens auf Augenhöhe Kompromisse gefunden werden sollen, bei der beide aufeinander zugehen und es nicht zu emotional wird. Die emotionale Arbeit an der Beziehung wird vorrangig in den Verantwortungsbereich der Frau gebracht (siehe Abschnitt 6.2.3). Die Struktur der zweiten Paarberatung geht davon aus, dass die Probleme relational zu betrachten sind. Der Berater greift beispielsweise auf: »zur Paarbeziehung gehören Zweie« (N004_01, Z. 175). Er verdeutlicht, dass bei einer Paarberatung beide Personen an sich arbeiten und ihr Verhalten ändern müssen. Das Erstgespräch erfordert eine gewisse Reflexion über die Partnerschaft und das Einfühlen in den*die andere*n. Den Problemen wird mit Kommunikationsverbesserung auf der Handlungsebene begegnet. Es geht nicht um Empfindungen oder Umstände, die in der Vergangenheit zu (Nicht-)Wohlbefinden geführt haben, sondern um das zukünftige Funktionieren der Beziehung. Die Normvorstellung, dass Beziehungen symmetrisch auf Augenhöhe stattfinden sollen, zeigt sich deutlich im Letztgespräch. Es wird dort als Erfolg gewertet, dass die Frau Kommunikation einsetzt, um Unterstützung im Haushalt zu bekommen. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit

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Ein generelles Reflektieren über die Aufgabenverteilung im Haushalt passiert nicht. Die Hauptverantwortung für den Haushalt wird weiterhin der Frau zugeteilt – und von allen Teilnehmenden nicht hinterfragt. Dabei handelt es sich um Lösungen, auch schon im Erstgespräch, die sich auf die Interaktion als Paar beziehen. Bei der dritten rekonstruierten Paarberatung steht im Fokus, dass beide Paarteile sich als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Dies erfolgt im weiteren Verlauf durch die Herstellung eines gemeinsamen Ziels bzw. Anliegens: Neue Routinen bzw. Verhaltensweisen für zukünftige alltägliche Begegnungen sollen erarbeitet werden, die häusliche Gewalt wird in diesem Erstgespräch nicht weiter reflektiert. Die Ziele des Manns werden zum Orientierungspunkt gemacht und letztlich als gemeinsame Ziele fixiert. Dabei geht es weniger um Aufarbeitung und Reflexion, sondern um Optimierung, um mit Situationen zukünftig anders umgehen zu können. Die Wünsche des Manns, die normativ eher der hier offerierten Beratungsstruktur entsprechen, werden aufgegriffen und als gemeinsame Ziele formuliert. Unterstellt wird, dass beide an diesem Ziel interessiert wären. Die Frau hingegen widersetzt sich dieser Ziel- bzw. Lösungsfokussierung und offenbart eine andere Vorstellung von Paarberatung, nämlich Thematisierung und Verarbeitung der Vergangenheit und letztlich die Erwartung eines Schuldeingeständnisses ihres Manns. Die Berater*innen versuchen, mit bestimmten Fragen ein Paarberatungsgespräch zu situieren, das sich darin auszeichnet, nach zukünftigen Wünschen, Veränderungsmöglichkeiten, Zielen sowie neuen Lösungsmöglichkeiten zu fragen und solche Aspekte zu erarbeiten. Die Struktur der Paarberatung hat damit die Tendenz zur Befriedung und Deeskalation. Diese normative Vorstellung von Partnerschaft zeigt sich somit in der latenten Adressierung als Dyade innerhalb der Erstgespräche und tritt bei der Anliegenklärung und Lösungsentwicklung besonders zutage. Welche geschlechtliche Differenzierung dabei vorgenommen wird, fassen die nächsten beiden Abschnitte zusammen. 6.2.2 Der Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung – Orientierung am Anliegen des Manns Eng verknüpft mit der Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft ist die Struktur, in der der Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung adressiert wird. Dies bewirkt eine Orientierung der Paarberatung an seinen Anliegen. Als der Mann aus der ersten rekonstruierten Paarberatung von der Beraterin gefragt wird, was ihn zur Paarberatung führe, nennt er seine Frau als Grund © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

(»meine Frau führt mich hierher« [N001_01, Z. 243]). Er führt nach nochmaliger Anregung der Beraterin aus, der Meinung zu sein, sie könnten die Probleme auch alleine lösen, wenngleich die Zeit für die Problemlösung immer knapper würde, er aber hoffnungsvoll sei, dass es sich mit der Zeit ändern würde. Dann beschreibt er die belastete Beziehung zu seinem Stiefsohn, die er als Problem bei sich verortet. Als Problem beschreibt er, dass »wir ja hin und wieder ’n Disput über die Erziehung an sich haben« (N001_01, Z. 268–269). Der Berater fragt anschließend nach den Rückzugsorten des Paars und verdeutlicht, dass daran gearbeitet werden könne, um ein entspannteres Verhältnis zum Sohn zu entwickeln. Das Thema des Manns wird nun als Schwerpunkt der weiteren Beratung festgelegt. Die Berater*innen und seine Frau arbeiten daran, dass der Mann sich als beratungswillig und hilfebedürftig darstellt. Gleichzeitig soll die Lösung der Probleme im Paar verortet sein. Daran wirkt auch der Mann mit. Dabei wird dieses Thema explizit als Paarproblematik adressiert (siehe auch 6.1.1). Ambivalent ist in diesem Kontext, dass zwar der Mann zum Hauptadressaten gemacht, seine Problematiken aber als Paarproblematiken deklariert werden, sodass letztlich auch seine Frau als Adressatin dasteht. Gleichzeitig wird die Thematik der Frau – die Schwierigkeiten mit dem äußeren Umfeld (Schwiegereltern, Eltern) – in der Beratung nicht weiterverfolgt. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der dritten rekonstruierten Paarberatung. Sowohl der Berater als auch die Frau arbeiten, in jeweils unterschiedlichem Tempo, daran, dass der Mann ebenfalls Adressat dieser Beratung wird. Bei der Frau wird dies als gegeben vorausgesetzt. Der Frau hingegen wird anscheinend ohnehin unterstellt, sich als Adressatin dieser Paarberatung zu verstehen. Da vom Berater nicht explizit und inhaltlich auf ihre Äußerungen eingegangen wird, erfolgt eine behutsame Einsozialisation in die Paarberatung nur gegenüber dem Mann. Auch im Letztgespräch zeigt sich eine Differenz dahingehend, dass Gefühlsregungen unterschiedlich gewertet werden. Während auf seine Gefühlsäußerung auf positive Weise eingegangen wird, werden ihre nicht kommentiert. Überdies wird in der dritten Paarberatung ein gemeinsames Ziel hergestellt. Dies ist jedoch brüchig, da es mit einer Falsifizierung gegenüber der Frau verbunden ist – sie wird mit in Haftung genommen. Dieser Konsens wird herzustellen versucht, um eine Gemeinsamkeit der Partner*innen zu adressieren. Über die Ansprache eines Ziels mit der Abfrage der Übereinkunft wird eine Gemeinsamkeit konstruiert. Hauptadressat ist nun insofern wieder das Paar, als die Ziele des Manns, wenngleich deklariert als gemeinsame Ziele, die Ausrichtung vorgeben. Hier steht das individuelle, eingangs gestellte Ziel des Manns im Fokus. Die Wünsche der Frau werden außen vorgelassen, die Ziele des Manns als passend für dieses Setting klassifiziert und weiterverfolgt. Diese © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit

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Ziele passen zur Struktur dieser Paarberatung, die nicht nach Schuldigen sucht und eher das zukünftige Miteinander in den Blick nimmt. Gleichzeitig werden die Wünsche der Frau bzw. ihre Bedürfnisse nach hinten gerückt. In der zweiten Paarberatung positioniert sich der Mann zwar als hilfebedürftig, jedoch nur eingeschränkt änderungsfähig. Durch seine eigene Aussage schränkt er sein Vermögen, sein Handeln zu ändern, und seine Mitarbeit in der Beratung ein. Zudem schwächen die Berater*innen die Teilnahmebedingungen gegenüber dem Mann ab. Nicht mehr Reflexion und Veränderung, sondern das Miteinander-Reden wird hier als Anspruchsvoraussetzung markiert und eine geringe Mitwirkungsbereitschaft eingeholt. Somit wird verdeutlicht, dass bei dieser Paarberatung beide Partner*innen als Mitwirkende fungieren. Jedoch werden unterschiedliche Voraussetzungen für das Adressat*innensein getroffen: Während der Mann schon Adressat ist, wenn er teilnimmt und kommuniziert, wird sein Potenzial für Veränderung und Reflexion gedämpft. Veränderungswilligkeit bei der Frau wird hingegen voraussetzungslos unterstellt, während sie beim Mann noch installiert werden muss. Mit Blick auf die um die Bedürfnisse des Manns herumgebaute Lösung wird die Frau als Haupt­adressatin angesprochen. Ihm wird die Rolle desjenigen zugeteilt, den man nicht verprellen und gleichzeitig in die Lösung einbeziehen will. Dies geht hier auf Kosten der Verletzlichkeit der Frau. Sie soll etwas tun, damit er Gefallen an der Lösung findet. In dieser Situation zeigt sich die Passivität des Manns hinsichtlich der Lösungsentwicklung. Diese Struktur zeigt sich ebenfalls im Letztgespräch. In der Aussage der Frau wird deutlich, dass ihr verändertes Handeln die Beziehung beeinflusst hat. Die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars wird von der Frau übernommen, Veränderungen und neue Routinen gehen ebenso von ihr aus. Diese Differenzierung beim Mann zeigt sich bei der unterstellten Herstellungsnotwendigkeit der Veränderungsbereitschaft innerhalb dieser Paarberatung (siehe dezidiert Abschnitt 6.1.2). 6.2.3 Die Frau als an der Beziehung Arbeitende – Eingrenzung von Erwartungen Während also der Mann latent als noch zu Gewinnender für die Paarberatung konstruiert wird und sich die Beratung an seinen Anliegen orientiert, wird die Frau als an der Beziehung Arbeitende adressiert, d. h. Erwartungen eingegrenzt. Bisweilen wird sie auch als zu schnell bzw. zu viel Wollende angesprochen. Die ersten Eigenpositionen sehen aber in der Tat anders aus: Die Frau der ersten Paarberatung begibt sich zwar freiwillig in die Situation einer Paar© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

beratung, begreift sich jedoch nicht als zu Beratende, sondern positioniert sich als Mitwirkende und Strukturierende gegenüber ihrem Mann. Es erfolgt eine Fokussierung auf die ihren Mann interessierenden bzw. ihn betreffenden Themen. In sämtlichen Erstgesprächen bringen die Partnerinnen ihren Mann als Hauptadressaten hervor: Er sei die Person, die sich ändern solle (siehe 6.1.2). Damit einher geht die auch in den Beratungen erkennbare strukturelle Annahme, dass Frauen nicht gewonnen werden brauchen, um an der Beziehung zu arbeiten – bei ihnen wird entsprechendes Interesse als gegeben vorausgesetzt. In einer Spielart dieses klischeehaften Ansatzes orientiert sich das Erstgespräch an den Anliegen der Männer, die dann zu Paarthemen umgewidmet werden. Zudem zeigt sich dies in der Konstruktion der Frau, die mehr an der Etablierung neuer Routinen (siehe 6.1.3) arbeite und sich mit kleinen Erfolgen beim Mann zufrieden zu geben habe. Im letzten Gespräch der ersten Paarberatung wird beispielsweise deutlich, dass die Frau sich auf andere Schwierigkeiten bezieht, nämlich auf die emotionale Bindung und Kommunikation zwischen den Partner*innen. Dabei fokussiert sie im letzten Gespräch auf ihre Probleme in diesem Bereich, die scheinbar noch nicht (zufriedenstellend) gelöst werden konnten. Allerdings lenken die Berater*innen das letzte Gespräch in die Richtung, dass die Frau »geduldiger« sein solle. Im Erstgespräch der zweiten Paarberatung richten sich die Lösungen auf die Interaktion zwischen beiden. Dabei wird um die Bedürfnisse des Manns herumgebaut. Sie soll mehr Vulnerabilität investieren, damit er Gefallen an dieser Situation und an der Lösung findet. Im Letztgespräch der zweiten Paarberatung zeigt sich, dass die Partnerin neue Routinen erarbeitet hat, die der Mann positiv evaluiert. Zeigt sie jedoch eine Initiative darüber hinaus, wird sie eingegrenzt und darauf verwiesen, ihrem Mann Zeit zu lassen und nicht zu schnell zu viel zu wollen. Die Verantwortung für die emotionale Beziehung des Paars wird vermehrt von der Frau auch schon im Erstgespräch übernommen. Veränderungen und neue Routinen sollen von ihr ausgehen – was sie auch bedient. Bei der dritten rekonstruierten Paarberatung steht im Fokus, dass beide Paarteile sich als Adressat*innen dieser Beratung zu verstehen haben. Bei der Frau wird dies schon als gegeben vorausgesetzt, beim Mann wird daran gearbeitet. Außerdem werden ihre Vorstellungen zu dieser Paarberatung im Erstgespräch nicht weiterverfolgt. Für die Paarberatung wird nicht die Frau behutsam gewonnen, sie widersetzt sich dem vielmehr, sodass keine gemeinsame Zielsetzung innerhalb der Paarberatung entwickelt werden kann. Die Anliegen der Männer dienen letztlich der Orientierung und werden in gemeinsame Ziele des Paars transferiert. Die Arbeit an diesen Zielen wird dann © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Genderorientierte Verantwortlichkeiten

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jedoch vermehrt den Frauen zugeschrieben, die eher neue Routinen etablieren (siehe 6.1.3). In allen drei Paarberatungen wird die Frau als Beziehungsverantwortliche adressiert. Jedoch reagieren die drei Frauen sehr unterschiedlich: Die eine positioniert sich als Co-Beraterin, die andere nimmt die Adressierung an und eine weitere widersetzt sich.

6.3 Genderorientierte Verantwortlichkeiten und ihre Auswirkungen auf die Adressat*innenkonstruktion Probleme sollen innerhalb der Paarinteraktion, so allen Paarberatungen gemein, formuliert werden und weniger aus einer subjektiven Perspektive heraus. Es wird weniger an einem Krankheitsbild und dessen Bewältigung oder an der Aufarbeitung der Vergangenheit gearbeitet. Stattdessen stehen die zukünftige Kommunikation und das Begegnen als Paar im Fokus dieser Paarberatungen. Eine relationale Bedingtheit wird eingeführt: Wenn gemeinsam Problem und Lösung besprochen werden, dann kann der Konflikt durch Kommunikation und Begegnung bewältigt werden. Es erfolgt ein Changieren zwischen der Definitionsmacht über Probleme bei den einzelnen Partner*innen (Mann oder Frau) oder bei dem Beratungsteam (Berater oder Beraterin). Spezifische Paarvorstellungen werden dabei latent wirkmächtig. Die Lösungen sind stets auf der Ebene des Paars angesiedelt (keine Lösungen, die nur auf eine*n Partner*in ausgerichtet sind). Es wird darum gerungen, wer Hauptadressat*in der Paarberatung ist und damit auch diejenige Person, die etwas verändern kann bzw. soll. Im Verlauf kristallisiert sich die Frau als vornehmliche Adressatin heraus, die in ihren Wünschen und Vorstellungen gebremst, aber auch als handlungsfähig adressiert wird. Der Mann wird als noch zu Gewinnender für die Paarberatungen adressiert, sodass sich die Beratung an seinen Anliegen bzw. Zielen, die dann als gemeinsames Anliegen bzw. Ziele gerahmt werden, orientiert. Hier treten genderorientierte Verantwortlichkeiten ans Licht, die Auswirkungen auf die Adressat*innenkonstruktion haben. Vorliegende Arbeit hat die Bedingtheit zwischen den latenten Adressierungen hinsichtlich der Art der Strukturierung des Paarberatungsprozesses und hinsichtlich der geschlechtlichen Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit bestimmt. Demnach zeigt sich in den Spannungsfeldern ein Ausbalancieren zwischen a) der Adressierung des Paars – als in problematischer Kommunikation und Subjektfokussierung gefangen und mit dem Widerstand, sich der neuen Sichtweise zu öffnen – und b) der Reproduktion stereotyper Paarleitbilder – wenn zur Veränderung den Frauen größeres Potenzial zugeschrieben wird. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Kontrastierung der Fälle

Weiterhin kann man anhand der Adressierungen das Ringen der Dyaden (das Paar selbst, aber in der Regel doch die Einzelpersonen und das Berater*innenteam) um die Strukturierungsmacht erkennen. Damit eng verknüpft ist das Changieren zwischen Reflexion und Handlungsveränderung und zwischen Individuums- und Paarperspektive. Fragen, die dies verdeutlichen, sind: Wer lässt sich zum*zur Adressat*in machen? Ist diese Person nicht nur freiwillig anwesend, sondern auch veränderungsbereit? Wo finden bei wem welche Veränderungen statt oder sollten es? Adressierungsprozesse müssen demzufolge (zumindest zeitweise) angeschlossen sein, um Veränderungen zu initiieren. Adressierung bezieht sich auf einen Prozess, in dem ein wechselseitiger Zugriff von Kommunikation stattfindet. Erst durch Adressierung ist eine zeitweise Problembearbeitung während eines Erstgesprächs möglich. Dies ist aber nicht festgesetzt, sodass sich die Paare widerständig zeigen. Daraus resultiert, dass der Fokus der Problem­ bearbeitung neu gesetzt wird, um wieder neu an dem Problem zu arbeiten. Somit sind Berater*innen genötigt, sich mit Widerstand gegen die Adressierung auseinandersetzen. Adressierung passiert im Prozess und muss immer wieder ausgehandelt werden. Die Widerständigkeit ist auf der Strukturierungsebene (Unterkapitel 6.1) und auf der Geschlechtsebene (Unterkapitel 6.2) sichtbar und zeigt sich in neuen Adressierungsangeboten. Die dargestellten Spannungsfelder beziehen sich auf das Erstgespräch, ihre Aushandlung zeigt sich dort besonders. In den Letztgesprächen sind die rekon­ struierten Spannungsfelder weniger zur Verhandlung ausgeschrieben bzw. tritt kaum mehr eine Notwendigkeit dafür hervor. Die vorgestellten Spannungsfelder hoben sich innerhalb der Fallstrukturhypothesen der drei Paarberatungen heraus. Sie zeigen die dominanten Diskurse bezogen auf die Forschungsfrage. Daneben bestehen marginalisierte Spannungsfelder, die die Forschungsfrage streifen, beispielsweise die Frage, die sich in der dritten rekonstruierten Paarberatung offenbart, wie das Thema Gewalt in der Partnerschaft die Konstruktion von Adressat*innen beeinflusst. Auch wurde ersichtlich, dass das Ausklingenlassen bzw. die Abschlüsse der letzten Sitzungen die Adressat*innenkonstruktion bedingen, woran spezifische Forschungsfragen noch anschließen könnten.

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7 Diskussion der Ergebnisse: Reflexion von Adressierungen als Teil gelingender Paarberatung

Im Folgenden werden zunächst die latenten Adressierungen in Erstgesprächen kritisch gewürdigt und in die theoretische Auseinandersetzung eingebettet. Dabei wird zwischen Fragilität und (Re-)Produktion der Geschlechterdimension als Herausforderung von Adressierung differenziert. Daran anschließend wird Adressierung als Strukturierungsaspekt systemischer Paarberatung konkretisiert und als Erweiterung institutioneller Kommunikationsformate begründet. Vordergründig steht die Bewusstmachung von Adressierungen als Teil gelingender Paarberatung.

7.1 Latente Adressierungen in Erstgesprächen von Paarberatung Die herausgearbeiteten Spannungsfelder verdeutlichen, dass latente Adressat*innenkonstruktionen Auswirkungen auf die Ko-Konstruktion von Erstgesprächen haben und sich somit als Herausforderung von Adressierung zeigen. 7.1.1 Fragilität als Herausforderung der Adressierung Paarberatung ist wie andere Beratungen auch aufgrund der postulierten Niedrigschwelligkeit und Freiwilligkeit auf das aktive Mitgestalten der Ratsuchenden angewiesen, um Hilfe leisten zu können. Diese Mitwirkungsnotwendigkeit unter bereits bestehendem Leidensdruck führt bei Ratsuchenden nicht selten zu Widerständen und häufig sogar zu Beratungsabbrüchen (Krassilschikov, 2009). Paarberatung ist von dieser Fragilität in besonderem Maß betroffen, wie die Rekonstruktionen der Spannungsfelder verdeutlicht haben. Die Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin erfordert daher, im Erstgespräch entweder ein innerdyadisches Problem oder die subjektive Sicht der Partner*innen auf das Paar zu explizieren. Die Paare reagieren auf diese Anforderung, indem sie zunächst den*die Partner*in als Hauptadressat*in positionieren. Die Dyade © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Diskussion der Ergebnisse

als Adressatin ist ursächlich dafür, dass die relationale Bedingtheit von Problemen und deren gemeinsame Bearbeitung im Vordergrund stehen. Auch Krisenbewältigung und Lösungsentwicklung sollen im Miteinander erfolgen und Anteile beider Partner*innen zur Entwicklung einer befriedigenden Beziehung integrieren. Dieser für die gemeinschaftliche Perspektive notwendige Fokus auf die Paardyade muss von den Berater*innen immer wieder neu verhandelt werden, da die Partner*innen die Beziehung als Belastung erleben und ihre Sicht der Dinge in Anerkennung bringen wollen. Daneben wird Freiwilligkeit bei beiden Partner*innen unterstellt, dieses Setting aufzusuchen, um ein Problem zu lösen. Mit dem rekonstruierten Spannungsfeld der Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz wurde verdeutlicht, dass weder die Freiwilligkeit des Aufsuchens von Paarberatung noch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Hilfe/ Unterstützung zwangsläufig Veränderungsbereitschaft mit sich bringt. Diese muss im Beratungsprozess selbst immer wieder neu hergestellt werden. Selbstreflexivität wird als notwendige Bedingung einer Problemlösung adressiert, gepaart mit der Adressierung eines konkreten Bewusstseins dessen, was verändert werden soll. Mit dem Bewusstsein der notwendigen Veränderung wird unterstellt, dass beide auch individuell veränderungsbereit sind. Beide werden als Veränderungsbereite adressiert  – jedoch mit unterschiedlichen Voraussetzungen –, die an der Ausarbeitung der neuen Routinen beteiligt werden. Dies scheint sich als (Schein-)Kompromiss herauszukristallisieren. Gleichzeitig besteht durch das Erarbeiten neuer Routinen der Anspruch, dass eine Entwicklung innerhalb der Beziehung passieren muss. Die Berater*innen gehen davon aus, dass es eine grundlegende Veränderungsbereitschaft braucht. Die Ambivalenz dahingehend zeigt sich in dem Umgang des Paars mit der Adressierung von Veränderungsbereitschaft (siehe 6.1.3). Und so adressieren Berater*innen beide Partner*innen trotz wahrnehmbarer Widerstände als Veränderungsbereite. Die Fragilität wird insbesondere mit den sogenannten Hausaufgaben gesteigert, mithilfe derer neue Routinen erarbeitet werden sollen. Hier werden Unterschiede zwischen den adressierten Partner*innen besonders deutlich, da sich beide in der Regel mehr oder weniger angesprochen fühlen bzw. die Bereitschaft zur Veränderung anhand der Beteiligung an der Hausaufgabe messbarer wird. Es zeigt sich ein Dilemma, dass Veränderungsbereitschaft dem Paar unterstellt werden und gleichzeitig beantwortet werden muss, was, wie und von wem verändert werden soll. Auch im Spannungsfeld Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten wird die Anfälligkeit des Settings deutlich. Es geht in den Paarberatungen eher um eine Zukunftsorientierung der Beziehung. Diese wird © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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entweder mit Lösungsangeboten auf der reflexiven Ebene, durch Erkennen neuer Sichtweisen und Denkprozesse, oder durch konkretes Erarbeiten von Handlungen initiiert. Am Anfang der Paarberatung ist daher das Reflexionsvermögen des Paars (bzw. der Paarteile) zu erfassen: Inwieweit sind sie in der Lage bzw. willens, sich auch mit sich selbst kognitiv und reflexiv auseinanderzusetzen? Schließlich zeigen sich insbesondere im Transfer von Reflexion zu Handlung bei den Paaren unterschiedliche Grade von Engagement oder Belastung. Die Adressierung der Veränderungsbereitschaft bei beiden geht dementsprechend mit einer höheren Sichtbarkeit von Verletztheit und des Sicheinbringen-Wollens oder -Könnens einher und steigert wiederum die Fragilität des Settings. Die Orientierung an neuen Routinen geht in Paarberatung mit geschlechtlichen Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit einher (Unterkapitel 6.2). Die gesellschaftliche Fragilität von Paarbeziehungen angesichts vielfältiger Handlungs-/Verhaltensoptionen bei gleichzeitigen stereotypen Normenerwartungen (Unterkapitel 1.1) findet im Beratungssetting ihre Entsprechung. Widersprüche und Irritationen (Bitzan & Bolay, 2013, S. 41) bei der Adressat*innenkonstruktion werden nicht nur von Adressat*innen ausgehalten bzw. bewältigt. Die Berater*innen sind darauf angewiesen, dass sich Adressat*innen an der Paarberatung beteiligen, diese aktiv mitgestalten und sich selbst als Adressat*innen von Beratung konstruieren. In diesem institutionalisierten Beratungssetting wird es als notwendig erachtet, dass sich Adressat*innen als passend für die Beratung bzw. als »Homo consultabilis« (Thiersch, 1989) präsentieren. Sichtbar wird hier eine Fragilität des Settings, wonach das Paar und jeweils beide Partner*innen sich als Adressat*innen positionieren und die damit verbundenen Zuschreibungen der Beratungsbedürftigkeit anerkennen sollen. Die Krisenhaftigkeit liegt in der Störanfälligkeit des professionellen Settings begründet, dessen Verhandlungen wie gezeigt von den Adressat*innen geprägt sind und eine ambivalente Struktur aufweisen (müssen). Die Spannungsfelder verdeutlichen, wie viel Aufwand geleistet wird, um das Setting Paarberatung zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Dabei zeigt sich eine wechselseitige Angewiesenheit in Aufrechterhaltung der Adressat*innenkonstruktion und des Settings Paarberatung. In der gemeinsamen Verhandlung der Problemexplikation wird sich an der Dyade als Adressatin (siehe 6.1.1) orientiert. Auch dies muss erst ausgehandelt werden. Eine Orientierung daran erfolgt, denn diese muss immer wieder hergestellt werden. Andere, eher subjektive Probleme werden als gemeinsame Paarproblematik definiert. Das eine gemeinsame Problembehandlung vorsehende Setting zeigt hier seinen Einfluss. Als problembehaftet gelten also weniger die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Diskussion der Ergebnisse

Individuen als die Beziehung bzw. die Dyade selbst. Die Fragilität des Settings zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit der Freiwilligkeit des Aufsuchens dieses Settings und der Unterstellung, an neuen Routinen arbeiten zu wollen. Auch hier zeigt sich der Rahmen der Institution, die ein freiwilliges Aufkommen annimmt. Nun offenbart sich die Fragilität darin, dass bei dem Paar bzw. den Partner*innen unterschiedliche Kombinationen der Freiwilligkeit aufkommen können: Man kann freiwillig mitkommen – dem*der Partner*in zuliebe –, aber nicht an sich arbeiten wollen bzw. den*die Partner*in als Hauptadressat*in begreifen.82 Das Setting Paarberatung sieht jedoch eine gemeinsame Sache vor, was permanent verhandelt und hergestellt werden muss. Die Rekonstruktionen veranschaulichen, wie durch das institutionalisierte Setting vorstrukturiert wird, was zum Gegenstand der Paarberatung gemacht wird und dennoch immer wieder ausgehandelt wird. Die Fragilität entsteht dabei in der wechselseitigen Angewiesenheit der beteiligten Dyaden (Paar und Berater*innenteam) beim Aufrechterhalten der vorgenommenen Adressierungen als veränderungsoffene Paardyade. Berater*innen und Adressat*innen stellen durch latente Adressierungen und Re-Adressierungen gemeinsam die Struktur der Paarberatung her. Die Struktur von Erstgesprächen (Nothdurft et al., 1994; Pick, 2017; Wahlström, 2018) wird demnach ausgehandelt und dieser Prozess kann auch scheitern. So kann Adressierung als neue Reflexionsfolie bezüglich der Beratungsstruktur dienen. Wenn Berater*innen reflexiv zugänglich für die Frage sind, wen sie wie adressieren, treten das Problem des Paars und dessen Lösung klarer zutage. Adressierung kann somit helfen, die Komplexität eines Erstgesprächs zu verringern, und zeigt eine Möglichkeit des Fokussierens auf. Da sich Paare Adressierungen widerständig zeigen, wird dieser Fokus zur Aushandlung ausgeschrieben und immer wieder neu gesetzt, um zu einer Problembearbeitung zu gelangen. Zusammengefasst zeigt sich Paarberatung, als fortwährend zwischen allen Beteiligten auszuhandelndes institutionalisiertes Setting, vor allem im Adressierungsprozess fragil. 7.1.2 (Re-)Produktion der Geschlechterdimensionen als Herausforderung der Adressierung Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass in Paarberatung ein spezifisches Bild von Partnerschaft – das »gleichberechtigte Modell« – als gemeinsamer Nenner herangezogen wird (Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zwei82 Aus systemischer Perspektive sind »Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit […] keine Entwederoder-Positionen, sondern bewegen sich auf einem Kontinuum« (Rotthaus, 2021, S. 508). Die Annahme, dass nur motivierte und freiwillige Ratsuchende beratungs- bzw. therapiefähig sind, ist inzwischen überholt (Conen & Ceccin, 2022).

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geschlechtigkeit). Nicht das Modell selbst wird verhandelt, die Aushandlungen im Beratungsprozess verweisen stattdessen auf normative Vorstellungen von Partnerschaft. Diese äußern sich besonders darin, dass der Mann als noch zu Gewinnender für Beziehungsthemen konstruiert und sich stärker an seinen Anliegen orientiert wird. Komplementär wird die Frau als an Beziehung Arbeitende konstruiert und dabei in der Lösungsfokussierung eher als zu schnell und zu viel Wollende wahrgenommen. Die Orientierung an der Dyade (re)produziert unbewusst normative Paarvorstellungen und adressiert den Mann als weniger veränderungsbereit, weil Beziehungsarbeit geschlechtsstereotyp nicht in dessen Aufgabenbereich gehört. Seine Ziele stehen damit stärker im Fokus der Beratung und werden eher zu allgemeinen Paarzielen deklariert. Mit diesem Hervorheben der Anliegen des Manns kommt es zu Machtungleichheiten. Das heißt, Adressierungen sind in Gefahr, durch latente Geschlechtsstereotype beeinflusst zu werden und damit gesellschaftliche Differenzen zwischen Mann und Frau in das Setting Paarberatung und dessen Struktur hineinzutragen bzw. zu (re)produzieren. In den rezipierten Studien (Unterkapitel 3.1 und 3.2) zeigen sich ähnliche Phänomene. So offenbart sich laut der Studie zu Sozialpädagogischer Familienhilfe eine »Markierung geschlechtlicher Kodierung, die von den Professionellen unreflektiert ausgeht und ein patriarchal organisiertes Geschlechterverhältnis« in Partnerschaften (re)produziert (Richter, 2013, S. 284). Forschungen im Jobcenter legen dar, dass genderbezogene Kategorisierungen »eher subtil, manchmal uneindeutig und von den Gesprächspartner/-innen unbemerkt im Gespräch verwendet werden« (Böhringer et al., 2012, S. 99). Vergeschlechtlichte Kategorisierungen werden bei den Gesprächen genutzt, um »Plausibilität herzustellen« (S. 134). Das zeigt, dass Gender bei diesen institutionellen Gesprächen »interaktiv (re-) produziert, aber nicht unbedingt reflexiv bearbeitet wird« (S. 136). Auch rekonstruktive Forschungen innerhalb von Paar- und Trennungsberatung beleuchten die differenziellen Kategorisierungen und deren Einfluss auf das Setting. Halatcheva-Trapp (2018) beschäftigt sich beispielsweise in ihrer Studie mit der Konstruktion von Elternschaft in Trennungs- und Scheidungsberatung und verdeutlicht, dass Beratende zentral handlungsleitend zwischen »Paarebene« und »Elternebene« unterscheiden (S. 125). Auf der Paarebene werden die emotionalen Dynamiken zwischen Müttern und Vätern verortet und der »persönliche Umgang mit der Trennung […] vergeschlechtlicht und indirekt mit Sorgequalitäten verknüpft« (S. 126). Frau und Mutter werden in diesem Diskurs selbstverständlich gleichgesetzt, während Vater und Mann separat verhandelt werden. Dabei wird die vergangene Paarbeziehung »aus einer Machtperspektive (um-)[ge]deutet« (S. 126). Halatcheva-Trapp zeigt u. a. auf, dass sich die Präferenz für die Mutterfigur im spezifischen Vokabular äußert, © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Diskussion der Ergebnisse

»welches den Müttern mehr Reflexivität, Selbstwirksamkeit und Klarheit im Vergleich zu den Vätern zuschreibt« (S. 126). Kirschenhofer und Kuttenreiter (2006, 2010, 2014) analysierten in ihrer Studie Paartherapien und fragten: »Durch welche kommunikativen und interaktiven Konstellationen werden heterosexuelle Interaktions- und Beziehungsmuster, die unserem Geschlechterverhältnis zugrunde liegen und Machtverhältnisse reproduzieren, aufrechterhalten?« (Kirschenhofer & Kuttenreiter, 2010, S. 81). Quintessenz ist, dass es »kommunikative Konstellationen und Gewebe [gibt], die als wirksam in Bezug auf die Stabilisierung bestehender Geschlechterverhältnisse gesehen werden können. Diese Konstellationen zeigen sich […], indem traditionelle Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit reproduziert werden« (S. 104 f.). Dabei kommen widersprüchliche Anforderungen an Männer und Frauen zutage (Kirschenhofer & Kuttenreiter, 2006, S. 66). Bezogen auf den theoretischen Ausgangspunkt zeigt sich die Bedeutung von Geschlecht in institutionalisierten Settings (Goffman, 2001). Die professionelle Situation wird innerhalb des Rahmens hergestellt und in der Situation bestätigt. Rahmung kann als fortwährende Herstellungspraxis definiert werden, bei der die Interaktionsteilnehmenden sich wechselseitig die Definition der Situation verdeutlichen (Soeffner, 2015). Die Interaktionsteilnehmenden stellen »implizit, kaum bewußt, für sich fest, was für sie die Situation ist oder sein sollte, und sie verhalten sich – bis auf weiteres – entsprechend« (Soeffner, 2015, S. 162). In professionellen Interaktionen institutionalisierter Settings wird ausgehandelt, »welchen Verhaltensspielraum man sich wechselseitig in den zumeist sehr klar definierten Rollen von KlientInnen und Professionellen zugesteht« (Sander, 2012, S. 26). Geschlechtliche Kategorisierungen beeinflussen diese Aushandlungen, denn das »therapeutische Gespräch hat einen vorbestimmten Inhalt, der durch die dominanten Diskurse in der jeweiligen Sprachgemeinschaft und Kultur vorgegeben wird« (Hare-Mustin, 1994, S. 205). Das, was als soziales Problem (Groenemeyer, 2010a) gesehen und gemeinsam in der Paarberatung hergestellt wird, ist geschlechtsabhängig. Geschlechtliche Konstruktionen sind ganz offenbar also eng verknüpft mit der Konstruktion von Adressat*innen. Besonders im Verfolgen der Anliegen und im Erarbeiten der Lösungen zeigt sich diese Verortung (Kapitel 6). Auch die latenten Konstruktionen von Adressat*innen innerhalb der Paarberatung zeigen sich davon nicht befreit, wie die vorliegende Forschung veranschaulicht. Die Aushandlung von Paarleitbildern und die Gestaltung von Paarbeziehungen erweisen sich dabei insofern als blinder Fleck, als genderorientierte Verantwortlichkeiten und deren Auswirkungen auf die Adressat*innenkonstruktion hervortreten. Probleme sollen in der Paarinteraktion, so allen Paarberatungen © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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gemein, und weniger aus subjektiver Perspektive formuliert werden. Es wird weniger an einem Krankheitsbild und dessen Bewältigung oder an der Aufarbeitung der Vergangenheit gearbeitet, sondern die Kommunikation und das Begegnen als Paar stehen im Fokus der Paarberatungen. Eine relationale Bedingtheit wird eingeführt – wenn gemeinsam Problem und Lösung besprochen werden, dann ermöglichen Kommunikation und Begegnung die Problembewältigung. Die Lösungen sind stets auf der Ebene des Paars angesiedelt. Es erfolgt ein Ringen darüber, wer der*die Hauptadressat*in dieser Paarberatung ist und damit auch diejenige Person, die etwas verändern kann bzw. soll. Im Verlauf kristallisiert sich die Frau als Hauptverantwortliche heraus, die in ihren Wünschen und Vorstellungen gebremst wird, aber auch diejenige ist, die als handlungsfähig adressiert wird. In allen drei Paarberatungen wird die Frau als Beziehungsverantwortliche adressiert. Jedoch ist der Umgang damit unterschiedlich: Es wird sich eine andere Rolle zugeschrieben (Co-Beraterin), die Adressierung angenommen oder sich dieser widersetzt. Der Mann wird als noch zu Gewinnender für die Paarberatungen adressiert und es kommt zu einer Orientierung an seinen (unterstellten) Anliegen bzw. Zielen, die dann als gemeinsame Anliegen bzw. Ziele gerahmt werden. Das gemeinsam besprochene Problem wird also keinesfalls gemeinsam, im Sinne von paritätisch, gelöst. Darüber hinaus soll die Frau einen größeren Anteil zur Lösung der vom Mann umrissenen Probleme beitragen. Überdies wird ein Paarmodell innerhalb der Paarberatung deutlich, dass davon ausgeht, dass Menschen ihre eigenen Gefühle und die des*der Partner*in hinterfragen (Illouz, 2016; Päivinen & Holma, 2016). Selbstreflexion und Selbstthematisierung des Einzelnen sollen einen intimen Austausch in der Paarbeziehung ermöglichen (Burkart, 2008, S. 244). Es wird zur Verpflichtung, sich mitzuteilen und miteinander zu kommunizieren (Lenz, 2009, S. 288). Paarberatung weist diese Struktur ebenfalls auf und adressiert dahingehend. Auch in theoretischen Diskursen zu (systemischer) Paarberatung, -therapie, -psychotherapie erfolgt immer mehr eine Auseinandersetzung mit Gender (Ebbecke-Nohlen, 2000a; Hare-Mustin, 1994; Kirschenhofer & Kuttenreiter, 2006; McGoldrick, Anderson & Walsh, 1991; Schigl, 2018; Welter-Enderlin, 1996). Für die systemische Paar- und Familienberatung sind »das kritische Beobachten herrschender und marginalisierter Diskurse und die daraus resultierenden Vorstellungen geschlechtlicher Konstruktionen« (Grubner, 2013, S. 103) bedeutsam.83 Insbesondere bedarf es einer fortwährenden kritischen 83 Kirschenhofer spitzt die langatmige Debatte in der deutschsprachigen systemischen Szene folgendermaßen zu: »Die systemische Familientherapie im deutschsprachigen Raum ist meiner Einschätzung nach eine psychotherapeutische Methode der Geschlechtsvergessenheit

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Diskussion der Ergebnisse

Diskussion systemischer Haltungen und Postulate. So wurde das Konzept der Neutralität als »versteckte Parteilichkeit gegen Frauen entlarvt« (Grubner, 2013, S. 105). Neutralität gegenüber dem Geschlecht ist nicht möglich, denn schließlich sitzen wir »als sozial gewordene Männer und Frauen unseren männlichen und weiblichen Klienten gegenüber und interagieren mit diesen verbal und nonverbal in einem komplexen Geschehen, das sich – durch die Unmittelbarkeit und den Handlungsdruck – der Selbstreflexion über weite Strecken entzieht« (Kirschenhofer & Kuttenreiter, 2006, S. 80 f.). Auch das Konzept der Allparteilichkeit kann sich diesen Machtdiskursen nicht entziehen (Kirschenhofer, 2014, S. 178; Kirschenhofer & Kuttenreiter, 2010, S. 87). Und hier resultieren Konsequenzen für Adressat*innenkonstruktionen und somit das Setting der Paarberatung, da die geschlechtszusammenhängenden Ausgrenzungs- und Marginalisierungsprozesse differente Adressat*innenkonstruktionen bewirken.

7.2 Adressierung als Strukturierungsaspekt systemischer Paarberatung – eine Erweiterung institutioneller Kommunikationsformate Vor allem englische (qualitativ-rekonstruktive) Forschungen zu Paarberatung und -therapie zeigen differente Perspektiven auf dieses Phänomen (Borcsa & Rober, 2016b; Lebow, 2018; Tseliou & Borcsa, 2018). Als kleinsten gemeinsamen Nenner fassen sie zusammen, dass die Arbeit mit Paaren in Paartherapien und -beratung, »entails working with structural aspects of mankind as social and discursive beings as well« (Borcsa & Rober, 2016b, S. 172). Diese strukturellen und diskursiven Aspekte beziehen sich nicht nur auf die Personen selbst, sondern auch auf das Setting und dessen Struktur. Praxis findet in einer »›polykontexturalen‹ Gleichzeitigkeit verschiedenster Funktionsbezüge statt, die das intentionale Bewusstsein des Einzelnen überschreiten und deren Prioritäten in kommunikativen Prozessen immer wieder ausgehandelt werden müssen« (Vogd, 2002, S. 323). Goffmans Rahmenanalyse geblieben, die aufgrund der konservativ-männlichen Dominanz der Theoretiker im Schreiben und Lehren die zweite Frauenbewegung mit beharrlicher Resistenz ›unbeschadet‹ überstanden hat« (Kirschenhofer, 2019, S. 27).

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Adressierung als Strukturierungsaspekt systemischer Paarberatung

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kann behilflich sein, diese Gleichzeitigkeit sichtbar zu machen. Mit der Objektiven Hermeneutik konnten Spannungsfelder rekonstruiert werden: Sie ergeben sich aus Perspektive der institutionell verorteten Kommunikation. Bedeutsamkeit und Notwendigkeit, Psychotherapie als institutionelle Kommunikation zu verstehen, wurde in Studien, besonders im medizinischen Kontext, verdeutlicht (Peräkylä, Antaki, Vehviläinen & Leudar, 2008). Ein Aspekt der institutionellen Kommunikation ist das Hervorbringen bzw. das Konstruieren von Adressat*innen. Mithilfe der Rahmenanalyse und der Bedeutungsebenen der Adressat*innenherstellung durch Untersuchung der Mikroebene konnten strukturelle Komponenten nachgewiesen werden, die Auswirkungen institutioneller Kommunikation auf das Setting belegen. Das Spezifische der Paarberatung – die institutionelle Kommunikation – konnte herausgearbeitet werden. Die Perspektive der Bedeutungsebenen der Adressat*innenherstellung ermöglicht eine Beratungsstrukturreflexion, die die Einflüsse der institutionellen Kommunikation verdeutlicht. Ein Vier-Personen-Setting wie die Paarberatung weist besonders angesichts divergierender Problemdeutungen, Motivationslagen und zu bearbeitender Themen eine hohe Komplexität auf (Ebbecke-Nohlen, 2014, S. 346; Schär, 2016, S. 58 f.). Der in dieser Forschung erarbeitete Strukturansatz, der die Institution Paarberatung und ihren Einfluss nicht nur auf das Paar, sondern auf das Setting in den Blick nimmt, stellt eine Fokuserweiterung auf institutionelle Kommunikationsformate dar. Mit dieser Perspektive rückt die Bearbeitung institutioneller Strukturprobleme in den Fokus. Besonders die beiden folgend benannten Spannungsfelder verdeutlichen, wie fragil das Setting Paarberatung ist und Strukturen gemeinschaftlich ausgehandelt werden (müssen). a) Art der Beratungsprozess-Strukturierung: 1. Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin 2. Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten 3.  b) Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit: 1. Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft 2. Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung – Orientierung an dem Anliegen des Manns 3. Frau als an der Beziehung Arbeitende – Eingrenzung von Erwartungen Den Ansätzen und Arbeitsweisen der Paarberatung ist gemeinsam, dass Probleme relational betrachtet werden. Paarberatung konzentriert sich auf Veränderung und bezweckt eine Verbesserung der Paarinteraktion, um die © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Diskussion der Ergebnisse

Beziehungsqualität zu erhöhen (Roesler, 2018). Die soziale Konstellation, dass beide Paarteile die Paarberatung aufsuchen, verweist auf eine weitere Gemeinsamkeit von Paarberatungen: Paarprobleme sind zirkulär und reziprok zu verstehen. Paare als System zu verstehen und somit als gemeinsame Dyade von Beratung anzusprechen, ist in weiten Teilen dem systemischen/familientherapeutischen Ansatz (Unterkapitel 2.1) zu verdanken. Menschen konstruieren ihre Wirklichkeit, indem sie miteinander kommunizieren. Die Interaktion erfolgt durch das Medium der Sprache. Beratungen und so auch Paarberatungen sind »Formen der Kommunikation« (Simon, 2019, S. 7; Herv. i. Orig.). Kommunikation verbindet Personen miteinander und lässt somit ein soziales System, hier ein Beratungssystem, entstehen (Simon, 2019, S. 21 f.). Beratung verdeutlicht als institutionalisierte Form hilfreicher Kommunikation die Verzahnung von Interaktion mit institutionellen Vorgaben (Bauer, 2016). Dies wurde hinsichtlich Paarberatung mit dieser Forschung erneut deutlich. Darüber hinaus zeigt sich, dass systemische Paarberatung und deren institutionelle Verortung durch die »dominanten Diskurse in der jeweiligen Sprachgemeinschaft und Kultur« (Hare-Mustin, 1994, S. 205) beeinflusst sind. Deren Wirkmächtigkeit zeigt sich in der Konstruktion von Adressat*innen und somit in der Struktur des Settings Paarberatung. Es bedarf daher einer Sensibilität für Paarberatungsstrukturen und deren Reflexion: Paarberatungsstrukturreflexion kann behilflich sein, die individuellen Praktiken der Berater*innen kritisch zu prüfen, um normative Ansprüche an Adressat*innen, die hier an das Geschlecht gebunden sind, und an das Setting bestenfalls zu offenbaren. Die Adressierungsperspektive hilft, diese Strukturierungsleistungen differenzierter wahrzunehmen.

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8 Limitationen und Reflexion des Forschungsprozesses

Eine relevante Limitation vorliegender Studie ist der Einfluss des Forschungsprojekts als institutionelles Setting auf die Paarberatung. Besonders der Umfang der Beratungssitzungen erweist sich als Einflussgröße. Zwar wurde in den Vorgesprächen mitgeteilt, dass die Anzahl begrenzt sein würde. Bei einigen, wie in den Rekonstruktionen deutlich wurde, war das aber präsenter als bei anderen. Forschungsethisch ist dies bedenklich, da sich hier Paare mit einem Leidensdruck in Beratung begeben haben. Auch wenn strukturelle Rahmenbedingungen der Forschung für ein vorzeitiges Ende des Beratungsprozesses sorgen, muss eine Überführung in ein anderes Unterstützungssystem erfolgen. Die Forschungsstruktur hätte transparenter gemacht werden müssen. Dies wurde besonders in den letzten Sitzungen deutlich, als die Adressierung als Forschungsfall dominant war. Auch kann hier, selbst wenn von natürlichen Protokollen die Rede ist, nicht der Forschungskontext verleugnet werden, der sich immer wieder in den Aussagen zeigt. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass der Forschungskontext die Paarkrise noch stärker hervorbringt. Denn es ist auch mit einer Kränkung verbunden, wenn Hilfe/Unterstützung von außerhalb gesucht wird, weil die Krisen nicht selbst gelöst werden können. Und dies passiert in einem Kontext, der durch den Forschungszusammenhang verschärft ist. Der Erwartungsdruck, das eigene Scheitern eingestehen zu müssen, ist vor einem Publikum noch höher. Forschungsethisch ist die Involviertheit des Forschungsprojekts aber ohne Alternative, da ein »natürliches« Paarberatungsgespräch nur ohne Wissen der Teilnehmenden um den forschenden Zugriff hätte stattfinden können. Aus forschungsethischen Gründen ist jedoch ein Einverständnis aller Beteiligten zwingend notwendig (siehe 4.3.1). Die Teilnahme an der Forschung bringt die Adressat*innen in die Position, nicht nur Bittsteller*in zu sein bzw. einen Rat zu erfragen, sondern auch etwas zur Forschung beizutragen. Die eigene Person und die Besonderheit des Problems werden damit hervorgehoben und gewinnen an Gewicht. Limitierend wirkt hier, dass Paarberatungen in den meisten Fällen selbst zu bezahlen sind (siehe 1.2.2) und somit ein Reziprozi© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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tätsproblem besteht. Die Frage, ob es sich bei diesen Gesprächen letztlich um genuine Beratungs- oder Therapiegespräche handelte, wurde in diesem Kontext zunächst hintenangestellt. Entscheidend war vielmehr, welche Strukturen sich in diesem Setting zeigten und in der Interaktion verhandelt wurden. Eine Abgrenzung zu psychotherapeutischen Paargesprächen erfolgte (siehe 1.2.1). Als weitere Einschränkung ist die vereinfachte Transkriptionsweise zu nennen. Die Transkription eines Mehr-Personen-Gesprächs stieß an Grenzen, wenn es um die nonverbale direkte Ansprache von Personen ging. Die Komplexität hätte stark zugenommen, wenn vermehrt nonverbale Kommunikation erfasst worden wäre (Franzmann, 2016). Forschungspragmatisch wurden bei nicht eindeutigen Sequenzen wiederholt die Videoaufnahmen konsultiert, beispielsweise um zu überprüfen, ob eine oder mehrere Personen im Transkript mit »Sie« gemeint war. Das Videomaterial stellte daher eine notwendige Ergänzung der Transkripte dar. Kritisch einzugehen ist ebenfalls auf das Sampling, das sich ausschließlich aus heterosexuellen und weißen Paaren zusammensetzte. Der kritisch-rekon­ struktive Blick auf den Aufruf/die Werbung für die Paarberatung in einer Interpretationsgruppe verdeutlichte, dass nur eine bestimmte Art von Paaren adressiert wurde, nämlich solche, bei denen keine stark akuten Krisen vorherrschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Paare melden, die sich in einer/m dringlichen Krise/Konflikt befinden, war eher gering. Es zeigt sich, welche Form der Paare durch den Aushang angesprochen wurden und welche nicht. Auch vor diesem Hintergrund müssen die Rückschlüsse auf Adressierungen eingegrenzt werden. Es können keine Aussagen über die Konstruktion von Adressat*innen bei Paarberatungen mit diversen Paaren und Berater*innen getroffen werden, z. B. mit nicht binären Menschen, Paaren mit Migrationshintergrund oder einer Be_Hinderung. Somit »bleibt für die deutschsprachige Paarforschung noch einiges zu tun« (Wimbauer & Motakef, 2017, S. 51). Zudem wurden sex und gender (Butler, 1991) hier nicht dekonstruiert und deren Notwendigkeit für die systemische Beratung/Therapie verdeutlicht (siehe dazu Grubner, 2013). Der Besuch von Forschungswerkstätten und Interpretationskolloquien war unerlässlich, besonders für die Reflexion der eigenen Position und Rolle innerhalb der Forschung. Bei der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem eigenen Material und dem der Mitstreiter*innen wurde insofern Übersetzungsarbeit geleistet, als Multiperspektivität und (De-)Konstruktion von Wirklichkeit die Komplexität des Forschungsprozesses aus eigener Perspektive erhöhten. Der wechselseitige Austausch in der Forschungswerkstatt stellt ein Gütekriterium qualitativer Forschung dar, da er Transparenz und Reflexion des Forschungsprozesses erhöhte bzw. verstärkte (Steinke, 2015). © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Für Paare besteht von Beginn der Beziehung an die Notwendigkeit, in einen gemeinsamen Aushandlungsprozess über ihr Paarsein einzutreten. Diese He­ rausforderung erweist sich häufig als zentraler Konfliktpunkt gelingender Partnerschaft (König, 2020). Das gemeinsame Gespräch ist wesentlich für diesen wechselseitigen Austausch und besitzt eine herausgehobene Bedeutung hinsichtlich der Aushandlungsprozesse. Keine länger bestehende Zweierbeziehung kommt ohne Krisen aus (Illouz, 2011; Lenz, 2009). Paarberatung und -therapie wurden als spezielle Kommunikationsformate (Engel, Nestmann & Sickendiek, 2018, S. 86) vorgestellt, die Ausgestaltung und Aushandlung von Paarbeziehungen unterstützen können. Sie sind »eine Intervention mit dem Ziel, die Beziehungsqualität und -stabilität zu verbessern, d. h. die Zufriedenheit beider Partner mit der Beziehung zu erhöhen sowie eine Trennung zu verhindern« (Roesler, 2018, S. 334). Unabhängig vom Thema der Paarberatung geht es den hier erarbeiteten Resultaten nach darum, ein Kommunikationssystem zu gestalten, obwohl dieses von den Beteiligten nicht einseitig zu steuern und zu kontrollieren ist (Simon, 2019, S. 8). Damit nehmen nicht nur die behandelten Inhalte, sondern vor allem auch die in der Beratung gelernte Kommunikation beträchtlichen Einfluss auf die Aushandlung der Paarbeziehung. Wesentlich ist zudem, dass durch Kommunikation auch das Beratungssystem selbst ausgehandelt wird. Erstgespräche sind ein bedeutsamer Ort, an dem die formalen und methodischen Rahmen und Regeln der Beratung interaktiv zwischen allen Beteiligten konstruiert werden (Bauer & Bolay, 2013). Dabei erfolgt »die Einsozialisation in die spezifische Form der institutionell vorgesehenen beraterischen Kommunikation« (Bauer, 2014, S. 234). Die empirischen Analysen von Erstgesprächen zeigen deutlich, dass Ratsuchende über institutionelle Kommunikation zu Klient*innen bzw. Adressat*innen »gemacht« werden (Bittner, 1981). Ergänzend zu der Rahmenanalyse nach Goffman (1980) verdeutlicht die Rekonstruktion der latenten Adressierungsprozesse konkrete Herausforderungen helfender Kommunikation. Hierzu zählen die interaktive Prozessierung © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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bzw. Konstruktion der Rollen, »mit denen die am Beratungs­gespräch Beteiligten ständig umgehen müssen, d. h. unabhängig davon, ob gerade Pro­blem­ sachverhalte rekonstruiert oder Lösungen gesucht, vorgeschlagen oder plausibilisiert werden« (Nothdurft et al., 1994, S. 15). Diese Konstruktionsleistungen im Adressierungsprozess sind – so konnte verdeutlicht werden – abhängig von gesellschaftlicher und sozialpolitischer Rahmung, organisationalen und institutionellen Ebenen und professionellen Interaktionen (Bitzan & Bolay, 2017; Graßhoff, 2015). Ergänzend zur Rekonstruktion von Adressierungsprozessen im Kontext psychosozialer Gespräche, die in der Sozialen Arbeit vermehrt untersucht wurden (Unterkapitel 3.1), generiert die vorliegende Studie zu Paarberatung neues Wissen im Kontext der Adressierung in Mehr-Personen-Settings. Mit den forschungsleitenden Fragen 1. Welche latenten Adressat*innenkonstruktionen werden in Erstgesprächen von Paarberatung sichtbar? 2. Wie beeinflussen diese Adressat*innenkonstruktionen den Umgang mit den Herausforderungen moderner Paargestaltung innerhalb systemischer Paarberatung? wurde der Blick auf die Ko-Konstruktion, also die gemeinsame Herstellung des Handlungsfelds durch die Professionellen und die Paare geworfen. Dabei wurde Oevermanns Grundannahme gefolgt, dass die Strukturen der Konstruktion von Adressat*innen regelerzeugtes und regelgeleitetes Handeln darstellen (Oevermann, 1993), aber den Beteiligten dabei explizit unbekannt sind (Soeffner, 2015, S. 168), »obschon sie sich strukturorientiert verhalten und diesen Sinn immer wieder selber herstellen« (Fischer, 2013, S. 110). Damit fokussierte sich die Analyse darauf, welche Strukturen oder – um mit Goffman (1980) zu sprechen – welche Rahmen sich hinsichtlich der Adressierungen in Paarberatung (re)konstruieren lassen. Die dargelegte Sequenzanalyse dreier systemischer Paarberatungen im Vergleich der Erst- und Letztgespräche eröffnet über den Fallvergleich differente Perspektiven auf die Konstruktion von Adressat*innen. Deutlich wurde, dass der Prozess des Adressierens durch kommunikative Aushandlungen zwischen allen Beteiligten bestimmt wird, jedoch zwischen den Einzelpersonen und den Dyaden (Paar und Beratungsteam) changiert. Adressierungen in solchen Mehr-Personen-Settings sind maßgeblich durch zwei sich wechselseitig beeinflussende Dimensionen determiniert: a) Art der Beratungsprozess-Strukturierung: 1. Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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2.  Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz 3. Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten b) Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit: 1. Aushandlung normativer Vorstellungen von Partnerschaft Mann als noch zu Gewinnender für die Paarberatung – Orientierung an 2.  dem Anliegen des Manns 3. Frau als an der Beziehung Arbeitende – Eingrenzung von Erwartungen a) Adressierung als Herausforderung in der Beratungsprozess-Strukturierung

Die Sequenzanalyse der Paarberatungs-Transkripte hat gezeigt: Die Struktur der Paarberatung erfordert, dass Probleme in Bezug auf die Paarinteraktion und weniger aus subjektiver Perspektive formuliert werden (die Orientierung an der Dyade des Paars als Adressatin). Die zukünftige Kommunikation und das Begegnen als Paar stehen im Fokus. Die Macht über Problemdefinitionen changiert zwischen den einzelnen Partner*innen (Mann oder Frau) oder beim Beratungsteam (Berater oder Beraterin). Anhand der Adressierungen kann das Ringen der Dyaden (das Paar selbst, aber in der Regel die Einzelpersonen und das Berater*innenteam) um die Strukturierungsmacht erkannt werden. Eng verknüpft damit ist das Changieren zwischen Reflexion und Handlungsveränderung sowie zwischen Einzelperson- und Paarperspektive. Die Lösungen aber sind stets auf der Ebene des Paars angesiedelt. Ferner wird Freiwilligkeit bei beiden Partner*innen unterstellt, dieses Setting aufzusuchen, um ein Problem zu lösen. Mit dem rekonstruierten Spannungsfeld der Freiwilligkeit und Veränderungsbereitschaft als zu überbrückende Differenz wurde verdeutlicht, dass weder die Freiwilligkeit noch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Hilfe/Unterstützung zwangsläufig Veränderungsbereitschaft mit sich bringt. Diese muss im Beratungsprozess selbst immer wieder neu hergestellt werden. Mit dem Bewusstsein um notwendige Veränderung wird unterstellt, dass beide Partner*innen auch individuell veränderungsbereit sind. Die Ambivalenz dahingehend zeigt sich in dem Umgang des Paars mit der Adressierung von Veränderungsbereitschaft (siehe 6.1.3). Und so adressieren Berater*innen beide Partner*innen trotz wahrnehmbarer Widerstände als Veränderungsbereite. Auch im Spannungsfeld »Neue Routinen auf der Reflexions- und/oder Handlungsebene erarbeiten« zeigt sich die Anfälligkeit des Settings. Es geht in den Paarberatungen eher um eine Zukunftsorientierung der Beziehung, die entweder mit Lösungsangeboten auf der reflexiven Ebene, durch Erkennen neuer Sichtweisen und Denkprozesse oder durch konkretes Erarbeiten von Handlungen initiiert wird. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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b) Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit

Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass in Paarberatung ein spezifisches Bild von Partnerschaft – das »gleichberechtigte Modell« (»Geschlechtliche Differenzierungen und Strukturen der Zweigeschlechtigkeit«) – als gemeinsamer Nenner herangezogen, selbst aber gar nicht verhandelt wird. Die Aushandlung im Beratungsprozess verweist stattdessen auf normative Vorstellungen von Partnerschaft. Diese äußern sich besonders darin, dass der Mann als noch zu Gewinnender für Beziehungsthemen konstruiert und sich stärker an seinen Anliegen orientiert wird. Komplementär wird die Frau als an Beziehung Arbeitende konstruiert und im Hinblick auf eine Problemlösung eher als zu schnell und zu viel Wollende wahrgenommen. Adressierungen laufen folglich Gefahr, durch latente Geschlechtsstereotype beeinflusst zu werden und damit gesellschaftliche Differenzen zwischen Mann und Frau in das Setting Paarberatung und dessen Struktur hineinzutragen bzw. zu reproduzieren. Die Art und Weise der Krisenbearbeitung des Paars hängt von den im Beratungsprozess dominierenden Adressierungen ab. Die vorliegende Studie verdeutlicht die Abhängigkeit der Adressierungen von der Strukturierung des Paarberatungsprozesses und geschlechtlichen Differenzierungen im System der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit. Anhand der rekonstruierten Spannungsfelder wird deutlich, dass die Prozesse der Adressierungen thematisiert werden müssen. Ohne Reflexion dieser Einflüsse (gesellschaftliche Erwartungen, subjektive Annahmen, Normen etc.) auf Adressat*innenkonstruktionen kann möglicherweise nicht zwischen unterschiedlichen Ansprüchen ausbalanciert werden und dadurch a) das Paar adressiert werden als in problematischer Kommunikation und Subjektfokussierung gefangen, und neuen Sichtweisen und Adressierungen gegenüber widerständig und/oder b) bei Veränderung des Paars stereotype Paarleitbilder unbewusst (re)produziert und damit Frauen mehr Veränderungspotenzial zugeschrieben werden. Zusammengefasst zeigt sich Paarberatung als institutionalisiertes Setting vor allem im Adressierungsprozess fragil. Adressierung vollzieht sich unter wechselseitigem Zugriff auf Kommunikation. Erst durch Adressierung ist eine zeitweise Problembearbeitung innerhalb eines Erstgesprächs möglich. Paarberatung/­ -therapie erfordert ein Abweichen von Alltagskommunikation, die in der Regel die Einzelsubjekte fokussiert (Froude & Tambling, 2014). Eine Adressierung als Paardyade kann als fremd empfunden werden, sodass sich Paare widerständig zeigen und der Fokus der Problembearbeitung neu gesetzt werden muss, um an dem Problem arbeiten zu können. Somit sind Berater*innen immer wieder mit Widerständen bei der Adressierung konfrontiert, die es permanent auszuhandeln gilt. Die Sequenzanalyse machte derartige Widerständigkeit auf der © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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Strukturierungsebene (Unterkapitel 6.1) und auf der Geschlechtsebene (Unterkapitel 6.2) sichtbar. Berater*innen und Adressat*innen verhandeln die Struktur von Erstgesprächen (Nothdurft et al., 1994; Pick, 2017; Wahlström, 2018) – und dies kann auch scheitern. Mit Blick auf die Prozesse von Adressierungen und Re-Adressierungen werden Gelingen und Scheitern gemeinsamer Paarberatungsstrukturierungen besser verständlich. Mittels der Bedeutungsebenen der Adressat*innenherstellung kann eine intensivere Reflexion der Beratungsstruktur vorgenommen werden, die die Einflüsse der institutionellen Kommunikation im Adressierungsprozess verdeutlicht. Es wird möglich, professionelle Praktiken kritisch dahingehend zu prüfen, ob diese z. B. durch normative Ansprüche an Adressat*innen überformt sind. Aus Adressierungsperspektive können diese latenten Strukturierungsleistungen differenzierter wahrgenommen werden. Gerade für die systemische Paar- und Familienberatung und -therapie sind »das kritische Beobachten herrschender und marginalisierter Diskurse und die daraus resultierenden Vorstellungen geschlechtlicher Konstruktionen« (Grubner, 2013, S. 103) bedeutsam. Insbesondere ist nach wie vor eine machtkritische Diskussion systemischer Haltungen, wie Neutralität und Allparteilichkeit, notwendig. Denn nicht nur durch geschlechtsbezogene Ausgrenzungs- und Marginalisierungsprozesse kommt es zu differenten Adressat*innenkonstruktionen. Auch die Fragilität des Mehr-Personen-Settings erfordert es, sich reflexiv mit den eigenen Adressierungsstrukturen auseinanderzusetzen sowie diverse Rollen und Interessen auszubalancieren. Nicht-Reflexion von Adressierungswiderstand oder Ablehnung der Adressierung birgt die Gefahr des Beratungsabbruchs seitens der Paare. In der Adressierung als Teil eines Paars liegt wiederum das Risiko, Geschlechterstereotype zu (re)produzieren. Wenn Berater*innen reflexiv zugänglich ist, wen sie wie adressieren, zeigen sich das Problem des Paars und dessen Lösung deutlicher. Adressierung kann somit helfen, die Komplexität eines Erstgesprächs aufzudecken und gegebenenfalls zu senken. Komplexitätsreduzierung sollte indes nicht einseitig in einer stärkeren Beratungsstrukturfokussierung enden, da die Gefahr besteht, den Fallbezug in den Hintergrund rücken zu lassen. Adressierung kann somit als Spezifizierung der prozesshaften Fallkonstitution (Bauer, 2010, 2016; Rüegger, 2021) verstanden werden. Über die von Bauer dargelegten organisatorischen Bedingungen der Fallkonstitution hinaus werden mit Adressierungen die Strukturen der institutionellen Kommunikation innerhalb der Fallkonstitution dezidierter ausbuchstabiert. Die vorgestellten Spannungsfelder (Kapitel 5) rekonstruieren die dominanten Diskurse bezogen auf die Forschungsfrage. Daneben sind marginalisierte Spannungsfelder, die die Forschungsfrage streifen, erkenntlich: beispielsweise © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666400261 | CC BY-NC-ND 4.0

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wie Gewaltdiskurse innerhalb der Partnerschaft (Brückner, 2020) die Kon­ struktion von Adressat*innen beeinflussen. Auch wurde ersichtlich, dass der Prozess des Ausklingenlassens bzw. die vorstrukturierten Abschlüsse der vorhergehenden Sitzung Adressierungen tangieren. Für weiterführende Forschungen könnten sich hieraus relevante Anschlussfragen ergeben. Die Spannungsfelder illustrieren zudem, dass Adressierungen Einfluss auf die Zusammenarbeit innerhalb des therapeutischen Systems haben. Zulässig scheint hier die Schlussfolgerung, dass Adressierungsprozesse und -konstruktionen eine Vorlagerung der therapeutischen Beziehung bzw. Arbeitsbeziehung sind, da vermittels Adressierungen die Rollenverständnisse von Berater*innen und Adressat*innen und auch die Struktur von Paarberatung verhandelt werden. Dieses Phänomen bedarf weiterer prozessorientierter Forschung, die den Verlauf einer Paarberatung vollumfänglich in den Blick nimmt. Mit der Rekonstruktion der kommunikativen Prozesse der Adressierungen können auch Aussagen über die Prozesse der alltäglichen Paarkonstruktion getroffen werden. Wie sich Paare in Beratung und Therapie zeigen, lässt Rückschlüsse auf das Alltagsverhalten der Partner*innen zu (Borcsa, 2016). Besonders die Orientierung an Geschlechterrollen wird erkenntlich – und auch dieser Zusammenhang bietet weiteren Forschungen Ansatz.

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Anhang: Transkriptionsregeln nach Lamnek & Krell (2016)

(.) kurze Pause (