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German Pages 352 Year 2001
Wolfgang Schneider ΟΥΣΙΑ und ΕΥΔΑΙΜΟΝΙΑ
W DE G
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland
Band 50
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001
ΟΥΣΙΑ und ΕΥΔΑΙΜΟΝΙΑ Die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles
von Wolfgang Schneider
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — ClP-FJnheitsaufnahme
Schneider, Wolfgang: Ουσία [Ousia] und Ευδαιμονία [Eudaimonia] : die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles / von Wolfgang Schneider. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 50) Zugl.: Greifswald, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-016901-0
© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
matri mortuae meae
Vorwort
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine, nur in wenigen Punkten überarbeitete Dissertation, die Ende 1998 an der Universität Greifswald angenommen wurde. Für Hinweise zur Überarbeitung danke ich den Herausgebern. Ich hoffe, daß das Buch, das nicht immer einfach zu lesen ist, nicht nur Impulse für die Aristoteles-Forschung geben, sondern auch dem allgemein philosophisch interessierten Leser wichtige Einblicke in die aristotelische Philosophie eröffnen kann, die hier auf eine neue Weise interpretiert wurde. Für eine möglichst kritische Reflexion meines Buches - die wegen meiner Gedanken zu dem (bisher weithin unbeachteten) Zusammenhang zwischen den Begriffen der Ousia und der Eudaimonia, zur triadischen Struktur des Begriffs Ousia und ihrer Affinität zum Strukturprinzip des Syllogismus, zur Theorie des unbewegten Bewegers und zum Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch fast unausbleiblich ist wäre ich sehr dankbar, da sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Philosophie des Stagiriten nur befördern kann. Inhaltlich habe ich von den Diskussionen mit Freunden und Kollegen profitiert, die mir mit kritischen Kommentaren und sowohl philosophischen wie philologischen Hinweisen zur Seite standen. Besonderer Dank gilt hierfür Pierre Aubenque, Johannes Rohbeck, Günther Mensching, Martin Hose, Dirk Hansen, der sich obendrein der Mühe unterzogen hat, meine Arbeit Korrektur zu lesen, Reimund Meffert, der mir unschätzbare Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage geleistet, und last, but not least Werner Stegmaier, der als mein Mentor die Arbeit in all ihren Stadien ebenso kritisch wie wohlwollend begleitet hat. Ferner danke ich meiner Frau, Bettina Bock, und meinem Vater, Rudolf Schneider, die mir beide in den schwierigen Zeiten meiner Arbeit den Rücken stärkten. Wolfgang Schneider
Inhaltsverzeichnis Vorwort Siglenverzeichnis
Einleitung I. Eudaimonia und Akt Eudaimonia als Tugend-Akt und die Differenz von dianoëtischer und ethischer Tugend
VII ΧΙΠ
l 17
17
Die Differenz von dianoëtischer und ethischer Tugend
27
Die Prohairesis (Entscheidung) als Quell der Praxis
37
Freiwilligkeit und Entscheidung
39
Vernunft und Entscheidung
53
Tugend als έξις und die Differenz von έξις (Haben) und χρησις (Gebrauch)
61
Die richtige Entscheidung im Sinne der Phronesis
61
Phronesis und Tugend als Formen des Gebrauchs
75
Die Bedeutung der έξις-χρησις-ϋίΐίεΓβηζ für die aristotelische Ethik überhaupt und ihr metaphysischer Hintergrund 80 Akolasie und Akrasie
88
X
Inhaltsverzeichnis Der Gebrauch als Akt in der Differenz von Poiesis und Praxis Ethische Praxis und Poiesis
98 98
Die Theorie (Denken) als vollendete Form von Praxis
106
Die Praxis als entscheidungsrelevante Handlung und als Theoria
113
II. Akt und ousia Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon Die ousia-Trias im Modell der Dihairesis Die O MÍ ¿α-Trias und die Trias des beweisenden Schlusses
123 123 131 141
Die Extreme der OMs/a-Trias als Grenzen des Denkens
167
Die Orientierung des aristotelischen Denkens am endoxon
171
Die Orientierung des aristotelischen Denkens am Logos
177
Einzelnes und Allgemeines
180
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt Die oiiiia-Trias in Met. Ζ und Η
187 190
Das είδος als αιτία του είναι, μέσον, Akt, Differenz, Definition und τί ην ε'ίναι (τηε) 200 Gattung und Materie
210
Das Potenz-Akt-Verhältnis in Buch Theta
220
Die Eudaimonia als das teleiotaton der Metaphysik
220
Reine Potentialität und reine Aktualität. Reine Materie und reine ousia als Extreme der Gesamtheit des Seienden
235
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem. Das unbewegt Bewegende
243
Inhaltsverzeichnis
ΙΠ. ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
XI
271
Begierde und Entscheidung - Kardinalbegriffe sowohl der Ethik wie der Metaphysik 271 Der Satz des Widerspruchs
272
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten
289
Die Begierde als Lust und die Differenz von entelechischer und nichtentelechischer Lust
290
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia und die Differenz von bios theoretikos und bios politikos 295
Der »metastrophische« Charakter der aristotelischen Philosophie (Resümee)
311
Bibliographie
319
Personenregister
335
Sachregister
337
Siglenverzeichnis In der Arbeit werden für das aristotelische Werk folgende Abkürzungen verwendet: Nikomachische Ethik (= Ethica Nicomachea) Eudemische Ethik (= Ethica Eudemia) Große Ethiken (= Magna Moral ia) Metaphysik Politik Physik Über Werden und Vergehen (De generatione et corruptione) Über die Seele (= De anima) Über die Verfassung der Athener (= Athenaion Politela) Kategorien (= Categoriae) Über den Satz (= De interpretatione) Erste Analytiken (Analytica priora) Zweite Analytiken (Analytica posteriora) Topik Sophistische Widerlegungen (Sophistici elenchi) Metereologie (= Meteorologica) Rhetorik (Ars rhetorica) Über die Teile der Tiere (De partibus animalium) Über die Bewegung der Tiere (De motu animalium) Über die Erzeugung der Tiere (De generatione animalium) Protreptikos Für das gesamte aristotelische Werk (Corpus Aristotelicum) steht:
EN EE MM Met. Pol. Phys. De gen. et corr. De an. Ath. pol. Cat. De int. An. pr. An. post. Top. Soph. el. meteor. Rhet. De part, animal. De mot. anim. De gen. anim. Protr. CA
Was die Zitationen betrifft, folge ich den Oxforder textkritischen Ausgaben. Dies trifft auch für die Zitierung der Kapitel von EN zu, die nach der Kapiteleinteilung der Edition von Bywater (bei ihm in römischen Ziffern), nicht nach
XIV
Siglenverzeichnis
der Kapiteleinteilung der Akademie-Ausgabe (bei Bywater in arabischen Ziffern), die die meisten deutschen Übersetzungen von EN haben, erfolgen wird. Die Zitate werden, wenn sie nicht im Original wiedergegeben werden, durchweg von mir übersetzt.
Einleitung Die Eudaimonia ist ein Akt (Verwirklichung) der Seele im Sinne der Tugend ( ψ υ χ ή ς ε ν έ ρ γ ε ι α τις κ α τ ' ά ρ ε τ η ν 1 ) - in dieser Bestimmung des Glücks, die Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen
Ethik ( E N ) entwickelt und die
der Ausgangspunkt ist für den weiteren Aufbau der EN, ist ein Zusammenhang ausgedrückt, um den es in der vorliegenden Untersuchung geht: der Zusammenhang zwischen der theoretischen Philosophie (der Metaphysik, der Ersten Philosophie oder einfach der Weisheit, σ ο φ ί α 2 ) und der praktischen Philosophie (der
Vgl. E N I 13, 1102 a5-6. Es gibt unterschiedliche Namen für die Wissenschaft vom Seienden qua Seiendes, das der Untersuchungsgegenstand desjenigen aristotelischen opus ist, das in der Philosophiegeschichte unter dem Namen Metaphysik überliefert ist (was den Gegenstand dieser Wissenschaft - das Seiende qua Seiendes - betrifft, vgl. Met. Γ 1 und E 1, 1025b 1 ff.), nämlich die Namen Weisheit (σοφία, Met. A 9, 992 a 24), Philosophie (φιλοσοφία, Met. Κ 3, 1061 b 5; Κ 4, 1061 b 25) und erste Philosophie (πρώτη φιλοσοφία, Met. E 1, 1026 a 16; Κ 4, 1061 b 19; Phys. I 9, 191 a 36; De cáelo I 8, 277 b 10) im Unterschied zur »zweiten Philosophie« als Physik (vgl. De part, animal. II 7, 653 a 9). - Zur Identität von σοφία und πρώτη φιλοσοφία vgl. Giovanni Reale, II concetto di filosofia primae l'unità della metafisica di Aristotele, 3. ed., Mailand 1967, 18. »In ogni modo«, sagt Reale, »non c'è dubbio che, nel nostro contento, σοφία indichi lo stesso contenuto concettale espresso [...] con πρώτη φιλοσοφία.« - Der Begriff Metaphysik ist von Aristoteles nicht verwendet worden. Nach Ross taucht dieser Begriff als Bezeichnung für das aristotelische Werk erstmals in augusteischer Zeit bei Nikolaus von Damaskus auf (W. D. Ross, Aristotle 's Metaphysics, a Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1958, vol. I, XXXII). Vermutlich ist der Terminus lediglich eine bibliothekarische Bezeichnung, die auf Andronikus von Rhodos zurückgeht, der, so Flashar, »bei der Ordnung des aristotelischen Schriftennachlasses in Ermangelung eines sachlich passenden Namens eine Reihe von Abhandlungen unter dem Titel Τα μετά τα φυσικά zusammengefasst habe, um damit die Stellung dieses Schriftenkomplexes hinter den naturwissenschaftlichen anzuzeigen« (H. Flashar, Aristoteles, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Überweg. Die Philosophie der Antike, Bd. 3, Basel 1983, 175-457, 256). Flashar hält die unter diesem Titel zusammengefaßten Abhandlungen nicht fiir ein zusammenhängendes Werk (ebd.), und Düring glaubt
2
Einleitung
Ethik). Was den Zusammenhang ausdrückt, ist der Begriff des Akts. Gipfelt die Ethik im Begriff der Eudaimonia, so gipfelt die Metaphysik im Begriff des unbewegt Bewegenden. Beide Begriffe charakterisiert Aristoteles durch den Begriff des Akts: Das unbewegt Bewegende ist die Wirklichkeit (Akt, Verwirklichung) seiende Seiendheit (ούσχα καί ενέργεια ούσα 3 ). Durch den Begriff des Akts wird aber nicht nur diese Seiendheit in ihrer Einzigartigkeit und Erstrangigkeit unter anderen Seiendheiten ausgezeichnet4; sondern das Sein selbst wird durch den Begriff des Akts von dem nur potentiell Seienden abgehoben. Etwas ist um so mehr ein Sein, je mehr telos und Wirklichkeit es in sich hat. Das, was schlechthin ein Sein ist, hat nur noch telos in sich; es ist, negativ ausgedrückt, niemals um eines anderen willen; es ist reine Wirklichkeit. Aristoteles nennt auch die Eudaimonia ein teleiotaton, etwas, was seinen Zweck in sich hat und niemals um eines anderen willen ist. Laufen damit Ethik und Metaphysik in eins zusammen, weil das, worauf sie als auf ihr Höchstes zielen, in eins zusammenläuft, zumal wenn man bedenkt, daß Aristoteles die Eudaimonia des theoretischen Lebens in Gott münden läßt und die Tradition mit diesem den unbewegten Beweger, dessen Personifikation eigentlich durch nichts gerechtfertigt ist5, identifiziert hat? Würde man mit einem Ja antworten, hätte man sich bereits aller Untersuchung enthoben. Daß die Frage so einfach nicht beantwortet werden kann, zeigt wiederum die Tradition. Flashar spricht im Falle der aristotelischen Ethik von einer gegen Piaton gerichteten »Ausgrenzung der praktischen Philosophie von der Seinswissenschaft« 6 . Ethik und Metaphysik laufen also nicht nur nicht in einen Begriff zusammen; sie sind strikt voneinander getrennt; ja diese Trennung soll sogar das
sogar, daß Aristoteles nie ein Lehrbuch der Metaphysik geschrieben habe (I. Düring, Aristoteles.
Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 592).
Met. A 7, 1072 a 25f. Ich lese in Zeile 25 das erste καί kopulativ, das zweite καί explikativ (»und zwar«); και ενέργεια ουσα ist mithin eine Erläuterung zu ουσία. Das unbewegt Bewegende hat also nicht drei Eigenschaften: die Eigenschaft der Ewigkeit, der Seiendheit und der Wirklichkeit, sondern als Seiendheit zwei Eigenschaften: die der Ewigkeit und die der Wirklichkeit; es ist das ενεργεία öv schlechthin. »Himmel und Natur«, so sagt Aristoteles, »hängen von diesem Sein ab«, ebd., 1072 b 14. Der Ausdruck άκίνητον κινούν ist ein Neutrum. Ich werde im Teil II (im Kapitel »Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem. Das unbewegt Bewegende«) auf die Problematik des άκίνητον κινούν eingehen. Η. Flashar, »Ethik und Politik in der Philosophie des Aristoteles«, in: Gymnasium 78 (1971), 278-293, S. 292.
Einleitung
3
Neue an Aristoteles gegenüber der Tradition sein, aus der er stammt.7 Ebenso betrachtet es Hermann Cohen, der in der Abtrennung der ethischen Untersuchungen von der Theorie (von der Frage Piatons nach der Idee des Guten oder dem Was-ist der Sittlichkeit) einen Rückschritt in der Ethik sieht, den im Grunde erst Kant wieder wettgemacht habe. Bei Piaton nämlich sei der Gegenstand der Ethik das Gute, bei Aristoteles hingegen der Gute.8 Man kann diese Trennung noch schärfer formulieren, wenn man auf eine Distinktion hinweist, die Aristoteles innerhalb der Ethik macht: auf die Distinktion zwischen sophia und phronesis, den Repräsentanten des epistemischen Vernunftteils der Seele auf der einen und des mit sich zu Rate gehenden, auf Entscheidung zielenden Vemunftteils der Seele auf der anderen Seite. Jene hat zum Gegenstand das unveränderliche Seiende, das, was sich niemals anders verhalten kann (το μη ένδεχόμενον άλλως εχειν), diese das veränderliche Seiende, das, was sich auch anders verhalten kann (το ένδεχόμενον καί άλλως έχεχν). Dieser Distinktion entspricht auch die Distinktion der Pragmatien: Die eine Pragmatie, die Metaphysik, handelt vom Seienden (sie ist die Wissenschaft vom
Besonders deutlich kommt dies bei Schütrumpf zum Ausdruck. »In his criticism of Plato's theory of Ideas«, sagt er in bezug auf Aristoteles' Kritik an der Ideenlehre in EN I, »Aristotle rejects the link made by Plato between theoretical philosophy and ethics« (E. Schütrumpf, »Magnanimity, Μεγαλοψυχία, and the System of Aristotle's Nicomachean Ethics«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 71 (1989), 10-22, S. 16). Schütrumpfs These in diesem Aufsatz ist, daß der Hochsinnige (μεγαλόψυχος) in EN IV 3 (bzw. nach der Kapiteieinteilung der Akademie-Ausgabe, der Schütrumpf folgt, EN IV 7) als die Verkörperung der Ehre, nach Aristoteles des größten der äußeren Güter (μέγιστον των έκτος άγαθων, 1123 b 20), eine Substitution des platonischen Philosophen sei, wie er in Piatons Politeia konzipiert ist. Philosophie und Ethik (= Ehre) seien unvereinbar, weil bios theoretikos und bios praktikos, der in der Realisierung der ethischen Tugenden bestehe, getrennte Phänomene seien. Schütrumpf geht mit seiner These so weit, daß er behauptet, man dürfe nach Aristoteles nicht Philosoph sein, um die Forderungen der Moral zu erfüllen. Dies hat allerdings den ganzen zweiten Teil der Nikomachischen Ethik, insbesondere EN VI und X mit der Exposition des bios theoretikos als der göttlichsten Lebensform, gegen sich. Bios theoretikos und bios praktikos und damit Philosophie (oder Metaphysik) und Ethik sind sehr wohl aufeinander bezogen, wie ich in meiner Arbeit deutlich machen werde. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, 2., verb. u. erw. Auflage, Berlin 1910, 4. Cohen bezieht sich hierbei besonders auf EN II 2, 1103 b 26 ff. Aristoteles sagt dort, daß die ethische Pragmatie nicht um der Theorie willen unternommen werde; denn die Untersuchung werde nicht geführt, um zu wissen, was die Arete sei (denn dies bringe keinen Nutzen), sondern »damit wir gute Menschen werden« (iv' αγαθοί γενώμεθα).
4
Einleitung
Seiendem als Seiendem), die andere, die Ethik, von den menschlichen (immer veränderlichen, niemals auf ein festes Prinzip zurückfuhrbaren) Einzelhandlungen, den π ρ α κ τ ά . Dennoch könnte es gerade durch diese Trennung möglich sein, den Zusammenhang zwischen den beiden Pragmatien um so deutlicher herauszuheben, worauf u. a. Kamp hingewiesen hat, der auf der Grundlage der Trennung der Disziplinen die Relationen, die zwischen beiden bestehen, zwischen der Metaphysik und der Ethik oder vielmehr der Politik, zu der die Ethik gehört, untersucht hat. 9 Es könnte sein, daß der Begriff der ousia qua Akt und des bei sich, mit sich gleich bleibenden, da auf Unveränderliches (nämlich auf die durch das Denken selbst gebildeten Begriffe) zielenden, Denkens auch den Hintergrund abgibt fur das, was Aristoteles in den Ethiken abhandelt, und zwar nicht nur für die Eudaimonia und die reinen Verstandestugenden, insonderheit für die σοφία, sondern auch fur das, was Ethik allererst konstituiert: für die Entscheidung (προαίρεσις) und die Handlungen, die auf Entscheidung beruhen. Denn das, was entscheidungsrelevante tugendhafte Handlungen bewirken sollen, ist die Erhaltung der dem Menschen eigentümlichen Seinsmöglichkeiten, die Ermöglichung des "ίδιον έργον des Menschen, des (um seiner selbst willen vollzogenenen) Denkens. Daß Aristoteles sich gegen die Anwendung eines Allgemeinbegriffs wie der Idee des Guten auf Fragen, die den praktischen, weil der Veränderung unterworfenen Bereich des Lebens betreffen, wendet, hat, wie ich in dieser Arbeit zu zeigen versuchen werde, nicht den Grund darin, die Ethik von der theoretischen Philosophie auszusondern und sie ihr gegenüber zu entwerten, sondern darin, den eigentümlichen Quell der Ethik, ihre άρχη οικεία, herauszuarbeiten 10 und damit die Ethik überhaupt erst als selbständige Pragmatie zu begründen, so zu begründen, daß gleichwohl die Verbindung mit der theoretischen Philosophie nicht zerrissen wird. Auch die Ethik ist wie die Metaphysik logoszentrierf, sie ist aber gerade dadurch, daß Aristoteles die Inkommensurabilität der beiden Disziplinen, deren eine auf das Allgemeine und deren andere auf das Einzelne geht, darlegt, nicht logozentrisch, sofern »logozentrisch« heißen soll, nach einem Maßstab, einem logischen Kriterium zu suchen, durch das die Handlungen der Menschen meßbar gemacht werden und auf das man sich in seinem Verhalten sich selbst und den anderen gegenüber berufen kann. Aristoteles kommt zwar
Andreas Kamp, Die politische
Philosophie
des Aristoteles
und ihre
metaphysischen
Grundlagen, München 1985. Es sei nicht richtig, so Aristoteles, auf der Grundlage des Guten (der Idee des Guten) über die Einzeldinge zu sprechen; denn man müsse bei den eigentümlichen Quellen den Anfang machen (δει yctp τάς αρχάς οικείας λαμβάνειν), MM I 1, 1183 a 39-b 1.
5
Einleitung
auf der Grundlage der ousia und des das unveränderliche Sein aussprechenden Logos zur Bestimmung der ethischen Arete
als Mitte ( μ ε σ ά τ η ς ) 1 1 - worin die
Logoszentriertheit seiner ethischen Untersuchung deutlich wird - , aber diese Mitte bestimmt er in ihrer Relevanz für das menschliche Handeln nicht als absolute Mitte, sondern als relative Mitte ( μ έ σ ο ν δέ ο ύ τ ο τ ο υ π ρ ά γ μ α τ ο ς ά λ λ α τ ο π ρ ο ς ή μ α ς 1 2 ) . Man muß zwar nach einem Gleichen, quasi Unveränderlic h e n 1 3 (Aristoteles heißt die Mitte ein Gleiches zwischen den Extremen 1 4 ) suchen, womit die Richtung des ethisch relevanten Handelns im allgemeinen und groben angegeben ist. Aber dieses Gleiche muß jeder für sich suchen, da die geforderte Mitte bei der Unterschiedlichkeit der Individuen und der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse und der Zustände, die ein einzelnes Individuum in seinem Leben durchläuft, bei j e d e m und immer eine andere ist. Die Entscheidung hat jeder selbst zu vollziehen, ohne daß er sich auf ein allgemeines Prinzip berufen könnte. 1 5 Eine unerschütterliche Gewißheit, ein letztes Kriteri11
κατά ... την ούσίαν καί τον λόγον τον το τί ην είναι λέγοντα μεσάτης εστίν ή άρεττί, EN II 6, 1107 a 7f.
12 13
EN II 6, 1106 b 7. Das Ungleiche, das die Extreme darstellen, ist als Gegensatz zum Gleichen fiir Aristoteles immer ein Anderes, ein έτερον. Es gehört innerhalb einer grundlegenden Distinktion der theoretischen Philosophie, die Aristoteles in der Metaphysik beschreibt (vor allem in den Büchern Γ und I), der Grunddistinktion zwischen Einem und Vielem, auf die Seite des letzteren. Es gehört damit zwar auch zum Gegenstandsbereich der Metaphysik, sofern sie auf Gegensätzliches geht (vgl. Met. Γ 2, 1004 a 16-20); aber das Wesentliche, das überhaupt nur aus Gegensätzen heraus erfaßbar ist, ist nicht das Viele, das Andere und Ungleiche, sondern dasselbe, wovon Aristoteles auch in seiner Ethik Zeugnis ablegt: Das σοφόν, i. e. der Gegenstand des bei sich selbst bleibenden Denkens, sei dasselbe (ταύτό), das φρόνιμον hingegen, i. e. der Gegenstand des auf Entscheidung gehenden Denkens, das Andere (έτερον), EN VI 7, 1141 a 24-25.
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το δ' Ίσον μέσον τι υπερβολής καί ελλείψεως, EN II 5, 1106 a 28-29. Es gibt Zweifel an der individuellen Bezogenheit des aristotelischen μεσότης-Begriffs. Die zum Erweis dieser individuellen Bezogenheit von mir zitierte Stelle aus EN kann auch anders interpretiert werden, wie Lesley Brown zeigt (in dem Aufsatz »What is 'the mean relative to us' in Aristotle's Ethics?«, in: Phronesis 42 (1997), 77-93). Nach Brown bezieht sich der Begriff der relativen Mitte (μέσον το προς ήμας) nicht auf Individuen oder individuelle Handlungsträger, sondern auf uns als Menschen, darauf, was uns hinsichtlich unserer menschlichen Natur zukommt. Die Unterscheidung zwischen absoluter Mitte und relativer Mitte sieht Brown als Unterscheidung zwischen einem lediglich mathematischen Begriff von Mitte einerseits und einem normativen (das Angemessene und das rechte Maß repräsentierenden) Begriff von Mitte andererseits. Browns
6
Einleitung
um gibt es in diesem Bereich, im Bereich des entscheidungsrelevanten, menschlichen Handelns nicht. Es gibt hierin nichts Festes (ουδέν έστηκός), sagt Aristoteles. 16 Ob jedoch damit, daß Aristoteles auf die Begründung eines festen Maßstabs zur Beurteilung menschlicher Handlungen verzichtet, ein Unterschied festgestellt werden kann zu Piaton, der, wie Flashar will, die Ethik mit einer »als
Hauptargument in bezug auf die hier in Rede stehende Passage von EN II 6 (1106 a 36b 7), in der der Begriff der relativen Mitte an einem Trainer exemplifiziert wird, der seinen Schützlingen die Eßration entsprechend ihrer individuellen körperlichen Anlagen zumißt - wobei der Trainiertere, mit Namen Milon, die größere Ration erhält als der Anfänger - , ist, daß nicht Milon und der Anfänger als moralische Handlungsträger (moral agents) betrachtet werden können, sondern der Trainer, der wissen muß, was das Angemessene für jeden ist. Die individuelle Mitte zu bestimmen, ist also nicht jedes Individuum, sondern nur jedes wissende Individuum fähig - eine These, die durch den Text durchaus gestützt wird (b 5). Für Brown ist dieses wissende Individuum, das nicht nur für sich, sondern auch für andere das ihnen angemessene Maß kennt (dadurch, daß es das allgemein für Menschen Zuträgliche kennt), der phronimos, i. e. der sittlich Einsichtige. Richtig daran ist, daß in der Tat nicht jeder fähig ist, die richtige Mitte für sich zu finden. Aristoteles sagt dies zwar nicht explizit; aber wenn er junge Menschen für ungeeignete Hörer von Vorlesungen über Ethik bzw. Politik hält, weil sie wegen des Verfolgs ihrer Leidenschaften keinen Nutzen ziehen aus dem, worüber die Politik qua Ethik handelt, nämlich aus der πραξις (EN I 3, 1095 a 2-6), so kommen zumindest diese als moral agents (= Individuen, die das μέσον το προς ήμας kennen und auch für sich in Anwendung bringen) nicht in Frage. Dies kann bekräftigt werden durch eine Stelle aus Rhet. II 12-14 (eine Stelle, die Brown nicht anfuhrt). Aus dieser Stelle geht hervor, daß bei der Jugend die υπερβολή geradezu ihr Charakter, ihr ηθος, ist, ebenso wie bei den Älteren, denjenigen, die ihre Blüte überschritten haben, die έλλειψις zu ihrem Wesen und Charakter gehört. Nur für die, die in der (zumindest seelischen) Akme sind, ist die Mitte als Ethos möglich. Doch wenn auch das Finden der relativen Mitte auf einen bestimmten Zustand körperlicher und seelischer Reife beschränkt ist und wenn auch das Zumessen des richtigen Maßes nicht, wie Brown richtig im Hinblick auf das MilonBeispiel anmerkt, mit dem Wechsel eines Trainers variieren muß, so bleibt doch die relative Mitte vor wie nach eine individuelle Mitte, die nicht durch einen absoluten Maßstab gefunden werden kann, sondern nur durch eine um die Veränderlichkeit und Verschiedenheit der Individuen wissende Kenntnis. EN II 2, 1104 a 4. Vgl. hierzu auch Harald Schilling, Das Ethos der Mesotes, Tübingen 1930, S. 45, und Jürgen-Eckart Pleines, Sittliche Einsicht und Normenethik. Das aristotelische Grundlegungsproblem, in: Perspektiven der Philosophie 9 (1983), 265-281.
Einleitung
7
Normwissenschaft verstandenen Ontologie« verbunden habe 1 7 , lasse ich dahingestellt. Man fähre dagegen nur das Sonnengleichnis aus der platonischen Politela an, in dem Platon die Idee des Guten jenseits des Seins, jenseits der ousia stellt, sie mithin aus dem Kreise der letztgültig Erkennbaren und Wahrnehmbaren rückt. 1 8 Meine Arbeit verfolgt nicht nur den Zweck, zu zeigen, wie sehr die Ethik auf die Metaphysik (durch Begriffe wie τέλος, ε ν έ ρ γ ε ι α , ο ρ θ ό ς λ ό γ ο ς ) bezogen bleibt, sondern ich versuche auch zu zeigen, wie bestimmte Fragestellungen innerhalb der Metaphysik erst durch den Bezug auf die Ethik deutlich werden. Dies gilt fur die (in Met. Β 4 formulierte) Kardinalaporie der Metaphysik, die Frage danach, wie es neben dem Wissen von Allgemeinem auch ein Wissen von Einzelnem gebe könne. Die Lösung dieser Aporie, die in Met. M 10 vorgelegt wird, läßt sich, wie ich zeigen werde, anhand einer Differenz begreifen, mit der
H. Flashar, Ethik und Politik in der Philosophie des Aristoteles, a. a. O., 278. Gerade in der Frage der Normsetzung betont Flashar den Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles, wenngleich er in letzterem keinen »normzersetzenden sophistischen Relatvismus« sieht, sondern den Versuch, »vorphilosophische Lebenserfahrungen und Traditionen, aus ethnographischem und medizinischem Denken erwachsene wissenschaftliche Vernunft und Elemente der platonischen Philosophie vermittelnd zu verbinden« (H. Flashar, Aristoteles, in: Überwegs Geschichte der Philosophie, a. a. O., 340). Piaton, Politela VI 509 b. Zum Verhältnis zwischen Piaton und der aristotelischen Ethik vgl. Hermann Cohen, dessen Verdienst ist, gerade auf diesen Gedanken Piatons immer wieder verwiesen zu haben, und Hans Meyer, Piaton und die aristotelische Ethik, München 1919. Auch für ihn geht wie fur Flashar und Cohen die Abtrennung von theoretischer Philosophie und Ethik in selbständige Pragmatien einher mit einer sinkenden Bedeutung der Ethik. »Das Vorwiegen der ethischen Tendenz«, sagt er, »wie es bei Sokrates und bei den Sokratikem geherrscht, ist vorbei« (S. 10). - Anders dagegen Richard Walzer, der richtig darauf hinweist, daß Aristoteles das Moment der Selbstverantwortung viel stärker heraushebt als Piaton. Daß der Mensch die Verantwortung für sein Handeln in sich selbst trage, sagt zwar auch Platon (ζ. B. Leges X 904 b); aber dadurch, daß Aristoteles auch die κακία und die άκρασία aus dem freien Willen des Menschen hervorgehen läßt (dies ist zugleich einer seiner wesentlichen Kritikpunkte gegen die sokratisch-platonische Auffassung von der Unfreiwilligkeit der schlechten Handlungen), geht er im Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Menschen sehr viel weiter als Piaton. Demgemäß sagt Walzer richtig: »Die Freiwilligkeit der άρετη war auch jedem Akademiker selbstverständlich, die Lehre dagegen, daß der Mensch auch für seine kakia voll verantwortlich ist, widerspricht Piatos Anschauung von den frühesten Dialogen bis zu den Gesetzen« (Richard Walzer, Magna Moralia und die aristotelische Ethik, Berlin 1929, 20).
8
Einleitung
die Ethik arbeitet, nämlich anhand der Differenz von Haben und Gebrauch. Danach gibt es zwar in der Tat nur ein Wissen von Allgemeinem; der Gebrauch dieses Wissens aber ist die entscheidungsrelevante konkrete Einzeltat, das, was Aristoteles in der Ethik Praxis heißt. Das Wissen von Einzelnem ist demnach der Gebrauch des Wissens von Allgemeinem. 19 - Dies gilt ferner für die Differenz von Bewegung und Akt, die Aristoteles in Met. Θ 6 vornimmt. Der Akt erscheint an dieser Stelle als reiner Akt, d. h. nicht lediglich als die Verwirklichung eines potentiell Seienden, sondern als etwas, dem gänzlich die Potentialität entzogen ist, als etwas also, was immer nur als um seiner selbst willen vollzogen gedacht wird. Zur Illustration dieses reinen Akts bedient sich Aristoteles einiger Termini aus der Ethik, insbesondere des Begriffs der Praxis und des Begriffs der Eudaimonia. Und schließlich wird auch das Problem der Gegensätzlichkeit, das für Aristoteles, der die Metaphysik qua Wissenschaft vom Seiendem als Seiendem als Wissenschaft von Gegensätzen und aus Gegensätzen bestimmt 20 , von fundamentaler Bedeutung ist, deutlicher, wenn es auf dem Hintergrunde der entscheidungsrelevanten menschlichen Praxis verstanden wird. In diesem Zusammenhang werde ich im zusammenfassenden dritten Teil die Fundamentalaxiome der Metaphysik, den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, untersuchen, die ich weder als Restriktionen des Denkens noch als den Versuch begreife, Andersheit und Gegensätzlichkeit des Denkens auszulöschen. Die Tendenz des Aristoteles bei der Formulierung dieser Axiome ist vielmehr die, Gegensätzlichkeit und Andersheit - durch Berufung auf die entscheidungsrelevante Praxis der Menschen - zu sichern. Worin am eindrücklichsten dieser wechselseitige Bezug von Ethik und Metaphysik zum Ausdruck kommt, ist die Korrelation von Denken (νους) und Begierde (ορεξις). Beide sind aufeinander angewiesen, aufeinander bezogen und sind - und dies trifft sowohl fur die Metaphysik als auch für die Ethik zu - nicht ohne einander zu denken. Dabei wird es für die vorliegende Arbeit nicht so sehr wesentlich sein, das hierarchische Verhältnis zwischen Denken und Begierde darzutun und zu zeigen, daß es Aristoteles lediglich darauf ankomme, die Begierde unter die Botmäßigkeit des Denkens zu bringen (dies ist, wie ich denke, Das Wissen von Allgemeinem ist ζ. B. das Wissen darum, daß alles Süße schädlich sei. Der Gebrauch dieses Wissens ist das Unterlassen der Konsumtion einer konkreten Süßigkeit, das freilich voraussetzt, daß man das Süße, das man vor sich sieht, auch als solches zu erkennen weiß. »Es ist evident«, so Aristoteles, »daß das Seiende qua Seiendes zu betrachten zu einer Wissenschaft gehört. Denn alles ist entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen«, Met. Γ 2, 1005 a 2-4.
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Einleitung
bisher hinreichend ausgeführt worden 21 ). Mir wird es vielmehr darauf ankommen, die Spannungen, Gegensätze, Ambivalenzen zu zeigen, die durch diese Korrelation zustande kommen. Mit dem engen Bezug des Denkens auf die Begierde und der Begierde auf das Denken ist auch zu erklären, weshalb fur Aristoteles bestimmte Abgrenzungen, die er in der Ethik vornimmt, schwierig werden. Dies gilt zum einen für die Abgrenzung des rationalen Seelenteils vom irrationalen Seelenteil, zum anderen - innerhalb des rationalen Seelenteils - für die Abgrenzung des »epistemischen«, auf Unveränderliches bezogenen Vernunftteils vom »prohairetischen«, auf Veränderliches bezogenen Vemunfiteil; und es gilt für die Abgrenzung von Begierde und Freiwilligkeit einerseits und von Freiwilligkeit und Entscheidung andererseits. Denken und Begierde sind auf allen Seiten dieser Differenzen präsent. Ebenso tauchen diese kardinalen Begriffe der aristotelischen Philosophie und ihre Korrelata, das Denkbare und das Begehrbare, innerhalb der Metaphysik bei der Explikation des Begriffs auf, in dem der Begriff der ousia als des reinen Akts gipfelt: bei der Explikation des άκίνητον κινούν in Met. Λ 7. Für wie wichtig ich diese Korrelation von Denken und Begierde halte, zeigen die Untersuchungen mehrerer Kapitel der vorliegenden Arbeit. Was die Ambivalenzen und »Widersprüchlichkeiten« betrifft, die mit der Korrelation von Denken und Begierde zusammenhängen, so verweise ich insbesondere auf das erste Kapitel, das sich eingehend mit der Differenzierung von Freiwilligkeit und Entscheidung beschäftigt. Hier wie auch sonst werde ich zeigen, daß ich Ambivalenzen bestimmter aristotelischer Begriffe und Gedanken nicht ausweiche oder sie zu harmonisieren versuche, sondern daß ich sie bewußt reflektiere, um darzutun, wie wenig festgelegt und wie in sich fließend die Begriffe sind, die Aristoteles verwendet. Zu solchen Begriffen gehören neben der Entscheidung und der Freiwilligkeit die Lust (die das eine Mal, als somatische Lust, wenngleich sie als solche nicht immer das Epitheton »somatisch« bei sich hat, einen Gegensatz zur Arete bildet,
Vgl. dazu etwa V. Cathrein, Der Zusammenhang der Klugheit und der sittlichen Tugenden nach Aristoteles, in: F.-P. Hager (Hrsg.), Ethik und Politik des Aristoteles,
Darm-
stadt 1972, 55-65. Cathrein sagt: »Nur wenn Verstand und Wille harmonisch zusammenwirken, entstehen die sittlichen Tugenden zugleich mit der Klugheit. Folgt der Wille nicht der Vernunft, sondern den verkehrten Neigungen und Leidenschaften, so wird nicht nur die sittliche Tugend nicht erworben, sondern auch die Klugheit nicht« (64 f.). Flashar macht diesen Aspekt der Affektbeherrschung geltend für den möglichen Adressaten der Ethik des Aristoteles. Die Nikomachische Ethik wende sich nicht an die, die von ihren Affekten noch beherrscht werden, sondern an die, die nicht unter dem Einfluß der Leidenschaft stehen, »bei denen das bloße Wort zu ethisch richtigem Handeln zu fuhren vermag« (»Ethik und Politik in der Philosophie des Aristoteles«, a. a. O., 288).
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das andere Mal, als die Eudaimonia des theoretischen Lebens, in Arete geradezu gipfelt), die Praxis (die zum einen strikt von der Theorie unterschieden wird und zum anderen in ihr erst ihre vollendete Bedeutung bekommt), der Begriff des Akts und der Potenz (was in der einen Hinsicht Potenz, und zwar potentia pura, sein kann, kann wie die Materie, sofern sie in ihrer Konkretion als die vier Elemente betrachtet wird, in der anderen Hinsicht reiner Akt sein - atei ενεργεί, wird von der Erde und vom Feuer gesagt 22 - , in Hinsicht nicht auf das, was aus ihr werden oder gemacht werden kann, sondern in Hinsicht auf die Faktizität ihrer Stofflichkeit, die sich in allen Prozessen durchhält). Zu solchen Begriffen gehört ferner das άκίνητον κινούν (dessen Identifikation mit Gott in dem einen Textzusammenhang nahegelegt wird, in einem anderen Falle dem Text geradezu widerstreitet23). Und zu solchen Begriffen gehören endlich das Denken und die
Met. Θ 8, 1050 b 29. Das Thema des unbewegten Bewegers ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie in der Tradition der Auslegung des CA versucht wurde, die Ambivalenzen zu beseitigen, indem man die Stellen, die zu einer bestimmten Theorie, die wohl eher die der Interpreten als die des Aristoteles war, nicht paßten, wegerklärt hat. Man vegleiche dazu die Arbeit von Hans von Arnim »Die Entwicklung der aristotelischen Gotteslehre« (1931), in: Fritz-Peter Hager, Metaphysik
und Theologie des Aristoteles,
Darmstadt 1969, 1-74, in
der er seine These, Aristoteles habe sich in seinen philosophischen Anschauungen zum Monotheisten entwickelt und seine Lehre von der monarchischen Weltherrschaft Gottes in Buch Λ der Metaphysik,
in der seine Philosophie ihren krönenden Abschluß gefunden
habe, niedergelegt, nur mit massiven Konjekturen hat stützen können. Ein weiteres Beispiel geben verschiedene Kommentatoren der aristotelischen Physik. Im Buch VIII dieses Werks, wo vor allem in den letzten Kapiteln vom unbewegten Beweger gesprochen wird, wird Gott mit diesem nicht nur nicht gleichgesetzt, sondern er wird so gut wie nicht erwähnt. Und dort, wo er - das einzige Mal - erwähnt wird, wird er, wenn auch nur beispielhaft, Bewegtes, κινούμενον, genannt. Gott ist so bestenfalls das primum motum, aber keinesfalls das primum movens. Es ist schon interessant, wie diese Stelle (c. 8, 262 a 3) wegerklärt wird. Zekl hält dies fur einen Übermittlungsfehler, wenn man nicht davon ausgehen solle, daß Aristoteles dieser Passus unterlaufen sei, weil er mit seinen Gedanken schon beim unbewegten Beweger sei (Aristoteles' Physik, übers., mit e. Einl. u. Anm. hrsg. von Hans G. Zekl, 2 Bde., Hamburg 1988, II 290 (Anm. 130 zum VIII. Buch); Thomas von Aquin faßt den bewegten Gott so auf, daß Aristoteles hier im Sinne derer gesprochen habe, die die Himmelskörper als Götter bezeichneten (secundum eos, qui corpora caelestia Deos dicebant, In Phys. Vili, le. XVI, n. 3, und Ross meint, daß Gott ähnlich wie in Met. Ζ 1 (1028 a 17) als Illustration einer einzelnen Substanz herhalte, ohne daß Aristoteles annehme, daß diese einzelne Substanz tatsächlich Subjekt der Bewegung sei. Woher diese Annahme komme, die reine Vermutung ist, sagt
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Begierde selbst; denn wie auf der einen Seite die Begierde als das Widerspenstige und sich in Gegensatz Setzende erscheint, erscheint sie auf der anderen Seite gerade als das, was Eindeutigkeit herstellt. Ebenso ist das Denken einerseits das, was zum Einen, Gleichen und Selben hinfuhrt, andererseits aber ist es selbst der Hort der Widersetzlichkeit, das, was die Gegensätze hervorbringt. In diesem Sinne ist auch die Methode zu verstehen, nach der ich vorgehe. Es geht mir nicht darum, eine Begriffsklärung vorzunehmen in dem Sinne, daß gefragt würde, was die Begriffe, um die es hier geht, die Begriffe ousia, Eudaimonia, Entscheidung, Denken, Begierde, Akt etc., im einzelnen bedeuten. In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, die Beziehungen, die Aristoteles zwischen diesen Begriffen herstellt, nachzuvollziehen. Das bedeutet, daß Denkstrukturen gedacht und nachvollzogen werden, in denen Begriffe wie die oben genannten allererst konstituiert werden. Der Kardinalbegriff der Metaphysik, der Begriff der ousia, ist danach kein ein für allemal feststehender Begriff und erst recht kein Begriff, der vor allem Denken feststünde, sondern ein Begriff, der sich durch ein beziehungsstiftendes Denken, das auf bestimmten Voraussetzungen beruht, innerhalb bestimmter Strukturen und Grenzen, die sich das Denken setzt, ergibt. Das, was als ousia angesprochen wird, ergibt sich aus den Zusammenhängen der Rede und des Denkens jedesmal neu. Damit ist nicht einer Beliebigkeit der Deutung des ows/a-Begriffs das Wort geredet. Die Strukturen, innerhalb deren sich so etwas wie ousia denken läßt, sind durchaus fest. Sie sind teils duplizitär, teils triplizitär. Duplizitär sind diese Strukturen insofern, als Aristoteles in der Dichotomie von Handlungsakt und Handlungsgegenstand denkt. Denken ist immer Denken von etwas. Ein Denken gibt es nur, sofern es Gedachtes, ein Wissen nur, sofern es Gewußtes oder Wißbares gibt. Sofem das Denken um seiner selbst willen vollzogen wird, sein telos in ihm selbst ist, die Frage nach dem Wozu bei ihm ans Ende oder zum Stehen gekommen ist, ist es als reine Energeia, als reiner Akt ousia. In ihm ist zugleich die Lebensform repräsentiert, in der die Eudaimonia ihre volle Entfaltung erfahrt: der bios theoretikos. ousia ist aber auch das von diesem Denken Gedachte. Als das vom Denken Gedachte »zeigt sich« ousia innerhalb einer triplizitären Struktur, innerhalb der Trias »Gattung-Differenz -Art« und innerhalb der Trias »Stoff-eiôoç-jyHholon«.^ Was als ousia jeweils angesprochen wird, hängt davon ab, was das
Ross freilich nicht (W. D. Ross, Aristotle 's Physics, a Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1936, 711). Es läßt sich dazu eine weitere, dritte Trias denken, die an die Trias von »Gattung-Differenz-Art« anknüpft und sie gleichsam vervollständigt: die Trias »Gattung-Art-Einzelding«. Um ein Beispiel zu geben: Die Trias »Lebewesen-zweifüßig-Mensch« wäre ein
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Denken wozu im Sinne dieser Triaden in Beziehung setzt. Dabei nimmt das Denken sich die Freiheit, das, was es in dem einen Falle als Stoff begegnen läßt, in dem anderen Falle als synholon (als das Kompositum aus Stoff und είδος) begegnen zu lassen. Eine feste Identifikation irgendeiner »Entität« mit einem der Bestandteile dieser Triaden, innerhalb deren sich ousia als vom Denken Gedachtes zeigt, gibt es also nicht. Lediglich die Strukturen, in denen die ousia gedacht wird, sind fest. Das in dieser Form strukturierte Denken beruht, wie gesagt, auf bestimmten Voraussetzungen, die es in der vorliegenden Arbeit zu klären gilt. Es wird gezeigt, warum Aristoteles gerade in diesen Strukturen denkt, die ein Denken von ousia möglich machen. Die Methode dieser Arbeit ist insofern ein Weg zu den ά ρ χ α ί 2 6 , auf denen das aristotelische Denken ruht. Besonders das Kapitel »Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon« wird in der vorliegenden Arbeit ein Zeugnis davon abgeben. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, daß dem aristotelischen Denken und den Beziehungen, die Aristoteles zwischen theoretischer und praktischer Philosophie und deren zentralen Begriffen herstellt, weitgehend deutungsfrei nachgegangen werden kann, i. e. ohne eigene Begriffe und eigene Denkvoraussetzungen in die Untersuchung hineinzulegen. Dabei wird sich zugleich zeigen, daß die aristotelische Philosophie nicht eine Metaphysik i. S. des transzendentalen Realismus, wie Kant ihn bestimmt, ist. Seiendes und Seiendheit (ousia) ist für Aristoteles nicht etwas, was losgelöst von den Zusammenhängen und Beziehungen wäre, die Denken und Rede herstellen. »Sein« heißt bei Aristoteles vielmehr »gedacht werden als [...]«, »beredet werden als [...]«. Das Sein stellt sich für Aristoteles dann ein, wenn das zu einem Anfang, einer άρχη, kommen wollende Denken zum Stehen gekommen ist, so zwar, daß das Denken die Grenzen, die es sich setzt, immer wieder neu setzen kann, daß es immer wieder neue Wege gehen kann, wenn die alten Wege sich als Irr- oder Unwege, als A-porien gezeigt haben. Die Aporien haben dabei den Sinn, für das Denken neue Wege zu eröffnen. Auch in diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit in ihrer Methode ein Nachvollzug des aristotelischen Denkens, ein Nachvollzug des aporetischen Gangs,
Exempel fur jene, die Trias »Lebewesen-Mensch-Sokrates« wäre ein Exempel für diese Trias. Der griechische Ausdruck είδος ist schwer ins Deutsche übersetzbar. Ich werde diesen Ausdruck im Deutschen mit »Form« oder mit »Aussehen« wiedergeben. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Methode besagt genau dies: Weg zu [...] Im Englischen gibt es dafür den adäquaten Begriff approach. Wenn man sich einer bestimmten Methode bedient, so bedeutet dies, daß man sich Zugänge eröffnet, Zugänge zu bestimmten Prinzipien, die es zu erklären oder zu verwirklichen gilt.
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den Aristoteles in seinem Forschen gegangen ist. Die vorliegende Arbeit ist problemorientiert; es wird sich zeigen, daß die Untersuchungen immer wieder in Aporien auslaufen werden, daß aber die Lösung der Aporien Klarheit bringt über die Beziehungen, die zwischen den Begriffen, um die es hier geht, vorliegen. Die Arbeit ordnet sich damit in die Reihe derer ein, die Aristoteles nicht als Metaphysiker oder Dogmatiker begreifen, sondern als Aporetiker, für den die von ihm verwendeten und untersuchten Begriffe keine feststehenden Begriffe sind, sondern sich aus bestimmten Relationen ergeben, die sich das Denken selber setzt und die eine definitive Deutung dieser Begriffe unmöglich machen. Gemeint sind vor allem die Arbeiten von Aubenque 27 , Wieland 28 und Stegmaier 29 . Was den Zweck der von Aristoteles vorgenommenen Pragmatientrennung betrifft, der nicht darin liegt, theoretische und praktische Philosophie voneinander abzusondern und jene dieser gegenüber aufzuwerten, so hat Wesentliches der bereits erwähnte Andreas Kamp geleistet, der wie ich den Sinn dieser Pragmatientrennung darin sieht, die Beziehungen, die zwischen theoretischer und praktischer Philosophie bestehen, deutlicher zu machen. Einen Rückschritt gegenüber der platonisch-sokratischen Philosophie sehe ich darin keineswegs. Vielmehr werde ich bei Besprechung der Voraussetzungen des aristotelischen Denkens in bezug auf den Begriff der ousia darlegen, wie sehr die triadische Strukur dieses Begriffs aus dem Rekurs auf die philosophischen Methoden erklärt werden kann, deren sich Piaton bedient hat. Gemeint ist vor allem die Methode der Dihairesis. Die entscheidende Arbeit dazu, wie diese Methode sich
P. Aubenque, Le problème de Γ être chez Aristote. Essai sur la problématique aristotélicienne, 5. éd., Paris 1983. Mit der These, daß Aristoteles' Denken des Seins ein aporetisches Denken sei und daß es ein definitive Antwort auf die grundlegende Frage der Metaphysik, was das Sein oder vielmehr die Seiendheit (ousia) sei, ausschließe, gehe ich mit. Ich habe allerdings Schwierigkeiten mit der Annahme, daß die Aporien des aristotelischen Denkens notwendig ungelöst bleiben müssen und daß Aristoteles' Denken in ein Scheitern auslaufe, dessen Zweck die Indefinitheit des Stellens dieser Frage sei. W. Wieland, Die aristotelische Physik, 3., um ein Vorwort erw. Auflage, Göttingen 1992. W. Stegmaier, Der Substanzbegriff der Metaphysik, Tübingen 1974, und ders., »Aporien der Vollendung. Ist Aristoteles' Metaphysik eine Metaphysik?«, in: D. N. Basta/S. Zunjic/M. Kozomara (Hrsg.), Kriza i perspektive filozofije. M. Djuricu zum 60. Geburtstag, Belgrad 1995, 383-406.
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auch durch das Werk des Aristoteles hindurchzieht, hat A. von Fragstein geleistet. 30 Die Arbeit, die Beziehungen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie an den Begriffen ousia und Eudaimonia nachzuweisen, ist bisher noch nicht geleistet worden. C. D. C. Reeve hat die Beziehungen, die zwischen den Begriffen ousia und Eudaimonia bestehen, immerhin angedeutet. Sein wesentliches Verdienst ist, herausgehoben zu haben, daß die Eudaimonia nicht nur einer der zentralen Begriffe der aristotelischen Ethik, sondern vielmehr deren fundamentales Prinzip ist. 31 Wie die ousia das Prinzip der Metaphysik ist, ist die Eudaimonia das Prinzip der Ethik. Was den Gang meiner Untersuchung betrifft, so werde ich im ersten Teil, der vorwiegend Fragen, die die Ethik betreffen, behandelt, zunächst das Verhältnis von Eudaimonia und Arete klären, sodann die Differenzen besprechen, die sich an dieses Verhältnis anknüpfen, die Differenzen von rationalem und irrationalem Seelenteil, von dianoëtischen und ethischen Tugenden, von »epistemischem« und »prohairetischem« Vernunftteil der Seele, von Sophia und Phronesis, von bios theoretikos und bios politikos und die Differenz von Freiwilligkeit und Entscheidung. Da der erste Teil der vorliegenden Arbeit auf dem Hintergrunde des (metaphysischen) Akt-Begriffs abgehandelt wird, werde ich eingehend die Dichotomie innerhalb der Ethik würdigen, die in Parallele zur Potenz-AktDichotomie gelesen werden kann (und muß): die Dichotomie von Haben und Gebrauch. Vom Begriffe des Gebrauchs aus werde ich zu einer Differenz kommen, die fur die Ethik zentral ist und mit der zum zweiten Teil dieser Arbeit, zum »metaphysischen« Teil, übergeleitet wird: zur Differenz von Poiesis und Praxis. Es wird sich zeigen, daß mit dem Begriff der Praxis als einer Handlung, die ihr Ziel in sich selbst hat, sowohl die Eudaimonia als auch die ousia qua Akt beschrieben werden können. Der zweite Teil meiner Arbeit behandelt das fundamentale Prinzip der Metaphysik, den Begriff der ousia, und die Strukturen und Voraussetzungen, innerhalb deren Aristoteles diesen Begriff denkt. Das Verhältnis von ousia und Eudaimonia wird am Ende dieses Teils in der Differenz von Denken und Gedachtem und Begierde und Begehrtem beschrieben, in der Aristoteles in Met. Λ 7 das άκίνητον κινούν denkt. Der dritte Teil ist eine Zusammenfassung der beiden Hauptteile dieser Arbeit, wirft aber auch neue Aspekte auf, die in den beiden Hauptteilen nicht behandelt wurden, insbesondere den Aspekt der beiden Fundamentalaxiome des
A. von Fragstein, Die Diairesis bei Aristoteles, Amsterdam 1967. C. D. C. Reeve, Practices of Reason. Aristotle's Nicomachean Ethics, Oxford 1992.
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aristotelischen Denkens, den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Die Schriften des Aristoteles, auf die ich mich in der Arbeit hauptsächlich stützen werde, sind natürlich die drei Ethiken zum einen, die Nikomachische Ethik (bei deren Zitierung ich der Kapiteleinteilung von Bywater folgen werde), die Eudemische Ethik und die Magna Moralia 32 , und die Metaphysik zum anderen. Ich halte aber für unvermeidlich, mich hie und da auch auf andere Werke des Aristoteles zu beziehen, so auf die Physik, die Politik und auf die biologischen und psychologischen Schriften, hierbei insbesondere auf De anima, auf letztere Schrift deswegen, weil bestimmte Fragestellungen und Unterscheidungen bei Aristoteles einen psychologischen Hintergrund haben. Das gilt fur die Unterscheidung von ethischen und dianoëtischen Tugenden ebensosehr wie für die Korrelation von νους und όρεξις. Und es gilt, wie eingangs gezeigt worden, auch für die Bestimmung der Eudaimonia. Eine wesentliche Rolle wird überdies das Organon spielen, insbesondere die Kategorienschrift und die beiden Analytiken. Hierbei muß gesagt werden, daß Fragen der aristotelischen Logik und Syllogistik für die Arbeit nur insofern von Interesse sind, als sie bestimmte Probleme und Beziehungen innerhalb der praktischen und theoretischen Philosophie des Stagiriten verdeutlichen.
32
Die letzteren zwei ethischen Schriften werden vor allem bei der Besprechung der Differenz von Freiwilligkeit und Begierde und von Freiwilligkeit und Entscheidung herangezogen.
I. Eudaimonia und Akt Eudaimonia als Tugend-Akt und die Differenz von dianoëtischer und ethischer Tugend Wenn man die Anfange der drei Ethiken des Aristoteles miteinander vergleicht, fällt einem ein Unterschied auf, der sogleich zur Frage nach dem Gegenstand der Ethik fuhrt: Ist die Ethik eine Untersuchung der Eudaimonia oder eine Untersuchung der Arete (Tugend, Sittlichkeit33)? Oder anders: Wird die Untersuchung der Arete auf dem Hintergrund der Untersuchung der Eudaimonia oder wird die Untersuchung der Eudaimonia auf dem Hintergrund der Untersuchung der Arete geführt? Denn die Untersuchung sowohl der Arete als der Eudaimonia ist allen drei Ethiken gemeinsam. Die MM heben mit der Frage nach der Arete an, EE und EN hingegen mit der Frage nach der Eudaimonia, wobei EE unmittelbar nach Einfuhrung der Thematik des Guten, Schönen und Lustvollen auf die Eudaimonia zusteuert (bereits mit der siebenten Zeile fällt in EE die Bestimmung der Eudaimonia als des Besten, Schönsten und Lustvollsten), während EN erst über eine teleologische Abhandlung, in der bereits für die Tugend charakteristische Begriffe wie der der Gerechtigkeit fallen 34 , zum Begriff der Eudaimonia kommt als des höchsten der für die Praxis relevanten Ziele 35 . Der Anfang von MM scheint in bezug auf die hier zu verhandelnde Pragmatie am angemessensten zu sein. Denn MM beginnen unmittelbar mit dem, wovon die Ethik als eigenständige Disziplin ihren Namen hat: mit den ηθικά; die Ethik
Ich bin mir bewußt, daß der griechische Ausdruck Arete nie adäquat im Deutschen wiedergegeben werden kann, erstens weil deutsche Begriffe wie Tugend und Sittlichkeit ein wenig obsolet geworden zu sein scheinen, und zweitens, weil es im Deutschen keinen Begriff gibt, der die Bedeutungsvielfalt des Wortes Arete zum Ausdruck zu bringen vermöchte. Denn Arete hat nicht nur einen spezifisch ethischen Sinn, sondern auch den Sinn von Vorzug, Trefflichkeit. Ich werde daher in dieser Arbeit vorzugsweise den Begriff Arete unübersetzt lassen. Wenn ich jedoch hin und wieder von Tugend, Sittlichkeit oder Vorzug spreche, dann ist damit immer griechisch Arete gemeint. EN 1094 b 14ff. EN 1095 a 18.
18
Eudaimonia und Akt
ist ή περί τα ήθη πραγματεία 3 6 , die Untersuchung über die auf Gewöhnung und gesellschaftliche Konvention beruhenden Charaktere, über die sittlichen Haltungen, die man sich erwirbt, oder wie immer man ήθη übersetzen will. Als eine solche Pragmatie handelt die Ethik aber zuerst von der Arete, i. e. von der sittlichen Haltung des ethisch tüchtigen Menschen, des σπουδαίος; denn σπουδαίος sein heißt Tugend haben, und σπουδαίος ist man nur hinsichtlich des ήθος 37 . Daher ist das Erste in der Ethik - wenn man dem Gedankengang in MM folgt - die Bestimmung der Arete. Man muß zuerst, so Aristoteles, über die Tugend sprechen, darüber, was sie ist und woraus sie besteht. 38 Nun kommt aber Aristoteles in MM nicht unmittelbar über die Frage nach der Tugend zur Frage nach der Eudaimonia. Denn was er, nachdem er die Notwendigkeit, die Arete zu bestimmen, angeführt hat, bespricht, sind die verschiedenen Meinungen über das Wesen der Arete, wobei er Pythagoras, Sokrates und Piaton attackiert, Pythagoras deswegen, weil er die Arete als Zahl, Sokrates, weil er die Arete als Wissen (επιστήμη) bestimmt, und Piaton schließlich, weil er die Arete mit der Pragmatie über die Idee des Guten verquickt hat. 39 Zur Frage nach der Eudaimonia kommt Aristoteles erst nach einem Neuansatz, der nicht mit der Frage nach der Bestimmung der Arete beginnt, sondern mit der Frage nach der Bestimmung des Guten (im 2. Kapitel von MM). Die Frage nach dem Guten ist aber kein Bruch innerhalb des Gedankenganges in MM; denn zum einen kann diese Frage als Anschluß an die eben kritisch erörterte platonische Idee des Guten verstanden werden; und zum anderen ist die Frage nach der Arete, die bei Aristoteles, wie aus seiner Kritik an Sokrates hervorgeht, nicht um der Theorie willen, sondern um des Gutseins der Menschen willen gestellt wird, unmittelbar mit der Frage nach dem Guten, nach dem guten Menschen, dem σπουδαίος, verknüpft. Mit der Frage nach dem Guten verbindet Aristoteles aber auch in MM eine Teleologie. Denn das Gute läßt sich dihäretisch trennen in das Gute, das Ziel (,telos), und in das Gute, das nicht Ziel ist40, wobei selbstredend das das Bessere, mithin das größere Gut ist und mehr dem Begriff des Guten entspricht, was zu dem telos Seienden gehört, zu dem, was um seiner selbst willen ist und um dessentwillen das andere gewählt wird 41 . Zum Untersuchungsgegenstand wird jetzt
MM I 1, 1181 b26f. 37
Ebd., 1181 a 2 8 - b 2 5 .
38
Ebd., 1182a 1 f.
39
Ebd., 1182 a 11 ff.
40
MM 12, 1183 b 38-84 a 4.
4
'
καί ά π λ ω ς άε'ι καθόλου τούτο βέλτιον ού ένεκεν και τ ά ά λ λ α ... αύτων των τελών βέλτιον άεί το τέλειον του άτελους, MM 12, 1184 a 6-8.
Eudaimonia als Tugend-Akt
19
folgerichtig das, was am meisten Ziel, telos ist, das telos teleion42 oder das teleiotaton43, das also, worin das Gute vollständig ausdrückbar ist: das Beste (aristón44). Und dieses teleiotaton ist die Eudaimonia. 45 Hier werden also MM mit EE und EN - und mit EN vor allem in bezug auf die Teleologie, über die die Untersuchung zur Eudaimonia geführt wird - wieder koinzident. Koinzident ist auch die Bestimmung der Eudaimonia als einer energeia, die aus der teleologischen Betrachtung des Guten folgt. Denn nicht nur das Gute ist zwiefach, sondern auch das telos, über das die Bestimmung des fur die Ethik relevanten Guten erfolgt ist. Das telos nämlich ist das eine Mal Akt (ή ενέργεια και ή χρησις 4 6 ), das andere Mal Nicht-Akt, ein Werk, ein Gegenstand, ein έργον, auf das eine Tätigkeit hinführt, wie etwa der Reichtum, der das Ziel der Wirtschaft, oder die Gesundheit, die das Ziel der Medizin ist etc. 47 Damit werden alle Tätigkeiten, die auf ein Herstellen und Hervorbringen abzwecken, und die mit diesen Tätigkeiten verbundenen Wissenschaften wie die Ökonomie oder die Medizin, allgemein alle τέχνοα, i. e. alle Künste, die unter den weiter unten näher zu explizierenden Begriff der Poiesis fallen, ausgesondert. Für die Ethik maßgeblich bleibt nur noch das telos qua energeia, die Tätigkeit also, die ihr Ziel nicht in einem Produkt, in etwas, was außerhalb ihrer ist, sondern in sich selbst hat. In diesem Sinne ist auch die Dihärese des Guten in äußere und in seelische Güter zu verstehen, die Aristoteles in EN I 8 und EE II 1 vornimmt. Danach gehören die ethisch relevanten Güter zu den seelischen. In EE, wo die Trennung etwas schärfer vollzogen wird, werden als diese seelischen Güter das Denken (φρόνησις 48 ),
42
M M 1184 a 13 und 17.
43
Ebd., 1 1 8 4 b 8.
44
Denn das aristón ist das lelos teleion (MM 1184 a 16f.)
45
M M 1184 b 8.
46
MM 13, 1184 b 11.
47
Vgl. den Anfang von EN, 1094 a 1 ff. Die entsprechende Stelle in EE ist der Anfang des zweiten Buchs, insonderheit 1219 a 11-18, w o jedoch die Terminologie ein wenig anders ist; statt τ έ λ ο ς heißt es έ ρ γ ο ν , statt ε ν έ ρ γ ε ι α χρησις. Demnach wird das έ ρ γ ο ν zweigeteilt in ein έ ρ γ ο ν π α ρ ά την γρησιν (= έ ρ γ ο ν qua Nicht-Akt im Sinne von EN) und in ein έ ρ γ ο ν qua γρησιν (= ε ν έ ρ γ ε ι α im Sinne von EN). Insgesamt wird die Dihärese hier als Differenz von έξις und χρησις gefuhrt, über die im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit gesprochen werden wird. Daß sie aber dem Inhalt nach mit der Dihärese des telos im Sinne von EN und im Sinne von MM ( 1 3 , 1184 b 10 ff.) identisch ist, belegen die Beispiele, mit denen diese Dihärese belegt wird.
48
Unter φρόνησις ist in EE, zumindest in den Büchern Alpha und Beta, nicht die φ ρ ό ν η σ ι ς von EN zu verstehen, die zwar eine dianoëtische Tugend ist, ihre Wirkung
20
Eudaimonia und Akt
die Arete und die (körperliche) Lust (ήδονη) namhaft gemacht 4 9 , die die ersten fünf Kapitel des ersten Buchs der EE über als die drei Kandidaten für die Eudaimonia diskutiert werden. Diesen drei Kandidaten entsprechen drei Lebensformen: dem Denken der bios theoretikos, der Arete der bios politikos und der ήδονη der bios apolaustikos. Jeder dieser drei bioi ist personell repräsentiert: durch den Philosophen, den Politiker und den Genußmenschen. 5 0 Für die Ethik relevant werden allerdings nur das theoretische und das politische Leben; der
aber im ethischen Bereich, d. h. in den ethischen, im entscheidungsrelevanten Handeln gründenden Tugenden entfaltet. Die Terminologie ist hier im CA nicht einheitlich. Das, was in EE φρόνησις heißt, heißt in EN eher σοφία. Es ist aber nicht davon auszugehen, daß beide Komponenten der dianoëtischen Tugenden, die auf die Praxis gerichtete sittliche Einsicht und die rein im Denken verbleibende Weisheit, die in EN terminologisch reinlich getrennt sind, in EE zusammenfallen und damit Ontologie und Ethik unmittelbar identisch sind, wie dies Jaeger und in der Gefolgschaft Jaegers und seiner Entwicklungstheorie Walzer gemeint haben. Danach soll die φρόνησις in EE ein Nachklang der platonischen φρόνησις sein; sie sei, so Jaeger, sowohl theoretische Erkenntnis des übersinnlichen Seins als auch praktische sittliche Einsicht (Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, 2., veränd. Aufl. Berlin 1955, 249). Walzer folgt ihm, wie gesagt, darin (a. a. O., S. 158f.). Sowohl fur Jaeger wie für Walzer sind solche Stellen Belege für ihre Auffassung, daß EE noch unter platonischem Einfluß geschrieben, sie mithin die früheste aller Ethiken sei, während bei den späteren Ethiken die antiplatonische Tendenz vorherrsche und das aristotelische Denken mehr auf das Empirische gerichtet sei. Das spätetste ethische Werk ist nach dieser von Jaeger inaugurierten entwicklungsgeschichtlichen Auffassung, die noch bis in die 50iger Jahre hinein fast ungebrochen war (vgl. etwa von J. Zürcher Aristoteles' Werk und Geist, Paderborn 1952, der allerdings die Entwicklungsthese Jaegers dahin modifiziert, daß er die Entwicklung vom platonischen Idealisten zum Empiriker nicht Aristoteles, sondern dessen Schüler Theophrast durchlaufen läßt; das CA beruht nach Zürcher zwar auf dem Nachlaß des Aristoteles, ist aber in der Form, in der es uns erhalten ist, das Produkt einer 30jährigen Redaktions- und Umänderungsarbeit des Theophrast), MM, die beide, Jaeger und Walzer, für unecht erklären, weil hier der Empirismus die reine dianoëtische Tugend ganz verdrängt habe (Walzer sieht diese Tendenz, die διάνοια aus der Ethik bzw. der praktischen Wissenschaft zu verbannen, als die die ganzen MM beherrschende an, a. a. O., 41). - Zum (sicherlich frühen) Gebrauch des Begriffs der φρόνησις (wie er auch in einer solchen Frühschrift wie dem Protreptikos zu finden ist) vgl. insbesondere Dirlmeiers Kommentar zur EE (Aristoteles, Endemische Ethik, übers, u. komm, von Franz Dirlmeier, 4. Aufl., Berlin 1984), S. 152 (Anm. zu 1214 a 32). 49
EE II 1, 1218 b 34f.
50
EE I 5, 1216 a 27-29; EN I 3, 1095 b 14-19.
21
Eudaimonia als Tugend-Akt
dritte bios wird ausgegliedert. Die Tendenz dazu ist bereits im ersten Buch von EE vorhanden. Ab 1216 a 37 wird nur noch von der Theorie und von der Arete gehandelt. Über die Lust scheint, wie aus den Zeilen unmittelbar zuvor hervorgeht, bereits eine Vorentscheidung gefallen zu sein. Was Aristoteles weder in EE noch in einer der anderen Ethiken vorhatte, war eine Analyse aller drei Lebensformen, wie Dirlmeier bereits richtig angemerkt hatte 51 . Wenn die Lust abgehandelt wird - und dies in extenso in der Tat nur in EN VII und X - , dann unter dem Blickwinkel der eigentlichen und wahren Lust, als die sich nicht die körperliche Lust, d. h. die Lust des apolaustikos, sondern die im Denken wurzelnde Lust herausstellen wird. (Die Lust des apolaustikos wird sich vielmehr als in der Unlust gründend, sofem sie lediglich auf Vermeidung von Unlust aus ist, herausstellen). Aus dem bisher Gesagten wird folgendes deutlich: Erstens konkurrieren in den aristotelischen Ethiken mehrere Ansätze: ein »psychologischer«, ein »metaphysischer« und ein »ethischer«. Die Bestimmung der Eudaimonia erfolgt über eine an der Differenz der Seele (dies der psychologische Ansatz) und über eine an der Differenz des telos geführte Dihärese. 52 Das »Metaphysische« kommt hierbei zunächst methodisch zum Ausdruck, nämlich durch die von Piaton übernommene Technik der Dihairesis, die dieser als einen Grundbestandteil der Dialektik und als das methodische Werkzeug bestimmt, das den Philosophen auszeichnet 53 . Das »Metaphysische« (Allgemei5
'
52
Vgl. Dirlmeiers Kommentar zur EE, a. a. O., S. 177. Schematisch: Das Gute Seelische Güter
*Denken
I Arete •ν
Das Gute Äußere Güter
telos
Nicht-re/os
I Lust y
Eudaimonia
telos qua ενέργεια ι
I telos qua
έργον
Eudaimonia
Vgl. Phaidros 266 b, wo Sokrates sagt, daß er ein Liebhaber der Dihäresen und der synagogai,
des zweiten Grundbestandteils der Dialektik, sei, damit er imstande sei, zu
sprechen und zu denken (λέγειν τε καί φρονειν). Sokrates bezeichnet den als Dialektiker, der die Fähigkeit hat, etwas in eins zusammenzubringen (synagoge) und eines in vieles auseinanderzunehmen (dihairesis). Vgl. in dems. Dialog 249 b-c, wo die Fähigkeit, das aus vielen Wahrnehmungen Hervorgegangene durch Überlegung, λογισμός, in eins zusammenzubringen oder vielmehr das solcherart Zusammengebrachte zu erkennen, συνιέναι, als Anamnesis gedeutet und mit der Seele des Philosophen in Verbin-
22
Eudaimonia und Akt
ne, Abstrakte, Unveränderliche, j e n s e i t s der E i n z e l d i n g e L i e g e n d e ) w i r d dadurch m a n i f e s t , d a ß hier in a l l g e m e i n e r Form, o h n e z u n ä c h s t a u f die E i n z e l d i n g e z u rekurrieren u n d sich bei den g ä n g i g e n M e i n u n g e n über das an s i c h W ä h l e n s w e r t e aufzuhalten, die E u d a i m o n i a als das schlechthin G u t e o d e r v i e l m e h r aus d e m s c h l e c h t h i n Guten b e s t i m m t wird. D a ß d i e s kein ethisch-praktischer Diskurs ist, hat u. a. auch Ackrill n a c h g e w i e s e n . 5 4 D e r für d i e s e dihäretische B e s t i m m u n g der E u d a i m o n i a w e s e n t l i c h e B e g r i f f d e s telos s t o t e l i s c h e M e t a p h y s i k . D a s telos
ist fundamental für die ari-
ist nicht b l o ß e i n e der vier v o n der M e t a p h y s i k
untersuchten U r s a c h e n d e s S e i e n d e n ; e s ist d i e U r s a c h e schlechthin, d i e causarum,
w i e T h o m a s v o n A q u i n das telos
n e n n t 5 5 . Im B e g r i f f d e s telos
nicht, w i e W i e l a n d , w i e w o h l d i e Exponiertheit d e s telos
causa (der
einschränkend, Uber-
z e u g e n d dargestellt hat, in e i n e T e l e o l o g i e im Sinne einer Z w e c k b e s t i m m t h e i t der W e l t e i n g e b u n d e n w e r d e n k a n n 5 6 ) und in d e m aus d e m telos
derivierten
dung gebracht wird. - Piaton gebraucht für die Kunst der Dialektik noch einen anderen Namen, den der Synopsis (Politeia, VII 537 c-d). Dialektiker ist, wer die Verwandtschaft der verschiedenen Wissensgebiete (mathemata) untereinander und die Natur des Seienden erkenne. Die Dialektik ist das, was jemanden zum Philosophen macht (vgl. Sophistes 253 d-e, wo 4 Unterformen der Dialektik, j e 2 Dihäresen und j e zwei synagogai, expliziert werden; die Dialektik ist die Fähigkeit, der Art nach, κ α τ ά γένος, zu unterscheiden,
auf welche Weise ein jedes eine Gemeinschaft
eingehen kann und auf
welche Weise nicht). Ich werde auf die platonische Methode der Dihairesis und ihre Bedeutung für die theoretische Philosophie des Aristoteles im Teil II ausfuhrlich zu sprechen kommen. He [Aristotle - W. S.] is not here running over rival popular views about what is desirable, nor is he yet working out his own account of the best life. He is explaining the logical force of the word eudaimonia
and its relation to terms like ,end', and ,good'. This
is all a matter of report and analysis, containing nothing capable of provoking moral or practical dispute (J. L. Ackrill, Aristotle on Eudaimonia, in: Amélie Oksenberg-Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle's
Ethics, Berkeley 1980, 15-33, p. 22).
S. th. I q. 5 a. 2 ad 1. Vgl. auch von Thomas In Sent. d. 8 q. 1 a. 3 c., wo er bei Besprechung der Transzendentalien das bonum als das transcendens
heraushebt, das wegen
seiner Beziehung zur causa finalis hinsichtlich der Kausalität (secundum rationem salitatis)
cau-
den absoluten Vorrang hat. Zur Bedeutung des telos in der aristotelischen
Philosophie vgl. auch G. Schneider, De causa finali Aristotelea, causa finalis das summum principium
Berlin 1865, der die
der aristotelischen Philosophie nennt (p. 6).
Die aristotelische Teleologie ist dem Sinn einer Zweckbestimtheit sogar entgegengesetzt; denn j e mehr eine Sache telos in sich hat, desto weniger ist sie zweckbestimmt, desto weniger kann bei ihr nach einem Zweck gefragt werden. W. Wieland, Die aristotelische Physik, a. a. O., interpretiert den Begriff des telos als einen Reflexionsbegriff,
Eudaimonia als Tugend-Akt
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Begriff des Akts geht der Begriff des unveränderlichen Seienden und der physis gleichsam auf. Die physis, die Natur oder das Wesen, ist telos (ή δέ φύσις τέλος εστίν 57 ); denn das Wesen ist nach Aristoteles das, worauf ein jeder Prozeß zielt: die Vollendung. 58 Das unveränderliche Seiende, das μη ένδεχόμενον άλλως
der - was meiner Linie der Interpretation der aristotelischen Teleologie entspricht - nur aus einer (durch das Denken hergestellten) Beziehung zwischen bestimmten Wesenheiten oder bestimmten Ereignissen und Sachverhalten heraus zu verstehen ist und daher keine Rückschlüsse auf eine Zweckorientiertheit der Welt zuläßt. »Teleologie«, sagt Wieland, »gibt es nur innerhalb der Welt, aber nicht im Hinblick auf die Welt im ganzen. Das Telos ist [...] ein Reflexionsbegriff, der sich sinnvoll nur auf einzelne
Sach-
verhalte anwenden läßt« (S. 275f. - Hervorhebung von Wieland). Die Teleologie wird richtig weder als ein universales kosmisches Prinzip im Sinne einer von Gott gestifteten Ordnung noch im Hinblick auf eine in der Natur waltende Ursache-Wirkung-Beziehung verstanden. Im Gegenteil! Gerade von dem, was am meisten telos ist, läßt sich eine von ihm intendierte Wirkung, die über es hinausverwiese, nicht mehr aussagen. - Nicht jedoch stimme ich mit Wieland darin überein, daß er das telos in seiner Bedeutung auf die drei anderen Ursachen (Bewegungs-, Stoff- und Formursache) herabdrückt. Denn Stoff und Form lassen sich erst, wie in Teil II dieser Arbeit gezeigt werden wird, durch das lelos erfassen. Dies gilt auch fur die Bewegungsursache und für das, was allererst bewegend genannt wird, in herausragendem Maße, nämlich für das unbewegt Bewegende, das als reiner Akt in Met. Λ 7 mit Bezug auf sein Nur-noch-re/oi-Sein bestimmt wird. Wenn Wieland S. 273 darauf zwar verweist, aber dennoch den aristotelischen Beweis für das unbewegt Bewegende nicht in teleologischen Gedankengängen begründet sein läßt, so hängt dies zum einen mit der von ihm fraglos angenommenen Identifizierung des unbewegt Bewegenden mit Gott und zum anderen mit der Ablehnung einer universalen Teleologie der Natur zusammen. Nur in letzterem stimme ich Wieland zu. 57 58
Pol. 12, 1252 b 32. Ebd., b 32ff. Vgl. auch Phys. II 2, wo gleichfalls die Physis mit dem telos identifiziert wird (194 a 28). In diesem Zusammenhang wird auch die Beziehung zwischen telos und είδος deutlich. Denn aufgrund der dichotomischen Einteilung der Physis in Stoff und είδος fallen είδος und telos zusammen, weil in dem Verhältnis von Stoff und Wesen (είδος) dasjenige Wesen ist, worumwillen der Stoff ist, i. e. worein der Stoff in einem Prozeß sich verwirklicht. Das ε'ίδος ist die τελεΐωσις des Werdens, weswegen Aristoteles, der in der Physik die Dichotomie von Stoff und Wesen mit der Dichotomie von Potenz und Akt parallelisiert (II 1, 193 b 3-8), das Werden einen Weg zur Physis nennt (οδός εις φύσιν, 193 b 13); denn der Endpunkt des Werdens (das είδος) ist immer besser als der Anfangspunkt, der Stoff. Erst vom Endpunkt des Werdens her wird das Wesen eines Seienden bestimmt - und ebenso der Stoff, nämlich als Potenz (im Sinne der Potenz-Akt-Differenz) und als Privation (nämlich als Privation des ε'ίδος). Aber nicht
24
Eudaimonia und Akt
έχειν, ist ein actu Seiendes. Vom unbewegt Bewegenden, dem reinen Akt, und von ihm als dem Prinzip der φύσις zuallererst, wird das unveränderliche, absolute Sein ausgesagt. 59 Der »ethische« Ansatz hingegen geht nicht von der φύσις und vom unveränderlichen Seienden aus, sondern vom ethos und vom veränderlichen Seienden, dem πρακτόν. Physis und Ethos 60 werden von Aristoteles in der Ethik ausdrücklich einander entgegengesetzt. Nichts von dem, was φύσει ist, läßt sich umgewöhnen (άλλως εθίζεται) 6 1 . Das ήθος aber und allgemein das, worauf die Politik (als deren Teil die Ethik dargestellt wird) zielt, gründet nicht in der Physis, sondern im Veränderlichen, eben im έθος oder in der Konvention, im Gesetz (νόμος) 6 2 . Und zweitens konkurrieren infolge der unterschiedlichen Ansätze in der Ethik, und der Statuierung der Kanditaten für den Glücksbegriff zwei grundlegende Handlungsweisen miteinander: die Theorie und die Praxis. Mit diesen beiden Handlungsweisen sind aber wieder zwei unterschiedliche Wissensdisziplinen assoziiert: die Philosophie und die Politik; denn in jener ist der bios theoretikos und dessen Vertreter, der Philosoph, und in dieser der bios politikos und dessen Vertreter, der Politiker, repräsentiert. Wir stehen also hiermit vor einem Pragmatienproblem, das im Grunde nur eine Variation des eingangs dieses Kapitels erläuterten Problems des Gegenstands der Ethik ist: Handelt die Ethik von der Eudaimonia oder von der Arete? Bis jetzt ist immerhin so viel klar: erstens daß die Frage nach der Eudaimonia zur Frage nach der Arete führt und daß umgekehrt auch die Frage nach der Arete zur Frage nach der Eudaimonia fuhrt und zweitens daß die Arete ein Teil der Eudaimonia ist. Nun könnte gesagt werden, daß die dihäretische Bestimmung der Eudaimonia lediglich eine methodische Bewandtnis hatte und dazu führen sollte, die Arete in ihrem Wesen genauer einzugrenzen, daß im Mittelpunkt der Ethik also die Arete steht und nicht die Eudaimonia oder die Eudaimonia nur insofern, als sie der Oberbegriff für die Arete ist. Die Theorie, das bei sich bleibende Dennur είδος und te lo s fallen bei den φύσει όντα zusammen, sondern auch die dritte wesenhafte Ursache, die causa motrix (vgl. besonders Phys. II 7, 198 a 24-26). 59 60
Met. Λ 7, 1072 b 13. Dem Terminus Ethos entsprechen im Griechischen zwei Begriffe, der Begriff έθος zum einen (Gewohnheit, Norm, Sitte) und der Begriff ήθος (Charakter, Verhaltensweise) zum anderen. Dieser Begriff, von dem die Ethik ihren Namen und als Pragmatie über das ήθος ihr Dasein als selbständige Disziplin hat, ist von jenem Begriff mit einer kleinen Abwandlung, wie Aristoteles sagt (EN II 1, 1103 a 17 f.), gebildet worden.
61
Ebd., 1103 a 20.
62
EN I 1, 1094 b 16.
Eudaimonia als Tugend-Akt
25
ken, als der zweite maßgebliche Kandidat für den Glücksbegriff würde danach aus der ethischen Untersuchung herausfallen oder bestenfalls am Rande abgehandelt werden müssen - abgehandelt werden aus Gründen der Stringenz in der Methode. Für diese Interpretation spräche, daß im ersten Buch der EE, wo die drei Glückskandidaten besprochen werden und der eine, die Lust, wie dargelegt, faktisch bereits ausgeschieden ist, in der Tat die Tendenz da ist, die Untersuchung nur noch auf die Arete einzugrenzen. Denn Aristoteles nimmt dort eine weitere Einteilung des Guten vor. Nachdem er herausgestellt hat, daß für die vorliegende Untersuchung nur das menschliche Gute relevant ist, teilt er das Gute in praktisches und nichtpraktisches Gutes. 63 Die spezifische Differenz für diese Dihärese ist die Bewegung. Das nichtpraktische Gute hat nicht Anteil an der Bewegung, das praktische Gute hat Anteil an der Bewegung 64 . Obwohl das nichtpraktische Gute seinem Wesen nach am besten ist, wird es aus dem für die menschliche Praxis relevanten Glücksbegriff ausgesondert - eben aus dem Grunde, weil es kein πρακτόν ist. Die für die Ethik und Politik maßgebliche Eudaimonia wäre also nur noch die Arete - eine Annahme, die wenig später, kurz vor dem Ende des ersten Buchs der EE, durch die Zeilen 1218 a 33 ff. gestützt zu werden scheint. Für die Ausgrenzung der Theorie aus dem für die Ethik relevanten Eudaimoniabegriff spräche ferner, daß auch in den anderen beiden Ethiken die Eudaimonia mit der Arete konnotiert wird, und in MM sogar, ohne daß der Weg von der Eudaimonia zur Arete über die drei bioi genommen würde. Die Eudaimonia ist in MM ein Leben im Sinne der Arete. Und die Arete ist eine ενέργεια der Seele. 65 Das einzige, was Aristoteles in MM zwischen die Behandlung des teleiotaton als Eudaimonia und die Bestimmung der Eudaimonia als Arete (womit endgültig der Zirkel zum Ausgangspunkt von MM geschlossen wäre) schiebt, ist eine kurze psychologische Erörterung, die den Zweck hat, die Arete in der Seele
EE 17, 1217 a 30 ff. Ich lese in der Zeile 33 nicht - wie die Handschriften - των άγαθων, sondern, der Konjektur von Russell folgend, πρακτων άγαθων. Aber selbst wenn man dieser Konjektur nicht folgen wollte (für die sich auch Mingay in seiner Edition entschieden hat), müßte man zumindest gedanklich das Attribut πρακτων ergänzen. Andernfalls hätte die Dihärese, die Aristoteles vornimmt, keinen Sinn. Zwar grenzt auch Dirlmeier die αγαθά von Zeile 33 ein, und zwar auf die menschlichen άγαθά; doch waren diese nicht Ausgangspunkt der Dihärese (Dirlmeier im Kommentar a. a. O., S. 192). Was Dirlmeier freilich im Blick hat, ist die Trennung von göttlichen (oder übermenschlichen, jenseits des Menschlichen liegenden Gütern) und menschlichen Gütern, welche nach Dirlmeier allein Gegenstand der Ethik sind. MM 14, 1184b 27-36.
26
Eudaimonia und Akt
zu lokalisieren. Die Eudaimonia ist somit ein psychischer Akt der Arete. Dies ist auch das Ergebnis der, hier wieder über die drei bioi vermittelten, Untersuchungen im ersten Buch von EN. Auch hier wird die Eudaimonia als Tugend-Akt der Seele bestimmt, als eine ψυχής ενέργεια κ α τ ' άρετήν. 6 6 Gegen diese Einwände und für eine Einbeziehung der Theorie in die ethische Untersuchung spricht aber in bezug auf EE die Ausklammerung des telos aus dem άκίνητον, die Aristoteles am Ende des ersten Buchs vornimmt. In 1218 b 19ff. macht Aristoteles erneut eine Dihärese des Guten auf der Grundlage der Differenz der Bewegung. Das Neue ist jetzt, daß dem Unbewegten das telos ab-, dem Bewegten hingegen das telos zugesprochen wird. Dies muß verwundern, weil in Met. Λ das άκίνητον κινούν sogar mit dem schlechthinnigen telos zusammenfallt. Die Klärung dieses Sachverhalts wird im zweiten Teil meiner Arbeit erfolgen. Für jetzt nur so viel: Am Ende der Dihärese wird die Philosophie ausdrücklich wieder in das praktische Gute einbezogen, sofern man φρόνησις nicht im Sinne der φρόνησις von EN, sondern in der fur EE spezifischen Bedeutung betrachtet, die ich oben ausführlich erläutert habe 67 . Es ist daher unangemessen, wie Dirlmeier die φρόνησις von 1218 b 14 mit »praktischer Einsicht« zu übersetzen, obschon doch Dirlmeier selbst fìir eine einheitliche Bedeutung von φρόνησις in EE, die sich von der in EN unterscheidet, plädiert hat. 6 8 Ferner spricht für die Einbeziehung der Theorie in die Ethik, daß auch in den Begriff der Arete die Theorie einbezogen werden kann. Der Grund dafür liegt darin, daß der Begriff Arete eine doppelte Bedeutung hat, eine engere und eine weitere. Die engere Bedeutung von Arete ist die auf das ήθος bezogene, die einzig und allein dem Menschen eigen ist. In diesem Sinne wird Arete wie im ersten Buch von EE durchweg und an anderen Stellen häufig ohne das Epitheton ηθική gebraucht. In diesem Sinne wird Arete auch als Begriff für die ethische Pragmatie selbst verwendet wie in EN 1105 a 1 1 . - Die weitere Bedeutung von Arete ist die des Vorzugs, der Trefflichkeit, und zwar der Trefflichkeit in der Leistung, für die etwas spezifiziert ist. Arete in diesem Sinne bedeutet, daß etwas sein ίδιον έργον, seine ihm eigentümliche Leistung, gut macht. Die Arete im weiteren Sinne wird also mit Bezug auf die spezifische Leistung, auf die spezifische Differenz und Funktion ausgesagt, mit der etwas von anderem we66
EN 1 10, 1099 b 26. Vgl. auch 1 13, 1102 a 5 f.
67
Vgl. Anm. 48.
68
Dirlmeier a. a. O., S. 17 (in der Übersetzung) und 214f. (im Kommentar). Vgl. ferner Anm. 48. - Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß Aristoteles in Zeile 1218 b 13f. nicht nur die Politik und die φρόνησις (qua Theorie!) für die für den Menschen hauptsächlichen π ρ α κ τ ά geltend macht, sondern auch die Wirtschaft, welche, wie ich oben angedeutet habe, als poietische Handlung aus der Ethik herausfällt.
Eudaimonia als Tugend-Akt
27
senhaft unterschieden werden kann. Dieses Etwas ist aber nicht wie im Falle der Arete im engeren Sinne nur auf den Menschen eingegrenzt. Auch ein Organ wie das Auge oder ein nichtmenschliches Lebewesen kann Arete in diesem, erweiterten Sinne haben. So spricht Aristoteles von der Arete des Auges, die darin besteht, das Werk, für das das Auge zuständig ist, das Sehen, gut zu machen, oder von der Arete des Pferdes, die darin besteht, gut zu sein im Laufen. 69 Das "ίδιον έργον des Menschen liegt im Logos und νους; denn was ihn vor den übrigen Lebewesen auszeichnet, ist seine Fähigkeit zu denken. Daher bedeutet Arete in bezug auf den Menschen, daß er sein ihm eigentümliches Werk, das Denken, gut mache. Aristoteles hebt nicht eigens diese Bedeutungsvielfalt des Wortes Arete hervor, was darin begründet liegen mag, daß beide Aspekte der Arete, sowohl der funktionale als auch der im engeren Sinne ethische, nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind und daß der funktionale Aspekt implizit im ethischen enthalten ist. Andernfalls müßte die Arete im engeren Sinne ohne Bezug auf das ίδιον έργον des Menschen, auf das, worin der Mensch wesenhaft Mensch ist, gedacht werden, was aber bei einer Abhandlung, die sich die Aufgabe gestellt hat, vom άνθρώπινον αγαθόν zu handeln, sonderbar wäre. Daß dies nicht der Fall ist, soll die nun darzulegende Differenzierung der Arete in dianoëtische und ethische Arete zeigen, die Aristoteles von der Bestimmung der Eudaimonia als eines (seelischen) Tugend-Akts aus in EN I 13 durchfuhrt.
Die Differenz von dianoëtischer und ethischer Tugend Die Differenzierung der Arete in ethische und dianoëtische wird psychologisch vollzogen. Dies haben alle drei Ethiken gemeinsam 70 . Was bei EN auffällt, ist der Bezug zur Politik. Bisher schien es, als ob die Politik von der Arete her, und zwar - wie wir jetzt sagen müssen - von der Arete im engeren Sinne ihren Platz in der ethischen Untersuchung hätte. Doch bereits das erste Kapitel von Buch I der EN zeigt eine andere Herleitung der ethischen Relevanz der Politik. Zum einen verdankt die Politik ihren Platz in der Ethik der Tatsache, daß sie fur die am meisten leitende Wissenschaft gehalten wird. 71 Diese Bestimmung gibt Aristoteles im Anschluß an die teleologische Abhandlung, mit der EN beginnt und die zum αγαθόν und άριστον, zu dem, was am meisten telos ist, als dem möglichen Gegenstand der Untersuchung fuhrt. 72 Diese Untersuchung könnte 6 9
E N II 5, 1 1 0 6 a 15-21.
70
V g l . M M I 5, 1185 a 3 6 - b 12; EE II 2, 1 2 1 9 b 2 6 - 2 0 a 12.
71
EN 1094 a 26-28.
72
EN 1094 a 22.
28
Eudaimonia und Akt
deswegen eine politische genannt werden, weil sie - in Analogie zum Politiker, der als der Lenker im Staate auf die τέλη der Polis schaut - die Wissenschaft von den höchsten Zielen ist, und zwar - und dies ist der zweite Grund, weshalb die Politik mit der Ethik in Gemeinschaft gebracht wird - von den höchsten Zielen des Menschen-, denn die Untersuchung wird in 1094 b 7 auf das für den Menschen Zielhafte, auf das άνθρώπινον α γ α θ ό ν hin geführt. Das menschliche Gut ist als individuelles Gut zugleich ein politisches Gut, so zwar, daß jenes unter dieses subsumiert wird. 73 Die Untersuchung des άνθρώπινον α γ α θ ό ν ist also eo ipso eine politische Untersuchung. Damit wird aber auch die Aufgabe des Politikers, dessen, der sich mit den Angelegenheiten der Polis beschäftigt, von vornherein eine ethische. Seine Aufgabe ist, das menschliche Gut für die Polis und damit für die einzelnen Bürger, aus denen die Polis sich konstituiert, zu befordern. Das Gut des Menschen wird aus der Seele bestimmt. Der Politiker muß mithin zugleich Psychologe sein, und er muß wissen, in welchem Teil der Seele das menschliche Gut liegt, d. h. wo das Gute des Menschen, sein ergon, zu finden und wie es durchzusetzen ist. Wenn, wie sich im Verlauf der weiteren Analyse herausstellen wird, das höchste Gut für den Menschen in der Philosophie, im reinen Denken liegt, so muß dies zwar nicht bedeuten, daß der Politiker zugleich Philosoph sein muß. Aber der Politiker muß um die Notwendigkeit der Philosophie wissen, sofern es in ihr und durch sie das ergon des Menschen zu verwirklichen gilt, - womit noch nicht gesagt ist, daß bei ein und demselben Menschen politisches und philosophisches Tätigsein einander ausschließen; vielmehr wird, sofern philosophische Aktivität an die Voraussetzung, ein freier Grieche, i. e. Bürger einer Polis zu sein, gebunden ist, Philosophie mit politischem Tätigsein assoziiert sein, wenn man von der Volldefinition des Bürgers, die Aristoteles im dritten Buch seiner Politik gibt, ausgeht: nämlich aktiv teilzuhaben an den Angelegenheiten der Polis, an Verwaltung und Regierung (άρχή) einerseits und an der Gerichtsbarkeit (κρίσις) andererseits. 74
»Denn wenn«, so Aristoteles, »das Gute fur das Individuum und für die Polis das nämliche ist, erscheint es als größer und vollkommener, das Gut der Polis durchzusetzen und zu erhalten« (EN I 1, 1094 b 7-9). Aristoteles geht noch weiter, indem er das Gut der einzelnen Polis dem Gut für die gesamten Poleis, i. e. für das gesamte Volk der Griechen, unterordnet (ebd., 1094 b 9f.), womit die ethische Untersuchung nicht bloß in einem lokalpolitischen, sondern in einem nationalpolitischen Rahmen geführt wird, keinesfalls allerdings in einem kosmopolitischen Rahmen. Aristoteles behält die strikte Trennung von Griechen und Barbaren bei. Der Barbar ist der geborene Diener und Sklave. Dies ist seine Bestimmung (vgl. Aristoteles, Politik 1 2, 1252 b 8-9). 74
Aristoteles, Politik
III 1, 1275 a 22-23 und 1275 b 18-21. Vgl. auch Günther Bien:
»Zweck des Staates [ . . . ] ist die Realisierung des menschlichen Glücks und der Lebens-
Eudaimonia als Tugend-Akt
29
Die psychologisch durchgeführte Differenzierung der Arete in ethische und dianoëtische Arete, die in EN I 13 vom Aspekt der Politik aus vorgenommen wird, wird in I 7 antizipiert. Aristoteles nimmt hier erstmals eine Zweiteilung der menschlichen Seele in einen logischen oder vernünftigen Teil (den Logos habenden Teil) und in einen alogischen oder vielmehr, wie er unmittelbar bestimmt wird, in einen dem Logos gehorchenden Teil (έπιπειθές λόγω) 7 5 vor. Diese Differenzierung geschieht in Verfolg der Suche nach der spezifischen Leistung des Menschen, seinem idion ergon?6 Damit wird angezeigt, wo die Arete (oder die Eudaimonia als der Inbegriff des Guten) zu finden ist. Tüchtig (tugendhaft, σπουδαίος) und glücklich zu sein bedeutet für den Menschen, sein idion ergon gut zu machen 77 . Das idion ergon liegt im Logos, freilich nicht nur im reinen Logos, sondern auch in etwas, was vom Logos zwar verschieden ist, aber nur mit Bezug auf den Logos ausgesagt wird, mithin nur in seiner Logosbezogenheit relevant ist fur die Differenzierung der Tüchtigkeit im idion ergon des Menschen. In I 13 macht Aristoteles die Andeutung, daß diese beiden Seelenteile möglicherweise gar nicht rein voneinander zu scheiden seien 78 . Aristoteles differenziert im weiteren Verlauf seiner Untersuchung den dem Logos gehorchenden Teil aus dem alogischen heraus (was in I 7 nicht passiert war). Danach ist die Seele trennbar in einen logischen und in einen alogischen Teil, dieser wiederum in einen im strengen Sinne alogischen Teil (den vegetativen Teil der Seele, der in keiner Weise am Logos teilhat) und in einen Teil, der am Logos teilhat, den dem Logos gehorchenden Teil, der von Aristoteles als Begierde (όρεξις) bestimmt wird. 7 9 Relevant fur die Differenzierung in ethische und dianoëtische Arete sind, wie gesagt, die Teile der Seele nur insofern, als sie auf den Logos erflillung, das gute und vollkommene Leben, ein Leben nach freier Selbstbestimmung, eine Existenz in Muße und vollendeter Selbstgenügsamkeit« (Einleitung zu Aristoteles' Politik in der Übersetzung von Eugen Rolfes, 4. Auflage, Hamburg 1981 (Nachdruck 1990), XXI). Daß dieses autarke, glückliche Leben sich nicht nur in der Arete im engeren Sinne, sondern auch in der Philosophie verwirklicht, zeigen u. a. Stellen wie Politik VII 15 (bes. 1334 a 3Iff.), in denen das von der Polis und ihren Gliedern zu bewirkende und zu befördernde müßige Leben sowohl in ethischen Tugenden wie im Maßhalten und in der Gerechtigkeit als auch in der Philosophie, im reinen Denken, gesehen wird. 75
1098 a 4.
76
1097 b 22-34.
77
1098 a 7-12.
78
1102 a 28-32. Ob diese beiden Seelenteile so klar voneinander getrennt werden können wie die Teile des Körpers oder wie die Begriffe konkav und konvex, läßt Aristoteles an dieser Stelle offen.
79
EN 1102 b 28-31.
30
Eudaimonia und Akt
bezogen sind. Danach sind die ethische Arete aus dem dem Logos gehorchenden Teil und die dianoëtische Arete als reine Verstandestugend aus dem logischen Teil, dem λόγον έχον, abgeleitet. Diese Ableitung ist in den anderen beiden Ethiken eindeutig. 8 0 In EN hingegen kommt eine Schwierigkeit in diese Diskussion dadurch hinein, daß am Ende von I 13 (1103 a 2-3) auch der Logos habende Teil differenziert wird und unmittelbar nach dieser Differenzierung die Trennung der Arete in dianoëtische und ethische erfolgt. Der Logos habende Teil wird dabei in Analogie zur Dihärese des alogischen Teils getrennt in einen Teil, der hauptsächlich (κυρίως) und an sich (έν αύτω) Logos hat, und in einen, der »wie ein auf den Vater Hinhörendes« ist, also in Beziehung gesetzt wird zu dem dem Logos gehorchenden alogischen Seelenteil. Daraus ergibt sich für EN in bezug auf die Einteilung der Tugenden in ethische und dianoëtische folgendes Schema: Seele
A) alogischer Teil a) vegetativer Teil (nicht am Logos teilhabend)
a ' ) am Logos teilhabend (δρεξις)
B) den Logos habender Teil b ' ) der Logos b) der reine qua HinhöLogos rendes
Die Schwierigkeit liegt bei b ' 8 1 . Und nur in Hinsicht auf b ' sind die Kommentatoren uneins. Einig sind sie jedoch darin, daß - in Übereinstimmung mit den entsprechenden Stellen in M M und EE - aus a ' die ethischen Tugenden und aus Β die dianoëtischen Tugenden abgeleitet sind. Die Möglichkeiten, b ' zu interpretieren - und zwar mit Bezug auf a ' zu interpretieren - , sind folgende: I. b ' und a ' meinen dasselbe (sind aber voneinander verschieden). II. b ' und a ' sind dasselbe.
M M I 5, 1185 b 3-7; EE II 1, 1220 a 8-11. In E E wird der Logos habende Teil, aus dem die Verstandestugenden abgleitet werden, der anordnende Teil der Seele genannt im Gegensatz z u m gehorchenden, am Logos ίβ(/habenden Teil, aus d e m die ethischen Tugenden abgeleitet werden. Ich h a b e zu dem Z w e c k e a ' und b' gewählt, um deutlich zu machen, daß a ' und b' ihre Subsumtion unter dieses Schema dem verdanken, was a und b in Reinheit sind.
Eudaimonia als Tugend-Akt
31
III. b' und a' sind auf dasselbe bezogen (sind aber weder dasselbe, noch meinen sie dasselbe). Zu denen, die Möglichkeit I favorisieren, gehören u.a. Dirlmeier82, Bien 83 und Graeser84. Möglichkeit II favorisieren Apostle 85 , Gauthier86, Ingenkamp87 (allerdings anders als Gauthier) und Fortenbaugh88, Möglichkeit III Ackrill 89 und ich. Dirlmeier erklärt als Möglichkeit, b' in Parallele zum passiven Denkvermögen von De anima III 4 und 5 als rezeptives Vermögen des Logos habenden Seelenteils zu lesen, ohne sich auf die Schwierigkeiten, die eine solche Deutung mit sich bringt, einzulassen. Bien sieht darin, daß Aristoteles b' und a' »zusammennimmt«, eine Antwort auf die von Aristoteles als Frage formulierte Andeutung, ob der alogische und der Logos habende Seelenteil streng voneinander geschieden seien, und erklärt die Verschiedenheit von b' und a' als eine nur begriffliche. Apostle mildert die Unterscheidung noch weiter als ein bloß sprachliches Problem ab und identifiziert b' und a', wobei er die Wörter »teilhaben« (μετέχειν) und »haben« (έχειν) konnotiert. Wenn Aristoteles in Zeile 1102 b 32 vom gehorchenden »alogischen« Seelenteil, den er kurz zuvor als am 82
In seinem Kommentar zu EN, 9. Aufl., Berlin 1991, 293.
83
In seinem Kommentar zu EN (Aristoteles, Nikomachische Ethik, auf d. Grundlage d. Übersetzung von E. Rolfes hrsg. u. komm. v. Günther Bien, 3. Aufl., Hamburg 1972), 273.
84
Andreas Graeser, Zu Aristoteles, EN I 13 und I 7 [in Erwiderung auf Ingenkamp und Fortenbaugh - W. S.], in: Philologus
85
Hippocrates
G. Apostle,
118 (1974), 218-223.
The Nicomachean
Ethics,
transi, with
Commentaries,
Dordrecht 1975, 223 f. 86
René-Α. Gauthier, L' Ethique à Nicomaque
II, Commentaire, Paris 1959, 97. Gauthier
hat die όρεξις durch Vereinheitlichung von a' und b' zu einem halb rationalen und einem halb irrationalen Teil gemacht. 87
Heinz Gerd Ingenkamp, Die Seele nach Aristoteles, EN I 13, in: Philologus
112 (1968),
126-129. 88
William W. Fortenbaugh, Zu der Darstellung der Seele in der Nikomachischen Ethik I 13, in: Philologus
114 (1970), 289-291. Der Aufsatz stützt die These von Ingenkamp,
liegt aber auf einer anderen Argumentationsebene als der Aufsatz von Ingenkamp. Vgl. von Fortenbaugh auch den in derselben Zeitschrift abgedruckten Aufsatz »Zur Zweiteilung der Seele in EN I 7 und I 13« (Philologus 120 (1976), 299-302), der auf Graesers Vorwürfe gegen ihn und Ingenkamp antwortet, aber der Tendenz nach nichts Neues enthält. J. L. Ackrill, Aristotle 's Ethics, London 1973, 245f.
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Eudaimonia und Akt
Logos fô/7habenden bestimmt hat, sagt, daß auch er Logos habe und in 1103 a 1 in dem Bedingungssatz, aus dem die Trennung von Β (dem λόγον έχον) gefolgert wird, diese Rede vom Logoshaben des alogischen Seelenteils wiederholt, so scheint in der Tat fur Apostle zu sprechen, wenn er in b ' a ' nur anders ausgedrückt sieht: a ' und b ' sind also nur verschiedene Ausdrücke ein und derselben Sache, wobei die Unterschiedlichkeit des Ausdrucks die Ursache für die unterschiedliche Subsumtion des dem Logos gehorchenden Seelenteils unter A und unter Β ist. 90 Ebenso macht sich Ingenkamp die unterschiedliche Rede von a ' als am Logos fe/Thabend und als Logos habend zunutze und sieht in a ' und b ' auch nur unterschiedliche Aspekte derselben Sache, deutet aber b ' - und das ist höchst interessant - als eine neue Hypothese, die Aristoteles a ' antithetisch gegenüberstelle. Danach wird ein und derselbe Seelenteil, die όρεξις das eine Mal als alogisch - als Bestandteil von A - , das andere Mal als Bestandteil von B, wenn auch nur hypothetisch, gedeutet. Das bedeutet, daß nach dieser neuen Hypothese »das όρεκτικόν selbst λόγος hat oder im λόγον έχον ist« 91 . Fortenbaugh stützt diese These, legt aber Aristoteles eine andere Intention unter: Um zu vermeiden, daß der Leser a, a ' und b mit der Seelenteilung von De anima in vegetative, ästhetische und intellektive Seele identifiziere, habe Aristoteles hinzugefügt, »daß man den gehorsamen Teil in das λόγον έχον einschließen könnte«. 92 Graeser hält, sich gegen solche Deutung strikt aussprechend, an der Unterscheidung von alogischen und logischen Seelentätigkeiten fest, um die Konsequenz, die aus einer solchen Deutung gezogen werden könnte (und die weder Ingenkamp noch Fortenbaugh tatsächlich gezogen haben), zu vermeiden, nämlich die Deduktion der ethischen Tugenden aus B. Graeser kommt jedoch, die Fregesche Distinktion von Sinn und Bedeutung verwendend, um zu zeigen, daß das alogon zwei verschiedene Bedeutungen hat, fast zu demselben Resultat, dazu, daß der Ausdruck des alogon durch den Ausdruck des Logoshabens ersetzt werden könne und damit »sich άλογον und λόγον έχον nicht notwendig ausschließen« 93 . Graeser erwähnt auch eine Möglichkeit, b ' zu lesen, die er selbst zwar verwirft, aber die immerhin denkbar ist: die Möglichkeit, die Differenzierung des Logos habenden Seelenteils in EN I 13 im Zusammenhang zu lesen mit der 90
If w e call this part >nonrationalAußenwelt«< (W. Wieland, Die aristotelische
305
Physik, a. a. O., 145).
»It is not correct to say«, sagt Lukasiewicz über die Einteiung des Seienden, die Aristoteles in An. pr. I 27 hinsichtlich der Art der Prädizierung vornimmt und in der Lukasiewicz korrekturbedürftige Ungenauigkeiten sieht, »that a thing may be predicated, because a predicate is a part of a proposition and a proposition is a series of spoken or
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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können nicht kategorisiert und prädiziert werden, sofern man unter Ding, womit Lukasiewicz τ α ό ν τ α hier unzulässig übersetzt, etwas außerhalb der Sprache meint. M a g es »Dinge« außerhalb der Sprache, eine »Realität« außerhalb des Denkens geben; über sie kann schlechterdings nicht geredet werden (es kann allenfalls über etwas geredet werden, was als Realität und Ding gedeutet, gedacht wird). Nicht über Dinge, w i e ihm Lukasiewicz unterstellt, redet Aristoteles, wenn er Seiendes hinsichtlich seiner Kategorisierbarkeit einteilt, sondern über λ ε γ ό μ ε ν α und κ α τ η γ ο ρ ο ύ μ ε ν α , über etwas also, was in der Rede als ihr Zugrundeliegendes begegnet (Subjekte nach heutigem Sprachgebrauch) und über die Rede selbst (über Prädikate nach heutigem Sprachgebrauch). Und diese λ ε γ ό μ ε ν α und κ α τ η γ ο ρ ο ύ μ ε ν α (Begriffe oder Ausdrücke, w i e Lukasiewicz übersetzt) sind das, worin sich Seiendes als Seiendes z e i g t . 3 0 6
written words having a certain meaning. The term »Callias« may be predicated of another term, but never thing Callias. The given classification is not a division of things but a division of terms« (J. Lukasiewicz, a. a. O., 6). Es ist offensichtlich, daß die Ungenauigkeiten, die Lukasiewicz hier sieht, nicht dem aristotelischen Text, sondern Lukasiewicz' Denken entspringen, das auf der Annahme einer Trennung von sprachfreier Wirklichkeit und Sprache beruht, einer Trennung, die Aristoteles nicht kennt. Eine solche Trennung unterstellt Lukasiewicz dem Stagiriten. Daß Aristoteles irgendwo zwischen dem »Ding« Kallias und dem Begriff Kallias unterscheidet, ist mir nicht bekannt. Mir ist übrigens auch nicht bekannt, daß ein »Term« wie Kallias von Aristoteles, außer in akzidenteller Weise, als Prädiakat verwendet wird; ein Term wie Kallias ist nicht Aussage, κατηγορούμενον, sondern etwas, was der Aussage zugrunde liegt, etwas, wovon ausgesagt wird, καθ' ού κατηγορείται. Eben dies sollte die von Aristoteles vorgenommene Einteilung des Seienden zeigen: daß es in der Rede Begegnendes gibt, das wie Kallias immer nur Subjekt ist, neben dem, was immer nur Prädikat, und dem, was sowohl Subjekt wie Prädikat ist. In diese drei Klassen teilt Aristoteles in An. pr. I 27 das Seiende qua λεγόμενα ein (diese Stelle wird uns noch beschäftigen). Wenn Lukasiewicz sagt, daß diese Klassifikation nicht eine Klassifikation von Dingen, sondern von Begriffen oder Termen sei, so ist dies völlig in der Ordnung; nur habe dies nach Lukasiewicz' Meinung Aristoteles nicht intendiert. Lukasiewicz unterstellt Aristoteles eine Bezugnahme der Sprache auf außersprachliche Dinge oder Gegenstände (eine Bezugnahme, die Lukasiewicz völlig zu Recht ablehnt). Dies hängt aber damit zusammen, daß nicht Aristoteles, sondern Lukasiewicz die όντα als außersprachliche Dinge begreift. Es ist daher unzutreffend, bei Aristoteles einen Unterschied zwischen »logisch« und »ontologisch« zu machen. Dies hat ausführlich E. Vollrath gezeigt in seinen Studien zur Kategorienlehre des Aristoteles, Düsseldorf 1969. Ein solcher Unterschied ist deswe-
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Akt und ousia
Wenn Seiendes dadurch charakterisiert ist, daß es in der Rede begegnet, dann dürfte die Aporie von Met. Ζ 1 leicht dahin entschieden werden, daß Sitzen, Gehen und Gesundheit als Seiendes anzusprechen seien; denn Ausdrücke wie Gehen, Gesundsein und Sitzen können in der Rede als υποκείμενα, als καθ' ού κατηγορείται, als Subjekte begegnen, nämlich in Aussagen wie »Gehen ist eine Art der Fortbewegung«, »Gesundsein ist eine Art des Wohlbefindens«, »Sitzen ist eine Art des Ruhens«. Daß dies Seiendes ist, kann durch die Stellen bestätigt werden, in denen Aristoteles die Einteilung des Seienden nach der Art der Prädikation vornimmt, durch Cat. 2 und durch An. pr. I 27, die Stelle, an der Lukasiewicz Anstoß genommen hat. Denn gemäß diesen Einteilungen gehören Begriffe wie Gesundheit, Sitzen etc. zu dem, was von keinem anderen ausgesagt wird (μηδενός άλλου κατηγορείται, An. pr. 43 a 26, vgl. Cat. 1 a 23 f.), von dem aber anderes ausgesagt wird (κατά τούτων άλλα [sc. κατηγορείται], 43 a 27 f., in der Kategorien-Stelle wird dieses Merkmal nicht genannt), zu einer Klasse also, die Aristoteles sowohl in der einen wie in der anderen Stelle als eine Klasse des Seienden begreift. Auch die Beispiele, die Aristoteles für einen Teil dieser Klasse anfuhrt, können zumindest in der Kategorien-Stelle in Analogie zu den Beispielen aus der Aporie von Met. Ζ 1 gelesen werden. Denn in Cat. 1 a 26 f. werden u. a. für das, was von keinem anderen (Zugrundeliegenden) ausgesagt werden kann, für das also, was nur Subjekt ist, Grammatik, i. e. Lese- und Schreibkundigkeit, und das Weiße angegeben. Lese- und Schreibkundigkeit ist eine Art des Wissens (έπιστημη), das Weiße eine Farbe. Beide Ausdrücke können nur als Subjekte fungieren; als Prädikate können nur die Adjektive auftreten, deren Substantivierung sie sind, nämlich »schreib- und lesekundig« (γραμματικόν) oder »weiß« in Sätzen wie »Sokrates ist schreib- und lesekundig«, »Sokrates ist weiß«. Das gleiche trifft für Gesundheit, Sitzen etc. zu. Auch hier können die Substantive nur als Subjekte auftreten und die Adjektive und Partizipien als Prädikate (»Sokrates ist gesund, Sokrates ist sitzend«). Die Struktur ist also ganz die gleiche. Dennoch aber ist die Aporie so einfach nicht zu lösen, und die Bestätigung dieser Lösung durch die eben angeführten Stellen war nur möglich, indem diese Stellen sehr selektiv gelesen wurden. Aristoteles entscheidet sich in Met. Ζ 1 sogar in genau entgegengesetzter Richtung: Gehen, Sitzen etc. sind nicht Seiendes. Die Begründung, die Aristoteles fur diese Lösung gibt, widerlegt allerdings nicht die Abhängigkeit des Seinsbegriffs von der Rede, sondern bestätigt sie vielmehr. Was als seiend anzusprechen ist, hängt von der Struktur der Rede ab. Es hängt davon ab, was wie in der Rede begegnet und vor allem was zuerst in
gen unzulässig, weil, so Vollrath, der Logos, die Sprache, »vorgängig in Bezug auf die Sachen in ihrem Vorliegen« stehe (ebd., 3).
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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der Rede begegnet. Was zuerst in der Rede begegnet, ist nicht das Gehen, die Gesundheit, das Weiße, die Grammatik, sondern etwas, was geht, etwas, was gesund ist etc. »Denn dieses«, so Aristoteles in der Begründung seiner Lösung, »zeigt sich mehr als Seiendes« (μάλλον φαίνεται όντα) 3 0 7 . Was in der Rede zuerst begegnet und daher ein πρώτον 6v ist, ist das, was, damit das andere, Spätere in der Rede begegnen könne, in der Rede zuvor begegnet sein muß. Wenn dieses, das erste Seiende, nicht in der Rede begegnet, kann auch das Folgende, Spätere nicht in der Rede begegnen. Wir reden nicht vom Gehen, wenn wir nicht auch von etwas, was geht, reden; wir reden nicht vom Fliegen, wenn wir nicht auch von etwas, was fliegt, reden. Wir reden nicht von Gesundheit, wenn wir nicht auch von etwas, was gesund ist, reden. Wenn »gesund« nicht als Prädikat in der Rede begegnete, könnte auch nicht »Gesundheit« als Subjekt in der Rede begegnen. Phänomenologisch ausgedrückt: Gesundheit zeigt sich nicht an ihr selbst, sondern an anderem, an etwas, was gesund ist, aber so, daß sie von dem, woran sie sich zeigt, nicht ausgesagt werden kann; denn es kann nicht gesagt werden »Sokrates ist Gesundheit«. Dies ist der Grund, weshalb Aristoteles in Ζ 1 solchen Ausdrücken wie Gesundheit den Begriff des Seienden abspricht: weil ihr Bezug zu diesem πρώτον öv, an dem sie sich zeigen, durch die kategoriale Rede nicht deutlich wird. Wenn Ausdrücke wie Gesundheit in der Rede begegnen, dann so, daß das, woran sie sich zeigen, in der Rede nicht mitbegegnen kann. Wenn ich sage »Gesundheit ist eine Art des Wohlbefindens«, dann erscheint das, woran die Gesundheit sich zeigt, das, was gesund ist, nicht mit. Von diesem πρώτον öv muß in solcher Aussage notwendig abstrahiert werden. Ein Bezug zu diesem πρώτον öv kann nur über das Adjektiv hergestellt werden, also über eine andere grammatische oder Aussage-Form, die inhaltlich aber mit dem, dessen Substantivierung sie ist, korreliert. Über diese inhaltliche Korrelation können dann in der Tat auch Ausdrücke wie Gesundheit als Seiendes angesprochen werden, wie dies anderen Orts bei Aristoteles der Fall ist, wenngleich als Seiendes in sekundärer, abgeleiteter Weise. Das aber, was sie als Seiendes ansprechbar macht, ist ihr Bezug zu dem, was in der Rede zuallerst begegnet und begegnen muß, damit auch sie in der Rede begegnen können: ihr Bezug zum πρώτον öv. Wenn in Met. Ζ 1 diesen Ausdrücken der Begriff seiend abgesprochen wird, dann lediglich deshalb, weil dieser Bezug in der Rede nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt. Nur das, was sich in der kategorialen Rede unmittelbar auf das πρώτον öv bezieht, dasjenige, dem das πρώτον öv in der Aussage zugrunde liegt, Ausdrücke wie »gesund«, »sitzend« etc., wird in Met. Ζ 1 seiend genannt.
307
1028 a 26.
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Akt und ousia
Dieses πρώτον ov heißt Aristoteles in Ζ 1 die omä/'ü308, ein Wort, das am treffendsten mit Seiendheit309 308 3
übersetzt wird. Seiendes läßt sich also nur von der
1028 a 14f. und a 27. D e r griechische Ausdruck ousia ist ein vom Partizip »seiend« abgeleitetes Substantiv und wird ins Deutsche mit »Seiendheit« am genauesten übersetzt. Andere moderne Sprachen haben mit einer adäquaten Übersetzung mehr Schwierigkeiten. Das englische being und das französische être geben das, was ousia meint, nicht eindeutig wieder. Sie sind eher eine passende Übersetzung für die Ausdrücke ov und είναι. Allerdings haben auch diese Sprachen ein Wort, das der Bedeutung von ousia schon sehr nahe kommt: das Wort essence. Dieses Wort ist vom lateinischen essentia abgeleitet. In der Tat ist dies die genaueste lateinische Übertragung von ousia. Noch Quintilian hält mit Bezug auf die Kategorienlehre an dieser Übersetzung fest. Vollkommen zu Recht sagt er: »ñeque sane aliud est eius nomen Latinum« (Inst. orat. III 6, 23). Leider hat Quintilian damit nicht recht behalten. Denn es hat sich als Übersetzung fur ousia das für die Interpretation der aristotelischen Onto- und Usiologie so folgenschwere Wort substantia (substance, Substanz) eingebürgert, das sich als Bezeichnung für die erste aristotelische Kategorie bereits bei Augustin findet (Conf. IV 16). Von wem und wann substantia als lateinische Übertragung fur die erste aristotelische Kategorie verwendet wurde, läßt sich zwar nicht feststellen (vgl. dazu K. Oehler in seinem Kommentar zur Kategorienschrift des Aristoteles, Berlin 1984, 199 f. und C. Arpe, Substantia, in: Philologus 94 (1941), 65-78, bes. S. 66 und 74); sicher scheint aber, daß die Übersetzung des Ausdrucks ousia mit substantia am griechischen ύποκείμενον orientiert ist, an einem Begriff, an dem die ousia zwar zunächst erklärt werden kann und muß, in dem sie sich aber nicht erschöpft. (Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch der für den Neuplatonismus und die christliche Theologie bedeutungsvolle Ausdruck der ύπόστασις eine wesentliche Rolle bei der Übertragung von ousia in den lateinischen Ausdruck substantia gespielt hat. Stegmaier (Der Substanzbegriff der Metaphysik, a. a. O., 102, Anm. 7) und Dörrie (Ϋπόσraaiç.Wort- und Bedeutungsgeschichte« , in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-Hist. Klasse, Göttingen 1955, 35-92, vgl. bes. 6883) machen darauf aufmerksam. Allerdings sind ύποκείμενον und ύπόστασις wortverwandt). Beide Ausdrücke, sowohl der lateinische Ausdruck substantia als auch der griechische Ausdruck ύποκείμενον, bezeichnen wörtlich ein Untenliegen oder Zugrundeliegen. Daß der Begriff der ousia sich nicht in dem, was υποκείμενον und substantia meinen, erschöpft und zuvörderst mit essentia zu übersetzen ist, ist freilich erkannt worden, auch nachdem bereits substantia als gängige Übersetzung von ousia in Umlauf war. So weist Thomas von Aquin ausdrücklich darauf hin, daß ousia im Lateinischen essentia bedeute: ουσία enim apud Graecos idem est quod essentia apud nos, ut ipsemet [sc. Boethius] dicit in libro De duabus naturis (Thomas von Aquin, De ente et essentia, in: Divi Thomae Aquinatis Opuscula Philosophica, hrsg. v. R. Spiazzi, Rom 1954, 5-
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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Seiendheit her bestimmen. D i e Differenz von Seiend (on) und Seiendheit (ousia) ist die erste fundamentale Differenz, die in den Büchern der Metaphysik begegnet, die sich der Frage nach der ousia widmen. Die Frage nach dem Seienden ist die umfassendere, die nach der Seiendheit, dem ersten Seienden, die engere. Gegenstand der Metaphysik, der Ersten Philosophie, ist das ort. Das ò v ή öv, das Seiende als solches in allgemeiner Weise zu untersuchen sei Aufgabe der Wissenschaft, von der die Metaphysik handelt, heißt es am Anfang von Buch Gamma. Prinzipieller als die Seiendheit ist das Seiende. S o scheint es zunächst. Denn zwar ist j e d e Seiendheit Seiendes, aber nicht j e d e s Seiende Seiendheit. Es gibt
18, c. 2, p. 6 f.). Boethius, auf den sich Thomas hier bezieht, hat gleichwohl - entgegen seinem eigenen Übersetzungsvorschlag - in seinem Kommentar zur Kategorienschrift ousia durchweg mit substantia wiedergegeben. Nun gibt es dafür zwar eine gewisse Berechtigung, weil gemäß dem kategorialen Seinssinn ousia ausschließlich als ύποκείμενον gedacht werden kann; aber der lateinische Terminus substantia hat einen weiteren Umfang als das griechische ύποκείμενον, obwohl substantia, wie gesagt, letztlich an diesem orientiert ist und wörtlich (fast) dasselbe meint. Denn mit substantia kann nicht nur ein Zugrundeliegen bedeutet werden, sondern auch so etwas wie Wirklichkeit und Wesen, womit die aristotelische ousia endgültig in den Bereich der Metaphysik im Sinne dessen, was Kant transzendentalen Realismus nennt, gerückt ist, sofem mit Wesen, Wirklichkeit und Substanz eine außersprachliche Wirklichkeit, ein für sich, unabhängig von menschlicher Rede und menschlichem Denken Bestehendes gemeint sein soll. Substanz ist jetzt ein Ausdruck für eine dogmatische Verengung des Seinsbegriffs. So ist bei Seneca substantia der Gegensatz zu imago (Ep. 58, 15) und zu mendacium (Nat. quaest. I 6, 4 und I 15, 6). Seiend ist jetzt nicht mehr das, was in der Rede begegnet, sondern ein zum Dogma verfestigter Seinsbegriff, der die Bezugs- und Deutungsmöglichkeiten menschlicher Rede und menschlichen Denkens einschränkt. Man entgeht daher solchen Verirrungen und Verwirrungen am leichtesten, wenn man fur ousia durchweg Seiendheit übersetzt oder ousia einfach unübersetzt stehen läßt, wie dies auch in anderen Sprachen, die eine adäquate Übersetzung von ousia ausschließen, getan werden kann und getan wird wie von J. L. Mena in Pourquoi la Métaphysique. Sagesse selon Aristote, Paris 1976. Vgl. dazu auch M. Heidegger, der ousia durchweg mit Seiendheit übersetzt (u. a. in »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik Β 1«, in: ders., Wegmarken, 2., erw. u. durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, 237-299), und besonders R. Boehm, Das Grundlegende und das Wesentliche. Zu Aristoteles ' Abhandlung über das Sein und das Seiende, Metaphysik Z, Den Haag 1965, 12f. Es verbiete sich, sagt Boehm, die Übersetzung des griechischen Wortes ousia mit »Substanz« »auch nur in Betracht zu ziehen«. »Alle noch so kritische Arbeit über die Philosophie der Griechen«, sagt Boehm weiter, »gibt sich ein seltsames Ansehen, wo sie sich unbefangen dieser Übersetzung hingibt.«
130
Akt und ousia
Seiendes, das nicht Seiendheit ist, aber sich gleichwohl von ihr her - und nur von ihr her - denken läßt. Daher verknüpft Aristoteles in der »Leitfrage« der Metaphysik in Ζ 1, 1028 b 2-4, die Frage nach dem Seienden sogleich mit der Frage nach der Seiendheit. Man kann daraus zwar wie Aubenque schließen, daß, da auf die Frage nach dem Was des Seienden nicht direkt geantwortet werden könne, die Frage nach der Seiendheit die erste Form sei, in der jene grundsätzlichere Frage nach dem Was des Seienden gedacht werde, und daß sich in der Bestimmung der Seiendheit keineswegs die Frage nach dem Seienden erschöpfe, dieses vielmehr nach wie vor unbestimmt bleibe und sich nicht auf die Seiendheit reduzieren lasse. 3 1 0 Aber solche Interpretation übersieht, daß sich Seiendes nicht bloß von der Seiendheit her verstehen läßt, sondern daß Seiendes überhaupt erst durch Seiendheit konstituiert wird, auch wenn Aristoteles die Frage nach dem Seienden zuerst stellt und wie in Δ 7 und 8 der Metaphysik die Erörterung der Seiendheit der Erörterung des Seienden folgen läßt. Daß etwas ist, verdankt es seinem Bezug, und zwar seinem kategorialen, prädikativen Bezug auf die ousia. Sofern ein solcher Bezug auf die ousia sich nicht herstellen läßt, kann von etwas nicht, zumindest primär nicht, als von Seiendem geredet werden. Wenn Sokrates, Mensch und Lebewesen ousia sind, kommen als Prädikate nur so etwas wie »gehend, sitzend, gesund« in Frage, aber eben nicht »Gehen, Sitzen, Gesundheit«. Sokrates ist nicht Gesundheit, sondern gesund. Wenn etwas von Gehen, Sitzen, Gesundheit etc. affiziert wird, so müssen die Affekte vom Zugrundeliegenden in dieser Weise ausgesagt werden. 3 1 1 Wenn also Aristoteles etwas, was zwar in der Rede begegnen kann, aber in der Rede keinen unmittelbaren Bezug hat auf das, was in der Rede zuallererst begegnet, auf das erste Seiende, auf die Seiendheit, nicht seiend heißt, dann hat dies nichts mit einer dogmatischen Verengung des Seins- und des owj/a-Begriffs zu tun, sondern mit bestimmten Voraussetzungen seines Denkens, die untersucht werden müssen, mit Voraussetzungen, die den Begriff des Seins und der Seiendheit zwar nur innerhalb eines bestimmten Rahmens denken lassen, aber in diesem Rahmen eine mannigfaltige Deutungsmöglichkeit von öv, είναι und ουσία zulassen. Hier liegt bei Aristoteles nichts fest. Wenn nun als ousia wie in der Kategorienschrift, die in den kategorialen Seinssinn noch viel grundlegender einfuhrt als der Anfang von Met. Z, solch »erstes« Seiendes wie Mensch, Pferd und dergleichen figuriert, der Begriff der
P. Aubenque, Le problème de l ' être chez Aristote, a. a. O., 196. »Wenn die Bildung in das Zugrundeliegende kommt [i. e. wenn das Subjekt von Bildung affiziert wird - W. S.], so wird es nicht Bildung, sondern gebildet genannt, und der Mensch nicht Weiße, sondern weiß, und nicht Gehen oder Bewegung, sondern gehend und sich bewegend« (Met. Θ 7, 1049 a 30-33).
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
131
ousia also mit ganz bestimmten »Dingen« identifiziert wird und damit eingeengt zu werden scheint, so kann dies mit folgenden Gründen erklärt werden, welche sowohl die Voraussetzungen aristotelischen Denkens im weiteren als auch die Grundlagen der Onto- und Usiologie des Aristoteles im engeren Sinne deutlich machen und welche daher von mir im Folgenden untersucht werden, nämlich 1)
mit dem von Piaton übernommenen Modell der Dihairesis,
2)
mit dem (bereits in Teil I besprochenen) Rekurs auf die άρχη, auf dasjenige, bei dem das Denken zum Stehen kommt,
3)
mit der Orientierung am Common sense oder, griechisch, am ένδοξον, an dem, was bei den πολλοί in Geltung ist, und
4)
mit der Orientierung am Logos, an dem, was eine dauerhafte Rede möglich macht.
Die ousia-Tñas im Modell der Dihairesis Man gestatte mir, nochmals die Stellen zu besprechen, in denen Aristoteles eine Einteilung des Seienden nach seiner Kategorisierbarkeit vornimmt: An. pr. I 27 und Cat. 2. In An pr. I 27 (43 a 25ff.) unterteilt Aristoteles das Seiende in drei Klassen. Die erste Klasse ist bereits genannt worden. Es ist das, was von nichts anderem ausgesagt, von dem aber anderes ausgesagt werden kann, das also, was immer nur Subjekt der Rede sein kann. Die zweite Klasse beinhaltet das, was von anderem ausgesagt, von dem aber nichts anderes ausgesagt werden kann, das also, was immer nur Prädikat der Rede ist. Die dritte Klasse schließlich beinhaltet sowohl das, was von anderem ausgesagt, als auch das, wovon anderes ausgesagt werden kann, das also, was sowohl Subjekt wie Prädikat der Rede ist oder sein kann. Das, wonach hier eingeteilt wird, sind die möglichen Strukturen einer Aussage, einer κατάφασης: Etwas wird von etwas ausgesagt: τι κ α τ ά τινός λέγεται (oder κατηγορείται), noch kürzer: A von Β (τί κ α τ ά τινός). Danach kann differenziert werden etwas, was nur Β ist (= Klasse 1), von dem, was nur A ist (= Klasse 2), und von dem, was sowohl A als auch Β ist (= Klasse 3). Man sieht, daß die Einteilung vollständig ist. Die Einteilung in Cat. 2 (1 a 20ff.) ist etwas anders, steht aber mit der Einteilung von An. pr., wie gezeigt werden wird, in engstem Zusammenhang. Die Einteilung ist ebenfalls an der Struktur der κατάφασις orientiert. Das erste, was anders ist, ist aber, daß hier dichotomisch geschieden wird zwischen dem, was nur Β ist, und dem, was nicht nur Β ist. Die Einteilung erfolgt also nach einem
132
Akt und ousia
kontradiktorischen Gegensatz, was in An. pr. nicht oder nicht durchweg geschehen ist. Das Kuriose an kontradiktorischen Gegensätzen ist, daß sie zwar einerseits Eindeutigkeit herstellen, indem sie ein Drittes ausschließen, aber andererseits gerade dadurch, daß sie das Dritte an der Oberfläche verschwinden lassen, in größerem Maße als konträre Gegensätze die Vieldeutigkeit der Rede befördern. Denn das Dritte, das der konträre Gegensatz außerhalb seiner zuläßt, ist in der negativen Seite des kontradiktorischen Gegensatzes impliziert. Wenn eine Frau gefragt wird, ob die Farbe ihres neuen Kleides weiß sei, und sie mit »nein« antwortet, so kann dies heißen, daß ihr neues Kleid schwarz, rot, blau, grün etc. ist. Demnach ist die Einteilung von Cat. 2 nur der Form nach anders, nicht trichotomisch, sondern dichotomisch. Auch sie enthält zumindest implizit die drei Teile, die An. pr. I 27 hat; denn in dem »nicht nur B« sind die anderen beiden Möglichkeiten, die An. pr. explizit auffuhrt, implizit enthalten, nämlich »nur A« und »sowohl A als auch B«. - Das zweite aber, was in Cat. 2 anders ist, ist, daß diese - mit An. pr. I 27 korrespondierende - dichotomische Einteilung einer anderen, ebenfalls dichotomischen Einteilung untergeordnet ist, die nach der Differenz »in einem Zugrundeliegenden-nicht in einem Zugrundeliegenden« erfolgt, so daß sich mit den Implikationen, die An. pr. I 27 explizit enthält, für die Einteilung von Cat. 2 im ganzen folgendes (mit den heute gängigen Begriffen der Grammatik wiedergegebenes) Schema ergibt:
Grammatik
Wissen
Urteilen
bestimmter Mensch
Mensch
Lebewesen
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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Zu diesem Schema ist einiges zu sagen. Erstens: Die Beispiele, die in diesem Schema aufgeführt sind, sind gleichfalls aus beiden Stellen zusammengetragen. Das Beispiel für A II 2 ist von mir hinzugefügt, läßt sich aber aus dem CA ableiten. In De an. III 9, 432 a 15ff. wird das Denken - und die επιστημη ist ja ein Denken, wie im Teil I ausfuhrlich mit Verweis auf den theoretischen, epistemonikon heißenden Vernunftteil der Seele dargestellt wurde - neben der Wahrnehmung unter das Urteilsvermögen der Seele subsumiert. Wahrnehmen und Denken (= Wissen) sind Unterformen, Arten (είδη) des Urteilens. Das Urteilen ist für Wahrnehmen und Wissen Gattung. Jedes Wissen und jedes Wahrnehmen ist ein Urteilen; aber nicht jedes Urteilen ist Wissen; es ist entweder Wissen oder Wahrnehmen. Ein Teil des Urteilens ist Wissen, ein Teil Wahrnehmen. 312 Zweitens: Auch das Beispiel Β II 2 findet sich weder in der einen noch in der anderen Stelle, läßt sich aber sowohl in Cat. als auch in An. pr. aus dem Textzusammenhang mühelos erschließen. In Cat. werden unmittelbar im Anschluß an die Einteilung, am Anfang von Kapitel 3, eben diese Beispiele in ihrem kategorialen Zusammenhang aufgeführt: Mensch (άνθρωπος) wird vom einzelnen Menschen (τις άνθρωπος = Kallias, Sokrates, ich etc.) und Lebewesen von Mensch ausgesagt. In An. pr. wird diese Trias beispielhaft fur Β II 1 aufgeführt. Mensch ist sowohl Prädikat, nämlich von Kallias oder von welchem einzelnen Menschen auch immer, als auch Subjekt, nämlich für Lebewesen. 313 Falsch ist es, wie Lukasiewicz für die nur Prädikat seiende Klasse das Seiende (το όν) anzusetzen. 314 Denn zum einen kann das, was in Unterbegriffe zerlegt wird, mit einem von diesen nicht identifiziert werden. Die Einteilung, die in An. pr. vorgenommen wird, ist eine Einteilung des Seienden. Zum anderen ist das Seiende weder Gattung (vgl. Met. Β 3, 998 b 22ff.), noch läßt es überhaupt einen kategorialen Bezug zu. Es ist zwar die allgemeinste Aussage, die gemacht werden kann (vgl. Met. I 2, 1053 b 20), weswegen Lukasiewicz das Seiende als das allgemeinste Prädikat mit der zweiten Klasse der Einteilung von An. pr. (= Β II 2 meines Schemas) identifiziert; aber es ist in keiner Kategorie; es begleitet die Kategorien nur (παρακολουθεχν, Met. I 2, 1054 a 14). Dies heißt zweierlei: erstens, daß το öv auch die Kategorie begleitet, die als Subjekt der Rede begegnet, daß das Seiende mithin auch als Subjekt figuriert und damit nicht mehr mit Β II 2 gleichgesetzt werden kann, und zweitens, daß durch Ausdrücke wie »seiend« und »eines« im Grunde nichts ausgesagt wird. Es wird dadurch, daß etwas seiend oder eines genannt wird, nichts anderes der Rede hinzugefügt (μη 312
Vgl. Top. 114, l i l a 14ff.
313
An. pr. 1 2 7 , 43 a 3 1 f .
314
»For this class of things no example is given, but it is clear that Aristotle means what is most universal, like being, το öv« (Aristotle's Syllogistic,
a. a. O., 5).
134
Akt und ousia
κατηγορεισθαι έτερον τι, ebd., 1054 a 16). Das Paradoxe hieran ist, daß der Begriff, um den sich die Metaphysik, die Erste Philosophie, hauptsächlich dreht und von dem aus die hier in Rede stehenden Einteilungen vorgenommen werden, fur Aristoteles im Grunde keine kategoriale, i. e. keine Seinsbedeutung hat. Daß der Begriff des Seins als Begleiter der Kategorien, der diesen nichts hinzufügt, in späterer Tradition zum Prädikat fur das höchste Seiende, flir das summum ens, werden konnte, hat mit Aristoteles eigentlich nichts mehr zu tun. Es hat mit einer Tradition zu tun, deren Gottesbegriff nicht zuläßt, Gott in einer Kategorie zu fassen. Eigentümlicherweise gehen gerade hierin, in der Ablehung des Gottesbegriffs als einer Kategorie, die herausragenden Repräsentanten jüdischer und christlicher Philosophie des Mittelalters, Maimonides und Thomas von Aquin, konform. 3 1 5 Wenn über Gott geredet wird, dann in einer transkategorialen Rede. Die transkategorialen Prädikate, die Thomas in der Quaestio disputata de veritate I 1 der Terminologie des Aristoteles noch treu nicht, wie es später geschah, Transzendentien oder Transzendentalien, sondern consequentia omne ens hieß, ermöglichen es, dem summum ens, Gott, Prädikate zuzuschreiben, ohne ihn zu kategorisieren, wodurch es möglich werden soll, ihn in seiner Unvergleichlichkeit mit seinen Geschöpfen über diese transkategorialen Prädikate in Beziehung zu setzen. Und sie ermöglichen, ουσία und e'ivcu, Essenz und Existenz, zusammenzudenken, was Autoren wie Geiger 3 1 6 und Gilson dazu veranlaßt hat, in der
Darauf, daß es zwischen Gott und dem anderen Seienden keinerlei Ähnlichkeit und Beziehung gibt, verweist Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen (Mose ben Maimón, Führer der Unschlüssigen,
Bücher 1-3, übers, von A. Weiss, Leipzig 1923)
mehrfach, so in I 35 (S. 109), I 55 (S. 186, »zu dem, was man Gott [...] unbedingt absprechen muß«, so heißt es dort, »gehört [...] die Ähnlichkeit mit irgendeinem der seienden Dinge«) und insbesondere I 56, wo die Unvergleichlichkeit Gottes mit dem anderen Seienden damit begründet wird, daß sich beide nicht unter eine gemeinsame Kategorie subsumieren lassen. Eine Vergleichbarkeit gebe es nur dann, »wenn zwei Dinge einer und derselben Art angehören« (S. 188), etwa im Falle eines Senfkorns und der Fixstemsphäre, die, obwohl der Größe nach äußerst verschieden, sich dennoch unter einen gemeinsamen Begriff bringen lassen: unter den der Dreidimensionalität. 316
Geigers Kritik an Aristoteles betrifft genau die Punkte, die ausgearbeitet zu haben Geiger als das Verdienst des Aquinaten herausstellt. Aristoteles sei in der Erklärung der Beziehung zwischen der Substanz und den akzidentellen Modi des Seins und in der Erklärung der Beziehung zwischen den Substanzen unserer Welt und den unbeweglichen Substanzen stehengeblieben. Überdies werde bei ihm-anders als bei Thomas-weder das Problem des ens commune noch das Problem einer Stufung des Seienden aufgeworfen, nach der sich Seiendes im partizipierenden Sinne (das Sein der Kreaturen) von Seiendem im Sinne der Ähnlichkeit (durch das nach Geigers Meinung Thomas das Verhältnis
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
135
Scholastik, namentlich in Thomas, eine Entwicklung der Ontologie zu sehen, die über die des Aristoteles hinausgeht, weil hier über der essentia (ousia) der Akt derselben, das Sein, esse (eivai), gedacht werde. 3 1 7 Ob dies eine Entwicklung der Onto- und Usiologie oder nicht vielmehr ein Abgleiten in den Dunstkreis der
des Seins Gottes zum Sein der Kreaturen erklärt habe) unterscheiden lasse. Aristoteles begnüge sich lediglich damit, die Vielheit des Seienden als eines Gegebenen aufzulisten: »Point donc chez lui de problème de l'ens commune, des degrés de l'être et de l'être qui est tel en plenitude, donnant, à tout ce qui est, d'être ce qu' il est, par participation et par similitude de sa propre perfection. Point de problème de l'origine du monde. Aristote se contente d'enregister le pluralisme des êtres comme un donné« (L.-B. Geiger, Saint Thomas et la métaphysique d'Aristote, in: P. Moraux et al. (Hrsg.), Aristote et Saint Thomas d'Aquin. Journées d'études internationales, Paris/Louvain 1957, 175-220, 202). »Si l'ontologie thomiste comporte [...] un effort pour dépasser celle d'Aristote, en situant au-delà de l'essence un acte de l'essence même, elle oblige à reconnaître l'actualité propre d'un esse qui, parce qu'il transcende l'essence, transcende aussi le concept« (E. Gilson, L'être et l'essence, 2., rev. u. erw. Aufl., Paris 1981, 113). Als Stellen, die im thomanischen Œuvre auf dieses Übersteigen der ousia und des begrifflichen oder kategorialen Denkens verweisen, sei vor allem das sechste Kapitel des Liber de causis genannt, des Kommentars eines Exzerpts aus Proklus' στοιχείωσις θεολογική, das Thomas als erster richtig hinsichtlich seiner Herkunft gedeutet hat. Die erste Ursache, Gott, sei oberhalb des Seins, insofern, als sie das unendliche Sein sei. In der Stelle kommt mehreres zum Ausdruck: die Identität Gottes von Sein (esse, existentia) und essentia, der Bezug auf Aristoteles' Seinsverständnis und die Transzendenz Gottes, die mit dem Begriff des die Kategorien begleitenden Seins, des Seienden qua transcendens erklärt wird: »Sed secundum rei veritatem causa prima est supra ens inquantum est ipsum esse infinitum: ens autem dicitur id quod finite participât esse, et hoc est proportionatum intellectui nostro. Cuius obiectum est quod quid est, ut dicitur in tertio De anima: unde illud solum est capabile ab intellectu nostro, quod habet quidditatem participantem esse: sed Dei quidditas est ipsum esse, unde est supra intellectum.« Daß zwar auf Aristoteles die Transzendentalienlehre der mittelalterlichen Philosophie zurückgeht, zumindest was die Konvertibilität der Begriffe seiend, eines, wahr und gut betrifft, ist unstrittig; aber ebenso unstrittig ist, daß Aristoteles selbst keine Transzendentialenlehre entworfen hat, weil fur ihn Begriffe wie seiend und eines lediglich die Kategorien begleiten, aber sonst keine Bedeutung haben. Dies hat überzeugend K. Bärthlein dargestellt, der akribisch alle Stellen im CA, in der von einer Konvertibilität von seiend, einem, gut und wahr die Rede ist, daraufhin untersucht hat (K. Bärthlein, Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie. 1. Teil: Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum, Berlin/New York 1972).
136
Akt und ousia
Metaphysik gewesen ist, soll hier nicht entschieden werden. Festzuhalten ist hier nur dies: daß für Aristoteles das Seiende keine Rolle als Kategorie und keine Rolle innerhalb der Einteilung des Seienden nach der Prädizierbarkeit als nur Prädikat seiende Gattung spielt. Nur Prädikat seiende Gattung ist das, was vom είδος, dem Prädikat des der Rede zuerst Zugrundeliegenden, unmittelbar ausgesagt wird. Drittens·. Wenn diese nur Prädikat seiende Gattung auch als Subjekt der Rede begegnen kann, nämlich in partikulären Sätzen wie »einige Lebewesen sind weiß«, »einige Lebewesen sind lese- und schreibkundig« etc. (vgl. Cat. 5, 3 a 5), so muß dies nicht als Widerspruch zu dem gelesen werden, was bisher gesagt wurde. Es zeigt vielmehr, daß die Einteilung, nach der Begriffe wie Lebewesen immer nur in der Position des Prädikats sind, nur Gültigkeit hat innerhalb einer Trias, und zwar einer Trias, die nur Allgemeinaussagen zuläßt, wie dies für die Trichotomien von A und Β der Fall ist. Es kann gesagt werden »jede Lese- und Schreibkundigkeit ist ein Wissen, jedes Wissen ein Urteilen« oder »jeder Einzelmensch ist Mensch, jeder Mensch ist Lebewesen«. Es ist leicht erkennbar, daß aus solchen Sätzen Syllogismen gebildet werden können. Dies ist eine sehr entscheidende Parallele zu der im Schema illustrierten Einteilung von Cat. 2 a und An. pr. I 27. Sätze wie »einige Lebewesen sind lese- und schreibkundig« werden von Aristoteles syllogistisch aus den Triaden von A und Β abgeleitet. Es soll gezeigt werden, daß das, was von dem, was immer nur Subjekt ist (= Β I), ausgesagt wird, auch von den anderen beiden Teilen der Trichotomie (Β II 1 und 2) ausgesagt werden muß oder kann; »denn man wird einen bestimmten Menschen lese- und schreibkundig nennen; also (ούκουν) wird man sowohl Mensch als auch Lebewesen lese-und schreibkundig nennen«318.
Geschlossen wurde hier nach der dritten Figur (im Modus Disamis) unter Auslassung des Untersatzes: Von einigen S gilt P, jedes S ist R, also gilt auch von einigen R P. In Cat. 3, 1 b 10-15 werden die hier vorliegenden kategorialen Verhältnisse in der grundlegenden Form des Syllogismus, im Modus Barbara, ausgedrückt, wenn auch in umgekehrter Anordnung der Prämissen: Wenn etwas (Β II 1) vom Nur-Subjekt (Β I) ausgesagt wird, so wird alles, was von diesem Etwas (Β II 1) ausgesagt wird (= Β II 2), auch vom Nur-Subjekt ausgesagt: Mensch wird von jedem Einzelmenschen ausgesagt, Lebewesen vom Menschen. Also wird auch Lebewesen von Einzelmensch ausgesagt. Diese Konklusion ist Obersatz für den Schluß, daß das, was vom Einzelmenschen ausgesagt wird (»weiß, lese- und schreibkundig« etc.), auch - partikulär - vom Artbegriff
3,8
Cat. 5 , 3 a 4 f.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
137
Mensch und vom Gattungsbegriff Lebewesen ausgesagt werden kann. In welcher Weise also Termini wie Lebewesen nur als Prädikat fungieren, nämlich nur in einer Trias, die sich in der grundlegenden Form des Syllogismus, in Barbara, formulieren läßt, ist hiermit gezeigt. Damit zeigt sich auch, daß allgemeinere Begriffe als Lebewesen, die sich durchaus denken lassen (denn es gibt etwas, worunter Lebewesen und Pflanzen als Wahnehmungswesen sich subsumieren lassen, ebenso wie sich etwas Allgemeineres als Urteilen denken läßt, nämlich so etwas wie Aktivität der Seele, wozu Urteilen und Bewegung sich als Unterbegriffe und damit als Subjekte denken lassen 319 ), deswegen sich nicht in einer solchen Trias unterbringen lassen, weil sie zu dem, was nur Subjekt ist, einen zu großen Abstand haben. Generell muß allerdings gesagt werden, daß Begriffe wie Lebewesen keinesfalls auf die Rolle des Nur-Prädikats festgelegt sind. Sie können in einer Trias, die mit dem Artbegriff Mensch als dem Nur-Subjekt anhebt, auch die Rolle des Mittelbegrififs einnehmen, dessen, was sowohl Subjekt als auch Prädikat ist. Viertens: Es ist gesagt worden, daß Ausdrücke wie Gehen, Sitzen etc. nur als Subjekte der Rede auftreten können, weil sie sich nicht an sich selbst zeigen, sondern an anderem und das, woran sie sich zeigen, in der Aussage, die sie zum Subjekt hat, nicht mitbegegnen kann. Ferner ist gesagt worden, daß die Ausdrücke, deren Substantivierung sie sind, als Prädikate dessen fungieren, was zuallererst der Rede begegnen muß und was als solches von Aristoteles erstes Seiendes und Seiendheit (ousia) genannt wird. Da, wie in den letzten Sätzen gezeigt wurde, auch die Teile der Trias B, die - innerhalb der Trias - nicht nur Subjekt sind, Prädikaten wie »weiß, lese- und schreibkundig« etc. als Subjekte in der Rede begegnen können, müßten auch sie ousia genannt werden. In der Tat ist dies der Fall. Aristoteles heißt in der Kategorienschrift alle drei Elemente der Trias Β ousia. Die Trias Β ist die grundlegendste Trias, die in der Rede begegnet. Daß sie grundlegender als die Trias A ist, erhellt daraus, daß diese Trias A auch mit den Elementen der Trias Β ausgedrückt werden kann, und zwar so, daß die Elemente der Trias A denen der Trias Β beigeordnet werden, wie dies in syllogistischer Form veranschaulicht werden kann: Jeder (Einzel-) Mensch (jedes Lebewesen), der wissend ist, ist urteilend. Jeder (Einzel-)Mensch (jedes Lebewesen), der lese- und schreibkundig ist, ist wissend. Jeder (Einzel-) Mensch (jedes Lebewesen), der lese- und schreibkundig ist, ist urteilend.
319
Vgl. Dean. III 9, 432 a 15ff.
138
Akt und ousia
Die Elemente der Trias A verlieren in dieser Form (indem sie oder das, dessen Substantivierung sie sind, den Elementen der grundlegenderen Trias Β beigeordnet werden) ihre Selbständigkeit. Dies trifft für die Elemente der Trias Β nicht zu. Diese lassen sich niemals als Beiordnungen zu den Elementen der Trias A ausdrücken. Aristoteles differenziert allerdings in der Kategorienschrift zwischen diesen Teilen der Trias Β hinsichtlich ihrer Seiendheit. Das, was nur Subjekt ist (= Β I), unterscheidet er als erste Seiendheit (πρώτη ουσία) von dem, was nur Prädikat ist (= Gattung = Β II 2), und dem, was sowohl Subjekt als Prädikat ist (= Artbegriff = Β II 1), als zweiter Seiendheit (δευτέρα ούσία). 3 2 0 Diese Dichotomie korrespondiert also mit der Dichotomie von Cat. 2, mit der Dichotomie von Β in Β I und Β II. Daß dennoch auch hier eine Trichotomie von Β oder vielmehr eine weitere Dichotomie, nämlich die von Β II, impliziert ist, wird aus den Worten deutlich, die Aristoteles in Cat. 5 der Explikation der ersten Seiendheiten folgen läßt. Von den zweiten Seiendheiten, sagt Aristoteles, sei der Artbegriff mehr Seiendheit als die Gattung; denn der Artbegriff sei der ersten Seiendheit näher. 3 2 1 Mit der Angabe »Mensch« ist das der Rede Zugrundeliegende (der einzelne Mensch) genauer erfaßt als mit der Angabe »Lebewesen«. Vor wie nach bleibt also das, was der Rede zuallererst als ihr Zugrundeliegendes begegnet, der einzige Bezugspunkt für den Begriff der Seiendheit und des Seins. Nach ihrem Bezug auf dieses erste Seiende werden alle anderen möglichen Arten des Redens differenziert. Dieser Bezug bleibt als grundlegendes Konstituens der aristotelischen Onto- und Usiologie festzuhalten, auch wenn, wie wir sehen werden, die Rede von erster und zweiter Seiendheit umkippt und - in der Metaphysik - das als erste Seiendheit imponiert, was in den Kategorien zweite Seiendheit genannt wird. Fünftens'. Das Schema illustriert ein Modell, das Aristoteles zur Klassifizierung des Seienden hinsichtlich seiner Prädikation und zur Bestimmung der ousia im Sinne der Trias Β benutzt: das Modell der platonischen Dihairesis. Etwas, wie hier das Seiende, wird dichotomisch in Unterbegriffe zerlegt. Piaton hat als erster diese Methode der Begriffseinteilung in vollem Umfange angewendet, um bestimmte Begriffe durch Einordnung unter höhere, umfangsgrößere Begriffe zu bestimmen. Im Sophistes läßt er den Fremdling aus Elea diese Methode am Beispiel des Angelfischers durchexerzieren (218 e-221 c). Die Dihäresen, mit denen der Begriff des Angelfischers bestimmt wird, dienen als Vorübung für die weit schwierigere Bestimmung der Begriffe des Philosophen, des Sophisten und des Politikers. Ausgangspunkt fur die Bestimmung des Angelfischers ist der 320
Cat. 5 , 2 a 11-19.
321
Ebd., 2 b 7 f .
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
139
Oberbegriff der τέχνη. Das, was der Angelfischer betreibt, ist ein Handwerk, das bestimmte Kenntnisse voraussetzt. Von diesem umfangsgrößten Oberbegriff aus wird nun so lange dihäretisch eingeteilt, bis man zu dem gesuchten Begriff des Anglers kommt: Die τ έ χ ν η wird in eine hervorbringende und erwerbende unterteilt, die erwerbende in Handel/Miete und in eine bezwingend»handgreifliche«, diese wiederum in eine kämpfende und in eine jagende, diese in die Jagd auf Lebloses und in die Tierjagd, die Tierjagd wiederum in die Jagd auf schwimmende Tiere und in die Jagd auf Landtiere usw. Bei der Methode der Dihairesis ist auf zweierlei zu achten: erstens darauf, daß die Unterbegriffe gänzlich unter ihren Oberbegriff subsumiert werden, d. h., daß mit den Unterbegriffen sämtliche Möglichkeiten, in die der Oberbegriff zerlegbar ist, erfaßt werden (von allen τ έ χ ν α ι , so Piaton, gibt es zwei Arten 3 2 2 ; alle Arten des Jagens, des Erlemens, des Geldverdienens etc. lassen sich unter die erwerbende τ έ χ ν η bringen 3 2 3 ), und zweitens darauf, daß die Differenzen, nach denen eingeteilt wird, einander ausschließen, also gemäß der vollständigen Inklusion der Unterbegriffe kontradiktorische Gegensätze sind, und das, was unter sie subsumiert wird, tatsächlich immer nur der einen Seite dieser Gegensätze zuzuordnen ist. Dabei müssen sich aber der negativ ausgedrückten Seite der Dichotomie positive Merkmale zuordnen lassen, unter die das, was diesem Teil der Dichotomie zugehört, vollständig subsumiert werden kann. Andernfalls sind die Schnitte nicht exakt, und es ist nicht mehr möglich, Oberbegriff (Gattung) und Unterbegriff (Teil der Gattung, Art) zu finden. Piaton macht in Politikos 262 b-e ausdrücklich darauf aufmerksam. Als Beispiel fur den Akt einer solchen ungenügenden Dihärese nennt er die von den πολλοί vollzogene Dichotomie der Menschen in Griechen und Barbaren. Zwar ist diese Einteilung vollständig; es werden alle Menschen dichotomisch und nach einem kontradiktorischen Gegensatz (Grieche - Nichtgrieche) unterteilt; aber es lassen sich fur die negative Seite dieses Gegensatzes keine positiven Merkmale finden, die alle Barbaren gemein hätten und mit denen sich diese en bloc gegen die Griechen unterscheiden ließen. Anders ist es mit der von Piaton in diesem Zusammenhang angeführten Unterscheidung der Menschen in Männer und Frauen. Hier lassen sich für die Nicht-Männer positive Merkmale finden, die allen, die unter diesen Teil des Gegensatzes fallen, gemeinsam sind und die sie von der anderen Seite der Differenz, den Männern, sauber trennen: ζ. B. Merkmale wie das der monatlichen Blutung, der Gebärfahigkeit usw.
322
219 a 8.
323
219 c.
140
Akt und ousia
Daß Aristoteles dieses Modell der Dihairesis für sein Philosophieren übernommen hat, ist inzwischen unstrittig. Im allgemeinen hat dies von Fragstein 324 , im besonderen für die Theorie des Syllogismus Detel 3 2 5 nachgewiesen, von Fragstein hat an mehreren Schriften gezeigt, daß Aristoteles sich dieser Methode, die für ihn, so von Fragstein, »zunächst zur beherrschenden Denkform« wurde 3 2 6 , bis in die späte Zeit bedient hat. Er verwies auch auf die Bedeutung des Ausdrucks ύποκείμενον, den er mit der Methode der Dihairesis in Verbindung brachte: »Wir vermuten [...], daß beim Ausdruck ύποκείμενον Ar. die Grundbedeutung mit heraushörte: unten liegen, tiefer liegen. Alles, was in einer Diairesis höher liegt, kann von allem, was tiefer liegt, >ausgesagt< werden, d. h. gehört zu ihm als constituens.«327
Dies zeigt, daß der Begriff des hypokeimenon, des Zugrundeliegenden, nicht in einer metaphysischen, außersprachlichen Weise als immer schon vorhandene Grundlage für die Rede gedeutet werden kann, sofern Metaphysik in der prägnanten Weise, wie Cohen sie und ihren Unterschied zum Idealismus bestimmt, gesehen wird, nämlich als eine Denkhaltung, der die Anfangsgründe der Wissenschaft absolute Grundlagen und nicht vielmehr Grundlegungen sind. 3 2 8 Das aristotelische hypokeimenon ist in der Tat eine Grundlegung; durch die Rede wird es grundgelegt, durch eine nach Differenzen unter- und überordnende Rede, die das zum hypokeimenon macht, was in dem von ihr hergestellten Ordnungsgefüge am weitesten unten liegt oder, um es noch genauer zu sagen, was sie in dem von ihr hergestellten Ordnungsgefüge am weitesten unten liegen läßt. Nun geht aber aus dem Schema nicht hervor, welcher der Begriffe am weitesten unten liegt, d. h. welche Lageverhältnisse zwischen den einzelnen Begriffen des Schemas angenommen werden können oder müssen. Dazu wird es allerdings nötig sein, Aristoteles' Theorie des Syllogismus in die Untersuchung einzubeziehen, die nicht nur die Affinität des aristotelischen Denkens zur platonischen Methode der Dihairesis, sondern auch die triadische Struktur des Begriffs der ousia deutlich macht.
324
A. von Fragstein, Die Diairesis bei Aristoteles, Amsterdam 1967.
325
W. Detel, Eine Notiz über vollkommene Syllogismen bei Aristoteles«, in: Archiv für
326
A . a . O . , 189.
327
A. a. 0 . , 55.
328
H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, 260.
Geschichte der Philosophie 69 (1987), 129-139, bes. S. 132f.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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Die ousia-Trias und die Trias des beweisenden Schlusses Die OHj/a-Trias, die Aristoteles in der Kategorienschrift an den Beispielen Einzelmensch-Mensch-Lebewesen deutlich macht, läßt sich more syllogistico so formulieren: Jeder Mensch ist Lebewesen. Kallias (i. e. jeder Einzelmensch) ist Mensch. Kallias ist Lebewesen. Obwohl sich ein solcher Syllogismus mit einem singulären Unterbegriff im Organon des Aristoteles nicht explizit anführen läßt, so kann er dennoch sowohl - worauf bereits hingewiesen wurde - aus der Kategorienschrift (c. 3, lb 10-15) als auch aus der Schrift, die die Lehre vom Syllogismus im allgemeinen enthält, den Ersten Analytiken, abgeleitet werden. Ich beziehe mich bei letzterer Schrift auf die Stelle, in der Aristoteles die Trias Β entfaltet, die ich mit der Einteilung von Cat. 2 in das oben aufgeführte und die ganze letzte Zeit über besprochene Schema verwoben habe. Daß diese in I 27 vorgenommene Einteilung an zentraler Stelle steht, machen die einleitenden Worte des Kapitels deutlich. Es gehe nicht nur darum, die Entstehung von Syllogismen zu verstehen, sondern auch darum, die Fähigkeit, Syllogismen zu bilden, zu üben (43 a 22-24). Unmittelbar darauf folgt die Einteilung, die ich als Trias Β in dem oben angeführten Schema bezeichnet habe, mit den im eben formulierten Syllogismus verwendeten Beispielen. Wenn ich 43 a 22-24 richtig verstehe, ist das Kapitel 27 eine gewissermaßen pragmatisch orientierte Vervollständigung des bisher über den Syllogismus Gesagten. Wie ein Syllogismus entsteht, wird von Aristoteles ausführlich geschildert. Die Untersuchung darüber beginnt in Kapitel 4: »Wenn sich drei Termini (όροι) so zueinander verhalten, daß der letzte (der Terminus minor oder der Unterbegriff) vollständig im mittleren (im Terminus medius oder im Mittelbegriff) und der mittlere vollständig im ersten (im Terminus maior oder im Oberbegriff) entweder ist oder nicht ist, so gibt es notwendig von den Außenbegriffen einen vollkommenen Syllogismus. Mittelbegriff nenne ich das, was selbst in einem anderen ist und in dem anderes ist, was auch durch die Position ein Mittleres ist, Außenbegriffe aber zum einen das, was in anderem ist, und zum andern das, in dem anderes ist. Wenn nämlich A von jedem Β und Β von jedem C ausgesagt wird, muß A von jedem C ausgesagt werden« (An. pr. I 4, 25 b 32-39).
Diese Worten sollen nach dem, was Aristoteles am Anfang von Kapitel 4 sagt, eine allgemeine Bestimmung des Syllogismus enthalten. Problematisch daran ist, daß diese Bestimmung in ihrer Ganzheit keinesfalls auf alle 14 von
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Akt und ousia
Aristoteles für gültig befundenen Syllogismen zutrifft, sondern strenggenommen nur für einen einzigen Syllogismus, für denjenigen Syllogismus nämlich, der durchweg universal bejahende Sätze enthält und für den man im Mittelalter das Merkwort Barbara verwendet hat. Denn mit dem ersten hier zitierten Satz schließt Aristoteles alle Schlüsse mit einer partikulären Konklusion aus (mithin auch die Modi Darii und Ferio der ersten Figur), und mit der Bestimmung des Mittelbegriffs und der Außenbegriffe schließt er darüber hinaus auch alle Schlüsse mit einer verneinenden Konklusion aus (mithin auch den Modus Celarent der ersten Figur). Deutlich wird das mit dem letzten von mir zitierten Satz, der in der Tat nur auf Barbara zutrifft. Verschiedene Interpreten haben daraus den Schluß gezogen, daß die Bestimmungen, die Aristoteles in An pr. I 4 vom Syllogismus gibt, zu speziell (da nur auf Barbara anwendbar) oder logisch unkorrekt seien. 3 2 9 Für eine allgemeine Bestimmung eines Syllogismus hat man dagegen lediglich die grammatische Funktion und die Position, die die drei Termini in den Prämissen und der Konklusion einnehmen, gelten lassen. Außenbegriffe sind danach zum einen das Subjekt (= Terminus minor) und zum anderen das Prädikat (= Terminus maior) der Konklusion 3 3 0 ; der Mittelbegriff wird unter Verweis auf Stellen wie An. pr. I 32, 47 a 38-40 bloß durch sein Vorhandensein in den beiden Prämissen bestimmt, in denen er sowohl Subjekt als auch Prädikat (in der ersten Figur), nur Prädikat (in der zweiten Figur) oder nur Subjekt (in der dritten Figur) sein kann. Dies wird allerdings nicht durchweg so gesehen. Es gibt Interpreten, die an der Bestimmung der όροι in An. pr. I 4 als der grundlegenden Bestimmung eines Syllogismus festhalten. Im 19. Jahrhundert ist darüber eine Kontroverse entstanden, die das Entstehungsprinzip aller drei syllogistischen Figuren betrifft. Die eine Seite plädiert dafür, die Figuren des Syllogismus von der Position des Mittelbegriffs in den Prämissen, die andere, von dem Umfang des Mittelbegriffs im Verhältnis zu den Außenbegriffen abhängig zu machen. Soweit ich sehe, ist diese durch Überweg und Trendelenburg eingeleitete Debatte noch nicht end-
329
Vgl. dazu Lukasiewicz, Aristotle 's Syllogistic, a. a. O., § 10 (= S. 28-30) und G. Patzig, Die aristotelische Syllogistik, a. a. O., § 22. Patzig erklärt die seiner Meinung nach fehlerhafte Definition des Syllogismus von An. pr. I 4 damit, daß Aristoteles an sich korrekte Beobachtungen, die er an bestimmten konkreten Schlüssen des Modus Barbara gemacht haben soll, unkorrekt verallgemeinert habe (ebd., S. 105).
330
»We must [...] accept as a common rule for all figures that the major term is the predicate of the conclusion and the minor term is the subject of the conclusion« (Lukasiewicz, ebd., 32).
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
143
gültig entschieden. 331 Seidl etwa, der diese Kontroverse kommentiert, entscheidet sich mit Trendelenburg und Maier (und gegen die moderne formale Logik, die wie Lukasiewicz das Strukturprinzip des aristotelischen Syllogismus in der von einer einfachen Implikation bestimmten Stellung der drei Termini als Variablen sieht) fur das Subordinationsprinzip, nach dem der Umfang des Mittelbegriffs im Verhältnis zu den Außenbegriffen den Ausschlag gibt, also für die von mir zitierte allgemeine Bestimmung des Syllogismus. Daß aber diese Bestimmung nur auf einen von vierzehn möglichen Modi der aristotelischen Syllogistik voll anwendbar ist, scheint fur ihn kein Problem zu sein. 332 Zwar hebt Seidl richtig die (von Autoren und Autorinnen wie Anscombe, Geach 333 und Barnes 334 kritisierte) Verbindung von Syllogistik und Apodeiktik hervor und zeigt unter Verweis auf den Anfang von An. pr. (I 1, 24 a lOf.) und auf das Ende von An. post. (II 19, 99 b 15f.), daß die Lehre vom Schluß im allgemeinen auf dem Hintergrund des beweisenden Schlusses, der άπόδειξις, abgehandelt wird. Aber er macht nicht darauf aufmerksam, daß nach Aristoteles die άπόδειξις nur für den allgemein bejahenden Schluß, also nur für Barbara, Geltung hat. Dies wird aus An. post. I 14 deutlich. Zwar redet Aristoteles in diesem Kapitel von der ersten Figur im allgemeinen; aber die Gründe, derentwegen er die erste Figur für die am meisten wissenschaftliche, i. e. für die für den beweisenden Schluß allein in Frage kommende hält, zeigen, daß Aristoteles nur Barbara, also einzig und allein den allgemein bejahenden Schluß, im Auge hat. Denn die zweite Figur scheidet aus dem Grunde aus, weil sie keinen bejahenden Schluß enthält; das Wissen des Was-ist aber (und darauf zielen ja έπιστημη und άπόδειξις) sei, so Aristoteles, eine bejahende Aussage (κατάφασις, 79 a 26f.). Keinen bejahenden Schluss zu haben ist aber nicht nur ein Merkmal der Syllogismen der zweiten Figur, sondern auch der Modi Celarent und Ferio der ersten Figur. Daher scheiden diese Syllogismen für den wissenschaftlichen Schluß aus. Und die dritte Figur scheidet aus dem Grunde aus, weil sie nur partikuläre Schlüsse enthält; denn vom Was-ist sind nur Allgemeinaussagen zulässig (79 a 28). Partikuläre Konklusionen haben aber nicht nur die Syllogismen der dritten Figur, sondern auch die Modi Darii und Ferio der ersten Figur. Es bleibt also in der Tat nur Barbara für den wissenschaftlichen Schluß übrig. ·"1
Ausführlich kommentiert ist diese Debatte bei H. Maier, Die Syllogistik des
Aristoteles,
3 Bde., Leipzig 1896-1900. 332
H. Seidl, Beiträge zu Aristoteles'
Erkenntnislehre,
Amsterdam/Würzburg 1984, 42 -
46. 333
G. E. M. Anscombe / P. T. Geach, Three Philosophers,
334
J. Barnes, Proof and the Syllogism, in: E. Berti (Hrsg.), Aristotle on Science. The Posterior Analytics, Padua 1981, 17-59.
Oxford 1969.
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Akt und ousia
Ohne auf alle Probleme der aristotelischen Syllogisitik und die Geschichte ihrer Interpretation en détail einzugehen, sei dazu Folgendes angemerkt. In der Tat ist die Bestimmung des Syllogismus und der öpoi, die Aristoteles in An. pr. I 4 vornimmt, die grundlegendste Bestimmung des Syllogismus, diejenige, die für alle Syllogismen die Orientierung gibt, auch wenn die Bestimmung in Gänze nur auf Barbara, auf den für den wissenschaftlichen Schluß einzig in Frage kommenden Syllogismus, anwendbar ist. Daß die allgemeine Bestimmung des Syllogismus nur auf Barbara voll anwendbar ist, kann heißen, daß grundsätzlich von dieser Form des Syllogismus aus auch die übrigen von Aristoteles für gültig befundenen Syllogismen gedacht werden. Dies wird aus den Anfangsworten von An. pr. I 4 deutlich. Aristoteles zeigt, daß die Lehre vom Syllogismus letztlich auf den wissenschaftlichen Syllogismus, die άπόδειξις, orientiert ist. Es sei aber nötig, so Aristoteles, daß man, bevor man von der άπόδειξις spreche, vom Syllogismus im allgemeinen spreche; denn die άπόδειξις sei nur ein Teil der Syllogistik: jede άπόδειξις sei zwar ein Syllogismus, aber nicht jeder Syllogismus eine άπόδειξις (25 b 26-31). Kurioserweise gibt Aristoteles im Anschluß an diese Worte die oben zitierte Bestimmung, die in Reinheit nur für die άπόδεχξις gültig ist. Das bestätigt aber erneut, daß der Syllogismus im allgemeinen vom Syllogismus im besonderen, von der άπόδειξις her, gedacht wird und daß die übrigen 13 gültigen Syllogismen von der grundlegenden Struktur von Barbara aus zu verstehen sind, wenngleich sie dieser Struktur nur eingeschränktermaßen folgen. Daß und wie sie dieser Struktur nur eingeschränktermaßen folgen, muß allerdings gesagt und gezeigt werden; andernfalls muß man die von Aristoteles in An. pr. 14 gegebene Bestimmung als allgemeingültiges syllogistisches Prinzip tatsächlich fallenlassen. Warum nun die Bestimmung von An. pr. I 4 die fur alle Syllogismen gültige Bestimmung ist und warum die Syllogismen außer Barbara ihr, wenn auch eingeschränktermaßen, folgen, läßt sich aus dem Modell der Dihairesis heraus erklären. Detel hat auf der einen Seite sich zwar vergeblich bemüht, einen Beweis dafür zu liefern, daß die partikulären Modi der ersten Figur sich auf Barbara und Celarent reduzieren lassen, aber auf der anderen Seite überzeugend dargestellt, wie sehr die aristotelische Syllogistik in der platonischen Dihairesis verwurzelt ist und wie mit diesem Modell auf einfache Weise die Strukturprinzipien des Syllogismus illustriert werden können. 335 Wenn man die drei öpoi des aristotelischen Syllogismus dem Schema der Dihairesis entsprechend in drei Ebenen darstellt, so liegt C, der Terminus minor, auf der untersten, A, der Terminus maior, auf der obersten Ebene und B, der Terminus medius, dazwischen. C liegt also unter Β und Β liegt unter Α. A ist der Begriff, von dem aus die Dihäresen
W. Detel, Eine Notiz über vollkommene Syllogismen bei Aristoteles, a. a. O.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
145
beginnen, C der Begriff, bei dem die Dihäresen enden. Detel hat anschaulich gemacht, wie mit den dem Modell der Dihairesis entlehnten Lagebedingungen die gültigen aristotelischen Syllogismen verifiziert und die ungültigen falsifiziert werden können. Der aristotelische Syllogismus trifft mittels Β eine Aussage über das Verhältnis von C zu A. Es wird untersucht, ob und wie C durch seine Lage zu Β unter A liegt oder nicht liegt. Dabei gibt es vier Möglichkeiten: a) C liegt in Gänze unter A, b) C liegt nicht unter A, c) C liegt zum Teil unter A, d) C liegt zum Teil nicht unter A. Die vier Syllogismen der ersten Figur können danach wie folgt veranschaulicht werden 3 3 6 : a)
Barbara
b) Celarent
A
A
Β
Β
C
C
c) Darii
d) Ferio
A
A
B
B
C
—
C
Das Verhältnis von C zu A, i. e. von Unterbegriff zu Oberbegriff, wird aus dieser Darstellung für alle vier gültigen Syllogismen der ersten Figur unmittelbar
Es dürfte auch Aristoteles nicht fremd gewesen sein, die Verhältnisse, die in den Syllogismen vorliegen, auf zeichnerische Weise deutlich zu machen. In An. pr. I 41, 50 a 2 deutet er daraufhin. Über die Möglichkeit der Visualisierung von aristotelischen Syllogismen vgl. auch B. Axelson, On Certain Mathematical Terms in Aristotle's Logic, in: American Journal of Philology 57 (1936), 166-169, und H. G. Zekl in den von ihm herausgegebenen und kommentierten Analytiken, Darmstadt 1998, in der Einleitung S. XXff..
146
Akt und ousia
evident: Weil Β in Gänze unter A liegt und C in Gänze unter B, liegt C in Gänze unter A (Barbara); weil Β nicht unter A liegt und C in Gänze unter Β liegt, liegt C nicht unter A (Celarent); weil Β in Gänze unter A liegt und C zum Teil unter B, liegt C zum Teil unter A (Darii); und weil schließlich Β nicht unter A liegt und C zum Teil unter B, liegt C zum Teil nicht unter A. 3 3 7 An diesem Schema lässt sich darüber hinaus auch die Ungültigkeit von Syllogismen veranschaulichen. Ein Syllogismus der ersten Figur mit der Prämissenfolge a - e ζ. Β. (in dem alle Β unter A liegen und kein C unter B) ist deshalb ungültig, weil er einander widersprechende Konklusionen zuläßt. Denn C kann unter diesen Voraussetzungen zum Teil unter A (I), aber auch überhaupt nicht unter A (II) liegen. Darüber hinaus kann C auch vollständig unter A liegen (III): A Β C
(I)
(III)
(II)
Daß die aristotelische Syllogistik am platonischen Modell der Dihairesis orientiert ist, kommt in der vorliegenden zeichnerischen Darstellung durch folgende zwei Gemeinsamkeiten zum Ausdruck. Erstens entspricht der Begriff, bei dem die Dihairesis beginnt, als der am weitesten oben liegende Begriff dem Terminus maior des aristotelischen Syllogismus, und der Begriff, bei dem die Dihairesis endet, entspricht als der am weitesten unten liegende Begriff dem Terminus minor des aristotelischen Syllogismus. Und zweitens nehmen wie bei der platonischen Dihairesis die Begriffsumfänge von oben nach unten ab. Der Oberbegriff ist der Begriff mit dem größten, der Unterbegriff der Begriff mit dem kleinsten Umfang. In der zeichnerischen Darstellung wird dies durch die Breite der Linien zum Ausdruck gebracht, wodurch das Ganze das Aussehen einer gleichsam auf den Kopf gestellten Pyramide bekommt. An der zeichnerischen Darstellung kommt aber auch zum Ausdruck, daß nur Barbara dem Modell der platonischen Dihairesis in Reinheit entspricht. Hier zeigt sich das Bild einer sich nach unten verjüngenden Pyramide mit aller wünschenswerten Klarheit, während den anderen »Pyramiden« entweder das Haupt (wie bei Celarent) oder ein Teil des Fundaments (wie bei Darii) oder beides (wie bei Ferio) fehlt. Diese drei Syllogismen repräsentieren die Verhältnisse, die bei
Im Hinblick auf Darii und Ferio müßte genauer formuliert werden: Der Teil von C, der unter Β liegt, liegt in dem einen Fall unter A (Darii) und in dem anderen Fall nicht unter A (Ferio). Über den Teil von C, der nicht unter Β liegt, läßt sich nichts aussagen. Er ist daher von mir auch mit einer gestrichelten Linie gekennzeichnet worden. Dieses Problem wird uns weiter unten noch beschäftigen.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
147
Barbara vorliegen, eben nur in verzerrter oder defizienter Weise. Daß aber bei ihnen noch von einer Unterordnung geredet werden kann, ist evident. Denn in allen drei Fällen wird zumindest für zwei Begriffe eine Unterordnung ausgedrückt, wenn auch zum Teil nur - wie bei Ferio - eine partielle Unterordnung. 3 3 8 Es bleiben bei der Bezugnahme des Systems der aristotelischen Syllogistik auf das Modell der platonischen Dihairesis noch drei Probleme zu klären. Erstens war bisher nur die Rede von den Syllogismen der ersten Figur. Wie aber lassen sich die Syllogismen der anderen beiden Figuren zur Dihairesis in Bezug setzen? Dieses Problem lässt sich relativ einfach klären. Aristoteles führt nämlich die Syllogismen der anderen beiden Figuren auf die der ersten Figur zurück. Die erste Figur gilt ihm als die vollkommene, in der sich die anderen beiden Figuren als die unvollkommenen ausdrücken lassen. Patzig hat überzeugend dargestellt, daß Vollkommenheit hier die Evidenz der Gültigkeit der Syllogismen meint. 3 3 9 Die Gültigkeit der Syllogismen ist in der ersten Figur augenscheinlich, in der zweiten und dritten Figur hingegen nicht. 340 Die Gültigkeit der Syllogismen dieser beiden Figuren muß an der ersten Figur erwiesen werden. Das heißt zum einen, daß die Syllogismen der zweiten und dritten Figur noch defizitärer als die defizitären Modi der ersten Figur sind, und zum anderen daß auch ihnen in letzter Instanz dieselben Lageverhältnisse zugrunde gelegt werden können, die in der ersten Figur vorliegen. Acht der übrigen von Aristoteles als gültig anerkannten Syllogismen der zweiten und dritten Figur lassen sich in den
3J
°
Es ist daher falsch, für alle Syllogismen ein vollständiges System der Unterordnung zu behaupten, wie Maier dies tat, der allenthalben den Oberbegriff als den dem Unterbegriff gegenüber höherstehenden Begriff bezeichnet hat (H. Maier, Die Syllogistik Aristoteles,
des
a. a. O., Bd. 2, 60). Für negative syllogistische Sätze trifft das aber nicht
zu, denn im Falle von Celarent und Ferio kann schlechterdings nicht mehr von einer Unterordnung von C gegenüber A geredet werden. C und A stehen hier in keinem Verhältnis zueinander; sie haben nichts miteinander gemein. Patzig hält dies zu Recht Maier entgegen (G. Patzig, Die aristotelische
Syllogistik,
a. a. O., 131). Es darf aller-
dings aus diesem Einwand nicht der Schluß gezogen werden, daß bei Syllogismen mit verneinender Konklusion überhaupt nicht mehr von einem System der Unterordnung geredet werden könne. Eine Unterordnung liegt sehr wohl noch vor, nur eben in defizitärer Weise, in einer Weise, in der nicht mehr alle drei Begriffe des Syllogismus in ihrem Verhältnis zueinander im Sinne der Unterordnung bestimmt werden können. 339
G. Patzig, Die aristotelische
340
Die Evidenz der Gültigkeit der Syllogismen in der ersten Figur wird von Patzig freilich
Syllogistik, a. a. O., §§ 12-20.
nicht am Modell der Dihairesis gezeigt, sondern an den Regeln der Aussagenlogik, die Aristoteles nach Patzigs Meinung stillschweigend angewendet hat.
148
Akt und ousia
defizienten Modi der ersten Figur (also in Celarent, Darii und Ferio) ausdrücken. Dazu sind lediglich einige Konversionen und bei manchen Syllogismen Vertauschungen der Prämissen nötig, was hier nicht näher ausgeführt werden s o l l . 3 4 1 D i e zwei übrigen Syllogismen, Baroco der zweiten und Bocardo der dritten Figur, lassen sich in Barbara ausdrücken. Im Unterschied zur Rückführung der Syllogismen auf die defizienten Modi der ersten Figur führt j e d o c h die Rückführung von Baroco und Bocardo auf Barbara zu kontradiktorischen Sätzen und nicht nur zu einer anderen, sondern auch zu einer falschen Konklusion. 3 4 2 Denn Aristoteles kann die Gültigkeit von Baroco und Bocardo nicht durch Konversion wie bei den anderen acht Syllogismen der zweiten und dritten Figur 3 4 3 , sondern
Als Beispiel für eine solche Rückführung eines Syllogismus der zweiten oder dritten Figur auf einen Syllogismus der ersten Figur sei die Rückführung von Cesare der zweiten Figur auf Celarent angeführt. Von Cesare (»aus Ν e M und X a M folgt X e N«) kommt man zu Celarent, wenn man den Obersatz konvertiert (N e M —> M e Ν). Ein in Baroco ausgedrückter Syllogismus wie »wenn alle Vögel Tiere und einige Lebewesen nicht Tiere sind, dann sind einige Lebewesen nicht Vögel« heißt in Barbara (mit Vertauschung der Prämissen): »Wenn alle Lebewesen Vögel sind und alle Vögel Tiere, dann sind alle Lebewesen Tiere.« Der Obersatz von Baroco ist mit dem (vertauschten) Untersatz von Barbara identisch. Dadurch aber, daß die Konklusion von Baroco und der Obersatz von Barbara zueinander in Widerspruch stehen, wird die Konklusion von Barbara falsch. - Die Formulierung »Baroco läßt sich in Barbara ausdrücken« soll hier nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß Baroco und Barbara bedeutungsgleiche Sätze zum Inhalt haben. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Wenn Baroco auf Barbara zurückgeführt wird, so werden - anders als bei der Rückführung der Syllogismen der zweiten und dritten Figur auf die defizienten Modi der ersten Figur - nicht nur unterschiedliche, sondern auch widersprüchliche Inhalte ausgedrückt. Die Formulierung soll lediglich bedeuten, daß Barbara und Baroco miteinander äquivalent sind. Mit Hilfe der symbolischen Logik formuliert heißt dies: (-. r λ ρ -» - . q) (ρ λ q -» r). Der linke Term drückt Barbara, der rechte Baroco aus. Es ist allerdings möglich, auch Baroco und Bocardo durch Konversionen auf die erste Figur, und zwar auf Ferio zurückzuführen. Dies setzt aber voraus, daß man mit negativen Begriffen, d. h. mit Nullmengen arbeitet, die Aristoteles aber nicht verwendet. Vgl. zu dieser Möglichkeit auch G. Patzig, Die aristotelische Syllogistik, a. a. 0., 153. Wenn man den Satz »alle S sind P« (S a Ρ) als »kein S ist nicht P« (S e Ρ) und den Satz »einige S sind nicht P« (S ο Ρ) als partikulär bejahenden formuliert (S i -ι Ρ), kann man sowohl Baroco als auch Bocardo in Ferio ausdrücken. Baroco (»aus N a M und Χ ο M folgt Χ o N«) heißt, wenn man die Prämissen mit negativen Termini ausdrückt: »Aus Ν e -ι M und X i -ι M folgt Χ ο N.« Wenn man den Obersatz konvertiert (N e -ι M -> M e Ν), erhält man den Modus Ferio der ersten Figur. - Bocardo (»aus S ο Ρ und S a R
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
149
nur durch das Beweisverfahren einer Reductio ad absurdum demonstrieren. 344 Dies zeigt einmal mehr die Singularität von Barbara, dem Syllogismus, der zwar für alle übrigen Syllogismen Muster, aber gleichzeitig unnachahmlich ist, d. h. nur mangelhaft kopiert werden kann. Das zweite und das dritte Problem hängen mit den Begriffsumfängen der drei Termini zusammen. Die Definition des Syllogismus in An. pr. I 4, 25 b 32-39 besagt nicht expressis verbis, daß die Begriffsumfänge von oben nach unten, i. e. vom Terminus maior bis zum Terminus minor abnehmen. Der Ausdruck »der letzte [Begriff] ist vollständig im mittleren (oder vielmehr im mittleren als in einem ganzen)« ist jedoch, worauf Aristoteles selbst hinweist, eine andere Variante fiir den Ausdruck »P wird von jedem S ausgesagt« (= S a Ρ), fiir den gilt, daß S und Ρ höchstens umfangsgleich sind. 345 Die Umfangsgleichheit ist aber der Sonderfall. Freilich läßt sich auch an diesem Sonderfall in der von mir präsentierten zeichnerischen Darstellung die Gültigkeit der Syllogismen Barbara, Celarent, Darii und Ferio einsichtig machen (andernfalls wäre die SyllogismusDefinition von An. pr. I 4 ungültig). Aber die zeichnerische Darstellung soll nicht nur die Gültigkeit von Syllogismen, sondern auch die Ungültigkeit von Syllogismen evident machen. Diese ließe sich aber für zwei ungültige Syllogismen der ersten Figur nicht mehr veranschaulichen, wenn man von einer Um-
folgt R o P«) heißt, wenn man die Prämissen mit negativen Termini ausdrückt: »Aus S i -ι Ρ und S e -i R folgt R o P.« Wenn man den Obersatz konvertiert (S i —ι Ρ —• —> Ρ i S) und diesen mit dem Untersatz vertauscht (also den Obersatz zum Untersatz und den Untersatz zum Obersatz macht, - ein Verfahren, das die Gültigkeit von Bocardo keineswegs aufhebt), kommt man nach Ferio zu der Konklusion - > P o - . R . heißt als i - Urteil ausgedrückt: -ι Ρ i Verneinung - =
-iPo-iR
R, das ist - nach dem Gesetz der doppelten
Ρ i R. Die Konversion dieses Satzes ist R i
P. Dieser Satz ent-
spricht schließlich R o P, der Konklusion von Bocardo. 344
Die Gültigkeit von Baroco wird von Aristoteles dadurch bewiesen, daß das kontradiktorische Gegenteil der Konklusion von Baroco angenommen wird. Mit diesem und dem Obersatz von Baroco wird dann nach Barbara auf das kontradiktorische Gegenteil des Untersatzes von Baroco geschlossen (An. pr. I 5, 27 a 36-b 1). Vgl. auch die symbollogische Formulierung der Anm. 342: ρ steht für den Obersatz, q fur den Unteisatz und r für die Konklusion von Baroco. Bewiesen werden soll, daß aus ρ und q r folgt. Die Annahme des kontradiktorischen Gegenteils dieser Aussage führt ebenfalls zu einem kontradiktorischen Satz (aus q folgt -i q), mithin zu einer Falschaussage. Aus Wahrem kann aber nicht Falsches folgen. Mithin muß die Annahme des kontradiktorischen Gegenteils des zu beweisenden Satzes falsch und damit aber der zu beweisende Satz selbst nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten wahr sein.
345
An. pr. I I , 24 b 26-28.
150
Akt und ousia
fangsgleichheit ausginge, und zwar für den bereits erwähnten Syllogismus mit der Prämissenfolge a - e und fur den Syllogismus mit der Prämissenfolge i - a. Diese Syllogismen wären nämlich dann gültig, wenn Ober- und Mittelbegriff in jenem und Mittel- und Unterbegriff in diesem Falle umfangsgleich wären. Sie hätten dann, wie evident gemacht werden könnte, die gültige Konklusion C e A auf der einen und C i A auf der anderen Seite. Diese Syllogismen sind nur dann ungültig, wenn in dem einen Fall der Mittelbegriff umfangskleiner als der Oberbegriff und in dem anderen Fall der Unterbegriff umfangskleiner als der Mittelbegriff ist, wenn also die Umfangsverhältnisse angenommen werden, die ich in der zeichnerischen Darstellung angegeben habe. Nun reicht es zwar aus, daß man die Ungültigkeit eines Schlusses lediglich an einem Fall demonstriert; denn ein Schluß ist ungültig, wenn er sich auch nur in einem einzigen von vielen möglichen Fällen als falsch erweist. Aber ich bin mir sicher, daß Aristoteles, hätte er den Sonderfall der Umfangsgleichheit im Auge gehabt, im Hinblick auf diese beiden Syllogismen daraufhingewiesen hätte, daß sie fur diesen Sonderfall gültig sind, zumal alle anderen zehn ungültigen Syllogismen der ersten Figur durchweg, i. e. fur alle denkbaren Fälle - sowohl für den Regelfall abnehmender Begriffsumfange als auch für den Sonderfall der Umfangsgleichheit - sich als ungültig erweisen. Mithin ist die Abnahme der Begriffsumfange von oben nach unten, vom Terminus maior zum Terminus minor, nicht nur der Regelfall, sondern auch der Fall, den Aristoteles einzig und allein im Blick zu haben schien. Allerdings scheinen diese Verhältnisse abnehmender Begriffsumfange in Reinheit, d. h. für alle drei Termini, auch wieder nur für Barbara zu gelten: Β ist umfangskleiner als A und C ist umfangskleiner als B. Und hier sind wir bei dem dritten Problem, auf das vor allem Lukasiewicz und Patzig aufmerksam gemacht haben. Beide halten die Definition, die Aristoteles in An. pr. I 4, 25 b 32-37 von den drei Termini eines Syllogismus anhand ihrer Umfangsrelationen gibt, nicht für allgemeingültig (da nur auf Barbara anwendbar) und zeigen, daß es Fälle gibt, in denen der Terminus minor sogar den größten Begriffsumfang aller drei Termini haben kann. Lukasiewicz zeigt dies am Modus Darii mit den Begriffen Vogel - Krähe - Lebewesen: Wenn alle Krähen Vögel sind und einige Lebewesen Krähen, so sind einige Lebewesen Vögel. 3 4 6 Der Terminus maior ist hier so scheint es und so sehen es auch Lukasiewicz und Patzig - dem Terminus minor paradoxerweise nicht über-, sondern untergeordnet. Die Umfangsrelationen scheinen auf den Kopf gestellt, die Ausdrücke Terminus maior und Termi-
346
J. Lukasiewicz, Aristotle 's Syllogism, a. a. O., 29f. Patzig zeigt dies ebenfalls am Modus Darii, und zwar mit den Begriffen »Wiederkäuer, Rind, Lebewesen« (G. Patzig, Die aristotelische
Syllogistik, a. a. 0 . , 107).
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
151
nus minor, wie Patzig sich ausdrückt, »mit irreführenden Assoziationen belastet« 3 4 7 zu sein. Dazu ist zunächst zu sagen, daß in der Tat außer in Urteilen von der Art »alle S sind P« in keinem Urteil etwas über den Begriffsumfang von S und Ρ ausgesagt werden kann. Das Urteil »kein S ist P« gilt unabhängig von den Begriffsumfangen von S und P, weswegen in der zeichnerischen Darstellung die Linien für A und Β bei Celarent und Ferio auch hätten beliebig breit gezogen werden können. Dies hätte an den in Celarent und Ferio vorliegenden Verhältnissen nichts geändert. Dasselbe gilt für die beiden anderen Urteile, für das Urteil »einige S sind nicht P« und das Urteil »einige S sind P«. Auch diese Urteile gelten unabhängig davon, in welchem Verhältnis die Begriffsumfänge von S und Ρ zueinander stehen. Nun muß allerdings beachtet werden, daß bei Syllogismen mit partikulär bejahender Prämisse wie Darii und Ferio der Unterbegriff nicht in seiner Gänze in Relation zum Mittelbegriff und damit in der Konklusion zum Oberbegriff gesetzt wird, sondern nur zum Teil. Ein Teil von C ist unter Β (und damit auch unter A wie in Darii bzw. nicht unter A wie in Ferio). Für diesen Teil gilt in seinem Verhältnis zu dem ihm übergeordneten (oder zu dem von ihm ausgesagten) Begriff dasselbe, was für alle Elemente von S im Verhältnis zu Ρ in dem Urteil »alle S sind P« gilt. 3 4 8 Wenn man den Teil von C, von dem Β ausgesagt
347
Ebd.
348
Daher kann man auch sagen, daß das Urteil »einige S sind P« (S i Ρ) äquivalent ist mit dem Urteil »alles, was S und Ρ ist, ist P« (SP a Ρ). Eine solche Äquivalenz gilt allerdings nicht generell, sondern nur unter den Voraussetzungen, von denen Aristoteles ausgeht. Im Sinne der modernen Logik gilt nur, daß aus S i Ρ SP a Ρ folgt, was freilich über das Verhältnis von S i Ρ und SP a Ρ nicht viel aussagt. Denn da das Urteil SP a Ρ (das nur ein anderer Ausdruck für das logische Gesetz der Konjunktionsbeseitigung ist) grundsätzlich wahr ist, kann dieses Urteil aus jedem beliebigen Urteil gefolgert werden, ζ. B. auch aus dem Urteil »kein S ist P« (S e Ρ). Aus dem Satz »kein Löwe ist Mensch« folgt der Satz »alles, was Löwe und Mensch ist, ist Mensch«, ein Satz, der unabhängig davon, ob es etwas gibt, wofür die Eigenschaften »Löwe« und »Mensch« zutreffen, wahr ist. Aus SP a Ρ kann vom Standpunkt der modernen Logik aber nicht S i Ρ gefolgert werden, weil ein a- Urteil im Gegensatz zu einem i-Urteil nicht die Existenz der Begriffe, aus denen das Urteil zusammengesetzt ist, verbürgt. Ein Urteil wie S a Ρ gilt auch dann, wenn es keine Gegenstände gibt, die zum Begriff S gehören, wenn, anders ausgedrückt, der Begriffsumfang von S gleich Null ist. Den Begriff solcher leerer Mengen kannte Aristoteles jedoch nicht. Das Urteil S a Ρ impliziert bei ihm immer die Existenz von S und P. Andernfalls könnte er nicht aus S a P S i Ρ und Ρ i S folgern. Femer wären die Urteile S a Ρ und S e Ρ keine Gegensätze mehr, und schließlich wären die
152
Akt und ousia
wird, mit C' bezeichnet, lassen sich daher die Verhältnisse, die für Darii gelten, in derselben Weise zeichnerisch darstellen wie bei Barbara: A Β C'
Es ist also durchaus gerechtfertigt, auch hier von einer logischen Unterordnung und von abnehmenden Begriffsumfangen 3 4 9 auszugehen, wenngleich dies nicht für alle Begriffe in Gänze wie bei Barbara zutrifft. Vermutlich deswegen hat Aristoteles auch, als er in An. pr. I 4 auf die partikuläre Prämissen enthaltenden Syllogismen der ersten Figur zu sprechen kommt, die Ausdrucksweise gewechselt, indem er sagt, daß bei diesen Syllogismen der Unterbegriff unter ( ύ π ό ) dem Mittelbegriff s e i 3 5 0 , - eine Ausdrucksweise, die Aristoteles übrigens nicht nur für partikuläre Urteile verwendet, sondern auch - worauf Patzig aufmerksam gemacht hat - für das Allgemeinurteil S a P. 3 5 1
349
Syllogismen Darapti und Felapton der dritten Figur nicht mehr gültig. Daher kann auch - nach Aristoteles - aus SP a Ρ S i Ρ gefolgert werden. Allerdings gibt es auch hier den Sonderfall, daß C' und Β umfangsgleich sind. In Urteilen wie »all das, was Lebewesen und Krähe ist, ist Krähe« ist dieser Sonderfall verwirklicht. Die Anzahl der Gegenstände, für die die Eigenschaften »Lebewesen« und »Krähe« zutreffen, ist gleich der Anzahl der Gegenstände, fur die die Eigenschaft »Krähe« zutrifft. In Urteilen wie »alle die, die Bergsteiger und Tiroler sind, sind Tiroler« dagegen ist die Anzahl der Gegenstände, fur die die Eigenschaften »Bergsteiger« und »Tiroler« zutreffen, offensichtlich kleiner als die Anzahl der Gegenstände, für die nur die Eigenschaft »Tiroler« zutrifft.
350
An. pr. I 4, 26 a 22.
351
Vgl. An pr. I 10, 30 b 13. Bei Patzig vgl. Die aristotelische Syllogistik, a. a. O., 106. Patzig weist an dieser Stelle auch auf den Wechsel in der Ausdrucksweise hin, den Aristoteles, als er auf die Syllogismen mit partikulären Prämissen zu sprechen kommt, vornimmt, sieht in diesem Wechsel jedoch nur ein Anzeichen dafür, daß Aristoteles selbst die Schwierigkeiten seiner am Anfang von An. pr. I 4 gegebenen SyllogismusDefinition erkannt habe. Für Patzig ist der Ausdruck υπό, mit dem das Verhältnis von Unter- zu Mittelbegriff in An. pr. I 4 angegeben wird, irreführend (ebd., 107). Irreführend wäre dieser Ausdruck jedoch in der Tat nur dann, wenn das ύπό auf den ganzen Unterbegriff von Darii und Ferio bezogen würde und nicht bloß auf einen Teil desselben, was freilich durch den aristotelischen Text nicht prima facie deutlich wird. Insofern ist der Vorwurf, den Patzig gegen Aristoteles erhebt, nicht ganz unberechtigt.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
153
So betrachtet hätten also Syllogismen wie der von Lukasiewicz besprochene nichts Anstößiges mehr, weil hier nicht der gesamte Begriff »Lebewesen« unter den Begriffen »Vogel« und »Krähe« liegt, sondern nur, wie gesagt, ein Teil dieses Begriffs. Daß der gesamte Begriff »Lebewesen« umfangsgrößer ist als die anderen beiden Begriffe, ist zufallig oder, wie Aristoteles sagen würde, κ α τ ά συμβεβηκός. Daß Aristoteles darauf nicht hinweist und mit seiner Redeweise den Anschein erweckt, als ob das, was in Fällen wie Darii und Ferio nur für einen Teil des Unterbegriffs gilt, für den ganzen Unterbegriff gelte, kann man ihm sicherlich als eine logische Unkorrektheit anlasten, vor allem wenn es einem nur darum geht, Aristoteles aus bestimmten, modernen Gesichtspunkten der Logik heraus zu betrachten, aus Gesichtspunkten, die für ihn nicht leitend gewesen sind. Etwas anderes ist der Versuch, die aristotelische Denkweise nachzuvollziehen und dabei die Voraussetzungen der Onto- und Usiologie des Aristoteles zu begreifen, wie sie vollständig erst begriffen werden können, wenn auch seine Syllogistik in die Untersuchung einbezogen und die Parallelität der ousiaTrias und der Trias des Syllogismus aufgezeigt wird. Das Interesse an der Syllogistik ist für die vorliegende Arbeit nicht aus dem Interesse an Gesichtspunkten der modernen Logik geschöpft, über die im übrigen hier kein Urteil gefällt werden soll, sondern aus dem Interesse, eine Verbindung herzustellen oder vielmehr nachzuzeichnen, die zwischen der ουσία und der ευδαιμονία besteht. Erste Philosophie oder, um den geläufigeren Begriff zu gebrauchen, Metaphysik ist »Onto«- und Usiologie, die »Rede« von der ousia, einem Begriff, der nicht ein für allemal feststeht und der Rede von vornherein zugrunde liegt, sondern der von der Rede innerhalb einer bestimmten Struktur, die hier untersucht wird, zugrunde gelegt wird. Usiologie ist in diesem Sinne ein Sichbewegen in Strukturen, die vom Denken selbst geschaffen werden; das Denken als etwas, was sich in dieser Bewegung sich selbst zum Zweck setzt, ist Eudaimonia. Das Denken hat dabei die Freiheit, die von ihm geschaffenen Verhältnisse innerhalb bestimmter Grenzen, an die es sich bindet, umzukehren und zuweilen etwas, was es in dem einen Falle oben liegen läßt, in dem anderen Falle unten liegen zu lassen. Nichts hindert, in Syllogismen wie »wenn alle Vögel Lebewesen und alle Krähen Vögel sind, dann sind alle Krähen Lebewesen« einen Begriff wie Lebewesen am weitesten oben zum Liegen kommen zu lassen und in Syllogismen wie »wenn alle Krähen Vögel sind und einige Lebewesen Krähen, dann sind einige Lebewesen Vögel« denselben Begriff, wenn auch nur partikulär, ganz unten zum Liegen kommen zu lassen. Die Lagebeziehungen, die im Denkmodell der Dihairesis vorliegen, kommen also in sämtlichen gültigen aristotelischen Syllogismen zum Ausdruck. Alle Syllogismen laufen, sei es ohne, sei es mit Konversion, sei es ohne, sei es mit Reductio ad absurdum, in letzter Instanz auf die Struktur »C liegt unter B, und Β
154
Akt und ousia
liegt unter A« hinaus. Außer in Barbara werden diese Lagebeziehungen aber nur in defizienter Weise verwirklicht. Barbara gibt die Orientierung für alle Syllogismen vor. An Barbara nun läßt sich der aristotelische ows/a-Begriff in seiner triplizitären Struktur erklären. Wenn man das, was Aristoteles über die Entstehung und Bildung von Syllogismen in An. pr. I 4 (25 b 32ff.) und I 27 (43 a 25ff.), mit dem, was er in Cat. 3 (1 b 10-15) und in Cat. 5 über die Bestimmung von erster und zweiter ousia sagt, in Beziehung bringt, so ergibt sich auf dem Hintergrunde des Modells der Dihairesis eine Analogie, die den Begriff der ousia in seiner triplizitären Struktur deutlich macht. Danach sind der Begriff der Gattung (= zweite Seiendheit) analog zum Oberbegriff, der Begriff der Art (= zweite Seiendheit, aber mehr Seiendheit als die Gattung) analog zum Mittelbegriff und der Begriff des Einzelnen (= erste Seiendheit) analog zum Unterbegriff des Syllogismus. Wie sich mit Hilfe des Modells der Dihairesis die ousia-Trias an Barbara illustrieren läßt, so läßt sich aber auch die ousia allgemein in ihrer kategorialen Bedeutung an den anderen Modi der ersten Figur des aristotelischen Syllogismus nachweisen. Die συμβεβηκότα, das, was man gemeinhin mit Akzidentien übersetzt, sind das, was sich von der ersten Seiendheit und ihrem Artbegriff partikulär affirmativ aussagen läßt. Sofern das Denken in der Rede etwas zum Teil oberhalb dessen liegen läßt, was es erste Seiendheit und deren Artbegriff heißt, so läßt es dieses Etwas zwar als Seiendes begegnen, aber nicht als Seiendheit·, es läßt es in der Weise in der Rede begegnen, daß es sich nicht von sich selbst her, sondern nur an der Seiendheit zeigt. Die Seiendheit verhält sich zu diesem Seienden als das, was das Denken diesem gegenüber nur partikulär unten liegen läßt und nicht anders als partikulär unten liegen lassen kann (»einige Menschen sind weiß«, »einige Pferde ruhen«, »einige Menschen sind in Athen«; »einige Rosen sind rot« etc. 352 ). Das Modell der Dihairesis kann auch dazu genutzt werden, um zu zeigen, daß das, was Aristoteles in der Kategorienschrift erste Seiendheit nennt, in der Tat als nichts anders gedacht werden kann denn als das, was am weitesten und was nur unten liegt. Die Dihairesis liefert mithin eine Begründung dafür, weshalb Aristoteles die ousia zunächst als unten Liegendes, was ύποκείμενον ja
Ein etwas scharfsinniger Mensch könnte darauf entgegnen, daß nichts die Rede hindere, alle Rosen rot sein zu lassen oder alle Menschen in Athen sein zu lassen. Ich will diese Freiheit gar nicht leugnen, muß aber darauf verweisen, daß der aristotelische Freiheitsbegriff anders konzipiert ist. Die Freiheit der Rede und des Denkens zeigt sich zwar darin, daß es sich selbst Grenzen zieht; diese Grenzziehung hat aber den Zweck, sich ein Feld zu schaffen, auf dem die Potenzen des Denkens und der Rede zur Entfaltung kommen können, aber nicht erlahmen.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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wörtlich heißt, denkt. Im Phaidros, und bezeichnenderweise im rhetorischen Teil des Phaidros, in dem die Fähigkeit, mit Kenntnis (mit τέχνη), i. e. professionell, wie man sich heute ausdrücken würde, Reden (λόγοι) zu halten, besprochen wird, werden gemäß der Dihairesis folgende Forderungen an den »professionellen« Redner gestellt: daß er nach Arten (κατ' είδη) das Seiende (τα όντα) unterteilen (διαιρεισθαι) und unter einem Begriff (ιδέα) das Einzelne (έκαστον) zusammenfassen könne (273 e If.) und daß er so lange dihäretisch vorgehe oder »schneide« (τέμνειν), bis er zu einem Unzerschneidbaren (ατμητον) komme (277 b). Diese Worte implizieren, daß eine bis zu Ende geführte Dihairesis nicht aus einem einmaligen Schnitt besteht. Eine einfache Unterteilung eines Oberbegriffs in είδη oder Differenzen ergibt noch keine Dihairesis im philosophischen, platonischen Sinne. Eine solche liegt erst vor, wenn die Unterteilung zu etwas, was nicht weiter differenziert werden kann, kommt. Eine Dihairesis verlangt also mindestens zwei Schritte, die Unterteilung des Oberbegriffs in eine Differenz und die Zuordnung eines Unterbegriffs zu einer der beiden Seiten dieser Differenz. Eine Einteilung des Begriffs Lebewesen in die Differenz sterblich-unsterblich wird erst dann zu einer vollständigen Dihairesis, wenn ein Begriff gefunden wird, der gänzlich und ausschließlich unter die eine Seite der Differenz gebracht werden kann wie etwa der Begriff Gott unter unsterblich. Piaton hat dort, wo er wie im Sophistes oder im Politikos die Methode der Dihairesis anwendet, dies nicht nur an einer Differenzierung, sondern an einer Vielzahl von Differenzierungen gezeigt. Immer aber bleibt die triadische Struktur in allen Dihäresen evident, die triadische Struktur von Oberbegriff, Differenz (= Mittelbegriff) und Unterbegriff, wie die Beispiel-Dihärese des Angelfischers verdeutlicht: es gibt einen Oberbegriff, die τέχνη, einen Unterbegriff, den Angelfischer, den es mittels der dihäretischen Methode zu bestimmen gilt, und das, was die Tätigkeit des Angelfischers aus dem Oberbegriff der τέχνη heraus in Differenzierung zu anderen »Künsten« bestimmt. Eine zahlenmäßige Variation gibt es nur bei diesem letzteren, bei dem, was zwischen Ober- und Unterbegriff liegt: der Differenz. Die Zahl der Differenzen ist beliebig. Aristoteles' Verdienst besteht nun darin, daß er mit dem triplizitär strukturierten oz«;a-Begriff der Kategorien und der mit diesem korrespondierenden Trias eines Syllogismus diese triadischen Verhältnisse der Dihairesis durch Reduktion radikalisiert und in Reinheit entwickelt hat. Bei ihm werden nicht nur die schier unzähligen Ebenen der Differenz auf eine Ebene reduziert; sondern bei ihm werden auch die Differenzen selbst reduziert. Das ist auch der Grund, weshalb die aristotelische ows/a-Trias und das triadische Strukturprinzip des Syllogismus zwar aus der platonischen Dihairesis erklärt werden können und müssen, mit dieser aber nicht einfach identisch sind. Für Aristoteles ist die Di-
156
Akt und ousia
hairesis gleichsam nur ein schwacher Syllogismus (άσθενης συλλογισμός) 353 . Denn selbst wenn die Differenzen nur auf eine Ebene reduziert werden, so kommt in dem Falle, wo die Dihairesis mitsamt ihrer Differenz in einen Schluß übergeführt wird, noch immer kein Syllogismus mit einer eindeutigen Konklusion zustande. Ich kann in solchem Falle nur Syllogismen bilden wie (ich verwende das Beispiel, an dem Aristoteles in An. pr. 131 die Schwäche der Dihairesis für die Syllogistik demonstriert): Jedes Lebewesen ist entweder sterblich oder unsterblich. Jeder Mensch ist ein Lebewesen. Jeder Mensch ist entweder sterblich oder unsterblich. Daß der Mensch notwendig sterblich ist, kann mit einem solchen Syllogismus nicht bewiesen, sondern bestenfalls postuliert (αιτείται) werden. 354 Man würde sich also, wenn man Sätze wie, daß der Mensch ein sterbliches Lebewesen sei, mit Hilfe der Dihairesis beweisen wollte, einer Petitio principii schuldig machen. 355 Die Dihairesis wird nur dann fur den Syllogismus tauglich, wenn sie verkürzt, wenn sie um die Seitentriebe der mittleren Ebene ärmer gemacht wird, wie dies in Triaden wie »Krähe-Vogel-Lebewesen« oder (in dem Beispiel für die οΜί/α-Trias) »Einzelmensch-Mensch-Lebewesen« der Fall ist. Das, worein Lebewesen noch unterteilt werden kann, fallt aus der Struktur heraus. Alle drei Ebenen werden durch einen Begriff repräsentiert. Das aristotelische Modell läßt nur noch den Stamm erkennen; es läßt all das, was noch aus der Wurzel treiben kann, außer acht. Die platonische Dihairesis sieht jetzt ein wenig schlanker aus, aber sie ist in dieser Verschlankung gleichwohl - und vielleicht sogar mit größerer Klarheit - erkennbar. Dies trifft auch für das zu, worum sich Dihairesis und der aristotelische kategoriale Begriff des Seins letzten Endes drehen: für das ganz unten oder, je nachdem in welcher Lage man den Stamm sehen will, ganz oben Liegende, für dasjenige, bei dem alle Unterteilungen enden und das allen Unterteilungen zugrunde liegt. Piaton nennt es ein Unzerschneidbares (ατμητον), ebenso Aristoteles, wenngleich nicht in genau derselben Terminologie. Bei ihm heißt das ganz unten Liegende άτομον. 356 Das άτομον ist dasjenige, was keine sprachliche Unterteilung mehr zuläßt. Hier beraubt sich die Rede der Freiheit, etwas in seiner Lage umzukehren. Für sie ist das άτομον innerhalb der Struktur, die sie sich 353
An. pr. 131, 46 a 33.
354
Ebd., 46 b 11.
355
Ebd., 46 a 33f.
356
Cat. 2, 1 b 6f.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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setzt, nie anders als unten liegend. Daß dies eine durch Denken und Rede selbst gesetzte Schranke ist, geht daraus hervor, daß Aristoteles dem, was er mit dem ατομον identifiziert, den sog. Einzeldingen, zwar zubilligt, daß es in Sätzen wie »dieses Weiße da ist Sokrates« oder »was sich da nähert, ist Kallias« die Position des Prädikats einnimmt, aber ihm das Prädikatsein nur akzidentell (κατά συμβεβηκός) zubilligt. 357 Die Rolle des Prädikats kommt ihm innerhalb der Strukturen, in denen Aristoteles Seiendheit und Sein denkt, niemals zu, weil in diesen Strukturen gemäß dem Modell der Dihairesis nur Subordinationen möglich sind, entweder vollständige (wie bei der owj/a-Trias) oder partikuläre (wie bei dem, was als Kategorie 2 - 1 0 seiend genannt wird). In Sätzen wie »dieses Weiße da ist Sokrates« liegen solche Subordinationen nicht vor, weder vollständige noch partikuläre. Von einem Untenliegen kann hier überhaupt nicht mehr gesprochen werden. »Sokrates« und »dieses Weiße da« liegen nicht nur auf einer Ebene; sie sind im Sinne der Dihairesis schlechterdings identisch, damit aber nicht mehr syllogismusfähig. Der Begriff des hypokeimenon, des der Rede Zugrundeliegenden, bedeutet also nicht, daß es in jeder möglichen Aussage Subjekt sein muß. Sein Subjektsein verdankt es bestimmten, vom Denken und der Rede selbst geschaffenen Strukturen. Außerhalb dieser Strukturen - wo es allerdings für das Denken nichts Essentielles mehr zu denken gibt - läßt das Denken es durchaus auch als Nicht-Subjekt zu. 3 5 8 Ferner zeichnet zwar jedes hypokeimenon aus, innerhalb dieser Strukturen Subjekt zu sein; aber das Subjektsein ist keine hinreichende Bedingung dafür, um im allerstrengsten Sinne hypokeimenon zu sein, nämlich nur hypokeimenon zu sein, i. e. ganz unten zu liegen. Der Begriff des Untenliegens meint eben etwas mehr als das, was mit der grammatischen Kategorie »Subjekt« bezeichnet wird. Ganz unten liegt nur das, was keine Differenzierung mehr zuläßt, ja was selbst keine Differenz mehr ist. In Cat. 5 findet sich bei Besprechung der ersten Kategorie, des Begriffs der ousia, die sehr wichtige Bemerkung, daß Seiendheiten zu nichts in konträrem Gegensatz stehen. 359 Auch hier ist die Dihairesis im Hintergrund zu sehen. Die Dihairesis ist eine Denkmethode, die dichotomisch, i. e. nach kontradiktorischen Gegensätzen Begriffe
357 358
An. pr. I 27, 43 a 33 - 36. Da Lukasiewicz diesen Bezug des Denkens auf eine bestimmte, nämlich triadische, aus dem Modell der platonischen Dihairesis entlehnte Struktur, innerhalb deren Begriffe wie Sokrates und Kallias nur als hypokeimenon gedacht werden, nicht sieht, verwundert es nicht, daß er es für unkorrekt hält, wenn Aristoteles sagt, daß solche Begriffe niemals von anderem wirklich (αληθώς, An. pr. I 27, 43 a 26) prädiziert werden können (Aristotle's Syllogistic, a. a. O., 6).
359
Cat. 5, 3 b 24.
158
Akt und ousia
zerlegt, so lange, bis sich zum Zerlegen nichts mehr findet. Nun kann dieses Letzte, bei dem das Zerlegen ankommt, zwar, formal betrachtet, selbst wieder als kontradiktorischer Gegensatz gedacht werden; aber der negativen Seite dieses Gegensatzes fehlt das Bestimmte, was es gemeinsam gegen die andere Seite des kontradiktorischen Gegensatzes auszeichnet. Damit ist aber eine wichtige Forderung der Dihairesis nicht erfüllt: daß nämlich auch die negative Seite des Gegensatzes positiv bestimmt werden muß, daß, anders ausgedrückt, der kontradiktorische Gegensatz in einen konträren Gegensatz sich überfuhren lassen muß. Ich kann zwar den Artbegriff Mensch so in seine Unterbegriffe (die Einzelmenschen) zerlegen, daß ich ihn dichotomisch und kontradiktorisch in Sokrates und Nicht-Sokrates unterteile, womit ich alle Teile der Spezies exakt erfaßt hätte (denn alle Menschen sind entweder Sokrates oder nicht Sokrates, freilich nur unter der Voraussetzung, daß so etwas wie Sokrates als Mensch gedacht wird); aber die Nicht-Sokrates-Menschen lassen sich nicht zu Sokrates als konträrer Gegensatz denken. Dieses Fehlen von Kontrarietät trifft nun aber fìir alle Teile der owi/a-Trias zu, und zwar deswegen, weil, wie ausgeführt, die triplizitäre Struktur, die dem aristotelischen ous/a-BegrifF zugrunde liegt, zwar ein Derivat der platonischen Dihairesis ist, aber unter Resektion der Differenzen, unter Resektion dessen, was die Dihairesis an Konträrem enthält. »Denn was sollte der ersten Seiendheit konträr sein? Einem Menschen ζ. B. ist nichts konträr, auch dem Menschen und dem Lebewesen ist nichts konträr.« 3 6 0
Das soll freilich nicht heißen, daß Aristoteles Kontrarietäten gänzlich aus seinem System eliminiert hätte. Die konträren Gegensätze werden nur aus der owj/a-Trias eliminiert. Sie haben aber ihren festen Platz in den Kategorien, die nur um ihres Bezugs auf die Seiendheit willen seiend genannt werden, in den Kategorien 2 - 1 0 , wenngleich nicht in allen Kategorien (Aristoteles hebt die Eigenschaft, nicht konträrer Gegensatz zu sein, nicht als Eigentümlichkeit der ousia heraus, sondern als eine Eigenschaft, die diese mit Kategorien wie der Quantität teilt 361 ). Gemeint sind solche Kategorien wie die der Qualität oder die des Tuns. Wenn also Ausdrücke wie Gehen, Gesundheit, Sitzen und dergleichen in der Rede zwar nur als Subjekt begegnen, aber dennoch nicht letzthin Zugrundeliegendes sind, dann deswegen, weil sie selbst konträre Gegensätze sind. Der konträre Gegensatz zu Gehen ist Ruhen, zu Gesundheit Krankheit, zu Sitzen Stehen. Wenn sie konträre Gegensätze sind, dann muß sich aber gemäß dem Modell der Dihairesis etwas finden lassen, das noch unterhalb ihrer liegt, etwas,
360
Ebd., b 25-27.
361
Ebd., b 27ff.
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was sich nicht in der Weise wie Gesundheit und Krankheit, Gehen und Ruhen voneinander differenzieren läßt, was aber diesen Differenzen zugeordnet werden kann. Und dies ist für Aristoteles die ousia, die zwar selbst kein konträrer Gegensatz ist, aber konträre Gegensätze enthält. Die Fähigkeit, konträre Gegensätze zu enthalten, hebt Aristoteles als eine der wesentlichsten Eigentümlichkeiten des ows/a-Begriffs heraus. 362 Die Kontrarietät, die Aristoteles in der Weise, wie sie im Modell der Dihairesis enthalten war, aus der otts/a-Trias eliminiert, kommt so wieder in diese hinein, so aber, daß jetzt die gesamte Trias, i. e. alle drei Teile, als ganz unten Liegendes nicht bloß unter einem Zipfel von Gegensätzen hängt, sondern unter allen Gegensätzen; d. h., die ousia wird in ihrer triplizitären Struktur jetzt nicht nur für eine Seite der Gegensätze empfänglich, sondern für alle Seiten. Sie ist selbst kein konträrer Gegensatz, aber im Gegensatz zu allem, was nicht ousia ist, fähig, konträre Gegensätze zu empfangen. Zur ousia macht sie nicht, daß sie der Zahl nach ein und dasselbe ist - das hat sie auch mit Begriffen wie dem der Farbe gemein - , sondern daß sie gleichsam ein Hort für konträre Gegensätze wird. Eine Farbe kann immer nur entweder weiß oder nichtweiß, ζ. B. schwarz, die ousia hingegen sowohl weiß wie schwarz sein. »Ein einzelner Mensch«, so Aristoteles, »wird als ein und derselbe bald weiß, bald schwarz, bald warm, bald kalt, bald sittlich schlecht, bald sittlich tüchtig.« 3 6 3 Die Gegensätzlichkeiten aus der ous/a-Trias und der Trias des Syllogismus zu verbannen hat den Zweck - was nur auf den ersten Blick wie ein Paradoxon aussieht - , die Gegensätzlichkeit für die ousia in ihrer triplizitären Struktur voll wiederherzustellen. Dies ist ein für die vorliegende Untersuchung und ihren Themenkreis, das Verhältnis von ousia und Eudaimonia, bedeutsamer Befund. Was die ousia als einen vom Denken innerhalb einer bestimmten Struktur geschaffenen Begriff und das (sich selbst zum Zweck setzende) Denken der ousia auszeichnet, ist, daß sie nicht wie die Begriffe, die das Denken nur um ihres (kategorialen) Bezugs auf die ousia willen sein läßt, auf eine bestimmte Seite eines Gegensatzes fixiert sind, sondern daß sie den Gegensatz in seiner Ganzheit umfassen. Das reine, bei sich bleibende Denken ist, wie Aristoteles die Erste Philosophie im Buch Gamma der Metaphysik bestimmt, ein Denken in und aus Gegensätzen; ousia als bei sich bleibendes Denken (= Eudaimonia) und die ousia als das vom Denken innerhalb der von ihm selbst vorgegebenen Strukturen Gedachte sind keine Gegensätze, aber das, was die Gegensätze in vollem Umfange enthält. Die Schlechtigkeit (κακία) steht zur Tugend, weiß zu schwarz in (konträrem) Gegensatz; beide, »Schlechtigkeit« und »weiß«, können niemals 362
Cat. 5 , 4 a lOf.
363
Ebd., 4a 18-21.
160
Akt und ousia
ihren Gegensatz mitenthalten, die »Schlechtigkeit« ist nicht Tugend, und »weiß« ist nicht »schwarz«, und ebenso umgekehrt. Was aber den Gegensatz in seiner Gänze enthält, sind die ousia, von der sowohl das eine wie das andere ausgesagt werden kann, und das Denken der ousia, das beide Seiten des Gegensatzes zugleich denken kann. Das Denken der ousia als des Horts und der letzten Unterlage fur alle Differenzen geht in letzter Instanz auf die platonische Dihairesis zurück. Wenn Aristoteles die platonische Dihairesis für seinen triplizitär strukturierten οκί/α-Begriff unter Resektion der Differenzen (διαφοραί) und Kontrarietäten (ενάντια) nutzbar macht, so heißt dies also alles andere, als daß die Kontrarietäten aus dem Denken der ousia (aus dem bios theoretikos, in dem Eudaimonia gipfelt) herausfallen. Und ebensowenig heißt es, daß die Differenzen herausfallen. Aristoteles verankert die Differenzen fest in seinem System. Dort, wo er den Zusammenhang zwischen άπόδειξις und ορισμός aufzeigt (in An. post. II 13), hebt er die platonische Methode der Dihairesis ausdrücklich lobend hervor. Die nach Differenzen einteilenden Dihäresen seien nützlich fur die syllogistische Erschließung des Was-ist (96 b 25-28). Das Was einer Sache wird bestimmt durch die Gattung, unter die es fällt, und durch die Differenzen, durch die es gegen anderes, was zur selben Gattung gehört, abgetrennt und in seiner Eigentümlichkeit bestimmt werden kann. Die Bestimmung des Was-ist, die Definition (ορισμός), ist - Aristoteles sagt es in An. post. II 13 explizit 364 - das Ergebnis einer Dihairesis. Daß so etwas wie Mensch als sterbliches, zahmes, zweifüßiges, federloses Lebewesen »definiert« werden kann, hängt damit zusammen, daß aus einem Oberbegriff (Lebewesen) durch fortlaufende Einteilungen der zu definierende Begriff (Mensch) erschlossen wird. Lebewesen wird dichotomisch zerschnitten in sterbliche und unsterbliche Lebewesen, die sterblichen in zahme und wilde, die zahmen in befußte und unbefußte (= befiederte), die befußten in zweifüßige und nichtzweifüßige (= vierfüßige). Bei Betrachtung dessen ergeben sich allerdings zwei Probleme. Erstens'. Bisher war immer nur die Rede von der ows/'α-Trias »Gattung-Art-Einzelbegriff«. Hier, wo Aristoteles (übrigens ohne Piaton eigens zu erwähnen) das Modell der Dihairesis in seiner Nützlichkeit fur die syllogistische Erschließung des Was-ist ausdrücklich namhaft macht, handelt er von einer anderen Trias, nämlich von der Trias »Gattung-Differenz-e'iôoç«. Zweitens: Da die Definition durch einen Syllogismus zum Ausdruck kommen soll, müßten die drei Teile der Trias den Termini des Syllogismus wie folgt zugeordnet werden: dem Oberbegriff die Gattung, dem Mittelbegriff die Differenz und dem Unterbegriff das defmiendum, das, was ich hier mit dem Ausdruck είδος bezeichnet habe. Nun sagt aber Ari-
364
96 b 32-35.
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161
stoteles, daß weder die Gattung von der Differenz noch die Differenz von der Gattung ausgesagt werden könne. 365 Gattung und Differenz dürften mithin nicht syllogistisch aufeinander bezogen werden. Zum ersten Problem: Wenn man die Triaden »Gattung-Art-Einzelbegriff« und »Gattung-Differenz-ειδος« und ihre Exemplifikationen (»LebewesenMensch-Einzelmensch« auf der einen und »Lebewesen-zweifüßig-Mensch« auf der anderen Seite) miteinander vergleicht, zeigen sich sogleich sowohl die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede. Beide haben zwei Teile der Trias miteinander gemein, den Gattungs- und den Artbegriff. Wenn ich letzteren Begriff für die zweite Trias unübersetzt mit είδος wiedergegeben habe, so sollte damit nur darauf hingewiesen werden, daß in dieser Trias der Artbegriff als solcher nicht deutlich wird. Denn das είδος, mit welchem Ausdruck Aristoteles auch das, was in der Trias 1 fur gewöhnlich Art oder Spezies genannt wird (weswegen ich diese Trias auch Gattung-eiôoç-Einzelbegriff hätte nennen und damit die Gemeinsamkeit mit Trias 2 auf den ersten Blick zum Ausdruck bringen können), liegt hier nicht unmittelbar unter der Gattung, sondern unter einer Differenz der Gattung. Damit zeigt sich schon der erste Unterschied zwischen den beiden Triaden: Das είδος liegt in dem einen Falle unmittelbar und als Mittelbegriff des Syllogismus, in dem anderen Falle nur mittelbar und als Unterbegriff des Syllogismus unter der Gattung, dem Terminus maior beider Triaden. Der zweite Unterschied ist, daß die Ebene der Einzelbegriffe aus der Trias 2 herausfallt. Hier wird nur bis zu einem Begriff unterteilt, der zwar umfangskleiner als der der Gattung, aber immer noch ein Allgemeinbegriff ist. In der Tat scheint die platonische Dihairesis nicht weiter als bis zu einem Allgemeinbegriff zu gehen. In diesem Sinne können auch im Phaidros die Worte μεχρί του άτμητου (277 b 7) gelesen werden. Unter άτμητον könnte hier ein άτμητον eiSoç verstanden werden. 366 Gesucht wird nicht danach, was den einzelnen Angelfischer, Sophisten, Menschen etc. als solchen auszeichnet, sondern was den Begriff, also die Art, das είδος, des Angelfischers, Sophisten etc. ausmacht. Nun kann natürlich von der Art auf das Einzelne geschlossen werden. Das, was von der Art gilt, muß auch von allen Einzelfällen der Art gelten. Wenn die Art Mensch die Zweifußigkeit auszeichnet, muß jeder Mensch, wenn auch teilweise, wie im Falle der Einbeinigen, nur in defizienter Weise, zwei Füße haben. Dieser Rückbezug auf die Einzelbegriffe ist in der Trias 2 nicht ausgedrückt. 365
Vgl. An. post. II 3, 90 b 34-37, und Top. VI 6, 144 a 28-b 3.
366
So liest ζ. B. Hager die Stelle (F. P. Hager, Dihairesis, in: J. Ritter (Hrsg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1972, Bd. 2, 242).
162
Akt und ousia
Daß er aber in der platonischen Dihairesis impliziert ist, zeigt die Forderung Piatons, das Einzelne unter einem Begriff zusammenzufassen {Phaidros 273 e If.). Bevor der Akt der Dihairesis beginnen kann, muß die Subsumtion der Individuen unter ein είδος bereits vollzogen sein. So gesehen, drückt die Trias 1 die notwendigen Voraussetzungen für das Zustandekommen der Trias 2 aus; denn sie enthält die Einzelbegriffe mit und weist sie als Unterbegriffe von Art und Gattung aus. Sie ist aber nicht, wie Seidl will, lediglich eine Voraussetzung für die aristotelische Syllogistik; sondern sie selbst ist, wie ausführlich dargelegt wurde, als Syllogismus formulierbar. 367 Als ein solcher unterscheidet sich die Trias 1 von der Trias 2 nur dadurch, daß sie gleichsam weiter geht. Daß sie von einem Allgemeinen zu einem weniger Allgemeinen geht, ist nicht etwas, was ihr, sondern etwas, was dem Syllogismus überhaupt eigen ist. Der Syllogismus ist ein Weg vom Allgemeineren zu einem weniger Allgemeinen, wobei der Oberbegriff der allgemeinste und der Unterbegriff der am wenigsten allgemeine Begriff innerhalb der Trias des Syllogismus sind. Worin sich (in Barbara ausgedrückte) Syllogismen mit den Termini »Lebewesen-Vogel-Krähe« oder »Lebewesenzweifüßig-Mensch« oder »Lebewesen-Mensch-Einzelmensch« unterscheiden, ist der Grad der Besonderung, der bei dem letzten Syllogismus am größten ist. Daher kann dieser Syllogismus (weil bei ihm das gesamte Feld dessen abgesteckt ist, worin sich ein Syllogismus bewegt) nicht nur als Voraussetzung für Syllogismen, sondern selbst als allgemeinster Syllogismus bezeichnet werden. Er geht bis zum Unzerschneidbaren selbst, während die Trias 2 nur bis zum unzerschneidbaren είδος geht. Trias 1 und Trias 2 sind also aufeinander beziehbar, und zwar so, daß die Trias 1, die als Syllogismus ausgedrückt den weitesten Umfang (von der Gattung zum Einzelnen) hat, die Trias 2 gewissermaßen vervollständigt. Syllogistisch läßt sich das so darstellen, daß die Trias 1 dort, wo die Trias 2 endet, anfängt.
Seidl sieht in dem Bezug des Allgemeinen auf das Einzelne (in dem Dictum de omni et nullo) »kein speziell syllogistisches Prinzip, wohl aber ein allgemein logisches«, das Voraussetzung sei fur die aristotelische Syllogistik (H. Seidl, Beiträge zu Aristoteles ' Erkenntnislehre
und Metaphysik,
a. a. 0 . , 115). Überdies läßt er das Allgemeine im
Einzelnen »ontologisch« begründet sein. Abgesehen davon, daß ich die Unterscheidung zwischen »ontologisch« und »logisch« für überflüssig halte, ist nicht einzusehen, wie anders als more syllogistico
das Dictum de omni et nullo bewiesen werden sollte. Daß
das, was von der Art gilt, auch vom Einzelfall der Art gilt, kann nur durch so etwas wie die Gattung (den Terminus maior) gezeigt werden, die sowohl von der Art wie vom Einzelnen prädiziert wird. Richtig allerdings weist Seidl gegen Lukasiewicz daraufhin, daß der Terminus minor nicht ein Allgemein-, sondern auch ein Einzelbegriff sein kann.
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D i e K o n k l u s i o n der e i n e n s y l l o g i s t i s c h ausgedrückten Trias ist identisch mit d e m O b e r s a t z der anderen s y l l o g i s t i s c h ausgedrückten Trias: ( 1 ) A l l e s , w a s z w e i F ü ß e hat, ist L e b e w e s e n . ( 2 ) Jeder M e n s c h hat z w e i Füße. ( 3 ) Jeder M e n s c h ist L e b e w e s e n . ( 4 ( = ( 3 ) ) Jeder M e n s c h ist L e b e w e s e n . ( 5 ) Sokrates ( = j e d e r e i n z e l n e M e n s c h ) ist M e n s c h . ( 6 ) Sokrates (jeder e i n z e l n e M e n s c h ) ist L e b e w e s e n . In d i e s e m S i n n e ist d i e Trias 2 , bei der A r i s t o t e l e s ausdrücklich a u f das M o dell der D i h a i r e s i s v e r w e i s t , die »ursprünglichere«. In ( 3 ) , der K o n k l u s i o n der Trias 2 , ist, w i e leicht erkannt w e r d e n kann, d i e K o n k l u s i o n der Trias 1 ( = ( 6 ) ) impliziert. Daraus könnte g e f o l g e r t werden, daß die Trias 2, o b s c h o n s i e d e n E i n z e l f a l l nicht ausdrücklich benennt, a u c h d i e ursprünglichere ο κ ί / α - T r i a s ist, d. h., d a ß die Frage n a c h der ousia,
d i e Leitfrage der M e t a p h y s i k , allererst bei
d i e s e r Trias a n z u s e t z e n hat. In der Tat ist das der Fall, w e n n m a n in die » S u b stanzbücher« der M e t a p h y s i k s i e h t . 3 6 8 In Ζ 12 ( d a s in Parallele z u A n . post. II
Auch in den Analytiken wird dies deutlich. In An. pr. I 27 verweist Aristoteles an der Stelle, wo er die für den Syllogismus in allgemeinstem Sinne geltende Trias von Gattung, Art und Einzelbegriff auffuhrt, darauf, daß die Reden (Argumentationen) und Untersuchungen (οι λόγοι και άι σκέψεις) sich vor allem mit dem Mittelbegriff dieser Trias, also mit dem είδος beschäftigen (43 a 40-43). Da die Untersuchungen der Analytiken sich letztlich um den beweisenden Schluß drehen und dieser im engsten Zusammenhang steht mit der Definition, heißt diese Bemerkung nichts anderes, als daß dasjenige im Mittelpunkt der Untersuchung steht, was Gegenstand einer Definition sein kann. Gegenstand der Definition kann aber nicht der Einzelbegriff (Sokrates, Rallias etc.) sein, sondern nur der Artbegriff (Mensch und dergleichen). Die Bemerkung bedeutet aber nicht, daß sich jeder
Syllogismus um das είδος drehen muß oder daß, wie Seidl
Zeile 43 a 42 interpretiert, das είδος »Subjekt und Prädikat der Beweiskonklusion« sein solle (H. Seidl, Beiträge zu Aristoteles ' Erkenntnislehre
und Metaphysik,
a. a. O., 46).
Wie kann ein Artbegriff zugleich Prädikat seiner selbst sein? Dies verstehe ich nicht ganz. Seidl versteht es offensichtlich auch nicht ganz; denn im gleichen Atemzuge sagt er, daß dies nicht die Einzeldinge vom Beweis ausschließe, womit wohl gemeint sein soll, daß auch Begriffe wie Sokrates in der Konklusion auftreten können, was im übrigen ganz richtig ist, sofern es sich um einen Syllogismus im allgemeinen dreht. Bei einer άπόδειξις hingegen, die mit der Definition im Zusammenhang steht, kann ein Ein-
164
Akt und ousia
13 gelesen werden kann) wird nicht nur auf die Affinität von Definition und Dihairesis verwiesen, sondern auch gezeigt, daß mit Dihairesis und Definition die ousia gefunden werden kann. Die ousia ist die letzte Differenz (τελευταία διαφορά, 1038 a 19), dasjenige, bei dem die aus Oberbegriffen (Gattungen) zerschneidende Dihairesis endgültig ankommt. Als letzte Differenz verweist die ousia auf ein nicht weiter Differenzierbares, auf ein άδιάφορον. 3 6 9 Wenngleich Aristoteles in Ζ die Gattung aus dem Begriff der Seiendheit ausscheidet, so ist sie dennoch fester Bestandteil der Definition desselben. Die oi/sza-Trias ist als Definition gespalten in das definiendum (= Unterbegriff) und in das defmiens, das durch die Gattung (den Oberbegriff) und die Differenz (den Mittelbegriff) repräsentiert ist: Mensch (definiendum, είδος, άδιάφορον) ist zweifüßiges (Differenz) Lebewesen (Gattung). Mit dieser fur die Metaphysik grundlegenden οΜί/α-Trias steht ein andere ousia-Trias, die ebenfalls in den »Substanzbüchern« der Metaphysik (besonders in Ζ und H) abgehandelt wird, in engstem Zusammenhang, die ousia-Trias Stoff-eiôoç-compositum aus Stoff + έιδος. Wie eng dieser Zusammenhang ist, soll unter Verweis auf die Analogie des Gattungs- und des Stoff-Begriffs im nächsten Kapitel dargelegt werden. Festgehalten sei hier dies: daß, erstens, die aus der Dihairesis derivierte owi/a-Trias von Gattung, Differenz und είδος die für die Metaphysik, die Erste Philosophie, grundlegendere und maßgeblichere ist, daß, zweitens, in der Metaphysik die Rede von erster und zweiter Seiendheit umkippt 370 , weil das, was erste Seiendheit in den Kategorien war, jetzt nur noch implizit auftaucht, und daß, drittens, es gerade diese Implikation ist, die Aristoteles zuweilen vom Unterbegriff dieser Trias, dem ε'χδος, als von einem Einzelnen reden läßt. Wenn das definiendum, der letzte Teil der Trias, als Einzelbegriff bezeichnet wird, dann deswegen, weil der Bezug dieses Teils auf das schlechthin durch die Rede Unzerschneidbare, das durch die »kategoriale« owî/a-Trias als erste Seiendheit zum Ausdruck kommt, immer mitgedacht wird. Zum zweiten Problem·. In den Stellen, wo Aristoteles eine wechselseitige Prädikation von Gattung und Differenz verbietet, in An. post. II 3, 90 b 34-37, und Top. VI 6, 144 a 28-b 3, hat das Verbot nur Sinn innerhalb eines bestimmten Rahmens, nämlich innerhalb des Rahmens der Definition. Das Verbot meint zunächst, daß beweisender Schluß und Definition nicht einfach identisch sind. »Mensch ist zweifüßiges Lebewesen« ist ein Satz, der weder in einer der beiden Prämissen noch in der Konklusion eines Syllogismus auftauchen kann. Daß
zelbegriff nicht in der Konklusion auftreten. Hier kann nur der Artbegriff (Mensch) auftreten, und auch nur als Subjekt, nicht als Prädikat. 369
Vgl. Met. 1038 a 16.
370
Vom είδος als erster Seiendheit ist ausdrücklich in Met. Z Ì I , 1037 b 2 die Rede.
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Mensch zweifüßiges Lebewesen ist, d. h., daß, allgemein ausgedrückt, etwas so und so beschaffen ist oder vielmehr vermittels der Diahairesis als so und so beschaffen gedacht werden kann, kann nicht syllogistisch bewiesen werden. Bewiesen werden kann nur, daß die Gattung der Art zukommt, und zwar durch die Differenz. Es kann also nur bewiesen werden, daß, um in dem Beispiel zu bleiben, Mensch Lebewesen ist. Da innerhalb der Trias »Gattung-DifferenzArt« die Gattung der umfangsgrößte Begriff ist und in einer Definition immer nur Allgemeinaussagen verwendet werden dürfen, kann die Differenz nicht von der Gattung ausgesagt werden. Es kann also nicht gesagt werden »alle Lebewesen sind zweifüßig«. Es können aber zumindest in einem »schwachen« Syllogismus, als den Aristoteles die Dihairesis, wie gesagt, ausweist, die Gattung Subjekt und die Differenzen Prädikat sein, ζ. B. in dem Satz »alle Lebewesen sind entweder beflißt oder unbefußt«. Die Gattung kann in dieser Weise selbst den Arten als Subjekt zugrunde liegen wie in dem Satz »jedes Lebewesen ist entweder Mensch oder Nicht-Mensch«. Daß die Gattung niemals den Differenzen subjiziert werden kann, hat also nur dort Geltung, wo innerhalb eines Syllogismus allgemeine und eindeutige Aussagen getroffen werden sollen. In anderen Fällen kann - innerhalb der »Gattung-Differenz-Art« - die Gattung mehr zugrunde liegen als die Differenz, ja mehr noch als der dritte Teil der Trias, die Art. Ob solche Fälle noch in (regelgemäßen) Syllogismen passieren können, ist sicherlich fraglich. Aber die vorliegende Arbeit hat nicht zu prüfen, was ein regelgemäßer Syllogismus ist und was nicht. Der Syllogismus interessiert uns überhaupt nicht als solcher, sondern lediglich in Hinsicht auf die Analogie zur oi«¡a-Trias. Daß außerhalb eines Syllogismus und innerhalb einer ousia-Trias die Gattung als das am meisten Zugrundeliegende fungieren kann, ist kein Widerspruch innerhalb des aristotelischen Gedankensystems. Ich werde dies im nächsten Kapitel bei Besprechung der ousia-Túas »Materie-eiôoç-jynAo/on«, des Analogons zu der hier behandelten ousia-Trias »Gattung-Differenz-Art«, und der Analogie von Gattung und Materie erläutern. Das, was die Gattung innerhalb dieser Trias am weitesten unten liegen läßt, ist ihre Unbestimmtheit. Gegenüber den anderen Teilen der Trias ist sie wie die Materie das am wenigsten Bestimmte; sie ist wie die Materie gleichsam nur potentia die Art. Daß die Gattung teils als das am weitesten oben Liegende und teils als das am weitesten unten Liegende gedacht wird, hat nichts Widersprüchliches an sich; es hängt mit der Freiheit der Rede und des Denkens zusammen, das innerhalb derselben Trias die Lageverhältnisse nach bestimmten Gesichtspunkten völlig umkehren kann. Ob der Gattungsbegriff als das am weitesten oben oder als das am weitesten unten Liegende gedacht wird, hängt davon ab, welche Interessen das Denken geltend macht. In einem Syllogismus wie Barbara wird der Gattungsbegriff sicherlich nie anders
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als oben liegend gedacht werden können. Hier kann die Differenz nicht von der Gattung ausgesagt werden. Wer die Unmöglichkeit der Prädikation der Differenz von der Gattung jedoch als für jeden Fall geltendes Diktum denkt, denkt nicht mehr innerhalb der Voraussetzungen der aristotelischen Onto- und tisiologie, der Ausdrücke wie Gattung und hypokeimenon alles andere als ein fur allemal feststehende Begriffe sind. Daher kann auch nicht, wie Brunschwig dies tut, der richtig die Analogie von Gattung und Materie und die Analogie des Verhältnisses von Gattung und Differenz und von Materie und είδος sieht, aus diesem Diktum auf die Unmöglichkeit einer Prädikation des είδος von der Materie geschlossen werden. 371 Ebensowenig ist das Verbot einer Prädikation der Gattung von der Differenz ein für jeden Fall geltendes Diktum. In Top. VI 6, 144 a 36-b 1 begründet Aristoteles das Verbot. Wenn die Gattung, ζ. B. Lebewesen, von jeder Differenz ausgesagt würde, müßten viele Gattungen von der Art ausgesagt werden, da die Differenzen von der Art ausgesagt werden. In Top. VI 6 geht es darum, was man beim Definieren zu beachten habe. Wenn gesagt wird, daß Mensch zweifüßiges Lebewesen sei, so gibt zwar die Zweifiißigkeit die essentia des Lebewesens Mensch an, aber nicht die vollständige essentia. Die Definition wird vollständig, wenn dem Lebewesen Mensch andere Differenzen hinzugefugt werden, durch die es klar gegen andere Lebewesen abgegrenzt werden kann. Da Mensch die Zweifiißigkeit mit den Vögeln gemein hat, muß ihm, um ihn eindeutig vom Federvieh abgrenzen zu können, die Differenz federlos oder gehend hinzugefügt werden (vgl. 144 b 22-30). Eine solche vollständige Definition aber - so lese ich 144 a 36-b 1 - ist nicht in der Weise ausdrückbar, daß der Gattungsbegriff (Lebewesen) innerhalb eines Syllogismus von jeder Differenz ausgesagt wird. Denn es müßte der Eindruck entstehen, daß es sich statt um ein um mehrere Lebewesen handele. Wenn ich sage »alles Zweifüßige ist Lebewesen, und alles Gehende ist Lebewesen«, so ist »Lebewesen« zweimal prädiziert worden, obwohl es sich doch nur um ein Lebewesen handelt, nämlich um das gehende, zweifüßige Lebewesen Mensch. In der Weise kann ein Syllogismus nicht gebildet werden, wohl aber in der Weise, daß ich nur eine der Differenzen dem Gattungsbegriff subjiziere. Ein Syllogismus wie »wenn alles Zweifüßige Lebewesen ist und alle Menschen zweifüßig sind, dann sind alle Menschen Lebewesen« ist völlig korrekt. Die Differenz ist umfangsgrößer als der Artbegriff und der Gattungsbegriff umfangsgrößer als die Differenz. Wenn Aristoteles sagt, daß die Gattung nicht von der Differenz, sondern nur von dem, wovon die Differenz prädiziert wird,
J. Brunschwig, La forme, prédicat de la matière?, in: P. Aubenque (Hrsg.), Etudes la métaphysique 131-160.
d'Aristote.
sur
Actes du sixième Symposium Aristotelien, Paris 1979,
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prädiziert werden könne, nämlich von den Arten (144 a 32-36), so ist dies nicht eine Widerlegung dessen, sondern eine Bestätigung. Was Aristoteles expressis verbis gelten läßt, sind Aussagen wie »jeder Ochse, Mensch etc. ist Lebewesen« und »jeder Ochse, Mensch etc. ist gehend«. Nach den von Aristoteles selbst formulierten Regeln ergibt sich daraus (nach Darapti und nach der Konversionsregel für partikuläre Aussagen), daß zumindest partikulär die Gattung von der Differenz prädiziert werden kann. Partikuläre Schlüsse drücken jedoch nur unvollständige Inklusionen aus. Bei der Trias »Gattung-DifFerenz-Art« werden aber durchweg vollständige Inklusionen behauptet. Die Differenz ist vollständig in der Gattung und die Art vollständig in der Differenz enthalten. Es gelten nicht nur Sätze wie »jeder Ochse, Mensch etc. ist gehend« und »jeder Ochse, Mensch etc. ist Lebewesen«, sondern auch Sätze wie »alles, was geht, ist Lebewesen«, die - als Obersatz - zusammen mit Sätzen wie »jeder Ochse, Mensch etc. ist gehend« einen Syllogismus ergeben, der die Umfangsverhältnisse der Bestandteile der Trias »Gattung-Differenz-Art« deutlich macht. Eine weitere Bestätigung soll im folgenden Abschnitt gegeben werden, der sich mit der zweiten Voraussetzung der aristotelischen Onto- und Usiologie beschäftigt, mit der Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens des Denkens.
Die Extreme der ows/'a-Trias als Grenzen des Denkens Wie grundlegend für Aristoteles das Denken ein Denken aus dem Anfang, der άρχη, heraus ist, ist in Teil I bereits geschildert worden. Der Anfang ist dasjenige, bei dem das Denken zum Stehen kommt; er ist eine Grenze des Denkens, die es sich selbst zieht. 372 Die Grenzziehung des Denkens erfolgt in der Rede. »Wer redet, bringt das Denken zum Stehen«, sagt Aristoteles in De int. (16 b 20). In der kategorialen und definitorischen Rede kommt das (dihäretisch vorgehende) Denken dort zum Stehen, wo es für es nichts mehr zu zerschneiden gibt. Das Unzerschneidbare ist, je nachdem welches Interesse das Denken leitet, entweder ein unzerschneidbarer Artbegriff (είδος) oder ein unzerschneidbarer Einzelbegriff. Beides Unzerschneidbare heißt Aristoteles ousia. Die ousia ist somit eine άρχή des Denkens, welche Rede und Denken nicht einfach vorfinden, sondern welche von ihnen erzeugt wird, ousia als άρχη ist der Endpunkt eines Denkprozesses; sie ist nicht das, wobei das Denken anfangt, sondern das, zu dem das Denken in seiner Bewegung, die es in von ihm selbst gesetzten Strukturen vollzieht, notwendig kommt. Die Seiendheit oder das Sein ist danach, wie Stegmaier es angemessen formuliert, ein »In-der-Bewegung-durch-das-Denken-zumJ•579
'
,
,
,
»Jede αρχή«, so Aristoteles in Met. Δ 18 (1022 a 12), »ist eine Grenze (ττερας).«
168
Akt und ousia
Stehen-Gekommen-Sein«. 373 Die ousia ist, strenggenommen, nicht Gegenstand, sondern Gestalt des Denkens. Stegmaier fuhrt als Beleg das letzte Kapitel von An. post. (II 19) an, in dem Aristoteles über die Anfangsgründe (άρχαί) des Denkens spricht. Notwendig ist das Denken korreliert mit Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung. Aus der Erfahrung und aus allem, was in der Seele zur Ruhe kommt (ήρεμήσαντος), entstehen die ά ρ χ η des Wissens (oder der Wissenschaft, έπιστημη), wenn das in der Seele zur Ruhe Gekommene als Seiendes (το öv) gedacht wird, und die ά ρ χ ή des Hervorbringens (τέχνη), wenn das in der Seele zur Ruhe Gekommene zu etwas gestaltet wird, was um eines außerhalb des Denkens und der Seele Liegenden willen ist, zu einem Werdenden. 3 7 4 Aristoteles gebraucht zur Veranschlaulichung des Denkens als eines Zum-Stehen-Kommens eine interessante Metapher. Zu philosophischem Denken (επιστήμη) und zu poietischem Denken (τέχνη) kommt es so, wie wenn in einer Schlacht auf der Flucht, sobald jemand stehenbleibt, auch ein anderer stehenbleibt, dann wieder ein anderer, bis der Anfang (die άρχή, in militärischem Sinne die Ausgangsstellung) erreicht ist. Zum Stehen kommt dabei das Denken nicht nur bei den EinzelbegrifFen, bei dem, was in der Kategorienschrift άτομον genannt wird, und auch nicht nur bei den είδη, unter die die Einzelbegriffe fallen; zum Stehen kommt das Denken auch beim Gattungsbegriff. Auch dieser wird von Aristoteles zu dem fur das Denken nicht weiter Teilbaren (τα άμέρη) gezählt. 375 Sowohl in der einen wie in der anderen Richtung also werden die Extreme der om;«-Trias als Haltepunkte des Denkens gedacht. Der Begriff der ousia wird damit nicht nur Inbegriff für das, wobei das Denken zum Stehen kommt, sondern auch fur den Bewegungskreis, den sich Denken und Rede abstecken. Die Bewegung des Denkens wird sowohl von der einen Seite (nach unten) als nach der anderen Seite (nach oben) begrenzt. Mit dieser Grenzziehung hängen das Postulat des ZumStehen-Kommens und das mit diesem verbundene Verbot eines Progressus in infinitum zusammen. 3 7 6 Auch dies wird aus An. post, deutlich, aus einer Stelle,
373
W. Stegmaier, Aporien der Vollendung. 1st Aristoteles' Metaphysik eine Metaphysik?, a. a. 0 . , 395.
374
An. post. 100 a 6-9.
375
Ebd., a 15-b 3.
376
Wie eng das εις-άπειρον-Verbot und die ανάγκη στηναι zusammenhängen, machen Stellen wie An. post. I 19, 81 b 33 deutlich. Das ε'ις-άπειρον-Verbot selbst ist am ausfuhrlichsten expliziert in Met. α 2. Hier findet sich auch der merkenswerte Satz, daß ein Wissen nicht eher möglich sei, als bis man zum Unteilbaren (τα άτομα) gelangt sei (994 b 21 f.). Überdies enthält dieses Kapitel einen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen dem ε'ις-άπειρον-Verbot und der triplizitären oui/a-Struktur (994 a 11-19).
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
169
die sowohl die ousia-Trias »Gattung-Art-Einzelbegriff« als auch die ousiaTrias »Gattung-Differenz-Art« in dieser Weise der Grenzziehung denken läßt und die überdies zeigt, daß der Gattungsbegriff sehr wohl von der Differenz ausgesagt werden kann. Gemeint ist das Kapitel 22 des ersten Buchs von An. post. Das Kapitel steht innerhalb einer Untersuchung, die die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens für den beweisenden Schluß begründet (c. 19-22). Die Quintessenz dieser Untersuchung wird in 84 a 26-28 formuliert: »Wenn alles, was an sich prädiziert wird, ausgesagt wird, dieses aber nicht unendlich ist, dürfte es nach oben [i. e. in der Reihe der »Prädikate«] und damit aber auch nach unten [i. e. in der Reihe der »Subjekte«] zum Stehen kommen (ίσταιτο).«
Die Begründung für die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens ist relativ einfach: Das Denken kann nicht Unendliches durchgehen. Diese Feststellung macht Aristoteles oft. 3 7 7 Daß es nicht Unendliches durchgehen kann, hat damit zu tun, daß das Denken, wenn es etwas bestimmen will, ja wenn es überhaupt zur Rede werden will, Grenzen setzen muß; und es hat zu tun mit der άρχηOrientiertheit des Denkens. Beim Unendlichen nämlich gibt es keine άρχή. 3 7 8 In Kapitel 22 wird die mit dem εις-άπειρον-Verbot einhergehende Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens des Denkens an der Definition gezeigt. Wenn Unendliches sich nicht durchgehen läßt, muß auch das in der Kategorie des Was-ist Ausgesagte sich begrenzen lassen. 377
378
U. a. in An. post. 82 b 39; 83 b 6f.; Phys. VIII 8, 263 a 6; De caelo I 5, 272 a 3; Met. α 2, 994 b 30f. του άπειρου ούκ έστιν άρχή, De gen. anim. II 6, 742 b 21. Es scheint in diesem Zusammenhang nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß mit dem ε'ις-άπειρον-Verbot nicht das άπειρον selbst ausgeschlossen wird. Es wird lediglich mit ihm die Notwendigkeit des Denkens bedeutet, sich selbst Grenzen zu setzen. Andernfalls müßten die Bewegung und die Zeit, die ja auch Unendliches sind, aus dem Denken ausgeschlossen werden. Mit Deutlichkeit hat dies Stegmaier gezeigt: »Das ε'ις-άπειρον braucht [...] nicht aus dem Denken ausgeschlossen zu werden, wenn das Denken selbst so gedacht wird, daß es das ε'ις-άπειρον einschließen kann, und entsprechend braucht auch die Bewegung nicht aus dem Sein ausgeschlossen zu werden, wenn das Denken dadurch, daß es das εις-άπειρον einschließt, das Sein zusammen mit seiner Bewegung denken kann. Aristoteles denkt das ε'ις-άπειρον so, daß das Denken es begrenzen kann, und er denkt dieses Begrenzen so, daß das Denken selbst einen Fortgang erzeugt und darum auch zum Stehen bringen kann« (W. Stegmaier, Aporien der Vollendung [...], a. a. O., 394. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Wieland, Die aristotelische Physik, a. a. O., § 17).
170
Akt und ousia
»Etwas wird als ousia ausgesagt, nämlich als Gattung oder Differenz vom AussagenSubjekt [= Art, είδος]. Von diesem ist gezeigt worden, daß es nicht unendlich ist, weder nach oben noch nach unten, ζ. B. daß Mensch zweifüßig, das Zweifüßige Lebewesen und dieses wieder etwas anderes ist, und auch nicht, daß das Lebewesen von Mensch, dies von Kallias und dies wieder von etwas anderem, das in der Kategorie des Was-ist ist, ausgesagt wird. Denn jede ousia läßt sich als solche definieren [= begrenzen], das Unendliche aber kann man nicht denkend durchgehen« (83 a 39-b 7).«
Aristoteles exemplifiziert die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens nach oben hin an der ows/'a-Trias »Gattung-Differenz-Art«, wobei die Gattung ausdrücklich mit in den ous/'a-Begriff einbezogen wird, und die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens nach unten hin an der ows/'a-Trias »Gattung-ArtEinzelbegriff«. Die Stelle macht nicht nur die Möglichkeit der Prädikation der Gattung von der Differenz deutlich, sondern auch, daß die Grenzziehung, die mit dem e'iç-cOTeipov-Verbot und der Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens einhergeht, auf eine triadische Struktur hinweist, bei der die drei Teile vollständig ineinander inkludiert sind, und zwar so, daß sich Ober-, Mittel- und Unterbegriff voneinander unterscheiden lassen. (Nicht von ungefähr nennt Aristoteles die drei Terme des Syllogismus Grenzen (öpot)). Es ist damit aber nicht gemeint, daß das Denken bei seinem Weg nach unten in jedem Falle bis zu einem Einzelbegriff wie Kallias und in seinem Weg nach oben in jedem Falle bis zu einem Gattungsbegriff wie Lebewesen gehen müsse. Es läßt sich ein Gattungsbegriff denken, der noch allgemeiner als der des Lebewesens ist, unter den nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen subsumierbar sind. Aristoteles verbietet nicht, solche allgemeinen Begriffe zu denken. Er grenzt lediglich das Denken innerhalb einer Trias ein, einer Trias, deren Teile als Ober-, Mittel- und Unterbegriff aufeinander beziehbar sind. Was dabei worauf bezogen wird, ist relativ gleichgültig. Ein Begriff wie Lebewesen muß nicht generell Oberbegriff sein. Er kann auch, wenn ein allgemeinerer Gattungsbegriff als Oberbegriff zugrundegelegt wird, Unterbegriff sein. In dieser Weise kann das Denken, sich ständig neue Grenzen setzend und die άρχαί immer wieder verschiebend, sich auch immer wieder ewigrenzen. Und in dieser Weise ist auch die dritte Trias, in der die ousia gedacht wird, und zwar in Analogie zur ousia-Trias »Gattung-Differenz-Art«, Ergebnis eines Zum-Stehen-Kommens des Denkens. In Met. Λ 3, 1069 b-a 4 wird die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens des Denkens zu dem Zwecke postuliert, um die beiden Teile, aus denen das synholon komponiert ist, Materie und είδος, vom Kompositum selbst reinlich abzugrenzen. Dabei wird die Materie gerade als das, was sie zu einem Unendlichen und Unbestimmten macht, nämlich als etwas sich ständig Änderndes, zum Stehen gebracht. Denn innerhalb der Trias
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
171
von »Materie-eiôoç-syrt/zo/orc« hat sie die (feste) Position des Substrats der Veränderung.379
Die Orientierung des aristotelischen Denkens am endoxon Als dritte Säule, auf der die aristotelische Onto- und Usiologie ruht, hatte ich die Orientierung am Common sense angegeben, an dem, was von Aristoteles endoxon genannt wird. Das endoxon ist das, was bei allen oder bei den meisten oder bei den Philosophen (σοφοί) in Geltung ist, und was von den σοφοί entweder bei allen, bei den meisten, bei den Bekanntesten oder bei denen, die am meisten in Geltung sind (ένδοξοι), in Geltung ist. 380 Die relativ weite Fassung dieses Begriffs, die sich am Anfang der Schrift findet, deren Gegenstand das endoxon und die Schlüsse aus ihm sind, der Topik, erlaubt einen Pluralismus des Denkens und der Rede; ja sie erlaubt, die paradoxe Möglichkeit eines ένδοξον παράδοξον zu denken, die Möglichkeit dessen, was gleichzeitig in und außer Geltung ist. In diesem Sinne beschreibt Aristoteles in der Topik die θέσις, welche eine dem, was in Geltung ist, zuwiderlaufende Meinung eines angesehenen Philosophen sei (ύπόληψις παράδοξος των γνωρίμων τινός κατά φιλοσοφίαν, Top. I l l , 104 b 19f., γνώριμον und ένδοξον sind Synonyme).381 Darüber hinaus verhindert die weite Fassung des Begriffs des endoxon eine Art hero-worship im Denken, worunter ich die sklavische Bindung an gängige Plausibilitätsstandards verstehe, erlaubt aber zugleich die Orientierung des Denkens an den gängigen Plausibilitätsstandards. Das Denken muß daher nicht bei den »Dingen« ansetzen, sondern bei dem, was als Ding oder Seiendes gemeinhin gedacht wird. Die aristotelische Onto- und Usiologie ist damit zunächst nichts weiter als eine Rede über das, was als Seiendes oder als Seiendheit in Geltung ist. Das, was als Seiendes und als Seiendheit in Geltung ist, gibt im groben die Orientierung für das Denken der ousia vor, ohne daß es gezwungen wäre, sich auf eine bestimmte Deutung von Sein und Seiendheit festzulegen. Die άρχαί des Wissens, sagt Aristoteles in der Topik, lassen sich nur durch die endoxa hin379
Selbst das primum movens ist ein Begriff, der durch das Zum-Stehen-Kommen des Denkens zustande gekommen ist, wie Phys. VII 1, 242 a 49-54, die Stelle, wo innerhalb der Physik das erste Mal vom ersten Bewegenden die Rede ist, m. E. ziemlich deutlich zeigt.
380
Top. I 1, 100 b 21-23.
381
Aristoteles führt als Beispiele für solche gleichzeitig in und außer Geltung seienden Meinungen die »Thesen« des Antisthenes, daß es keinen Widerspruch gebe, des Heraklit, daß alles in Bewegung sei, und des Melissos, daß das Seiende eines sei, an.
172
Akt und ousia
durch, durch das, was in Geltung ist, durchgehen. 382 Aristoteles' Frage ist nicht »was war am Anfang oder was ist der Anfang?« (dies kann schlechterdings nicht gewußt werden), sondern »was wird als Anfang gemeinhin (bei den Griechen, bei den πολλοί, bei den »Gelehrten«) gedacht?«. Aus der Orientierung an den endoxa kann die Philosophie bei der Suche nach den ά ρ χ α ί - und Seiendes und Seiendheit sind die hauptsächlichen ά ρ χ α ί der Ersten Philosophie - den größten Gewinn ziehen. Hierin sieht Aristoteles auch die eigentliche Aufgabe von Topik und Dialektik, darin, daß sie als eine prüfende Wissenschaft den Weg zu den Anfangsgründen, άρχαί, aller Disziplinen des Wissens geht. 3 8 3 In diesem Sinne sind die Äußerungen über den Begriff der Seiendheit nicht starre Bestimmungen, auf die man Aristoteles festnageln kann, sondern Orientierungspunkte. Sprachliches Zeichen dafür ist der Ausdruck δοκει, der bei den Untersuchungen zum οΗί/α-Begriff in Met. Ζ Η Θ oftmals auftaucht. Er zeigt dieses In-Geltung-Sein bestimmter Anschauungen über den Seinsbegriff an; δοκει heißt »etwas ist (als etwas) in Geltung«. Damit ist kein Urteil darüber gefällt, was als Seiendes künftig zu gelten hat oder was Seiendes sei. Die Offenheit in der Rede über Sein und Seiendheit, in der Onto- und Usiologie, wird mit diesem δοκει nicht eingeschränkt, sondern aufrecht erhalten. Wenn am Anfang des zweiten Kapitels von Met. Ζ als erster Kandidat für den owi/a-Begriff die Körper genannt werden, so bedeutet dies nicht, daß ousia zuerst und zumeist als Körper, als Lebewesen, Pflanze, und als die vier Elemente, als Feuer, Wasser, Erde, Luft, gedacht werden muß, sondern daß ousia am meisten als Körper gedacht wird. »Von den Körpern gilt am augenscheinlichsten, daß sie ousia sind«, heißt es bei Aristoteles. 384 Diese Bestimmung findet sich am Anfang von Met. H, wo ein nochmaliger Anfang im Stellen dieser Kernfrage der Metaphysik, der Frage nach der ousia, gemacht wird, wieder. Die natürlichen und einfachen Körper, die Lebewesen, Pflanzen, deren Teile und der Himmel und dessen Gestirne werden allgemein als ousia anerkannt. 385 Als Seiendes gilt das, was zunächst und am offensichtlichsten der Wahrnehmung begegnet. 386 Für Aristoteles ist damit der Rahmen vorgegeben, in dem sich das Denken der ousia im groben bewegt, aber nicht mehr. Es geht nicht darum, irgendeinen bestimmten Begriff oder irgendein bestimmtes »Ding« als ousia zu identifizieren. Die Frage, was im einzelnen ousia sei, stellt sich fur Aristoteles nicht. Für Aristoteles stellt sich nur die Frage, was als Seiendes gedacht werden kann und innerhalb welches Rah382
Top. I 2, 101 a 37-b 2.
383
Ebd., 101 b 2-4.
384
Met. Ζ 2, 1028 b 8.
385
1042 a 7-11.
386
Vgl. auch Met. Ζ 3, 1029 a 33f.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
173
mens und welcher Strukturen ein Denken der ousia erfolgen kann. Es macht daher keinen Sinn, nach einer Entscheidung darüber zu suchen, ob Begriffe wie Gattung oder Materie ousia seien oder nicht 387 , oder ob nur die Lebewesen oder auch das, was von den Lebewesen hergestellt wird, die Artefakte (Tische, Häuser etc. oder, im Falle der Tiere, Nester und dergleichen), ousia seien oder nicht. 388 Es macht deswegen keinen Sinn, weil in dem einen Falle Begriffe wie
So läßt Schmitz, sich an Met. Ζ 3 orientierend, die Materie aus dem oas/a-Begriff herausfallen. Er erklärt dies mit der geistigen Entwicklung des Aristoteles. Aristoteles sei zu der Zeit, als er Ζ 3 verfaßt habe, an einem Punkt, wo der Materialismus für ihn eine »emsthafte Versuchung« gewesen sei, deren er sich bei seiner »Neigung zu einem sogar hyperplatonischen Idealismus« habe entledigen müssen (Hermann Schmitz, Die Ideenlehre
des Aristoteles,
2 Bde., Bonn 1985, 1. Band: Aristoteles,
tar zum 7. Buch der Metaphysik,
1. Teil: Kommen-
46). Mary Louise Gill dagegen setzt sich für eine Re-
habilitierung des Materie-Begriffs ein, der innerhalb der »Substanz«theorie eine wichtige Rolle spiele (M. L. Gill, Aristotle
on Substance.
The Paradox of Unity, Princeton
1989). Charlotte Witt ist ein Beispiel fur die, welche das Allgemeine und die Gattung aus dem ousw-Begriff herausgehalten wissen wollen. »Substanzen« sind fur sie nur die υποκείμενα oder die »ontologically basic beings«, das separierte, fìir sich existierende Seiende, das nicht zugleich individuell und allgemein sein könne (C. Witt, and Essence
in Aristotle.
An Interpretation
of Metaphysics
VII-IX,
Substance
Ithaca/London
1989). Auch das »Wesen« (είδος, τηε) sei individuell und nicht allgemein, wie dies nach Witt die traditionelle Interpretation irrtümlich behaupte (S. 3). - Es finden sich vor allem in Met. Ζ - sicherlich einige Stellen, die die Seiendheit oder das »Substanz«sein von Materie und Gattung entschieden in Frage stellen. Es ist aber nicht nötig, aus diesen Bemerkungen ein Dogma zu machen und Aristoteles auf eine Identifizierung oder Nichtidentifizierung von Materie und ousia oder von Gattung und ousia festzulegen. Repräsentativ für diese Meinung sind Montgomery Furth (Substance, An Aristotelian
Metaphysics,
Form and Psyche.
Cambridge 1988) und Thomas von Aquin. Furth beschäf-
tigt sich mit der Frage, welche Dinge »Substanzen« seien, und entscheidet diese Frage, die er Population Problem nennt, dahin, daß er nur das, was Aristoteles in Met. Ζ 2 und Η 1 oder, worauf sich Furth explizit beruft, in De an. II 1,412 a 11 f., lediglich das, was in Geltung ist, wiedergebend, ousia nennt, nämlich die Köiper (natürliche Körper wie die vier Elemente, die Lebewesen, Pflanzen etc.), als »Substanzen« gelten läßt. Menschliche und tierische Artefakte aber (Häuser, Nester etc.), die, wie er sagt, leicht durch eine Druckeinwirkung ihre Gestalt einbüßen, läßt er nicht als »Substanzen« gelten oder allenfalls nur als borderline substances. - Thomas sieht die Artefakte lediglich als Akzidentalformen desjenigen stofflichen Dings an, aus dem sie geformt sind. Die eheme Statue ist Akzidentalform des konkreten Erzstücks, aus dem sie gemeißelt wurde. Der
174
Akt und ousia
Gattung und Materie selbst nicht fest sind - Materie und Gattung zeigen sich als solche erst in einem bestimmten kategorialen Zusammenhang, den das Denken von bestimmten Gesichtspunkten geleitet herstellen muß; es gibt keine Materie an sich und keine Gattung an sich - und weil in dem anderen Falle die Frage, ob Häuser, Tische etc. ousia seien, ebenfalls davon abhängt, innerhalb welches
forma accidentalis
stellt er die forma substantial
gegenüber. Was beide Formen unter-
scheidet, ist, daß diese ein schlechthinniges Sein oder Werden (simpliciter esse / fieri), jene hingegen nur ein so und so beschaffenes Sein (ens tale) bewirke. Ferner ist das den Formen Zugrundeliegende in dem Falle der forma substantiate der forma accidentalis
dagegen actu seiend (Summa theologiae
nur potentia,
im Falle
I q. 77, a. 6 c.). Für
Thomas also ist das konkrete Erzstück, aus dem die Statue gemeißelt wird, Substanz und Verwirklichung - unabhängig davon, wie es auf anderes, was aus ihm gemacht werden kann, bezogen wird. Daß bei dem, was als ousia je gedacht wird, bestimmte Bezüge, die vom Denken hergestellt werden, eine Rolle spielen, steht für ihn außer Betracht. Daraus ist zu erklären, daß er mit der Interpretation von Stellen wie Phys. 1 7, 190 b 5ff., die das Werden der Artefakte als schlechthinniges oder substantielles Werden (γίγνεσθαι ά π λ ω ς , fieri simpliciter) γίγνεσθαι, fieri secundum
und nicht als akzidentelles Werden (τόδε τι
quid) bezeichnen, Schwierigkeiten hat. Es sei aber zu be-
denken, sagt Thomas in seinem Physikkommentar dazu, daß Aristoteles die Artefakte zu dem gezählt habe, was schlechthin (oder substantiell) wird (quae fluni simpliciter), gleich die Formen der Artefakte (formae
artificiales)
ob-
doch nur Akzidentien seien
(Comm. in Phys., I, lectio 12, η. 11). Diese Stelle ist zu beachten, da Thomas sehr selten offen zu Aristoteles in Opposition tritt. Er versucht allerdings, diese Opposition sofort wieder zu mildern, indem er nach Erklärungen sucht, die Aristoteles' Meinung gleichsam entschuldigen sollen. - Mit Phys. 17, 190 b 5ff. haben jedoch - dies sei am Rande erwähnt - auch moderne Kommentatoren ihre Schwierigkeiten. So bemängelt Wagner in seinem Physikkommentar: »Alles, was man bei Ar. als Charakterisierung des Entstehensprozesses gewohnt ist, fehlt hier; was hier an Charakterisierung des Entstehensprozesses gegeben wird, taucht sonst nicht auf.« Von dem Beispiel der ehernen Statue, das Aristoteles für das γ ί γ ν ε σ θ α ι ά π λ ω ς gibt, sagt Wagner: »Wenn Bronze umgestaltet wird, entsteht eine Bildsäule: Gestalt (σχήμα) ist nach Kat. 8, 10 a 1 Iff. ein Sondertypus der qualitativen Bestimmtheit; Entstehung, Werden also eines neuen, in seinem Wesen anders bestimmten Gegenstandes wird demnach hier auf eine bloße Qualitätsänderung zurückgeführt« (Aristoteles, Physikvorlesung,
übers, u. komm, von H. Wagner, 4.,
unveränd. Aufl., Darmstadt 1983, 428). Auch Wagner also läßt die Artefakte nur als Akzidentien gelten - aus dem gleichen Grunde wie Thomas (und wie Furth): weil auch er unterschiedliche Bezüge des Denkens miteinander vermengt und den Bezug, den das Denken für das Verhältnis von hypokeimenon
und Akzidens in Geltung bringt, dogma-
tisch universalisiert, i. e. zu dem einzigen maßgeblichen Bezug des Denkens macht.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
175
strukturellen Rahmens diese »Dinge« gedacht werden. Wenn man wie Thomas von Aquin derlei als Akzidentien von »Substanzen« oder wie Furth als »borderline substances« bezeichnet, so hat man damit die Frage nach der ousia auf eine Weise eingeengt, die die Offenheit und Freiheit des Denkens der ousia zunichte macht. Was ousia »ist« oder vielmehr was als ousia gedacht wird, muß sich immer wieder neu zeigen, und zwar innerhalb eines vom Denken selbst geschaffenen Rahmens; es hängt davon ab, was wozu innerhalb dieses Rahmens in Bezug gesetzt wird. Was ousia je ist, zeigt sich in dieser Bezugnahme des Denkens, das in der Tradition eines bestimmten Denkens verwurzelt ist und das, ohne sich an diese Tradition oder an Teile dieser Tradition sklavisch zu binden, auf diese Tradition, auf das, was in Geltung ist, im Stellen der Frage nach der ousia auch immer wieder verweist. Zu dieser Tradition gehört nicht nur die platonische Methode der Dihairesis oder das beständige Zu-einem-Anfang-kommen-Wollen; zu dieser Tradition gehört auch die Opposition von Aktivität und Passivität und die Höhergewichtung der Aktivität innerhalb dieser Opposition. Nichts hindert daher, solche »Dinge«, die Thomas Akzidentien und Furth »borderline substances« nennt, auch als ousiai zu denken, da sie Erzeugnis einer Aktivität sind, in dem gleichen Sinne, wie auch das einzelne Lebewesen, das sowohl Thomas als auch Furth unbestreitbar als ousia annehmen, Erzeugnis einer Aktivität ist, nämlich der Aktivität des Samens. 389 Wie in dem einen Falle die ousia Lebewesen sich als Endpunkt einer Trias zeigt, nämlich einer Trias, die durch das weibliche, passive
Ich beziehe mich im Folgenden auf De gen. anim. I 17-23, wo Aristoteles die Verwandlung des Samens zum Lebewesen im Sinne der Trias »Stoff-eiôoç-Einzelding« beschreibt. Das weibliche Monatsblut (καταμήνια), aus dem nach Aristoteles das neue Lebewesen entsteht, ist der Stoff, der vom Samen, der bewegenden Ursache und dem είδος, bearbeitet wird und von ihm durch Erwärmung die fur die Erzeugung eines neuen Weltenbürgers nötige Qualität erhält. Die καταμήνια sind der unvollkommene oder, wie Aristoteles sagt, unreine Same (σπέρμα ού κάθαρον, 728 a 26), der noch der Bearbeitung bedarf (δεόμενον εργασίας, ebd.), also etwas, was potentiell
Form (είδος) und
Mann ist. In diesem Sinne deklariert Aristoteles das Weibliche überhaupt bezeichnenderweise als »zeugungsunfähigen Mann« (άρρεν άγονον, 728 a 18). Die Beschaffenheit des Samens, des Akteurs der Erzeugung, erklärt Aristoteles aus dem Blut, der Aussonderung der letzten Nahrungsstufe, heraus. Er ist gekochtes Blut, d. h. durch Wärme aktualisiertes Blut und damit selber fähig zur Erwärmung. - Vgl zu alledem auch Met. H 4, 1044 a 34ff., wo Aristoteles die vier Ursachen des Menschen angibt und dabei die καταμήνια der causa materialis und den Samen der causa movens zuweist. Über Formund Finalursache läßt er sich weniger konkret aus; Form (είδος) sei τηε und telos das Umwillen. Beide seien, so sagt er, vielleicht dasselbe (1044 b 1).
176
Akt und ousia
Element, die Eizelle oder das, was Aristoteles Monatsblut nennt (καταμήνια; darauf, daß Aristoteles' biologische Vorstellungen von den heutigen ein wenig abweichen, muß nicht eigens hingewiesen werden), als Stoff und Anfang, durch das aktive, männliche Element, den formgebenden Samen, als Mitte und είδος, und schließlich durch den Fötus oder das Lebewesen als Ende gebildet wird, so zeigt sich in dem anderen Falle auch das Artefakt Haus als ousia innerhalb einer Trias, der Trias »Stein, Ziegel, Lehm (= Stoff) - formgebender Mensch (= είδος + Ausgangspunkt der Bewegung) - Haus (= geformter Stoff)«. In beiden Fällen liegt die nämliche Struktur vor: es gibt ein passives Element, das Aristoteles wegen seiner Passivität Stoff nennt und das daher innerhalb der owj/a-Trias am wenigsten als ousia gelten gelassen wird, aber gleichwohl fìir diese Trias ein notwendiges Konstituens ist, ohne das sich die anderen Teile der Trias nicht zeigen und ohne das sich auch die ousia nicht zeigen kann; es gibt ein aktives Element, das das passive Element formt, und es gibt schließlich das aktivierte, geformte Element. Der Akteur und das Aktivierte haben dabei das höhere Ansehen - wegen dessen, was in Geltung ist, wegen einer Tradition, die in der Opposition von Passivität und Aktivität denkt und der das Passive lediglich als Unterlage für den Akteur und als etwas zu Aktivierendes, als Potenz für einen Akt gilt. Wenn man daher dem Artefakt die Seiendheit streitig machen will, weil es das von einem anderen Seienden Hergestellte ist 3 9 0 , so müßte man auch dem einzelnen Lebewesen die Seiendheit streitig machen, weil auch dieses »nur« Produkt eines Seienden, des Samens, ist. Gleichwohl hindert nichts, tatsächlich das Artefakt auch als Akzidens in der Kategorie des ποιειν oder π ά σ χ ε ι ν , sei es des herstellenden Lebewesens, sei es des zu formenden Stoffes, zu denken. Doch
So sieht es Furth. Die Artefakte werden deswegen aus dem ows/a-Begriff ausgeschlossen, weil die natürlichen Körper ihre Bewirkungsursache seien: »it is we human beings who make the houses, statues, and so forth, which we are wont to prefer when instances of objects are asked after« (Substance, Form and Psyche, a. a. O., 148). Das gleiche gelte fur tierische Artefakte. Wie Thomas macht Furth die Artefakte zu Akzidentien, allerdings nicht zu Akzidentien des ihnen zugrunde liegenden Substrats, sondern zu Akzidentien ihres Herstellers. Ihr Sein verdanken sie dem Sein ihres Produzenten. Wäre dieser nicht, so wären auch sie nicht. Sicherlich kann man die Artefakte als Akzidentien ihres Herstellers sehen; doch das Verhältnis von Zugrundeliegendem und συμβ€βηκός ist ein anderer kategorialer Bezug als der Bezug, bei dem die ousia innerhalb einer triplizitären Struktur gedacht wird, der Struktur von »Ma.tsrie-€iboç-synholon«.
Was in
dem einen Falle als Akzidens gedacht wird, kann in dem anderen Falle als ousia gedacht werden. Die Begriffe in der Weise, wie es Furth und Thomas tun, festlegen heißt das Denken nicht als beziehungsstiftendes und nicht als in den Beziehungen, die es herstellt, variierendes und offenes Denken sehen.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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ebenso kann auch das Lebewesen als Akzidens in der Kategorie des ποιον oder πάσχειν, sei es des das Lebewesen herstellenden Samens, sei es des »Monatsbluts«, gedacht werden. Was als ousia oder als Akzidens der ousia gedacht wird, hängt von den Beziehungen ab, innerhalb deren das Denken die ousia denkt. Dasselbe »Ding« kann danach sowohl als das eine wie als das andere gedacht werden.
Die Orientierung des aristotelischen Denkens am Logos Auch die vierte Voraussetzung der aristotelischen Onto- und Usiologie, die Orientierung an der dauerhaften Rede, erklärt sich aus der Tradition, nämlich aus der traditionellen Bevorzugung eines Sinnes, der das Festhalten des der Seele Begegnenden über den Augenblick hinaus möglich macht: des Sehens. Die Griechen, schrieb Wilamowitz-Möllendorff, seien Menschen des Gesichts gewesen, visuelle Denker. Ihre Theater, ihre Bauten, ihre Kunstwerke, ihre Philosophie zeugen davon. 391 Piaton nennt das Gesicht den schärfsten aller Sinne, wiewohl durch diesen Weisheit oder sittliche Einsicht (φρόνησις) nicht gesehen werden könne. 392 Die Weisheit also, das, was über das sinnliche Sehen hinausgeht, wird noch vom Sehen her gedacht, wenn auch von einem Sehen her, das nicht mit den Augen sieht. Auch Aristoteles begreift das Denken (θεωρία, voeiv, νόησις) als ein Sehen, das bei dem sinnlichen, Mit-den-Augen-Sehen ansetzt, aber über dieses Sehen hinaus sieht. 393 In De an. beschreibt er diese Verwurze-
391
U. v. Wilamowitz-Möllendorff, Der Glaube der Hellenen, Darmstadt 1959, 45f.
392
Phaidros 250 d.
393
Romeyer-Dherbey zweifelt jedoch den Vorrang des Sehens zumindest beim späten Aristoteles an. Nach ihm sei der Tastsinn bei Aristoteles nicht weniger bedeutsam. Er macht dabei auf die Rolle aufmerksam, die Aristoteles der Hand, die nicht lediglich ein Instrument sei (vgl. De part, anim., 687 a 20), zuweist. Die tastende Hand, so RomeyerDherbey, werde bei Aristoteles zum Symbol für den erkennenden Menschen. RomeyerDherbey verfällt nicht in eine neue Hierarchisierung der Sinne. Für ihn läßt sich die aristotelische Philosophie und darüber hinaus die griechische Kultur überhaupt nicht in der Opposition von Sehen und Tasten einfangen. Den Vorrang eines Sinnes lehnt er für die griechische Kultur im allgemeinen (von einigen Ausnahmen wie Piaton und Plotin abgesehen) ab (fur das antike griechische Theater ζ. B. habe das Hören eine nicht minder wichtige Rolle gespielt als das Sehen). Freilich macht er es sich ein wenig zu einfach, wenn er die Stellen im CA, die unzweideutig von einem Vorrang des Sehens sprechen, mit dem platonischen Einfluß wegerklärt, unter dem der frühe Aristoteles noch gestan-
178
Akt und ousia
lung des Denkens in der αίσθησις. 3 9 4 Was der Seele im Gesicht allererst begegnet (und was deswegen als »erste« Seiendheit gilt), ist dieser konkrete Baum, dieser konkrete Stein, dieser konkrete Mensch. Was in der Seele nach dieser Begegnung verbleibt, ist nicht der Baum, Stein, Mensch selbst, sondern das Aussehen (είδος) dieses Baumes, Steins etc., weswegen Aristoteles die Wahrnehmung, die αισθησις, als ein Aussehen des Wahrgenommenen bezeichnet (έχδος αισθητών, III 8, 432 a 2). Genau hier setzt das Denken (νόησις) an. Was es sieht, ist das Aussehen dieses Baumes, der jetzt aber so aussieht, wie jeder Baum (der gleichen Art) aussieht. Das Aussehen des Baumes hat sich jetzt verfestigt zu einem dauerhaften Aussehen; es ist, wie Aristoteles in An. post. II 19, wo er gleichfalls den Weg von der αχσθηοπς zum Denken und zum Wissen schildert, sich ausdrückt, in der Seele zur Ruhe gekommen (100 a 6). Das Denken ist das Aussehen der »Aussehungen« (είδος ειδών), wie die Seele überhaupt ein Ort der »Aussehungen« ist (De an. III 4, 429 a 27). Auch wenn Aristoteles die αίσθησις als eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen vollzogen wird und die wie das Denken Konstituens der Eudaimonia sein kann, gelten läßt und sie daher auch dem göttlichen, rein eudämonischen Leben, das bezeichnenderweise von Poiesis und Praxis (Praxis im engeren Sinne), aber nicht von αίσθησις frei ist, attribuiert, so läßt sie eine dauerhafte Eingrenzung und ein Zum-StehenKommen des der Seele durch das Gesicht Begegnenden noch nicht zu. Denn das, was durch das Gesicht der wahrnehmenden Seele begegnet, verliert seine Offenbarkeit, wenn es der Wahrnehmung entschwindet. Durch das Mit-denAugen-Sehen läßt sich das Gesehene nicht halten. Wer es daher in Grenzen fassen (oder »definieren«) will, der dürfe, so Aristoteles, nicht vergessen, daß es sich immer aufheben lasse. Es lasse sich nämlich nicht dauerhaft bestimmen (begrenzen, definieren). 395 Ein Wissen und ein Denken der ousia ist nur möglich als ein Sehen, das über das Mit-den-Augen-Sehen hinaus sieht. Das, was das Denken in dieser Weise zur Sprache bringt, ist der Logos, die dauerhafte Rede über etwas. Logos in der Kategorienschrift ist die dauerhafte Rede über das, was hier erste Seiendheit genannt wird. Die Aussagen in der ersten Kategorie unterscheiden sich von denen in den Kategorien 2 - 1 0 dadurch, daß sie auf Dauer gültige Aussagen sind. Ihr Logossein macht sie zu einer, wenn auch zweiten, Seiendheit. Den übrigen Kategorien, dem, was »im Zugrundeliegenden ist«, spricht Aristoteles
den habe (G. Romeyer-Dherbey, Voir et toucher. Le problème de la prééminence d'un sens chez Aristote, in: Revue de Métaphysique et de Morale 96 (1991), 437-454). 394
Zur Bedeutung der αίσθησις bei Aristoteles vgl. auch Deborah Modrak, Power of Perception, Chicago 1987.
395
Met. Ζ 15, 1040 a 2-7.
Aristotle-The
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
179
das Logossein ab. 3 9 6 Wenn von Sokrates Mensch oder Lebewesen ausgesagt wird, so ist dies eine Aussage, die dauerhafter in Geltung ist als Aussagen wie »ist weiß« oder »ist in Athen«. Derlei kann sich schnell ändern. Daß die Rede von erster und zweiter Seiendheit außerhalb der Kategorienschrift umkippt und das als erste Seiendheit imponiert, was in der Kategorienschrift zweite Seiendheit heißt, hat mit der Orientierung am Logos zu tun. Das, was in der Metaphysik, in der Topik, in den Analytiken in Rede steht, ist die Rede selbst. Dies wurde in den Analytiken dadurch zum Ausdruck gebracht, daß bei der triplizitären Einteilung der Aussageweisen diejenige in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt wurde, die in der Mitte zwischen Subjekt und Prädikat steht: das είδος (An. pr. I 27, 43 a 25-43, bes. a 42f.). Daß die erste Seiendheit der Cat. (die sich dauerhafter Rede entziehende Seiendheit) auch für die Topik irrelevant wird, kann durch einen Vergleich zwischen Top. I 9 und Cat. 4 deutlich gemacht werden. In Top. I 9 wird wie in Cat. 4 eine vollständige Auflistung der Kategorien gegeben. Der Unterschied zur Parallelstelle der Kategorienschrift ist der, daß in der Liste der Topik das, was in der Kategorienschrift erste Seiendheit, also das Nur-Subjekt ist, fehlt, sofern man davon ausgeht, daß das τί ècm, das in der Liste an erster Stelle genannt wird, hier nicht als Subjekt, sondern als eine Aussage, als ein Prädikat gedacht wird, - eine Deutung, die der Text durchaus zuläßt; denn das τί έστι wird in Top. I 9 etwas, was etwas bezeichnet, was etwas aussagt, genannt. Wenn Mensch zugrunde gelegt werde, so Aristoteles, und man das Zugrundegelegte Mensch oder Lebewesen nenne, sage man das τί ècm aus. 3 9 7 Ebert hat richtig auf diesen Unterschied zwischen Cat. 4 und Top I 9, auf die Nicht-Identität von erster Seiendheit in der Kategorienschrift und von τί έστι in der Topik, hingewiesen, macht aber unnötig die Unterscheidung von ontologischer Bestimmung in den Kategorien und logischer Bestimmung in der Topik. Mit der Einteilung in der Kategorienschrift werde eine Einteilung des Seienden, mit der Einteilung in der Topik eine Einteilung der Aussageweisen oder Prädikate gegeben. Er übersieht, daß auch die essentiellen Prädikate Seiendheit genannt werden; die ousia fällt nicht, wie er will, aus der Einteilung von Top. I 9 heraus; denn das τί ècm ist identisch mit dem, was Aristoteles in der Kategorienschrift zweite Seiendheit nennt. 3 9 8 Was aus Top. I 9 herausfällt, ist das Nur-Subjekt. Aus gutem Grunde;
396
Cat. 5, 2 a 27-29.
397
Top. 19, 103 b 29-31.
398
»Bei Substanzen gibt es keine Prädikation 'von anderem'; Substanzen können nur im τί έστι prädiziert werden, und daher fehlt auch ουσία in der Aufzählung, die in 103 b 3839 gegeben wird« (Th. Ebert, Gattungen der Prädikate und Gattungen des Seienden bei
180
Akt und ousia
denn die Einteilung in Top. I 9 wird im Rahmen der Untersuchung der Prädikabilien {proprium, Differenz, Gattung, Akzidens) vorgenommen, dessen also, was selbst Rede, aber nicht ausschließlich »Gegenstand« der Rede ist. Die ousia aus dem τί έστι verbannen hieße die ousia aus der Wissenschaft verbannen, es hieße sich der Möglichkeit des Denkens der ousia berauben. Wenn die »erste« Seiendheit, das, was der Wahrnehmung zuerst begegnet, aber von ihr nicht gehalten werden kann, aus der Topik und aus der Metaphysik herausfällt oder zumindest nicht eigens Untersuchungs-gegenstand dieser Disziplinen ist, so deswegen, weil sie gewissermaßen nicht »wissenschaftsfahig« ist. Denn Gegenstand der Wissenschaft ist das, was sich immer oder doch in den meisten Fällen gleich verhält 399 , was dem Unbestimmbaren und Unendlichen durch das Denken entrückt und in ihm zur Ruhe gebracht worden ist. 400 Metaphysik und Topik sind Wissenschaften - anders als die Kategorienlehre, in der es zunächst nur darum geht, darzulegen, worüber geredet werden kann und wie über das, worüber geredet werden kann, geredet werden kann. Die Metaphysik oder Erste Philosophie wird sogar als Wissenschaft schlechthin bestimmt, als Wissenschaft, die nur noch um ihrer selbst willen Wissenschaft ist. 401 Was aber etwas zur Wissenschaft macht, ist die dauerhafte Rede über etwas, der Logos.
Einzelnes und Allgemeines Gleichwohl bleibt in der Metaphysik bei Besprechung der ousia die erste Seiendheit der Kategorienschrift im Hintergrund präsent. Das Einzelne, das Individuum, ist nicht als solches Gegenstand der Metaphysik, sondern als Allgemeines (ώς καθόλου), wie Aristoteles vereinzelt sagt. 402 Wenn Aristoteles bei Aristoteles. Zum Verhältnis von Kat. 4 und Top. I 9, in: Archiv für Geschichte
der
Philosophie 67 (1985), 113-138, S. 134. 399
επιστήμη ... π α σ α η του otieì ή του ώς έπί το πολύ, Met. Ε 2, 1027 a 20-21; vgl. auch Met. Κ 8, 1065 a 4-5.
400
Das Einzelne (το καθ' έκαστον) sei, so Aristoteles in Rhet. I 2, 1356 b 32ff., unendlich, ohne Grenzen (άπειρον) und nicht wißbar (ούκ έπιστητόν). Überhaupt betrachte keine Wissenschaft oder »Handwerk« (τέχνη), sagt Aristoteles in diesem Zusammenhang, das Einzelne. Auch die Heilkunde nicht; sie betrachte nicht, was Gesundheit für Sokrates oder Kallias bedeute, sondern was sie allgemein fur ein so und so Beschaffenes in so und so beschaffenen Umständen bedeute.
401 402
Met. A 2, 982 a 14ff. Vgl. Met. Ζ 11, 1037 a 7 und bes. Ζ 10, 1035 b 27-30, wo Aristoteles sogar dem Allgemeinen des von einem Einzelnen Ausgesagten das Sein (ousia) abspricht. Nicht der
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
181
Besprechung der ows/'a-Trias »Materie-e'iôoç-iyn/jo/o«« den dritten Teil als werdend-vergänglich bezeichnet 403 , dann hat dies damit zu tun, daß dieses durch ein Dictum de omni et nullo, i. e. durch die syllogistisch ausdrückbare ousiaTrias »Gattung-Art-Einzelnes«, nach der das, was von der Art ausgesagt wird, auch vom Einzelbegriff der Art ausgesagt werden kann, auch vom letzthin Zugrundeliegenden gilt. Was von der ehernen Kugel im allgemeinen gilt, nämlich daß sie Kompositum aus Stoff (Erz) und είδος (Kugel) ist, gilt auch von jeder einzelnen ehernen Kugel. Im synholon, dem, was anderen Orts είδος qua Art heißt, ist das Einzelne impliziert. Diese Implikation macht die Ambiguität der aristotelischen Rede von Einzelnem und Allgemeinem verständlich. Wenn man die vergleichweise klare Bestimmung, die Aristoteles in De int. 7, 17 a 38-b 3, vom Einzelnen und Allgemeinen gibt, zugrunde legt, wird man oft feststellen müssen, daß Aristoteles das, was nach dieser Bestimmung als Allgemeines anzusprechen ist, Einzelnes nennt. Nach der Bestimmung in De int. ist das ein Allgemeines, was von mehrerem, und das ein Einzelnes, was nicht von mehrerem ausgesagt werden kann. Mensch ζ. B. (der Artbegriff, ό άνθρωπος) sei danach ein Allgemeines, ein einzelner Mensch (τις άνθρωπος, Kallias, Sokrates etc.) ein Einzelnes. In Met. Ζ werden nicht nur, wie erwähnt, das synholon, der Artbegriff, ein Einzelnes genannt (in Ζ 10, 1036 a 2ff. wird es mit dem Einzelnen und Undefinierbaren geradezu gleichgesetzt404), sondern auch das τηε, dasjeni-
Mensch und das Pferd seien als Allgemeinbegriffe Seiendheit, sondern das Konkretum aus diesem (individuellen) Begriff und diesem (individuellen) Stoff als Allgemeines (ώς καθόλου). 403
So in Ζ 9, 1034 b 10-13.
404
Diese Stelle macht in besonderer Weise die Ambiguität des Aristoteles in der Rede von Einzelnem und Allgemeinem deutlich. Das synholon als Einzelnes sei zwar nicht definierbar, werde aber durch Denken und Wahrnehmung erkannt (1036 a 5f.). Ob die synhola, wenn sie aus der Entelechie heraustreten, noch sind oder nicht sind, sei nicht klar; ausgesagt und erkannt werden sie nur durch eine allgemeine Rede (τω καθόλου λόγω, 1036 a 8). Obgleich undefinierbar, werden sie dennoch begrenzt. Offensichtlich sind sie in der sie festhaltenden Rede zu einem Allgemeinen geworden. Dann kann aber nicht mehr mit Eindeutigkeit gesagt werden, was sie sind, ob Einzelnes oder Allgemeines. Sie sind natürlich beides. Was sie je sind, Allgemeines oder Einzelnes, hängt davon ab, als was die Rede und als was welche Rede sie sieht. Die festhaltende Rede macht sie zu einem Allgemeinen. Auch die Begriffe Einzelnes und Allgemeines also sind Strukturprinzipien des Denkens und der Rede. Es gibt nicht ein an sich Einzelnes und ein an sich Allgemeines. Etwas erscheint immer nur innerhalb bestimmter Zusammenhänge der Rede als Einzelnes oder als Allgemeines. Derselbe Begriff wie hier das synholon kann sowohl als das eine wie als das andere erscheinen.
182
Akt und ousia
ge, was definiert und die »Essenz«, das »Wesen« des synholon ausdrückt; denn in Met. Ζ 6 wird erklärt, daß Einzelnes und sein »Wesen« ein und dasselbe seien. 405 All dies drückt aus, wie sehr Aristoteles auch in der Metaphysik am Einzelnen und Individuellen orientiert bleibt. Er ist so sehr an ihm orientiert, daß er in Ζ sogar das Allgemeine aus dem ous/a-Begriff aussondert. Daß nichts Allgemeines ousia sei, erklärt er resümierend am Ende von Ζ 16, sei evident. 406 Nun sind Einzelnes und Allgemeines ebensowenig starre Begriffe wie Materie und Gattung (die unter den Begriff des Allgemeinen fällt und wie das Allgemeine aus dem Begriff der ousia ausgeklammert wird). Was Einzelnes und was Allgemeines ist, muß sich immer wieder neu zeigen, in Zusammenhängen, die vom Denken und der Rede konstituiert werden. Nur innerhalb bestimmter, vom Denken und der Rede hergestellter Strukturen und Bezüge kann von Einzelnem und Allgemeinem geredet werden. Etwas ist immer nur in bezug auf etwas Einzelnes und Allgemeines. Wenn Mensch und Einzelmensch aufeinander bezogen werden, sind Mensch Allgemeines und Einzelmensch Einzelnes, und auch nur, sofern von einer bestimmten Prädiktionsweise ausgegangen wird, nach der Allgemeines das ist, was von mehrerem prädiziert werden kann. Das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem kann umgekehrt werden, wenn andere Maßstäbe geltend gemacht werden, etwa der Maßstab einer dauerhaften Aussagbarkeit. Hier können das »Einzelne«, Zusammengesetzte, unmittelbar der Wahrnehmung Begegnende sogar, wie an einer Stelle im CA, in Phys. I 1, 184 a 22f., geschieht, zum Allgemeinen werden und das, was vormals als Allgemeines angesprochen worden war, zum Einzelnen. Wenn man nämlich, so Aristoteles an dieser Stelle, von dem im ganzen Bekannteren (weil der Wahrnehmung unmittelbar und sogleich begegnend) aus in dihäretischer Weise zu den Elementen und Anfangen geht, müsse man den Weg vom Allgemeinen zum Einzelnen gehen. In dieser Weise kann auch das Element Gattung (ζ. B. der Begriff Lebewesen), da es elementarer ist als der Artbegriff (ζ. B. der Begriff Mensch), als weniger allgemein gedacht werden denn als das, wovon es prädiziert wird. Freilich wird der Gattungsbegriff in der Regel als das Allgemeinere gedacht. Das hat aber den gleichen Grund wie den, daß in Physik I 1 das »Zusammengesetzte«, uns allererst in die Augen Springende, Allgemeines genannt wird. Der Grund liegt in der Unbestimmtheit des Allgemeinen. Der Maßstab, nach dem Allgemeines und Einzelnes auch unterschieden werden können, ist der der Bestimmtheit. Allgemeines und Einzelnes verhalten sich als das αόριστον zu seinem ώρισμένον. Das Allgemeine ist ein αόριστον; oder vielmehr das, was in 405 406
Vgl. bes. 1032 a 5. 1041 a 3-5. In Η wird dies bekräftigt. »Weder das Allgemeine noch die Gattung sind ousia«, 1042 a 21.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
183
der Rede etwas als Allgemeines begegnen läßt, ist seine Unbestimmtheit in bezug auf das, zu dem die Rede es in Beziehung bringt. Innerhalb der Trias »Gattung-Art-Einzelding« und der Trias »Gattung-Differenz-Art« ist die Gattung das Unbestimmte; sie ist zwar Bestimmungsgrund für die anderen Teile der Trias, bleibt selbst aber innerhalb der Trias unbestimmt, während das andere Extrem der Trias das Bestimmteste ist. Einzelding auf der einen und Art auf der anderen Seite werden durch die anderen beiden Teile der Trias bestimmt. Wenn Gattung und Allgemeinheit in Met. Ζ aus dem ows/'a-Begriff ausgeklammert werden, dann deswegen, weil über sie nichts ausgesagt werden kann, aber wohlgemerkt innerhalb einer bestimmten, nämlich triadischen Struktur über sie nichts ausgesagt werden kann.407 Lebewesen ist nur innerhalb der Trias »Lebewesenzweifußig-Mensch« ein αόριστον und ein Allgemeines. Wird es in Bezug gesetzt zu einem ihm übergeordneten Begriff, wird es ώρισμένον und Einzelnes, in dem das, was Aristoteles in De int. als Einzelnes bestimmt, implizit enthalten ist. Das Allgemeine fällt aber nicht aus der Usiologie heraus. Es bleibt als Bestimmungsgrund des Einzelnen konstitutiv für den Begriff der ousia.40&
Es hat noch einen anderen Grund, weshalb Aristoteles das Allgemeine aus dem ousiaBegriff ausklammert. Er will damit eine aparte Existenz des Allgemeinen neben dem Einzelnen ausschließen, wie er eine solche von den platonischen Ideen behauptet. Vgl. dazu Met. A 9, wo Aristoteles sich eigens mit den είδη Piatons oder des Piatonismus kritisch auseinandersetzt. Er hat dabei vor allem die μέθεξις-Lehre und die Losgelöstheit der είδη von den Einzeldingen im Blick (bes. 991 a 9ff. und 991 b Iff., wo Aristoteles die Unmöglichkeit dieser Losgelöstheit (als Losgelöstheit der Seins von dem, dessen Sein es ist) aufzeigt und in diesem Zusammenhang Piatons Phaidon erwähnt, in dem dieser nach Aristoteles trotz dieser Losgelöstheit die Ursächlichkeit der είδη fur Sein und Werden behauptet hat). Vgl. femer Met. M 5, was aber als Dublette eines Teils von A 9 (991 a 9-991 b 9) gesehen werden kann, und natürlich die Passage, in der die Unmöglichkeit des Seins von Allgemeinem thematisiert wird: Ζ 13-16 (und hier bes. 1039 a 27ff., 1040 a 8ff., wo die Unmöglichkeit, die Idee zu definieren, und damit die Untauglichkeit der Ideen, als Gegenstand fur die Metaphysik zu dienen, dargelegt wird, und 1040 b 27ff., wo die selbständige Existenz von Allgemeinem neben dem Einzelnen zurückgewiesen und gesagt wird, daß gerade hierin diejenigen, die von Ideen ausgehen, unrecht haben). Es macht also kaum Sinn, wie Charlotte Witt die ousia nur auf das Einzelne zu beziehen, zumal wegen der aristotelischen Ambiguität der Rede von Einzelnem und Allgemeinem das Einzelne losgelöst von den Zusammenhängen der Rede niemals eindeutig bestimmbar ist. Über den Stand der Forschung zu diesem Problem, das in Met. Ζ 13-16 traktiert wird, vgl. Christof Rapp, Kein Allgemeines ist Substanz (Z 13, 14-16), in: ders. (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik, Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ) (Klassiker Auslegen;
184
Akt und ousia
In gleicher Weise verhält es sich mit der Trias »Materie-eiöog-5y«Ao/on«. Hier ist Materie das αόριστον 4 0 9 und synholon das ώρισμένον. Bestimmt wird das synholon durch die beiden anderen Teile der Trias. Es ist Kompositum aus είδος und Materie. Wenn die beiden Bestandteile, durch die das synholon bestimmt wird, im Gegensatz zum synholon aus dem Begriff des WerdendVergänglichen herausgehalten, dem Bereich der Einzeldinge entrissen werden, so daher, weil sie Bestimmungsgründe, aber nicht das zu Bestimmende selber sind. Daß das είδος, das hier nicht mit dem Artbegriff konfundiert, dabei eine exponiertere Stellung als der andere Bestimmungsgrund, die Materie, einnimmt und niemals als ousia fragwürdig gemacht wird, hat damit zu tun, daß es, worauf bereits hingedeutet wurde, die Materie, das Unbestimmt-Allgemeine, zum Einzelnen verwirklicht. Es steht gewissermaßen in der Mitte zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Es ist nicht Einzelnes, aber das, was vereinzelt. Wie die Differenz die Gattung differenziert und bestimmt, bestimmt und verwirklicht das είδος die Materie zum Einzelnen. Wir sind damit beim letzten und vielleicht wichtigsten Maßstab zur Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem, der uns überdies mitten in die Untersuchung über den entelechischen Seinssinn (in der wir uns freilich schon längst befinden) fuhrt. Das, was Allgemeines von Einzelnem noch unterscheiden
4), Berlin 1996, 157-191, bes. 159. Zum Thema selbst vgl. neben diesem Aufsatz, in dem richtig davon ausgegangen wird, daß das Allgemeine, das Aristoteles aus dem Seinsbegriff aussondert, das Allgemeine i. S. der Gattung (auch wenn diese in Ζ 13-16 nicht eigens expliziert wird) und i. S. der Ideen sei (164f.), Horst Seidl (Beiträge zu Aristoteles ' Erkenntnislehre
und Metaphysik,
a. a. O., 5-15), der in seiner Betrachtung von
der Differenz von Einzelnem und Allgemeinem i. S. der Kategorienlehre (als Differenz von erster Seiendheit und zweiter Seiendheit qua Artbegriff) ausgeht und diese in Beziehung setzt zu Met. Z. »Das Allgemeine«, so Seidl, »ist für Aristoteles keine Substanz im eigentlichen Sinne, wie er in seiner Kritik an Piaton ausdrücklich hervorhebt (Metaph. VII 13). In der Weise, wie es als wahrer Erkenntnisinhalt 'in der Seele', 'im Denken' ist [...], ist es nicht in den Dingen. Aristoteles weiß, daß das Allgemeine den Schein eines selbständigen Objekts annehmen kann und wehrt ihn bewußt ab [...] Die platonische 'Verdoppelung' der Welt in konkretes und allgemeines Seiendes, in sinnliche und intelligible Dinge, kritisiert er nachhaltig« (S. 11). Zu den Interpretationen des Problems von Allgemeinem und Einzelnem von der Kategorienlehre aus vgl. S. 14-15! Materie wird in Met. Ζ 11, 1037 a 27 αόριστον genannt. An derselben Stelle sagt Aristoteles, daß es vom synholon
nach seinem materialen Bestandteil keinen Begriff
gebe, es sich aber nach seinem »eidetischen« Bestandteil bestimmen lasse. Das synholon ist also gewissermaßen beides, αόριστον von der Materie her und ώρισμένον von dem είδος her.
Der kategoriale Seinssinn und die ousia qua hypokeimenon
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läßt, ist der Akt-Begriff. D i e Wirklichkeit ( ε ν τ ε λ έ χ ε ι α ) , so Aristoteles, vereinzelt ( = trennt, bestimmt, χωρίζει, Met. Ζ 13, 1039 a 7). Sie macht die ousia zu Einem, zum εν. Mit dem Akt-Begriff und der Differenz von Potenz und Akt löst Aristoteles auch in Met. M 10, 1087 a 10-25 die (bereits in Teil I dieser Arbeit besprochene) Kardinalaporie der Metaphysik (zumindest die Kardinalaporie des Buchs Beta ( B 4, 9 9 9 a 24ff.)), die um die Problematik von Einzelnem und Allgemeinem und deren Relevanz für den Wissensbegriff kreist. Wenn es ein Wissen nur von Allgemeinem gäbe, dieses aber nicht »ist« oder »existiert«, und es von dem, was »existiert«, v o m Einzelnen, kein Wissen gäbe, dann gäbe es überhaupt kein Wissen, es sei denn, man setzte die Wahrnehmung als Wissen. Aber selbst diese gäbe es nicht, da es kein Ewiges gibt, ohne das ein Werden und damit eine Wahrnehmung (die immer nur auf Werdend-Vergehendes geht) unmöglich i s t . 4 1 0 Aristoteles löst diese Aporie in Met. M 10, indem er den Begriff des Wissens unterteilt in ein potentielles Wissen, das Wissen von Allgemeinem, und in ein aktuelles Wissen, das Wissen von Einzelnem ist. Jenes Wissen ist ein unbestimmtes, dieses Wissen dagegen ein bestimmtes, das aber akzidentell auch das Allgemeine einbezieht. 4 1 1
410
Met. Β 4, 999 a 26-b 6.
411
Man könnte indessen auch sagen, daß z. B. eine einzelne Farbe als Farbe überhaupt nur wahrgenommen werden kann, weil ein Allgemeinbegriff von Farbe vorliegt, aus dem heraus die einzelne Farbe erst als eine solche erkannt wird. Die Lösung der Aporie mit dieser Zweiteilung des Wissens ist sicher nicht ohne Schwierigkeiten. Ross löst die Schwierigkeiten, indem er auf einen anscheindend inkohärenten Gebrauch der Begriffe des Wissens und der Wahrnehmung aufmerksam macht. Zwar werden gewöhnlich Wissen auf das Allgemeine und Wahrnehmung auf die Einzeldinge bezogen, doch gelegentlich (occasionally) werde auch einmal das Wissen auf Einzelnes und die Wahrnehmung auf Allgemeines bezogen (Ross im Kommentar zur Metaphysik a. a. O., II 466). Dumoulin sieht die Inkohärenz nicht lediglich in der Terminologie begründet. Für ihn ist die Lösung der Aporie in M 10 ein Gegensatz zum »kanonischen Aristotelismus«, wie er etwa im Buch Zeta der Metaphysik repräsentiert werde; er erklärt diesen Gegensatz damit, daß Aristoteles sich in M 10, das er in eine frühere Periode des aristotelischen Schaffens datiert, in seiner Untersuchung noch vortaste und gewissermaßen mit den ersten Resultaten seiner Untersuchung bekannt mache. Dabei hebt Dumoulin allerdings schon den Unterschied zu der Kategorienschrift, die gleichfalls eine Frühschrift sei, hervor, der darin liege, daß hier, in Cat., mit dem Allgemeinen weniger radikal verfahren werde, weil die Kategorienschrift das Allgemeine wenigstens noch als eine zweite Seiendheit (substance seconde) betrachte (B. Dumoulin, Analyse génétique de la »Métaphysique« d'Aristote, Paris/Montreal 1986, 365f.).
186
Akt und ousia
Potenz und Akt stehen sich als das Allgemeine zu seiner Einzelheit gegenüber. Wie etwas auf etwas als Allgemeines oder Einzelnes bezogen wird, hängt also von dem Grad an Wirklichkeit, an Aktualität ab, den das Denken in den Bezügen, die es herstellt, geltend macht. Es lassen sich also drei Maßstäbe zur Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem ausfindig machen, erstens die Aussagbarkeit von mehrerem, zweitens die dauerhafte Aussagbarkeit und drittens die Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Letzterer Maßstab fällt mit der Potenz-Akt-Differenz zusammen. Wenn Aristoteles zuweilen etwas, was er an der einen Stelle Einzelnes nennt, an anderer Stelle Allgemeines nennt, so hat dies mit der Unterschiedlichkeit der Maßstäbe zu tun, die für die Differenz von Einzelnem und Allgemeinem geltend gemacht werden. So geschieht es, daß als Gegenstand der Wissenschaft bald das Einzelne und bald das Allgemeine erscheint (ζ. B. in Met. A 2, wo das am schwierigsten Erkennbare sogar das am meisten Allgemeine (τα μάλιστα καθόλου, 982 a 24) genannt und dieses am schwierigsten und zugleich am meisten Erkennbare zum Gegenstand der Wissenschaft erhoben wird (982 b 2)). Dies ist kein Widerspruch, sondern erklärt sich dadurch, daß dasselbe das eine Mal als Einzelnes hinsichtlich seiner Bestimmtheit und das andere Mal als Allgemeines hinsichtlich seiner Aussagbarkeit betrachtet werden kann. 412
412
Damit erklärt sich auch, weshalb mit dem am meisten Allgemeinen von 982 a 24 nicht ein Allgemeines im Sinne der Gattung oder das Seiende als der allgemeinste Begriff überhaupt (Met. Β 4, 1001 a 21) gemeint sein können. Denn der Gattung und dem Seienden (το öv) fehlt die Bestimmtheit, dasjenige, was etwas zum »Gegenstand« der έπιστημη tauglich macht. Am meisten allgemein i. S. von am meisten erkennbar bedeutet also zugleich am meisten bestimmbar und das heißt am meisten einzeln. Das am meisten Einzelne sind die είδη, nicht die Gattungen. Für die Trias »Gattung-DifferenzArt« hat dies Baier ziemlich deutlich wie folgt dargestellt: »Die Gattung enthält nach Aristoteles die Arten in sich, und zwar in unbestimmter
Weise. Durch das Hinzutreten
der spezifischen Differenz werden die Arten aus den Gattungen bestimmt. Die Arten enthalten also die spezifische Differenz [nämlich actu, wie hinzugesetzt werden muß W. S.], die Gattungen jedoch nicht [oder nur potentia - W. S.].« Sodann kommt er - bei der Annahme, daß Gattung als das Allgemeinste zugleich das am meisten Aussagbare sei - zu folgendem Paradoxon: »Wenn nun etwas Gattung von allem ist, so ist sie auch Gattung der spezifischen Differenz, sonst wäre sie nicht Gattung von allem. Wenn etwas aber die spezifische Differenz enthält, so ist es keine Gattung mehr« (K. Baier, Die Einwände des Aristoteles gegen die Ideenlehre Piatons, Wien 1981, 177).
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
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Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt Die Untersuchung hat deutlich gemacht, daß die Bezüge, die das Denken und die Rede herstellen und durch die Begriffe wie ousia, Materie, Gattung, είδος, Differenz, synholon, Einzelnes und Allgemeines sich - zwar innerhalb fester Strukturen, aber unter wechselnden Bezugsmöglichkeiten - zeigen, von einem Gesichtspunkt geleitet werden, der fur das aristotelische Denken fundamental ist, nämlich vom Gesichtspunkt der Wirklichkeit. Wenn es im aristotelischen Denken irgendwo eine klare Hierarchie gibt, dann ist es die von Potenz und Akt, von der aus Differenzen wie Materie und είδος überhaupt erst verständlich werden. Der Begriff des Akts (der Wirklichkeit, Aktivität, Verwirklichung, Aktualität, Praxis - all diese Konnotationen enthalten die griechischen Ausdrücke ενέργεια und εντελέχεια, die hier in der Regel mit dem Terminus Akt wiedergegeben werden) weist auf eine Tradition hin, in der das Tätigsein fest verwurzelt ist. Es ist sicherlich eine patriarchalische Tradition, aus der aber deutlich wird, welche zentrale Rolle der Akt-Begriff fur diese Tradition spielt. Das Aktive ist das Männliche. Frau und Mann verhalten sich wie Potenz und Akt. Wie Materie und Gattung ein notwendiges Konstituens für den ows/a-Begriff sind, ohne recht zu ihm zu gehören, ist die Frau ein notwendiges Konstituens für die griechische Polis, ohne recht zu ihr zu gehören, da beide, Materie/Gattung und Frau, nur potentia ousia auf der einen und Mann (der eigentliche Polisbürger) auf der anderen Seite sind (die Frau wird, wie wir hörten, von Aristoteles als zeugungsunfähiger Mann gedacht). 413 Beide erhalten ihr »Sein« von dem Bezugspunkt her, der ihre Verwirklichung darstellt, vom Mann und vom είδος als Akt. Es ist daher sicher nicht richtig, wenn man wie Wemer Marx das aristotelische Denken nur als ein von Allgemeinbegriffen ausgehendes Denken betrachtet
Daß Aristoteles die Frau analog zum Materie-Begriff denkt, ist gezeigt worden. Die καταμήνια der Frau sind der Stoff, der vom Samen des Mannes zum synholon, zum Lebewesen, verwirklicht wird. Wenn in der weiteren philosophischen Tradition diese Analogie aufrecht erhalten wird, so kann dies gewiß nicht nur mit der patriarchalischen Tradition erklärt werden, die bis in die Moderne hinein in Geltung ist, sondern auch mit dem Einfluß der aristotelischen Philosophie, wie dies beim »Aristoteliker« Maimonides deutlich wird. Ich verweise auf die gleichnishafte Erklärung einer Bibelstelle (Spr. 7, 623), die er in der Einleitung zum More Nebochim, dem Führer der Unschlüssigen, gibt. Hier wird die Materie mit einer Hure verglichen, die einen Jüngling mit ihren Reizen bezirzt. Das tertium comparationis Maimón, Führer der Unschlüssigen,
ist die Ursache sinnlicher Begierden (Mose ben a. a. O., 15f.). Die etwas moralisierende und
ήδονη-verachtende Komponente in der Materie-Frau-Analogie fehlt allerdings bei Aristoteles.
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Akt und ousia
und ihm einen fehlenden Praxisbezug zuschreibt. In Stellen w i e Met. Ζ 10, 1036 a 2-8, w o Aristoteles sagt, daß eine Erkenntnis der synhola
nur durch einen
allgemeinen Begriff möglich sei, sieht Marx eine Grenze des »dianoetischen« Denkens des Stagiriten und setzt dem die Philosophie unseres Jahrhunderts entgegen, die sich auf den W e g gemacht habe, durch Annäherung an die Praxis »das >Wesen< des Wesens neu zu denken«. 4 1 4 Richtig ist, daß dem Tätigsein heute eine wesentlich andere Bedeutung zukommt als in der Antike. D i e moderne Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft (Nietzsche nennt die Arbeit das eigentliche Laster der neuen W e l t 4 1 5 ) . Richtig ist aber auch, daß die Antike den Praxisbegriff wesentlich reiner gedacht und mit Begriffen assoziiert hat, die man heute gewöhnlich als Oppositionen zum Tätigsein begreift. Soweit ich sehe, werden noch immer Theorie und Praxis, Muße ( σ χ ο λ ή ) und Praxis als Gegensätze g e d a c h t 4 1 6 , während für Aristoteles Muße, d. h. die Freiheit von der Sorge
414
W. Marx, Einführung in Aristoteles ' Theorie vom Seienden, Freiburg i. Br. 1972, 44f.
415
F. Nietzsche, FW IV, 329. Vgl. auch H. Arendt, die dieses Zur-Herrschaft-Kommen der Arbeit als den Grundzug moderner Gesellschaften sieht. Für sie ist das Arbeiten die »mächtigste aller antipolitischen Kräfte« (Vita activa, a. a. O., 238). Die moderne Gesellschaft sei nicht einmal mehr eine »poietische« Gesellschaft. Arendt macht einen Unterschied zwischen Herstellen und Arbeiten, der darin liegt, daß der Sinn des Herstellens der Gebrauch, der Sinn des Arbeitens (paradigmatisch: die Erzeugung von Brot) oder dessen, was erarbeitet wird, der Ferbrauch ist. Arbeitsprodukte müssen verbraucht werden, da sie bei nicht unmittelbarem Verbrauch verderben. Das Herstellen (als Erzeugung von /íróeí'/íinstrumenten) sei heute wesenhaft dazu da, die Arbeit zu erleichtern, was aber dazu gefuhrt habe, daß die Arbeit nicht ab-, sondern zugenommen hat. Arendt sieht allerdings die Anfänge der Arbeitsgesellschaft bereits in der Antike, namentlich bei Piaton, dem sie zur Last legt, daß er die politische Sphäre des Handelns (als des Miteinanderredens und-handelns ebenbürtiger Partner) mit der des Arbeitens, des Oikos verknüpft oder vielmehr Handeln und Politik von der Sphäre des Oikos her gedacht habe. Piatons Politikverständnis habe sich schließlich durchgesetzt und sei das heute herrschende geworden.
416
Wie sehr etwa auch Gadamer bei der Analyse der aristotelischen Ethik dem TheoriePraxis-Schema verhaftet bleibt, zeigen folgende Worte: »Der Vorrang der Theorie ist auf die ontologische Überlegenheit ihrer Gegenstände gegründet: das Immerseiende. Im Unterschiede dazu gehört die Welt der Praxis zu dem Sein, das sich auch anders verhalten kann. Das Wissen um das, was praktisch zu tun ist, muß daher dem theoretischen Wissen nachgesetzt werden« (H. G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, Heidelberg 1978, 101). Es ist zwar richtig, daß Aristoteles die πρακτά als sich stetig ändern Könnendes den όντα als dem Gegenstand des bei sich bleibenden Denkens gegenüberstellt. Aber dieser Unterschied kann, wie ich in Teil I gezeigt habe,
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um seinen Lebensunterhalt conditio sine qua non fur vollendetes Tätigsein war und im Denken, in der Theorie, das Tätigsein als nur um seiner selbst willen vollzogenes am reinsten zum Ausdruck kam. Auch der Begriff des Seins oder der ousia, der Fundamentalbegriff der theoretischen Philosophie oder des dianoëtischen Denkens des Aristoteles, wird vom Tätigsein, vom Begriff des Akts aus gedacht. Alle drei Begriffe der ows/a-Trias »Materie-eiSog-iy^Ao/o«« lassen sich in Beziehung auf diesen Begriff beschreiben, die Materie als zu Verwirklichendes, das είδος als Verwirklichendes und das synholon als das Verwirklichte. Die ousia soll in ihrem Bezug auf den Akt-Begriff in diesem Kapitel zur Darstellung gebracht werden. Wenn die ousia auch - und vornehmlich - als Tätigsein gedacht werden kann, so zeigt dies, daß nicht nur das vom Denken Gedachte in den Begriff der ousia einbezogen werden kann, sondern auch das Denken selbst, das, wie in dem Kapitel »Der Gebrauch als Akt in der Differenz von Poiesis und Praxis« gezeigt wurde, von Aristoteles als reines Tätigsein gefaßt wird. 417 Wenn die ousia innerhalb bestimmter, nämlich triplizitärer Strukturen vermittels des Akt-Begriffs gedacht wird und innerhalb dieser Strukturen das mehr ousia ist, was mehr in Akt und, was das gleiche bedeutet, mehr telos ist, so schließt dies nicht aus, daß auch die einzelnen ows/a-Triaden nach ihrem telosund Akt-Sein zueinander in Bezug gesetzt werden können. Danach läßt sich alles Seiende (i. e. alles der wahrnehmenden und denkenden Seele in der Rede Begegnende) triadisch einteilen erstens in das, was überhaupt kein telos in sich hat, i. e. was immer nur um eines anderen willen gedacht wird, zweitens in das, was alles telos in sich hat, i. e. um keines anderen willen gedacht wird, und drittens in das, was zwischen diesen beiden Extremen liegt. Das Seiende in seiner Ganzheit wird umrahmt von den Extremen der radikal zu Ende gedachten Materie von Met. Ζ 3 auf der einen und der radikal zu Ende gedachten ousia auf der anderen Seite. Diese radikal zu Ende gedachte ousia, die Nur-ows/'a gewissermaßen, die selbst aus dem triadischen Rahmen herausfällt, in dem ousia bisher immer betrachtet wurde, weil sie weder synholon noch Materie, noch das Da-
nicht in Reinlichkeit aufrecht erhalten werden, weil 1) auch Veränderliches in den Bereich der Theorie fallen kann und weil 2) das, was die Praxis von der Poiesis unterscheidet (EN VI 4), das ist, was sie aus dem Werden und der Veränderung gerade entreißt und was sie mit der Theorie gemein hat. Überdies wird in Met. Θ 6 die Theorie als vollendete Praxis charakterisiert. Ich nenne das eine selektive Lesart des aristotelischen Textes, deren Selektionskriterium das moderne Verständnis von Praxis ist, die nun einmal nicht anders als im Gegensatz zur Theorie gedacht wird. Was aber nicht bedeutet, daß das Denken sich selber in der Weise reiner Selbstreferenz denkt. Denken ist immer Bezugnahme auf anderes, auf das, was der Seele begegnet.
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Akt und ousia
zwischen i s t - diese ousia wird gedacht als reine, i. e. um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeit, fìir die Denken und αισθησις und die Eudaimonia stehen. Das Denken der ousia fuhrt damit nicht nur zum Tätigsein, zur Praxis und zum Denken selbst; es fuhrt auch notwendig zu einer der ά ρ χ α ί der aristotelischen Ethik, zur Eudaimonia. Dies wird das Ergebnis der Untersuchungen dieses Kapitels sein. Zuvor soll aber noch Folgendes geklärt werden: 1.
die (bisher zum Teil schon vorweggenommene) Darstellung der triadischen Struktur der ousia in den »Substanz«büchern der Metaphysik, namentlich in Ζ und H,
2.
die Darstellung des είδος als des Mittelbegriffs der ous/a-Trias (sowohl der owi/'a-Trias »Materie-eiôoç-i^/îo/o«« als auch der ousia-Trias »GattungDifferenz-Art«) und als Seinsursache (αιτία του είναι) unter Einbeziehung des τη ε und unter nochmaligem Hinweis auf die Analogie zur Trias des beweisenden Schlusses,
3.
der Nachweis der Analogie der ows/a-Trias »Materie-eiSog-syrt/jo/o«« und der oi/sia-Trias »Gattung-Differenz-Art« vermittels des Nachweises der Analogie von Materie und Gattung; in diesem Zusammenhang wird auch das Problem der Prädikation des είδος von der Materie geklärt; und
4.
schließlich die Darstellung der Potenz-Akt-Differenz selbst (in Met. Θ) unter Verweis auf die Beziehung von Akt-Begriff und telos und auf die Eudaimonia als das teleiotaton auch der Metaphysik.
Die owj/a-Trias in Met. Ζ und Η In folgenden Textstellen innerhalb von Met. Ζ und Η zeigt sich eine triadische Einteilung des ous/a-Begriffs: Τ 1: Ζ 3, 1029 a 2-5. Die Dreiteilung von »Materie (ύλη)-ειδος (hier μορφή genannt 41 s)-synholon (hier το έκ τούτων genannt, also das Kompositum aus Die Ausdrücke είδος und μορφή werden von mir wie von den meisten Kommentatoren (so von Bonitz, Apostle, Reale) als Synonyme gesehen. Zuweilen wird zwischen είδος und μορφή als zwischen der geistigen und der sinnlichen Gestalt unterschieden. Am nächsten scheint mir der Sache Tricot in seinem Metaphysikkommentar gekommen zu sein, der μορφή und sinnliche Gestalt als Aspekte und Synonyme des είδος aufweist und überdies richtig die Identität von τηε und είδος hervorhebt: »μορφή, configuration, figure sensible, est syn. de είδος et de τί ην ε'ιναι« (Aristote, La Métaphysique,
nouv.
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Materie und είδος; τούτων bezieht sich auf die beiden anderen, zuvor genannten Teile)« erscheint an dieser Stelle als Unterteilung des hypokeimenon. Als weitere Kandidaten für die ousia werden zuvor, am Anfang von Ζ 3, neben dem hypokeimenon das τηε, das Allgemeine und die Gattung angegeben. Die hier vorgenommene Dreiteilung als Dreiteilung des oi/s/a-Begriffs zu deuten ist deswegen berechtigt, weil nach Aristoteles das hypokeimenon, wie er unmittelbar vor dieser Einteilung (1029 a If.) sagt, am meisten als ousia gelte. Die Trias wird exemplifiziert an der ehernen Bildsäule, bei der das Erz die Materie, die Form die Figur seines Aussehens (το σχήμα της ιδέας) und die eherne Statue selbst das Zusammengesetzte sind (hier fällt erstmalig der Ausdruck synholori). Τ 2: Ζ 10, 1034 b 34-35 a 7. Hier wird die ousia direkt untergliedert in Materieειδος (hier auch so genannt)-synholon (hier wieder το έκ τούτων genannt). Exemplifiziert wird die ows/a-Trias mit der Stülpsnasigkeit und der ehernen Statue. Bei der Stülpsnasigkeit sind Materie das Fleisch der Nase, die Hohlheit die Form (είδος) und die Stülpsnasigkeit selbst das Kompositum aus Materie und είδος. Für den mittleren und den letzten Teil der Trias werden in den Beispielen durchweg die Ausdrücke είδος fur jenen und synholon für diesen Teil verwendet. Τ 3: Ζ 11, 1037 a 29ff. Von einer ows/'a-Dreiteilung in Materie-eiôoç-s>W2o/o« ist hier zwar nicht direkt die Rede; denn es geht in dieser Stelle darum, nur das synholon als ousia zu »retten«, das bloß von seinem eidetischen Teil her, der als ousia niemals fragwürdig gemacht wird, diese Bezeichnung »verdient«. Aber das είδος wird hier einwohnend, wörtlich »inseiend« genannt (το ε'χδος το ενόν); es wohnt der Materie ein, von der es nur »gedanklich« getrennt werden kann. Das είδος kann also nicht losgelöst von der Beziehung zur Materie gedacht werden. A fortiori gilt dies vom synholon, das auch hier wieder (diesmal wörtlich) als Kompositum aus Materie und είδος bezeichnet wird. Als Beispiele tauchen wieder die Stülpsnasigkeit und der einzelne Mensch (Kallias) auf, was einmal mehr den Bezug der Metaphysik auf die Individuen, auf das, was in De int. 7, 17 a 38-b 3 Einzelnes heißt, deutlich macht.
éd. avec commentaire par J. Tricot, Paris 1966, 535). Diese Deutung macht es möglich, sich im είδος als der »geistigen« Gestalt oder Form die »sinnliche« implizit mitzudenken. Daß im übrigen είδος und μορφή austauschbare Ausdrücke sind, zeigt ein Vergleich zwischen Τ 1 und dem folgenden Textstück Τ 2. Bei Τ 2 wird für den mittleren Teil der Trias statt wie in Τ 1 μορφή είδος gesagt. Die Begrifflichkeit fur die anderen Teile ist dieselbe. Der Sache nach sehe ich zwischen Τ 1 und Τ 2 keinen Unterschied.
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Akt und ousia
Τ 4: Ζ 13, 1038 b 2ff. Ζ 13 ist ein Rekurs auf die in Ζ 3 begonnene ousiaAbhandlung und geht wie Met. Ζ 3 vom endoxon aus, also von dem, was für ousia gehalten wird. Als mögliche Kandidaten werden erklärt 1) das hypokeimenon, 2) das τη ε, 3) das aus diesen Zusammengesetzte (το έκ τούτων) und 4) das Allgemeine. Die Einteilung scheint also - ähnlich wie die von Ζ 3 (Τ 1) - keine Drei-, sondern eine Vierteilung zu sein. Daß hier aber eine Dreiteilung vorliegt, und zwar die Dreiteilung »Materie-ειδος—synholon«, kann aus dem Textzusammenhang erschlossen werden. Über das hypokeimenon und über das τηε sei, so Aristoteles, bereits gehandelt worden. Wenn man das hypokeimenon mit der Materie gleichsetzt, was 1038 b 6 nahelegt, so scheinen diese Worte in bezug auf das hypokeimenon auf Ζ 3 zu deuten, auf das Kapitel, in dem Aristoteles, nachdem er den ous/a-Begriff das erste Mal im groben zu umreißen versucht hat, in extenso von der Materie handelt. Mit der Abhandlung des τηε ist offensichtlich Ζ 4-6 gemeint. Worüber zu handeln übrig bleibt, ist das Allgemeine. Dies ist denn auch Gegenstand der weiteren Untersuchung, die sich bis Ζ 16 erstreckt. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß das Allgemeine aus dem ousiaBegriff herausfällt. Man kann also für diese Textstelle schließen, daß mit der Einteilung der ousia in hypokeimenon, τηε und das Kompositum die ousia wieder triplizitär gegliedert ist. Der Unterschied zu den bisher aufgeführten Textstellen ist der, daß statt vom είδος vom τηε geredet wird. Daß aber das τηε nur ein anderer Ausdruck für das είδος oder vielmehr dessen Erklärung ist, wird weiter unten gezeigt werden. Τ 5: Ζ 17. Im Grunde handelt das ganze Kapitel von einer ousia-Trias. Gefragt wird in diesem Kapitel danach, warum etwas (Materie + Gattung) ein Dieses {synholon + Art) ist. Warum ist ein so Beschaffenes (ζ. B. Lebewesen) Mensch? Oder warum sind Ziegel und Steine ein Haus? Gesucht wird nach dem είδος und dem τηε, also nach dem Mittelbegriff der ows/a-Trias, der gleichsam zwischen Gattung / Materie und dem synholon »vermittelt«. Man sucht, so sagt es Aristoteles explizit, nach der Ursache für den Stoff, durch den er ein (bestimmtes) Etwas (τι) ist; und diese Ursache ist das είδος (1041 b 7-9). 419 Das είδος ist (erste) Ursache des Seins (αίτιον πρώτον του είναι, 1041 b 28), aber nicht des
Es besteht kein Grund, wie in der Edition von Christ den Teil von Zeile 1041 b 8, der die Ursache als είδος bezeichnet, aus dem Grunde in Parenthese zu setzen, weil im Anschluß an den hier zitierten Satz gesagt werde »das ist die ousia« (Zeile 1041 b 8f.). Das τούτο muß keinesfalls auf αίτιον oder nur auf αίτιον bezogen werden; es kann - und dies läge hier weit näher - auch auf das τι, also auf das aus Stoff und είδος Zusammengesetzte, das synholon, bezogen werden. Als ousia kommt ja keinesfalls nur das είδος in Frage, auch in Ζ 17 nicht.
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Seins schlechthin, sondern eines bestimmten Seins; es erklärt, warum ein Allgemeines, Unbestimmtes dieses Bestimmte wird. Das είδος als Ursache verlangt also notwendig zwei Korrelate; es handelt sich hier nicht um ein dichotomisches Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Es wird nicht nach der Ursache für etwas gefragt, sondern nach der Ursache dafür, warum etwas dieses ist, warum ζ. B. Steine und Ziegel (Materie) dieses Haus (synholon) sind. Die Struktur ist nicht duplizitär, sondern triplizitär, wie dies im übrigen bereits erkannt worden ist. 420 Τ 6: Η 1, 1042 a 26-31. Die ows/a-Trias »Mateήe-è^boς-synhoίon« wird hier erstmalig mit der Potenz-Akt-Theorie verknüpft. 421 Die Materie wird nämlich als etwas bezeichnet, was nicht actu, sondern nur potentia ein Dies-da (τάδε τι) ist. Das είδος (hier wieder μορφή genannt) wird mit dem Begriff des Logos erklärt. Das είδος sei ein dem Logos nach Abgetrenntes (= für sich Existierendes), während das synholon ein schlechthin (άπλως) Abgetrenntes sei. Ein Werden und Vergehen gibt es einzig bei diesem letzten Teil der Trias. Τ 7: Η 2, 1043 a 27-28. Auch hier wird die owi/a-Trias »Materie-ειδος-^Ηλο/OH« mit der Potenz-Akt-Differenz verflochten, jetzt aber nicht in bezug auf die Materie, sondern in bezug auf das είδος. Dieses sei μορφή und ενέργεια. Die OMÄ/a-Trias erscheint hier als Einteilung der α'ισθητη ουσία. Alle sieben Textstellen verweisen, wenn auch nicht in einheitlicher Terminologie, durchweg auf die ous/a-Trias »Materie-^iôoç-jy/iAo/o««. Wenn Aristoteles in Τ 1 das τη ε, das mit dem είδος identifiziert werden kann, außerhalb der Trias stellt, so muß dies kein Einwand dagegen sein, daß das τηε zur ousia gehört. Das τηε wird in Met. Ζ 3 (und auch sonst) nicht als ousia fragwürdig gemacht. Auch von der ows/a-Trias »Gattung-Differenz-Art« ist in Met. Ζ die Rede, und nicht nur in Ζ 17 (= Τ 5). In Ζ 12 geht es bei der Besprechung der DefinitiLa structure causale n'est donc pas binaire, comme on serait tenté de le supposer aujourd'hui (cause-effet), mais elle est ternaire (P. Aubenque, La pensée du simple dans la Métaphysique, in: ders. (Hrsg.), Etudes sur la Métaphysique
d'Aristote,
a. a. O., 72).
Diese triadische Struktur des Ursache-Begriffs setzt Aubenque richtig in Analogie zur triadischen Struktur des (beweisenden) Schlusses. Eine Handschrift hat in Zeile 1042 a 26 hinter ousia die Worte το ύποκείμενον. Damit erschiene analog zu Τ 1 die ous/a-Einteilung wiederum als Einteilung des hypokeimerton. Dieser Zusatz ist aber umstritten und wird von einigen Herausgebern getilgt oder, wie von Christ, so umgestellt, daß das hypokeimenon zusammen mit der Materie Teil 1 der Trias bildet, aus den anderen beiden Teilen aber herausgehalten wird.
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on, die nach Aristoteles unbedingt mit der Rede von der ousia zu verquicken ist, ausschließlich um diese Trias. Nach dem Modell der Dihairesis wird die Definition aus der Gattung und den an ihr teilhabenden Differenzen gewonnen (Aristoteles spricht von οχ κατά τάς διαιρέσεις ορισμοί, 1037 b 28). Die Definition wird ausdrücklich als Logos der ousia bezeichnet (1037 b 25f.). Die ousia-Trias »Gattung-Differenz-Art« teilt sich in der Definition auf in das defmiendum (den »Gegenstand« der Definition, ζ. B. Mensch) und in das definiens, das aus der Gattung und der Differenz besteht. Das, was das Was des defmiendum genau umreißt, ist die Differenz, die sich fur den, der dihäretisch vorgeht, dann einstellt, wenn sein einteilendes und differenzierendes Denken bei etwas, was sich nicht weiter differenzieren läßt, zum Stehen kommt. Diese »letzte« Differenz (τελευταία διαφορά) nennt Aristoteles die ousia der Sache (1038 a 19). Sie ist deswegen ousia, weil sie das allgemein-unbestimmte »Aussehen« der Gattung zu einem bestimmten »Aussehen« verwirklicht, weil sie etwas als etwas aussehen läßt. Die letzte Differenz ist, so Aristoteles, είδος (Aussehen) und ousia (1038 a 26). Damit wird die Differenz mit dem identisch, was in der Trias »Materieε'ιδος-synholon«. Mittelbegriff ist. Wie das είδος die Materie zu einem bestimmten Aussehen werden läßt, läßt die Differenz die Gattung zu einem bestimmten Aussehen werden. Nicht von ungefähr bringt Aristoteles gerade in diesem Kapitel der Metaphysik, in Ζ 12, die Gattung in Analogie zur Materie. Die Gattung ist wie die Materie (ώς ύλη, 1038 a 6). Diese (weiter unten ausfuhrlich untersuchte) Analogie, die Analogie von Materie und Gattung, von ε'ιδος und Differenz und damit die Analogie der beiden ousia-Triaden »Materieéxboç-synholon« und »Gattung-Differenz-Art«, macht den Doppelaspekt des Begriffs είδος deutlich; είδος ist zum einen das, was aussehen macht (das Formgebende), und zum anderen das, was aussieht (das Geformte). In der (vom lateinischen Westen geprägten) Tradition wird diese Doppelbödigkeit terminologisch unterschieden durch den Begriff forma auf der einen und den Begriff species auf der anderen Seite. 422 Die Spezies verhält sich zur Form wie das defmiendum zu seinem definiens. Beide owsz'a-Triaden lassen sich damit 422
So differenziert Owens den Begriff des είδος; er sieht allerdings in den beiden unterschiedlichen Aspekten dieses Begriffs zugleich eine Pragmatientrennung. Danach sind der Aspekt der species auf die Kategorienschrift oder die Schriften der Logik im ganzen und der Aspekt der forma auf Physik und Metaphysik beschränkt. Darauf, daß das, was in der Kategorienschrift zweite Seiendheit und είδος genannt wird, vielleicht etwas mit dem synholon von Met. Ζ und Η zu tun haben könnte, kommt er nicht: »In the logical works είδος is the subdivision of a genus. In the physical treatises it is one of the four causes« (J. Owens, The Doctrine
of Being in the Aristotelian
Metaphysics,
Toronto
1957, 346). In die gleiche Richtung geht Driscoll (J. A. Driscoll, ΕΓιδη in Aristotle's Earlier and Later Theories of Substance, in: D. J. O'Meara (Hrsg.), Studies in Aristotle.
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(Studies in Philosophy and the History of Philosophy; 9), Washington D. C. 1981, 129158). Auch fur ihn sind der eiôoç-Begriff der Kategorienschrift und der ε'ίδος-Begriff von Physik und Metaphysik (vor allem der hier in Rede stehenden Bücher Ζ Η Θ) streng voneinander zu unterscheiden. Den Unterschied faßt er ähnlich wie Owens. Das είδος von Met. Ζ und Η ist ausschließlich Formursache. Hinzu kommt, daß das είδος qua Spezies ein Allgemeinbegriff (von mehrerem aussagbar), das είδος qua causa formalis jedoch ein Einzelbegriff sei: »Whereas the particular substance of the Categories belongs in a species seemingly without remainder, the ε'ίδος in the second sense is an entity capable of being found within the particular substance« (142). Dies begründet Driscoll damit, daß das είδος der Metaphysik mit der Materie Konstituens eines konkreten Dinges sei. Die Spezies taucht nach ihm innerhalb von Met. Ζ Η nicht mehr auf; ja sie höre überhaupt auf, als ousia betrachtet zu werden: »the species of the Categories in fact ceases to be considered a substance at all« (148). Gegen diesen Standpunkt hat Furth (Substance, Form and Psyche, a. a. O., 50 f.) opponiert. Für ihn sind die Spezies der Kat. und die Form der Metaphysik dasselbe. Daß sein und Driscolls Standpunkt jedoch nur oberflächlich betrachtet divergieren, liegt daran, daß er wie Driscoll das ε'ίδος von Met. Ζ Η Θ in seinem Bezug auf den Materie-Begriff sieht. Das sei aber, so Furth, kein wesentlicher Unterschied zu dem εΙδος-Begriff der Kat. Dieser sei in Met. nur gewissermaßen um die Komponente des Bezugs auf die Materie bereichert (das ε'ίδος von Met. nennt er »the material totality of the species«, ebd.). - Terence Irwin hingegen sieht mehrere Form-Begriffe bei Aristoteles (T. Irwin, Aristotle 's First Principles, Oxford 1988). Allerdings grenzt er den ε'ιδος-Begriiï nicht reinlich von dem der Materie und dem des synholon ab, wodurch die Vielfalt seines Formbegriffs zustande kommt. Für Thomas von Aquin sind forma und species Differenzierungen innerhalb der forma causalis. Species sei dabei die innere Form einer Sache (forma intrinseca rei) und forma die äußere Form einer Sache (forma extrínseca rei, Thomas ν. Aquin, In Met. Ib. 5, lectio 2, η. 2). Thomas macht diese Differenzierung im Kommentar zu Met. Δ 2, 1013 a 26-29. An dieser Stelle beschreibt Aristoteles das είδος im Rahmen des Begriffs der Ursache (αίτιον); es findet sich hier jedoch kein Hinweis auf eine Zweiteilung des ε'ίδος. Es wird bestenfalls der Anschein einer Zweiteilung mit den Worten το ε'ίδος καί το παράδειγμα (1013 a 26) erweckt, το παράδειγμα ist aber lediglich eine Umschreibung des ε'χδος-Begriffs. Als τηε, als das es in Δ 2 bezeichnet wird, ist das είδος gleichsam Muster und Vorbild für das bestimmte Aussehen, das es bewirkt. Daß Thomas an dieser Stelle zu der Zweiteilung von species und forma, die - hierin gebe ich Owens und Driscoll recht - eine Teilung von Artbegriff und Ursache ist, als einer Zweiteilung der Formalursache kommt, hängt sicherlich mit der lateinischen Übersetzung von Moerbeke zusammen, der ε'ίδος und το παράδειγμα von Zeile 1013 a 26 mit species et exemplum übersetzt. - Am nächsten scheint mir immer noch Bonitz der Sache gekommen zu sein, der nicht nur das ε'ίδος qua forma und qua species reinlich voneinander trennt, sondern
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Akt und ousia
ens. Beide ows/a-Triaden lassen sich damit terminologisch einheitlich in der ows/a-Trias »Gattung/Materie-Form-Spezies« fassen. Wenn der letzte Teil der Trias hier gemäß der Bestimmung des είδος in der Kategorienschrift als Allgemeines, von mehrerem Aussagbares erscheint, so soll nicht darüber hinweggesehen werden, daß in ihm die erste Seiendheit von Cat. impliziert ist. Diese Implikation wird durch Τ 6 und Τ 7 deutlich, wo Aristoteles diesem Teil Werden und Vergehen zuschreibt oder, wie in Τ 7, die ousia im ganzen, i. e. jeden Teil der Trias, als wahrnehmbar und damit als etwas Einzelnes bezeichnet. Dies bedeutet, daß alle drei Teile der oas/a-Trias sich sowohl als Allgemeines als auch als Einzelnes beschreiben lassen, sofern man Allgemeines und Einzelnes in der Weise voneinander unterscheidet, wie dies in De int. 7, 17 a 38-b 3 getan wird. Was von Erz, Kugelgestalt und eherner Kugel oder von Lebewesen, zweifüßig und Mensch im allgemeinen gilt, gilt auch von diesem Erzstück, dieser Kugelgestalt und dieser eherner Kugel, von diesem Lebewesen, diesem Zweifüßigen und diesem Menschen im besonderen. Es macht daher keinen Sinn, wie Copleston und Heinaman den owj/a-Begriff auf das konkrete einzelne »Ding« einzuengen und das ¿ιδος qua Form in dieser Weise als »Substantialform« zu beschreiben 4 2 3 - ganz abgesehen davon, daß, wie oben gezeigt, von Einzelnem und
der beide Aspekte auch aufeinander bezieht. Den Bezug stellt er richtig durch die Definition her: illud είδος, quod materiae opponitur, [...] cognoscitur definitione, quae είδος altera vocabuli significatione constituit (H. Bonitz, Arist. Metaphysik, Kommentar, II 150). Owens kritisiert Bonitz dafür völlig zu Unrecht. In der Tat treten erst durch die Definition sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten der beiden Aspekte des eiôoç-Begriffs zutage. Spezies und Form verhalten sich zueinander als das definiendum zu seinem definiens, das zugleich Ursache für das Sein der Spezies ist. Das είδος qua Spezies ist damit sehr wohl auch ein konstitutiver Bestandteil der Metaphysik, nämlich als der bestimmte Teil der ousia-Trias »Materie-eiôoç-iyn/jo/o«« und »Gattung-Differenz-Art«. In diesem Teil ist das Partikuläre (das Partikuläre als das, was nicht von mehrerem ausgesagt werden kann) implizit enthalten. »In some cases«, so Copleston, »the substance by no means remains the same: thus when the cow eats grass, the grass is assimilated in the process of digestion and takes on a new substantial form« (F. Copleston, A History of Philosophy, Bd. I, London 1966, 49). Das verdaute Gras ist eine andere ousia als das Gras, das noch nicht den Verdauungstrakt der Kuh passierte. Das soll es wohl heißen. Nochmals: Was ousia je »ist«, hängt von den Beziehungen ab, die das Denken zwischen verschiedenen »Entitäten« herstellt. Der οκίώ-Begriff darf daher nicht nur nicht auf die sog. konkreten »Dinge«, mit denen es die aristotelische Philosophie gar nicht zu tun hat, sofern unter Ding etwas von den Zusammenhängen der Rede und des Denkens Losgelöstes verstanden wird, eingeengt werden, sondern auch nicht auf den Mittelbegriff der ousia-Trias, auf das είδος
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Allgemeinem in sehr verschiedener Weise bei Aristoteles gesprochen werden kann, so daß sich die Frage, ob die ousia ein Einzelnes oder ein Allgemeines sei, erübrigt. Bei dem Vergleich der Textstellen, die in Ζ und Η auf eine ows/a-Trias verweisen, bleibt noch eine Frage zu klären: Welche Rolle spielt das hypokeimenon hier? Es taucht in Τ 1, Τ 4 und - in einer Handschrift - in Τ 6 auf. Was alle Stellen miteinander gemein haben, ist der Bezug auf die Materie. Wenn irgend etwas am ehesten als hypokeimenon anzusprechen ist, dann ist es die Materie. Die Fragen, die sich jetzt stellen, sind, erstens, »Ist die ousia nach wie vor noch als hypokeimenon zu deuten?« und, zweitens, »Weshalb taucht hier die Materie als hypokeimenon auf, von der dort, wo das hypokeimenon zum Bestimmungsgrund des owi/'a-Begriffs gemacht wurde, in Cat., nie die Rede war?«. Es lassen sich beide Fragen gemeinsam beantworten. Zunächst ist herauszustellen, daß der Begriff des hypokeimenon in Τ 1 wie überhaupt überall dort, wo Aristoteles das Zugundeliegende mit der Materie in Berührung bringt, radikaler gedacht wird als in Cat. Dies drücken in prägnanter Weise die Zeilen 1029 a 2324 von Ζ 3 aus. Nachdem Aristoteles die Materie außerhalb des Bereichs der Kategorien 1 - 1 0 gestellt hat, sagt er, daß das übrige, i. e. alles, was von einer πρώτη ουσία im Sinne der Kategorienschrift ausgesagt wird, von der ousia ausgesagt werde, diese aber von der Materie. 424 Die Materie liegt also auch noch dem zugrunde, was in Cat. das Zugrundeliegende schlechthin war. Sie ist damit mehr hypokeimenon als die erste Seiendheit von Cat. Sie ist das erste, allem zugrunde liegende hypokeimenon, das πρώτον ύποκε'ιμενον oder το ύποκείμενον έσχατον. 4 2 5 Daß die Materie, obwohl sie damit den Begriff des Zugrundeliegenden, der in Cat. Bestimmungsgrund für die ousia war, mehr erfüllt als die πρώτη ουσία von Cat., dennoch nicht in der Kategorienschrift
qua Form. Heinaman engt den Begriff der ousia in beiden Hinsichten ein: »I believe it is clear that in the Metaphysics the primary substances are the individual substantial forms of perceptible individuals rather than perceptible individuals themselves« (R. Heinaman, Knowledge of Substance in Aristotle, in: The Journal of Hellenic Studies 101 (1981), 63-77, p. 64). 424
Asklepios scheint in seinem Metaphysikkommentar in Hinsicht auf das von der Materie Ausgesagte nicht von der ersten, sondern von der zweiten Seiendheit i. S. von Cat. auszugehen, wenn er als Beispiel für die von der Materie prädizierte ousia in 1029 a 23 so etwas wie den Menschen (ό άνθρωπος) anfuhrt. Unter άλλα jedoch versteht er wie ich die Kategorien 2 - 10, darüber hinaus auch die spezifischen Differenzen wie »sprechend, sterblich« etc., die vom Lebewesen Mensch ausgesagt werden (Asclepius in Aristotelis Metaph. libros A-Z Commentarla, ed. M. Hayduck, Berlin 1888, 380, 32ff.).
425
Vgl. Phys. 19, 192 a 31; Met. Δ 18, 1022 a 18; Δ 8, 1017 b 24.
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aufgeführt wurde, hat seinen Grund darin, daß sie in keiner der Kategorien 1 - 1 0 geortet werden kann. 426 Von ihr läßt sich nichts aussagen, was sich von der ousia i. S. von Cat. aussagen ließe, nämlich eine Qualität, Quantität usw. Sie ist nichts von dem, wodurch Seiendes bestimmt werden kann, sagt Aristoteles in Met. Ζ 3 (1029 a 2If.). Wenn Frede und Patzig sich darüber wundern, daß Aristoteles schon hier, noch vor der Erklärung der Unmöglichkeit einer Identität von Materie und ousia in 1029 a 27, die Materie aus dem Seinsbegriff herausfallen läßt, so erklärt sich das daraus, daß sie die Begründung, die Aristoteles für das in 1029 a 27 Gesagte gibt, für wesentlicher halten als das, was Aristoteles 1029 a 2Iff. über die »Zugrundeliegendheit« der Materie sagt. 427 Wenn nämlich Aristoteles die Unmöglichkeit, daß Materie ousia sei, damit erklärt, daß sie kein χωριστόν und kein τόδε τι sei, so sei dadurch - und das ist der eigentliche Grund für Fredes und Patzigs Verwunderung - nicht die ousia als hypokeimenon in Zweifel gezogen. Eben dies hält Boehm für die - nach seiner Meinung spätestens mit Thomas von Aquin einsetzende - traditionelle Interpretation, gegen die er opponiert: daß nämlich mit dem, was Aristoteles in Ζ 3 über die ousia sagt, nicht das hypokeimenon als ousia fragwürdig gemacht werde. Dies geschehe nur, so Boehm, mit der Unzulänglichkeitserklärung von 1029 a 9. Mit dieser werde die Bestimmung der ousia nicht nur durch die Materie, sondern auch durch das hypokeimenon für noch nicht hinreichend gehalten. 428 Richtig ist wohl, daß mit der Unzulänglichkeitserklärung von 1029 a 9 die ousia als hypokeimenon fragwürdig gemacht werden soll, aber nicht als hypokeimenon schlechthin, sondern nur als der RadikalbegrifF desselben. Daß die ousia vor wie nach als hypokeimenon betrachtet werden kann, wird nicht ausgeschlossen. Anders ließe es sich auch nicht begreifen, daß Aristoteles die ousiaDie Materie sei, so Asklepios im Kommentar, keine der Kategorien (a. a. O., 380, 35). Ebenso sieht es Alexander in seinem Metaphysikkommentar (Berlin 1891, 464, 24). Die Materie sei ουδέν των δέκα κατηγοριών. »Es kann [...] verwundern, daß Aristoteles hier so spricht, als sei klar, daß ousia und Materie nicht zusammenfallen«. Er habe nämlich, so erklären sich Frede und Patzig das, »vielleicht ohne das zu bemerken, seine eigene Auffassung der ousia« vorausgesetzt, »obwohl an dieser Stelle im Argument, was letztlich ousia ist, gerade noch offen gehalten werden soll« (M. Frede/G. Patzig, Text, Übersetzung und Kommentar zu Metaphysik2, München 1988, 48). Was ousia letztlich ist, wird auch nach der Unmöglichkeitserklärung von 1029 a 27 offen gehalten. Was ousia je ist, muß sich innerhalb von Denkund Redezusammenhängen immer wieder neu zeigen. Dies ist gewissermaßen die Quintessenz seiner Buches Das Grundlegende Wesentliche.
und das
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Trias in Τ 1 als Trias des hypokeimenon denkt. Nur ist jetzt, in der ousiaAbhandlung von Met. Ζ und H, die Maßgabe, hypokeimenon zu sein, nämlich hypokeimenon i. S. der Kategorienschrift zu sein, nicht mehr leitend fur den ows/a-Begriff. Daher wird das hypokeimenon in Τ 4 nur noch auf die Materie beschränkt. D. h., das hypokeimenon hat zwar noch seinen festen Platz innerhalb der ousia-Trias, aber nur als die Unterlage für die anderen beiden Teile der Trias. Die Materie ist hypokeimenon fur den Akt (εντελέχεια, Met. Ζ 13, 1038 b 4-6; Η 2, 1043 a 5f.), fur das έριδος (Η 3, 1043 b 3 If.; Θ 7, 1049 a 34-36) und fur das synholon (Met. Β 1, 995 b 35; Β 4, 999 a 33-34). Das hypokeimenon wird jetzt - im Unterschied zum Begriff des hypokeimenon i. S. von Cat. - von der Potenz-Akt-Differenz aus gedacht, wie Τ 6 und Τ 7 deutlich machen. Was die Materie zum hypokeimenon macht, ist, daß sie potentia das synholon ist. Sie liegt ihm als dessen Möglichkeit zugrunde, die das είδος zu verwirklichen hat. (Damit ist im übrigen schon gezeigt, wie man sich eine Prädikation der Form oder des Synholon von der Materie vorzustellen hat, nämlich als potentiale Prädikation, wie dies weiter unten ausfuhrlich dargestellt werden wird). Die Materie bleibt also eine Konstituente der Usiologie. Was mit der Unzulänglichkeits- und mit der Unmöglichkeitserklärung von Ζ 3 verhindert werden
soll, ist, die ousia ausschließlich vom hypokeimenon her, sei es vom hypokeimenon i. S. von Cat., sei es vom radikal gedachten hypokeimenon, d. h. von der Materie her, zu denken. Es geht Aristoteles nicht um eine Identifikation der Begriffe Materie und ousia, aber auch nicht um eine Nicht-Identifikation. Was als ousia zu denken ist, bleibt offen; es bleibt innerhalb bestimmter, nämlich triadischer Strukturen offen, von denen die Materie ein unerläßlicher Bestandteil ist. Es macht daher keinen Sinn, wie Schmitz von Ζ 3 als von einer siegreichen Entscheidungsschlacht gegen den Materialismus zu reden. 429 Die Materie ist das zeigen Τ 2 -T 7 deutlich - Konstituens der ows/a-Trias. 430 Ob sie ousia »ist« oder nicht »ist«, ist eine Frage, die für das aristotelische Denken irrelevant ist. Um es nochmals zu sagen: was ousia je ist, muß sich durch die Bezüge, die das von bestimmten Gesichtspunkten, hier von dem Gesichtspunkt der ενέργεια, geleitete Denken und die Rede herstellen, zeigen; ousia kann je eine andere sein, wie auch Materie, die in diese Bezüge hineingehört, immer wieder anderes sein kann. Aristoteles ist weder »Materialist« noch Gegner des »Materialismus«. Selbst in Ζ 3 wird die Materie nicht als ousia verworfen; es wird lediglich gesagt, daß είδος und synholon mehr ousia zu sein scheinen (Aristoteles drückt
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Schmitz a. a. O., 46. Anders ließen sich auch Bewegung und Veränderung nicht denken. Daß die Materie ousia ist, sei, so Aristoteles in Met. Η 1, 1042 a 32, evident. Denn es müsse ein Zugrundeliegendes für die gegensätzlichen Veränderungen geben.
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sich sehr vorsichtig aus) als die Materie (1029 a 29f.). Was unbezweifelt ist, ist, daß es innerhalb der ousia-Trias eine »Gewichtung« gibt zugunsten der anderen beiden Teile der Trias. Diese Gewichtung hat aber mit dem zu tun, worum die OM.SÙZ-Abhandlung und die in Τ 1-T 7 aufgeführten ot/sia-Triaden kreisen: mit dem Akt-Begriff, von dem aus die ousia in ihrer triadischen Struktur hier gedacht wird.
Das είδος als αιτία του είναι, μέσον, Akt, Differenz, Definition und τηε Wenn man den Inhalt von Buch Η der Metaphysik im groben wiedergeben will, so kann man dies mit dem Begriff der αιτία του είναι tun. H ist eine Explikation dessen, worauf das letzte Kapitel von Z, das Kapitel 17, bereits hingewiesen hatte. Wir sind damit zum einen beim »ätiologischen« Teil der Metaphysik, die als Usio- und Ontologie auch Rede von den Ursachen, und zwar den vier grundlegenden Ursachen (Material-, Form-, Bewegungs- und Zweckursache), ist, und zum anderen beim είδος als dem Mittelbegriff der ousia-Trias. Inwieweit diesem Mittelbegriff die entscheidende Rolle bei der Konstituierung der ousia zukommt und von ihm her Logos, Definition, Wirklichkeit (ενέργεια, εντελέχεια) und das Sein selbst (είναι) gedacht werden, soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei wird erneut die Analogie der ousia-Trias »Materie-ciôoçsynholort« und der oas/a-Trias »Gattung-Differenz-Art« zutage treten. Zuvor jedoch soll nochmals auf die Trias des beweisenden Schlusses verwiesen werden, von dem her das είδος als Mittelbegriff, als μέσον verstanden werden kann. Als Parallele zu Met. Η kann das zweite Buch von An. post, gelesen werden. Die Ergebnisse, die die Untersuchung dieses Buches zutage fordert, sind folgende: 1. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Warum- und der Was-Frage; der Zusammenhang wird hergestellt durch den Mittelbegriff des beweisenden Schlusses. Nach dem Was eines Begriffs oder einer »Sache« fragen und fragen, warum etwas dieses ist, heißt nach dem μέσον fragen (ζ. B. fragen, warum der Mond sich verfinstert und was die Mondfinsternis ist, heißt nach den Mittelterm suchen (= Ausfall des Lichts durch Dazwischentreten der Erde)). 2. Das μέσον, dessen Suche Wissenschaft ausmacht, ist das von allen drei Termen des Schlusses am wenigsten der Wahrnehmung Offenbare. »Wir suchen es, wenn wir es noch nicht wahrgenommen haben« (90 a 25). Was bekannt (der Wahrnehmung zugänglich) ist, sind die beiden Außenterme. Wenn Aristoteles am Anfang von An. post, sagt, daß jedes Lehren und Lernen, d. h. je-
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de Erkenntnis auf bereits Bekanntem basieren müsse, das Wissen mithin ein Weg von Bekannterem zu noch Unbekanntem ist, so findet das hier seine Bestätigung. Wie der Syllogismus im allgemeinen auf der Bekanntheit der Prämissen beruht und aus ihnen auf die unbekannte Konklusion zu schließen ist, beruht der wissenschaftliche Syllogismus im besonderen (die άπόδειξχς) auf der Bekanntheit der Außenterme, von denen aus der Weg zum unbekannten Mittelterm führen muß. Von daher ist auch der Unterschied zwischen Syllogismus und Induktion (έπαγωγη) begreifbar. Die Induktion ist die Vertauschung des Mittelterms mit einem der beiden Außenterme; sie tritt dann auf, wenn die Unbekannte (i. e. das, was dem Mit-den-Augen-Sehen nicht unmittelbar zugänglich ist) nicht zum Mittelterm, sondern zum Außenterm eines Schlusses gemacht wird (vgl. auch An. pr. II 23). 3. Beweisender Schluß und Definition sind zwar nicht dasselbe, haben aber etwas miteinander zu tun. Die Definition kann zwar nicht bewiesen werden (es kann nicht bewiesen werden, daß Mensch zweifüßiges Lebewesen ist), es kann aber bewiesen werden, warum der eine Außenterm dem anderen zukommt, nämlich durch das μέσον. Der Mittelterm ist defmiens, das defmiendum ist Terminus maior (93 b 6) oder der Zusammenschluß der Außenterme (Mond und Finsternis sind die Außenterme, Ausfall des Lichts durch Dazwischentreten der Erde der Mittelterm und Definition der Finsternis oder vielmehr der Mondfinsternis, welche das definiendum, der Gegenstand der Definition, ist 431 ); durch den Mittelterm wird bewiesen, warum die Finsternis
Es ergibt sich hier eine Schwierigkeit. Die Frage ist, ob man das definiendum im Zusammenschluß beider Außenterme oder nur im Terminus maior zu suchen habe. Für das Beispiel des Hauses, das Aristoteles auch in Met. H (c. 2, 1043 a 14-19) anfuhrt, scheint dies eindeutig zu sein. Haus wird in Met. Η als bedeckender Schutz für Leib und Ding bestimmt (ebd., 1043 a 16f.). Dies sei aber noch nicht die vollständige Bestimmung von Haus. Denn mit dem bedeckenden Schutz für Leib und Ding sei nur die Wirklichkeit (ενέργεια) gemeint. Die Definition fur Haus erreiche man nur, wenn man auch den Stoff in die Bestimmung einbeziehe. »Die dritte ousia« (so wörtlich, ή τρίτη ουσία, 1043 a 19) erhalte man, wenn man beides, Stoff (Ziegel, Lehm, Stein etc.) und die Verwirklichung, verbinde. Wenn man diese Definition in einem beweisenden Syllogimus darstellt, wäre in der Tat Haus eindeutig dem Terminus maior zugewiesen, der Stoff wäre Terminus minor und die Energeia Mittelterm: »Wenn alles, was bedeckender Schutz für Leib und Ding ist, Haus ist und Ziegel, Lehm, Steine etc. für einen bedekkenden Schutz von Leib und Ding verwendet werden, dann werden diese fur ein Haus verwendet«. - In dem Beispiel der Mondfinsternis jedoch sind Finsternis Terminus maior, Mond Terminus minor und Ausfall des Lichts (durch Dazwischentreten der Erde)
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v o m M o n d ausgesagt wird, und er zeigt an, was Mondfinsternis ist; das Beispiel von der Mondfinsternis findet sich auch in Met. H als Beispiel fur die Definition (c. 4, 1044 b 1 4 4 3 2 ) ; ich werde unten auf ein weiteres Beispiel fur den Zusammenhang von B e w e i s und Definition eingehen, das sich ebenfalls sowohl in An. post, als auch in Met. H findet und das den Zusammenhang zwischen »ätiologischem« und definitorischem ε ί δ ο ς und damit den Zusammenhang zwischen der ows/a-Trias »Matene-èiôoç-synholon« und »Gattung-Differenz-Art« deutlich macht). 4.
Sofern ein L o g o s von etwas ausgesagt werden kann, kann auch v o m Sein ( ε ί ν α ι ) geredet werden. »Wenn es einen Begriff von etwas gibt«, so Aristoteles, »so sagen wir, es sei« (93 a 33). ο υ σ ί α und είναι, Seiendheit und Sein, Terminus médius (»wenn Ausfall des Lichts Finsternis bewirkt und der Mond (durch Dazwischentreten der Erde) einen Ausfall des Lichts erleidet, dann verfinstert er sich«). Materie ist in jedem Falle Terminus minor und die Ursache (das deflniens) in jedem Falle Terminus medius. Was aber ist das Aus-beiden, das synholoríl Ist es Terminus maior oder der Zusammenschluß von Terminus maior und Terminus minor? Daß diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist, wird dadurch klar, daß Aristoteles sehr häufig, sowohl in An. post, als auch in Met. H (c. 4, 1044 b 14), wo er die Mondfinsternis definiert, nur έκλειψις sagt, aber Mondfinsternis meint. Vielleicht ist dies am besten so zu erklären: So etwas wie Finsternis (έκλειψις) zeigt sich immer nur an einem bestimmten Substrat (Mond). Wenn bei der έκλειψις die Frage des Was-ist gestellt wird, so ist das stoffliche Substrat immer mitgemeint. Auf keinen Fall aber ist dies so zu verstehen, wie Ross will: daß die definitorische Was-ist-Frage, die ursprünglich nur auf synhola oder hypokeimena ging, hier auf bloße Eigenschaften ausgedehnt werde: »Again, the question τί έστι, which was originally limited to the problem of defining subjects, is extended to include the problem of defining such an attribute as eclipse« (Aristotle's Prior and Posterior Analytics, a Revised Text with Introduction and Commentary by W. D. Ross, Oxford 1957, 610). Ross erklärt dies mit dem willkürlichen Gebrauch des von Aristoteles benutzten Vokabulars. Was das Beispiel der Mondfinsternis betrifft, die ich ebenfalls als Exempel fur die owi/a-Trias »Materie-eiôoç-jyn/io/o«« lese, so sagt Aristoteles in Met. H 4 allerdings, daß der Mond (das also, was im beweisenden Syllogismus terminus minor ist) nicht Materie sei (1044 b 10). Es gebe aber den Mond, fügt Aristoteles sogleich hinzu, als das πάσχον, als das also, was passive Unterlage für Veränderung ist. Wenn der Mond hier also auch nicht rein mit Materie identifiziert wird, so gilt er doch als eine Art Materie. Das wird durch die Zeilen 1044 b 8-9 unmittelbar vor dem Mondbeispiel deutlich: Es gebe etwas, was, obgleich ihm natürliche Existenz zugebilligt wird, zwar nicht ousia sei und was daher keine Materie habe; aber an deren Statt stehe das hypokeimenon als ousia.
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werden also nicht als etwas vom Denken Losgelöstes betrachtet, sondern stellen sich erst durch einen bestimmten Bezug der Rede ein. Sofern zwischen zwei (der Wahrnehmung offenbaren) Begriffen durch einen dritten (dem Mit-den-Augen-Sehen unzugänglichen) Begriff eine Beziehung hergestellt wird, zeigt sich so etwas wie ousia und von ihr her auch das Sein. Die ousia wird nicht aus dem Sein, sondern umgekehrt das Sein aus der ousia bestimmt; das Sein ist fiir nichts Seiendheit (το δ' είναι ουκ ουσία ούδενί, 92 b 13). 5. Der Mittelterm des beweisenden Schlusses beinhaltet als αίτιον του είναι (90 a 9) auch die Ursachen, von denen die Metaphysik handelt, also erstens das τη ε, zweitens die Bewegungsursache und drittens das telos (selbst die Materialursache ist Bestandteil des μέσον, c. 11, 94 a 20ff.). Wie eng Metaphysik und die Lehre von der άπόδειξις zusammenhängen, zeigt sich gerade am Begriff der αιτία του είναι, am Begriff dessen, was hier als Mittelbegriff der ousia-Trias aufgezeigt und was durch die Untersuchungen vor allem des zweiten Buchs von An. post, (insbes. c. 1-12) als Mittelbegriff der Trias des beweisenden Schlusses herausgestellt wurde. Die Usiologie kreist als »Ätiologie«, als Rede von der Ursache, vor allem um diesen Mittelbegriff. Aubenque hat dies sehr genau beschrieben. Die folgenden Worte können als Quintessenz dessen gelesen werden, was An. post. II über das μέσον als Ursache zutage gefördert hat. »Dire la cause, c'est toujours démontrer l'appartenance d'un prédicat à un sujet; chercher la cause, c'est donc très précisément rechercher le moyen terme qui permettra, connaissant les deux termes entre lesquelles nous cherchons á établir la relation attributive, de construire le syllogisme qui conclura à l'attribution de l'un des deux termes comme majeur à l'autre comme mineur.«^^
Daß der Begriff des μέσον fur Aristoteles fundamental ist, hat sich bereits in der Ethik gezeigt. Daß die Arete in EN als Mitte im Sinne der ousia und des das τηε aussprechenden Logos bestimmt wurde (II 6, 1107 a 6f.), bekommt durch
»Die Ursache benennen heißt in jedem Falle die Zugehörigkeit eines Prädikats zu einem Subjekt aufweisen; die Ursache suchen heißt dann ganz genau den Mittelterm ausfindig machen, der bei Kenntnis der beiden Terme, zwischen denen wir die attributive Beziehung herzustellen versuchen, erlaubt, den Syllogismus zu bilden, dessen Konklusion beinhaltet, daß der eine der beiden Terme als Terminus maior dem anderen als Terminus minor zukommt« (P. Aubenque, La pensée du simple dans la Métaphysique, a. a. O., 72).
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das, was hier über die Mitte gesagt wurde, erst seinen Sinn. Mit der Mitte werden nicht nur solche für das aristotelische Denken grundlegenden Begriffe wie der Logos, das τη ε und die ousia erfaßt, sondern auch der fur die Ethik wesentliche Begriff des Guten, den nicht nur die Ethik mit dem Begriff des telos in Verbindung bringt (EN I 1, 1094 a 3; I 7, 1097 a 23), sondern auch die Metaphysik (A 2, 983 a 3 If., das Gute wird hier gemeinsam mit dem telos oder dem Umwillen seiner selbst, το ού ένεκα, als eine der vier Kardinalursachen der Metaphysik bezeichnet) und An. post. (II 11, 95 a 7). Das telos gehört wie die Bewegungsursache und die »Form«ursache, das τηε, in den Begriff des Mittelterms der άπόδειξις. Daher kann das είδος als αιτία του είναι auch als telos gedacht werden. Anders ließe sich auch gar kein Bezug des είδος zum Akt-Begriff herstellen, als der es, wie die Textstellen 6 und 7 des vorigen Abschnitts gezeigt haben, von Aristoteles bezeichnet wird. Das είδος ist έν-τελ-έχεια, das Sich-im-ie/os-Halten. telos ist das είδος fur die Materie; es ist ihre Verwirklichung, so wie die Seele Verwirklichung des Körpers ist. Die Trias von Materie, είδος und synholon läßt sich auch dichotomisch ausdrücken als Verhältnis von Potenz und Akt. Potenz und Akt, so Aristoteles in Met. Η 6, 1045 a 23, verhalten sich wie Materie und Form. Die beiden letzten Teile der Trias, είδος und synholon, lassen sich, wie dies oben angedeutet wurde, in einem Begriff zusammenfassen. Das είδος ist Ursache für das Form- und Wirklichwerden der Materie. Am Ende von Η bringt Aristoteles sogar είδος und Materie auf einen Begriff zusammen: Materie und Form seien eins (έν), nur das eine potentia, das andere actu (1045 b 18-19). In dieser dichotomischen Weise drückt auch die Physik den Zusammenhang aus. Der diese Wissenschaft konstituierende Begriff der φύσις wird von Aristoteles im Sinne der Potenz-Akt- und Materie-eiôoç-Differenz gefaßt. Die Natur (φύσις) lasse sich auf zweierlei Weise begreifen, das eine Mal als Materie und Substrat der Veränderung, das andere Mal als Form (als μορφή und logosgemäßes είδος, II 1, 193 a 28-31). Was das eine der Möglichkeit nach sei, sei das andere der Wirklichkeit nach, wie dies an den Artefakten, den Produkten von ποίησχς und τέχνη, die als Nachahmung der Natur immer in Analogie zu dieser beschrieben werden kann, exemplifiziert wird. Holz und Bett verhalten sich wie Stoff und Form, Potenz und Akt. Das Holz ist der Möglichkeit nach Bett. In ihm, dem Bett, findet es sein telos, seine Verwirklichung, seine »Form«. Mit der Zweiteilung von Stoff und Form läßt Aristoteles in Phys. II 1 noch eine andere Zweiteilung einhergehen, die von Form und ihrer Privation. Die Form und die φύσις (die Form ist als Vollendung und Wirklichkeit natürlich in größerem Maße φύσις als das, was nur als der Möglichkeit nach betrachtet wird; die Form selbst ist φύσις, ή μορφή φύσις, Phys. 193 b 18) lassen sich deswegen auf zweierlei Weise aussagen, weil, so Aristoteles, auch die Privation in gewis-
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setn Sinne (πως) είδος ist (193 b 19f.). Mit dieser Zweiteilung, die auch in Met. auftaucht (Λ 2, 1069 b 32-34), ist ein wichtiger Fingerzeig dafür gegeben, daß auch die Trias »Gattung-Differenz-Art« in Analogie zur Trias »Materie-eîôoçsynholom oder gar nur als ein anderer Ausdruck für diese gelesen werden muß. Der Begriff der Privation drückt eine Differenz aus, sogar die größte Differenz (μεγίστη διαφορά, Met. I 4, 1055 a 4); denn unter den Differenzen führt Aristoteles in Met. I 4 als erste den konträren Gegensatz und unter den konträren Gegensätzen als ersten die Privation auf (1055 a 33). In Met. Λ 2, 1069 b 32-34 werden drei Ursachen der Bewegung genannt, von denen zwei als konträrer Gegensatz zusammengefaßt sind, λόγος und είδος nämlich auf der einen und die Privation auf der anderen Seite. Die dritte Ursache ist die Materie. Übertragen auf die ows/'a-Trias »Materie-Îiôoç-sjTjWo«« heißt dies, daß die Bestimmungsgründe oder Ursachen für das Sein des synholon nach wie vor zwei sind: Materie und είδος, daß aber das είδος sich, da es auch Differenz und konträrer Gegensatz ist, duplizitär fassen läßt. Beide Dichotomien, sowohl die Dichotomie von Materie und είδος als Ausdruck der Dichotomie von Potenz und Akt als auch die Dichotomie des είδος selbst durch den Begriff der Privation, deuten implizit auf den triplizitär strukturierten owj/a-Begriff. In jener Dichotomie nämlich ist das έιδος von dem her gesehen, was und woraufzu es verwirklicht, also vom synholon her, während die Ursache für das Werden des synholon in der Dichotomie von Materie und είδος nur impliziert ist. In dieser Dichotomie, in der Dichotomie des είδος selbst, wird das είδος als Ursache gesehen, während das, dessen Ursache es ist, das synholon, in dieser Dichotomie nur implizit enthalten ist. Daß dies so ist, soll durch eine Stelle in Met. belegt werden, die nicht wie in Λ 2 nur von drei, sondern von vier Ursachen spricht. In Met. Λ 4, 1070 b 30ff. ist mit dieser vierten Ursache das von der Bewegungsursache (dem hauptsächlichen Gegenstand der Untersuchung von Λ) Verursachte gemeint. Ursache ist dieses aber nur »in bestimmten Sinne« (πως), in einem ähnlichen Sinne, in dem die Materie είδος oder Dies-da ist. Die Heilkunst ist »in bestimmtem Sinne« Gesundheit, die Baukunst das ό δ ο ς des Hauses. Die Ursache enthält also das von ihr Verursachte mit. Insofern kann auch das Verursachte als Ursache angesprochen werden. Dies ist aber nur eine Bestätigung dessen, daß hier in triadischen Strukturen gedacht wird, deren Bestandteile sich sauber voneinander trennen lassen. In der Trias »Ziegel/Stein/Lehm-Baukunst-Haus« sind die Zuordnungen klar. Das Haus (= synholon) ist das Verursachte, Verwirklichte; es ist die Wirklichkeit dessen, was Ziegel, Lehm etc. (= Materie) nur der Möglichkeit nach waren, und es ist das von der Baukunst (= Bewegungsursache) Verwirklichte. Es ist aber gleichzeitig auch Ursache, insofern nämlich, als es das Ziel für die von der Baukunst vorgenommene Verwandlung von Ziegel, Lehm etc. vorgibt. Gäbe es nicht das Bedürfnis nach Häusern, gäbe es auch nicht die
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Baukunst und damit auch nicht die »Verwirklichung« der Steine und Ziegel zum Haus. Im Begriff des είδος sind also immer beide Aspekte zu beachten, der Aspekt der Ursache und der Wirklichkeit und der Aspekt des Verursachten und Verwirklichten, das gleichwohl Ursache in dem Sinne sein kann, daß es das Ziel (telos) eines Prozesses ist. Terminologisch können diese Aspekte, wie oben ausgeführt, als forma und species unterschieden werden. Als Differenz läßt sich nur das είδος qua Form, Ursache, Akt und μέσον denken. Und eben dies bezeugt endgültig den Zusammenhang zwischen der Trias »Materie-ειδος-synholon« und der Trias »Gattung-Differenz-Art«. Wie die Gattung zwar den Differenzen zugrunde liegt, aber außerhalb der Differenzen ist, liegt auch die Materie den Form-Differenzen zugrunde, ohne an ihnen teilzuhaben (die Materie ist, so Aristoteles, für nichts konträrer Gegensatz, Met. Λ 10, 1075 a 34). Wie die Arten Konkretionen der Gattung sind, sind auch die synhola Konkretionen der Materie. Das, was die Konkretion bewirkt, ist das als Differenz und Differenzierung gedachte ε'ιδος. So lassen sich ζ. B. die vier Elemente, Feuer, Luft, Wasser, Erde, allesamt als Konkretionen eines Urstoffs aus den Differenzen »warm-kalt« und »feucht-trocken« erklären. Das Feuer ist eine Verbindung aus Wärme und Trockenheit, die Luft aus Wärme und Feuchtigkeit, das Wasser aus Kälte und Feuchtigkeit und die Erde aus Kälte und Trockenheit (De gen. et corr. II 3). Der Zusammenhang der beiden owi/a-Triaden wird über das είδος qua μέσον noch auf eine andere Weise ersichtlich, nämlich durch die Definition, die, wie ausführlich gezeigt, aus der Methode der Dihairesis abgeleitet ist, welche über Differenzen von (unbestimmten, allgemeinen) Gattungsbegriffen zu bestimmteren, konkreteren Unterbegriffen oder Arten (είδη) übergeht. In Met. Η 2 wird an einem Beispiel, das auch in An. post, angeführt wird, der Zusammenhang der ousia und des έιδος als Ursache des Seins und als Definition illustriert. Eis, so wird gesagt, ist ein auf bestimmte Weise gefrorenes (oder verdichtetes) Wasser (1043 a 10). Auf bestimmte Weise (ώδί) gefrorenes Wasser ist die Definition von Eis. Aristoteles stellt, bevor er dieses und andere Beispiele (wie Haus und Schwelle) anführt, den Zusammenhang zwischen der αίτια του έιναι und der Definition über den Begriff der Wirklichkeit und der Prädikation von der Materie her: »Wie bei den Seiendheiten das von der Materie Prädizierte der Akt selber (ενέργεια) ist, so verhält es sich insbesondere auch bei den anderen Definitionen« (1043 a 5-7).
Seiendheit ist dabei die αιτία του είναι für jedes (1043 a 2ff.). Im Falle des Eises sind Wasser Materie, das auf bestimmte Weise Gefrorensein έιδος und das Eis selbst, der Gegenstand der Definition, das synholon, das Aus-beiden. Die Definition ist das Prädikat der Materie. Das auf bestimmte Weise Gefrorensein
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wird vom Wasser ausgesagt; es zeigt zugleich die Verwirklichung des Wassers zum Eis an. Wie daraus ein Syllogismus gebildet werden kann mit der Angabe der Ursache des Gefrorenseins im Mittelterm (welche hier, in Met. H 2, mit dem Wort ώδί angedeutet wird), zeigt die Parallelstelle von An. post. II 12, 95 a 1621 : »Gefroren« ist Terminus maior, »Wasser« ist Terminus minor und das, was in H mit ώδί vage benannt, hier jedoch genau erklärt wird, nämlich der »völlige Mangel (έκλειψις) an Wärme«, die Ursache des Gefrierens und des Werdens des Wassers zum Eis, ist Mittelterm. Daraus kann etwa folgender Syllogismus gebildet werden: »wenn völliger Mangel an Wärme Gefrieren bewirkt und dem Wasser jegliche Wärme entzogen wird, dann gefriert Wasser«. Der Untersatz zeigt, auf welche Weise das ε'ιδος als α'ιτία του είναι und »Form« von der Materie prädiziert werden kann (die Materie, das Wasser, kann auch direkt als grammatisches Subjekt ausgedrückt werden, indem ich sage »Wasser wird völlig der Wärme beraubt«). Die Ursache des Gefrierens, die έκλειψις, zeigt, daß die αιτία του ε\ναι als Differenz gedacht wird. Nicht nur Differenzen wie Wärme und Kälte oder Feuchtigkeit und Trockenheit sind für das Werden eines Materie genannten Substrats zum synholon konstitutiv, sondern auch Differenzen wie Überfluß und Mangel (Met. Η 2, 1042 b 25), mit denen in Phys. 14, 187 a 16 allgemein Prozessualität und die είδη als Differenzen und konträre Gegensätze erklärt werden (187 a 19f.). Dies ist überdies ein erneuter Beleg dafür, daß auch Privationen Ursache fur ein synholon sein können. Die Mondfinsternis wird in H 4, 1044 b 14 als Privation des Lichts definiert. Was mit dem Ausfall des Lichts oder dem Ausfall der Wärme bedeutet wird, sind sowohl die Ursache dafür, daß etwas zu etwas verwirklicht wird, als auch die Definition, das »Wesen« dessen, was verwirklicht wurde oder vielmehr was am Ende der Verwirklichung steht. Dieses »Wesen« wird von Aristoteles mit einem Ausdruck benannt, der in der Forschung - bis heute - für manche Diskussionen gesorgt hat. Es ist der Ausdruck τί ήν είναι, den ich bisher immer mit τηε abgekürzt habe. Aristoteles läßt das είδος mehrfach mit dem τηε zusammenfallen. Das είδος ist der Logos des τηε, heißt es in der Physik (II 3, 194 b 26f.). Das τηε kommt dem είδος und dem Akt zu, heißt es in der Metaphysik (H 3, 1043 b 1). Mit dem τηε läßt sich das είδος hinsichtlich seines definitorischen Charakters beschreiben. 434 Das ist
434
Zu dieser Koinzidenz von τηε und Eidos vgl. weiterhin Met. 7, 1032 b 1 f., wo Aristoteles das Eidos das τηε eines jeden und erste Seiendheit nennt; ebenso in Met. Ζ 10, 1035 b 32. Vgl. ferner Met. Z U , 1036 a 28f., wo Aristoteles die Zugehörigkeit des Eidos als eines Allgemeinen zur Definition (ορισμός) aufzeigt. - Zur Explikation des τηε, das Aristoteles wie das Eidos die Seiendheit eines jeden nennt (Met. Ζ 6, 1031 a 18f.), als Logos und Definition vgl. insbesondere Ζ 4 und hier vor allem 1030 a 6-32. Hier
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Akt und ousia
nicht so zu verstehen, daß das είδος sich in ein »ätiologisches«, die αιτία του είναι fur ein synholon präsentierendes είδος, und in ein »definitorisches«, durch das τηε dargestelltes είδος aufspaltet, sondern so, daß das είδος als αιτία του έιναι zugleich als τηε deflatorischen Charakter hat. Das τηε, den vielleicht umstrittensten Ausdruck der aristotelischen Philosophie und ohne Zweifel eine Schöpfung des Aristoteles selbst 435 , lese ich in Verbindung mit dem τί εστί, eine Verbindung, die Aristoteles in Ζ 4 selbst herstellt (vgl. bes. 1030 a 16ff., wo Aristoteles vom τηε ins τί έστι überspringt, und 1030 a 28ff., wo er τηε und τί έστι im gleichen Sinne gebraucht, ohne irgendeinen Bedeutungsunterschied herauszuheben; das τηε, so Aristoteles an dieser Stelle, bestehe genau wie das τί έστι zuerst und schlechthin an der ousia und in zweiter Instanz am Quale, Quantum etc., also an den sog. Akzidentien, den Kategorien 2 - 10). Das τηε bedeutet wie das τί έστι das Wassein, und zwar das unveränderliche Wassein eines Seienden. 436 Das τηε ist gewissermaßen eine Präzisierung des τί έστι, insofern als es den Aspekt der Unveränderlichkeit sprachlich durch den durativen Sinn des Imperfekts ήν zum Ausdruck bringt. 437 Man könnte das τηε vielleicht am besten übersetzten mit »das Was-ist, das es schon immer war« oder, besser, »was zu sein [sc. etwas] immer bedeutete«. Die Ergänzung »etwas« ist hier ebenso am Platze wie beim τί έστι, das ja auch mit »was [sc. etwas] ist« wiedergegeben werden kann. Dasjenige, dessen immerwährendes Was das τηε ausdrückt, kann als Dativ in diesen Terminus hineingenommen werden, wie
wird auch die Möglichkeit einer Definition der akzidentellen Kategorien wie der Qualität und der Quantität aufgezeigt. Daß das τηε eine Schöpfung des Aristoteles ist, begründet Curt Arpe, der sich in seiner Dissertation ausschließlich mit dem τηε beschäftigt hat, so: »So abstrakt sprach nur Aristoteles« (C. Arpe, Das τί ην είναι bei Aristoteles, Hamburg 1937, 14). Arpe hat in seiner Arbeit über das τηε (vgl. vorige Anm.) die Ableitung desselben aus dem τί cari zu einer seiner zentralen Thesen gemacht. Er differenziert dabei zwischen einem kategorialen τί έστι, das für die πρώτη ουσία der Kategorien steht und mithin einen Subjektsausdruck bezeichnet, und dem definitorischen τί έστι, das für einen (der δευτέρα ούσία der Kategorien vergleichbaren) Prädikatsausdruck steht und zur Bestimmung eines Zugrundeliegenden dient. Richtig leitet Arpe das τηε nur aus dem definitorischen τί έστι ab. In dem Sinne, wie in Met. Λ 6, 1071 b 7 von der Bewegung und Zeit ausgesagt wird a'iei γ α ρ ην. »Die Bewegung war immer« bedeutet, daß sie auch immer sein wird. Das Imperfekt bezeichnet hier die Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit. Ebensowenig wie bei der Zeit und bei der Bewegung gibt es beim τηε ein Werden und Vergehen. Das immerwährende Was, das durch das τηε angegeben wird, ist aus der Veränderlichkeit herausgehalten. Daß Mensch zweifüßiges Lebewesen ist, gilt immer.
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Ausdrücke wie το ri ήν eivai έκάστω, το τί ήν είναι Καλλία (Met. Δ 18, 1022 a 26-27) oder - innerhalb eines Relativsatzes - ô ήν οικία ό ν α ι (Met. Ζ 17, 1041 b 6) belegen. Derlei bedeutet dann so viel wie »was zu sein fur dieses bestimmte Etwas (Mensch, Haus etc.) immer schon galt«. Die Wörter τί ην können in solchen Fällen, bei denen die »Sache«, deren immerwährendes Was ausgedrückt wird, mitgenannt wird, auch wegfallen. Dieser sprachlich verkürzte Ausdruck ist sogar der häufigere Fall. In Met. Η 2, 1042 b 28 ζ. B. redet, um in dem oben genannten Beispiel zu bleiben, Aristoteles von το κρυστάλλω είναι und bestimmt dies sogleich. Das »Eissein« ist das »auf diese Weise Verdichtetsein« (το ούτω πεπυκνωσθαι). Das τηε des Eises ist die Definition desselben und die Ursache dafür, warum etwas wie Wasser sich zum Eise »verdichtet«, zum Eise gefriert. Die Ursache (der völlige Mangel an Wärme) wird hier ähnlich wie an der anderen Stelle in Met. Η 2, wo von der Definition des Eises die Rede ist, in unbestimmter Weise mit οϋτω bezeichnet. Die Ausdrücke, bei denen das »Subjekt« des Wasseins mitgenannt wird, sind für Interpreten wie Frede und Patzig sogar die ursprünglichen Ausdrücke, aus denen sich die Formel τί ην eivai als Verkürzung derselben erst begreifen läßt. Allerdings sehen sie selbst in Ausdrücken wie το τί ήν είναι άνθρώπω noch nicht die vollständige Formulierung. Die vollständige Formulierung kommt erst durch einen zweiten Dativ zustande, der als prädikativer Dativ durch Assimilation an den ersten Dativ erklärt wird: τί ήν τω άνθρώπω άνθρώπω είναι, was dann so viel heißt wie »was heißt es (oder »was hieß es schon immer«) für einen Menschen, Mensch zu sein«. 438 Auf die Notwendigkeit dieser Vervollständigung des τηε durch zwei Dative hatte bereits Arpe hingewiesen. Das τηε verlange, so Arpe, »zum vollen Verständnis die Ergänzung durch einen echten und einen durch Assimilation entstandenen prädikativen Dativ«. 439 Vielleicht sind diese Erklärungen nur ein Versuch, sich den Ausdruck τηε für die eigene Sprache verständlicher zu machen, weil Formulierungen wie »das Was-zu-sein-war«, was το τί ην είναι wörtlich übersetzt heißt, in modernen Sprachen anstößig oder doch ein wenig sonderbar wirken. Ob dagegen das τηε als eigenständiger Ausdruck auch im Griechischen als anstößig oder sonderbar empfunden worden ist, bezweifle ich. Daß moderne Interpreten sich so häufig mit dem τηε herumschlagen, kann daher lediglich ein Problem ihrer eigenen Sprache sein, ein Problem der modernen Sprachen, die solche Konstruktionen nicht ohne weiteres hergeben; und es besteht kein Grund, wie Schmitz das τηε den dunkelsten und groteskesten Ausdruck der aristotelischen Begriffsspra438
M. Frede/G. Patzig, Text, Übersetzung 1988, Bd. 1, 19f.
439
Arpe,a. a.O., 18.
und Kommentar
zu Metaphysik
Z, München
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Akt und ousia
che 4 4 0 oder wie Natorp einen barbarischen Ausdruck zu nennen 441 . Wie immer das τηε sprachlich gedeutet werden mag, fest steht, daß das είδος sich als μέσον und Ursache des Seins im Sinne des τηε denken läßt. Als τηε ist das είδος Definition (i. e. Angabe des immerwährenden Was) eines synholon und eines Artbegriffs, in dem implizit das zur Art gehörende »Einzelding« enthalten ist. 442
Gattung und Materie Wenn die Gattung als Materie gedacht werden kann, dann muß sie auch wie die Materie als letzthin Zugrundeliegendes und als letztes Subjekt gedacht werden können, als etwas also, das der Rede als ganz unten Liegendes, als NurSubjekt begegnet. Die Gattung ist aber innerhalb der Trias »Gattung-DifferenzArt« als ganz oben Liegendes, als Nur-Prädikat bestimmt worden. Umgekehrt muß aber auch die Materie, wenn zwischen ihr und der Gattung eine Analogie oder gar eine Identität besteht, als Prädikat gedacht werden können. Es sind also die Fragen zu klären, ob, erstens, die Gattung auch als Subjekt fungieren könne und ob, zweitens, die Materie auch als Prädikat fungieren könne. Die erste Frage schließt die weitere Frage ein, auf welche Weise überhaupt Materie als erstes hypokeimenon »Gegenstand« einer Aussage, i. e. (grammatisches) Subjekt fur 44
®
H. Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, 1. Band, 1. Teil, a. a. O., 13.
441
Paul Natorp, Piatons Ideenlehre, 2. Aufl., Leipzig 1921, 2.
442
Zu den vielfältigen Interpretationen zum τηε vgl. neben der wichtigen Arbeit von Arpe, der das τηε in die Nähe des platonischen είδος rückt und das Imperfekt ην als »Imperfekt der gedanklichen Voraussetzung« deutet, neben Frede und Patzig, die das Imperfekt als »philosophisches« Imperfekt interpretieren, und neben Schmitz , dessen Deutung des τηε aus dem Imperfekt der Rückfrage ich für abwegig halte (ebd., 22), u. a. Friedrich Bassenge (»Das το évi είναι [...] und das το τί ην είναι bei Aristoteles«, in: Philologus 104 (1960), 14-47), der das είναι innerhalb des Ausdrucks als substantivierten Infinitiv deutet und den Ausdruck übersetzt mit »das jeweils zugehörige Sein«, Charles Kahn, The Verb »Be« in Ancient Greece, Dordrecht 1978, 292-296, der vom τηε ähnlich wie Bassenge als von einem zugehörigen Sein redet (the being which belongs to man), und Hermann Weidemann, »Zum Begriff des ti ên einai und zum Verständnis von Met. Ζ 4, 1029 b 22-1030 a 6«, in: C. Rapp (Hrsg.), Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 75-104, der das substantivierte τηε als verkürzten Ausdruck der substantivierten Frage το τί είναι ην το είναι begreift, was so viel heißen soll wie »was zu sein hieß (für etwas), (schlechthin) zu sein?«, wobei er das ην als philosophisches Imperfekt interpretiert (S. 81 f.). Der Sache nach ist dies aber keine neue Konzeption gegenüber der Deutung von Frede und Patzig.
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die anderen Bestandteile der Trias »Materie-eiSog-synWo««, das είδος und das synholon, sein kann, die beide, wie gezeigt wurde, als είδος bezeichnet werden können. Die Frage lautet also, auf welche Weise eine Prädikation des είδος, die gemäß dem doppelten Aspekt desselben eine doppelte sein muß, von der Materie möglich sei, - eine Frage, die nur zum Teil im vorhergehenden Abschnitt bereits beantwortet wurde. Die drei Fragen werden von mir, mit dieser letzten beginnend, nacheinander beantwortet werden. Zuvor jedoch soll auf die Stellen verwiesen werden, in denen Aristoteles die Identität oder Analogie von Materie und Gattung behauptet. Die Stellen, in denen Aristoteles Materie und Gattung miteinander vergleicht, sind Met. Δ 28, 1024 b 8-10; Met. Ζ 12, 1038 a 5ff. und De gen. et corr. I 7, 324 b 8. In den beiden Metaphysik-Stellen wird die Gattung mit der Materie (ώς ύλη wird von der Gattung gesagt) und in der Stelle aus De gen. et corr. die Materie mit der Gattung verglichen (ώσπερ γ έ ν ο ς 6v heißt es von der Materie). Das Gemeinsame zwischen Materie und Gattung ist, daß sie, ohne selbst an den Differenzen teilzuhaben, den Differenzen zugrunde liegen. »Das, wovon es die Differenz und die Qualität gibt, ist das Zugrundeliegende, das wir Materie nennen.« So begründet Aristoteles in Met. Δ 28 den Vergleich der Gattung mit der Materie. Wie sehr einige Kommentatoren bei der Interpretation der Gemeinsamkeiten von Materie und Gattung, die zu identifizieren sie sich hüten, am Dingbegriff orientiert sind und die Materie nicht wie die Gattung innerhalb eines begrifflichen, durch Denken und Rede hergestellten Bezugsverhältnisses sehen 443 , sondern als ein fur sich existierendes Dingliches, zeigt die Interpretation von Ζ 12, 1038 a 5-9. Aristoteles sagt hier: » W e n n nun die Gattung schlechthin nicht neben den Arten der Gattung existiert oder, wenn sie existiert, als Materie existiert (denn die Stimme (φωνη) ist Gattung und
Seidl warnt davor, die Gattung mit dem Stoff der »Dinge« zu verwechseln. Die Gattung und die Differenz in der Definition seien nicht identisch mit Stoff und Form im »Ding« (Aristoteles'
Metaphysik,
mit Einl. u. Komm. hrsg. von H. Seidl, 2 Bände, 3., verb.
Aufl., Hamburg 1989, Bd. 1, 410). Was Seidl von einer Identifizierung von Materie und Gattung abhält, ist also der Dingbegriff. Ein solcher Dingbegriff als Ausdruck für etwas losgelöst von den Zusammenhängen der Rede und des Denkens Bestehendes spielt aber fur Aristoteles gar keine Rolle. Wie Mensch als zweifüßiges Lebewesen gedacht wird, wird auch Eis als gefrorenes Wasser gedacht. Nach Seidl wäre gefrorenes Wasser ein Ding, zweifüßiges Lebewesen kein Ding. Einen solchen »metaphysischen« Unterschied macht Aristoteles, soweit ich sehe, nirgends.
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Akt und ousia Stoff, die Differenzen aber bringen die Arten, und zwar 4 4 4 die Buchstaben, aus ihr hervor), so ist evident, daß die Definition der Begriff (λόγος) aus den [durch Dihairesis zu findenden 4 4 ^] Differenzen ist.«
W a s die Interpretation des Textes schwierig macht, ist die Frage, ob hier zwei Begriffe von Gattung angesetzt werden, ein Begriff von Gattung, der nicht neben den oder losgelöst von den Arten existiert, und ein Begriff von Gattung, der - w i e die Materie ? - losgelöst von den Arten oder Formen oder Differenzen existiert, oder ob nur ein einziger Begriff von Gattung angesetzt wird. D i e Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, wie das Wort »oder« (η) in 1038 a 6 gelesen wird, ob in alternativem Sinne (i. S. einer Kontravalenz) oder ob in einem eher modifizierenden Sinne. Für die erste Variante entscheiden sich Frede und Patzig. Sie stehen mit dieser Lesart allerdings - und zu Recht - ziemlich a l l e i n . 4 4 6 Andere Kommentatoren wie R e a l e 4 4 7 , Tricot 4 4 8 und A p o s t l e 4 4 9 lesen
Ich lese wie Bonitz das καί hier nicht in kopulativem, sondern in explikativem Sinne. Die Buchstaben sind die Arten (Unterbegriffe) der Stimme. Der Einschub ist durch die Worte, die Aristoteles der zitierten Stelle folgen läßt, gerechtfertigt. »Es ist aber klar«, sagen sie, »daß Aristoteles hier zwei Möglichkeiten ins Auge faßt: Entweder gibt es so etwas wie die Gattung neben den Arten überhaupt nicht oder es gibt sie zwar, aber nur in dem Sinn, daß sie so etwas wie die Materie fur die Arten bildet. Dies zeigt sich schon daran, daß das ώς in a 6 offenkundig dem άπλως in a 5 entspricht. Da dies oft übersehen wird, verdient hervorgehoben zu werden, daß Aristoteles hier nicht sagt, das genus sei Materie, sondern das nur als eine von zwei Möglichkeiten darstellt« (Frede/Patzig im Kommentar zu Met. Z, Bd. 2, a. a. O., 237). Reale übersetzt das ή von Zeile 6 mit o, al più (»oder wenn, dann allenfalls«). Reale macht eine interessante Bemerkung zu dem Beispiel, das Aristoteles hier anfuhrt. Die Stimme, so Reale, verhalte sich zu den einzelnen Lauten des Alphabets wie die Gattung zu den Differenzen. Evident sei, daß die Stimme nur als bestimmte, bestimmt in Hinsicht auf die einzelnen Laute, existiere. Damit könne die Stimme (als Gattung) nicht losgelöst von den Lauten sein: »la voce sta ai singoli suoni dell'alfabeto (le lettere dell'alfabeto) come il genere alle differenze; ora è evidente che non c'è voce che non sia voce determinata secondo i singoli suoni. Ed è altrettanto evidente, per consequenza, che la voce (come genere) esiste solo como »materia« di cui i singoli suoni sono differenze, e in nessuno modo a parte da esse« (Aristotele, La Metafìsica, traduzione, introduzione e commento di G. Reale, Neapel 1968, 621). Das bedeutet, daß die Gattung generell, also auch im zweiten Teilsatz nach ή, nicht losgelöst von ihren Arten oder Differenzen existieren kann. Ich stimme Reale hierin zu, gehe aber noch weiter, indem ich auch der Materie eine solche losgelöste Existenz abspreche.
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Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
richtig das ή nicht als alternatives und tendieren eher zu einer Ablehnung einer selbständigen Existenz der Gattung neben den Arten, die sie auch dann nicht annehmen, wenn die Gattung mit der Materie verglichen wird. 4 5 0 Dies steht auch im Einklang mit den Stellen im CA, wo wie in Met. Η 6, 1045 a 16ff. die Unmöglichkeit eines Lebewesens an sich, also eines selbständigen, für sich bestehenden Gattungsbegriffs demonstriert wird. 4 5 1 Es gibt also nur einen Gattungsbegriff, und der ist so beschaffen, daß er mit der Materie vergleichbar ist. Was heißt dies nun für die Materie? Heißt dies, daß auch die Materie nicht losgelöst von ihren είδη existiert? Ja, aber nur insofern, als das »existiert« hierbei nicht so verstanden wird, als handelte es sich um eine selbständige, dingliche, vom Denken und der Rede unabhängige Existenz, insofern also, als die von den είδη losgelöste Existenz der Materie nicht bedeutet, daß so etwas wie Wasser und Steine als Materie auch außerhalb des Bezugs auf Eis und Haus existiert. Dagegen, daß es Steine gibt, die nicht zum Haus verarbeitet werden, oder Wasser, das nicht zum Eis gefriert, oder Erz, das nicht zu einer Satue geformt wird, kann schwerlich etwas eingewendet werden. Aber darum geht es beim Materie-Begriff nicht. Von der Materie wird bei Aristoteles - das ist der entscheidende Punkt - nur in bezug auf etwas anderes gesprochen. Steine, Wasser, Erz und dergleichen sind nicht an sich Materie. Was sie zur
Für ihn läuft es im Grunde auf dasselbe hinaus, ob die Gattung losgelöst von den Differenzen existiere oder ob sie das als Materie tue (»ce qui, au fond, revient au même«). Wichtig fur ihn ist, daß die Definition nur durch die Differenzen zustande kommt; denn die Materie realisiere sich in ihnen (J. Tricot, Aristote. La Métaphysique,
Kommentar,
a. a. 0 . , 421). Apostle sieht die Identität zwischen Gattung und Materie schon sehr eng. Der Sache nach (nicht unbedingt der Terminologie nach) stimme ich ihm im wesentlichen zu, wenn er sagt: »If >animal< is matter and >biped< is form, a 'biped animal' is one idea and of one thing; 'animality' is like matter, not yet specified as 'biped', or 'fourfooted', or 'winged', or what not« (Aristotle's Metaphysics,
transi, with Comment, and Glossary by
H. G. Apostle, BIoomington/London 1966, 339 f.) Vgl. hierzu auch Heinz Happ, der ebenso richtig die Gattung als Stoff gegenüber der differentia
specifica annimmt, also nicht in dem Falle, wo die Gattung mit dem Stoff
verglichen wird, von einer von ihren Differenzen losgelösten Gattung ausgeht. Gattung wird etwas immer nur in bezug auf die Differenzen und Arten genannt, denen sie wie die Materie den είδη zugrunde liegt (H. Happ, Hyle. Studien zum aristotelischen
Mate-
riebegriff, Berlin/New York 1971, 639). Solche Konstruktionen wie αυτό ζωον oder αυτό δίπουν werden für gewöhnlich auf Piaton oder vielmehr die Platonisten gemünzt (vgl. u. a. H. Bonitz im Kommentar, a. a. O., 345, und Apostle, a. a. O., 352).
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Akt und ousia
Materie macht, ist ein Denken, das sie zu etwas anderem im Sinne der Wirklichkeit, der ενέργεια und εντελέχεια, im Sinne des Potenz-Akt-Verhältnisses in Beziehung setzt. Sofern ein Begriff A zu einem Begriff Β (mögen beide Begriffe dem, was der wahrnehmenden Seele, dem Mit-den-Augen-Sehen, begegnet, entlehnt sein oder nicht) so in Beziehung gesetzt wird, daß Β als telos von A gedacht wird, läßt sich der Begriff A als Materie fassen. So wenig, wie es eine Gattung an sich gibt, gibt es eine Materie an sich. Gleichwohl oder gerade deswegen ist natürlich die Materie wie die Gattung von ihren είδη und Differenzen begrifflich getrennt. Diese Trennung ist ja Voraussetzung für ein In-BeziehungSetzen. Wenn es also heißt, daß Gattung und Materie außerhalb ihrer Differenzen und είδη, mit Bezug auf die sie ausgesagt werden, sind oder »existieren« eine Möglichkeit, die der zweite Teilsatz nach ή in Met. Ζ 1038 a 6 einschließt, ohne in Gegensatz zum ersten Teilsatz zu geraten und ohne zu dem, was im ersten Teilsatz ausgedrückt wurde, eine Alternative darzustellen - , dann kann dies nur im Sinne einer begrifflichen Trennung verstanden werden. Das, was begrifflich voneinander getrennt ist, Materie und Gattung auf der einen und ihre είδη und Differenzen auf der anderen Seite, wird als solches nur dann angesprochen, wenn es i. S. eines Potenz-Akt-Verhältnisses zueinander in Beziehung gesetzt wird. Wasser, Erz, Steine werden nur insofern als Materie gedacht, als so etwas wie Eis, Statue und Haus als Verwirklichung von Wasser, Erz und Steinen gedacht wird, - als Verwirklichung, die durch bestimmte Differenzen wie »Mangel an Wärme« bewirkt wurde. Und ebenso wird »Lebewesen« nur insofern als Gattung gedacht, als bestimmte Differenzen wie »zweifüßig« und Arten wie »Mensch« und »Tier« gedacht werden, die als Konkretionen und Verwirklichung von Lebewesen erscheinen. Damit kann aber nicht mehr ein Unterschied zwischen Gattung und Definition als Begriff und Materie und synholon als Ding postuliert werden. Sowohl das synholon als auch die Materie sind wie Gattung, Differenz und Art nur begrifflich zu fassen. 452 Ein ορισμός, i. e. ein durch Differenzen vermittels der Dihai-
452
Dies läßt aber nicht den Schluß zu, daß der Stoff nicht mehr Stoff sei, wie Viertel (W. Viertel, Der Begriff der Substanz bei Aristoteles
(Monographien zur Philosophischen
Forschung; 216), Hain 1982, 284ff.) und Happ (Hyle, a. a. O., 678) meinen. Aristoteles habe, so Happ, die Materie nicht »stofflich«, sondern primär »geistig« gedacht (er verweist auf Ausdrücke wie ύλη νοητή). Dies zeigt aber gerade, daß nicht vom MaterieBegriff als von einem Relationsbegriff ausgegangen wird, sondern sozusagen von etwas Handfestem, von etwas Tastbarem, von etwas, was man - Viertel sagt es explizit - anfassen kann, also von einem Materie-Begriff, der vor allen Rede- und Denkzusammenhängen schon feststeht.
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resis an einem Zugrund^gelegten (Gattung und Materie) zu findender Begriff (λόγος), ist von dem einen, dem synholon, wie von dem anderen, der Art, möglich. Und ferner ist damit eine Antwort auf unsere erste Frage gegeben, auf welche Weise eine Prädikation des είδος von der Materie möglich sei. Wie es möglich ist, das είδος qua μέσον, τηε, αίτιον του είναι und Differenz von der Materie auszusagen, ist im vorigen Abschnitt gesagt worden (»das Wasser wird«, um beim Beispiel des Eises zu bleiben, »der Wärme völlig beraubt« oder »das Wasser gefriert durch völligen Mangel an Wärme«), Wie aber auch das είδος qua synholon oder »Spezies« von der Materie prädiziert werden kann, ist durch das eben Gesagte deutlich geworden: dadurch, daß ein Potenz-Akt-Verhältnis ausgedrückt wird: »das Wasser ist potentia Eis«, »das Erz ist potentia Statue«, »die Steine sind potentia Haus«. 453
Da gemeinhin übersehen wird, daß der Materie-Begriff ein Relationsbegriff ist, also nur Bedeutung hat in bezug auf etwas, das als seine Verwirklichung und als sein telos gedacht wird, kann Regis ihm als etwas vollkommen Amorphem (was er nur ist in bezug auf etwas) die Ursächlichkeit und die Dies-da-heit absprechen: »Matter lacks itself that attribute which is most proper to individuals: thisness [...] Matter, itself featureless, cannot be the cause of differences among other things« (E. Regis, Jr., Aristotle's Principle of Individuation, in: Phronesis 21 (1976), 157-166, p. 160f.). Die Möglichkeiten einer Prädikation des είδος von der Materie werden unterschiedlich diskutiert. Während J. Owens eine solche Möglichkeit bejaht, lehnt Brunschwig sie ab. Er läßt Sätze wie »die Form wird von der Materie ausgesagt« (το είδος κατηγορείται της ϋλης) nur gelten, wenn man sie durch Sätze wie »die Form bestimmt die Materie« (»la forme détermine la matière«) ersetzt. Er lehnt eine solche Möglichkeit aus dem Grunde ab, weil nach seiner Meinung Aristoteles auch eine Prädikation der Differenzen von der Gattung ablehnt, d. h., weil sich im CA nicht solche Sätze wie »das Lebewesen ist zweifüßig« finden lassen (J. Brunschwig, La forme, prédicat de la matière?, a. a. O., 156f.). Er geht also bewußt von der Analogie von Gattung und Materie aus. Die Prädikation der Form von der Materie behandelt er allerdings nur von einem Aspekt des ε'ιδος aus, vom Aspekt des είδος als μέσον. Owens dagegen behauptet zwar die Möglichkeit einer Prädikation von der Materie, hat aber Schwierigkeiten, sie sprachlich auszudrücken. Man könne nur sagen »that matter is humanized, equinized, lapidified« und dergleichen. Solche Ausdrücke hängen aber mit Owens' eigener Interpretation der aristotelischen Ontologie (die gerade in diesem Punkt große Ähnlichkeit hat mit der des Aquinaten) zusammen. Die Materie wird von ihm als das, was »Substantialformen« aufnimmt, gesehen. Und solche Substantialformen sind eben »Menschlichkeit«, »Steinernheit« etc. Daher sei es gerechtfertigt, Ausdrücke wie »matter humanized« zu bilden: »The assertion that matter is humanized, equinized, lapidified by the reception of different substantial forms expresses the predication with less danger of being misunder-
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Akt und ousia
Läßt sich - um zur Beantwortung der zweiten Frage zu kommen - eine solche potentiale Prädikation auch von der Gattung als Subjekt aussagen? Läßt sich sagen »Lebewesen ist potentia Mensch«? Zunächst: Daß ein Gattungsbegriff wie Lebewesen in der einen Hinsicht ganz oben liegt als Nur-Prädikat und in der anderen Hinsicht ganz unten liegt als Nur-Subjekt, ist eine Freiheit, die sich das Denken im Rahmen seiner Möglichkeiten nehmen kann. Nichts hindert das Denken und die Rede, bestimmte Lageverhältnisse umzukehren, die »Dinge« vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Daß zumindest eine partikuläre Prädikation der Art von der Gattung (»einige Lebewesen sind Menschen«) und eine Prädikation der Differenzen von der Gattung innerhalb eines »schwachen« Syllogismus (»Lebewesen ist entweder sterblich oder unsterblich, befußt oder unbefußt« etc.) möglich ist, ist gezeigt worden. Die Gattung kann also, wie auch immer, auch hypokeimenon sein. Die Gattung ist, so heißt es in Met. Δ 28, dem Kapitel, in dem der Gattungsbegriff bestimmt wird, hypokeimenon fur die Differenzen (1024 b 3). In diesem Sinne ist sie mit der Materie vergleichbar. Thomas von Aquin differenziert in seinem Kommentar zu Δ 28, um diese Möglichkeit eines Zugrundeliegens und der Vergleichbarkeit der Gattung mit der Materie auszudrücken, eine Prädikats-Gattung (genus praedicabile) und eine Subjekts-Gattung (genus subiectum).454 Beide Arten von Gattung seien zwar, so
stood, though with still less respect for linguistic usage« (J. Owens, Matter and Predication in Aristotle, in: J. M. E. Moravcsik (Hrsg.), Aristotle. Modern Studies in Philosophy. A Collection of Critical Essays, New York 1967, 191-214, p. 200f.). Thomas von Aquin läßt gleichfalls eine Prädikation der Form (und zwar i. S. des synholon) von der Materie gelten, und zwar in der Form »hoc materiatum est homo«. Er sagt zwar richtig nicht »die Materie ist Mensch«, aber nicht deswegen, weil dies weder eine unmittelbare noch eine potentiale Prädikation von der Materie ist, sondern weil ein Akzidens nicht als Substantiv von dem ihm Zugrundeliegenden ausgesagt werden dürfe wie »Mensch ist Weiße« statt »Mensch ist weiß« (In Met. VII, 7, η. 20). Man hat zu Recht dies als gültige Prädikation der Form (oder des synholon) von der Materie nicht gelten lassen. Brunschwig sagt dazu a. a. O. (S. 141): »L'expression hoc materiatum doit probablement s'entendre comme formée d'un pronom démonstratif joint à un participe épithète (cette chose »matériée«) plutôt qu'un adjectif démonstratif joint à un participe substantivé (ce matériau).« Und Happ hält dagegen: »Thomas denkt an Sätze wie hoc materiatum est homo, aber das ist eine Identitätsaussage (A = A), d. h. der Wesensbegriff homo ist in hoc materiatum schon enthalten und wird nur expliziert, indem man von den Akzidentien des materiatum auf die Substanz zurückschließt und sie benennt.« (Hyle, a. a. 0 . , 663). 454
In Met. V., 22, n. 5.
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Thomas, letztlich auf die Materie bezogen (durch den Modus der Materie, wie er sich ausdrückt, zusammengefaßt); aber mit der Materie sei nur das genus subiectum identisch. Immerhin kann er also nicht den Gattungsbegriff im ganzen aus seiner Verklammerung mit der Materie befreien, sondern er muß, will er nicht die Gattung in Gänze mit der Materie kopulieren, die Gattung zweiteilen, so zwar, daß auch bei der nicht Materie seienden Gattung, dem genus praedicabile, der Bezug auf die Materie ausgesagt werden muß. Denn Lebewesen, so erklärt er das beispielhaft, werde so genannt wegen seiner sensitiven Natur (i. e. seiner Wahrnehmungsfähigkeit). Die sensitive Natur, die jedem Lebewesen zukommt, i. e. die ein Merkmal von Lebendigkeit im allgemeinen ist, verhält sich zur intelligiblen Natur, die nur bestimmten Lebewesen zukommt, also ein besonderes Merkmal von Lebewesen ist, wie die Materie zur Form. Lebewesen (ianimal) ist genus subiectum und intelligibles Lebewesen (animal rationale) ist genus praedicabile. Wie sich das genus subiectum zum genus praedicabile verhält, verhält sich Materie zu Form; d. h., wie sich Lebewesen zum differenzierten, besonderen Lebewesen verhält, verhält sich das, was das Lebewesen zum Lebewesen macht, die Wahnehmungsfähigkeit, zu dem, was ein besonderes Lebewesen wie Mensch zu diesem besonderen Lebewesen macht, zur Intelligibilität. In der Tat dürfte damit die grundlegende Analogie zwischen Materie und Gattung aufgezeigt sein, wenn man davon absieht, daß der Ausdruck genus praedicabile hier unzutreffend gewählt wurde; denn mit dem genus praedicabile ist die Differenz gemeint, der die Gattung zugrunde liegt, nicht die Gattung selbst. Erstens nämlich weist Aristoteles selbst bei Behandlung der Definition und des τη ε daraufhin, daß durch Hinzufügen oder durch Wegnahme von Differenzen, denen die Gattung zugrunde liegt, Definition und τηε geändert werden. 455 In der Gattung also sind potentia die Differenzen angelegt. Das Hinzufugen der Differenzen zu dem Gattungsbegriff ist ein Akt des Denkens, mit dem es die Gattung aktualisieren kann. Die Hinzufügung des Prädikats »vernünftig« oder »intelligibel« zum Gattungsbegriff Lebewesen läßt dieses als einen Begriff erscheinen, dem potentia derlei Prädikate einwohnen. Denn vom Akt-Begriff kann ich auf den Möglichkeits-Begriff schließen. Das, was ich wirklich tue, kann ich auch tun. Wenn ich dem Gattungsbegriff Prädikate wie »vernünftig, zweifüßig« etc. beilege, dann heißt dies, daß dem Gattungsbegriff Lebewesen derlei Prädikate beigelegt werden können, daß es möglich ist, ihm diese Prädikate beizulegen. - Und zweitens ist auch im Verhältnis zwischen dem, was Thomas natura sensitiva, und dem, was er natura rationalis nennt, eine Potenz-AktBeziehung ausgedrückt. Wahrnehmungs- und Denkvermögen sind in diesem
455
Met. Η 3, 1043 b 36-44 a 2.
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Akt und ousia
Sinne aufeinander beziehbar. Aristoteles entwickelt in seiner Seelentheorie ein Stufenschema, nach dem erstens das Denkvermögen das am höchsten differenzierte und entwickelte ist und nach dem zweitens die höher entwickelten notwendig die niedriger entwickelten einschließen. Ohne ein Wahrnehmungsvermögen gibt es kein Denkvermögen. In dem, was in diesem Stufenschema höher und später liegt, ist das Frühere potentia vorhanden. Dies gelte fur die Seele wie für mathematische Figuren (im Viereck ist potentia das Dreieck enthalten). 456 Insofern kann das, was den Gattungsbegriff Lebewesen konstituiert, die Wahrnehmungsfähigkeit, weil diese als notwendige Vorstufe für die höher differenzierten Vermögen wie das Denken gesehen wird, als das Substrat gedacht werden, das potentia die höheren Differenzen enthält. Dies freilich nur in einem sehr allgemeinen Sinne. Es geht hier, um es immer wieder zu betonen, um begriffliche Beziehungen, nicht um Dinge. Aristoteles soll nicht die Meinung untergeschoben werden, daß jedes Lebewesen potentiell denkfähig sei. Der Begriff Lebewesen enthält für ein nach begrifflichen Differenzierungen wie denen von Potenz und Akt vorgehendes Denken potentiell das von ihm Prädizierte, es Differenzierende und Konkretisierende mit. Wenn das Denken Begriffe wie Lebewesen zugrunde legt, sucht es nach entsprechenden Zuordnungen. Es sucht, wenn es überdies einen Begriff wie Mensch als dem Begriff Lebewesen Überoder Unterzuordnendes (je nachdem welche Lagebeziehungen es geltend macht)
456
Vgl. De an. II 3, insbes. 414 b 29-32. In diesem Kapitel wird auch eine Beziehung hergestellt zwischen der grundlegenden αισθησις, dem Tastsinn, und den Grunddifferenzen warm-kalt, feucht-trocken, mit denen das Werden der vier Elemente aus dem Urstoff i. S. der ousia-Trias
»(Materie (= Urstoff)-eiôoç qua Differenz und αιτία του
είναι (= warm + trocken)-synholon
(= Feuer)« erklärt wird. Alles Lebendige, dessen
Wahrnehmung das Tasten ist, so heißt es, ernähre sich von Trockenem und Feuchtem und Warmem und Kaltem (414 b 7-9). - Was das Stufenmodell betrifft, so ist dies bis in jüngste Zeit auch in der Anthropologie diskutiert worden. Für Gehlen ζ. B. beinhaltet es, daß 1) der Mensch als das höchste der Lebewesen sich aus den höher entwickelten Tieren entwickelt hat und daß 2) damit bestimmte Lebensfunktionen (vegetative, motorische und sensuelle) bei Mensch und Tier analog sind und sich einzig der Intellekt, der gewissermaßen eine Zutat zu diesen Funktionen ist, als die spezifische Differenz zwischen Tier und Mensch namhaft machen läßt. Unterschiede gibt es dagegen, so Gehlen in Erwiderung auf dieses, von ihm abgelehnte Stufenschema, bereits im motorischen und sensuellen Bereich (besonders was die unterschiedliche Ausprägung des Hörsinnes und Geruchs bei vielen Tieren und den erstaunlich feinen Tastsinn des Menschen betrifft). Aristoteles nennt er hierbei allerdings nicht. Vgl. zu alldem Amold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 6. Auflage, Bonn 1950, Einleitung.
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zugrunde legt, die Mittelbegriffe, die zwischen Lebewesen und Mensch liegen und die es beiden zuordnet, dem einen als Wirklichkeit, dem anderen als Möglichkeit. Nur in dieser Hinsicht machen Aussagen wie »Lebewesen ist potentiell zweifüßig« oder »Lebewesen ist potentiell Mensch« einen Sinn. Entscheidend bei alldem ist, daß die Analogie oder, wenn man will, die Identität von Materie und Gattung ihren Grund hat in dem Wirklichkeitsbegriff, in dem Verhältnis von Potenz und Akt, mit dem die Begriffe Materie und Gattung in ihrem Bezug auf andere Begriffe als auf ihr telos allererst konstituiert werden. Es gibt keine Begriffe, die immer nur Gattung und immer nur Materie sind. Was Materie und Gattung ist, muß sich in immer wieder wechseln könnenden Bezugsverhältnissen der Rede und des Denkens immer wieder neu zeigen. Wie die Erde, sofern sie als Unterlage fur ihr Werden zum Erz in Geltung gebracht wird, als potentielles Erz und damit als Materie gedacht werden kann, kann sie ebenso gut als Verwirklichung eines Urstoffs (und damit als synholon oder »Form«) oder gar als reine Energeia wie in Met. Θ 8, 1050 b 29 gedacht werden. In ähnlicher Weise gilt dies für Begriffe wie Lebewesen, die nur in bestimmten Denk- und Rede-Zusammenhängen als Gattungsbegriffe fungieren. Mit dem Potenz-Akt-Verhältnis, das im Folgenden in der Weise, wie es innerhalb der »Substanz«bücher der Metaphysik im Buch Theta entwickelt wird, zur Darstellung kommen wird, läßt sich auch die dritte Frage klären, die Frage nach der Möglichkeit, die Materie in Analogie zur Gattung auch als Prädikat fungieren zu lassen. Der Materie-Begriff kann in der Tat auch die Position des Prädikats einnehmen, jedoch nur in einer ganz bestimmten sprachlichen Weise, nämlich nicht als Substantiv, sondern lediglich als Adjektiv. Prädiziert wird die Materie in dieser Weise vom synholon·. »Die Kiste ist hölzern« oder »das Holz ist irden« (Met. Θ 7, 1049 a 19f.). Dies ist ein anderer Ausdruck fur die Potentiale Prädikation des synholon von der Materie; denn »die Kiste ist hölzern« heißt, daß das Holz der Möglichkeit nach Kiste ist, und »das Holz ist irden« heißt, daß die Erde der Möglichkeit nach Holz ist (ebd., 1049 a 2If.). Beide, Materie und synholon, lassen sich also nach der Potenz-Akt-Differenz wechselseitig voneinander prädizieren. Beide können sowohl hypokeimenon wie κατηγορούμενον sein. 457
Über die Möglichkeit der Prädikation der Materie vom synholon
vgl. J. de Vries, Zur
aristotelisch-scholastischen Problematik von Materie und Form, in: Scholastik
32
(1957), 161-185, S. 164. Das Erz ζ. B. könne, so de Vries, noch als Prädikat von einem Subjekt ausgesagt werden.
220
Akt und ousia
Das Potenz-Akt-Verhältnis in Buch Theta. 458 Die Eudaimonia als das teleiotaton der Metaphysik In Kapitel 7 von Met. Θ, in dem sowohl die potentiale Prädikation des είδος (qua synholori) von der Materie als auch umgekehrt der Materie vom είδος (qua synholon) exemplifiziert wird, wird gezeigt, daß solche Aussageverhältnisse nur in bestimmter Weise gelten. Es kann ζ. B. nicht gesagt werden, die Erde sei potentia Mensch (1049 a 1). Eine solche Aussage ist deswegen nicht möglich, weil es der Erde nicht zukommt, zum Menschsein verwirklicht werden zu können. Die Erde muß erst bestimmte Veränderungsprozesse durchlaufen haben, damit sie als Substrat fur die Menschwerdung gelten kann. Sie muß, anders ausgedrückt, zu etwas anderem verwirklicht werden, das aber als der Akt von Erde von dieser qua Potenz verschieden sein muß. Die Erde ist nicht der den Stoff repräsentierende Bestandteil der ows/a-Trias, an deren Ende das synholon Mensch steht, sondern einer anderen ousia-Trias (an deren Ende möglicherweise etwas steht, was als stofflicher Anfang für die Verwirklichung zum Menschen gelten kann). Aus diesem Grunde kann ζ. B. auch nicht von jeder Frau gesagt werden, sie sei potentielle Mutter; denn nach dem aristotelischen Potenz-Begriff können nur diejenigen Frauen Mutter sein, die gebärfähig sind, die menstruierenden Frauen. Das hängt damit zusammen, daß der aristotelische PotenzBegriff unmittelbar am Akt-Begriff orientiert ist. Etwas wird nur dann δυνατόν (möglich, vermögend 459 ) genannt, wenn es in der Tat auch zu dem verwirklicht
Wenn man den Inhalt der einzelnen Kapitel des Buchs Theta der Metaphysik im groben wiedergeben will, so kann man sagen, daß c. 1 die Unterscheidung von passiver und aktiver Potenz, c. 2 die Unterscheidung von logischer und alogischer Potenz, c. 3 den Aufweis der Notwendigkeit einer Unterscheidung von Potenz und Akt (in Abgrenzung gegen die Megariker), c. 4 eine Konkretisierung des in c. 3 definierten Potenz-Begriffs, c. 5 eine Klassifizierung der Potenzen nach der Notwendigkeit einer vorhergehenden Verwirklichung und Tätigkeit, c. 6 die Definition des Aktbegriffs und die Differenz desselben vom Bewegungsbegriff, c. 7 eine nochmalige Konkretisierung des PotenzBegriffs, c. 8 das logische, zeitmäßige, wesensmäßige und seinsmäßige Voraussein des Akts vor der Potenz und c. 9 das Besser- und das Schlechtersein des Akts gegenüber der Potenz beinhalten (c. 10 handelt nur noch von der Differenz »wahr-falsch«, dem dritten Sinn, in dem neben dem kategorialen und dem entelechischen Seinssinn von der ousia die Rede ist). Explizit werden Potenz und Akt also nur in c. 8 und 9 miteinander verglichen. Der Ausdruck δΰναμις hat die Konnotation sowohl von Vermögen als von Möglichkeit. Wenn ich hier meist δύναμις mit Potenz wiedergebe, so deswegen, um die Bedeutungsvielfalt des griechischen Ausdrucks aufrecht zu erhalten, wiewohl man sicherlich auch
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werden kann, als das es potentiell gilt. Dies ist die hauptsächliche Bestimmung, die Aristoteles vom Potenz-Begriff gibt. 460 Aus dieser Bestimmung erklärt sich, weshalb auch nicht jedem Menschen zugesprochen werden kann, die Potenz zum Hausbauen oder zu welcher τέχνη auch immer zu haben. Dies muß gegen manche moderne façon de parier deutlich abgegrenzt werden, nach der man sagen kann, daß jeder Mensch die Anlage zur Ausübung von vielerlei Künsten, Wissenschaften und Handwerken habe. Die Anlage zum Flötenspieler hat nach Aristoteles nicht jeder Mensch, sondern nur der, der bereits Flöte (nachdem er sie zu spielen erlernt) gespielt hat. Der Potenz-Begriff setzt also eine Vorverwirklichung voraus; προενεργησαντες heißt es von denen, die in diesem Sinne vermögend genannt werden. 461 Diese grundsätzliche Orientierung des Begriffs der Potenz an dem des Akts erklärt auch, weshalb die Wirklichkeit und das Tätigsein begrifflich und wesensmäßig früher ist als die Möglichkeit. Begrifflich (= dem Logos nach) ist der Akt deswegen früher, weil Potenzen nur in Hinsicht auf ihre Aktualisierung ausgesagt werden. 462 Die Potenz des Flötenspielens gründet begrifflich im Akt, in der Tätigkeit des Flötenspielens. Von einem Können kann immer nur im Hinblick auf eine Energeia geredet werden - sowohl in aktiver wie in passiver Hinsicht: Etwas (wie der Hausbauer) kann bauen, und etwas (wie Haus oder vielmehr das, was ein Haus werden soll, also Ziegel, Steine etc.) kann gebaut werden-, etwas kann sehen, und etwas kann gesehen werden usw. (Aristoteles differenziert daher in c. 1 von Buch Theta ein aktive Potenz und eine passive Poim Lateinischen zwischen potentia als Vermögen und possibilitas
als Möglichkeit un-
terscheiden kann. Doch steckt in beiden Wörtern dieselbe Wurzel: das posse
(»kön-
nen«). Selbst im deutschen Wort »Möglichkeit« kann man die Bedeutung »Vermögen« mitlesen. »Es ist mir möglich, dies zu tun«, kann auch heißen »ich habe das Können, die Fähigkeit, das Vermögen, dies zu tun«. Vgl. dazu auch U. Amold, Die
Entelechie,
Wien/München 1965, der konsequenterweise δύναμις durchweg mit Möglichkeit übersetzt und den Sinn von Vermögen in diesem Wort mitdenkt. 460
vgl. vor allem Θ 2, 1047 a 24-29. Vermögend oder möglich, so heißt es hier, ist dasjenige, bei dem, wenn die Verwirklichung dessen eintritt, dessen Potenz ihm zugeschrieben wird, nichts Unmögliches eintreten wird. Wenn von jemandem gesagt wird, es sei möglich, daß er sitze, dann tritt, wenn er sich tatsächlich setzt, nichts Unmögliches ein. Noch prägnanter drückt 0 7, 1049 b 13f. den Möglichkeitsbegriff aus. Vermögend oder möglich in allererstem Sinne wird etwas dadurch, daß es fähig ist, verwirklicht zu werden (τω ένδέχεσθαι ένεργησαι).
461
0 5, 1047 b 33.
462
Ygi fjjr daj begriffliche Voraussein des Akts vor der Potenz den ersten Teil von 0 8, insbesondere 1049 b 12 ff.
222
Akt und ousia
tenz). Dieses begriffliche Vorhersein des Akts impliziert jedoch nicht, daß etwas, um als potent zu gelten, immer im Akte sein muß. Eine solche Meinung, die Aristoteles in Θ 3 den Megarikern zuschreibt und die er kritisiert, würde es unmöglich machen, Begriffe wie Werden und Bewegung zu erklären. 463 Jemand, der als potentiell sitzend gilt, muß nicht immer aktual sitzen. Der Potenz-Begriff macht es ja gerade möglich, eine Tätigkeit auch dann auf etwas oder jemanden zu applizieren, wenn dieses Etwas oder dieser Jemand diese Tätigkeit gerade nicht ausführt. Die Tätigkeit des Sitzens kann auch dann von jemandem prädiziert werden, wenn er gerade steht, indem gesagt wird, daß er als Stehender potentiell sitzend sei. Mit dem Potenz-Begriff kann überhaupt erst von einer Bewegung geredet werden, die Aristoteles am Anfang von Buch III der Physik, das der Frage, was Bewegung als die άρχη dieser Wissenschaft sei 464 , nachgeht, aus der Differenz von Potenz und Akt heraus erklärt: Bewegung ist die Entelechie eines der Möglichkeit nach Seienden, sofern es ein solches ist 465 (201 a lOf.). Daher wird von Aristoteles der Begriff des Akts sowohl von dem Ausdruck Entelechie wie von dem Ausdruck Energeia her mit dem der Bewegung assoziiert. Denn aus der Bewegung heraus sei, so Aristoteles, der Akt-Begriff auch auf das übrige übergegangen, da vom Akt gelte, daß er am ehesten Bewegung sei (Θ 3, 1047 a 30-32). (Daß diese Herkunft des Akt-Begriffs aus der Bewegung eine Erklärung ist, mit der der Akt-Begriff nur in erster, aber keinesfalls in letzter Instanz erfaßt werden kann, daß der Akt-Begriff also nicht gänzlich mit dem der Bewegung zusammenfällt, ja letztlich über die Bewegung hinausgeht, ist in dem Kapitel »Der Gebrauch als Akt in der Differenz von Poiesis
Lehren wie die der Megariker, die zwischen Potenz und Akt nicht in der Weise unterscheiden wie Aristoteles, ja die im Grunde überhaupt nicht Potenz und Akt differenzieren, machen, so heißt es wörtlich, Bewegung und Werden zunichte (έξαιρουσι, Θ 3, 1047 a 14). Die Grundlage (άρχη) der Physik ist die Natur (dies ist in etwa die Quintessenz von Buch I der Physik); die Natur wiederum ist Grundlage der Bewegung (Qunitessenz von Buch II), und die Bewegung wiederum ist Übergang von der Potenz zum Akt. (Quintessenz des ersten Teils von Buch III). Was mit diesem Teilsatz »sofern es ein solches ist« (ή τοιούτον) gemeint ist, erklärt Aristoteles wenig später (201 a 29ff.). Gemeint ist, daß von Bewegung nur dann gesprochen werden kann, wenn das, was bewegt, was verwirklicht wird, mit Bezug auf diejenige Entität betrachtet wird, zu der es verwirklicht wird. Bei der Verwirklichung des Erzes ζ. B. kann nach Aristoteles nur dann von Bewegung geredet werden, wenn das Erz mit Blick auf die Statue betrachtet wird, zu der es verwirklicht wird, wenn das Erz also als potentielle Statue, nicht aber, wenn das Erz als Erz begriffen wird.
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und Praxis« dieser Arbeit bereits erläutert worden und wird in diesem Kapitel weiter unten nochmals bekräftigt werden). Daß der Akt nicht nur begrifflich, dem Logos nach, sondern auch wesensmäßig, i. e. der ousia nach, früher ist als die Potenz, kann mit einem Prinzip oder einem Begriff erklärt werden, aus dem der Akt-Begriff und die Ausdrücke, die Aristoteles fur ihn verwendet, erst voll verständlich werden, nämlich mit dem Prinzip des telos. Darauf, wie sehr das telos grundlegendes Prinzip für die aristotelische Philosophie ist, ist in dieser Arbeit mehrfach hingewiesen worden. Das telos ist nicht nur unter den vier Ursachen des Werdens und des Seins (neben der Material-, der Form- und der Bewegungsursache) die exponierteste; mit dem telos lassen sich sogar die Form- und Bewegungsursache auf einen Begriff bringen, wie Stellen wie Phys. II 7, 198 a 24ff. belegen, wo Aristoteles die Bewegungsursache und das Was-ist (= είδος = τηε, wie es anderen Orts heißt) mit dem telos als dem, womit Aristoteles Natur identifiziert 466 , zusammenfallen läßt. Beide Termini, die Aristoteles für den Begriff des Akts verwendet, der Terminus Energeia und der Terminus Entelecheia, werden aus ihrem Bezug auf das telos abgeleitet; ja aus diesem Bezug heraus konnte erst der Terminus Energeia auf den Terminus Entelecheia übergehen. 467 Das telos ist Akt: τέλος δ' ή
466
Vgl. Pol. I 2, 1252 b 32.
467
Met. Θ 8, 1050 a 21-23. Obwohl allgemein anerkannt ist, daß Energeia und Entelecheia synonym verwendet werden, so sehen doch einige Autoren terminologische Unterschiede in der ursprünglichen Bedeutung dieser Ausdrücke, die zuweilen im CA auch zutage treten. Danach bedeute Energeia Tätigkeit und Aktivität und Entelecheia das Resultat einer Tätigkeit. Der eine Ausdruck hat also einen mehr dynamischen, der andere einen mehr statischen Aspekt. Dabei gibt es jedoch Unterschiede in der Deutung der Energeia. Apostle hebt bei diesem Terminus mehr die Bedeutung der Bewegung hervor (Hippocrates G. Apostle, Aristotle's
Metaphysics,
a. a. O., 356, Anm. 12), während Ross
den Begriff der Energeia als einer »Bewegung« (movement), die nur zu sich selbst fuhrt, von der Bewegung (κίνησις) abgrenzt (Ross im Metaphysik-Kommentar, II 245). Am detailliertesten sind die Unterschiede zwischen den beiden Termini von Blair beschrieben worden (George A. Blair, »The Meaning of >Energeia>< and >Entelecheia< in Aristotle«, in: International
Philosophical
Quaterly
7 (1967), 101-117). Blair, der die
Verwendung der Ausdrücke im CA exakt auflistet, kommt zu dem Ergebnis, daß Aristoteles den Begriff Energeia zunächst - als biologisch orientierter Platoniker - im Sinne der Tätigkeit geprägt habe, dann aber, nachdem er mit der platonischen Theorie der Formen gebrochen und die eigene Lehre von Potenz und Akt entwickelt habe, den Begriff Entelecheia (den Blair als inneren Besitz des telos, »internal possession of the end«, bestimmt) erfunden habe, um ihn als Ausdruck fur das statische, ewige und un-
224
Akt und ousia
ε ν έ ρ γ ε ι α , und nur um des telos willen wird die Potenz erfaßt. 4 6 8 D i e Frage, was Potenz und was Akt ist, wird aus der Nähe zum telos entschieden, die zwei Begriffe oder »Dinge«, die aufeinander bezogen werden, haben. Sofern das eine um des anderen willen gedacht wird, ist dies die Potenz des andern, w i e das H o l z Potenz des Bettes, Ziegel Potenz des Hauses oder das Erz Potenz der ehernen Statue sind. D a ß das Tätig-, oder Im-Werk-Sein (en-erg-eia) als Im-Telos-Sein (en-telexeia) gedacht wird, macht Aristoteles an der Stelle deutlich, w o er den Vorrang des Akts vor der Potenz nach der Maßgabe der ousia, i. e. des telos, als das ousia gedacht wird, aufzeigt, in Θ 8, 1050 a 3 - 5 0 b 2. Danach kann sogar ein doppelter Begriff von Energeia angesetzt werden, ein Begriff von Energeia, bei dem die Verwirklichung von dem her gedacht wird, was verwirklicht wird, und ein Begriff von Energeia, bei dem die Verwirklichung von dem her gedacht wird, was verwirklicht. D i e s e Differenzierung entspricht exakt der Differenzierung, die in den Ethiken vorgenommen wird, um den Bereich, um den sich die Ethik dreht, den Bereich der Praxis als einer Tätigkeit, die um ihrer selbst willen und nicht um eines äußeren Resultats willen, in dem die Tätigkeit sich »verge-
veränderliche Korrelat zum Stoff als Potenz zu verwenden. In den späteren Schriften schließlich habe Aristoteles fast nur noch den Terminus Energeia (der in der Tat weit häufiger verwendet wird als der Terminus Entelecheia) gebraucht, in dem jetzt aber beide Bedeutungskomponenten zusammenfallen: die dynamische Bedeutung der Tätigkeit (fur die der Terminus Energeia ursprünglich reserviert war) und die statische Bedeutung des inneren Besitzes des Ziels (fur die der Terminus Entelecheia erfunden worden war). - An neueren Arbeiten zur Terminologie von Energeia und Entelecheia vgl. Enrico Berti, Der Begriff der Wirklichkeit in der Metaphysik des Aristoteles (ital. in: M. Sánchez Sorondo (Hrsg.), L'atto aristotelico e le sue ermeneutiche, Rom 1990, 43-62, in dt. Übersetzung in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher, a. a. O., 289-311), der nur in ihrem Bezug auf das telos von derselben Bedeutung der beiden Ausdrücke ausgeht, ansonsten aber wie die übrigen Interpreten die ursprüngliche Verschiedenheit der Ausdrücke darin sieht, daß der eine, der Ausdruck Entelecheia, eine eher statische Bedeutung habe. Darüber, ob dies zutrifft oder nicht, soll hier nicht entschieden werden (wenn Aristoteles in De an. II bei Bestimmung der Seele als Verwirklichung des Körpers (412 a 19-22) durchweg von Entelecheia spricht, so ist dies gerade ein Beweis dafür, daß mit Entelechie nicht ein Zustand, sondern eine Aktivität gemeint ist, es sei denn, man hätte einen sehr engen Begriff von Aktivität und wollte Tätigkeiten wie das Denken und Wahrnehmen nicht als solche anerkennen). Entscheidend ist hier der Aspekt des telos, und unter diesem Aspekt werden Energeia und Entelecheia unterschiedslos gebraucht. 468
Met. Θ 8., 1050 a 9f.
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
225
genständlicht«, vollzogen wird, von dem Bereich der Poiesis und Technik abzutrennen. Es gibt eine Energeia, so heißt es hier in Met. Θ 8, die in dem Hervorgebrachten (ëv τω ποχουμένω, 1050 a 31), und eine Energeia, die in der Tätigkeit selbst liegt (1050 a 35). Bei jener Energeia gibt es ein Werk neben dem ImWerk-sein; bei dieser ist das Werk das Im-Werk-Sein-Selbst. Bei jener Energeia ist das Im-Werk-Sein nicht um seiner selbst willen, das telos ist das Werk, auf das das Im-Werk-Sein orientiert ist; bei dieser ist das Im-Werk-Sein selbst telos seiner selbst. Die Energeia liegt bei jener Form als Entelecheia nicht in der das Werk hervorbringenden Tätigkeit, sondern in dem hervorgebrachten Werk; die Energeia bei dieser Form ist die Tätigkeit selbst. Die Tätigkeiten jener Form von Energeia sind die Tätigkeiten des kinetisch-poietischen Bereichs. Der Akt des Hausbauens liegt im Gebauten, der Akt des Webens im Gewebten und allgemein die Bewegung im Bewegten (1050 a 34). Die Tätigkeiten dieser Form von Energeia sind die Tätigkeiten des Bereichs der Eudaimonia (1050 b 1): Sehen, Denken und allgemein das Leben. Der Akt liegt in ihnen selbst, in den Tätigen selbst, im Sehenden, Denkenden oder allgemein in der Seele (1050 a 35-b 1). Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Diejenige Form des Akts, an der der Akt-Begriff in erster Instanz orientiert und mit der der Akt-Begriff zunächst assoziiert ist, die kinetisch-poietische Form des Akts, genügt, strenggenommen, der Forderung eines im Sinne des telos bis zu Ende gedachten AktBegriffs nicht mehr. Den Namen Energeia verdient diese Form des Akts nur von dem her, was es verwirklicht. Ja selbst den Namen der Ursache, des είδος und der ousia verdient, wie dies bereits angedeutet wurde, diese Form des Akts nur von dem von ihr Verwirklichten her. Innerhalb der owi/'a-Trias »Materie-ειδοςsynholon« ist der Endpunkt der Trias, das synholon, dasjenige, in bezug worauf die anderen beiden Teile der Trias, die die Bestimmungsgründe, die αιτία, für das synholon sind, ihre Position und ihr »Sein« erst erhalten. Eine Wirklichkeit und eine Form wird innerhalb dieser Trias, der Trias von zu Formendem und zu Verwirklichendem-Formendem und Verwirklichendem-Geformtem und Verwirklichtem, nur von dem Verwirklichten und Geformten her ausgesagt. Gleiches gilt natürlich auch für die in Analogie zur Trias »Materie-eiBoç-^Ao/o«« zu lesenden Trias »Gattung-Differenz-Art«. Die Gattung wird als das Allgemeine, das es zu konkretisieren, zu vereinzeln, zu formen und zu verwirklichen gilt, durch die form- und wirklichkeitgebenden Differenzen zu den είδη geformt und verwirklicht. Wie die Materie wird auch die Gattung nur in Hinsicht auf diese ausgesagt, mit denen sie potentia identisch ist. Dieser potentiale Bezug, der Gattung und Materie nur vom telos her, das sie selbst nicht sind, denken läßt, ist der Grund dafür, weshalb Aristoteles Materie und Gattung bisweilen als ousia fragwürdig macht. Wenn ousia konsequent als telos gedacht wird, dann sind
226
Akt und ousia
Materie und Gattung zwar immer nur in dem Verhältnis zu einer ousia, innerhalb einer oHJ/a-Trias, denkbar, aber als potentia »Seiendes« selbst nicht ousia. Das gilt dann aber auch für den Mittelbegriff der ousia-Trias. Denn konsequenterweise müßte auch dieser, obwohl oder gerade weil er das Verwirklichende ist, nicht als Akt, sondern als Potenz gefaßt werden. Indirekt tut dies Aristoteles auch. Am Anfang von Θ 7 wurde gefragt, ob die Erde potentia Mensch sei. Noch nicht, antwortet Aristoteles, vielmehr erst, wenn die Erde Same geworden sei, und selbst vielleicht dann noch nicht einmal (1049 a 1-2). Was dieses »vielleicht dann noch nicht einmal« bedeutet, wird wenig später deutlich. Der Same sei erst dann potentia Mensch, wenn er in etwas anderes (έν άλλω) gekommen sei (1049 a 14). Dieses andere sind unzweifelhaft die καταμήνια, der weibliche Stoff, den der Samen, wie Aristoteles in seinen biologischen Schriften (vgl. De gen. anim. I 17-23) ausfuhrt - ich hatte bereits darauf hingewiesen -, als der Formgeber zum neuen Lebewesen verwirklicht. Als dieser Formgeber, der dem Stoff Gestalt gibt und ihn zum synholon verwirklicht, wird er aber von Aristoteles nur potentia gedacht. Der Mensch (das synholon aus Same und weiblichem »Monatsblut«) sei der ousia nach früher als der Same; denn er, der Mensch, habe die Form (είδος), der Same hingegen nicht (Θ 8, 1050 a 5-7). Der Same verwirklicht und formt zwar den weiblichen Stoff zum Menschen; aber er ist nicht das, was er formt. Das von ihm Geformte und Verwirklichte ist er nur potentiell. Ebenso ist es zu verstehen, wenn Aristoteles sagt, daß Heilkunst und Baukunst in gewisser Weise (πως) das von ihnen Hervorgebrachte (Gesundheit auf der einen, Haus auf der anderen Seite) seien (Met. Λ 4, 1070 b 32). Wie Steine, Ziegel etc. in gewisser Weise, nämlich potentia, Haus sind, ist auch dasjenige, was die Steine, Ziege etc. zum Haus, i. e. zum Schutz für Leib und Ding, formt, die Baukunst oder der Hausbauer, der der Baukunst Kundige, potentia Haus. Aus dem in Θ 8, 1050 a 3-50 b 2 Gesagten ergibt sich aber noch eine weitere wichtige Konsequenz. Der Begriff der ousia wird in letzter Instanz von dem her gedacht, was dem ie/as-Sein genügt. Das ist aber nicht das ergon im ursprünglichen Sinne des Wortes, das Werk als Gegenstand, das Werk als Artefakt. Der Begriff der ousia und der des Akts bleibt vor wie nach am Tätigsein, am Handeln, an der Praxis orientiert. Es wird jedoch nicht die Tätigkeit, die nur um eines anderen willen ist (um eines ergon wie des Hauses oder der Gesundheit willen), sondern die Tätigkeit in den Mittelpunkt der Usiologie gerückt, die um ihrer selbst willen vollzogen wird. Und dies ist die Eudaimonia. Die Usiologie, die Rede von der ousia, mündet also in letzter Instanz in den Begriff der Eudaimonia. Wie anders soll es zu verstehen sein, wenn Aristoteles, nachdem er das wesens-, i. e. ous/'a-mäßige Vorhersein des Akts gegenüber der Potenz an der Form von Energeia deutlich gemacht hat, bei der die Tätigkeit die Energeia
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
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selbst ist, an der Eudaimonia also (1050 b 1), schlußfolgert, es sei evident, daß ousia und είδος Akt seien (1050 b 2)? Der entelechische Seinssinn, wie ich ihn nenne, der Seinssinn, in den notwendig der kategoriale Seinssinn mündet und von dem her dieser erst ganz verständlich wird, gestattet es, nicht nur das vom Denken Gedachte im Sinne der ousia zu denken, sondern auch das Denken selbst. Das um seiner selbst willen vollzogene Denken und Sehen, die Eudaimonia als reine Praxis, ist nicht nur nebenher, sondern in vollem Sinne ousia. Die Eudaimonia ist damit nicht nur das teleiotaton der Ethik, der praktischen Philosophie, sondern auch das teleiotaton der Metaphysik, der theoretischen Philosophie. In der Eudaimonia zeigt sich nicht nur die άρχη der Ethik (die Arete, deren Betrachtung notwendig in die Betrachtung der Eudaimonia einmündet), sondern auch die άρχή der Metaphysik, die ousia. Das wesensmäßige Voraussein des Akts gegenüber der Potenz konfundiert mit einem anderen Voraussein, das Aristoteles in Θ 8 im Anschluß an die Explikation des Vorausseins des Akts am Leitfaden von ousia und telos bestimmt: mit dem Voraussein der Unvergänglichkeit gegenüber der Vergänglichkeit. In den Ethiken wurden der theoretische, »epistemonische« und der praktische, »prohairetische« Vernunftteil der Seele nach der Maßgabe von Sein und Werden getrennt. Theoria im engeren Sinne zeichnet aus, daß das von ihr Gedachte sich nie anders verhalten kann. Die auf der Entscheidung beruhende Handlung (Praxis im engeren Sinne) zeichnet dagegen aus, daß die πρακτά, um die die Entscheidung kreist, sich immer anders verhalten können. In Θ 8 nun werden ebenfalls nach dieser Maßgabe der Akt als das Unvergängliche, Seiende, sich nie anders verhalten Könnende und die Potenz als das Vergängliche, Werdende, sich immer anders verhalten Könnende voneinander unterschieden. Das δυνατόν wird nicht nur in seinem Bezug auf den Akt-Begriff bestimmt, sondern auch als das, was sowohl sein als auch nicht sein kann: το [...] δυνατόν είναι ενδέχεται καί είναι καί μη είναι (Θ 8, 1050 b 1 If.). Es bleibt auch in diesem Sinne auf den AktBegriff bezogen, nämlich als das, was auch nicht verwirklicht werden kann (1050 b 10f.). Der Grund dafür ist, daß der Potenz-Begriff den des Widerspruchs und des Gegensatzes enthält: Jede Potenz, so heißt es, geht zugleich auf den (kontradiktorischen) Gegensatz (άντίφασις, 1050 b 8f.). Was heißt dies fur das teleiotaton der Metaphysik, fur den reinen Akt der Eudaimonia? Es heißt gewiß nicht, daß die Eudaimonia eine unvergängliche Tätigkeit ist. Es heißt auch nicht, daß die Eudaimonia als Tätigkeit des Denkens keine Gegensätze mehr zu denken vermöchte. Es heißt lediglich dies, daß das Denken als Eudaimonia in sich zur Ruhe, zum Stehen gekommen ist. Es ist der Veränderlichkeit, dem Immer-anders-sein-Können insofern enthoben, als es bei sich bleiben kann, als es nicht mehr nach einem Zweck fragen muß. Anders und negativ ausgedrückt: die Möglichkeit eines Mißlingens, eines Verfehlens des
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Akt und ousia
Zieles ist bei ihm nicht mehr gegeben; denn es ist sich selbst Ziel. Der Bau eines Hauses kann mißlingen. Der Hausbauende kann sein Ziel, das Haus (sofern seine Tätigkeit im wesentlichen durch dieses Ziel motiviert wurde), verfehlen. Das Haus kann zusammenstürzen oder gar nicht erst zustande gekommen sein. Die Tätigkeit, die in den Hausbau investiert wurde, war vergeblich. Beim bei sich bleibenden Denken, beim eudämonischen Akt hingegen kann es aus dem Grunde zu keiner vergeblichen Anstrengung kommen, weil die Tätigkeit, solange sie andauert, immer schon an ihrem Ende ist. Das Ziel ist jederzeit während der Tätigkeit erreicht. Der eudämonische Akt kann aussetzen oder aufhören; aber mit dem Aufhören ist nicht das Erreichen oder Nichterreichen eines Zieles verknüpft wie bei der Poiesis des Hausbauens. Über Erfolg oder Mißerfolg, über Verfehlen oder Erreichen des Zieles kann nicht während des Akts geredet werden. Im glücklichen Falle ist das Ziel, wenn die Bautätigkeit beendet ist (aber auch erst dann), erreicht. Die Möglichkeit des μη ένεργειν ist bei diesen Tätigkeiten immer da. Das bedeutet, daß etwas Mögliches eben nur möglicherweise verwirklicht werden, zu seinem Ziel, seinem telos gelangen kann. Die Eudaimonia ist einzig in diesem Sinne den poietisch-kinetischen Akten voraus, daß es bei ihr deswegen unmöglich ist, daß sie an ihr Ziel gelangen kann, weil sie, solange sie andauert, immer schon an ihrem Ziel ist. In einem anderen Sinne enthält aber der eudämonische Akt des Denkens sehr wohl auch die Möglichkeit der Gegensätzlichkeit und des Andersseins. Ja durch den Akt des Denkens selbst kann allererst von Bewegung, Veränderung und Gegensätzlichkeit überhaupt gesprochen werden. Auch der Übergang von Potenz zu Akt ist ein Übergang, den das Denken vollzieht. Die Ursache fur diesen Übergang ist - Aristoteles spricht es klar aus - , daß das Denken Energeia ist (Θ 9, 1051 a 31). Daß das Denken - und nur das Denken - auch die Gegensätzlichkeit enthält und hervorbringt, wird durch die Differenzierung von logischen (mit Denken verbundenen) und alogischen (nicht mit Denken verbundenen) Potenzen, die Aristoteles in Θ 2 vornimmt und die mit der in Θ 1 vorgenommenen Differenzierung von aktiven und passiven Potenzen korrespondiert, deutlich. Nach der Maßgabe der Fähigkeit zum Hervorbringen von Gegensätzen werden in Θ 2 diese beiden Formen von Potenz unterschieden. Die mit Vernunft, mit dem Logos verbundenen Potenzen gehen auf Gegensätzliches, die Potenzen ohne Logos hingegen immer nur auf eines. Die Wärme, exemplifiziert Aristoteles, geht immer nur auf das Warme, die Medizin, die Heilkunst, hingegen sowohl auf Gesundheit wie auf ihren privativen Gegensatz, die Krankheit. 469 Denn
469
Met. Θ 2, 1046 b 4-7.
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die Vernunft und die Wissenschaft macht den privativen Gegensatz durch Verneinung und Hinwegnahme (άποφορά) offenbar. 4 7 0 Anders als in und aus Gegensätzen wäre Denken und Wissen (επιστήμη) gar nicht möglich. Auch die ouy/a-Trias ist nur aus Gegensätzen heraus erfaßbar; denn Stoff und formierter Stoff, Stoff und Form sind Gegensätze. Der Stoff ist die Privation der Form. Von der ehernen Statue her gesehen kann das rohe, noch ungeformte Erzstück als die Privation, die Beraubung des Bildes oder Aussehens betrachtet werden, welches aus ihr gemeißelt wird. Das, was die Privation, die Aristoteles unter den Gegensätzen zuerst aufführt und von der er alle übrigen Formen von Gegensätzen abhängig macht, erzeugt, ist das Denken. Aristoteles bestimmt daher in Met. Γ 1 und 2 (die Argumentation in diesen Kapiteln ähnelt der Argumentation von Θ 2) die Metaphysik als Wissenschaft von Seiendem als solchem als ein Wissen aus und in Gegensätzen 471 . Es sei geradezu die Aufgabe des Philosophen als des Lebewesens, das das Seiende nicht nur ausschnittweise betrachtet wie der Geometer, die Gegensätze als solche zu untersuchen. Denn der Geometer untersucht anders als der Philosoph das Gegensätzliche, das Identische und das Andere allenfalls voraussetzungsweise (εξ υποθέσεως), aber nicht als den eigentümlichen Gegenstand seines Forschens. 472 Die Gegensätzlichkeit, die das Denken und nur das Denken in sich hat, ist mithin kein Makel, sondern das, was Wissenschaft und Philosophie ermöglicht. Das Denken, die Vernunft und insonderheit die philosophierende Vernunft ist der Hort der Gegensätze; ihr Akt ist das Denken von Gegensätzen, aus denen heraus die von mir beschriebenen Relationen innerhalb der ows/a-Trias erst ersichtlich werden (auch die Kategorie der Relation selbst wird von Aristoteles als eine Form von Gegensatz beschrieben 473 ). Wenn das Hervorbringen der Gegensätze als Vermögen, als Potenz des Denkens beschrieben wird, so bedeutet das nicht, daß die Gegensätzlichkeit nicht aktual gedacht werden könnte. Die Gegensätze können nur in einem ganz bestimmten Sinne nicht zugleich Wirklichkeit werden, nämlich in dem Sinne der auf Entscheidung beruhenden Wirklichkeit, in der Wirklichkeit der π ρ α κ τ ά und 470
Ebd., 1046 b 14.
471
Vgl. innerhalb dieser Kapitel u. a. 1005 a 2ff.: »Es ist daraus evident«, sagt Aristoteles resümierend, »daß es einer Wissenschaft zukommt, das Seiende qua Seiendes zu untersuchen [eine Aufgabe, die Aristoteles zuvor dem Philosophen zugewiesen hatte (1003 b 18) - W. S.]. Alles ist nämlich entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen.« Ebd., 1005 a 11 ff.
472 473
Met. I 4, 1055 b 1. Neben der Relation und der Privation werden von Aristoteles der Widerspruch und der konträre Gegensatz als die vier Formen von Gegensätzen aufgeführt (ebd.).
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Akt und ousia
der π ρ ά γ μ α τ α , in dem Wirklichkeitsbereich von Poiesis und Praxis (Praxis in engerem, in ethischem Sinne, in »prohairetischem« Sinne). Das, was die Gegensätze hindert, zugleich zur Wirklichkeit zu kommen, sind - so Aristoteles in Θ 5 (1048 a 8-11) - Begierde (ορεξις) und Entscheidung (προαίρεσις). Die Heilkunst kann zwar mit dem Begriff der Gesundheit zugleich den ihres privativen Gegensatzes, den Begriff der Krankheit, mitdenken (sie muß sogar, wenn sie heilen will, beide Gegensätze zugleich erfassen; denn im Blick auf die Gesundheit als das telos des Heilungsprozesses behandelt sie den Kranken; sie hat, wenn sie den Kranken und seine Krankheit vor sich hat, das είδος der Gesundheit immer mit im Blick), aber sie kann bei dem konkreten Patienten, den sie vor sich hat, nicht beides zugleich, Krankheit und Gesundheit, zumindest nicht in derselben Hinsicht 474 , bewirken, und sie kann sich nicht für beides zugleich entscheiden. Die wesentliche Ursache, das κΰριον, wie Aristoteles sagt (1048 a 10), für die Unmöglichkeit, die Gegensätze zugleich Wirklichkeit werden zu lassen, ist die Entscheidung, das, was in der Ethik als deren eigentümlicher Quell, von dem her Phronesis und Arete erst erfaßbar werden, herausgearbeitet wurde. Diese Unmöglichkeit bedeutet aber nicht, daß das Denken nicht fähig wäre, seine Gegensätze an sich selbst Wirklichkeit werden zu lassen; denn dies war ja in Θ 2, 1046 b 18-20 vom Denken und Wissen ausdrücklich gesagt: »der Wissende bringt die Gegensätze hervor« (ποιεί, b 18). Wenn die Gegensätzlichkeit des Denkens in Θ 5 vor wie nach behauptet, aber jetzt als unmöglich dargestellt wird, daß das Denken die Gegensätze hervorbringe (ποιήσει, 1048 a 9), so kann dies nur heißen, daß das Verb »hervorbringen« (ποιειν), das beide Male verwendet wird, im zweiten Falle eine andere Bedeutung hat, nämlich die des Hervorbringens in die »pragmatische« Wirklichkeit, in die Wirklichkeit der »Einzeldinge«. Die Energeia, die die Gegensätzlichkeit des Logos aufhebt, trennt und vereinzelt zur einzelnen, auf Entscheidung beruhenden Tat. Die Unmöglichkeit, daß die Gegensätze des Denkens zugleich Wirklichkeit werden,
Auf dieses »nicht in derselben Hinsicht« ist hier, wie später, im III., zusammenfassenden Teil, bei Besprechung des Satzes vom Widerspruch noch gezeigt werden wird, die größte Aufmerksamkeit zu legen. Es kann sehr wohl sein, daß ein Arzt zugleich Gesundheit und Krankheit bewirkt und sich sogar für beides zugleich entscheidet, dann nämlich, wenn eine Krankheit als unvermeidbare Folge des Heilungsprozesses (als Nebenwirkung, wie man heute sagt) entsteht. Allerdings war diese neu entstehende Krankheit nicht das Ziel des Heilungsprozesses; Ziel des Heilungsprozesses war die Therapie der vorliegenden Krankheit, die auch, wenngleich mit Inkaufnahme einer anderen Krankheit, geheilt worden ist oder die zu heilen sich der Arzt entschieden hatte. Und allein in bezug auf diese Krankheit hat der Arzt nicht die Freiheit, sich zugleich fur und gegen ihre Therapierung zu entscheiden.
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bezieht sich mithin nur auf die Wirklichkeit der π ρ ά γ μ α τ α , der »Dinge« des entscheidungsrelevanten Bereichs des Handelns, dessen, was in der Ethik als Poiesis und Praxis bezeichnet wird. Das Denken ist Potenz nur von dieser Energeia her, von der Energeia, die das Denken durch Begierde und Entscheidung (ich lese das ή in 1048 a l l i. S. einer Adjunktion) zur Wirklichkeit der »Einzeldinge« abtrennt und es zum poietischen und/oder praktischen Denken (praktisch im engeren Sinne, im Sinne der Ethik) macht. Sofern das Denken aber um seiner selbst willen ist und als entscheidungsloses nicht in die pragmatische Wirklichkeit verwirklicht wird, ist es an sich selbst Wirklichkeit, Akt, Energeia. Andernfalls müßte man dem göttlichen Denken, von dem in EN gesagt wird, daß es sowohl von der Poiesis wie von der entscheidungsrelevanten Praxis getrennt ist 475 , die reine Aktualität, ja die Aktualität überhaupt absprechen. Denn es heißt in EN ausdrücklich, daß nach Abzug des Hervorbringens (ποιειν) und des entscheidungsrelevanten Handelns (πράττειν) nur die Theorie als Energeia übrigbleibt, die ενέργεια θεωρητικη des Gottes (1178 b 22). Daß mit der Eindeutigkeit herstellenden Wirklichkeit nur eine ganz bestimmte Wirklichkeit gemeint ist, nämlich die auf Entscheidung beruhende Wirklichkeit der π ρ ά γ μ α τ α , geht auch aus dem Kapitel 9 von Buch Theta hervor. In diesem Kapitel geht es um das Besser- und das Schlechtersein des Akts gegenüber der Potenz. Entgegengesetzte Akte können deswegen nicht zugleich vorliegen, weil die Gegensätze nicht zugleich vorliegen können (1051 a 12). Verwirklicht werden kann immer nur die eine Seite des Gegensatzes. Entweder es wird das Gute (ζ. B. Gesundheit) oder es wird das Schlechte (ζ. B. Krankheit als privativer Gegensatz der Gesundheit) verwirklicht. In jenem Falle ist der Akt besser als die Potenz (das aktual Gesunde ist besser als das nur potentiell Gesunde), in diesem Falle hingegen ist der Akt schlechter als die Potenz (das aktual Kranke ist schlechter als das nur potentiell Kranke). Aber dies gilt nicht fur jeden Akt. Einen solchen Akt nämlich, der schlechter ist als das, was er verwirklicht, gibt es beim Unvergänglichen nicht, bei dem also, was sich niemals anders verhalten kann, und zwar deswegen nicht anders verhalten kann, weil es immer schon an seinem Ziel ist, mithin zum Mißlingen des Akts gar nicht fähig ist. Es sei daher evident, so Aristoteles, daß es ein κακόν außerhalb der π ρ ά γ μ α τ α , des entscheidungsrelevanten Bereichs des Handelns, nicht gebe (1051 a 17f.). Wenn Aristoteles also in bezug auf die Verwirklichung des Schlechten sagt, daß das Schlechte qua Akt später sei als die Potenz, und daraus folgert, daß beim Unvergänglichen (dem sich nicht anders verhalten Könnenden) nichts Schlechtes sei 4 7 6 , so muß dies nicht als ein logischer Widerspruch, als ein Irrtum der Äqui-
475
EN X 8, 1178 b 20-22.
476
Met. 0 8, 1051 a 18-21.
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Akt und ousia
vokation (a fallacy of equivocation), wie Ross will, gelesen werden, der darin besteht, daß Aristoteles allgemein den Akt der Potenz vorausgehen läßt, hier aber das Verhältnis umdreht. 477 Was nämlich zur Verwirklichung des Schlechten fuhrt, ist die Privation des Guten. Die Privation ist aber begrifflich später als das, dessen Privation sie ist. Unpriviert ist hingegen die ihr telos gänzlich in sich habende Tätigkeit, der reine Akt des Unvergänglichen. Dieser reine Akt bleibt also vor wie nach früher als die Möglichkeit, nämlich als die Möglichkeit seiner Beraubung und damit auch früher als die Verwirklichung dieser Möglichkeit. Man findet dann keinen Widerspruch in dem, was Aristoteles hier sagt, wenn man von unterschliedlichen Formen von Akt ausgeht, was Ross nicht tut. Daß der Akt früher sei als die Potenz, gilt nur fur alle die Formen von Akt, bei denen keine Privation verwirklicht wird. Diejenigen Formen von Akt aber, die eine Privation verwirklichen, gründen begrifflich in letzter Instanz auch in einem Akt, nämlich im unprivierten, reinen Akt. Die eine Privation verwirklichenden Akte finden nur im Bereich der π ρ ά γ μ α τ α statt, im Bereich des entscheidungsrelevanten Handelns, im Bereich von Praxis und Poiesis. Sofern das Denken zur poietischen Tätigkeit wird oder sofern der reine eudämonische Akt des Denkens eingeschränkt oder unmöglich gemacht wird, indem die allgemein seelischen und leiblichen Voraussetzungen, auf denen die Eudaimonia beruht, durch exzessiven Gebrauch bestimmter seelischer und leiblicher Potenzen zerstört werden (wie der exzessive Gebrauch des Tastsinns beim akrates und beim akolastos diesen und damit auch seine Verwirklichung - und die Verwirklichung der anderen seelischen Vermögen - beseitigt), kann die Verwirklichung schlechter und später sein als das, was sie verwirklicht. Daß sie aber später und schlechter ist, rührt daher, daß sie das nicht zur Entfaltung kommen läßt, was ihr begrifflich vorausgeht, nämlich den reinen Akt des Denkens. Der eudämonische Akt des Denkens schließt also nicht Gegensätzlichkeit, Bewegung und Anderssein aus. Daher ließ sich ja auch nicht in der Ethik die Trennung von theoretischem und »praktischem« Vernunftteil der Seele nach dem Maßstabe der Unveränderlichkeit, wie in Teil I der Arbeit gezeigt wurde, in Reinheit durchführen. Er schließt sie nur in dem Sinne aus, daß er sie nicht in die entscheidungsrelevante Wirklichkeit hinein, in die Wirklichkeit von Poiesis und Praxis, verwirklicht. Das eudämonische Denken, das selbst als ihr eigenes telos seiende Wirklichkeit ousia ist, bleibt auf die Strukturen von ousia, die bisher herausgearbeitet wurden, notwendig bezogen. Die ousia wird von ihm nach wie vor im Sinne der Potenz-Akt-Differenz, der Materie-eiôoç-Differenz und damit in den triadischen Strukturen »Materie-e'iöoς-synholon« und »Gattung-Differenz-Art« gedacht. Nur es selbst läßt sich als reines, bei sich bleibendes, um
477
Ross im Kommentar zur Metaphysik, a. a. Ο., II 268.
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seiner selbst willen vollzogenes Im-Werk-Sein nicht mehr in triadischen Strukturen denken, weil es im Sinne dieser Trias nichts bewegt. Es bewegt kein zu Verwirklichendes zu einem Verwirklichten; denn dann wäre es wie die Bauoder Heilkunst - sofem diese Künste durch das von ihnen herzustellende Werk, Haus und Gesundheit, einzig oder hauptsächlich motiviert sind - um des von ihm Verwirklichten willen und damit nicht mehr telos seiner selbst. Das eudämonische Denken ist aber auch nicht ousia im Sinne des Verwirklichten, des synholon·, denn dann verdankte es sein Wirklich- und Beisichsein einem anderen, so wie das Haus sein Wirklichsein dem Hausbauer verdankt. Der Begriff der ousia muß also differenziert werden. Die Differenzierung erfolgt in Hinsicht auf die vom Denken und von der Rede hergestellten Beziehungen. Die ousia muß unterschieden werden in das vom Denken Gedachte und von der Rede Beredete - in diesem Sinne ist ousia in triadischen Strukturen zu denken - und in das Denken und die Rede selbst, d. h. in das Tätigsein, die Praxis (Praxis in weiterem Sinne, im Sinne von Met. Θ 6, im Sinne der um ihrer selbst willen vollzogenen Tätigkeit). Hier kann von einer Potenz-Akt-Beziehung nur bedingt geredet werden, und zwar nur noch in »psychologischem« Sinne, in dem Sinne, daß das Denken als Verwirklichung eines Seelenvermögens, der Denkpotenz, des Denkvermögens, bezeichnet wird, das aber insofern, als es verwirklicht wird, nicht mehr als Materie gedacht werden kann. 478 Das reine, um seiner selbst willen vollzogene Tätigsein verwirklicht nichts, was als Materie gedacht werden könnte. Es ist weder είδος i. S. des Mittelbegriffs der ous/a-Trias »Materie-e'iôoç-s^nAo/o«« noch synholon. Denn es ist in viel grundlegenderem Sinne telos als das synholon. Selbst vom synholon läßt sich noch ein telos außerhalb seiner selbst denken, ein telos als Tätigsein und Praxis. Das synholon »eherne Statue« kann um des ästhetischen Genusses willen betrachtet werden, der beim Sehen derselben entsteht, - das synholon »Haus« um seines Bewohntwerdens willen, das synholon »Eis« um seiner wissenschaftlichen Betrachtung willen, i. e. um des Interesses willen, das Denken und Wissen an ihm haben, das synholon »Mensch« schließlich um seines idion ergon willen, womit wir mitten in der Ethik wären und womit gezeigt wäre, daß die ousia in ihrer triadischen Struktur notwendig auf die sie in diesem Sinne denkende Tätigkeit des Redens und Denkens, auf die Eudaimonia, und umgekehrt die Eudaimonia, das reine denkerische Tätigsein, auf das von ihr Gedachte verweisen. Denn das idion ergon des synholon »Mensch«, in dem die Arete gründet, ist das Den-
Wie das Denken als Verwirklichung des Denkvermögens, des νους, bezeichnet werden kann, macht der »theologische« Teil der Metaphysik, das Buch Lamba, deutlich. Die Verwirklichung des νους, heißt es dort (c. 7, 1072 b 27-28), ist Leben; Gott aber ist die Verwirklichung. Seine Energeia ist an sich selbst das beste und immerwährende Leben.
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ken, das um seiner selbst willen vollzogene, damit reiner Akt, reine ousia seiende Denken, das sich zum »Gegenstande« die synhola macht, welche es als οϋσίαι in einer von ihm selbst gesetzten triadischen Struktur denkt. Im Sinne dieser fundamentalen Differenz von Denken und Gedachtem, von ousia qua Tätigsein (Eudaimonia) und ousia qua Gegenstand dieses Tätigseins, ist auch die Differenz von Praxis und Poiesis, Sein und Werden, reiner Energeia und Bewegung zu verstehen. Die ousia qua Gegenstand des Denkens wird als in Bewegung befindlich gedacht. Eudämonisches Denken bewegt zwar nicht das von ihm Gedachte, aber es denkt es in einer Struktur, die an der Bewegung und an der Poiesis orientiert ist. Anders ist es auch nicht zu verstehen, wenn Aristoteles in Met. Ζ 7-9 die Struktur der ousia-Trias aus der Poiesis und der Bewegung heraus entwickelt 479 (in Ζ 7, 1032 b 10 werden Poiesis und Bewegung gleichgesetzt) und die Beispiele für die ows/'a-Trias sehr oft der Welt der Technik und Poiesis entlehnt (in Ζ 9, 1034 a 24 wird die τέχνη selbst als ε'χδος bezeichnet). Und anders ist es auch nicht zu verstehen, wenn die Energeia zuallererst mit der Bewegung assoziiert wird und Aristoteles den Akt-Begriff zuweilen so sehr auf den Bewegungsbegriff einengt, daß er wie in Met. Θ 3, 1047 a 32-35 dem Denkbaren und Begehrbaren, weil es unbewegt ist, die Seiendheit abspricht, während in Λ Denk- und Begehrbares, i. e. der Gegenstand seelischer Akte, als unbewegt Bewegendes im Begriff des Seins als reiner Akt geradezu gipfelt. Es ergibt sich somit das Paradoxon, daß ein Unbewegliches und selber nicht und nichts Bewegendes, die ousia qua Theoria und reines Tätigsein, die ousia qua Eudaimonia, nicht nur Bewegung, Andersheit und Gegensätzlichkeit zu denken vermag, sondern daß diese ousia allererst den Begriff von Bewegung, Andersheit und Gegensätzlichkeit hervorbringt. Theoria und Bewegung sind
Man vergleiche dazu insbesondere Ζ 7, 1032 b 14-17. Nachdem Aristoteles die ousia als τηε ohne Materie bestimmt hat, differenziert er die Bewegung zum einen als Denken und zum anderen als Poiesis. Denken (νόησις) sei die Bewegung als Denken vom Anfang und vom Eidos her und Poiesis die Bewegung vom Ende des Denkens her. Damit dem Stoff eine Gestalt gegeben werden könne, bedarf es also eines Denkens der Gestalt. Die Gestalt, die Form muß gedanklich entworfen sein, wenn sie in die Tat umgesetzt werden soll. Die Tätigkeit als Ausführung des Gedachten setzt ein, wenn gleichsam die Konstruktion am Reißbrett beendet ist. Damit ist aufs genaueste die διάνοια ποιητική beschrieben, die Aristoteles in Met. E 1 (1025 b 25f.) und EN VI 2 (1139 a 27-29) neben der praktischen Vernunft (διάνοια πρακτική), der Vernunft der Ethik, und neben der theoretischen Vernunft (διάνοια θεωρητικη), der Vernunft von Mathematik, Physik und Metaphysik, auffuhrt. Im Unterschied zu den anderen beiden Formen des Denkens ist diese Form der Vernunft ein Denken, das auf ein Ziel hin orientiert ist, das außerhalb seiner selbst ist.
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Korrelate. In dieser Korrelation wird theoretisches Denken von Aristoteles allgemein gefaßt. Die Physik, so sagt Aristoteles in Met. E 1, wo er die διάνοια θεωρητική in Physik, Mathematik und die Erste Philosophie (Metaphysik) unterteilt, ist Theorie in bezug auf etwas, was zur Bewegung fähig ist, und in bezug auf die begriffliche ousia (ουσία ή κατά τον λόγον, 1025 b 26-28). Dies hat sie mit dem, was in der Metaphysik, der Lehre vom Seienden als Seiendem, behandelt wird, gemein. Worin aber die Metaphysik oder die Erste Philosophie über die Physik hinausgeht und was sie zur »theologischen« Wissenschaft oder Philosophie macht 480 , ist, daß diese auch die Tätigkeit, welche den ous/a-Begriff von Bewegung und Poiesis her in den Differenzen von Potenz und Akt, Materie und είδος und in seiner triplizitären Struktur denkt, mit in den owj/a-Begriff einbezieht. Sowohl die Physik als auch die Metaphysik sind, so kann man sagen, Usiologie. Die Metaphysik schließt darüber hinaus aber auch die Usiologie selbst, die »Rede« von der ousia, als reines Tätigsein, als um seiner selbst willen vollzogenes Denken, als Eudaimonia, als ousia par excellence ein. »Theologisch« ist die Erste Philosophie deshalb, weil sie dieses reine Tätigsein, die Eudaimonia, in Reinheit nur Gott (oder den Göttern) zuspricht. Inwieweit die Eudaimonia auch den Menschen als die Praxis, in der sie ihr idion ergon am ehesten verwirklichen können, zukommt, und welche Voraussetzungen nötig sind, damit die Menschen ihr idion ergon im Sinne des bios theoretikos verwirklichen können, ist Gegenstand der praktischen Philosophie, der διάνοια πρακτική, der Ethik.
Reine Potentialität und reine Aktualität. Reine Materie und reine ousia als Extreme der Gesamtheit des Seienden Die Untersuchungen des letzten Abschnitts haben gezeigt, daß es nicht nur möglich ist, die ousia innerhab einer triadischen Struktur zu entfalten, sondern daß auch einzelne ousia-Triaden aufeinander bezogen werden können, so daß etwas, was in der einen Hinsicht als Materie gedacht werden kann, in einer anderen Hinsicht synholon und Form sein kann, und umgekehrt.481 Darüber hinaus 480
Aristoteles trennt in Met. E 1 die »theroetischen Philosophien« (φιλοσοφίαι θεωρητικού) als mathematische, physische und theologische voneinander ab (1026 a 19).
481
Richtig hat dies Viertel erfaßt. »Stoff- und Formursache«, sagt er, »sind die jeweilige Form und der jeweilige Stoff. Ein und dasselbe kann fur das eine Stoff-, für das andere Formursache sein. Es gibt nicht die Formursache schlechthin (abgesehen vom göttlich Seienden) oder die Materialursache schlechthin, sondern beide sind immer nur Ursache von [...]« (Der Begriff der Substanz bei Aristoteles, a. a. 0 . , 290f.).
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Akt und ousia
wurde gezeigt, daß es auch möglich ist, über die triadisch strukturierte ousia selbst hinauszugehen, indem durch konsequentes Stellen der WorumwillenFrage, der Frage nach dem telos, etwas als ousia erscheint, was als um seiner selbst willen Seiendes, als etwas, was sein telos in sich selbst hat, weder als Materie noch als synholon und Form gedacht werden kann, zumindest nicht als Form im Sinne von species und im Sinne des αίτιον του είναι fur ein synholon. Was den Bezug einzelner ousia-Triaden aufeinander betrifft, so kann dies an den Beispielen der Erzeugung eines Lebewesens und der ehernen Statue illustriert werden. Stoff und Anfang der Trias sind in dem einen Falle das weibliche »Monatsblut«, in dem anderen Falle Erz. Beide aber, sowohl Blut als auch Erz, können sich wiederum als das Ende, als Form und Verwirklichung einer anderen ousia-Trias zeigen. Der Bezug der ows/a-Triaden aufeinander läßt sich an einem Stufenmodell darstellen. Blut und Erz sind auf der Stufe der sog. Homoiomere, der aus gleichen Teilen zusammengesetzten und gemischten Stoffe 482 , die aus den vier Elementen Feuer, Erde, Luft, Wasser hervorgegangen sind. 483 Sie erscheinen also auf einer differenzierteren Stufe als die vier Elemente, als deren Verwirklichungen sie gedacht werden können. Das Erz entsteht aus Erde und Wasser durch Wärme 484 ; Blut und Samenflüssigkeit entstehen aus Erde, Wasser und Luft, das faserige Blut entsteht aus durch Kälte erstarrter Erde 4 8 5 Die vier Elemente sind zwar auf einer unteren Stufe als die Homoiomere und sind für diese Stoff, können aber innerhalb einer anderen OHs/a-Trias synholon und Form sein, weil sich auch ftir sie ein Substrat ausfindig machen läßt, als dessen Verwirklichung sie gelten können. Die Elemente können zwar hinsichtlich ihres Gewordenseins als auseinander entstehende erklärt werden; gleichwohl gibt es aber für sie ein hypokeimenon, etwas, was ihnen gegenüber Stoff ist. Aristoteles erläutert dies in De gen. et corr. expressis verbis in triplizitärer Weise: Das erste sei als der Anfang (άρχη) potentia wahrnehmbarer Körper, das zweite seien die konträren Gegensätze (έναντιώσεις) und, wie es weiter unten (329 b 19) heißt, Differenzen wie Wärme und Kälte, und das dritte schließlich seien Feuer, Wasser und dergleichen, also die vier Elemente, die sich ineinander verwandeln (II 1, 329 a 33-29 b 1). Wie diese Verwandlung der vier Elemente im Sinne eines Kreislaufs im einzelnen geschieht, wird in den folgenden Kapiteln des zweiten Buchs von De gen. et corr. erläutert. Das Stufenmodell hat bei diesem ersten Stoff als der Unterlage für die vier Elemente, aus denen sich die Homoiomere zusammensetzen, nach unten hin sein 482
Vgl. Degen, et corr. 1 10, 328 a 10.
483
Vgl. Meteor. IV 12, 389 b 27-31.
484
Ebd., IV 10, 389 a 8-10.
485
Ebd., 389 a 19-21.
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Ende, zumindest in De gen. et corr. Nach oben hin kann freilich über die Stufe der Homoiomere noch hinausgegangen werden. In De part. anim. II 1 (646 a 13b 11 ) spricht Aristoteles von drei Arten von Körperzusammensetzung. Die erste Art besteht aus den vier Elementen einschließlich ihrer Differenzen (»warmkalt«, »feucht-trocken«) und der aus diesen hervorgehenden Differenzen wie »schwer-leicht« und »dicht-dünn«; die zweite Art besteht aus den Homoiomeren, die auch bei den Lebewesen vorkommen (zu den Homoiomeren zählen nicht nur die Metalle, sondern auch Blut, Fleisch und Knochen), und als die dritte Art von Körperzusammensetzung schließlich fungieren die sog. Anhomoiomere, die ungleichartigen Teile wie Gesicht, Hand und dergleichen. Werden und Sein, γένεσις und ουσία, verhalten sich dabei umgekehrt. Das, was dem Werden nach früher ist, ist dem Sein oder vielmehr der Seiendheit nach später, und umgekehrt ist das, was dem Sein nach früher ist, dem Werden nach später. Wie das Haus nicht um der Steine und Ziegel willen, sondern diese um des Hauses willen sind, ist der »Urstoff« als ά ρ χ ή des Werdens das letzte dem Sein nach; denn dieser ist um der vier Elemente, diese um der Homoiomere und diese um der Anhomoiomere willen, die das telos und das Ende dieses Stufenmodells nach oben und damit den Anfang von der ousia her bilden. 486 Ein Ende und telos sind die Anhomoiomere, mit denen auch die Artefakte verglichen werden können als Schöpfungen solcher Anhomoiomere wie der Hand 4 8 7 , nur innerhalb des triplizitär strukturierten Stufenmodells, das lediglich fur die natürlichen und, wenn man die Artefakte einschließen will, technischen Körper Geltung hat. Stellt man aber die Worumwillen-Frage auch bei den Anhomoiomeren und den Artefakten, so kommt man über diese und damit über das Stufenmodell und damit über die triplizitär strukturierte ousia hinaus und gelangt zu einer Tätigkeit, zu einer Energeia und Entelecheia, die nicht mehr wie
ταύτα (sc. άνομοιομερη) γαρ ήδη τό τέλος έχει και το πέρας, 646 b 9. Daß auch die Artefakte auf die Stufe der Anhomoiomere gehoben werden können, geht aus einem Vergleich hervor, den Aristoteles in Meteor, macht. Wie die Ursache dafür, daß etwas Erz oder Silber wird, Kälte, Wärme und Bewegung sind (= die formgebenden Agentien, die aus den Elementen die Homoiomere entstehen lassen), aber nicht dafür, daß etwas Säge, Schale oder Kasten wird, so sind fur die Anhomoiomere auch nicht mehr Kälte, Wärme etc. Ursache, sondern die Natur oder dergleichen (IV 12, 390 b ΙΟΙ 4). Das tertium comparationis sind die Differenzen Kälte und Wärme, mit denen weder die Anhomoiomere noch die Artefakte Säge, Kiste etc. erklärt werden können, weil diese auf einer höheren, genau auf der nächsthöheren Entwicklungsstufe sind als die Homoiomere wie Silber und Erz, die mit besagten Differenzen noch erklärt werden können. Daß die Ursache für die Artefakte nicht die Natur ist, ist klar. Es ist aber etwas der Natur Analoges: die τέχνη als die Nachahmung der Natur.
238
Akt und ousia
die Elemente gegenüber dem Urstoff oder die Anhomoiomere gegenüber den Homoiomeren synholon für eine Materie sind. Worumwillen ist die eherne Statue? Um ihres Gesehenwerdens willen. Worumwillen ist das Lebewesen als Körper? Um der Seele willen. Denn die Seele ist die Entelechie des Körpers, dem die Möglichkeit des Lebens einwohnt (De an. II 1, 412 a 27f.). Seele kann aber nicht als synholon verstanden werden wie der Körper, dessen Verwirklichung sie ist, sondern als Tätigkeit, als Funktion der körperlichen Organe. »Denn wenn das Auge Lebewesen wäre [i. e. ein zum Leben fähiger Köper], dann wäre dessen Seele das Sehen. Denn das Sehen ist die begriffliche ousia des Auges« (ebd., 412 b 18-20). Auch in dem Falle, wo über die triplizitär strukturierte ousia hinausgegangen wird, kann zwar noch von den Differenzen PotenzAkt und Materie-e'iôoç geredet werden (die Seele ist Akt und είδος des zum Leben fähigen Körpers als der Potenz und der Materie); aber es kann nicht mehr - oder nicht mehr in jeder Hinsicht - in dem Sinne von είδος gesprochen werden, daß es die Verwirklichung eines potentia Seienden zu einem synholon wäre. Die synhola werden angesichts einer als telos gedachten Tätigkeit allesamt zu όργανα, zu Instrumenten, welche ihre Wirklichkeit in der Seele und ihren Tätigkeiten haben (Tasten, Begehren, Sehen, Denken etc.). Um seiner selbst willen zu sein kommt aber nur menschlichen (und göttlichen) Seelentätigkeiten zu. Solche ihr telos in sich selbst habenden Tätigkeiten der Seele heißen Eudaimonia. Eudämonisch sind aber nicht alle Seelentätigkeiten. Sofem ein Tätigsein nicht durch sich selbst motiviert wird, ist es Poiesis. Thomas von Aquin hat daher völlig richtig zwischen der Seele und der Eudaimonia als unterschiedlichen τέλη differenziert, und zwar in dem Sinne, daß die Eudaimonia das größere telos ist, dasjenige, auf das die Seele als auf ihr telos letztlich zu beziehen ist: finis enim generationis hominis est anima, finis vero operationis eius est felicitas,488 Thomas kommentiert mit diesen Worten 1044 b 1 von Met. H 4. Es geht an dieser Stelle um die Frage der vier Kardinalursachen von Physik und Metaphysik, die am Lebewesen Mensch erläutert werden. Stoffursache seien die καταμήνια, Bewegungsursache der Samen, Formursache das τη ε und Finalursache das Umwillen-von. Zeile 1044 b 1 identifiziert diese beiden letzten, hier in bezug auf den Menschen sehr unbestimmt formulierten Ursachen. »Vielleicht«, sagt Aristoteles, »sind diese beiden [τη ε und telos] dasselbe.« Thomas interpretiert dieses Vielleicht dahin, daß das Zusammenfallen von Zweck und Form nicht generell gelte. Bisweilen fallen sie zusammen, bisweilen fallen sie nicht zusammen. Und dann läßt er die oben zitierten Worte folgen, die in diesem Zusammenhang so zu verstehen sind, daß im Falle der Seele Zweck und Form zusammenfallen (die Seele ist zugleich Form und Zweck des Lebewe-
488
In Met. VIII lc. 4, n. 9.
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
239
sens Mensch), im Falle der Eudaimonia 489 als des telos der Seele hingegen nicht. Dies steht zwar im Widerspruch zu Θ 8, 1050 b 1-2, wo ousia und είδος als Akt von der Eudaimonia aus gedacht werden, macht aber deutlich, daß die Eudaimonia erstens das letzte telos alles Seienden ist und daß sie zweitens in noch größerem Maße als die Seele von den synhola entfernt ist oder daß sie, besser gesagt, noch viel weniger als die Seele als αίτιον του είναι (was die Seele im Sinne poietischer Tätigkeiten ist), i. e. als Formierung im Sinne des Werdens und der Bewegung gedacht werden kann. Wenn man über das Stufenmodell, mit dem Aristoteles das Werden der (natürlichen wie technischen) Körper erklärt, hinaus bis zur Eudaimonia als dem letzten telos alles Seienden geht, hat man so etwas wie die Gesamtheit alles Seienden. Maßgabe fìir die Erfassung dieser Gesamtheit ist das telos. Die Extreme der Gesamtheit lassen sich danach auf der einen Seite als das beschreiben, was überhaupt kein telos in sich hat, i. e. was ausschließlich um eines anderen willen gedacht wird, und auf der anderen Seite als das, was alles telos in sich hat und um keines anderen willen mehr gedacht wird. Aristoteles gibt in der Tat an einer Stelle innerhalb der Meteorologie eine solche, am Leitfaden des telos vorgenommene Strukturierung der Gesamtheit des Seienden: »Das Umwillen von etwas ist offensichtlich am geringsten dort, w o die Materie am meisten ausgeprägt ist, wie nämlich, wenn man die Extreme betrachtet, auf der einen Seite nichts anderes als die Materie an sich und auf der anderen Seite die ousia an sich bleibt, die nichts anderes als der Logos ist. Ein jedes von dem, was dazwischen ist, ist es gemäß seiner Nähe (zu dem einen oder anderen Extrem); denn jedes hat noch ein telos und ist nicht nur Wasser oder Feuer oder Fleisch und Eingeweide. N o c h mehr gilt das vom Gesicht und der Hand. Alles ist bestimmt durch sein Werk (ergon)« (Meteor. IV 12, 390 a 4-11).
Es hat den Anschein, als ob die Elemente (wie Wasser und Feuer) innerhalb dieser Einteilung schon als reiner Stoff anzusehen wären. Dies ist aber bei einer Einteilung, die in der Tat bis zum Äußersten geht, nicht möglich; denn der reine Stoff, der überhaupt kein telos mehr in sich hat, kann nicht als etwas Bestimmtes gedacht werden, als ein synholon, das in irgendeiner Weise noch ein »Aussehen« hat und damit noch als etwas, um dessentwillen anderes ist, gedacht werden kann. Wenn das Denken beim Anfang zum Stehen kommen will, dann kann es im Falle der vollständigen Beraubung des telos nur bei etwas zum Stehen kommen, was der Seele (sowohl der mittelbar wie der unmittelbar wahrnehmenden Seele) und damit der Rede nicht mehr zugänglich ist. Die Nur-noch-Materie als
Im thomanischen Opus findet sich neben felicitas sehr häufig auch der Ausdruck beatiludo fìir das, was Aristoteles Eudaimonia heißt.
240
Akt und ousia
Anfang alles Werdenden ist ein von der zum Stehen gekommenen Rede Geschaffenes, das jenseits aller Rede ist. Sie ist ein zum Unberedetsein Beredetes. In diesem Sinne ist auch das »an sich«, die ύλη π α ρ ' αΰτην, zu verstehen. Das »an sich« meint nicht ein von den Zusammenhängen der Rede und des Denkens Losgelöstes, ein von der Rede Unabhängiges. Das »an sich« meint vielmehr, daß die Rede an ihr Ende gekommen ist. Wenn die Rede die ot/j/'a-Triaden aufeinander bezieht und konsequent bis zum Ende nach der Unterlage fur etwas der Wahrnehmung mittelbar oder unmittelbar Zugängliches fragt, muß sie folgerichtig, wenn sie nicht ad infinitum gehen will, zu etwas kommen, was nicht mehr wahrnehmbar und nicht mehr bestimmbar ist, was sich also notwendig der Rede entziehen muß. Es macht daher auch keinen Sinn, danach zu fragen, was dieses allererst Zugrundeliegende sei. Denn danach fragen hieße ja es bestimmen können; dann wäre es aber nicht mehr erstes Zugrundeliegendes, das ausschließlich um anderes willen ist. Wenn Gohlke in seinem Kommentar zu De gen. et corr. sagt, daß Aristoteles diesen »Urstoff« offen lasse 490 , so ist dies dann richtig, wenn es heißen soll, daß der Urstoff grundsätzlich unbestimmbar sein muß. Es wird dann aber falsch, wenn es heißen soll, daß Aristoteles diesen »Urstoff« zwar unbestimmt gelassen habe, er aber an sich bestimmbar sei und daß nur offen gehalten werde, als was dieser Urstoff bestimmt werden könne. In diesem Sinne der völligen Unbestimmtheit hat Aristoteles die Materie in Met. Ζ 3 radikal zu Ende gedacht. Der Materie wird hier (1029 a 20-26) alles genommen, womit etwas bestimmt werden könnte, jede Oualität, jede Quantität, ja selbst die Dreidimensionalität, mit der Materie im Sinne der cartesianischen res extensa gemeinhin assoziiert wird 4 9 1 . Materie ist in Ζ 3 nicht einmal ein Etwas, aber auch nicht Nichts; denn das Nichts wäre schon eine, wenn auch negative, Bestimmung: die Verneinung von etwas. Verneinungen aber kommen der Materie hier in Ζ 3 nicht zu. Das einzige, was von ihr ausgesagt werden kann, ist ihr potentialer Bezug auf Seiendes. Sie bleibt aber in diesem Bezug völlig unbestimmt. Wenn von dieser Materie gesagt wird, sie sei potentia Wasser, Erde, Luft, Feuer, so wird über sie selbst nichts ausgesagt. Die Was-istFrage muß bei ihr notwendig aussetzen. Wo diese Frage allenfalls noch Sinn macht, ist in bezug auf das von ihr Prädizierte. Man kann fragen, was die erste Verwirklichung dieser reinen Materie sei. Sind es die vier Elemente der sublunaren Welt? Oder sind es diese vier Elemente mit Einschluß des Äthers von De caelo als der quinta essential Happ deutet die Materie von De gen. et corr. als
Aristoteles, Über den Himmel. Vom Werden und Vergehen, hrsg., eri. u. übertragen von P. Gohlke, Paderborn 1958, 282, Anm. 49. Auf diese Nicht-Identität von aristotelischer Materie und cartesianischer res extensa hat auch Owens hingewiesen (in Matter and Predication,
a. a. O., 201).
Der entelechische Seinssinn und die ousia qua Akt
241
Unterlage für die sublunare Welt (also als unmittelbare Unterlage für die vier Elemente), die Materie von Ζ 3 dagegen als die Unterlage alles Seienden, sowohl des sub- wie des supralunaren Seienden mit Einschluß des Äthers, ist allerdings mit dieser Deutung sehr vorsichtig und sagt, daß diese Auffassung, die Materie von Ζ 3 zum »allgemeinsten Hyle-Prinzip« zu machen, »nur wahrscheinlich, nicht strikt beweisbar« sei. 4 9 2 Wie auch immer die An-sich-Materie gedeutet wird, ob als mittelbare oder ob als unmittelbare Unterlage für die vier Elemente, festzuhalten bleibt, daß diese Materie als solche reine Potentialität nur genannt wird in bezug auf anderes, in bezug auf das, was das Denken als ihre Verwirklichung und ihr telos denkt. An sich selbst betrachtet, kann sie als die Unterlage für alles Werden selbst reine Aktualität und Ewigkeit sein. Sie wäre das immer unten Bleibende (ϋπόμενον) auch dann noch, wenn alles, womit etwas bestimmt werden kann, von ihr abgezogen würde. Wenn wir, so Aristoteles in Ζ 3, Länge, Breite und Tiefe abziehen, dann sehen wir nichts übrigbleiben als das, was durch sie (richtiger müßte es heißen: durch ihren Bezug auf sie) bestimmt wird: die Materie. 493 Daher kann auch das, was in der Hierarchie des Seienden dieser radikal zu Ende gedachten Materie am nächsten gedacht wird, die Elemente, als reine Aktualität betrachtet werden, wie Aristoteles in Met. Θ 8, 1050 b 29 vom Feuer und von der Erde sagt, daß sie als Nachahmungen der supralunaren Welt (der Sonne, der Gestirne und überhaupt des ganzen Himmels) immer in Wirklichkeit seien 4 9 4
492
H. Happ, Hyle, a. a. O., 666.
493
1029 a 16-19.
494
Wenngleich Feuer und Erde als Nachahmungen der ewigen supralunaren Entitäten weniger Aktualität als diese haben, zumal sie nicht wie das fünfte Element, der Äther, die Kreisbewegung vollführen (vgl. De caelo I 2; Apostle verweist in seinem Metaphysikkommentar an dieser Stelle darauf, daß die Bewegung, die Feuer und Erde ausführen, die Vor- und Rückwärtsbewegung, von ewigen Bewegern verursacht werde, S. 361), so sind sie in bezug auf die von ihnen ausgeführte Bewegung aktualer als das, in bezug worauf sie als Potenz gedacht werden. Denn wenn Aristoteles in der Begründung für die ewige Aktualität des Feuers und der Erde in Θ 8, 1050 b 29ff. sagt, daß alle anderen Potenzen, aus denen sie (Feuer und Erde) (sc. als Potenz) bestimmt werden, auf das Gegenteil gehen, d. h. auch nicht bewegt werden können, so gilt dies natürlich auch für die Homoiomere und Anhomoiomere, die, für sich und in bezug auf die von ihnen ausgeführten Bewegungen genommen, »potentialer« sind als die Elemente. Zur ewigen Aktualität des Feuers, das in gewissem Sinne das elementarste (und das der Wahrnehmung am wenigsten zugängliche) der vier Elemente ist, vgl. u. a. Meteor. IV 1, 379 a 14f., wo Aristoteles alle anderen drei Elemente in das Feuer als das einzig Blei-
242
Akt und ousia
An sich selbst betrachtet sind sie reiner Akt insofern, als sie nicht die Möglichkeit haben, bewegt zu werden und nicht bewegt zu werden, insofern also, als sie nicht die Möglichkeit haben, auf das Gegenteil der Bewegung zu gehen, wie Aristoteles es von den anderen Potenzen, sowohl den logischen wie den alogischen, aussagt. In diesem Sinne muß Materie als die persistierende Grundlage alles Werdens in ewiger Aktualität sein. Andernfalls gäbe es kein Werden, keine Veränderung, keine Bewegung. Beim anderen Extrem dieser in Meteor. IV 12 gegebenen Bestimmung der Gesamtheit des Seienden ist eine solche Zwiefalt von Potenz- und Aktbegriff nicht möglich. Zwar kann die Seele hinsichtlich ihrer Tätigkeiten beides sein, Potentialität und Aktualität, je nachdem worin ihr telos jeweils gesehen wird, ob in einem außer ihr liegenden ergon wie bei der Baukunst oder der Heilkunde oder allgemein bei der Poiesis oder ob in ihr selbst. Aber nicht sie ist mit der reinen ousia als dem anderen Extrem der Gesamtheit des Seienden gemeint, sondern das, was Thomas als ihr Ziel und ihre Tätigkeit (operatio) bestimmt hat. Denn nur in letzterem Falle, im Falle der Eudaimonia, kann von reiner Aktualität und nur von reiner Aktualität gesprochen werden. Wie das andere Extrem, die Materie an sich, ist auch dieses Extrem, die ousia an sich, durch ein ZumStehen-Kommen des Denkens »entstanden«. Sofern die Frage nach dem Worumwillen nicht ad infinitum gehen kann, sondern wegen der ανάγκη στηναι, die sich das Denken selber auferlegt, zum Stehen kommen muß, kommt sie folgerichtig bei etwas zum Stehen, bei dem sich nicht mehr nach einem Zweck fragen läßt. Wie das Zum-Stehen-Kommen des Denkens in das andere Extrem vollständige Privation von Wirklichkeit und telos legt, legt sie in dieses Extrem alle Wirklichkeit und alles telos. Wie bei dem einen Extrem die Was-istFrage keinen Sinn mehr macht, macht auch bei diesem Extrem die Was-ist-Frage keinen Sinn mehr. Die Was-ist-Frage macht in diesem Falle deswegen keinen Sinn mehr, weil von ihm kein telos, kein τηε, keine Form mehr ausgesagt werden können. Die Was-ist-Frage macht aus dem Grunde keinen Sinn, weil die Frage nach dem Wozu keinen Sinn mehr macht. Denn wenn bei dieser sich selbst Zweck seienden, reinen ousia nach einem Wozu gefragt würde, würde unterstellt, daß sie einen Zweck außerhalb ihrer haben könnte. Dann wäre sie aber nicht mehr telos ihrer selbst, sondern etwas, was Aristoteles zwischen der reinen Materie und der reinen Seiendheit ansiedelt. Daß diese reine, Eudaimonia seiende ousia sich nicht im beziehungsleeren Raum bewegt, sondern eines Korrelats, nämlich des unbewegt Bewegenden, bedarf, soll im folgenden Kapitel
bende vergehen läßt, und De int. 23 a 3f., wo die ewige Aktualität des Feuers damit demonstriert wird, daß das Feuer nicht die Potenz habe, zu wärmen und nicht zu wärmen.
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
243
gezeigt werden, mit dem der metaphysische Teil dieser Arbeit (der metaphysische Teil im engeren Sinne) beendet werden wird.
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem Das unbewegt Bewegende Beim eudämonischen Akt des Denkens oder vielmehr des Schauens (sowohl des unmittelbaren Schauens als auch des mittelbaren, über das Mit-den-AugenSehen hinaussehenden Schauens) verbietet sich die Frage nach dem Wozu. Sie macht genausowenig Sinn wie die Was-ist-Frage bei der Materie. Sowohl die Materie wie der eudämonische Akt des Denkens, die beide die Extrempunkte des Seienden sind, das eine als nur potentielles, als nur um anderes willen gedachtes Seiendes, das andere als nur um seiner selbst willen Seiendes, als Seiendes κ α τ ' εξοχήν, entziehen sich der definitorischen Was-ist-Frage, derjenigen Frage, die seit Sokrates ein Philosophieren in Gang setzt (der question institutrice de la philosophie, wie Derrida sie nennt 495 ). Beide sind kein definiendum, weil sie kein Etwas (τι) sind, das eine, weil es nur potentia etwas ist (damit aber auch nicht nichts; es ist weder etwas noch nichts), das andere, weil es dasjenige ist, was über etwas spricht, und damit zwar das Etwas zu seinem »Gegenstande« hat, aber mit diesem nicht identisch ist, oder wenn, dann nur »auf eine gewisse Weise« (πως). Beide Extreme des Seienden, das potentiell Seiende schlechthin und das aktual Seiende schlechthin, sind als solche nur in Beziehung auf etwas (das sie nicht selber sind). Der eudämonische Akt des Schauens impliziert notwendig ein Geschautes (oder ein zu Schauendes); er »ist« nur in der Differenz von Schauen und Geschautem, Denken und Gedachtem, einer Differenz allerdings, die nicht wie bei dem Bezug der Materie auf das Etwas, das sie potentia ist, ein Potenz-Akt-Verhältnis ist. Man kann zwar sagen, daß das Denkvermögen im Akt des Denkens sowohl sich als Denkendes als auch das Denkbare als Gedachtes »verwirklicht«; aber dieses Verwirklichen ist deswegen keine Verwirklichung einer Potenz, weil es keine Bewegung, keine Bewegung im Sinne der Veränderung vollzieht. Das Denkvermögen (νους) denkt zwar etwas als in Veränderung Befindliches; aber es verändert dabei weder sich noch das von ihm Gedachte -aus dem Grunde, weil es immer schon während seines Akts an seinem Ende ist und nicht auf ein Ende zusteuert, das erst dann als erreicht gilt, wenn der Akt beendet ist. Diesen Bezug von Denken und Gedachtem beim eu-
J. Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, 31.
244
Akt und ousia
dämonischen Akt des Schauens macht Aristoteles in der »Lehre« vom unbewegt Bewegenden in Met. Λ 7-9 deutlich 496 . Die Interpretation dieser »Lehre«, die ich in Zusammenhang lese mit den Ausführungen, die Aristoteles in Phys. VII und VIII 497 über das unbewegt Be-
Wenn ich mich hier nur auf diese Kapitel von Buch Lambda beschränke, so soll dies nicht heißen, daß diese Kapitel aus dem Rahmen der Untersuchung von Buch Lambda herausfallen. Die cc. 7-9 schließen nahtlos an das zuvor in Λ Behandelte an. Gegenstand von Λ, das fast durchweg von der Forschung als ursprünglich selbständiges Buch angesehen wird (vgl. u. a. Flashar, Aristoteles, in: Überwegs Geschichte der Philosophie, a. a. O., 257), ist die ousia, die Aristoteles unterteilt zum einen in die wahrnehmbare, zum andern in die unvergängliche und zum dritten in die vergängliche Seiendheit (1069 a 30ff.). Die vergängliche und wahrnehmbare ousia handelt Aristoteles im ersten Teil (c. 1-5), die unvergängliche, unbewegte im zweiten Teil des Buches (c. 6-10) ab. Die cc. 79 sind der Kern der Untersuchung des unbewegt Bewegenden. Konzipiert wird dieses als »Gegenstand« und Motor von Begierde und Denken. Das zentrale Kapitel, das diese Konzipierung zum Ausdruck bringt, ist das siebente, das daher auch in meiner Untersuchung des unbewegt Bewegenden, das für mich einzig als Korrelat von Denken und Begierde bedeutsam ist, im Mittelpunkt steht. In bezug auf diese Konzeption bringen weder c. 9 mit der »Identität« von Denken und Gedachtem, der νόησις νοήσεως, inhaltlich etwas Neues noch c. 8, dieses insofern nicht, als es die Lehre des unbewegt Bewegenden lediglich mit astronomischen Untersuchungen verquickt. Überhaupt scheint c. 8 eine Interruptio im Gang der Untersuchung zu sein, weswegen Jaeger es als einen Fremdkörper innerhalb des Buches Lambda bezeichnet, der später an dieser Stelle eingefugt worden sei (W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, a. a. O., 368). Allerdings ist c. 8 nicht deswegen ein Fremdkörper, weil es mit der Ansetzung von 55 Sphärenbewegern die anscheinend monotheistische Auffassung von c. 7 zunichte macht. Einen klar monotheistischen Standpunkt vertritt Aristoteles auch in c. 7 nicht. Phys. VII und VIII bilden, auch wenn vom unbewegt Bewegenden in extenso nur in VIII die Rede ist, inhaltlich eine Einheit. Das unbewegt Bewegende als Prinzip des Denkens, auf welches dieses, zum Anfang kommen wollend, notwendig zusteuert, leitet sich aus dem Prinzip des omne quod movetur ab aliquo movetur, welches der Inhalt von Buch VII ist, ab. Die Zusammengehörigkeit beider Bücher ist von philologischer Seite teilweise erschüttert worden. Jaeger datiert beide Bücher in verschiedene Schaffensperioden des Stagiriten. Auch Düring sieht einen Unterschied zwischen VII und VIII; während er wie Jaeger für eine Frühdatierung von VII plädiert, hält er VIII für ein Buch, dessen Inhalt eigentlich schon gar nichts mehr mit dem Gegenstand der Physik, dem natürlichen Bewegungsprozeß, zu tun habe. »Als er [= Aristoteles] dies schrieb«, mutmaßt Düring, »dachte er vielleicht an seine Erörterung des πρώτον κινούν άκίνητον im
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
245
wegende und die von diesem angestoßene Kreisbewegung als die erste und vollkommene B e w e g u n g und in D e caelo über die Kreisbewegung des Äthers macht, beinhaltet folgende Punkte: 1)
Das unbewegt B e w e g e n d e (das ich i. d. R. in der neutralen Form, in der es Aristoteles gebraucht, wiedergebe) ist notwendiges Korrelat für die B e w e gung; es steht in unmittelbarer Beziehung zur Kreisbewegung. Es ist mithin ein Begriff, der nur - wie der Materie-Begriff - als Relations-Begriff
einen
Sinn macht. 4 9 8 2)
D a s unbewegt B e w e g e n d e ist ein Begriff des Denkens, der w i e die Begriffe der Materie an sich und der ousia an sich zustande gekommen ist durch die zum Stehen gekommene B e w e g u n g des zu einem Anfang kommen wollenden Denkens.
Lambda« (I. Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, a. a. O., 293). Die Meinung, daß Phys. VIII von Met. Λ her gelesen werden müsse, ist weit verbreitet. Düring und andere übersehen, daß Aristoteles' Denken ein Denken der άρχή ist. Ein Denken, das konsequent zum Anfang kommen will, rekurriert nicht nur auf die άρχή des »Gegenstandes« der Physik, der φύσις, sondern auch auf die άρχη dieser άρχη. Erst mit dem Begriff des unbewegt Bewegenden als der άρχή der Bewegung (welche ihrerseits άρχή der φύσις ist) ist die Physik zu ihrem ursprünglichsten Ursprung gekommen. - Richtig scheint mir dies Flashar gesehen zu haben. Wenngleich er in Phys. VIII eine Vermittlung von Physik und Metaphysik sieht, weil sich die Thematik von VIII teils im Bereich der Bewegung, teils im Bereich der Prinzipienlehre »jenseits der Welt der Bewegung« bewege, so hält er doch an dem physikalischen Aspekt von VIII fest und wendet sich dagegen, Phys. VIII als Vorbereitung der Theologie von Met. Λ zu betrachten. Das unbewegt Bewegende sei logisches Postulat »zur Erklärung des kosmischen Bewegungszusammenhanges« (Flashar, Aristoteles, in: Überwegs Geschichte der Philosophie, a. a. 0., 263). Phys. VII und VIII scheint er als Einheit zu sehen; beide Bücher stehen Air sich und seien nicht mit den übrigen Teilen der Physik verbunden, sondern erst nachträglich - vermutlich durch Andronikos - mit diesen zusammengefaßt worden (ebd.). Richtig verweist Düring darauf, daß das άκίνητον κινούν ein abstraktes Prinzip sei, der »absolute Nullpunkt der Bewegung und Veränderung«, wie er sagt, und von Aristoteles nicht personifiziert gedacht worden sei (a. a. O., 209). Die Personifizierung dieses Prinzips und dessen Identifikation mit Gott sei christlichen Ursprungs. »Alle Naturprozesse«, so Düring, »werden [...] vom proton kinoun regiert und die Liebe zum Guten ist letzten Endes die Triebfeder des Universums. Es versteht sich von selbst, wie leicht es war, dies christlich zu deuten und das abstrakte Prinzip durch einen personifizierten Beweger zu ersetzen« (ebd., 211).
246
Akt und ousia
3)
Das unbewegt Bewegende als radikal zu Ende gedachter Begriff des Anfangs der Bewegung ist nicht mit Gott oder vielmehr dem göttlichen Leben als der Lebensweise, in der der eudämonische Akt des Schauens sich in Reinheit vollzieht, identisch. 499 Aber das unbewegt Bewegende macht als Relationsbegriff nur Sinn in bezug auf dieses Leben; es ist nicht mit der reinen Eudaimonia des göttlichen Lebens identisch, aber notwendiges Korrelat desselben, insofern nur »auf gewisse Weise«, »irgendwie« identisch mit demselben.
4)
Das Verhältnis von unbewegt Bewegendem zur Kreisbewegung als der vollkommenen, ewigen, immer bei sich seienden, außerhalb der Veränderung und der Poiesis zu denkenden Bewegung wird in Met. Λ 7 ausgedrückt als das Verhältnis von Denkbarem (Intelligiblem) zu dem es Denkenden (Intellekt), von Schaubarem zum Schauen. Der eudämonische Akt des Denkens und Schauens kann also beschrieben werden als Kreisbewegung.
5)
Der eudämonische Akt des Denkens kann in Reinheit, i. e. als immerwährender Akt, zwar nur Gott oder den Göttern zugeschrieben werden, wird aber von Aristoteles auch fur das Leben der Menschen in Geltung gebracht. Der eudämonische Akt des Schauens wird bei Gott und Mensch nicht als »wesens«verschieden gedacht. Der einzige Unterschied liegt in der Zeit. Was den Göttern immer möglich ist, ist den Menschen als sterblichen Lebewesen nur eine begrenzte Zeit lang möglich.
6)
Die Korrelation von unbewegt Bewegendem und der Kreisbewegung ist als Korrelation von Gedachtem und Denken zugleich Korrelation von Begehrtem und Begierde (δρεξις und Eros). Denken ist zugleich Begierde, aber »entelechische« Begierde, eine Begierde, deren »Mangel« ihr nicht als zu behebender gilt. Der »Sinn« dieser Begierde ist nicht ihre Erledigung wie die Begierde des akolastos oder des akrates.
7)
Das unbewegt Bewegende ist in dieser Korrelation der ewige transzendente Bezugspunkt für das Denken und die Begierde. Es entzieht sich wie die radikal zu Ende gedachte Materie der Was-ist-Frage; es kann nicht mit irgend etwas identifiziert werden, auch nicht, wie gesagt, mit Gott. Es wird von mir jedoch ausdrücklich als Möglichkeit zugestanden und festgehalten, in Met. Λ 7-9 (und nur hier) das unbewegt Bewegende auch als Gott zu lesen. Diese Lesart ermöglicht Met. Λ (insbesondere Λ 7), erzwingt es aber nicht. Als Gott ist das unbewegt Bewegende aber nur lesbar über die Identifikation von Denken und Gedachtem. Wenn man, wie es seit Alexander üblich ge-
499 Yg] ¿¡g vorige Ann,
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
247
worden ist, das Wort διαγωγή (= Leben, und zwar das beste Leben, das i. S. des Denkens und der Wahrnehmung geführt wird) von Λ 7, 1072 b 15 auf das unbewegt Bewegende beziehen will, so kann dasselbe nicht ausschließlich mit dem Denken Gottes identifiziert werden. Die Struktur des Denkens Gottes und die des menschlichen Denkens sind nicht, wie in Punkt 5 bereits erwähnt, »wesens«verschieden. Wenn also das unbewegt Bewegende schon mit dem Denken und dem Leben identifiziert wird, dann darf es nicht nur mit dem göttlichen, sondern muß auch mit dem menschlichen Intellekt identifiziert werden.
Meine Lesart hat den Vorzug, daß sie zum einen zwischen den Ausführungen in Met. Λ 7-9 und den Ausführungen in De caelo und in Phys. VII und VIII keine Inkonzinnitäten zu sehen braucht und daß sie zum anderen ohne jede Konjektur auskommt. Sie ist also nicht auf bestimmte Erklärungsmodelle angewiesen, die sich erforderlich machen, wenn man das unbewegt Bewegende in Met. Λ 7-9 ausschließlich mit dem göttlichen νους identifiziert. In Phys. VIII wird bei Besprechung des unbewegt Bewegenden Gott nicht direkt erwähnt; das einzige Mal, wo von ihm - beispielhaft - die Rede ist, ist von ihm nicht als von einem Bewegenden (κινούν), sondern als von einem Bewegten (κινούμενον) die Rede 5 0 0 . In De caelo ist dagegen nicht vom unbewegt Bewegenden die Rede, wohl aber vom göttlichen Leben, das im Sinne der Kreisbewegung beschrieben wird. Man wird also, wenn man Gott oder den göttlichen νους in Met. Λ mit dem unbewegt Bewegenden identifiziert und nicht im Sinne der (vom unbewegt Bewegenden unmittelbar in Gang gesetzten) Kreisbewegung erklärt, nach Gründen suchen müssen, die den Inhalt der Ausführungen in Phys. VII und VIII und in De caelo plausibel machen. Die plausibelste Erklärung ist die, daß man Phys. VII und VIII und De caelo in eine andere Schaffensperiode datiert als Met. Λ und sagt, daß der Aristoteles von De caelo und von Phys. VII und VIII, je nachdem von welchem Gesichtspunkt man ausgeht, entweder die Lehre vom unbewegt Bewegenden als dem göttlichen νους schon hinter sich gelassen oder noch nicht entwickelt habe. In diesem Sinne entscheidet sich v. Arnim, der in Met. Λ das Werk des späten Aristoteles sieht, das eine »triumphierende Verkündigung des Monotheismus« darstellt. 501 In jenem Sinne entscheidet sich Jaeger, der
500
Phys. VIII 8, 262 a 3.
50
Η. von Arnim, Die Entwicklung der aristotelischen Gotteslehre, in: Sitzungsberichte
'
Akademie
der Wissenschaften
der
in Wien, Philosophisch-hist. Klasse; Bd. 212, Abhand-
248
Akt und ousia
Met. Λ im Gegensatz zu v. Arnim für eine Frühschrift hält, bei deren Abfassung sich Aristoteles gemäß der Entwicklungstheorie Jaegers noch auf der Stufe des platonischen Idealismus befunden habe und in der die ousia rein als θεός und νους konzipiert gewesen sei. 5 0 2
lung 5, 3-80; wieder abgedruckt in (wonach ich zitiere): F.-P. Hager (Hrsg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Wege der Forschung; 206, 1-74, S. 63. W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, a. a. 0., 230. Für Jaeger ist Met. Λ ein Auszug aus der nicht mehr vorhandenen Theologie der »Urmetaphysik«; als »früheste Konzeption der aristotelischen Theologie« (231) enthalte sie in der Lehre vom unbewegten Beweger den ältesten Bestandteil der Metaphysik, »in welchem sich platonisches Gedankenerbe am zähesten behauptete« (366). Schwierigkeiten hat Jaeger freilich mit dem 8. Kapitel von Lambda und den 55 Sphärenbewegern, von denen darin die Rede ist. Er löst diese Schwierigkeiten, indem er diesen »Fremdkörper« (368) zu einem in späterer Zeit erfolgten Einschub erklärt. Physik VIII, in dem die »Lehre« vom unbewegt Bewegenden »rein physikalisch«, i. e. ohne auf Gott Bezug zu nehmen, entfaltet wird, hält Jaeger folgerichtig fur eine Spätschrift. Die »Lehre« vom unbewegt Bewegenden werde in Phys. VIII, so Jaeger, »aufs sorgfaltigste physikalisch neu begründet« (314). Phys. VII und De caelo dagegen datiert Jaeger in die Frühzeit des aristotelischen Wirkens. De caelo und die darin entfaltete Lehre vom Äther datiert Jaeger noch vor Met. Λ; die Lehre vom Äther hänge notwendig zusammen »mit den ersten Anfängen der Lehre vom unbewegten Beweger und den himmlischen Körpern« (315). Nach Jaegers Meinung also stellt Met. Λ und die (von ihm gesehene) Identifikation des unbewegt Bewegenden mit dem göttlichen νους eine Zwischenstufe dar. Met. Λ ist nach Jaeger zwar eine Frühschrift des platonisierenden Aristoteles, aber jünger als De caelo. Während nach Jaeger die Identifikation des unbewegt Bewegenden mit dem göttlichen νους in De caelo noch nicht erfolgt ist (sondern vielmehr erst vorbereitet wird), ist sie in Phys. VIII, wo Jaeger Aristoteles als den Platonismus hinter sich lassenden Empiriker figurieren läßt, bereits überwunden. Zürcher (Aristoteles ' Werk und Geist, a. a. 0.) pflichtet Jaeger in der Früdatierung von Met. Λ bei, weil Lambda die Züge des platonischen Idealismus noch deutlich erkennen lasse, obschon Lambda gemäß der These Zürchers, daß das CA der von dem vom platonischen Idealisten zum antiplatonischen Empiriker mutierten Theophrast gänzlich umgewandelte Nachlaß des Aristoteles sei, im wesentlichen zu 90 % theophrastisch sei (204). Phys. VIII dagegen datiert Zürcher in die Frühzeit des CA. Düring hingegen tritt wie Jeager für eine Spätdatierung von Phys. VIII und für eine Frühdatierung von Met. Λ ein, sieht aber, wie erwähnt, inhaltliche Zusammenhänge zwischen diesen beiden Büchern. Mit Hypothesen hinsichtlich der Datierung des CA ist man heute wesentlich vorsichtiger geworden. Flashar läßt daher Fragen der Datierung von Phys. und Met. im großen
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
249
Ich verzichte auf solche Erklärungsmodelle, die ohne - zum Teil sehr massive - Konjekturen schwer zu stützen sind. Textimmanentes Arbeiten bedeutet auch, die Texte in der Fassung, wie sie uns überliefert sind, hinzunehmen und nach Möglichkeit zu retten. Eine Konjektur kann nur die ultima ratio sein. Man kann, wie im Folgenden gezeigt werden wird, De caelo und Phys. VII und VIII mit dem, was Aristoteles in Met. Λ 7-9 über das unbewegt Bewegende sagt, in Kohärenz lesen, ohne daß man wie von Arnim oder Alexander Aphrodisias zu konjizieren gezwungen wäre und ohne daß man nach Erklärungen suchen müßte, die anscheinend Widersprüchliches beseitigen sollen. Bevor jedoch auf Met. A 7-9 eingegangen wird, soll im groben der Inhalt dessen wiedergegeben werden, was Aristoteles in Phys. VII und VIII und in De caelo über das unbewegt Bewegende zum einen und über die Kreisbewegung zum anderen sagt. Die Untersuchung in Phys. VII und VIII hebt mit der Notwendigkeit des Prinzips omne quod movetur ab aliquo movetur an. Das Prinzip ist zunächst nichts anderes als der Ausdruck eines sprachlogischen Problems. Von etwas, was in Bewegung ist, wird im Griechischen die Bewegung im Passiv ausgedrückt. Etwas, was in Bewegung ist, wird bewegt (κινεισθαι). Eine im Passiv ausgedrückte Handlung impliziert die Frage nach dem auctor dieser Handlung. Wenn etwas bewegt wird, dann muß es von etwas bewegt werden. Nun wird die Bewegung von Aristoteles so gedacht, daß etwas, was bewegt wird, von etwas bewegt werden könne, was ebenfalls in Bewegung ist. A wird von Β bewegt, Β von C, C von D usw. Da diese Reihe aber nicht ad infinitum gehen kann und das Denken zu einem Stehen kommen muß, setzt Aristoteles ein erstes Bewegendes an den Anfang der Reihe. 503 Das erste Bewegende ist also der Begriff eines sich die ανάγκη στηναι auferlegenden Denkens. Nun gibt es bei dem, was in Bewegung ist, zwei Möglichkeiten: Entweder die Ursache fur die Bewegung ist ausschließlich in anderem, und das Bewegte ist selbst nicht imstande zu bewegen; oder das Bewegte kann auch sich selbst bewegen und ist imstande, sowohl bewegt zu werden als auch sich selbst und anderes zu bewegen. Die erste Form der Bewegung betrifft die leblosen natürlichen »Dinge«, die zweite Form die Lebewesen, die das Prinzip der Bewegung in sich haben. (Thomas unterscheidet diese beiden Bewegungsformen terminolo-
und ganzen offen. Über die Physik sagt Flashar, daß sie »ein relativ ungeeignetes Objekt fur Entwicklungshypothesen und Datierungsversuche« sei (Flashar, Aristoteles, in: Überwegs Geschichte der Philosophie,
a. a. O., 263); und ebenso bleibe innerhalb der
Metaphysikbücher die Analyse zeitlich verschiedener Schichten als Problem bestehen, »das bis heute nur fur Teilbereiche eine befriedigende Antwort gefunden hat« (ebd., 257). 503
VII 1,242 a 49-54.
250
Akt und ousia
gisch als motus naturalis für die erste und als motus voluntarius für die zweite Form 504 ). Über diese zweite Form wird in Phys. VII und VIII etwas ausgesagt, was auch fur Met. Λ 7-9 von Bedeutung ist. Zum einen nämlich wird dieses sich Bewegende auch im Prozeß des Sichbewegens von etwas bewegt, und zum anderen kann dieses sich Bewegende, wenn es anderes bewegt, selbst unbewegt sein. Dies sind zwei Aussagen, die sich nur prima facie widersprechen; denn das sich Bewegende ist nicht in derselben Hinsicht unbewegt und bewegt. Es hat zwar den Anfang der Bewegung in sich, aber nur den Anfang der Oisbewegung (VIII 3, 253 a 14-15). Es gibt indessen etwas im Lebewesen, was ausschließlich von anderem, und zwar von der Umgebung oder der Umwelt (το περίεχον, ebd., a 13), bewegt wird. Die Bewegungen, die im Lebewesen von der Umwelt veranlaßt werden, sind die des Denkens und der Begierde. »Nichts hindert, ja erzwingt es vielleicht, [anzunehmen]«, sagt Aristoteles, »daß im Körper viele Bewegungen von der Umwelt ausgelöst werden, von denen einige das Denken (διάνοια) und die Begierde (όρεξις) bewegen« (ebd., 253 a 16f.). Über das περίεχον wird zwar im weiteren Verlauf nichts Genaueres mehr gesagt; aber es ist kaum zu bestreiten, daß es als das, was Denken und Begierde in Gang setzt, allzu große Ähnlichkeit hat mit dem, was Aristoteles in Met. Λ 7 όρεκτόν und νοητόν nennt. Es soll damit nicht gesagt werden, daß Umwelt und das unbewegt Bewegende von Met. Λ identisch sind, obwohl diese Identifizierung nahe liegt und obwohl mit dieser Identifizierung das unbewegt Bewegende von Met. A weder seinen korrelativen Charakter (όρεκτόν und νοητόν würde ja die Umwelt nur durch den Bezug des Denkens und der Begierde auf sie) noch seine Unbestimmtheit einbüßen würde (die Umwelt oder vielmehr das dem Denken und der Begierde Begegnende würde in jedem Bezug, den die denkende und begehrende Seele zu ihr herstellt, eine andere sein). Unbewegt dagegen kann das Lebewesen in dem Sinne der Poiesis genannt werden. Was heilt, muß sich nicht selbst heilen; was baut, muß sich nicht selbst bauen. Absurd (άλογον, VIII 5, 257 a 14) wäre es, hier von einer bewegten Bewegung zu sprechen, so absurd, wie wenn man sagte, das Hausbauende sei selbst hausbaubar (ebd., a 18). Genau hier setzt das Prinzip omne quod movetur ab aliquo movetur aus. Es ist nicht notwendig, daß immer das, was in Bewegung ist, von anderem bewegt werde (ebd., 257 a 25f.). Also wird man hier zum Stehen kommen (στησεται άρα, ebd.). Die Heil- und Baukunst ist in Bewegung, aber wird nicht in bezug auf die Bewegung, die sie an anderem bewirkt, bewegt. Sie ist, indem sie anderes bewegt, selber in Hinsicht auf diese Bewegung unbe-
In Met. XII lc. 7, n. 2. Vgl. zum Problem der Selbstbewegung auch Sarah Waterlow (jetzt Broadie), Nature, Change and Agency in Aristotle's dy, Oxford 1982, 205f.
Physics. A Philosophic Stu-
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
251
wegt; sie ist in vollem Wortsinne ein άκχνητον κινούν. Die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens ist hier auf die Bewegung eingegrenzt, die vom unbewegt Bewegenden bewegt wird. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Erstens kann auch ein Bewegtes unbewegt bewegend sein (nämlich in Hinsicht auf die Bewegung, die es in Gang setzt), und zweitens wird die Möglichkeit, unbewegt bewegend zu sein, nicht allein dem göttlichen νους, sondern allgemein dem sich in den Dienst der Poiesis stellenden, also auch dem menschlichen νους zugesprochen. Daß der νους allgemein, sei er göttlicher oder menschlicher oder nicht näher bestimmter νους, Bewegungsprinzip sein kann, wird in der Tat von Aristoteles nirgends in Abrede gestellt. Den Philosophen, der den νους zum allgemeinen Bewegungsprinzip gemacht hat, Anaxagoras, erwähnt Aristoteles sehr oft im Zusammenhang mit der »Lehre« vom unbewegt Bewegenden, auch hier, in Phys. VIII 5, wo er das Prinzip omne quod movetur ab aliquo movetur außer Kraft setzt. In 256 b 24-27 pflichtet er Anaxagoras in der Theorie vom νους als dem, ô κχνει άκίνητον öv (b 24), bei. Nur ist der νους als unbewegt Bewegendes weder nur der göttliche νους, noch ist er in jeder Hinsicht unbewegt. Er ist nur in der Hinsicht auf die Bewegung unbewegt, die er selbst bewirkt. Im Falle der anderen Bewegungen, die er - bewegt (κινούμενος) - ausfuhrt, gilt das Prinzip, daß alles, was bewegt wird, von etwas bewegt werde, vor wie nach, ζ. B. in dem Falle der durch die Umgebung in Gang gesetzten Bewegung des Denkens und der Begierde. Was den Aspekt der Kreisbewegung betrifft, so ist zu sagen, daß auch diese auf einer bestimmten Voraussetzung des aristotelischen Denkens beruht. Wie der Begriff des ersten Bewegers als des unbewegt Bewegenden auf der Voraussetzung eines zum Anfang kommen wollenden Denkens beruht, das, um zum Anfang zu kommen, sich die Notwendigkeit, den »Zwang« auferlegen muß, zum Stehen zu kommen, so beruht der Begriff der Kreisbewegung auf dem Diktum der Notwendigkeit einer immerwährenden Bewegung. Das Diktum kann allgemeiner so ausgesprochen werden: Damit es ein Werden und Vergehen, i. e. eine endliche (und zugleich immer anders sein könnende) Bewegung gibt, muß es etwas Ewiges geben. Das Ewige ist früher als das Veränderlich-Vergehende. »Da aber verändernde Bewegung immer sein muß und nie aufhören darf, muß es etwas Ewiges geben, was als erstes bewegt [...] Und dieses erste Bewegende ist unbewegt« (VIII 6, 258 b 10-12). Zwar hört jedes sich im Sinne der μεταβολή, also jedes sich verändernde, immer anders sein könnende, vergängliche Bewegende irgendwann auf, sich zu bewegen; aber die Bewegung selbst hört nicht auf. Sie war (und bleibt) immer (Met. Λ 6, 1071 b 7). Damit die Bewegung selbst nicht aufhört, muß es nicht nur ein ewiges unbewegt Bewegendes geben, sondern auch eine ewige Bewegung, welche für alle anderen Arten von Bewegung (alle Arten von Bewegung i. S. der μεταβολή) Ursache ist. Diese ewige
252
Akt und ousia
Bewegung ist gewisssermaßen zwischen dem unbewegt Bewegenden als dem, was diese ewige Bewegung unmittelbar in Gang setzt, und dem veränderlichvergänglich Bewegten (VIII 7, 259 b 32ff.). Diese Grundform von Bewegung, die unmittelbar vom ersten unbewegt Bewegenden in Gang gesetzt wird und die die Grundlage für alle anderen Formen von Bewegung ist, ist die Kreisbewegung. Die Kreisbewegung ist im Gegensatz zu allen anderen Formen von Bewegung, denen sie zugrunde liegt, nicht nur die einzige ewige, sondern auch die einzige vollkommene (μόνη τέλειος, Phys. VIII 8, 264 b 28). Vollkommen heißt sie deshalb, weil sie immer schon an ihrem Ende ist, weil einzig bei ihr Anfang und Ende zusammengeschlossen sind (ebd.). Sie ist damit von ihrer Struktur her keine Poiesis, sondern reine Energeia im Sinne von Met. Θ 6. Jeder Punkt auf dem Kreis ist zugleich Anfang, Mitte und Ende, »so daß er immer einerseits an Anfang und Ende zugleich und andererseits nirgends ist« (VIII 9, 265 a 33-b 1). Anfang und Ende lassen sich bei der Kreisbewegung nicht wie bei der Bewegung auf der Geraden oder bei der Halbkreis-Bewegung auseinanderreißen. Die Kreisbewegung ist nicht am Ende, wenn ihr Ende erreicht ist; sie hat ihr telos anders als die anderen Bewegungen (die Bewegungen von der Art der Poisesis 5 0 5 ) - jederzeit in sich. Es ist nur folgerichtig, daß Aristoteles, wie es in De caelo geschieht, die Kreisbewegung in Zusammenhang mit der göttlichen Eudaimonia erklärt: »Gottes Akt ist Unsterblichkeit, d. h. ewiges Leben. Notwendig also kommt Gott ewige Bewegung [i. e. ewiges Bewegtsein]
zu. Da der Himmel von solcher Art ist
(denn er ist ein göttlicher Körper), hat er einen kreisförmigen Körper, der sich von Natur immer im Kreise bewegt« (De caelo, II 3, 286 a 9-13).
Mit der Kreisbewegung wird das θείον innerhalb dessen, was in Bewegung ist, exponiert. Es hat weder Grenze noch Ende, sondern ist für anderes Grenze und Ende (ebd., II 1, 284 a 2-12); mit Muße und Eudaimonia ist es verbunden (μακαρία wird das sich im Kreise bewegende Leben der Götter genannt, ebd., 284 a 29). In De caelo wird die Kreisbewegung geradezu mit Leben, mit einem um seiner selbst willen vollzogenen Leben gleichgesetzt. Dies trifft sowohl für
Wie die reine Energeia als jederzeit ihr telos in sich enthaltende Aktivität durch die Kreisbewegung repräsentiert ist, ist die unvollkommene Energeia, die ihr telos außerhalb ihrer selbst hat, durch die Bewegung auf der Geraden und durch die HalbkreisBewegung repräsentiert.
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
253
das Leben der Götter als auch für den Äther, als auch für den Himmel insgesamt zu. Allen wird Sein, ewiges Sein, und Leben attribuiert. 506 Wenn in De caelo, in dessen Mittelpunkt die Kreisbewegung und die sie vollführenden Körper (Himmel, Äther, Götter) stehen, nicht vom unbewegt Bewegenden die Rede ist, dann kann das ganz einfach damit erklärt werden, daß sich der Begriff eines unbewegt Bewegenden in De caelo nicht notwendig macht. Aristoteles kommt für die Zwecke seiner hier vorgenommenen Untersuchungen ohne es aus. Anders ist es in der Physik. Hier macht sich das unbewegt Bewegende notwendig. Es macht sich wegen der Fragestellung der physikalischen Untersuchungen notwendig. Gegenstand der Physik ist die Natur (φύσις); die Natur ist Anfang der Bewegung. Nach der Natur fragen heißt nach der Bewegung fragen. Wenn die ά ρ χ ή der Bewegung konsequent bis zu Ende gedacht wird, kommt man zu einem Begriff, der jenseits der Bewegung ist. Die ά ρ χ ή der Bewegung kann selbst nicht wieder Bewegung sein, ebensowenig wie die ά ρ χ ή oder die Unterlage alles Seienden selbst wieder Seiendes sein kann. Beide aber, sowohl die άρχή der Bewegung wie die Materie als die άρχή alles Seienden, werden mit Bezug auf die Bewegung auf der einen und auf das Seiende auf der anderen Seite erklärt. Sie haben ihre Bedeutung einzig und allein in diesem relationalen Sinn. Das, was sie »sind«, sind sie nur in bezug auf etwas. Sie bleiben aber innerhalb dieses Bezuges völlig unbestimmt und unbestimmbar. Oder anders: jenseits dieses Bezuges macht die Rede von ihnen keinen Sinn. Aristoteles schließt die Physik mit Ausführungen über die völlige Unbestimmbarkeit des unbewegt Bewegenden. Es hat weder irgendeine Ausdehnungsgröße, noch ist es teilbar, noch ist es zerlegbar, i. e. der Dihairesis zugänglich (άδιαίρετον, Vili 10, 267 b 25). Es ist also nicht denkbar; denn es ist etwas, wobei das (dihäretisch vorgehende) Denken zum Stehen gekommen ist (worüber hinaus es nicht mehr weiter gehen kann). Es ist, wie gesagt, nur von der Bewegung her denkbar und auch nur von der Bewegung her als Begriff relevant. Es ist als άπειρον unbestimmbar, aber als άπειρον als notwendige Voraussetzung für immerwährende Bewegung gedacht. Die immerwährende Bewegung hingegen, die Kreisbewegung, ist zwar ewig, aber nicht άπειρον. Wäre die Kreisbewegung ein άπειρον, ließe sie sich nicht durchgehen. Die Kreisbewegung läßt sich aber durchgehen. Sie ist das Paradoxon eines unbegrenzten Begrenzten; denn sie vollzieht sich innnerhalb bestimmter Grenzen in unbegrenzter Zeit. Ausdrücklich
506
v g l . in De caelo u. a. I 9, 279 a 18-28. Autarkie, Sein und Leben wird dem göttlichen Leben und dem zugesprochen, was mit ihm in engstem Zusammenhang steht: dem Äther und dem Himmel. Für diese ewig währende Autarkie benutzt Aristoteles einen von den Alten entlehnten Terminus, den Terminus Äon, den er etymologisch als Zusammensetzung aus den Wörtern »immer« (άεί) und »sein« (είναι) erklärt (ebd., a 27).
254
Akt und ousia
weist Aristoteles in De caelo daraufhin, daß die Kreisbewegung nicht ohne telos noch unbegrenzt sei. Sie hat ein telos-, nur hat sie dieses telos immer in sich.507 Es ist im vorhergehenden Kapitel gesagt worden, daß die Eudaimonia und das um seiner selbst willen vollzogene Denken unbestimmt sind. Es kann über sie nichts ausgesagt werden, was sie in definitorische Grenzen zwänge. Dies heißt aber nicht, daß über sie überhaupt nichts ausgesagt werden könnte. Erstens kann, wie gezeigt, über sie ausgesagt werden, daß sie Tätigkeiten sind, die ihr telos in sich selbst haben. Zweitens kann über sie ausgesagt werden, daß sie dieselbe Struktur haben wie die Kreisbewegung (Aristoteles vergleicht selbst an einigen Stellen das Denken mit der Kreisbewegung: in Met. I 1, 1052 a 26-34, wo Aristoteles als das, was flir das Eine und Ungeteilte, den Gegenstand des Wissens und der Erkenntnis, am meisten exemplarisch ist, die Kreisbewegung und den Logos heraushebt, in Met. Κ 6, 1063 a 13-15, wo er die Wahrheitssuche auf das sich immer auf dieselbe Weise Verhaltende und niemals sich (i. S. der μεταβολή) Verändernde ausrichtet und für dieses die Kreisbewegungen vollziehenden Himmelskörper anführt, und schließlich An. post. II 12, 95 b 38ff., wo er das Prinzip des Syllogismus i. S. der Kreisbewegung beschreibt). Und drittens schließlich ist es möglich, daß in demselben Sinne, in dem die Kreisbewegung als Korrelat des unbewegt Bewegenden aufgefaßt wird, auch Denken und Eudaimonia als Korrelat von etwas, was unbewegt bewegt, aufgefaßt werden. Und eben diese Korrelation stellt Met. Λ 7-9 her. Die Untersuchungen in Met. Λ stellen also nicht insofern eine »Weiterentwicklung« gegenüber dem, was in Phys. VII und VIII und in De caelo abgehandelt wurde, dar, als sie das unbewegt Bewegende, das in der Physik völlig unbestimmt blieb und nur als Korrelat zur Bewegung im allgemeinen und zur Kreisbewegung als Sonder- und zugleich Idealform von Bewegung im besonderen beschrieben wurde, näher bestimmen. Das unbewegt Bewegende wird als Denkbares und Begehrbares in Met. A 7 nicht mit dem Denken und der Begierde identifiziert. Wie die Kreisbewegung sich zum unbewegt Bewegenden verhält, verhalten sich das Denken und die Begierde zum Denk- und Begehrbaren. Es handelt sich hier nicht um eine Identifikation, sondern um eine Korrelation, in der beide Relata nur durch ihren Bezug aufeinander bestimmt werden können und ansonsten jenseits jeder Bestimmung sind. Eine Identifikation beider miteinander jedoch würde nicht nur das unbewegt Bewegende seiner Unbestimmtheit entreißen, sondern auch die Korrelation zerstören. Man mag den Unterschied zwischen Phys. VII und VIII und Met. A 7-9 wie Lang und Manuwald als Unterschied in der Behandlung verschiedener causae sehen (während das unbewegt Bewegende in Phys. VII und VIII von der causa
507
De caelo I 5, 273 a 5f., und I 7, 274 b 26.
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
255
movens her gedacht wird, wird das unbewegt Bewegende in Met. Λ als Begehrund Denkbares (1072 a 26) von der causa final is her gedacht), sofern man nicht grundsätzlich einen sachlichen Unterschied in der Erörterung des unbewegt Bewegenden zwischen Physik und Metaphysik sieht. 508 Auch in Met. Λ wird
Helen S. Lang sieht jedoch einen solchen Unterschied. Für sie ist das, was in der Physik über das unbewegt Bewegende abgehandelt wird, nur Antizipation dessen, was in Met. Λ über das unbewegt Bewegende gesagt wird. Die in der Physik behandelten Fragen betreffen nach Lang weit eher die Bewegung und die Dinge, die in Bewegung sind, als den unbewegten Beweger selbst, der in der Physik nur als causa movens,
nicht aber
»metaphysisch« als causa finalis betrachtet werde. Die Untersuchung seiner als einer causa finalis
(nämlich als eines »Objekts« der Liebe) erfolge erst in Met. Λ. Insofern
antizipiere die Physik die in der Metaphysik zur Darstellung kommende Theologie des Aristoteles. Denn beide, Physik sowohl wie Theologie, untersuchen dieselbe causa prima, jene vom Standpunkt der Bewegung, diese vom Standpunkt der »Substanz«. Die Theologie vervollständige daher die Physik, ohne ihr die Eigenständigkeit einer unabhängigen und theoretischen Wissenschaft zu nehmen (H. S. Lang, Aristotle 's First Movers and the Relation of Physics to Theology, in: The New Scholasticism
52 (1978),
500-517). In einem späteren Aufsatz läßt Lang die Problematik der Physik ausschließlich um die Bewegung kreisen und interpretiert in diesem Sinne auch die nicht unbedeutende Stelle aus dem 10. Kapitel des VIII. Buchs der Physik, wo über den - ihrer Meinung nach vermeintlichen - Ort des unbewegten Bewegers gehandelt wird (267 b 69). Nicht der Ort des unbewegten Bewegers - so ihre Interpretation - sei hier gemeint, sondern der Ort der Bewegung des unbewegten Bewegers (als Prädikat der Ellipse εκεί ά ρ α το κινούν, 267 b 9, ergänzt sie κινεί). So werden die Theorien des unbewegten »Bewegers« in Physik und Metaphysik
miteinander in Einklang gebracht, wobei die in
der Physik abgehandelte »Lehre« vom unbewegten »Beweger« als die der endgültigen Interpretation des unbewegten Bewegers unfähige dargestellt wird. Daher könne Phys. VIII auch nicht, wie dies der Tradition gemäß geschehe, so gelesen werden, als enthalte dieses Buch einen Beweis fiir den unbewegten Beweger, und zwar deswegen, weil es auf dessen Analyse in der Physik gar nicht ankomme: »But because physics is the science of mobile being, it should not contain statements about t o άκίνητον κινούν independently of the requirements of motion. Hence, on this reading, physics as a science breaks down (only a few short lines before the end of a lengthy book) and here in Physics VIII a problem arises which neither in fact receives, nor in principle could receive, any further treatment« (Aristotle 's Immaterial Physics
VIII, in: Review of Metaphysics
Mover and the Problem of Location
in
35 (1981), 321-335, p. 334). Die weitere Be-
handlung des Problems (nämlich des »unbewegten Bewegers«) erfolge erst in der Metaphysik, in dessen XII. Buch allein der Beweis für den unbewegten Beweger erbracht werde.
256
Akt und ousia
der Begriff des unbewegt Bewegenden als eine Notwendigkeit entwickelt, die sich aus den Strukturen des Denkens ergibt. Der Gedankengang, der in Met. Λ (von c. 6 an) zum unbewegt Bewegenden fuhrt, ist folgender: Da alles, was wir in vergänglicher Bewegung sehen, den Grund seines Bewegtseins nicht ausschließlich in sich selbst haben kann - und zwar deshalb, weil Bewegung als etwas Immerwährendes hypostasiert wird, dieses Immerwährende aber nicht das sich im Sinne des Werdens und Vergehens Bewegende sein kann - , muß es eine immerwährende Bewegung geben, die allen Bewegungen zugrunde liegt. Diese Bewegung ist die Kreisbewegung. Bis hierhin gibt es keine Inkonzidenzen mit dem, was in Phys. VII und VIII gesagt wurde. Die Kreisbewegung nun ist zwar etwas, was andere Bewegung in Gang setzt, aber gleichzeitig selber etwas, was bewegt wird. Der sich im Kreise bewegende Körper ist ein κύκλω κινούυενον. Die Tätigkeit seiner Bewegung wird im Griechischen - wie bereits dargelegt im Passiv ausgedrückt. Da es ein Bewegtes und ein Bewegendes gibt, muß es auch - so der Gedankengang, der in Met. Λ 7 unmittelbar zur Notwendigkeit eines unbewegt Bewegenden führt - etwas geben, was, ohne bewegt zu werden, bewegt (1072 a 24 ff.). Impliziert ist in diesem Gedanken erstens das in Phys. VII und VIII ausgesprochene Prinzip omne quod movetur ab aliquo movetur und zweitens die Notwendigkeit des Zum-Stehen-Kommens des Denkens, die ανάγκη στηναι. Diese wird später, im Kapitel 8, im Zusammenhang mit dem έις-απειρον-Verbot auch genannt (1074 a 29ff). Da die Kreisbewegung ein Bewegtwerden ist, jedes Bewegte aber seinen Ursprung in einem anderen Bewegenden hat (denn sonst wäre es kein Bewegtes) und es auf diese Weise nicht bis ins Unendliche fortgehen kann, muß es etwas geben, was nur noch bewegt, selbst aber nicht bewegt wird. Das ist die Implikation, die der Gedanke, der in Met. Λ 7, 1072 a 24f. ausgesprochen wird, enthält. Auch hier ist noch volle Übereinstimmung mit dem Inhalt von Phys. VII und VIII. Erst ab 1072 a 26, wo das unbewegt Bewegende als Begehrtes und Gedachtes bestimmt wird, könnte man einen Unterschied zu Phys. VII und VIII sehen, sofern man nicht das, was Aristoteles in Phys. VIII 3 das - Denken und Begierde bewegende - περίεχον (253 a 16f.) nennt, mit dem hier in Met. bestimmten unbewegt Bewegenden gleichsetzen will. Aber selbst wenn man diese Gleichsetzung nicht mitmacht,
Manuwald dagegen sieht zwar keine sachliche Inkohärenz zwischen Phys. und Met. in Hinsicht auf das unbewegt Bewegende, leugnet aber eine Identität »im strikten Sinne« (S. 120) zwischen dem (von ihm vornehmlich als Wirkursache verstandenen) unbewegt Bewegenden von Phys. und der »transzendenten Finalursache der Bewegung« (ebd.) in Met. Überdies scheint auch fur ihn die Identifikation dieses »unbewegten Bewegers« von Met. Λ mit Gott völlig unproblematisch zu sein (B. Manuwald, Studien zum Unbewegten Beweger in der Naturphilosophie
des Aristoteles,
Wiesbaden 1989).
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
257
besteht noch kein Grund dafiir, anzunehmen, es sei in Met. eine von Phys. VIII abweichende Theorie vom unbewegt Bewegenden entwickelt worden. Denken und Gedachtes, Begierde und Begehrtes sind Korrelata, die ohne einander nicht zu denken sind - in dem gleichen Maße, wie Bewegtes und Bewegendes Korrelata sind. Der Begriff des Gedachten macht wie der Begriff des unbewegt Bewegenden nur Sinn im Hinblick auf die Bewegung des Denkens. Vom Denken und von der Bewegung her werden unbewegt Bewegendes und Gedachtes gedacht. Das Denken bleibt als das vom Gedachten oder Denkbaren Bewegte Prinzip, άρχή, der Bewegung (Met. Λ 7, 1072 a 30). Daß das unbewegt Bewegende als Denk- und Begehrbares i. S. einer Korrelation zu interpretieren ist und nur innerhalb dieser Korrelation als Begriff einen Sinn macht, soll durch eine Stelle innerhalb von Met. erwiesen werden, in der der Begriff des προς τι, des Relatum, thematisiert wird. In Met. Δ 15, 1021 a 29ff. wird eine Sonderform von Beziehung beschrieben, bei der das eine der beiden Relata dadurch Relatum genannt wird, daß es nicht selbst in Beziehung tritt, sondern ausschließlicher Bezugspunkt einer Beziehung ist. Solche ausschließlich bezogenen Relata sind das Meßbare, das Wißbare und das Denkbare. Bei ihnen hat eine Relation nur statt, weil anderes, das Messen, das Wissen, das Denken, auf sie bezogen wird. »Denn das Denkbare«, sagt Aristoteles, »bedeutet, daß es ein Denken von ihm gibt« 509 . Sofern etwas als Denk-, Wiß- oder Wahrnehmbares bezeichnet wird, wird es von vornherein mit Bezug auf das Denken und das Wahrnehmen gedacht. Dies wird deutlich, wenn man hierzu im Vergleich Aristoteles' Psychologie anfuhrt. »Die Seele ist auf gewisse Weise alles Seiende«, heißt es in De an. III 8. »Denn alles Seiende ist entweder wahrnehmbar oder denkbar, und das Wissen ist auf gewisse Weise das Wißbare und die Wahrnehmung das Wahrnehmbare« (431 b 21-23). Was hiermit behauptet wird, ist keineswegs die Identität von seelischem Akt und dem, worauf der seelische Akt geht, sondern die Korrelation von seelischem Akt und seinem Bezugspunkt. Seiendes wird gleichsam durch die Seele und ihre ένέργειαι »konstituiert«. Ohne Dasein kein Sein - so heißt es bei Heidegger, der sich genau auf diese Stelle aus Aristoteles' Seelenschrift beruft, wenn er vom ontischen Vorrang des »Daseins« spricht, das er nur deshalb nicht Seele nennt, um sich nicht einer Analyse dessen, was einen ontologischen Bezug herstellen kann, durch voreilige begriffliche Fixierung zu begeben. 510 509
Aristoteles, Met. Δ 15, 1021 a 30ff.
5
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen 1986, 14. Es ist nicht unwichtig, daraufhinzuweisen, daß Heidegger dort, wo er Aristoteles' Seelenschrift zitiert und vom (von Aristoteles seiner Meinung nach nicht geklärten) »ontisch-ontologischen Vorrang des Daseins« spricht, auch Thomas von Aquin und dessen Entfaltung der Tran-
'°
258
Akt und ousia
Dabei darf freilich nicht einfach behauptet werden, daß die seelischen Akte Seiendes kreieren. Seiendes ist als etwas, was durch die Seele ansprechbar ist, zwar nur durch diesen Bezug auf die Seele, aber nicht in dem Sinne, daß es von ihr geschaffen würde. Denn ein solches Schaffen wäre Poiesis, Bewegung, Veränderung, ein Werden zum Sein (γένεσις εις öv 5 1 1 ), aber nicht ein Sein selbst. Was geschaffen wird, wird aus etwas zu etwas, erleidet also eine Veränderung und ein Vergehen. Gerade dies aber ist bei den ausschließlich Bezugspunkt seienden Relata nicht der Fall. Eine Veränderung erhalten sie durch den Bezug nicht. Das Bezogene ist άκχνητον, unbeweglich. Die Unbeweglichkeit gilt für das Relatum allgemein, das wegen seiner Unbewegtheit unter den akzidentellen Kategorien eine Ausnahmestellung einnimmt und von Aristoteles an anderer Stelle sogar nur die Affektion einer Affektion (nämlich des Quantums) genannt wird ( π ά θ ο ς τι του ποσού, Met. Ν 1, 1088 a 24f.). Denn fur das Relatum gibt es kein Werden, kein Entstehen, keine Bewegung, ja nicht einmal - wie für das Quantum - Zuwachs und Abnahme (ebd., 1088 a 30ff.). Wenn Aristoteles hier dem Relatum das Sein gänzlich abspricht, dann aus ähnlichem Grunde wie in Met. Θ 3: weil er hier wie dort den Akt- bzw. Seinsbegriff an der Bewegung orientiert, weil das Relatum nur durch die Tätigkeiten, in bezug auf die es ausgesagt wird, sein »Sein« erhält. Denkbares, Begehrbares, Wahrnehmbares etc. »sind« nur durch die Tätigkeiten des Denkens, Begehrens und Wahrnehmens; aber sie sind als die ewigen Motoren seelischer Aktivität gleichzeitig außerhalb der Seele, jenseits von Denken und Begierde. 512
szendentalienlehre in De ver. q. 1 a. 1 c. erwähnt, welche ebenfalls ihren Kern in der quodammodo-Identität
von Seele (= Dasein = Wahrnehmung = Denken) und Sein (=
Wahrnehmbares = Denkbares) von De an. III 8 hat. 5,1
Phys.V
^'2
Daß innerhalb der Korrelation von Denken und Denkbarem, Begierde und Begehrba-
1,224 b 10.
rem, Wahrnehmen und Wahrnehmbarem das eine Korrelat zwar durch das andere als solches allererst konstituiert wird, dieses aber zugleich, selber unbewegt, in Bewegung setzt, macht eine andere Stelle aus De an. deutlich. In De an. III 10 (433 b 13-21) unterscheidet Aristoteles in bezug auf das Problem der Bewegung drei Arten: das bewegend Unbewegte, das bewegend Bewegte und das nicht-bewegend Bewegte. Das unbewegt Bewegende ist das praktische Gute, das Aristoteles zuvor allgemein als das Begehrbare beschrieben hat; das bewegend Bewegte ist die Begierde und das ausschließlich Bewegte das (vom Denken und der Begierde bewegte) Lebewesen. Begehrtes, Gedachtes und Wahrgenommenes stehen mit der Begierde, dem Denken und der Wahrnehmung in Korrelation. Sie sind als der ausschließliche Bezugspunkt einer Beziehung gleichsam die Motoren seelischer Aktivität, ohne daß sie selbst aktiv wären und ohne daß sie selbst
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
259
Daß diese ausschließlicher Bezugspunkt seienden Relata, das Denk- und Begehrbare, als unbewegt Bewegendes mit dem göttlichen νους identifiziert wurden, hängt vielleicht weniger mit Aristoteles als mit der Auslegung des Aristoteles zusammen. Die entscheidende Stelle fur diese Identifikation ist Met. Λ 7, 1072 b 14ff. Nachdem Aristoteles das unbewegt Bewegende als Denk- und Begehrbares (oder, wenig später, als Geliebtes, als έρώμενον, 1072 b 3) »bestimmt« hat, weist er seine reine Aktualität und sein Nie-sich-anders-verhaltenKönnen nach. Reiner Akt ist es, weil es nicht als telos von anderem gedacht werden kann, und Nie-sich-anders-verhalten-Könnendes ist es, weil es als Unbewegliches gedacht wird. Damit ist aber lediglich gemeint, daß es dem Bereich der Poiesis entrückt ist. Das Denk- und Begehrbare erfährt keine Veränderung in dem Sinne, wie die zum Haus verarbeiteten Steine eine Veränderung erfahren, die als Haus sein Könnendes um willen dessen gedacht werden. Das Denk- und Begehrbare hingegen wird um keines anderen willen gedacht als um seiner selbst willen. Das hindert es aber nicht, als etwas gedacht zu werden, was immer anders ist. Da die Bezüge, die das Denken herstellt, unendlich mannigfaltig sind, entgeht das Korrelat des Denkens einer Fixierung. Das Denk- und Begehrbare ist völlig unbestimmt, nie auf eine Bedeutung festlegbar. Es ist, paradox formuliert, deswegen immer anders, weil es nie etwas anderes, als das, was es ist, sein kann. Als solches unbewegt Bewegendes, immer sich selbst gleich Bleibendes ist es auch Grundlage fiir die Kreisbewegung. Die Beziehung des unbewegt Bewegenden zur Kreisbewegung stellt Aristoteles auch hier, in Met. Λ 7, her. 5 1 3 Nachdem Aristoteles dies alles über das unbewegt Bewegende qua Begehrbares, Denkbares und Geliebtes ausgeführt hat, sagt er 1072 b 14, daß von diesem (wörtlich »von dieser άρχη«) Himmel und Natur abhängen. Die nächste Zeile ist der Dreh- und Angelpunkt der Interpretation. Aristoteles sagt: διαγωγή δ' ècrrìv ο"ια ή άριστη μικρόν χρόνον ήμιν. Die Zeile ist bewußt auf griechisch wiedergegeben worden, weil eine deutsche Übersetzung nicht auf ein pronominales Epitheton dessen, was Aristoteles διαγωγή nennt, verzichten kann. D. h., eine Übersetzung muß sich für einen bestimmten Bezug entscheiden, der im Griechischen offen gehalten ist. Es kann schwerlich übersetzt werden »die Lebensweise ist so beschaffen, wie [...]«; denn man fragt - und nicht nur im Deutschen - sogleich »wessen Lebensweise ist so beschaffen, wie [...]?« und will den »Träger«, das »Subjekt« von διαγωγή in der Übersetzung zum Ausdruck gebracht wissen. Die Frage, auf wen sich διαγωγή beziehe, ist natürlich völlig berechtigt. Meine Kritik an der traditionellen Auslegung dieser Stelle ist, daß
zur Seele gehörten (denn mit dieser sind sie, wie in De an. III 8 gesagt wurde, nur »auf gewisse Weise« identisch). 513
Vgl. 1072 b 9-10.
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Akt und ousia
diese Frage ernsthaft nie gesteilt worden ist und daß man sich - seit Alexander sogleich für den Bezug von διαγωγή auf das, was in 1072 b 14 άρχη genannt wird, also auf das unbewegt Bewegende qua Begehrbares, Denkbares und Geliebtes, entschieden und sich damit der anderen Möglichkeit, die auch denkbar ist, nämlich der Möglichkeit, διαγωγή auf ουρανός und φύσις zu beziehen, von vornherein beraubt hat. Die Bezugnahme von διαγωγή auf das unbewegt Bewegende rührt von Alexander her. In seinem Kommentar zur Metaphysik bezieht er διαγωγή, ohne zu erklären, warum, und ohne die Möglichkeit, διαγωγή auf ουρανός und φύσις zu beziehen, auch nur zu erwähnen, von vornherein auf das, was er πρώτον αίτιον nennt. Diese Bezugnahme ist nun keineswegs falsch. Sie ist eben eine von zwei Möglichkeiten, die der Text zuläßt. Man muß sich aber danach fragen, welche Konsequenzen eine solche Lesart hat. Was Aristoteles unter διαγωγή versteht, erklärt er im Anschluß an 1072 b 15. Gemeint ist damit die lustvolle Aktivität von Denken und Wahrnehmen, der eudämonische Akt des (sinnlichen sowohl wie »übersinnlichen) Schauens und Sehens, der allererst Gott (der Ausdruck ό θεός fällt in diesem Zusammenhang das erste Mal in 1072 b 25), der diesen Akt in Ewigkeit vollziehen kann, und in zweiter Instanz auch den Menschen, »uns« zukommt, die wir diesen Akt nur eine kurze Zeit lang (μικρόν χρόνον) vollziehen können. Der Ausdruck ευδαιμονία fallt hier zwar nicht, ist aber mit dem, was Aristoteles ab 1072 b 15 beschreibt, gemeint; denn die ήδονη des Denkens und Wahrnehmens (1072 b 17) und die Eudaimonia qua bios theoretikos fallen, wie das zehnte Buch von EN zeigt, zusammen. Wenn man nun das Wort διαγωγή von 1072 b 15 auf die erste Ursache, also das unbewegt Bewegende, bezieht und unter diesem unbewegt Bewegenden das Denk- und Begehrbare versteht, so käme man zu einer Identifkation von Denken und Denk«gegenstand«. In der Tat scheint Aristoteles eine solche Identifikation auch auszudrücken: zum einen mit den Zeilen 1072 b 20-23 und zum anderen mit dem Ausdruck der νόησις νοήσεως von A 9, 1074 b 34. Die Zeilen 1072 b 2023 heißen: »Der νους, das Denkvermögen, denkt sich selbst durch Teilhabe am Denkbaren. Es (das Denkvermögen) wird dadurch (selbst) denkbar, daß es das Denkbare berührt und denkt, so daß Denkvermögen und Denkbares dasselbe (werden, sind?). Denn das Denkvermögen ist das, was das Denkbare und die ousia aufnimmt. Im Haben (dessen, nämlich des Denkbaren, i. e. der ousia) verwirklicht es sich.«
Was hier gesagt wird, kann in Parallele zu De an. III 8 gelesen werden. Denken und Gedachtes werden im Falle der Aktualisierung des Denkvermögens quasi identisch. Diese Identität ist aber, worauf Rudolph ganz richtig hinweist, nicht eine Identität des Denkvollzugs mit dem Gedachten (auch nicht, wie Ru-
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dolph weiter richtig sagt, eine Identität von Sein und Denken im Sinne des Parmenides), sondern sie bedeutet lediglich das Zugleichsein von Denken und dem telos des Denkens, dem Gedachten. »Daß Denken immer Denken von etwas ist«, so Rudolph, »bedeutet nicht, daß Denken und Gedachtes differenzlos identisch sind, sondern daß das Zugleichsein von Denken und Gedanken als eine besondere Art von Prozeß zu fassen ist«. 514 Mit meinen Worten: Denkbares und Denken korrelieren. Diese Korrelation kommt aber erst durch den Vollzug des Denkens, durch die Aktualisierung des νους zustande. In diesem Vollzug werden das Denkvermögen zum aktualen Denken und das Denkbare zum aktual Gedachten. Beide, Denken und Denk«gegenstand«, bleiben aber innerhalb dieses Bezugs voneinander geschieden. Sie sind notwendig aufeinander bezogen, aber sie sind nicht, wie Rudolph richtig sagt, differenzlos identisch. Alexander nun faßt diese »Identität« von Denken und Denkbarem nicht im Sinne einer Korrelation, sondern im Sinne einer gemeinsamen »Eigenschaft«, der Eigenschaft der Stofflosigkeit. Denken und Denkbares, der Intellekt und die Intelligibilia sind nach Alexander insofern einander identisch, als sie beide ohne Materie sind. 5 1 5 Es gibt nach ihm aber einen Unterschied zwischen dem ersten und hauptsächlichen Intelligiblen (κυρίως νοητά καί κ α θ ' αυτά) und dem Intelligible^ das zu einem solchen erst gemacht werden muß. Das Denkbare im ersten Sinne, das an sich Denkbare, ist von vornherein Stoff- und körperlos. Das Denkbare im zweiten Sinne wird erst durch den Akt des Denkens, der darin besteht, daß er das Denkbare, die είδη, von der Materie trennt, zu einem an sich Denkbaren. Darin liegt nach Alexander auch der Unterschied zwischen der διαγωγή und dem Denken Gottes (oder der ersten Ursache) und »unserer« διαγωγή, »unserem« Denken. Das Denken Gottes denkt unmittelbar sich selbst, weil das von ihm Gedachte unmittelbar denkbar, i. e. stofflos ist, während das menschliche Denken zum Denkbaren nur wird, weil es das von ihm Gedachte erst noch vom Stoff »befreien« muß. Das Denken Gottes oder der ersten Ursache ist ewig aktuales Denken, das Denken der Menschen ist nur zeitweilig aktual; es hat nur die Potenz, das von ihm Gedachte zu werden. Der Begriff der Aktualität wird von Alexander mit dem des Sich-selbst-Denkens (το voeiv εαυτόν) gleichgesetzt. Sich selbst denken meint nach Alexander, daß etwas Stoffloses (der νους) etwas Stoffloses (das νοητόν) denkt. Und eben dies ist bei Gott immer, bei »uns« nur bisweilen der Fall. 514
Enno Rudolph, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der Wirkungsgeschichte,
515
protestantischen
Stuttgart 1986, 94.
άυλον [...] νους καί νοητόν έστιν (Alexander Aphrodisiensis Comm. in Aristotelis Metaphysica, in: M. Hayduck (Hrsg.), Commentario Berlin 1882ff„ 695, 6f.).
in Aristotelem
Graeca, 23 Bde.,
Akt und ousia
262
In dieser Weise werden von Alexander auch die Zeilen 1072 b 20-23 erklärt. Daß der νους durch Teilhabe am Denkbaren sich selber denkt, meint die Verwirklichung der Fähigkeit des νους, die είδη, indem er sie »berührt«, zu denken. Die Zeilen werden also ausschließlich auf den menschlichen νους bezogen, der nicht wie der göttliche νους oder der νους der ersten Ursache immer schon in actu ist, weil er das von ihm Gedachte ist (das Intelligible nicht erst zu einem solchen zu machen braucht), sondern der aktualisiert wird, weil er das von ihm Gedachte, das er vom Stoff erst noch zu trennen, erst noch intelligibel zu machen hat, wird. Der göttliche νους ist immer in actu, der menschliche, entstofflichende νους kommt in actum. Der göttliche νους ist wirklich, der menschliche wird wirklich durch Überführung vom Potentialen in den aktualen Zustand des Gedachten. »Der so beschaffene Intellekt«, erklärt Alexander die Worte ενεργεί δέ έ χ ω ν von Zeile 1072 b 23, »wird aktual (ενεργεί), indem er das Intelligible dadurch in sich hat, daß er es (sc. vom Stoff) getrennt hat.« 5 1 6 In den eudämonischen Akt des Denkens, mit dem in Λ 7 die διαγωγή von Zeile 1072 b 15 erläutert wird, bezieht Alexander also ausdrücklich den menschlichen νους ein. Da Alexander aber die διαγωγή auf das unbewegt Bewegende bezieht und mit diesem den göttlichen νους identifiziert, bedarf es einer Einschränkung. Das Denken als das an sich Beste (1072 b 19) muß als proprium Gottes dadurch gerettet werden, daß das menschliche Denken auf dem Hintergrunde des göttlichen Denkens betrachtet wird. Was den sich aktualisierenden menschlichen Intellekt zum Besten macht, sei nicht die Fähigkeit, das von ihm Gedachte vom Stoff zu trennen, sondern die Identität seiner mit dem von ihm Gedachten, die den göttlichen oder ersten Intellekt (πρώτος νους) von vornherein auszeichnet, zu der der menschliche Intellekt aber erst kommen muß. Wenn der menschliche Intellekt in Λ 7 abgehandelt werde, dann einzig und allein wegen seiner Ähnlichkeit mit dem ersten Intellekt, zu dem er »auf gewisse Weise« (πως) wird. 5 1 7 Mit dieser Interpretation der aristotelischen Worte hängt auch die von den Handschriften abweichende Lesart zusammen, die Alexander für die Worte hat, die auf das hier angeführte Zitat folgen. Alexander liest Z. 1072 b 23 f. so: ώστ' εκείνου μάλλον τούτο ô δοκει ò νους θείον έχειν, καί ή θεωρία το ήδιστον καί άριστον. Die Handschriften haben statt εκείνου εκείνο und statt τούτο τούτου, εκείνου bezieht Alexander als Genitiv des Bereichs oder Genitivus possessivus auf den πρώτος νους, i. e. den Intellekt Gottes, zu dem das Sich516
Ebd., 698, 29 f.
517
έστι δ' ό κατ' ένέργειαν νους άριστον, ούχ οτι τα είδη χωρίς ύλης νοων έκεινα γίνεται, άλλ' ότι και τον πρώτον νουν ώς δυνατόν νοων εκείνος πως γίνεται (ebd., 698, 18-20).
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
263
selbst-Denken mehr (μάλλον) gehört als zu dem durch abstrahierndes (das Gedachte vom Stoff trennendes) Denken tätigen Intellekt (ό ενεργεία νους), also unserem, dem menschlichen Intellekt. 518 Diese Seite des Vergleichs ist reine Erfindung des Alexander. Immerhin könnte εκείνου ja auch als Genitiv des Vergleichs aufgefaßt werden, und dann wären beide Seiten des Vergleichs namentlich aufgeführt. Ein ενεργεία νους, der nur zeitweise denkt, wäre so nicht mehr zu lesen. Überdies ist die Gleichsetzung von Sich-selbst-Denken (το εαυτόν νοειν) und ô δοκει ό νους θείον έχειν schon fragwürdig, womit auch die Gleichsetzung von θεωρία und dem Denken Gottes fragwürdig wäre. Ross macht im Kommentar darauf aufmerksam, folgt aber der Lesart Alexanders und rettet die Gleichsetzung von θεωρία und Gottes Denken, indem er εκείνου auf den unbewegten Beweger bezieht, zu dem das, was der νους an Göttlichem hat, mehr gehöre als zum menschlichen Intellekt. Allerdings schlägt Ross noch eine zweite Interpretation (unter Beibehaltung der Lesart Alexanders) vor, indem er εκείνου als Genitivus comparationis auf das etwas weiter zurückliegende το γαρ δεκτικον του νοητού και της ουσίας νους und τούτο auf den unmittelbar vorausgehenden Satz (ενεργεί δε έχων) bezieht. 519 Doch kommt es Aristoteles hier nicht gerade auf die ενέργεια an, und steht nicht im Mittelpunkt sowohl von Buch Λ als überhaupt der ganzen Metaphysik die Wirklichkeit, der actus als das der Möglichkeit gegenüber Vollkommenere? Und so ist auch hier wohl nur an eine Gegenüberstellung des potentialen Denkens oder vielmehr des Denkvermögens, des νους, und der Theoria als der Aktualisierung des νους gedacht. Der Akt ist immer besser als das, was er verwirklicht. Ich folge insofern der zweiten
518
Ebd., 698, 34ff.
519
Ross im Metaphysik-Kommentar, a. a. O., 380f. Dieser Interpretation folgt auch Tredennick, der übersetzt: Hence it is actuality rather than potentiality that is held to be the divine possession of rational thought, and its active contemplation is that which is most pleasent and best (Aristotle's Metaphysics,
transi, by Hugh Tredennick, Loeb Classical
Library, Bd. XVIII, 151). θεωρία wäre dann allgemein aktualisiertes Denken (actual contemplation in general, Ross ibid.). So sieht es auch Bonitz, der jedoch die Lesart der Handschriften beibehält und έκεινο auf das νοητόν bezieht, was allerdings etwas verwirrend ist. Denn dann wäre das νοητόν göttlicher als der es denkende νους. Wenn dies so ist, was hat dann damit der zweite Teil des Satzes zu tun? Es stehen so zwei verschiedene Inhalte unvermittelt nebeneinander (vgl. Seidl, der die Übersetzung von Bonitz bearbeitet hat: »Also ist jenes (das Intelligible) noch in vollerem Sinne göttlich als das, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und die Betrachtung (theoretische Tätigkeit) ist das Angenehmste und Beste«, Aristoteles'
Metaphysik,
Neubearb. der
Übers, von H. Bonitz, mit Einl. u. Komm. hrsg. von Horst Seidl, 2. Halbb., 3., verb. Aufl., Hamburg 1991, 257).
264
Akt und ousia
Interpretation von Ross, die sich aber auch mit der Lesart der Handschriften vereinen läßt, indem ich εκείνο auf die Aktualisierung des Denkvermögens beziehe, auf den das νοητόν habenden νους (= θεωρία): »Also ist jenes göttlicher als dasjenige, was der νους (als Denkpotenz)
nach allge-
meiner Meinung an Göttlichem hat, und zwar die Theorie (die Aktualisierung der Denkpotenz = der energierende νους) als das Lustvollste und Beste.« 5 2 ®
Der eudämonische Akt des Denkens, mit dem Aristoteles in Λ 7 die διαγωγή von Z. 1072 b 15 beschreibt, muß also nicht als proprium des göttlichen Denkens verstanden werden, sondern als das proprium eines sich selbst zum Zwecke habenden Denkens allgemein, das sowohl Gott als auch den Menschen auszeichnet, Gott allerdings in größerem Maße, weil die göttliche Tätigkeit immer von Poiesis frei ist, wie es in EN X heißt. 521 Daß Gott immer, wir hingegen nur zuweilen in dieser eudämonischen, lustvollsten Aktivität sind, bedeutet nicht eine Unterschiedlichkeit in der Struktur des Denkens, wie Alexander und die ihm folgende Tradition will. Das, was das Denken Gottes von dem des Menschen unterscheidet, ist einzig, daß Gott nie zu denken aufhört, daß er, denkend und begehrend, immer in Bewegung ist. Eine reine Identität von Intellekt und Intelligiblem gibt es auch bei ihm nicht. Die »Identität« ist nur als Anteilnahme, als Haben, nicht als Sein des Intelligiblen zu denken. Die Differenz zwischen Intellekt und Intelligiblem bleibt in dieser »Identität« erhalten. Das, was das Denken in Gang hält, ist das Denkbare, auch wenn es vom Denken »besessen« wird, und es kann das Denken auch nur in Gang halten, wenn zwischen ihm und dem Denken eine Grenze besteht, die ein vollständiges Aufsaugen des Denkbaren durch das Denken unmöglich macht, weswegen der Begriff der Anteilnahme (μετάληψις) hier besser paßt als der des Habens. Wenn man also schon die διαγωγή von Z. 1072 b 15 auf das unbewegt Bewegende beziehen will - eine Möglichkeit, die ich, wie gesagt, keinesfalls ausschließe - , so kann man schwerlich diese als den reinen eudämonischen Akt des Schauens (des Denkens und des Wahrnehmens) nur auf Gottes »Leben« beziehen. Der eudämonische Akt des Denkens kommt zwar Gott in größerem Maße als dem Menschen, aber nicht ausschließlich zu. Wenn also das unbewegt Bewegende als Denken gefaßt wird, dann muß es auch als menschliches Denken gefaßt werden, was im übrigen auch mit der Untersuchung des unbewegt Bewegenden in Phys. VII und VIII übereinstimmt. Die (menschliches Denken erfor520
Vgl. auch Apostle im Kommentar, der gleichfalls den Besitz des Intelligiblen mit der Kontemplation desselben (der θεωρία) gleichsetzt und ihn als das gegenüber der Potenz, es zu empfangen, Göttlichere bezeichnet (Apostle, a. a. O., 205).
521
EN Χ 8 , 1 1 7 8 b 20-22.
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
265
dernde) Baukunst bewegt etwas, ohne (in bezug auf die von ihr hervorgerufene Bewegung) selbst bewegt zu werden. Reiner freilich und in Übereinstimmung mit De caelo und Phys. wird das Verhältnis von unbewegt Bewegendem als Begehr- und Denkbarem auf der einen und von dem unmittelbar vom unbewegt Bewegenden in Gang gesetzten sich im Kreise Bewegenden (da immer sich an seinem telos Befindenden) als Denken und Begierde auf der anderen Seite gefaßt, wenn die διαγωγή von Z. 1072 b 15 auf ουρανός und φύσις von Z. 1072 b 14 bezogen wird. In Übereinstimmung mit De caelo ist dieser Bezug deswegen, weil dort vom Himmel ausdrücklich das Leben ausgesagt wird. Vom ουρανός έμψυχος ist in De caelo die Rede. 5 2 2 Der einzige Einwand, der gegen diesen Bezug erhoben werden könnte, ist eine mangelnde Motivation für den Umschlag der Rede. Warum sollte, könnte eingewendet werden, jetzt plötzlich von dem, was vom unbewegt Bewegenden abhängt, geredet werden statt weiter von diesem selbst? Dem Einwand kann damit begegnet werden, daß auf die enge Korrelation von unbewegt Bewegendem und dem von ihm unmittelbar Bewegten hingewiesen wird. Es ist insofern vor wie nach die Rede vom unbewegt Bewegenden, als jetzt, ab Z. 1072 b 15, von dem Korrelat des unbewegt Bewegenden die Rede ist (Himmel, Denken, Begierde, φύσις), in bezug auf das das unbewegt Bewegende einzig und allein »bestimmt« werden kann. Daß die Rede vom unbewegt Bewegenden auf das von ihm Bewegte umschlagen kann, zeigt nur, wie eng der Bezug des unbewegt Bewegenden als Denk- und Begehrbares auf das Denken, auf die Begierde, auf das Leben, fur die Himmel und Natur allgemein stehen, ist. Das Denken Gottes ist innerhalb der φύσις wie das Denken des Menschen. Der νους Gottes ist, wie Met. 1028 a 18 und EN 1096 a 25 belegen, wie der νους des Menschen erste ousia im Sinne der Kategorien. Gott ist innerhalb der Kategorien, innerhalb der φύσις. Jenseits der φύσις ist nur das unbewegt Bewegende als »Gegenstand« des sowohl göttlichen wie menschlichen Denkens. Seine einzige »Bestimmung« hat es durch den Bezug auf das begehrende Denken. Außerhalb dieses Bezugs ist es nicht nur völlig unbestimmt, sondern hat es auch gar keinen Sinn. Daß in der Rede von seinem Korrelat, dem das Denken um seiner selbst willen begehrenden Leben, auf das unbewegt Bewegende selbst immer mitverwiesen wird, daß also gar kein wirklicher Umschlag in der Rede ab Z. 1072 b 15 erfolgt, wird dadurch deutlich, daß beide Relata, sowohl das um seiner selbst willen vollzogene Denken als auch das Denkbare, dieselben Eigenschaften haben. Beide sind ousia und haben ihr telos in sich, das eine als Aktivität, das andere als der »Gegenstand« der Aktivität. Beide sind etwas, was sich nicht anders verhalten kann, was reiner Akt ist (1072 a 25, 1072 b 13). Aber trotz dieser Gemeinsamkeit gibt es hier
522
285 a 30.
266
Akt und ousia
keine Identität. Die ousia qua Praxis und Eudaimonia ist eine andere ousia als die ousia, welche die Praxis des Denkens als dessen »Gegenstand« stachelt. Die Deutung des unbewegt Bewegenden i. S. der Identität von Denken und Denk«gegenstand«, welche Oehler die »totale Selbstreflexion« nennt und in der er den Anfang der Relationenlogik wittert 523 , ist in der jüngeren AristotelesForschung erstmals von Norman fragwürdig gemacht worden, der diese vermeintliche Selbstreflexion des Denkens in Verbindung bringt mit anderen Stellen aus dem CA, vor allem aus der Psychologie (und hier bes. mit De an. III 4), und richtig nachweist, daß die »Selbstreflexion« des unbewegt Bewegenden (das Denken setzt er noch mit dem unbewegten Beweger gleich) dasselbe sei wie das gewöhnliche abstrakte menschliche Denken. Der einzige Unterschied zwischen dem menschlichen Denken und dem göttlichen Denken liege in der Länge der Zeit. 5 2 4 Norman hat recht, wenn er sagt, daß Aristoteles in Λ fur ein Leben eintrete, welches das des Philosophen und des »abstrakten philosophischen Denkens« sei. 5 2 5 De Filippo hat sich zwar in jüngster Zeit ebenfalls gegen die Deutung der νόησχς νοήσεως von Met. Λ 9 als reiner Selbstreflexion gewendet, indem er u. a. auf MM II 15 verweist, wo Aristoteles selbst die Selbstreflexion des göttlichen Denkens fragwürdig macht und die Frage nach dem Gegenstand des göttlichen Denkens schließlich offen läßt 526 , und indem er den Genitiv νοήσεως nicht als Genitivus obiectivus, sondern als Genitivus subiectivus interpretiert; aber anders als Norman, auf den er sich auch bezieht, sieht De Filippo keine Gemeinsamkeit zwischen göttlichem und menschlichem Denken, weil der menschliche νους Potenz sei. 5 2 7 Beide Interpreten halten aber noch an der Identifikation des unbewegt Bewegenden mit Gott fest. Daß eine solche Identifikation aber schwierig ist, soll die Interpretation des unbewegt Bewegenden illustrieren, die Kosman und Lindsay
J 524
Klaus Oehler, Der unbewegte Beweger bei Aristoteles, Frankfurt a. M. 1984, 97. Richard Norman, Aristotle's Philosopher-God, in: Phronesis 14 (1969), 63-74. »When it is said«, sagt Norman, »that the Prime Mover 'thinks itself, what is meant is not 'self-contemplation', but simply that identity of νους and νοητόν that characterises all abstract thought« (69).
525
A. a. 0 . , 72.
526
Vgl. bes. 1213 a 4-7.
527
Joseph G. De Filippo, The 'Thinking of Thinking' in Metaphysics the History of Philosophy 33 (1995), 543-562.
Λ 9, in: Journal of
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
267
Judson geben. Kosman 528 hebt - gegen die traditionelle Interpretation dieser Lehre, die er vor allem in Ross repräsentiert sieht 529 - die Identität von Energeia und unbewegt Bewegendem heraus. Von den Darstellungen der Lehre in den früheren Schriften (vor allem in De caelo) ausgehend und sich in der Metaphysik auf die Differenzierung von Bewegung und Akt in Θ 6 beziehend, leugnet er die Transzendenz und reine Unbewegtheit des unbewegt Bewegenden. Das »unbewegt« Bewegende bewege sich nämlich; allerdings sei die von ihm vollzogene Bewegung, die Kreisbewegung, unaufhörlich und in sich vollendet. Lindsay Judson 530 hält in Erwiderung auf diese Deutung zwar an der Tradition der Transzendenz des unbewegt Bewegenden fest, spricht aber nicht mehr wie Kosman von einer Gleichsetzung von unbewegt Bewegendem und Gott. Für sie ist der unbewegte Beweger qua Begehr- und Denkbares ein inspirational mover, der dadurch bewegt, daß das von ihm Bewegte als Begehrendes auf ihn bezogen ist. Der unbewegte Beweger ist nur qua causa fmalis causa efficiens: er »bewirkt« nicht im Sinne der en-ergischen Tätigkeit des Denkens und schon gar nicht im verändernden Sinne einer Poiesis; er ist vielmehr, wie Judson sagt, eine non-energetic efficient cause. Er ist zwar ein ενεργεία ov, und dies sogar im höchsten Sinne, da er ewige Aktualität ist; aber der Begriff der Energeia muß hier eine Differenzierung erfahren, in dem Sinne, daß der eine Begriff von Energeia von jedweder Form seelischer Aktivität, deren vollkommene Form die göttliche Eudaimonia des von jeglicher Zweckrationalität freien theoretischen Lebens ist, losgelöst wird. Die jüngere Aristoteles-Forschung zeigt also, daß man mit der Festsetzung einer Identität zwischen Denken und Gedachtem im Falle des unbewegt Bewegenden und mit der Festsetzung eines Unterschiedes zwischen der Struktur des göttlichen und des menschlichen Denken vorsichtiger geworden ist. Das unbewegt Bewegende qua Begehr- und Denkbares ist wie bei Judson »lediglich« Stachel für Denken und Begierde. Es ist ein Begriff, der nur als Relationsbegriff, 528
A. Kosman, Aristotle's Prime Mover, in: Mary Louise Gill/James G. Lennox (Hrsg.), Self-Motion. From Aristotle to Newton, Princeton (Ν. J.) 1994, 135-153.
529
Ross hält die Lehre vom unbewegten Beweger für eine späte Lehre des Aristoteles, welche zwar stufenweise entfaltet worden sei, aber erst in der Metaphysik ihre endgültige Ausformung in Richtung auf die Transzendenz des unbewegten Bewegers (des Hinausseins über jedwede Art von Bewegung) erhalten habe (W. D. Ross, The Development of Aristotle's Thought, in: Proceedings of the British Academy 43, 63-78, p. 75, repr. in: Bames/Schofield/Sorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle, Bd. 1 : Science, London 1975, 1-13).
530
Lindsay Judsons Erwiderung auf Kosman, der Aufsatz »Heavenly Motion and the Unmoved Mover«, findet sich in demselben Band wie Kosmans Aufsatz (155-171).
268
Akt und ousia
als Korrelat von Denken und Begierde, als Korrelat der Eudaimonia Sinn macht. Die Was-ist-Frage zu stellen fuhrt hier ebenso in die Irre wie beim Begriff der Materie. Man ist auch darin vorsichtiger geworden, in Met. Λ den Gipfel der aristotelischen Philosophie oder wie von Arnim die »triumphierende Verkündigung des Monotheismus« zu sehen; denn die Identifikation des unbewegt Bewegenden mit Gott zu behaupten ist heute zumindest schwieriger geworden. Der aristotelische Gott ist weder der jüdische noch der christliche Gott. Er ist nicht wie der jüdische Gott jenseits des Himmels und der Natur. Und er ist nicht wie der christliche Gott das Seiende als »Gegenstand« seines eigenen Denkens; er ist nicht das Allumfassende des Seins. 531 Das Seiende, die ousia, als »Gegenstand«
Die Identität von Sein und Gott kommt sehr deutlich bei Thomas von Aquin zum Ausdruck, und zwar in der Formel »Deus est suum esse« (S. th. I qu. 2, ar. 1, c.). Daß Gott sein Sein sei, bedeutet zum einen den höchsten Grad von Simplizität, weil im Falle Gottes das Subjekt mit dem Prädikat zusammenfällt (praedicatum est idem cum subiecto, ebd.), mithin dem »Subjekt« Gott nichts hinzugefügt wird, seine Einfalt unangetastet bleibt (Gott hat nicht nur keine Akzidentien, sondern auch keine Prädikate; seine Prädikate wie unter anderen das des Seins sind er selbst); und es bedeutet zum anderen, daß er das alles umfassende Sein selbst ist, das ipsum esse; denn das Sein selbst ist das, was ohne irgendeine Hinzufügung ist, das ens simplicissimum:
»ipsum esse nihil
aliud adiunctum habere potest« (S. th. I qu. 6, 3, c.; vgl. auch De ente et essentia, a. a. O., c. 3, wo Thomas die Differenz- und Additionslosigkeit, i. e. Simplizität des Seins selbst beweist: »si [...] ponatur res aliqua quae sit esse tantum, ita ut ipsum esse sit subsistens, hoc esse non recipiet additionem differentiae, quia iam non esset esse tantum, sed esse et praeter hoc forma aliqua).« Mit der Gleichsetzung Gottes mit dem Sein selbst gelingt es Thomas, die gesamte Welt des Seienden am Begriffe des Seienden selbst in dichotomischer Weise vollständig zu umreißen: das Seiende gliedert sich in das Seiende, das das Sein nur »hat« (das ens per participationem = creatura Dei), und in das Seiende, das das Sein selbst ist (das ens per essentiam = Gott). Das Kuriose an dieser Akzentuierung des Seinsbegriffs und der Fokussierung desselben in Gott (alles Sein und Seiende ist letztlich in Gott zusammengefaßt) ist, daß Thomas sie mit einer aristotelischen Differenz vollzieht, mit der Potenz-Akt-Differenz. Das Sein selbst ist der letzte Akt aller Akte, der actus purus, der auf jedes Seiende, jede Realität (res) als deren letzte Verwirklichung bezogen wird: »ipsum esse est perfectissimum omnium, comparator enim ad omnia ut actus. Nihil enim habet actualitatem, nisi inquantum est; unde ipsum esse est actualitas omnium rerum et etiam ipsarum formarum« (S. th. I qu. 4, ar. 1 ad 3). Das Kuriose liegt darin, daß Thomas die Differenzen und teilweise auch die Begriffe des Aristoteles benutzt, um mit deren Hilfe zu Erkenntnissen zu kommen, die nur auf den ersten Blick denen des Aristoteles gleichen, in der Tat aber sich von diesen wesentlich unterscheiden. Die aristotelische Axw-relation von unbewegt Bewegendem und Be-
Der reine Akt in der Beziehung von Denken und Gedachtem
269
seines Denkens ist außerhalb seiner - wie dies auch in dem von Sokrates vorgetragenen Mythos von der Ausfuhr der göttlichen Seelenwagen in Piatons Phaidros der Fall ist. Das Seiende bekommen die Götter, wenn sie an den überhimmlischen Ort ausfahren, nur zeitweise zu sehen; 'ιδουσα δια χ ρ ό ν ο υ το öv, heißt es von der göttlichen Seele (247 d 3). Die göttliche Seele ist nicht das Seiende selbst; το θείον, ό θεός auf der einen und τ ό öv auf der anderen Seite sind ewiglich geschieden.
wegtem wird von Thomas uminterpretiert in die christliche Relation von Schöpfer und Geschöpf. Diese Relation ist nur eine Teilhabe, nicht das wechselseitige Verhältnis zweier selbständiger, voneinander völlig verschiedener Entitäten, - die Teilhabe am Seinsbegriff, der von Gott vollständig absorbiert wird. Die Geschöpfe sind weder Gott gegenüber selbständig noch von ihm völlig verschieden; auch sie sind das, was Gott ist: das Sein, nur eben in defizienter oder partizipativer Weise. In der Tat ist es keinem so sehr wie Thomas gelungen, diese christliche Konzeption vom Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf am Leitfaden des Seinsbegriffs auf den Punkt zu bringen. »Alles Seiende, das nicht Gott ist, ist Gottes Geschöpf«, heißt es prägnant bei Thomas (S. th. I qu. 5, ar. 3, sed contra). Vgl. dazu auch J. Pieper, sicherlich einen der besten Kenner der Scholastik und der Philosophie des Aquinaten. »Daß die Welt die Seinsqualität von etwas Erschaffenem habe«, sagt Pieper, »und daß es außer dem Schöpfergott und seiner Kreatur nicht etwas Drittes gebe noch auch geben könne: diese, natürlich in der gesamten christlichen Theologie viele Male formulierte Konzeption mit aller Konsequenz durchgehalten und zum Ende gedacht zu haben, das ist in der Tat etwas Thomas von Aquin auch unter den großen Lehrern der Christenheit durchaus Unterscheidendes« (J. Pieper, Kreatürlichkeit. Bemerkungen über die Elemente eines Grundbegriffs, in: L. Oeing-Hanhoff (Hrsg.), Thomas von Aquin 1274/1974, München 1974, 47).
III. ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen Begierde und Entscheidung Kardinalbegriffe sowohl der Ethik wie der Metaphysik. Sowohl Metaphysik als Nikomachische Ethik heben mit der Begierde an. Dort wird die Begierde zum Wissen, hier die Begierde zum Guten an den Anfang des Werks gesetzt. Es scheint, als ob damit die Begierde zur grundlegendsten Voraussetzung fur Metaphysik und Ethik würde. Damit sittlich tüchtig gehandelt werde und damit gedacht, philosophisch gedacht werde, muß eine Begierde vorhanden sein. Aber die Begierde ist nicht lediglich Voraussetzung. Für die Ethik ist gezeigt worden, daß die Begierde das ist, was die Überlegung in die Wirklichkeit der π ρ ά γ μ α τ α umsetzt, das, was das Denken, die Vernunft, den Logos zur Entscheidung, diesem Kernbegriff der aristotelischen Ethik, kommen läßt. Durch die Entscheidung, durch die begehrende Vernunft oder die vernünftige Begierde, wie Aristoteles sie in EN VI 2 bestimmt, bekommt das Denken erst ethische Relevanz. Denn die Entscheidung ist der Ursprung der ethischen Praxis: πράξεως μεν ουν άρχή προαίρεσις (EN VI 2, 1139 a 31). Auch fur die Metaphysik ist die Begierde nicht lediglich Voraussetzung. Das unbewegt Bewegende, die reine Energeia als Aktgegenstand, ist nicht nur νοητόν, sondern auch όρεκτόν. Denken und Wahrnehmen, die reine Energeia als Akt und Praxis, sind notwendig auf die Begierde bezogen. Denn das Begehrte oder Begehrbare, das όρεκτόν, bewegt, und durch dieses bewegt das Denken, wie Aristoteles in De anima sagt. 532 Denn das Begehrbare ist das Prinzip, die άρχη, des Denkens. 533 Das Denken bewegt nicht ohne die Begierde. 534 Nun könnte eingewendet werden, daß die Metaphysik oder »theoretische« Philosophie im Gegensatz zur Ethik das sich nicht anders verhalten Könnende, das Sein,
532
Dean. III 10,433 a 18-20.
533
Ebd.
534
Ebd., 433 a 20ff. Dies stimmt mit dem Gedankengang zum unbewegt Bewegenden in Met. Λ 7 überein, wo in Zeile 1072 b 3 ausschließlich das Begehrte (oder das Geliebte, έρώμενον) als das erste Bewegende bezeichnet wird.
272
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
zum Gegenstand habe und nicht das sich auch anders verhalten Könnende, das Werdende und Vergehende, das solches im Bereich der menschlichen Handlungen erst durch die Begierde wird. Es ist im Teil I gezeigt worden, daß mit der letzten Dihärese des λόγον έχον, die Aristoteles in EN VI 7 vornimmt, das Kriterium der Unveränderlichkeit für einen Teil des epistemischen Vemunftteils nicht mehr in Anschlag gebracht werden kann. Der Einwand wäre damit erledigt. Aber selbst wenn wir diesen Einwand gelten lassen - insofern als wir zugeben, daß die theoretische Philosophie, die Sophia, im großen und ganzen auf Unveränderliches, sich nicht anders verhalten Könnendes geht - , so könnte dennoch daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß das reine, bei sich selbst bleibende Denken, auf das die Metaphysik abzweckt, losgelöst von der Begierde gedacht werden könne. Denn ebenfalls im Teil I dieser Arbeit wurde gezeigt, wie eng Vernunft und Begierde zusammenhängen, so sehr, daß eine reinliche Abgrenzung dieser beiden kardinalen Bestandteile der Ethik und, wie wir jetzt sagen müssen, auch der Metaphysik, nicht mehr möglich ist. Dies wurde durch die Schwierigkeiten demonstriert, die sich bei der Differenzierung sowohl des Begriffs der Entscheidung von dem der Freiwilligkeit als auch des Begriffs der Phronesis als der Repräsentantin der praktischen von dem der Sophia als der Repräsentantin der theoretischen Vernunft ergaben. Einzig durch die Form eines Syllogismus können theoretische und praktische Vernunft klar voneinander unterschieden werden. Während die Konklusion bei einem theoretischen Schluß eine allgemeine ist, ist die Konklusion bei einem praktischen Schluß eine singulare. Beide aber, sowohl praktische als auch theoretische Vernunft, sind nicht ohne die Begierde. Das reine Denken der Metaphysik beruht auf einer Begierde, die ein Denken des Seienden, der όντα, als etwas, was voneinander verschieden ist, überhaupt erst möglich macht. Wie sehr auch das theoretische, nicht auf die ethische Praxis orientierte Denken mit der Begierde zusammenhängt, sollen die Untersuchungen über den Satz vom Widerspruch, dieses fundamentum inconcussum certitudinis der aristotelischen Philosophie 535 , zeigen.
Der Satz des Widerspruchs Daß Einzelnes und Allgemeines, Werden und Sein, Poiesis und Praxis (Praxis im weitesten Sinne, im Sinne von Met. Θ 6), Potenz und Akt, Bewegung und
Der Satz des Widerspruchs ist nach Aristoteles die άρχή (Grund, Fundament), über die es keine Täuschung gibt (Met. Κ 5, 1061 b 34-62 a 2); er ist das sicherste, festeste aller Fundamente des philosophischen Denkens (πασών βεβαιότατη άρχή, Met. Γ 3, 1005 b 17f.).
Begierde und Entscheidung
273
Energeia, Denken und Wahrnehmung nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind und nur in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander einen Sinn ergeben, ist vor allem in Teil II gezeigt worden. Das Allgemeine als είδος und τηε ist nur aus einem Verhältnis der Veränderung und Bewegung im Sinne der Natur auf der einen und im Sinne der Techne als der Nachahmung der Natur auf der anderen Seite deduzierbar. Ja das Denken bezieht sich notwendig auf Techne und Poieisis auf der einen und Bewegung und Veränderung auf der anderen Seite, weil es nur in diesen Bereichen zwischen den anders sein könnenden Extremen einer ows/a-Trias, dem Stoff und dem synholon, zu dem der Stoff sich verändert oder verändert wird, als είδος vermittelnd fungieren kann, weswegen Aristoteles bei der Entfaltung der oas/a-Trias in den Büchern Zeta und Eta der Metaphysik (vgl. insbesondere Ζ 7) folgerichtig mit der Poiesis beginnt. Die Poiesis verweist auf das nur das Allgemeine zu seinem Gegenstande habende Denken. Daher wird sie bereits innerhalb ihrer selbst vom Denken abgetrennt. »Von den Prozessen des Werdens und der Bewegung«, sagt Aristoteles, »wird der eine Denken und der andere Poiesis genannt, der vom Prinzip (der άρχη) und dem είδος ausgehende Denken, der vom Endpunkt (dem Resultat) des Denkens ausgehende Poiesis.« 536 Die Poiesis verweist auf das Denken, das Denken verweist auf die Poiesis. Wenn auch die Poiesis nicht die reine ousia, i. e. die ousia als in sich vollendeter Akt ist, so dient sie doch dazu, diesen wechselseitigen Bezug und dieses wechselseitige Aufeinanderverweisen von Einzelnem und Allgemeinem mit all den weiteren Differenzen, die mit dieser Differenz verbunden sind, manifest zu machen. Diese Differenzen lassen sich mit einer grundlegenden Differenz ausdrücken, nämlich mit der Differenz von Identität und Verschiedenheit. In dieser Differenz formuliert Aristoteles in EN den Unterschied zwischen Metaphysik und Ethik, wenn auch im Potentialis und unter Berufung auf den Common sense: »Das Philosophische setzt man gemeinhin wohl mit dem Identischen, das Ethische aber mit dem Verschiedenen gleich.« 537 Es könnte vermutet werden, daß in diesem Sinne das Fundamentalaxiom der aristotelischen Philosophie, das Fundamentalaxiom der Metaphysik, den Zweck verfolgen solle, die Identität innerhalb ihrer selbst zu sichern und die Andersheit vom reinen Denken fernzuhalten. Genau das Gegenteil jedoch ist der Fall. Der Satz des Widerspruchs bedeutet nicht das Auslöschen der Andersheit, sondern die Sicherung der Andersheit im reinen Denken; und er ist vielleicht der beste Ausdruck dafür, wie innigst ver-
536
Met. Ζ 7, 1032 b 15-17.
537
EN VI 7, 1141 a 24f. Mit dem »Philosophischen« wurde hier το σοφόν, mit dem »Ethischen« το φρόνιμον übersetzt.
274
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
flochten
aristotelische Metaphysik und aristotelische Ethik sind und w i e sehr sie
nur in ihrem wechselseitigen B e z u g aufeinander verstanden werden können. Der Satz des Widerspruchs lautet in seiner grundlegenden Fassung: »Es ist unmöglich, daß dasselbe demselben und in derselben Beziehung zugleich zuk o m m e und nicht z u k o m m e . « 5 3 8 M a n wird dem, was mit diesem Satz gemeint ist, nicht ganz gerecht, wenn man den Satz in eine symbolische Form bringt von der Art
(Α λ -τ A ) oder, i.
S. von Lukasiewicz, 1 - > π (Α λ - , A ) 5 3 9 . D i e 1 bedeutet die logische Einheit. D i e logische Einheit drückt aus, daß das, worüber etwas ausgesagt wird, ein Etwas oder ein Gegenstand ist. »Unter Gegenstand«, definiert Lukasiewicz, »verstehe ich irgend etwas, was auch immer etwas ist und nicht nichts.« 5 4 0 Das, was von einem Gegenstand ausgesagt wird, nennt Lukasiewicz Eigenschaft. 5 4 1 A u f aristotelische Terminologie übertragen, heißt dies, daß von einer ousia i. S. der ersten Kategorie (= »Gegenstand«) keine kontradiktorischen Aussagen ge-
538
Met. Γ 3, 1005 b 19-20. Diese Fundamentalaussage wird in Met. Γ in mehreren Variationen wiederholt (u. a. in Γ 3, 1005 b 23-26 und in Γ 6, 1011 b 13f.). Lukasiewicz hat aus diesen unterschiedlichen Formulierungen des Satzes vom Widerspruch verschiedene Bedeutungen desselben herausgelesen: eine ontologische (die im Text zitierte, nach der das Seiende, die όντα, oder die Gegenstände, wie Lukasiewicz sagt, nicht einander kontradiktorisch entgegengesetzt sein können), eine logische (Γ 6, 1011 b 13-14, wonach kontradiktorische Urteile, φάσεις, nicht zugleich wahr sein können) und eine psychologische (Γ 3, 1005 b 23-26, wonach kontradiktorische Überzeugungen, υπολήψεις, nicht zugleich in demselben Geiste, ψυχή, sein können). Darüber, ob eine solche Differenzierung, die Aristoteles - Lukasiewicz verweist selbst darauf - nirgends ausdrücklich vornimmt, gerechtfertigt ist, will ich nicht entscheiden. Lukasiewicz scheint mir auf diese Differenzierung ohnehin nur zu dem Zwecke aufmerksam gemacht zu haben, um nachweisen zu können, daß der Satz vom Widerspruch kein endgültiges und unbeweisbares Prinzip des Denkens ist; denn ein solches läßt sich nach Lukasiewicz nicht auf der Grundlage von anderen Urteilen beweisen (J. Lukasiewicz, O zasadzie sprzecznosci u Arystotelesa, Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles, übers, von J. Barski, Hildesheim/Zürich/New York 1993, 13 - dies ist ein Jugendwerk von Lukasiewicz, das ziemlich spät ins Deutsche übersetzt wurde; in komprimierter Form hat Lukasiewicz seine Gedanken zu Aristoteles' Satz vom Widerspruch niedergelegt in dem Aufsatz »Aristotle on the Law of Contradiction«, in: Barnes/Schofield/Sorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle, Bd. 3: Metaphysics, London 1979, 50-62, auf den ich im Folgenden auch verweisen werde).
539
Lukasiewicz, Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 231.
540
Ebd., 9.
541
Ebd.
Begierde und Entscheidung
275
macht werden dürfen. Es darf nicht gelten: »Sokrates ist weiß und zugleich nicht weiß, sitzt und sitzt zugleich nicht, ist Mensch und zugleich nicht Mensch etc.« 542 Eine solche Formulierung des Satzes vom Widerspruch erfaßt aber nicht die ganz entscheidenden Worte κατά το αύτό, »in derselben Beziehung«. Was mit diesen Worten gemeint ist, wird durch die weitere Untersuchung über den Satz des Widerspruchs innerhalb des Buchs Gamma deutlich. Gemeint ist, daß etwas nicht zugleich sein und nicht sein könne in bezug auf die Wirklichkeit, den Akt, die Entelecheia: »Potentia kann«, sagt Aristoteles, »dasselbe zugleich (konträr) Entgegengesetztes sein, aber nicht ac/w.«543 Wenn dies ftir Kontraria gilt, so gilt dies auch für Kontradiktoria; denn A und Β sind dann konträre Gegensätze, wenn gilt: Α -> -ι Β und (was nach dem Gesetz der Kontraposition aus A —> —, Β folgt) Β -> -ι Α. Wenn es also möglich ist, daß A potentia gleichzeitig Β ist, und wenn aus Β -. A folgt, dann ist es auch möglich, daß A potentia gleichzeitig -ι A ist. 544 Es ist möglich, daß etwas potentia zugleich ist und nicht ist, daß Sokrates potentia zugleich weiß und nicht weiß ist, potentia zugleich sitzt und nicht sitzt. Als aktual Stehender (i. e. nicht Sitzender) ist Sokrates potentiell sitzend, und als aktual Sitzender ist er potentiell stehend (i. e. nicht sitzend). Denn er verliert weder als Stehender seine Potenz und Möglichkeit zu sitzen noch als Sitzender die Möglichkeit zu stehen. Er kann nur nicht actu zugleich stehen und sitzen. Der Satz des Widerspruchs muß auf den entelechischen Seinssinn, auf den Begriff der Energeia/Entelecheia bezogen werden. Dieser Bezug, der in den Worten κατά το αύτό steckt, kommt aber weder durch die Form 1 —> -ι (Α λ -ι A), in die Lukasiewicz Aristoteles' Satz vom Widerspruch gegossen hat, noch durch die Form -Ι (Α Λ -Ι A) zum Ausdruck - es sei denn, man beschränkt die logische Eins auf ganz bestimmte Gegenstände und die Aussage A auf ganz bestimmte Aussagen. Und eben dies ist das Problem, um das es hier geht, das Problem, auf welche Art von Gegenständen und Aussagen der Satz
542
Daß Lukasiewicz mit seiner Formalisierung des aristotelischen Satzes vom Widerspruch genau das meint, beweist seine Formulierung des Satzes: »Wenn G ein Gegenstand ist [also der logischen 1 entspricht, die nichts anderes meint als das Urteil »G ist ein Gegenstand, ist etwas« - W. S.], dann kann G nicht gleichzeitig A enthalten und A nicht enthalten«, Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 231.
543 544
Met. Γ 5, 1009 a 34-36. Der Beweis: Es gelte potentia Α λ Β, wobei Β Α. Daraus folgt fur Α λ Β: Α λ Β λ
- , Α. Aus Β -> -ι Α folgt Β = Β λ
Α. Nach dem Gesetz der Konjunktionsbeseiti-
gung folgt daraus schließlich Α λ -ι Α. Wenn also potentia gilt Α α Β und aus Β -ι A folgt, dann gilt auch potentia
ΑλπΑ.
276
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
vom Widerspruch bezogen werden muß und auf welche er nicht bezogen werden darf. Dieses Problem ist auch von Lukasiewicz gesehen worden. Auch ihm geht es darum, zu klären, auf welche Art von Gegenständen der Satz vom Widerspruch bezogen werden muß und auf welche Art von Gegenständen er nicht bezogen werden kann. Und auch er erkennt, daß der Satz des Widerspruchs nur das actu Seiende, die έντελεχεία όντα, betrifft, mithin das potentiell Seiende nicht betrifft, auch wenn er dies in seiner Formel für den aristotelischen Satz des Widerspruchs und in seiner Definition von Gegenstand nicht zum Ausdruck bringt. 545 Aber das, was er dem potentiell Seienden und damit dem nicht unter den Satz des Widerspruchs Fallenden attribuiert, sind lediglich die Gegenstände der Wahrnehmung. Einzig das Wahrnehmbare, i. e. das stetiger Änderung Unterworfene sei, so Lukasiewicz, fur Aristoteles das potentiell Seiende. 546 Für Lukasiewicz heißt dies, daß der sinnlichen Welt widersprüchliche Eigenschaften zugestanden werden können oder vielmehr daß der Satz des Widerspruchs für die sinnliche Welt keine Bedeutung hat. Wenn aber Lukasiewicz den Begriff der »auf dem Grund eines jeden konkreten Gegenstandes beruhende[n] Substanz« 547 aus der sinnlichen Welt eliminiert, so ist nicht mehr klar, was genau unter dem Wahrnehmbaren noch verstanden werden soll. Eine »Substanz« wie Sokrates ist - gesetzt, er lebt - mit all den Eigenschaften, die ihr anhaften, ja wohl wahrnehmbar; und dennoch gilt von dieser »Substanz« nicht, daß sie zugleich Mensch und nicht Mensch sei. Was also soll dann bedeuten, daß der Satz des Widerspruchs für die wahrnehmbare Welt keine Bedeutung hat? Vielleicht dies, daß eine »Substanz« als sich bewegende, als sich verändernde außerhalb des Geltungsbereichs des Satzes vom Widerspruch fällt? Denn die Bewegung ist, allgemein ausgedrückt, ein Übergang von A zu A. In diesem Sinne könnte in der Tat von einer coincidentia oppositorum geredet werden; denn sofern sich etwas bewegt, sich zu etwas anderem verändert, ist es nicht mehr A und noch nicht -ι A, oder es ist vielmehr sowohl A als auch A. Dann hätte aber das, was Hegel über die Bewegung sagt, auch in Aristoteles' Sinne volle Gültigkeit, nämlich daß die Bewegung der daseiende Widerspruch ist insofern, als etwas, was sich bewegt, »in einem und demselben Itzt hier und nicht hier« ist 548 . Der Satz
545
Lukasiewicz, Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 104.
546
Ebd., 104ff.
547
Ebd., 106.
548
Yg] Q
w
ρ Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. von Fr. Hogemann u. W. Jaeschke,
Zweites Buch, Erster Abschnitt, C Der Widerspruch, Anm. 3, in: Hegels Werke in Verbindung mit der Deutschen
Forschungsgemeinschaft hrsg. von der
Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 11, Hamburg 1978, 287.
Rheinisch-
Begierde und Entscheidung
277
des Widerspruchs im Sinne des Aristoteles würde durch diese Aussage nicht veletzt, weil das, was sich bewegt, nicht in den Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch fällt. Genau dies jedoch bestreitet Lukasiewcz. Denn für ihn ist Hegels Philosophie mit Aristoteles' Satz vom Widerspruch nicht kompatibel 549 . Richtig ist, daß in der Tat der Satz vom Widerspruch sich nicht auf das Wahrnehmbare bezieht, sofern man unter dem Wahrnehmbaren eine vom Denken und Reden losgelöste Dingwelt versteht; richtig ist aber auch, daß Hegels Philosophie den Satz vom Widerspruch nicht verletzt. Daß etwas, was sich bewegt, zugleich hier und nicht hier ist, wird durch den Satz des Widerspruchs nicht außer Kraft oder außer Geltung gesetzt. Der Satz des Widerspruchs wäre allenfalls dann verletzt, wenn Hegel gesagt hätte, es treffe zu, daß etwas, was sich bewegt, zugleich hier und nicht hier sei, und es treffe zugleich nicht zu, daß etwas, was sich bewegt, zugleich hier und nicht hier sei. Der Begriff der Bewegung wäre in diesem Falle unbestimmt geworden. Genau dagegen wendet sich das Fundamentalaxiom des aristotelischen Denkens: dagegen, daß nicht bestimmt, nicht unterschieden, nicht abgegrenzt wird. Ein Denken ist notwendig ein Begrenzen, Bestimmen und Unterscheiden. Die Begriffe, deren sich das Denken bedient, können dabei aber sehr wohl in sich widersprüchlich sein. Was aber nicht widersprüchlich sein kann, ist der Gebrauch der Begriffe, sofern ein Denken und Reden sinnvoll sein soll. Wenn ein Begriff wie der der Bewegung als daseiender Widerspruch bezeichnet wird (und damit gegen andere Begriffe wie den der Ruhe abgegrenzt wird), so ist dies so lange kein Widerspruch, wie nicht zugleich behauptet wird, daß der Begriff der Bewegung kein daseiender Widerspruch sei. Für das aktual Seiende, für das der Satz des Widerspruchs gelten soll, folgt daraus also nicht, daß es, wie Lukasiewicz will, das unvergängliche, substantiell, allgemein, begrifflich Seiende ist. 550 Denn zum einen sagt Aristoteles selbst, daß dasselbe sein und nicht sein könne, sofern es zum Allgemeinen gehöre. 551 Er grenzt also den Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch klar gegen das Allgemeine ab. Nur für das Einzelne läßt er gelten, daß es
549
Vgl. Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 40f., und Aristotle on the Law of Contradiction, a. a. 0., 53, Anm. 5.
550
Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 105ff., Aristotle on the Law of Contradiction, a. a. O., 58.
551
Met. I 10, 1058 b 32-35. Dasselbe könne, so Aristoteles wörtlich, wenn es zum Allgemeinen gehöre, zugleich wie der Mensch weiß und schwarz sein. Unter dem Allgemeinen ist hier also der Begriff des Spezies, das είδος oder die zweite Seiendheit i. S. der Kategorien, zu verstehen. Auch hier verwendet Aristoteles konträre Gegensätze. Was fur diese gilt, nämlich daß sie, sofem sie zum Allgemeinen gehören, zugleich seien, gilt, wie oben demonstriert, auch fur die kontradiktorischen Gegensätze.
278
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
nicht zugleich sein eigenes Gegenteil sein könne. 552 Und zum anderen gehört, wie in Teil II dieser Arbeit bei Besprechung der Potenz-Akt-Differenz deutlich herausgestellt wurde, das Allgemeine als Begriff, als Logos selbst zum potentia Seienden, und zwar zu dem Potentiellen, das allein Gegensätze hervorbringen kann. Der Begriff, so heißt es in Met. Θ 2, 1046 b 8, macht zugleich die Sache selbst (das πραγμα) und deren Privation offenbar. Das Denken selbst bringt die Gegensätze hervor, sowohl die konträren wie die kontradiktorischen. Und das Denken selbst vermag folgerichtig zugleich den Begriff A wie dessen Verneinung zu denken. Der Arzt muß, wenn er heilen, ja wenn er überhaupt nur die Veränderung zum Kranksein diagnostizieren will, sowohl den Begriff der Gesundheit als auch dessen privativen Gegensatz in sich haben, den Begriff der Krankheit. Er kann zwar nicht sagen, daß Sokrates zugleich gesund und krank sei, aber er muß beide Begriffe, sowohl den der Gesundheit als auch den der Krankheit, zugleich denken, um sagen zu können, ob Sokrates gesund oder krank sei. In der gleichen Weise rät Aristoteles am Ende der Topik, daß jemand, der gut im Disputieren sein will, gedanklich auch die Argumente des Gegners durchspielen müsse. Ja es sei überhaupt für die Erkenntnis und für philosophisches Denken nützlich, die Folgen gegensätzlicher Annahmen zugleich zu überschauen, i. e. zugleich im Denken zu haben (συνοραν). 553 Gegensätzlicher Meinungen zugleich teilhaftig zu sein wird nicht nur nicht als Unmöglichkeit dargestellt, sondern sogar als ein nicht geringes Werkzeug (ού μικρόν όργανον) fur das Denken bezeichnet 554 . Eine solche Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Meinungen wird erst dann unmöglich, wenn sich eine Entscheidung notwendig macht. Daher sagt Aristoteles, nachdem er die Nützlichkeit, entgegengesetzte Argumente im Kopf zu haben, herausgestellt hat, daß jetzt nur noch übrig bleibe, sich richtig zu entscheiden (όρθως έλέσθαι). 5 5 5 Wer gut im Disputieren sein will, muß gedanklich entgegengesetzte Argumente durchgehen; aber er muß in der Disputation selbst, d. h. wenn er seine Gedanken und Meinungen äußert, sich für eine Seite entscheiden. Die konkrete Sprechsituation erfordert Eindeutigkeit. Hier ist ein Widerspruch, eine gleichzeitige Äußerung entgegengesetzter Meinungen, nicht mehr möglich. Der Satz des Widerspruchs - so kann daraus geschlossen werden - betrifft lediglich den Bereich entscheidungsrelevanter Handlungen. Das, was die Gegen552
Wie klar aus der eben zitierten Stelle hervorgeht. Daß dasselbe schwarz und weiß sei, gelte, so Aristoteles, auch für das Einzelne (τα καθ' έκαστον), nur eben nicht zugleich (μή άμα, 1058 b 34).
553
Top. VIII14, 163 b 9-11.
554
Ebd., 163 b 10.
555
Ebd., 163 b 12.
Begierde und Entscheidung
279
sätze hindert, zugleich zur Wirklichkeit zu kommen, sind - so war in Teil II gesagt worden - Begierde (όρεξις) und Entscheidung (προαίρεσις). 5 5 6 Die wesentliche Ursache fur die Unmöglichkeit, die Gegensätze zugleich Wirklichkeit werden zu lassen, ist die Entscheidung. Der Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch engt sich damit auf die πράγματα ein, auf das aktual Seiende, das durch Praxis (Praxis im engeren Sinne) und Poiesis hervorgebracht, und zwar mit Eindeutigkeit hervorgebracht wird. Dies wird auch durch die Art und Weise deutlich, in der Aristoteles in Met. Γ die Absurdität der Meinung derer aufzeigt, die den Satz des Widerspruchs leugnen. Wenn nämlich der Leugner des Satzes vom Widerspruch, d. h. der Anhänger der Lehre, daß alles gleichermaßen wahr (oder falsch) sei, sich am Morgen nicht in den Brunnen stürze, sondern sich offenbar in acht nehme, so sei daraus evident, daß er das eine fur besser halte, das andere hingegen nicht. 557 Das heißt, daß er sich für das, was er tut, entschieden hat. Denn das Wort προαίρεσις besagt wörtlich, daß etwas einem anderen vorgezogen, daß etwas vor einem anderen gewählt werde. Bei den πράγματα, dem Bereich entscheidungsrelevanter Handlungen, gibt es nur eindeutige Handlungsoptionen (ja oder nein): Entweder ich entscheide mich dafür, zu sitzen, oder dafür, nicht zu sitzen, zu sprechen oder nicht zu sprechen, nach Athen zu fahren oder nicht nach Athen zu fahren usw. Auf die Frage, auf welche Art von Gegenständen und Aussagen sich der Satz vom Widerspruch bezieht, muß also geantwortet werden: auf die Art von Gegenständen und Aussagen, die sich auf entscheidungsrelevante Handlungen beziehen. Nur in diesem restriktiven Sinne kann die Form - . (Α λ -ι A) auf den Satz des Widerspruchs in der Formulierung des Aristoteles angewendet werden: Es ist nicht möglich, es trifft nicht zu, es ist nicht wahr, daß Sokrates am 12. 3. 1997 zum Piräus und nicht zum Piräus gewandert ist, daß Sokrates zugleich Sandalen anhat und nicht Sandalen anhat. 5 5 8 Es kann aber zutreffen, daß So556
Met. Θ 5, 1048 a 8-11.
557
Met. Γ 4, 1008 b 18.
558
Es könnte eingewendet werden, daß der Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch von mir zu restriktiv gefaßt wird, da es offensichtlich auch Erscheinungen gibt, die nicht von Entscheidungen abhängig sind und dennoch keine Widersprüche zulassen, Naturerscheinungen wie den Tag, die Nacht oder den Regen. So könnte gesagt werden: »Es trifft nicht zu, daß es zugleich Tag und Nacht ist. Es trifft nicht zu, daß es am 12. 3. 1997 in Athen geregnet hat und daß es nicht geregnet hat.« Diese Behauptung scheint ebenso plausibel zu sein wie die, daß es nicht zutreffe, Sokrates sei am 12. 7. 1997 zum Piräus und nicht zum Piräus gewandert. Daß wir Erscheinungen, die außerhalb unseres Handlungsbereichs und von uns unbeeinflußt ablaufen, als nichtwiderprüchlich ansehen,
280
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
krates seine Frau Xanthippe zugleich geliebt und nicht geliebt hat; denn die Liebe gehört zu den Phänomenen, für die man sich nicht entscheidet. D i e Liebe ist keine entscheidungsrelevante Handlung, sondern ein Gefühlszustand, der nicht logifizierbar ist. 5 5 9 Und ebenso kann es sein, daß, wenn Sokrates sich bewegt, er an demselben Ort zugleich ist und nicht ist. Eine solche Aussage ist noch kein Widerspruch. D i e Aussage wird, w i e gesagt, erst dann zum Widerspruch, w e n n ich zugleich ihre Verneinung behaupte. Damit sind wir bei der Art von Entscheidung, die für die theoretische Philosophie, für das reine, bei sich selbst bleibende Denken relevant ist. In Teil II ist gezeigt worden, daß dieses Denken notwendig auf etwas bezogen ist, was sich nur in einer Relation voneinander unterschiedener Entitäten fassen läßt. Das reine Denken (= ousia qua Eudaimonia) hat zum Gegenstand Anderes, sich unterscheiden Lassendes (die ousia i. S. der triadischen Struktur » S t o f f - ε ι δ ο ς synholon«). D. h., das reine Denken muß Unterschiede machen können; es muß das v o n ihr Gedachte trennen, sondern, voneinander abgrenzen. U m etwas zu
kann mit unserer Anschauungsweise zusammenhängen. Vermutlich können wir nicht anders, als die Struktur unserer Handlung auch auf Erscheinungen zu übertragen, von denen wir eigentlich wissen, daß sie keinen Handlungsträger haben, daß sie also strenggenommen keine Handlungen sind. Wir halten es fur unmöglich, daß jemand es zugleich Tag und Nacht werden, regnen und nicht regnen läßt, daß er sich zugleich fur und gegen den Tag, für und gegen den Regen entscheidet, auch wenn es augenscheinlich gar niemanden gibt, der es Tag werden oder der es regnen lässt. Daß diese Erscheinungen mit in den Geltungsbereich des Satzes vom Widerspruch fallen, hat also mit ihrer Handlungsähnlichkeit zu tun. Der Regen ist - ebenso wie der Tag und die Nacht - eine Art πραγμα, eine Art ποίησις, etwas, was so aussieht, als ob es hervorgebracht würde. Insofern ist die Begrenzung des Geltungsbereichs des Widerspruchsprinzips auf entscheidungsrelevante Handlungen durchaus berechtigt. In ähnlicher Weise drückt sich auch Lukasiewicz aus, wenn er sagt: »Der Weg zu den Grundlagen der Logik fuhrt nicht durch die Psychologie« (Über den Satz des Widerspruchs,, a. a. O., 43). Auch er, sagt Lukasiewicz an dieser Stelle, habe zuweilen Stimmungen erlebt, in denen er geglaubt habe, daß etwas ist, und gleichzeitig geglaubt habe, daß dasselbe nicht ist. Solche »Widersprüchlichkeiten« gehen die Logik nichts an; sie gehen aber auch - was Lukasiewicz leugnet - Aristoteles und seinen Satz des Widerspruchs nichts an. Stimmungen, Träume, Empfindungen, Gefühle etc. gehören nicht in den Bereich entscheidungsrelevanter Handlungen. Daher fallen Aussagen wie »Sokrates hat seine Frau geliebt und nicht geliebt« außerhalb des Geltungsbereichs des Satzes vom Widerspruch, nicht aber Aussagen wie »Sokrates hat seine Frau zugleich geschlagen und nicht geschlagen«, weil es hier um eine Handlung geht, für die man sich entschieden hat, wenn auch »getrieben« von der Liebe oder vom Haß.
Begierde und Entscheidung
281
denken, muß es dieses Etwas als von anderem Unterschiedenes denken. Diese Abgrenzung wird durch einen auf Entscheidung beruhenden Akt vollzogen. Wenn ich die Begriffe, die ich denke, nur mit einem ganz bestimmten Umfang versehe und sie damit auf einen bestimmten Kreis von Vorstellungen ein- und gegen andere Vorstellungen, andere Begriffe abgrenze, so habe ich mich für einen bestimmten Gebrauch eines Begriffes entschieden. Wenn Aristoteles sagt, daß die εντελέχεια trenne 560 , so kann dies auch für den trennenden Entscheidungsakt des Denkens in Anschlag gebracht werden. In dem Gebrauch von Begriffen, durch den Denken geschieht, entscheide ich für mich für die eine und gegen die andere Bedeutung. Wenn ich Mensch sage, so meine ich damit so etwas wie zweifüßiges Lebewesen und nicht ζ. B. vierfußiges Lebewesen. 561 Ich trenne die eine Bedeutung gegen die andere ab. In dieser Weise setze ich Unterschiede, und in dieser Weise kann ich Seiendes oder Gedachtes als voneinander Unterschiedenes aufeinander beziehen. Der Satz des Widerspruchs ist die Sicherung dieses Unterscheidenkönnens. Wird er verletzt, finden Denken und Rede nicht statt; denn ein Denken ist immer ein Denken von Unterscheidbarem. Wer sich daher bei dem Gebrauch von Begriffen nicht für eine bestimmte Bedeutung
560
Met. Ζ 13, 1039 a 7.
56
Vgl. auch F. Inciarte, Aristotle's Defence of the Principle of Non-Contradiction, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76 (1994), 129-150. Der Satz des Widerspruchs laufe, so Inciarte, auf einen Unterschied zwischen den Bedeutungen von Begriffen hinaus (distinction between the meanings of the words, 139). Die Frage, ob solche Aussagen wie »Christus war Mensch und nicht Mensch« den Satz vom Widerspruch verletzen oder nicht, ist nach Inciarte völlig irrelevant. Relevant wäre in diesem Falle nur die Frage, ob der Begriff Mensch in derselben Bedeutung gebraucht worden sei wie dessen kontradiktorisches Gegenteil. Nur in diesem Falle wäre das Widerspruchsprinzip verletzt und eine Rede unmöglich gemacht, wenn also gesagt würde, daß Christus nur insofern, als er Mensch war, zugleich auch Gott war. Die Aussage »Christus war Mensch und nicht Mensch« sei dann aber kein Widerspruch, wenn an der unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe Mensch und Gott festgehalten werde, wenn also gesagt wird, daß Christus als Mensch Mensch und als Gott nicht Mensch war. Richtig weist Inciarte überdies darauf hin, daß der Satz des Widerspruchs nicht die sog. (außer uns existierende) »Realität« betreffe, sondern einzig und allein die Art und Weise unseres Redens. Wenn wir Begriffe gebrauchen und zugleich deren Negation mitgelten lassen, berauben wir die Begriffe ihrer Bedeutung und uns selbst der Möglichkeit des (Mit-uns-und-mitanderen-) Redens. Der Satz des Widerspruchs - auch hierin stimme ich mit Inciarte überein - hat daher pragmatische Bedeutung; er betrifft unsere Art zu handeln, unsere Praxis. Inciarte spricht insofern von der »pragmatischen« Verteidigung des Satzes vom Widerspruch (»the pragmatic defence of the PNC«).
'
282
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
entscheidet und statt dessen mit einem Begriff auch dessen Negation mitgelten läßt (ζ. B. indem er sagt, daß Zweifüßigsein dasselbe bedeutet wie Vierfüßigsein, das eine Negation des Zweifüßigseins ist), der hat, wie Aristoteles sagt, die Möglichkeit eines διαλέγεσθαι, eines Miteinanderredens, und zwar nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst, aufgehoben. 562 Die Folgen eines solchen Zugleichgeltenlassens der Gegensätze sind, daß alles eins wird (οτι ev πάντα έσται, Met. Γ 4, 1007 a 6). Das heißt, nichts würde sich von anderem abgrenzen, unterscheiden lassen, alles würde gleich gelten. Der Satz des Widerspruchs könnte demnach wie folgt formuliert werden: Es ist nicht möglich, daß ein entscheidungsrelevant handelndes Lebewesen (= Mensch) sich für etwas und zugleich für dessen kontradiktorisches Gegenteil entscheidet·, dieses Etwas sei eine Aussage, eine Meinung, der Gebrauch eines Begriffs oder eine Handlung. In dieser Formulierung kann die »Klausel« κατά το αυτό wegfallen, da hier der Bezug auf den Begriff des Akts und auf die Form von Akt, auf die der Satz des Widerspruchs einzig anwendbar ist, geklärt ist, nämlich auf den Akt der πράγματα, dessen, was durch Praxis und Poiesis aktualisiert worden ist. 563 Das reine, bei sich bleibende, um seiner selbst willen
562
Met. Γ 4,1006 b 7-9; vgl. auch 1007 a 20. Wenn man hier formalisieren will, dann kann man den Satz des Widerspruchs bestenfalls durch eine Formel wie -i (w = f) oder mit den Zeichen, die die symbolische Logik verwendet, -> (1 = 0 ) oder noch einfacher mit w # f oder 1 # 0 wiedergeben. Diese Formel muß gelesen werden: Es ist nicht möglich, daß ein Begriff, eine Aussage, eine Meinung, eine Handlung zugleich ihr kontradiktorisches Gegenteil bedeutet. Oder noch einfacher und prägnanter: »Wahr« bedeutet nicht »falsch«. Diese Aussage ist nicht mit dem Satz »aus Wahrem kann nichts Falsches folgen« (εξ αληθών ούχ οιόν τε ψευδός συλλογίσασθαι, Anal. pr. II 2, 53 b 11) äquivalent. Dieser Satz kann vielmehr erst durch den Satz des Widerspruchs bewiesen wierden, wie Anal. pr. II 2, 53 b 11-16 zeigt. Der Satz ex vero non falsum (-. (w —> f)) sei, so heißt es dort, so zu begründen: Wenn gelte A -> Β, dann müsse auch -ι Β -> -> A gelten (Gesetz der Kontraposition). Und dann gelte auch, daß, wenn A wahr ist, auch Β wahr sein müsse. Andernfalls würde dasselbe zugleich sein und nicht sein. Dies sei aber unmöglich. Der Satz des Widerspruchs ist also ursprünglicher als der Satz ex vero non falsum; jener ist Voraussetzung für diesen. Denn wenn Α Β gilt und dennoch in diesem Falle A wahr, Β aber falsch wäre, dann wäre (oder bedeutete) »wahr« zugleich »falsch« (denn aus w f folgt w = w λ f; diese Konjunktion aber wird durch den Satz vom Widerspruch ausgeschlossen). Damit aus Wahrem nichts Falsches folgen könne, muß gesichert sein, daß »wahr« »wahr« und nicht »falsch« bedeutet. In der symbolischen Logik heißt der Grundsatz 1 # 0 das Existenzpostulat (vgl. L. Couturat, L ' Algèbre de la logique, Paris 1905, 28), das die Existenz widerspruchsfreier
Begierde und Entscheidung
283
vollzogene Denken bringt die πράγματα zwar nicht hervor (dies bleibt nach wie vor Aufgabe der ethischen Praxis und der technischen Poiesis), aber es ist auf die πράγματα als das von ihm Gedachte notwendig bezogen. Das Denken als während seines Vollzugs immer mit sich identisch bleibendes (da es immer schon an seinem telos ist) bezieht sich auf Verschiedenes, von anderem Abgrenzbares und immer anderes sein Könnendes. Dieser Bezug vom Denken auf das Gedachte als ein Bezug von Identischem auf Verschiedenes wird durch den Satz des Widerspruchs gesichert. Er bildet damit die Grundlage sowohl für die theoretische Philosophie (die Metaphysik) wie für die praktische Philosophie (die Ethik). Dieser Bezug von Identischem auf Verschiedenes, der durch den Satz vom Widerspruch zum Ausdruck kommt, wird auch aus der polemischen Tendenz ersichtlich, die die Untersuchungen zu den Fundamentalaxiomen der aristotelischen Metaphysik im Buch Gamma begleitet. Die Polemik richtet sich gegen die, welche nur das Wahrnehmbare (i. e. die der Veränderung unterworfenen Einzeldinge) für seiend und erkennbar erklären. Aus dieser Einseitigkeit des Seins- und Erkenntnisbegriffs (die bereits von Piaton im Theaitet angegriffen worden war; überhaupt hat der Gedankengang im Theaitet Ähnlichkeit mit dem Gedankengang des Aristoteles im Buch Gamma) ist die Ansicht hervorgegangen, daß alles gleichermaßen wahr oder falsch sei, - eine Ansicht, die Aristoteles
Gegenstände festlegt. Lukasiewicz hält diesen Satz nicht etwa fur den Satz des Widerspruchs in der Formulierung des Aristoteles, sondern setzt ihn dem Satz des Widerspruchs entgegen. Denn wenn 1 # 0 nicht geltend gemacht, also 1 = 0 angenommen würde, so müßte, da aus der logischen Null alles Mögliche, also sowohl A und -ι A folgt, auch gelten 1 - » Α Λ -I A. Dies sei aber der Form, in die Lukasiewicz den aristotelischen Satz vom Widerspruch gießt, nämlich 1 (Α λ A), geradezu entgegengesetzt (Über den Satz des Widerspruchs, a. a. O., 243 f.). Lukasiewicz fuhrt dies alles aus, um, wie gesagt, zu zeigen, daß der aristotelische Satz vom Widerpruch kein letztgültiges Seinsprinzip, sondern aus bestimmten Denkvoraussetzungen wie eben dem Existenzpostulat abgeleitet sei. Seine Argumentation beruht aber darauf, daß er dem Aristoteles Gedanken und Sätze unterlegt, die nicht Aristoteles' Gedanken sind, und daß er Aristoteles überdies zum Metaphysiker macht. Was Aristoteles mit dem Satz vom Widerspruch erweisen will, ist nicht ein Gesetz des Seins, das losgelöst von unserem Denken existierte. »Sein« heißt »gedacht werden als«, »bedeuten« (nämlich fur ein denkendes, sich entscheidendes Lebewesen bedeuten). Die eben besprochene Stelle aus Anal, pr. belegt dies. Der Satz vom Widerspruch besagt lediglich, daß man, wenn man sich fur den Gebrauch eines bestimmten Begriffs, für eine bestimmte Handlung, eine bestimmte Meinung entschieden hat, sich nicht zugleich für deren Gegenteil entschieden haben kann.
284
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
bis auf Platon und Sokrates so ziemlich allen Philosophen, die vor ihm gedacht haben, zuschreibt: Demokrit, Empedokles, Anaxagoras, Protagoras und vor allem Heraklit und denen, die in seiner Art philosophiert haben. 564 Die Folge solcher Ansicht ist die Meinung, daß alles eins sei, daß man mithin, wenn man nicht den Akt der Trennung durch Bejahung und Verneinung vollziehe, nicht mehr zu unterscheiden vermöge. »Denn wenn in gleicher Weise über jedes einzelne gesprochen wird, wird sich das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden lassen.« 565 Gerade dadurch, daß der Satz des Widerspruchs die Anerkennung der Andersheit des Anderen, die Anerkennung dessen, daß es Unterschiede gibt, ist, kann er der Welt der dem Werden unterworfenen wahrnehmbaren Einzeldinge gerecht werden, nämlich indem er sie als sich voneinander unterscheidende begreift. Dieses Begreifen aber ist ein Akt des bei sich bleibenden, mit sich identischen Denkens, das Selbigkeit und Verschiedenheit zugleich zu denken vermag. Durch das wechselseitige Aufeinanderbeziehen wird jeder dieser Bereiche in seiner Eigenart erst bewußt. Der Eigenart des Einzelnen als eines Werdenden und sich anders verhalten Könnenden werde ich nur bewußt, wenn ich den Begriff von Selbigkeit und Andersheit in meinem Denken habe, und zwar zugleich habe. Ebenso werde ich der Veränderung von Ziegelsteinen zu einem Haus nur bewußt durch die Erkenntnis des (Veränderung ausschließenden) Formbegriffs und die gleichzeitige Erkenntnis der Privation der Form. Sofern aber nur vom Werdenden ausgegangen und einzig dieses als das Wahre gesetzt wird, kann nichts gefunden werden, was das Werdende in seiner Werdendheit begreift. Daß Ziegelstein und Haus als voneinander Unterschiedene aufeinander bezogen werden können, zeigt nicht die Wahrnehmung, sondern das Denken,
564
Vgl. u. a. Γ 5, 1009 b 12-17. Überhaupt haben - so Aristoteles an dieser Stelle - die, welche das Denken als Wahrnehmung gedacht haben, nur das in der Wahrnehmung Erscheinende fur wahr gehalten. In diesem Glauben seien Empedokles und Demokrit und alle übrigen befangen. Anaxagoras wird wenig später genannt. Protagoras ist zuvor als Vertreter dieser Ansicht aufgeführt worden (1009 a 6ff.). Was die Anhänger Heraklits betrifft, die diese Ansicht nach Aristoteles' Meinung ins Extrem getrieben haben (1010 a 10) und zu deren Kennzeichnung Aristoteles das Verb ήρακλειτίζειν (1010 a 11) benutzt, vgl. 1010 a 8ff., wo Aristoteles von den Anhängern Heraklits namentlich nur Kratylos auffuhrt; und was schließlich Heraklit selbst als den größten Exponenten dieser Ansicht anbetrifft, vgl. u. a. Γ 3, 1005 b 25 und insbesondere Γ 8, wo Aristoteles nach Abhandlung beider Fundamentalaxiome, des Satzes vom Widerspruch und des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten, die Meinung, alles sei wahr oder falsch, hauptsächlich auf Heraklit zurückfuhrt (1012 a 33fT.).
565
Met. Γ 4, 1008 a 25f. Zu dieser völligen Beliebigkeit, nach der alles eins sein würde, vgl. Γ 4, 1007 b 20 und 1008 a 23.
Begierde und Entscheidung
285
das beide, Ziegelstein und Haus, in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt, in das Verhältnis von Potenz und Akt oder von Privation und Form. Die Erkenntnis, daß der Ziegelstein potentia oder privativ Haus ist, ist keine Leistung der auf das Werden ausgerichteten Aisthesis, sondern eine Leistung des Denkens. Die einseitige Fixierung auf das Werden würde dieses gerade aufheben. Aristoteles spricht es aus: Denjenigen, die (aufgrund dieser einseitigen Fixierung) meinen, daß alles zugleich sei und nicht sei, geschieht es, daß sie vielmehr sagen müssen, alles ruhe, als, alles sei in Bewegung. Denn alles sei bereits in allem vorhanden. 566 Wenn gesagt wird, daß der Satz des Widerspruchs den Bezug von Identischem auf Verschiedenes sichert und dadurch das Seidende als Verschiedenes erfaßt, so soll dies nicht bedeuten, daß der Satz des Widerspruchs eine Denknorm zum Ausdruck bringt. Der Satz des Widerspruchs ist kein Dogma, sondern der Ausdruck dessen, daß im Denken eine Begierde da ist. Daher kann gegen den Satz des Widerspruchs auch nicht verstoßen werden. Solange im Denken eine Begierde, eine Affektivität da ist, ist jede Äußerung von Affektivität eine Anerkennung des Satzes vom Widerspruch. Schon das Wollen, das bloße Interesse, den Satz des Widerspruchs zu widerlegen, wäre eine Anerkennung und Bestätigung seiner; denn es wäre die Anerkennung dessen, worum es im Satz vom Widerspruch geht: die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Andersheit. Denn indem ich den Satz des Widerspruchs zu widerlegen versuche, setze ich eine andere Meinung dagegen, behaupte also die Andersheit meines Denkens. Daher sagt Aristoteles, daß derjenige, der den Satz des Widerspruchs widerlegen will, ihn dadurch bestätigt, daß er überhaupt etwas sagt, sich also notwendig als Andersredender (αμφισβητών) auf eine bestimmte Meinung fixieren muß. 567 Ein Andersreden setzt aber immer Begierde voraus. Wer seine Meinung streitend gegen eine andere verficht, begehrt, daß der eigenen Meinung die größere Geltung zukomme. Denn Begehren meint in seiner allgemeinsten Bedeutung, unter die die des Wollens subsumiert ist, daß etwas einem anderen vorgezogen werde, daß etwas für besser gehalten werde als ein anderes. Der Satz vom Widerspruch zielt nicht darauf ab, die Eindeutigkeit in den πράγματα sicherzustellen; denn diese kann schlechterdings nicht in Frage gestellt werden, oder vielmehr ist sie das Dilemma, daß die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des reinen Denkens und reinen Begehrens durch die auf die πράγματα orientierte Entscheidung beseitigt wird. Die πράγματα lassen keine Ambivalenzen und Widersprüche mehr zu. Und eben deswegen sagte Aristoteles in Met. Θ 8, daß das κακόν nur in den πράγματα, der fixierenden Wirklichkeit, 566
Met. Γ 5, 1010 a 35-37.
567
Γ 4, 1006 a 11-13.
286
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
mithin jenseits der reinen Aktualität des um seiner selbst willen vollzogenen Denkens l i e g e . 5 6 8 Hier, bei den π ρ ά γ μ α τ α , der Wirklichkeit der Einzeldinge, gibt es nur ein Entweder-oder, kein Sowohl-als-auch der Gegensätze: Entweder ich bin krank oder gesund, entweder ich bin in Athen oder in Jerusalem, entweder ich trinke oder trinke nicht etc. Aber hinter diesen Eindeutigkeiten verbergen sich Ambivalenzen, die nur das Denken zutage fordern kann. D i e Leistung des Denkens ist, die Gegensätzlichkeit, Zwei- und Vieldeutigkeit gerade an diesen Eindeutigkeiten zu erweisen, dadurch nämlich, daß das Denken die durch die Entscheidung hergestellte Eindeutigkeit als vernichtete Zweideutigkeit erkennt. D i e Eindeutigkeit der Entscheidung als, wenn auch vernichtete, Gegensätzlichkeit, die Ein(zeln)heit der π ρ ά γ μ α τ α als Andersheit zu erkennen - das ist die Leistung des Denkens, und darauf zielt das Fundamentalaxiom desselben. Der Satz des Widerspruchs intendiert nicht die Auslöschung der Gegensätzlichkeit
Dies ist ein erneuter Beleg dafür, daß mit der Entelecheia, auf die Aristoteles in Met. Γ 5 den Satz des Widerspruchs bezieht, nur die Wirklichkeit der Einzeldinge, der πράγματα, gemeint sein kann, weil es nur bei ihnen, wie in Met. Θ 8 (1051 a 18) gesagt wurde, die Möglichkeit eines κακόν und damit eben auch die Möglichkeit eines Besser und Schlechter gibt, welche mit der Nichtanwendung des Satzes vom Widerspruch geleugnet würde. Vgl. insbesondere Met. Γ 4, 1008 b 25-27, wo Aristoteles denen, die, von der αίσθησις als dem Maß für die Beurteilung alles Seienden ausgehend, alles für gleichermaßen wahr erklären, nachweist, daß im Grunde auch sie vor allem bei den Fragen, bei denen es um ein Besser und Schlechter geht, also auch oder gerade bei ethischen Fragen gemäß dem Satz vom Widerspruch denken. - Wenn Lukasiewicz daher die Geltung des Satzes vom Widerspruch auf den ethisch-praktischen Bereich einschränkt (a. a. O., 62), so mag dies zwar eine gewisse Berechtigung haben, geht aber in der Weise, wie er die ethische Relevanz des Satzes vom Widerspruch deutet, gänzlich am Sinn desselben vorbei, und dies deswegen, weil Lukasiewicz, wie oben gesagt, den Satz vom Widerspruch nicht auf die πράγματα, sondern auf das Allgemeine angewendet wissen will. Es ist daher höchst kurios, wenn Lukasiewicz selbst darauf verweist (und dies Aristoteles entgegenhält), daß gerade in den Einzeldingen keine Widersprüche möglich sind oder - und eben hieraus zieht er die ethisch-praktische Relevanz des Satzes vom Widerspruch - wir sie nur nicht sehen, weil wir so unvollkommen ausgestattet seien, daß wir nicht mit völliger Sicherheit sagen können, daß die Einzeldinge keine Widersprüche enthalten. Lukasiewicz interpretiert daher den Satz des Widerspruchs als Waffe gegen Irrtum und Falschheit in den Einzeldingen (obwohl der Satz vom Widerspruch nach seiner Meinung auf sie gar nicht angewendet ist) und als ein Zeichen der geistigen und moralischen Unvollkommenheit des Menschen (a sign of the intellectual and moral imperfection of man, ebd.).
Begierde und Entscheidung
287
des Denkens, sondern die Sicherung derselben. 569 Die Polemik im Buch Gamma der Metaphysik richtet sich daher nicht gegen die, die Gegensätze anerkennen, sondern gegen die, die sie leugnen, indem sie die gesamte Wirklichkeit unifizieren, homogenisieren, vergleichgültigen. Der Satz des Widerspruchs ist die Erschütterung dieser Homogenität. Deswegen zeigt Aristoteles am Ende von Buch Gamma, daß die Meinung derer, die unterschiedslos jede Ansicht für wahr erklären, sich durch sich selbst aufhebt, indem er auf diese Meinung die ihr entgegengesetze Meinung bezieht 570 - auf dieselbe Weise, in der bereits Piaton im Theaitet den homo-mensura-Satz des Protagoras (auf den sich Aristoteles auch bezieht 571 ) widerlegt hatte 572 ; denn eine Meinung, die jede Meinung als gleichermaßen wahr akzeptiert, müßte auch die ihr widersprechende Meinung akzeptieren, würde sich damit aber aufheben, und man hätte, wie Piaton sagt, den homo-mensura-Satz auch so auffassen können, daß man sagt, das Maß aller Dinge sei das Schwein oder der Affe. 5 7 3 Nicht also auf die Sicherung der Homogenität, sondern auf die Sicherung der Andersheit im Denken zielt das Fundamentalaxiom der aristotelischen Metaphysik ab. Es zielt deswegen auf Andersheit ab, weil durch sie das Denken gestachelt wird, weil es durch Andersheit ein Interesse, eine Begierde gibt. Der Eros 56y
Inciarte behauptet dagegen, daß mit dem Satz des Widerspruchs die Gegensätze (und zwar nicht nur die kontradiktorischen, sondern auch die konträren) ausgelöscht werden sollen. Dies erklärt sich aus Inciartes These, daß die Einheit der Metaphysik durch den Satz vom Widerspruch und durch den Substanzbegriff als reinen Akt zum Ausdruck komme. Denn der reine Akt sei die Verneinung jeglicher Potentialität, diese aber drücke die Möglichkeit von sowohl kontradiktorischen wie konträren Gegensätzen aus (F. Inciarte, Die Einheit der Aristotelischen Metaphysik, in: Philosophisches Jahrbuch 101 (1994), 1-21). Dagegen muß aber gesagt werden, daß die ousia qua reiner Akt keineswegs die Gegensätzlichkeit des Denkens verhindert. Ein ενεργεία öv ist etwas, was immer schon an seinem telos ist, wie das Denken, das um seiner selbst willen vollzogen wird. Dieses Denken kann aber sehr wohl den Gegenstand A und zugleich seine Verneinung denken. Die Potentialität und Gegensätzlichkeit des um seiner selbst willen vollzogenen Denkens wird erst dann vernichtet, wenn es in ein auf Entscheidung beruhendes Handeln mündet.
570
Met. Γ 8, 1012 b 13-18.
571
Met. Γ 5, 1009 a 5ff., und explizit auf Protagoras' homo-mensura-Satz bezogen und mit der gleichen Argumentation (i. S. der Rückführung desselben auf die αΐσθησις als Maß für die Beurteilung des Seienden), die Piaton im Theaitet gegen denselben anführt, Met. I 1, 1053 a 35-53 b 4.
572
Theaitet, 170 d-171 c.
573
Ebd., 161 c.
288
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
des Denkens schliefe ein, wenn alle Meinungen und alles Seiende für gleich gälten, mithin gleichgültig wären, und mit ihm das Gute, das durch die Begierde gesetzt wird. Insofern hat der Satz des Widerspruchs eine ethische Relevanz: indem er nämlich das Gute als ein Begehrtes sichert (das auch bereits Piaton aus seiner Umstrittenheit, d. h. aus seinem Für-anders-gehalten-werden erkannte 574 ). Dabei spielt es zunächst noch keine Rolle, ob dieses Gute ein an sich Gutes oder nur ein anscheinend Gutes ist. Entscheidend ist zunächst bloß, daß es ein Gutes überhaupt nur gibt durch die Begierde und daß auch das Denken nur ist durch die Begierde. Gibt es keine Begierde, gibt es auch nicht das Bedürfnis zu denken. Denn ein Denken ist nur in Gegensätzen, und das Gegensätzliche wird bedeutungslos, wenn durch ein Fehlen von Affekt die Gegensätze und Unterschiede gleichgültig werden. Die Gegensätzlichkeit des Denkens, die es an sich selber hat, wird praktisch nur relevant durch die Begierde; doch auch diese wird praktisch nur relevant durch das Denken. Denn nicht nur das Denken kann Gegensätzliches zugleich denken, sondern es kann auch die Begierde Gegensätzliches zugleich begehren. Was Eindeutigkeit schafft und fixiert, ist die Denken und Begierde zusammenschließende προαίρεσις. So kann ich zwar gleichzeitig die allgemeinen Prämissen haben, daß jedes Süße genüßlich und daß jedes Süße der Gesundheit abträglich sei, und ich kann das Süße, das ich gerade vor mir sehe, zugleich begehren und verfluchen; aber ich kann mich nur für eines entscheiden: entweder von dem Süßen, das ich vor mir sehe, zu kosten, oder mich seiner zu enthalten. Wenn vom akrates, der bei dieser Konstellation der Dinge vom Süßen kosten würde, gesagt wird, daß er sich zu dem, was er tut, nicht entschieden habe, dann nur deswegen, weil er wider besseres Wissen gehandelt hat. Aber gehandelt hat er, und sein Handeln war eine Wahl, eine hairesis, und insofern, als sein Handeln (das Kosten von der Süßigkeit) ein Handeln vor einer anderen Handlungsoption war, auch eine pro-hairesis. Der Satz vom Widerspruch bringt somit die Notwendigkeit der Eindeutigkeit einer Entscheidung zum Ausdruck, aber an dieser zugleich die Gegensätzlichkeit des Denkens und der Begierde, durch die eine Entscheidung als Wahl zwischen zwei entgegengesetzten Handlungsoptionen (ja oder nein) erst möglich wird.
Phaidros,
263 a. Piaton unterscheidet hier zwischen rhetorisch relevanten und rheto-
risch irrelevanten Gegenständen, und zwar nach der Maßgabe der Umstrittenheit. Rhetorisch (und philosophisch) relevant sind nicht die Gegenstände, bei denen alle gleicher Meinung sind (wie in bezug auf die Wörter »Eisen« und »Silber«), sondern Gegenstände, die umstritten sind: das Gerechte und das Gute, Gegenstände also, die die Ethik betreffen.
Begierde und Entscheidung
289
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten Eine Anerkennung der Andersheit und Gegensätzlichkeit, von der die Begierde und das Gute als Begehrtes abhängen, setzt aber voraus, daß die verschiedenen Seiten der Gegensätze anerkannt und die Bezüge, innerhalb deren Gegensätze und Andersheit möglich sind, sichergestellt werden. Dies erweist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der, wie Kirwan richtig herausgestellt hat, im wesentlichen keine neuen Argumente gegenüber dem Satz des Widerspruchs liefert 575 (weswegen seine Besprechung in Met. Γ 7 und 8 auch den weit geringeren Teil der Abhandlung der beiden Fundamentalaxiome ausmacht) und der über den Satz des Widerspruchs hinaus durch Ausschluß eines Mittleren oder Dritten (μεταξύ) die dichotomischen Bereiche eingrenzt, in denen Andersheit möglich und erkennbar ist: vor allem die Bereiche von Sein und Werden. 576 Denn das Werden läßt sich begrifflich nur durch das Sein fassen: als Übergang von ~H\chXseiendem zu Seiendem.
So gibt es nach dem Satz vom ausgeschlosse-
nen Dritten kein Mittleres zwischen Seiendem und Nichtseiendem 577 (denn beide sind aufeinander beziehbar als das potentiell Seiende auf seine Verwirklichung) oder zwischen Werdendem und Vergehendem oder zwischen Bejahung und Verneinung, eben deshalb, weil Veränderung, d. h. die Welt der anders werden könnenden »Dinge«, als Übergang aus einem Extrem ins andere Extrem 575
576
577
Aristotle, Metaphysics, Books Γ, Δ, and Ε, transi, with Notes by Christopher Kirwan, 2. ed., Oxford 1993, 116. Kirwan bezieht sich hier vor allem auf Γ 7, 1012 a 17-24, wonach der Satz vom ausgeschlosssenen Dritten dieselbe Tendenz zu verfolgen scheint wie der Satz vom Widerspruch, nämlich eine Unterredung möglich zu machen durch die fur die Rede notwendige Bezeichnung von etwas als etwas. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt, daß es kein Drittes außerhalb der Glieder eines Widerspruchs gibt. Eines der beiden Glieder ist nach den Regeln der Adjunktion immer wahr. In Formel: A v - i A . Beispielhaft: Die Aussage »Eva sitzt oder sitzt nicht« ist immer wahr. Ein Drittes gibt es hier nicht (anders als beim konträren Gegensatz, bei dem ein Drittes nicht ausgeschlossen sein muß und bei dem keines der beiden Glieder wahr sein kann; denn die Aussage »Eva sitzt oder steht« ist genau dann falsch, wenn ein Drittes, ζ. B. daß Eva liegt, wahr ist). »Es kann bei einer Kontradiktion«, so heißt es bei Aristoteles, »kein Drittes (wörtlich »kein Dazwischen«, μεταξύ) geben, sondern notwendig muß je eines von einem entweder bejaht oder verneint werden« (Met. Γ 7, 1011 b23f.). Diese Differenz fuhrt Aristoteles bei Besprechung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten zuerst an (Met. Γ 7, 1011 b 26ff.), und sie ist die für den Satz wohl wichtigste Differenz, insofern als alle weiteren Differenzen, die in der Untersuchung von Γ 7 aufgezählt werden, auf diese Differenz zurückgeführt werden können.
290
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
erklärt wird. Damit der Gegensatz als bestimmter Gegensatz, als Korrelation ausgedrückt werden kann, wird ein Drittes zwischen oder neben den Gliedern dieser Korrelation ausgeschlossen. Das gleiche hat statt bei der Art von Relation, die im Teil II dieser Arbeit als die Sonderform von Relation beschrieben wurde, in der der Seinsbegriff im Sinne des unbewegt Bewegenden als Dichotomie von seelischem Akt und Aktgegenstand gipfelte. In Met. I 7 wird diese Relation von den übrigen, »gewöhnlichen« Formen von Relation (ζ. B. Relationen von der Art »groß-klein«) am Maßstab des fehlenden Dritten unterschieden. Bei der Relation von Wissen und Wißbarem (die nur ein anderer Ausdruck für die Korrelation von Denken und Denkbarem, Wahrnehmen und Wahrnehmbaren ist) gibt es kein μεταξύ (1057 a 37-57 b 2). Neben der ousia qua Denken und der ousia qua Gegenstand des Denkens gibt es kein Drittes.
Die Begierde als Lust und die Differenz von entelechischer und nichtentelechischer Lust Daß der Satz vom Widerspruch das sicherste Prinzip (βεβαιότατη άρχη, Met. Γ 3, 1005 b 1 If.) von all dem, was keine Täuschung zuläßt, ist, kann damit begründet werden, daß die Leugnung desselben ihn nicht aufhebt, sondern bestätigt. Das Nein kann ihm nichts anhaben; ja man kann sagen, daß der Satz des Widerspruchs den Widerspruch geradezu herausfordert. Das Nichtwidersprechen ist sogar die weitaus größere Gefahr fur die Geltung dieses Fundamentalaxioms, vor allem dann, wenn es mit einem Mangel an Begierde und Interesse verschwistert ist. Der Satz des Widerspruchs wäre völlig ohne jede Bedeutung, wenn die Affektlosigkeit so groß wäre, daß sie an jedem Unterschied und an jedem Unterscheiden uninteressiert ist. Die Gefahr für das Fundamentalaxiom des Denkens und für dieses selbst - die einzige Gefahr, die es bedeutungslos machen könnte - ist die affektive Verödung des Seelenlebens, dem alles, was um es herum vorgeht, gleichgültig ist, weil es in keiner Hinsicht von der Außenwelt oder vom Wahmehm-, Denk- und Wißbaren gestachelt werden könnte, dieses für es mithin kein Wahrnehm-, Denk- und Wißbares mehr ist. Aristoteles beschreibt in der Nikomachischen Ethik diese affektive Verödung des Seelenlebens im Hinblick auf die ethische Tugend des Maßhaltens, der Sophrosyne, als dessen Gegenpol nach der Seite der έλλειψις, des Zuwenig hin und hat fiir dieses Zuwenig an Lust, die den Maßstab abgibt für die Bestimmung der Sophrosyne und ihrer Extreme, den Namen Anästhesie.578 Aristoteles sagt dabei aber, daß dieses Zuwenig an Lust faktisch kaum vorkomme: »Menschen, 578
EN II 7, 1107b 4-8.
Die Begierde als Lust
291
die einen Mangel an Lust haben, gibt es eigentlich nicht« ( E N 1107 b 6f.)· Daß Aristoteles mit dem faktischen Vorkommen der Anästhesie nicht rechnet, kann der Grund dafür sein, daß er die Leugnung des Satzes v o m Widerspruch nicht für m ö g l i c h hielt und an denen, die alles für gleichgültig erachten, in Met. Γ 3-8, w o die Fundamentalaxiome abgehandelt werden, nachweist, daß sie nicht meinen, w a s sie denken 5 7 9 , gerade deswegen, weil sie widersprechen (»streitend etwas s a g e n « ) 5 8 0 und damit zu erkennen geben, daß sie an Unterscheidungen interessiert sind. Wenn sie meinten, was sie sagen, wenn sie also faktisch nicht an Unterscheidungen interessiert wären, müßte ihnen, wie Aristoteles folgert, faktisch auch alles gleichgültig sein, was um sie herum passiert. 5 8 1 Eine solche aus dem Mangel an Affektivität und Lust entspringende Gleichgültigkeit, die heute unter dem N a m e n der Schizophrenie als die Extremform
seelischen
Krankseins imponiert 5 8 2 , scheint es bei den Alten nicht oder kaum gegeben zu haben. Zumindest stellt Aristoteles sie weder bei den Gegnern des Satzes v o m Widerspruch noch in bezug auf das Maßhalten bei den v o m Maßhalten A b w e i -
579
Vgl. vor allem Met. Γ 3, 1005 b 25f., wo Aristoteles unmittelbar nach der vollen Bestimmung des Satzes vom Widerspruch Heraklit als Leugner des Satzes anfuhrt und sagt, daß dieser, sofern er das Gegenteil des Satzes vom Widerspruch tatsächlich behauptet habe, nicht notwendig das, was er sagt, auch gemeint habe.
580
Vgl. Met. Γ 4, 1006 a 1 Iff.
581
Vgl. ebd., 1008 b 12ff.
582
Eugen Bleuler, der - in Abwandlung des Kräpelinschen Begriffs der Dementia praecox - den Begriff der Schizophrenie geprägt hat, rückt die affektive Verflachung in den Vordergrund dieses Krankheitsbildes. Ja das Zurücktreten der Affekte ist nach ihm das eigentliche Kennzeichen fur die Chronizität dieser Psychose. »Manche Schizophrenen der Endstadien«, schreibt Bleuler, »zeigen Jahre und Jahrzehnte lang keinen Affekt; mit nichtssagenden Gesichtern sitzen sie in nachlässiger oder zusammengeschobener Haltung in den Pflegeanstalten herum; sie lassen sich wie Automaten an- und auskleiden, von dem gewöhnlichen Platz ihrer Untätigkeit zum Essen und wieder zurückfuhren [...] Sogar auf Mißhandlungen durch andere Kranke reagieren sie nicht« (Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Leipzig/Wien 1911, 31f.). Aber auch bei den weniger schweren Formen ist nach Bleuler Gleichgültigkeit »die äußere Signatur«, »und zwar Gleichgültigkeit gegen alles, gegen Verwandte und Freunde, gegen Beruf und Lustbarkeit, gegen Pflichten und Rechte, gegen Glück und Unglück« {ebd., S. 32), und selbst gegen die höhsten Interessen, gegen das Interesse am Leben, worin nach Bleuler der Defekt am ausgesprochensten zur Wirkung komme. Er erwähnt in diesem Zusammenhang, daß bei einem Anstaltsbrand eine Anzahl von Patienten aus den bedrohten Abteilungen gefuhrt werden mußte; denn sie hätten sich sonst nicht vom Platze bewegt und sich »ohne Affekt ersticken oder verbrennen lassen« (ebd.).
292
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
chenden fest. Hier gibt es nach Aristoteles nur das Zuviel an Lust; und nur dieses Zuviel wird von ihm als Problem, als ethisches Problem beschrieben. Daß aber auch das Zuviel an Lust, das als das vom Maßhalten abweichende Extrem den Namen der Akolasie, der Zügellosigkeit, hat, letztlich auch wie die Anästhesie dennoch auf einen Mangel an Lust oder auf ein Zuviel an Unlust zurückgeführt werden kann und gewissermaßen nur verhüllt ausdrückt, was bei der Anästhesie oder Schizophrenie unverhüllt zum Ausdruck kommt, wird bei näherer Analyse des aristotelischen Gedankenganges vor allem in den Lustabhandlungen von Buch X und insbesondere von Buch VII von EN deutlich. Am Schluß von EN VII, im Kapitel 14, wird die Struktur der Art von Lust untersucht, bei der ein Übermaß oder ein Exzeß (υπερβολή) möglich ist. Aristoteles beschreibt diese Art von Lust als somatische (körperliche) Lust, welche in den ersten Büchern von EN (insbesondere in II und III) durchweg ohne ihr Epitheton genannt wurde und um die Aristoteles die ethische Tugend der Sophrosyne, ja die ethische Tugend überhaupt kreisen ließ. Ein maßvolles Sichenthalten von ihr wird als sittlich tüchtig, der Exzeß als sittlich untüchtig, als Akolasie beschrieben. Hier, in EN VII 14 (besonders von 1154 a 25 an), zeigt Aristoteles, daß diese Lust und ihr Zuviel in der Unlust gründet. Die somatische Lust wird erwählt, um die Unlust zu vertreiben. Das, was die somatische Lust in Gang bringt, ist die Unlust, genauer das Zuviel an Unlust. Je größer die empfundene Unlust, desto größer der Aufwand an seelischer Energie und an äußeren Reizen, um über sie hinwegzukommen. Es geht also primär um einen defizitären Zustand, der aufgehoben werden soll und um dessentwillen Mittel angewendet werden, die sich äußerlich möglichst stark von dem abheben sollen, was sie beseitigen wollen, weswegen die somatische Lust prima facie als Lust und nicht als Unlust, als deren Verhüllung die somatische Lust sich hier herausstellt, erscheint. Der Prozeß des Vertreibens der Unlust wird damit aber von der Struktur her zu einer Poiesis, zu der Art von Handlung, die nur um des Zweckes willen unternommen wird, mit dem die Handlung, wenn sie ihn erreicht, ihr Ende gefunden hat. Aristoteles vergleicht daher die somatische Lust in EN VII 14 mit dem Heilprozeß und nennt sie eine Medizin (ιατρεία (1154 a 28), ein Wort, das Dirlmeier in diesem Zusammenhang nicht unangemessen mit »Betäubungsmittel« übersetzt 583 ). Hier ist aber zu fragen, ob die somatische Lust überhaupt noch als Lust bezeichnet werden kann. Denn die somatische Lust ist keine Lust um ihrer selbst willen, sondern sie wird nur erstrebt als Handlungsresultat, das als Resultat einer kurativen Handlung, als welche die auf somatische Lust abzielende Handlung dargestellt wird, immer besser ist als die Handlung selbst. Geheilt sein, sagt 583
Dirlmeier a. a. O., 167.
Die Begierde als Lust
293
Aristoteles in diesem Zusammenhang, ist immer besser als geheilt werden. Daher sind solche Handlungen nur akzidentell sittlich 584 - und akzidentell lustvoll. »Akzidentell lustvoll« meint, wie Aristoteles wenig später definiert (1154 b Π Ι 9), das, was aus kurativer Handlung entspringend nur dem Ergebnis nach, also beiläufig lustvoll ist - im Gegensatz zur naturgemäßen Lust, bei der die Handlung selbst Lust ist und die Lust der Handlung nicht bloß als Ergebnis anhängt; denn hier, bei der Lust seienden Handlung, wird aus einem nichtdefizienten Zustand heraus gehandelt (1154 b 20). Es ist also nicht auf die Behebung eines Mangels abgesehen. Es wird nicht selten übersehen, daß mit den Lustabhandlungen von EN VII 11-14 und X 1-5 ein völlig neuer Lustbegriff formuliert wird 5 8 5 und daß der alte Lustbegriff, der für die Bestimmung der ethischen Tugenden, insbesondere der Sophrosyne, und ihrer Extreme maßgeblich war, als bloß akzidentelle Lust, als Lust, die nur beiläufig, von dem Resultat der Handlung her, aber nicht von der Handlung selbst her Lust ist, aus der ethischen Untersuchung herausfällt, und zwar deswegen, weil dieser alte Lustbegriff bei näherer Analyse nicht der Handlungsstruktur einer Praxis entspricht, wie in Teil I dieser Arbeit noch gezeigt wurde, sondern der Struktur einer Poiesis,586 Was die beiden Lustabhandlungen der Nikomachischen Ethik gemeinsam haben, ist, daß sie den Lustbegriff an einer von jeglicher Art von κίνησις freien Handlung konstituieren, die zwar die Aktivität eines seelischen Vermögens ist, aber nicht wie die somatische Lust
584 585
EN VII 14, 1154 a 34-54 b 2. Daß Aristoteles nur noch diese entelechische Lust als Lust in den Lustabhandlungen von EN im Blick hat, zeigt seine wohl vor allem gegen Piaton gerichtete Polemik, der die Lust deswegen nicht als Gut anerkannte, weil sie ein Werden ist (vgl. Piaton, Philebos 31 b-32 b, 54 a-d).
586
Vgi
(jazu vor
Aristoteles,
allem Friedo Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen
Ethik des
Göttingen 1976. Ricken entgeht die radikale Neuformulierung des Lustbe-
griffs in den von ihm untersuchten Lustabhandlungen in EN deswegen, weil er den Lustbegriff einzig aus der όρεξις, die Ricken m. E. unangemessen mit »Streben« übersetzt, ableitet. In der Tat ist die Begierde eine Gemeinsamkeit zwischen der somatischen Lust, die sich vielmehr als Unlust entpuppt, und der reinen, ästhetischen Lust. Aber über dieser Gemeinsamkeit können nicht die Unterschiede zwischen beiden Formen von Lust übersehen werden, die so groß sind, daß beide völlig anderen Handlungstypen zugehören, der Praxis (und zwar der Praxis im Sinne von Met. Θ 6) auf der einen und der Poiesis auf der anderen Seite. Solche Differenzen (wie überhaupt metaphysische Differenzen wie die von Potenz und Akt), vermöge deren die eine Art von Lust nicht einmal mehr als Lust behauptet werden kann, spielen für Ricken keine Rolle.
294
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
am Tastsinn (άφή) orientiert ist 587 , sondern an dem Vermögen, dessen Aktivität am Aktgegenstand keine (stoffliche) Veränderung bewirkt. Solche Aktivitäten, die an sich selbst lustvoll sind, sind vornehmlich das Sehen und insbesondere das Denken als das eingentiimliche ergon des Menschen. Sie sind dem Tasten, Gehör und Geruch an Reinheit (καθαριστής) überlegen. 588 Denn sie sind Handlungen, die ohne Unlust (άλυποι) vollzogen werden. 589 Wenn daher bei dieser reinen und eigentlichen Lust ein Übermaß ausgeschlossen wird, dann aus dem Grunde, weil bei ihr ein Werden zum Besseren nicht möglich ist, weil es bei ihr, wie Aristoteles sich ausdrückt, keine »Auffüllung« (άναπληρωσις) gibt 590 , d. h. weil sie eine Praxis im vollen Sinne (gemäß Met. Θ 6), eine »entelechische« Lust, ist, eine Lust, die ihr telos nicht außer sich wie die somatische (nichtentelechische) Lust, sondern in sich hat, mithin immer schon an ihrem Ende ist. 59 ' Was aber beide Lüste, die somatische, nicht ihr telos in sich habende Lust, die Aristoteles als Unlust enthüllt und die daher dem Begriff Lust nicht nur nicht mehr genügt, sondern ihm entgegengesetzt ist, und die reine, ästhetischkognitive Lust, die von jeglicher Unlust und Bewegung frei ist, eint, ist, daß sie beide Ausdruck von Begierde sind. Denn in jedem der beiden Fälle wird die Lust als ein Gut gewählt und die Unlust als ein κακόν gemieden. 592 Die Begierde des Guten ist für beide bestimmend. Anders würde es auch bei der Zügellosigkeit und bei der Unbeherrschtheit (die Aristoteles beide unter die nichtente-
58
'
Vgl. EN III 10, wo für die somatische Lust (hier noch ohne Epitheton), als deren Exzeß die Zügellosigkeit beschrieben wird, neben dem Geschmackssinn vor allem der Tastsinn aufgeführt wird (1118 a 23-18 b 4). Gerade in diesem seelischen Vermögen, das das allgemeinste ist, erweist sich die Akolasie (ebd., 1118b 1).
588 589
EN X 5, 1175 b 36-76 a 4. EN X 3, 1173 b 16-19. Hier werden zwar auch die Lüste des Hörens und des Geschmacks mit aufgeführt (nicht jedoch der Tastsinn, der immer nur mit der somatischen Lust, nie dagegen mit der reinen Lust assoziiert wird); aber in erster Instanz geht es um Erkenntnislust. Vgl. zu diesem Primat der Erkenntnis oder des Schauens für die entelechische Lust vor allem EN VII 12, 1153 a 1.
590
EN Χ 3, 1173 b 11.
591
Vgl. u. a. EN VII 12, 1153 a 7-11. Etwas Besseres, heißt es dort, als die Lust gibt es nur, wo es ein telos des Werdens gibt. Die ästhetisch-kognitive Lust, auf die Aristoteles als die einzige und reine Lust in EN VII und X abzweckt, ist aber an sich selbst telos und ενέργεια und kein Werden.
592
EN X 2, 1173 a 11-12. Vgl. auch EN VII 13, 1153 b If.
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
295
lechische Lust subsumiert 593 ) keine Vertreibung oder kein Vertreibenwollen der Unlust geben. Daß aber das Gut, das die nichtentelechische Lust begehrt, nur ein anscheinendes Gut wird, liegt am Lustempfinden, an der Begierde selbst, daran, daß der von der somatischen, nichtentelechischen Lust Getriebene die Akte der höheren Seelenvermögen, insbesondere des Sehens und Denkens, ja das Leben selbst als unlustig, als nicht begehrbar empfindet. 594 Es ist gerade der Mangel an Lust, der Mangel an Begierde, was die nichtentelechische Lust von der entelechischen Lust unterscheidet. Der Exzeß an somatischen Begierden würde nicht zustande kommen, wenn das Leben mit den Aktivitäten, die dem Menschen in hervorragender Weise eignen, wenn die αισθησις als lustvoll, als begehrlich empfunden würde. Was Akolasie und Akrasie von der unverhüllten Unlust, der Anästhesie, unterscheidet, ist nur, daß der akolastos und der akrates den Zustand der Unlust noch fühlen und über ihn hinwegzukommen begehren, daß zwar das Wahrnehm- und Denkbare nicht begehrt, nicht gefühlt, aber dieser Mangel an Begierde noch gefühlt und durch überschüssige Begierde kompensiert wird, während die Anästhesie nicht einmal mehr das Gefühl der Gefühllosigkeit hat und keine Mechansimen mehr in Gang setzen kann, um über den Mangel an Begierde, an Lust am Seienden, hinwegzukommen.
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia und die Differenz von bios theoretikos und bios politikos Wenn das ηθος des Menschen und die Praxis im engeren Sinne sich in der Enthaltung von somatischer Lust oder vielmehr in deren maßvoller Limitierung, in der Vermeidung des Exzesses, erweisen, das Problem einer solchen Limitierung aber sich, wie eben gezeigt wurde, nur stellt bei einem Mangel an Lust und Begierde, so wäre der Genießer par excellence, derjenige, der am ästhetischnoëtischen Schauen des Seienden hinreichend Lust empfindet, eo ipso als ethisch tüchtig anzusehen. Denn er hätte das Ziel, auf das das praktischpolitische Leben orientiert ist, bereits verwirklicht. Der bios theoretikos würde also den bios politikos, dessen Kern die Herstellung der ethischen Arete ist, notwendig implizieren. Dies scheint ein paradoxes Ergebnis unserer Untersuchung zu sein, weil in Teil I dieser Arbeit bei der Besprechung des Glücksbegriffs Theorie und politische Praxis als zwei unterschiedliche Kandidaten für das Glück aufgeführt wurden und der Anschein erweckt wurde, als sei mit der Aufführung dieser Kandidaten eine Alternative gemeint, als liege also die Eudaimo593
EN VII 14, 1154 b 14-15.
594
EN VII 14, 1154b 5-8.
296
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
nia entweder im bios politìkos oder im bios theoretikos, wenngleich nicht ausgeschlossen wurde, daß der Philosoph als Repräsentant des bios theoretikos sich auch mit Politik beschäftigen könne. Daß die Eudaimonia nicht in der somatischen Lust liegt, die als dritter Kandidat für den Glücksbegriff genannt wurde, ist bereits gezeigt und durch meine Ausführungen im vorigen Kapitel endgültig bestätigt worden. Wenn die Lust für die Eudaimonia relevant ist, dann nur als entelechische Lust, als ästhetisch-kognitive Lust, und als solche wird sie von Aristoteles in EN VII 13 mit der Eudaimonia gleichgesetzt. 595 Sie wird deswegen mit der Eudaimonia gleichgesetzt, weil sie vollendeter Akt ist. 596 Wenn Aristoteles in EN VII 13 sich für diese Gleichsetzung auf die Meinung der Vielen beruft, dann deswegen, weil er ihnen lediglich in dieser Identifikation (in der Identifikation von Lust und Eudaimonia) recht gibt, aber nicht in der Identifikation von eudämonischer Lust und somatischer Lust, wie aus 1153 b 13 hervorgeht, wo er die von den Vielen erstrebte Lust sittlich schlecht heißt. Die Vollendetheit, d. h. das In-sich-Haben des telos, ist das Maß für die Beurteilung einer Handlung im Hinblick auf die Eudaimonia. Auch bios theoretikos und bios politikos werden an diesem Maß gemessen. An diesem Maße zeigt sich auch ihre Unterschiedlichkeit und der Vorzug des bios theoretikos vor dem bios politikos. Denn das politische Leben, so Aristoteles in der Eudaimoniaabhandlung von EN X (6-8), ist ohne Muße und wird um eines telos willen, aber nicht um seiner selbst willen gewählt - im Gegensatz zum theoretischen, müßigen Leben, das niemals um eines anderen willen gewählt wird. 597 Dieser Vorrang wird wenig später, am Anfang von EN X 8, bestätigt, indem Aristoteles das politisch-praktische Leben im Sinne der ethischen Tugenden zwar noch als Eudaimonia gelten läßt, aber als eine Eudaimonia zweiten Ranges (1178 a 9). Die Eudaimonia im primären Sinne ist die Eudaimonia des bios theoretikos. Das ganze 8. Kapitel von EN X hat den Sinn, diese Erstrangigkeit des theoretischen Lebens, der Philosophie zu erweisen. Der Philosoph, der σοφός, ist der am meisten Glückliche. Das ist das Resümee am Ende der Eudaimoniaabhandlung von EN (1179 a 31-32). Der Vorrang des bios theoretikos vor dem bios politikos zeigt sich jedoch bereits bei der Besprechung der dianoëtischen Tugenden. Am Ende von EN VI vergleicht Aristoteles die Phronesis als die Repräsentantin des bios politikos mit der Sophia als der Repräsentantin des bios theoretikos. Daß die Phronesis besser als die Sophia sei, wird als unmöglich dargestellt. Um diese Unmöglichkeit darzustellen, bedient sich Aristoteles eines Beispiels aus dem Bereich der Poie595
1153 b 14. Vgl. auch EN X 7, 1177 a 22-27.
596
1153 b 16.
597
EN X 7, 1177b 17-24.
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
297
sis: Daß die Phronesis besser sei als die Sophia, sei genauso unmöglich wie, daß die Medizin besser sei als die Gesundheit. 598 Das Beispiel ist nicht von ungefähr gewählt. Es zeigt nämlich nicht nur, wie Sophia und Phronesis zu evaluieren seien, sondern es zeigt auch das Verhältnis, das beide zueinander haben. Ethisch-politisches Leben und Philosophie stehen nicht unvermittelt nebeneinander. Beide sind aufeinander bezogen, und zwar in einem teleologischen Verhältnis. Die Phronesis ist auf die Sophia als auf ihr telos bezogen. Dies ist evident aus den Worten, die Aristoteles dem Vergleich zwischen dem Verhältnis von Phronesis und Sophia und dem Verhältnis von Medizin und Gesundheit folgen läßt. Sie (= die Phronesis = die Medizin) nämlich gebrauche sie (= die Sophia = die Gesundheit) nicht, sondern schaue darauf, daß sie (die Sophia = die Gesundheit) entstehe; und um ihretwillen erlasse sie ihre Anordnungen, aber nicht an sie. 5 9 9 Damit ist erwiesen, daß die ästhetisch-kognitive, eudämonische Lust die einzige Aktivität ist, die dem Begriff der Praxis als reinen Akts, als reiner Seiendheit, welche ihr telos gänzlich in sich hat, entspricht. Sie ist so sehr telos ihrer selbst, daß die Frage nach dem Wozu für sie irrelevant geworden ist. Damit ist aber auch erwiesen, daß die ethische Arete, auf die Phronesis und politisches Leben bezogen sind, in letzter Instanz genauso wie die somatische Lust ihrer Struktur nach eher der Poiesis als der Praxis zuzuordnen ist. Aber diese Struktur hat die entscheidungsrelevante Handlung nur, wenn sie auf die Sophia bezogen wird. In derselben Weise zeigte sich ja auch die poietische Struktur der somatischen Lust. Daß sie Poiesis und vielmehr das Gegenteil von Lust ist, wurde durch Vergleich mit der ästhetisch-kognitiven Lust gezeigt, bei dem sich Aristoteles desselben Modells für die Beschreibung der somatischen Lust als einer Poiesis bediente wie jetzt bei der Beschreibung der Phronesis in bezug auf die Sophia: des Modells der kurativen Handlung. Sofern die Sophia, der bios theoretikos, auf den Plan tritt, wird jede Handlung im Vergleich mit ihr zu einer Poiesis und muß sich ihr unterstellen. Daher sagt Aristoteles in der Metaphysik was als Parallele zu der hier zitierten Passage aus EN VI 13 gelesen werden kann - , daß der Philosoph nicht Anordnungen entgegenzunehmen, sondern zu erlassen habe 6 0 0 , und dies aus dem Grunde, weil die Philosophie, deren Repräsentant er ist, als einzige Wissenschaft um ihrer selbst willen gewählt werde. 601 Die eigentliche Regentschaft hat mithin der bios theoretikos, und einzig um dessentwillen hat der bios politikos seine Legitimation. Der Bezug des bios 598
EN VI 13, 1145 a 6-8.
599
Ebd., a 8-9.
600
Met. A 2, 982 a 17 f.
601
Ebd., 982 a 14-17.
298
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
politikos auf den bios theoretikos ist also kein zufälliger oder akzidenteller. Der bios politikos ist keine Lebensform, die einzig um ihrer selbst willen, ohne Hinblick auf das Leben der Muße und der Theorie, geführt werden darf, wenn sie als eudämonisch gelten will. Aristoteles trennt sogar in der Eudaimoniaabhandlung von EN X den bios politikos von der Eudaimonia. Wir suchen die Eudaimonia, sagt Aristoteles, offensichtlich insofern, als sie etwas anderes sei als Politik. 602 Gleichwohl hat der bios politikos einen notwendigen Bezug auf den bios theoretikos. Dieser Bezug wird in der aristotelischen Ethik durch einen dem menschlichen Leben transzendenten Orientierungspunkt hergestellt. Nur sofern es nichts Besseres im Kosmos gäbe als den Menschen, wäre Politik (und Phronesis) ethisch am relevantesten (σπουδαιοτάτη). 603 Dadurch aber, daß ein für den Menschen transzendenter Orientierungspunkt gesetzt werden kann, muß die Sophia über die Politik gestellt und diese auf sie bezogen werden. Die Polis und die sie konstituierenden Bürger sind deswegen auf diesen transzendenten Orientierungspunkt zu beziehen, weil dieser transzendente Orientierungspunkt im Menschen selber ist als dessen bester Teil. Es ist der νους, und gemäß der Verwirklichung dieser besten seelischen Potenz leben heißt nach Aristoteles sich unsterblich machen, sich bei sich bleibend transzendieren. 604 In dieser »immanenten Transzendenz«, wie Höffe formuliert 605 , zeigt sich der Bezug von Ethik und Politik auf die Metaphysik, auf die Erste Philosophie: Innerhalb ihrer selbst
602
EN X 7, 1177 b 15. Richtig interpretiert Eriksen die Stelle: »The point of Aristotle in the passage at hand is not only to make clear the main difference between the bios theoretikos and the bios politikos,
that the first one has its end in itself while the last one
serves some further end, but, moreover, that the further end which the bios politikos serves, at its best, is the bios theoretikos. Sophia and theoria are at one with the happiness they produce. To the energeia politike, Berg Eriksen, Bios theoretikos.
however, happiness is a foreign end« (Trond
Notes on Aristotle's
Ethica Nicomachea X, 6-9, Oslo
1974, 124). 603
EN VI 7, 1141 a 20-22.
604
EN X 7, 1177 b 30-34.
605
Otfried Höffe, Praktische Philosophie.
Das Modell des Aristoteles,
München/Salzburg
1971, 58. Aus dieser immanenten Transzendenz erklärt Höffe den Fortgang der Metaphysik zur Ethik, wobei wegen des immanenten Charakters dieser Transzendenz die Ethik nicht auf der Metaphysik, der Ersten Philosophie, als eine Zweite Philosophie aufbaut, sondern wie die Metaphysik Fundamentalwissenschaft ist. Bezogen auf den Polisbiirger sagt er: »Wenn der Mensch am meisten er selbst sein will, muß er im Raum der Polis die Polis transzendieren und die Wissenschaft, besonders die höchste Wissenschaft, die Erste Philosophie, betreiben« (ebd.).
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
299
verweisen Ethik und Politik über sich hinaus auf die Philosophie, den bios theoretikos; dieser ist ihre Intention, ihr telos. In diesem Zusammenhang kann auf eine Analogie hingewiesen werden, die Aristoteles in seiner politischen Schrift macht, um den Bezug zwischen der Ethik und Politik und der Philosophie darzutun: Es ist eine Analogie zur Dihärese des Logos habenden Seelenteils, der, wie in Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, aufgetrennt werden kann in die praktische, auf Veränderliches gehende und in die theoretische, auf Unveränderliches gehende Vernunft, in die Teile also, die bios politikos auf der einen und bios theoretikos auf der anderen Seite repräsentieren. Das ganze Leben nun kann nach dieser Analogie, die Aristoteles in Pol. VII 14 (1333 a 27ff.) beschreibt, aufgetrennt werden in Unmuße, Krieg, Nützlich-Notwendiges einerseits und in Muße, Frieden, Schönes andererseits. Dabei ist immer das eine um des anderen willen: die Unmuße um der Muße, der Krieg um des Friedens, das Nützlich-Notwendige um des Schönen willen. Aufgabe des Politikers, dessen, der die Polis verwaltet, sei, sich dieser Korrelationen bewußt zu sein und sie im Sinne der übergeordneten Ziele durchzusetzen. Zwar müsse auch das Leidlich-Notwendige, Unmüßige und Kriegerische getan, mehr aber müsse der Muße gepflegt und Frieden gehalten werden, die Dinge, in denen das menschliche Leben sich selbst am meisten - im Sinne seiner besten Potenz des λόγον έχον - gerecht wird. Sich selbst am meisten gerecht werden heißt aber dem transzendenten Orientierungspunkt des politischen Lebens am meisten gerecht werden. Dieser transzendente Orientierungpunkt, der νους, ist der göttliche bios, der dem νους am reinsten lebt, weil er von jeder Art von Poiesis, die jetzt näher als Unmuße bestimmt werden kann, und von jedwedem Angewiesensein auf äußere Glücksumstände und Personen frei ist, kurz weil er in jeder Hinsicht autark ist. Aus dieser Autarkie, die in der Eudaimoniaabhandlung von EN neben der Muße zu den wesentlichsten Konstituentien des Glücks i. S. des bios theoretikos gezählt wird 6 0 6 , ist erklärbar, daß Aristoteles die Götter von jeder Art ethischer Handlung wie Gerechtigkeit, Besonnenheit, Freizügigkeit etc. frei macht. 607 Sicherlich ist die Autarkie nicht der einzige Grund für das Freisein von politischer Praxis der göttlichen Eudaimonia, der Eudaimonia κ α τ ' εξοχήν; der Grund dafür ist vornehmlich, daß, wie gezeigt, das ästhetisch-kognitive Schauen als einzige Handlung als reiner Akt gelten kann, während die Autarkie Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit bedeutet, aber in bezug auf den bios theoretikos die Genügsamkeit meint, außer ihm nichts weiter zu bedürfen. Den Autarkiebegriff wendet Aristoteles auch auf die menschliche Eudaimonia an. Zwar bedürfe der 606 607
EN X 7, 1177 a 27. ENX8, 1178 b lOff.
300
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
Philosoph bestimmter Mittel, die zum Leben notwendig seien; aber wenn er mit diesen Mitteln hinreichend ausgestattet sei, habe er genug und könne für sich selbst denken, während der ethisch Handelnde, der Gerechte, immer noch jemanden brauche, für den und mit dem er gerecht handeln könne. 6 0 8 Was damit aber nicht gemeint ist, ist, daß die reine Eudaimonia des bios theoretikos von der ethischen Tüchtigkeit abgekoppelt ist. Es ist vielmehr eine Bestätigung dessen, was ich eingangs dieses Kapitels als ein scheinbares Paradox formulierte: daß der bios theoretikos den bios politikos impliziert, weil er das Ziel, auf das dieser intendiert, bereits enthält, auch in Hinsicht auf die Autarkie; denn die Polis nennt Aristoteles eine Gemeinschaft zum Zwecke des vollendeten und autarken Lebens. Nicht um bloßer Gemeinschaft willen sei die Polis gebildet worden, sondern um des glücklichen und schönen Lebens willen. 609 Die Gerechtigkeit und ethische Arete allgemein wären wie bei den Göttern überflüssig, wenn Autarkie, Muße und Eudaimonia nicht gerade die Güter wären, auf die Polis und Politik abzielten, weil sie noch nicht verwirklicht sind oder vielmehr ihre Verwirklichung eine ewige Aufgabe, die nie zum Abschluß kommen wird, bleibt. Es ist die conditio humana, daß der Mensch nicht fortdauernd oder nur kurze Zeit, wie es in Met. Λ 7 hieß, zu dieser Eudaimonia fähig und er auf die politische Gemeinschaft angewiesen ist, daß er nur innerhalb der politischen Gemeinschaft autark sein kann, wie in EN I 7, wo Autarkie und Solipsismus entgegengesetzt werden, deutlich gemacht wird. 6 1 0 Möglicherweise ist es gerade dieser vermeintliche Solipsismus, zu dem die Eudaimoniaabhandlung von EN X zu tendieren scheint, was in den letzten Jahrzehnten eine Debatte darüber hervorgerufen hat, ob Aristoteles' Konzeption der Eudaimonia eine inklusive oder eine exklusive sei, d. h. ob der aristotelische Glücksbegriff mehrere (einander gleichberechtigte) intrinsische, um ihrer selbst willen gewählte Güter beinhalte oder nur ein intrinsisches Gut, die Philosophie, der alle anderen Güter untergeordnet sind. Sofern dabei Aristoteles als Moralist gerettet werden soll, und zwar - wie bei Hardie 61 der diese Debatte inauguriert 608
EN X 7, 1177 a 27-34.
609
Pol. III 9, 1280 b 40-81 a 4.
610
1097 b 8-11.
611
W. F. R. Hardie, The Final Good in Aristotle's Ethics, in: Philosophy abgedruckt in: J. M. E. Moravcsik (Hrsg.), Aristotle. A Collection
40 (1965), wieder of Critical
Essays,
New York 1967, 297-322. Hardie hat die Debatte zwar mit den Begriffen inclusive und dominant
end eingeführt (299f.) - und mit diesen Begriffen wird die Debatte i. d. R.
auch bei anderen gefuhrt - , gebraucht aber an einer Stelle seines Aufsatzes auch den Ausdruck exclusive end (306). Hardie, der den inklusiven Glücksbegriff vor allem aus dem ersten Buch von EN (u. a. c. 2, 1094 b 6-7, c. 7, 1097 b 16-20) herauszieht, sieht
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
301
beide Glückskonzeptionen, sowohl die inklusive als die exklusive, bei Aristoteles miteinander verquickt. Die Tendenz seines Aufsatzes ist die, den an Aristoteles im Zusammenhang mit dessen Eudaimonialehre gerichteten Vorwurf, eine Moral des Eigeninteresses (»a morality of self-interest«, 315) entworfen zu haben, abzuschwächen und die Eudaimonialehre mit der Moral des Altruismus und der Selbstaufopferung in Einklang zu bringen. - In dieselbe Richtung geht auch Ackrill, der Aristoteles' Glücksbegriff aber ausschließlich als inklusiven deutet (J. L. Ackrill, Aristoteles on Eudaimonia, a. a. O.). Obwohl Aristoteles der Eudaimonia des bios theoretikos gegenüber der Eudaimonia des bios politikos den Vorzug gebe, sei auch dieser ein Wert an sich selbst, dessen einzige Aufgabe nicht bloß darin bestehe, die Sophia zu befördern. Eine solche Restriktion würde, so Ackrill, dazu führen, daß alles fur ethisch wertvoll angesehen werden müßte, was - auf welche Weise auch immer - auch nur die geringste Tendenz hätte, den bios theoretikos zu fördern. Ackrill sieht in einem Kompromiß zwischen Theorie und ethischer Arete (»virtuous action«) die Möglichkeit, solche Folgen, die er paradox und inhuman nennt, zu verhindern. Bei diesem Kompromiß sei zwar die eine Lebensform wichtiger als die andere, aber nicht unvergleichlich wichtiger (33). - In ähnliche Richtung geht auch Kenny, jedoch mit einer etwas kritischeren Haltung gegenüber der Moral des Stagiriten und mit einer dominanten Interpretation des Glücksbegriffs von EN; denn er hält die aristotelische Glückskonzeption nicht für vereinbar mit der Moral des Altruismus, von dem er aber meint, daß er dem Glück als Zusatzphänomen (»a kind of epiphenomenon«) anhaften könne (Anthony Kenny, Aristotle on Happiness, in: Barnes/SchofieldJSorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle. Bd. 2: Ethics and Politics, London 1977, 25-32). Allerdings sieht Kenny einen Unterschied zwischen EN und EE. In EE nämlich werde nicht eine exklusive, sondern eine inklusive Glückskonzeption vorgestellt. So in seinem Buch The Aristotelian Ethics, Oxford 1978 (bes. 203-214) und in Aristotle on the Perfect Life, Oxford 1992, wo er im Zusammenhang mit dieser Debatte moniert, daß bisher meist nur EN I (und hier i. d. R. nur das 7. Kapitel) und EN X fur die Untersuchung herangezogen worden seien. Er hingegen plädiert dafür, die Argumente fur und wider den exklusiven oder inklusiven Glücksbegriff in einem breiteren Zusammenhang zu diskutieren, der eben auch EE einschließen solle. - Kennys Ansatz diskutiert John McDowell, The Role of Eudaimonia in Aristotle's Ethics, in: A. Oksenberg-Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle's Ethics, Berkeley 1980, 359-373, und kommt zu dem Schluß einer einheitlichen Konzeption der Arete (resp. des Glücks) von ihren Resultaten, nicht von der Bewertung her, die sie in der Trennung von dianoëtischer und ethischer Tugend erfährt. - Von den vielen Beiträgen zu dieser Debatte sei Peter Stemmer erwähnt, der - ohne moralische Implikation - fur einen exklusiven und gegen einen inklusiven Glücksbegriff plädiert und die Diskussion mit seiner Arbeit für abgeschlossen hält (P. Stemmer, Aristoteles' Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik. Eine Interpretation von EN I 7, 1097 b 2-5, in: Phronesis 37 (1992), 85-110). Stemmer be-
302
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
hat, deutlich wird - als Moralist im Sinne der Moral des Altruismus und der Selbst-Aufopferung, ist die Tendenz vorherrschend, den Glücksbegriff im großen und ganzen inklusiv zu deuten, d. h. den bios theoretikos in seiner herausragenden Bedeutung für den Glücksbegriff gegenüber dem bios politikos und dem Leben der ethischen Arete abzuschwächen und diese als eigenständiges Gut aufzuwerten. Die Debatte beruht aber auf einer falschen Prämisse der Interpre-
stimmt die zwei unterschiedlichen Glücksbestimmungen als Alternativen: »Man lebt entweder das theoretische Leben oder das politische Leben, aber nicht beide in einem« (109 - Hervorhebungen von ihm). - Gegen diese Verengung des aristotelischen Glücksbegriffs richtet sich zu Recht Robert Heinaman, Rationality, Eudaimonia and Kakodaimonia in Aristotle, in: Phronesis
38 (1993), 31-56, der die Liste der Glückskandidaten
um Dinge wie das Sehen erweitert, das aber nach meiner Ansicht der bios
theoretikos
durchaus schon impliziert. Heinaman versucht allerdings, die ethische Frage nach dem Guten ganz von der Frage nach der Eudaimonia abzutrennen. »Aristotle«, so sagt er, »cannot believe that the intrinsic value of a good depends on its promoting eudaimonia« (38). - Es hat auch an Kritikern dieser ganzen Debatte nicht gefehlt. Unter ihnen sei hier
Don
Asselin,
Human
Nature
and
Eudaimonia
in
Aristotle,
New
York/Bern/Frankfurt a. M./Paris 1989 (bes. 169-174), erwähnt, der die Debatte deswegen für irrelevant hält, weil die Frage, um die es in dieser Debatte geht, die Frage »how many goods are in a happy life?«, Aristoteles nie auch nur andeutungsweise gestellt habe. Für ihn ist der aristotelische Glücksbegriff ein einheitlicher und nur zu begreifen im Hinblick auf die Verwirklichungsmöglichkeiten der menschlichen Natur, welche im wesentlichen in der Vernunft, im Denken liegen. Daher ist für Asselin das Glück durchweg noëtisch.
Philosophisches Glück und politisches Glück (»civic eudaimonia«) unter-
scheiden sich nach ihm lediglich hinsichtlich ihres Gegenstands. Daß die Debatte aber auch bei manchen Autoren eine Rolle spielt, ohne daß sie ausdrücklich auf sie eingehen, zeigt u. a. Thomas Nagel, Aristotle on Eudaimonia, in: Phronesis
17 (1972), 252-259, der sich gegen eine inklusive Deutung (die er so na-
mentlich nicht nennt) zugunsten einer exklusiven Deutung (die er ebenfalls so nicht nennt) ausspricht: »We must identify [sc. the human goal] with the highest part of ourselves rather than with the whole. The other functions, including the practical employment of reason itself, provide support for the highest form of activity, but do not enter into our proper excellence as primary component factors« (258). Dies zeigt in gewissem Sinne auch Klaus Jacobi, Aristoteles' Einführung des Begriffs 'ευδαιμονία' im I. Buch der Nikomachischen Ethik, in: Philosophisches
Jahrbuch
86 (1979), 300-325, der
meint, daß Aristoteles sich in der Frage, ob alle Tugenden nötig seien für das Glück oder nur einige oder eine bestimmte, auf keine Position festlege, was er aber, wie sein ganzer Aufsatz beweist, eher auf Inkonsistenzen im aristotelischen Werk selbst zurückzuführen neigt.
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
303
tation, auf der Prämisse, daß Aristoteles mit dem ethisch-politischen Leben und dem Leben der Theorie zwei alternative Konzepte von Eudaimonia entwickelt habe. Daher ist es fur Hardie eine mit der oder vielmehr seiner Moral unvereinbare Tatsache, daß die Eudaimonia als ein einziges Gut auf Kosten aller anderen Güter begehrt werden solle. Dies sei, so Hardie, ein zu hoher Preis selbst für die Philosophie. 612 Der bios theoretikos schließt aber, um es eindeutig zu sagen, den bios politikos und die mit ihm verbundene ethische Arete ein, weil das telos des bios politikos im bios theoretikos bereits verwirklicht ist. Wenn daher der GlücksbegrifF inklusiv gedeutet wird, dann muß er als bios theoretikos gedeutet werden. Der bios theoretikos schließt als Inbegriff des Glücks den bios politikos ein 6 1 3 ; nicht aber schließt das Glück - dies wäre der inklusiv gedeutete Glücksbegriff i. S. von Hardie, Ackrill, Kenny etc. - sowohl den bios theoretikos als den bios politikos als zwei mögliche Alternativen ein. Der bios politikos bleibt auf den bios theoretikos bezogen; ja es wird bisweilen schwierig, beide bioi voneinander abzugrenzen, wenn man bedenkt, daß Aristoteles die beste Polis nicht von einer Person, sondern vom Gesetz regiert wissen will 6 1 4 und er dieses Gesetz als Gott und νους bestimmt. 615 Hier geht das politische Leben völlig im theoretischen auf, aber auch das theoretische im politischen. Denn auch der bios theoretikos bleibt auf den bios politikos bezogen, selbst bei denen, die gänzlich vom Leben der Phronesis und Polis entfernt sind wie Thaies, dessen Weltfremdheit, wie man aus Piatons Theaitet (174 a) weiß, sprichwörtlich war, und wie der Solitaire par excellence: Gott. Denn gerade in bezug auf ihn, dem die Autarkie in höchstem Grade zukommt, der in keiner Hinsicht einen Mangel zu erleiden scheint, stellt Aristoteles in MM II 15 die 612
A . a . O . , 300.
613
In ähnliche Richtung geht auch Aubenque. »Die höchste Möglichkeit [sc. zur Verwirklichung der Natur des Menschen] im Sinne der umfassendsten ist das politische Leben; die höchste Möglichkeit im Sinne der ausgezeichnetsten ist das kontemplative Leben. Dieses Schwanken bedeutet aber keinen Widerspruch, da die Kontemplation nur auf der Grundlage der Polis erreichbar ist und die Polis ihren eigentlichen Sinn in der Ermöglichung der Vollkommenheit des Menschen findet« (Pierre Aubenque, »Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonia-Lehre«, in: Günther Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart / Bad Cannstatt 1978, 45-57, 55). Freilich könnten die Epitheta, die Aubenque den beiden Lebensformen gibt, darauf schließen lassen, daß auch er eher die Eudaimonia selbst als den bios theoretikos qua Eudaimonia inklusiv deutet. Aber der bios theoretikos ist doch wohl nicht nur die ausgezeichnetste, sondern auch die umfassendste Möglichkeit zur Verwirklichung der Natur des Menschen.
614
Pol. III 16, 1287 a 18-20.
615
Ebd., 1287 a 28-30.
304
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
Frage, was er in solchem Falle überhaupt noch tun werde. Das, was Gott noch tun wird, sei, so Aristoteles an dieser Stelle, zu denken (oder zu schauen, θεάσεται, 1212 b 39). Aristoteles fuhrt die Untersuchung hierbei in eine Antinomie. Absurd sei sowohl, daß Gott etwas anderes als sich selbst denke, als auch, daß er sich selbst zum Gegenstand seines Denkens habe; denn in letzterem Falle wäre er wie ein anästhetischer Mensch. Da die Untersuchung aber nicht von der Autarkie Gottes, sondern von der menschlichen Autarkie handelt, wird der Gedankengang abgebrochen. 616 Wenn man nicht wie Walzer 617 oder von Arnim diese Stelle als Widerlegung dessen, was über das Denken Gottes in Met. Λ gesagt wurde, deutet oder nicht wie Dirlmeier Met. Λ und MM dadurch in Kohärenz zu bringen sucht, daß man die Unterschiedlichkeit des θεασθαι von MM und des voeiv von Met. Λ betont 618 (was selbst dann, wenn man θεασθαι nur als ästhetisches und nicht als kognitives, über das Sehen hinaussehendes Sehen deutete, abwegig ist, weil vom göttlichen Leben in Met. Λ 7 ausdrücklich die αισθησις ausgesagt wird) 619 , - so wird man diese Antinomie nur dadurch auflösen können, daß man von der Korrelation von Denken und Denkbarem ausgeht, die beide nur insofern einander gleich sind, als sie - in dem Falle, daß Der ganze Passus über die Autarkie Gottes und die Anitnomie, in die die Betrachtung der göttlichen Autarkie führt, geht in MM II 15 von 1212 b 38-13 a 9. 617
Richard Walzer, Magna Moralia und aristotelische Ethik, a. a. 0., 230f.; Hans von Arnim, Eudemische Ethik und Metaphysik, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-hist. Klasse; Bd. 207, Abhandlung 5 (1928), 12. Der Unterschied zwischen Walzer und v. Arnim ist, daß jener - der Entwicklungsthese Jaegers folgend - MM nach Met. Λ ansetzt und meint, daß Aristoteles in MM die Gottesnähe, von der seine Frühschriften (u. a. auch Met. Λ) noch geprägt seien, hinter sich gelassen habe, während dieser umgekehrt MM vor Met. Λ ansetzt und Aristoteles zur vollen Entfaltung der Gotteslehre als des Gipfels von dessen Philosophie erst noch kommen läßt.
618
Dirlmeier im Kommentar zu MM, a. a. 0., 469.
619
Dirlmeier kommt zu der Unterschiedlichkeit von θεασθαι und voeiv, indem er auf den Vergleich des selbstreferentiell schauenden Gottes mit dem anästhetischen Menschen verweist und das θεασθαι im Sinne einer ethischen Verhaltensweise interpretiert und damit natürlich nachweisen kann, daß auf Gott das Verb θεασθαι nicht anwendbar ist. Mir scheint dieser Vergleich von Dirlmeier überinterpretiert. Was mit diesem Vergleich doch wohl ausgedrückt werden soll, ist, daß Gott, wenn er nur sich zum Gegenstand seines Denkens machte, stumpfsinnig, anästhetisch würde, d. h. überhaupt nichts mehr sähe. Überdies war die Anästhesie, wie gezeigt wurde, zumindest in ihrer unverhüllten Form als faktisch unmöglich dargestellt worden, womit sie für die Ethik eigentlich nicht mehr relevant ist.
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
305
das Denken nur um seiner selbst willen vollzogen wird und damit auch seinen Gegenstand unverändert, i. e. immer schon an seinem Ziele sein läßt - μη ενδεχόμενα άλλως εχειν sind. Das bei sich bleibende, nur um seiner selbst willen vollzogene Denken, das Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik mit der Ersten Philosophie gleichsetzt und das gerade deswegen, weil es ausschließlich um seiner selbst und nicht um irgendeines Nutzens willen vollzogen wird, seinen Gegenstand zu dem am meisten Denk- oder Wißbaren macht 620 , fordert das Denkbare als sein Anderes, das es sich zwar gleichmacht, indem es dieses von (stofflicher) Veränderung, von κίνησις frei hält, mithin in seiner Unbewegtheit bewahrt, das aber ein Anderes bleibt. Diese Andersheit im Sinne der Korrelation von Denken und Denkbarem und Wahrnehmen und Wahrnehmbaren wird in der zweiten Lustabhandlung auch für die entelechische Lust ausdrücklich gefordert, die den Denk- und Wahrnehmungsakt nur dann zu einem vollendeten, reinen Akt macht, wenn der Aktgegenstand als das Passivum dem Akt entgegengesetzt wird. 621 Das heißt, das Denken erhält sich und dem, was es denkt, die Selbigkeit nur, wenn das, was es denkt, ein anderes ist. Selbigkeit und Andersheit, die die Scheidemünze sind für bios theoretikos und Sophia auf der einen und für bios politikos und die Phronesis auf der anderen Seite 622 , sind notwendig aufeinander bezogen. Das Sein oder die Seiendheit, die als das Selbige und Allgemeine der Gegenstand von Metaphysik und bios theoretikos sind, sind, wie in Teil II dieser Arbeit ausführlich dargelegt wurde, nur aus dem Werdenden, den Einzeldingen, mit denen es auch die Ethik qua Politik zu tun hat, heraus erfaßbar, ebenso wie die Einzeldinge in ihrer Anders- und Werdendheit nur aus dem Sein im Sinne des Übergangs von Nichtseiendem zu Seiendem erfaßbar sind. Der bios theoretikos schöpft also notwendig aus dem, was die entschei-
620
Met. A 2, 982 a 30-b 7. Derjenige wähle das am meisten Wißbare, der das Wissen um seiner selbst willen wählt. Aristoteles beschreibt das am meisten Wißbare hier als die Ursachen und Prinzipien und nennt von ihnen einzig das Um-willen, also das telos, das er mit dem Guten gleichsetzt, und zwar dem Guten sowohl der Einzeldinge wie des Allgemeinen.
621
EN X 4, 1174 b 29-31.
622
Selbigkeit und Andersheit war, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit erläutert wurde, die spezifische Differenz fur die Trennung des λόγον έχον in den rein theoretischen Teil des Logos als Repräsentanten des Selben (= Sophia) und in den im engeren Sinne praktischen Logos als Repräsentanten des Anderen (sich anders verhalten Könnenden = Phronesis) (EN VI 1, 1139 a 5ff.; vgl. ferner EN VI 7, 1141 a 24-25). Auf dieser Grundlage ist, wie hier mit Bezug auf Pol. VII 14, 1333 a 25-b 2 gezeigt wurde, auch die Trennung des politischen, unmüßigen und des theoretischen, müßigen Lebens mit den Beziehungen, in denen jenes zu diesem steht, erfolgt.
306
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
dungsrelevante Praxis und selbst die Poiesis (aus der heraus die ousia in ihrer triadischen Struktur allerest erkennbar wird) an Denkbarem zur Verfügung stellt; doch er schöpft daraus nicht so, daß das Denken selbst wieder in eine poietische oder in eine der ethischen Arete gemäße Handlung ausliefe. Das Denken bleibt als höchste Lust und Eudaimonia an sich selbst sittlich tüchtig (σπουδαία wird diese Akt und Aktgegenstand vollendende Lust in EN X genannt, 1174 b 25). Es denkt Einzelnes, Werdendes, aber als Allgemeines und Seiendes, indem es dieses um des Denkens selbst willen denkt und damit nicht nur das, worauf es sich denkend bezieht, sondern auch sich selbst als reinen, immer schon an seinem Ende seienden Akt zu Seiendem, zur ousia macht. Daher erweist Aristoteles an Thaies, daß die Unbekümmertheit um die menschlichen Güter, mit welcher er in EN VI 7 Thaies als Philosophen vom Politiker als dem Repräsentanten der Phronesis unterschied, nicht von einem Mangel an Erkenntnis in den Einzeldingen zeugt (obschon darauf das Wort άγνοουντας in 1141 b 5 schließen lassen könnte), sondern im Gegenteil Ausdruck einer vertiefteren Erkenntnis in den Dingen sein kann, auf die es in der technischen und politischen Sphäre ankommt. Denn Thaies soll, wie Aristoteles in Pol. I 11 (1259 a 6-19) schildert, irgendwann aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse eine reiche Olivenernte vorhergesehen und zum Beweis, daß die Philosophie auch zu etwas taugt und es für sie ein leichtes ist, reich zu werden, sich diese Kenntnis dadurch zunutze gemacht haben, daß er im Winter für wenig Geld sämtliche Ölpressen in Milet und Chios gekauft hat, um sie zum gegebenen Zeitpunkt teuer zu verpachten. Daß die Philosophie, diese göttlichste der Wissenschaften 623 , nützlich sein kann, ja nützlicher als jede andere Wissenschaft, hängt mit ihrer Erfahrung und Erkenntnis in den Einzeldingen zusammen; nur ist es auf diese Nützlichkeit nicht abgesehen. Es geht ihr um die Erkenntnis der Einzeldinge, aber nicht um die
623
Met. A 2, 983 a 5. Wenn die Philosophie als göttliche oder wie in Met. E 1 (1026 a 18f.) als theologische Wissenschaft bezeichnet wird, so ist dies nicht im Sinne einer contemplano
dei zu verstehen, wozu die Scholastik die Philosophie hat machen wollen,
sondern in dem Sinne, daß etwas dadurch, daß es um seiner selbst willen betrachtet wird, zum Göttlichen, Ewigen und Unbewegten wird. Dies kann auch das der Aisthesis Zugängliche oder das Einzelne als Allgemeines sein. Das gilt selbstredend auch fur die in EN X 7-8 explizierte Eudaimonia des theoretischen Lebens, die Defourny nur deswegen im Sinne der contemplano
dei interpretieren kann, weil er das Indefinitpronomen
τις, das Aristoteles in EN X 8 zweimal (1178 b 8 und 32) dem Begriff der theoretischen Eudaimonia anhängt, beckmesserisch nicht als »theoria tout court«, sondern eben als bestimmte, auf die Erkenntnis Gottes beschränkte Theorie deutet (Pierre Defourny, Contemplation in Aristotle's Ethics, in: Barnes! Schofield/Sorabji
(Hrsg.), Articles
Aristotle. Bd. 2: Ethics and Politics, London 1977, 104-112, bes. p. 110).
on
Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia
307
Anwendung der Erkenntnis der Einzeldinge auf die Wirklichkeit der Einzeldinge. Daher sagt Aristoteles, daß jede Wissenschaft nützlicher und notwendiger als die Philosophie sei, keine aber besser. 624 Die Autarkie des glücklichen Lebens muß also nicht in dem Sinne verstanden werden, daß es über das Einzelne als den Bereich, in dem Technik, Politik und Wahrnehmung sich entfalten, hinwegsieht oder seiner als des Stachels, als seines Motors entbehren könnte. Vielmehr erweist sich gerade die Eudaimonia des bios theoretikos als diejenige Lebensform, die das Werdende zum Wahrnehmbaren, Denkbaren, zum Staunenswerten625 macht, indem sie es als ihr Anderes begehrt: mit einer Begierde, einem Eros, dessen Zweck nicht in seiner Erledigung liegtwie bei der nichtentelechischen Lust, bei der die Begierde als kompensatorische Begierde, als επιθυμία 6 2 6 , lediglich auf Behebung eines Mangelzustandes aus ist. Die Eudaimonia des bios theoretikos ist nicht deswegen autark, weil sie ohne Bedürfnis, ohne Mangel wäre, sondern weil ihr der Mangel ein Stachel ist, der alles andere als abgetötet werden soll. Die Autarkie des glücklichen Lebens muß aber auch nicht in dem Sinne verstanden werden, daß sie Freisein von Freunden bedeutet. Die Freundschaft ist
624
Met. A 2, 983 a lOf.
625
vgl., was den Aspekt des Staunens als den Anfang des Philosophierens betrifft (worauf auch bereits Piaton im Theaitet hingewiesen hat (155 d)), Met. A 2, 982 b 12. Mit dem Staunen wird hier begründet, daß die Philosophie keine Poiesis sei. Es kann nur das Hinwegsehen Uber diese wichtige Bemerkung sein, was Gigon, der hier den meisten Exegeten ein Mißverständnis zur Last legt, dazu veranlaßt hat, den Sinn des Staunens in seiner Erledigung zu sehen, womit ja gerade die Philosophie zu einer Poiesis gemacht würde, weil das Staunen, wenn es, wie Gigon will, nur am Anfang des Erkenntnisprozesses notwendig wäre, aber »im Fortgang der Erkenntnis überwunden wird, so daß schließlich der Mensch sich über nichts mehr wundert, weil er alles begriffen hat« (Olof Gigon, Theorie und Praxis bei Piaton und Aristoteles, a. a. O., 80), wie die Unlust ein Zustand oder Empfinden eines Mangels wäre, dessen Sinn ist, behoben zu werden. Aber gerade dies würde das Philosophieren, das in unaufhörlicher, entelechischer und daher das Staunen nicht als zu behebenden Mangel empfindender Begierde wurzelt, aufheben.
626
Wenn Aristoteles von επιθυμία redet, ist fast durchweg diese die Unlust am Werdenden kompensieren wollende, nichtentelechische Begierde gemeint; wenn dagegen Aristoteles zuweilen auch die όρεξις pejorativ konnotiert wie in Pol. III 16, wo er das begierdelose Denken (άνευ ορέξεως νους) als Gesetz zum Regenten der Polis erhebt (1287 a 32), so ist damit gleichfalls, wie aus eben der Stelle zwei Zeilen zuvor hervorgeht, die επιθυμία gemeint, mit der Aristoteles die όρεξις gewissermaßen totum pro parte (da die επιθυμία wie der Wille und der θυμός Teile der όρεξις sind) identifiziert.
308
ousia und Eudaimonia. Schlußfolgerungen
vielmehr ein für die menschliche Eudaimonia unerläßliches Gut. 627 Es ist sicherlich kein Zufall, wenn in EN die Abhandlung über die Freundschaft zwischen den beiden Lustabhandlungen erfolgt, obschon Aristoteles auf die Gefahr der Freundschaft für die Polis aufmerksam macht, sofern von jemandem, der ein Amt hat, die Freundschaft im Sinne der Gunst und παρά τον λ ό γ ο ν benutzt wird. 628 Gerade die Freundschaft zeigt, daß der bios theoretikos zugleich auch bios politikos ist; denn sie ist es, was Gerechtigkeit, die für die Polis wichtigste ethische Arete (weshalb Aristoteles sie bei ihrer Besprechung in EN V mit der gesamten Arete gleichsetzt629), überflüssig machen kann, weil in ihr die Gerechtigkeit gipfelt. 630 Sofern es Freunde gibt, sagt Aristoteles, bedarf es keiner Gerechtigkeit mehr. 631 Daß der Glückliche kein Solitaire ist, sondern der Freunde bedarf, wird mit dem konstitutiven Wesensmerkmal des Menschen begründet: mit seiner Bestimmtheit für die politische Gemeinschaft, für die Gemeinschaft einer Polis. 632 Mitglied einer Polis sein heißt aber für Aristoteles, aktiv an Verwaltung und Gerichtsbarkeit teilzuhaben. 633 Sofern der bios theoretikos für den Menschen nur innerhalb der Polis möglich ist, wird der Philosoph zugleich Politiker sein, Politiker freilich nicht im heutigen Sinne, in dem Sinne, daß er ein und dasselbe Amt über Jahre hinweg ausübt und mit diesem Amt gleichsam verschmilzt - dies war schon von der Struktur der antiken Polis her nicht möglich, weder von der politischen Struktur noch von der Arbeitsteilung her; Politiker aber auch nicht in dem Sinne, daß er für seine politische Aktivität bezahlt wird. Gerade darin, wie vehement Aristoteles gegen die Besoldung der Ämter wettert und hierin den Verfall von Verfassung und Gerichtsbarkeit sieht 634 , ist erkennbar, welche hohe
627
Vgl. EN IX 9 , 1 1 6 9 b 2ff. und IX 11,1171 a 21ff.
628
Pol. III 16, 1287 a 3 5 f f .
629
1130 a 8-9.
630
EN VIII 1, 1155 a 26-28.
631
Ebd.
632
EN IX 9, 1169 b 16-19.
633
Vgl. Pol. III 1, 1275 a 22f.
634
Eine Demokratie, die für Aristoteles schon an sich eine Entartung ist, weil sie der Unterschiedlichkeit und Andersheit der einzelnen Mitglieder der Polis nicht gerecht wird und das Extrem der άπορία exponiert, ist dann am schlechtesten, wenn die Besoldung am konsequentesten durchgeführt wird (Pol. IV 6, 1293 a 1-10 und V 5, 1304 b 27ff.). Vgl. dazu auch Ath. pol. 27, 4, wo Aristoteles angesichts der - bereits von Piaton im Gorgias (515 e) massiv kritisierten - Besoldung des Volksgerichts anmerkt, daß es, seit
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Meinung er von politischer Aktivität hatte, eine so hohe Meinung, daß er politische Aktivität nicht durch Bezahlung zu einem Gewerbe, einem Beruf, wie man heute sagen würde, zu einer banausischen Poiesis degradiert wissen wollte. Der Einfluß der Metaphysik auf die aristotelische Ethik ist zum einen in der Exponierung des den bios politikos notwendig implizierenden bios theoretikos, auf den Arete und Eudaimonia, die Leitbegriffe der Ethik, zulaufen, erkennbar. So wird in MM I 34 die Phronesis in ihrem Verhältnis zur Sophia mit einem Aufseher verglichen, der dem Hausverwalter alle lästige Arbeit, die die Verwaltung seines Oikos betrifft, abnimmt, um ihm die Muße zu sichern. Das, was ethische Arete (durch Zurückhaltung der Leidenschaften) und Politik zu leisten haben, ist, die innerseelischen und die öffentlichen Angelegenheiten so zu verwalten, daß eine ungehinderte, müßige Entfaltung des philosophischen Lebens möglich ist. 635 Zum anderen wird die Metaphysik in der Ethik qua Politik, in der Ethik im Sinne der Herstellung der ethischen Arete, dadurch manifest, daß der die ethische Arete durchsetzende bios politikos, sofern er nicht eigens mit dem bios theoretikos verglichen wird, in denselben Begriffen wie dieser beschrieben wird: als (wenn auch sekundäre) Eudaimonia, als Autarkie, als Praxis - und auch als Muße. So wird in der Politik die Aufgabe des Aufsehers, mit dem in MM noch die Phronesis als Repräsentantin des bios politikos verglichen wurde, darin bestimmt, dem Hausverwalter, dem Polisbürger636, die notwendige Arbeit (wie etwa den Erwerb und Gebrauch von Sklaven) abzunehmen, damit dieser politisieren oder philosophieren könne. 637
sie von Perikles eingeführt wurde, schlechter um die Gerichtsbarkeit stehe (vgl. auch Pol. II 12,1274 a 9f.). 635 636
MM 1 3 4 , 1 1 9 8 b 9-20. Der Polisbürger wird in Pol. I indirekt insofern als Hausverwalter, i. e. als Vorstand eines Oikos, als pater familias
bestimmt, als Aristoteles die Polis als aus Oikien zu-
sammengesetzte Gemeinschaft definiert (1253 b 2f.). 637
Pol. I 7, 1255 b 31-37. Ich lese das η in Zeile 37 als einschließendes Oder.
Der »metastrophische« Charakter der aristotelischen Philosophie (Resümee) Sein und Werden, Allgemeines und Einzelnes, Einheit und Vielheit, Selbigkeit und Andersheit, Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit, Denken und Wahrnehmung, Praxis und Poiesis, Philosophie und Politik, Metaphysik und Ethik - in all diesen Differenzen ist ein Verhältnis ausgedrückt, dessen Glieder nicht unvermittelt nebeneinander stehen, sondern so aufeinander bezogen sind, daß sie in ihrer Eigenheit erst durch den Bezug auf ihren Gegensatz bestimmt werden können. Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit werden so zur treibenden Seele der aristotelischen Philosophie. Wenn Aristoteles die Fundamentalaxiome seiner Philosophie, den Satz des Widerspruchs (Met. Γ 3-6) und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Met. Γ 7-8), formuliert, dann zu dem Behufe, um diese Gegensätzlichkeit gegen diejenigen zu sichern, die Seiendes in einem dieser Relata fixieren wollen. Der Andersheit des Werdenden wird man erst dadurch gerecht oder überhaupt erst gewahr, daß man es auf seinen Gegensatz, das Seiende, bezieht. Umgekehrt bekommt das Seiende erst insofern einen Sinn, als es auf die Welt der sich ständig verändernden Einzeldinge bezogen wird, aber nicht so, daß aus dem Seienden und Allgemeinen ein Maßstab geschöpft würde zur Beurteilung des Einzelnen. Man hat im Fehlen dieses Maßstabs aus der Welt des Allgemeinen und des Seins den entscheidenden Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles - sei es zugunsten des Aristoteles wie bei Aubenque 638 , sei es zuungunsten des Aristoteles wie bei Flashar 639 - gesehen, vor allem auch in bezug auf das Verhältnis von Metaphysik und Ethik, deren
P. Aubenque, La prudence chez Aristote, a. a. O., 46ff., spricht von dem platonischen Absolutismus des Guten (»absolutisme platonicien du Bien«, 46) und der transzendenten Norm des Piatonismus (»norme transcendente du platonisme«, 49), die Aristoteles in einer antiplatonischen Reaktion aufgegeben habe, um innerhalb der Menschheit selbst nach der Norm ñir ihre Tugend zu suchen. 639
H. Flashar, The Critique of Plato's Theory of Ideas in Aristotle's Ethics, in: Barnes/Schofield/Sorabji (Hrsg.): Articles on Aristotle. Bd. 2: Ethics and Politics, London 1977, 1-16, und »Ethik und Politik in der Philosophie des Aristoteles«, a. a. O.
312
Der »metastrophische« Charakter der aristotelischen Philosophie
Eigenständigkeit Aristoteles behauptet, indem er sie in unterschiedlichen Pragmatien abhandelt. 6 4 0 Dies mag nun insofern gerechtfertigt sein, als Aristoteles in der Tat g e g e n Piaton die Individualität des Einzelnen gegen ein unifizierendes A l l g e m e i n e s verteidigt, indem er die Unmöglichkeit der in Piatons Politeia
von
Sokrates postulierten Vereinheitlichung der P o l i s 6 4 1 aufzeigt und auf die N o t wendigkeit der Individualität und Unterschiedlichkeit der die Polis konstituierenden Menschen verweist, welche in ihrer Andersheit durch die ethische Arete der Gerechtigkeit geschützt werden s o l l e n . 6 4 2 - Es ist aber vor allem dann nicht
640
Was die vermeintlichen Unterschiede zwischen Piaton und Aristoteles betrifft, so ist Wielands Sicht auf das Verhältnis zwischen Piaton und Aristoteles interessant. Wieland plädiert dafür, Aristoteles und Piaton nicht als feste, wohlbestimmte Größen zu betrachten. Die aristotelische Piatonkritik sieht er nicht so sehr als Kritik an Piaton selbst, sondern als Kritik an einem Piatonbild; und im Lichte dieser Piatonkritik, die nur eine mögliche Deutung Piatons sei, aber keinesfalls die einzig mögliche, habe man - bis heute - Piatons Philosophie und den Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles gesehen, wobei man Piaton auf die Ideenlehre und den Idealismus und Aristoteles (oder wie Jaeger den späten Aristoteles) auf die Kritik an der Ideenlehre und auf den Empirismus festgelegt habe (W. Wieland, Die aristotelische Physik, a. a. O., bes. 47-49). - Gegen diese Verengung und für die Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen Aristoteles und Piaton hat sich neuerlich auch Höffe ausgesprochen, der richtig darauf verweist, daß Aristoteles' Kritik an der Ideenlehre subtiler ausfalle, »als daß sie auf den planen Gegensatz von Idealismus und Realismus bzw. Empirismus hinauslaufe« (Otfried Höffe, Aristoteles a. a. O., 176). - Last, but not least sei Hans J. Krämer erwähnt, der die Beziehungen zwischen der aristotelischen und der platonischen Philosophie neu geklärt und gerade mit Bezug auf ethische Begriffe wie den der Arete und den der Mitte nachgewiesen hat, wie sehr Aristoteles aus Piaton heraus zu begreifen sei, wobei Krämer die Eigenständigkeit des aristotelischen Systems durchaus anerkennt (Hans J. Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959).
641
Aus den Vielen, aus denen die Polis konstituiert ist, soll in jeder Hinsicht einer werden: παντάπασιν ένα γενόμενον έκ πολλών, Politeia IV 443 e 1. Dies ist nach dem platonischen Sokrates das Ideal der (im Staat zu verwirklichenden) Gerechtigkeit: die keine fremden Elemente (τάλλοτρία, 443 d 2) zulassende, alles Disparate einende Harmonie. Vgl. auch Buch V 462 a 9ff., wo Piaton die politische Einheit als das größere Gut (μείζον αγαθόν) der politischen Vielheit als dem größeren Übel (μείζον κακόν) gegenüberstellt.
642
vgl. das gesamte 2. Kapitel des 2. Buchs der Politik. Ausdrücklich sagt Aristoteles hier, daß die von Piaton und Sokrates für das beste gehaltene staatliche Einheit den Staat vielmehr aufheben würde (1261 a 22 und 1261 b 6-9). Der Staat, die Polis bestehe nicht
Der »metastrophische« Charakter der aristotelischen Philosophie
313
gerechtfertigt, wenn man die platonische Ontologie als Normwissenschaft versteht und über die Jenseitigkeit des Guten gegenüber der Welt des Seienden hinwegsieht. Und es ist auch insofern nicht gerechtfertigt, als gerade bei Piaton zuerst die Gegensätzlichkeit von Einzelnem und Allgemeinem, Werdendem und Seiendem als eine Korrelation entfaltet wurde, die eine Fixierung weder in dem einen noch in dem anderen als möglich erscheinen ließ. Die Philosophie und Wahrheit liegt seit Piaton weder im Festhalten des Seienden als Seienden, im bloß Allgemeinen und Unveränderlichen, noch in der einseitigen Fixierung auf die Welt des Werdenden, im bloß Einzelnen und Veränderlichen, sondern in der durch den psychischen Akt des Denkens und Wahrnehmens vollzogenen Umkehr, in der metastrophe vom Werden zum Sein (της ψυχής μεταστροφή άπό γενέσεως en' άλήθειάν τε και ούσιαν, Politela VII, 525 c 5f.). Diese metastrophe muß aber, wie Platon in dem berühmten Höhlengleichnis im siebenten Buch der Politeia klarmacht, auch in der umgekehrten Richtung vollzogen werden: als Umkehr vom Seienden zum Werdenden oder - wie es im Gleichnis von denen, die die Höhle, in der das Seiende nur als vergänglicher Schatten wahrnehmbar ist, verlassen haben, um das Seiende selbst zu sehen, heißt - als κατάβασις 6 4 3 , als Abstieg von der Welt des dem Werden transzendenten Seienden zur Welt des der Veränderung unterworfenen Werdend-Vergänglichen, als Abstieg von der Philosophie und dem bios theoretikos zur Polis und zum bios politikos. Diesen metastrophischen Charakter habe ich in dieser Arbeit auch für die aristotelische Philosophie darzutun versucht, allerdings in der dem Stagiriten eigentümlichen Art. Diese Eigentümlichkeit kommt durch folgende Dinge zum Ausdruck: Erstens durch die erwähnte Pragmatientrennung von Ethik und Metaphysik, wodurch es aber möglich ist, die Gemeinsamkeiten und die Bezüge zwischen Metaphysik und Ethik deutlicher herauszuheben. - Zweitens dadurch, daß die Dichotomien, mit denen der metastrophisch-korrelative Charakter des Verhältnisses von Seiendem, Selbigem, Allgemeinem etc. zu Werdendem, Anderem, Einzelnem etc. ausgedrückt werden kann und die bei Piaton nur angedeutet sind, bei Aristoteles voll entfaltet werden. Dies trifft insbesondere für das dichotomi-
nur aus mehreren, sondern auch aus der Art nach unterschiedlichen Menschen; denn die Polis sei ein έτερον (1261 a 24) und entstehe nicht aus Gleichartigen (έξ όμοιων, ebd.). - Was die Notwendigkeit, die Glieder der Polis in ihrer Andersheit zu schützen, betrifft, verweist Aristoteles auf das vergeltende Gleiche (τό "ίσον τό άντιπεπονθός, 1261 a 30) und dessen Untersuchung in der Ethik, womit natürlich die Gerechtigkeit gemeint ist, die in EN V behandelt wurde und die, wie dort gezeigt wird, nicht auf einer arithmetischen, sondern auf einer analogen Gleichheit beruht. 643
519 d 5 und 520 c 1.
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Der »metastrophische« Charakter der aristotelischen Philosophie
sehe Verhältnis von Potenz und Akt 644 und von ethischer und diabetischer Tugend zu 645 , aus der nach der Maßgabe der Selbigkeit und Verschiedenheit Aristoteles die Sophia als Repräsentantin von bios theoretikos und Philosophie/Metaphysik und die Phronesis als Repräsentantin von bios politikos und Ethik qua Politik herausdifferenziert. - Drittens durch die Disproportionalität in der Behandlung dieser beiden Lebensformen inklusive ihrer Tugenden, der Sophia einerseits und der Phronesis mitsamt aller ethischen Tugenden, auf die sie bezogen ist, andererseits. In allen drei aristotelischen Ethiken ist die eine Lebensform qualitativ über- und quantitativ unter- und die andere Lebensform qualitativ unter- und quantitativ Uberproportioniert. So wird die Eudaimonia des bios theoretikos in EN nur in Buch X und innerhalb der Lustabhandlung in Buch VII in extenso traktiert. Selbst in Buch VI, in dem die dianoëtischen Tugenden besprochen werden, hat die Sophia gegenüber der Phronesis das geringere quantitative Gewicht. Daß diese Ungleichverteilung der Gewichte nicht - wie Flashar will - mit dem Adressaten der ethischen Pragmatie, der sich nur dem politischen, aber nicht dem theoretischen Leben widmen könne, zu tun haben muß 646 , zeigt der zusammenfassende Teil III meiner Arbeit (besonders das Kapitel »Die Lust des Denkens der ousia als Eudaimonia und die Differenz von bios theoretikos und bios politikos«), in dem nachgewiesen wurde, daß der bios theoretikos notwendig den bios politikos einschließt und der bios politikos seine Legitimation letztlich nur in der Orientierung auf den bios theoretikos hat, weil das Ziel des bios politikos, die Limitierung somatischer, nichtentelechischer Begierde, bereits durch die Begierde und die Lust am nichthaptisch Seienden, in der der bios theoretikos wurzelt, verwirklicht ist. - Und viertens schließlich zeigt sich die Eigentümlichkeit des metastrophischen Charakters der aristotelischen Philosophie durch die fließende Art, in der Aristoteles seine Gedanken formuliert oder in der uns das CA tradiert ist. Es ist kaum möglich, Aristoteles in irgendeiner
^44
Zur Andeutung dieser Theorie bei Piaton vgl. den Sophistes, wo Piaton von dem Kampf zwischen den Ideenfreunden und denen, die nur Körperlich-Wahrnehmbares als seiend anerkennen, handelt und beide Positionen, die er in ihrer einseitigen Fixierung auf das Sein und die είδη einerseits und auf das Werden andererseits kritisiert, aufeinander bezieht. Zum Begriff der Potenz, mit dem er die Bewegungstheorie an ihr selbst widerlegt und den er auf den Begriff der Seiendheit bezieht, vgl. bes. 247 e 3-4.
® 45
Zur Andeutung dieser Differenz bei Piaton vgl. Politeia VII 518 d-e, wo er innerhalb des Höhlengleichnisses zwischen der Arete der Seele und des Körpers, welche durch Gewöhnung (e6oc) geübt wird, einerseits und der Arete des Erkennens (ή άρετη του φρονησαι, 518 e 2), welche er als eine göttlichere Tugend auf die Kunst der Umkehr (τέχνη της περιαγωγης, 518 d 3f.) bezieht, andererseits unterscheidet.
646
H. Flashar, Ethik und Politik in der Philosophie des Aristoteles, a. a. O., 287f.
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Hinsicht auf eine definitive Meinung festzulegen. Besonders gilt dies für die Differenz von Einzelnem und Allgemeinem und für die Zuordnung desselben zum Seinsbegriff, zum Begriff der ousia. Einmal wird das Einzelne, ein andermal das Allgemeine zur ousia im primären Sinne gemacht; und ebenso, wie das Allgemeine das eine Mal am ehesten als ousia Gegenstand des höchsten Wissens ist, wird ihm das andere Mal die ousia kategorisch abgesprochen. Ich stimme mit Aubenque darin überein, daß gerade beim Begriff des Seins die aristotelische Philosophie in einen échec, ein Mißlingen ausläuft, dessen Sinn darin liegt, durch Verhinderung eines definitiven, kategorialen Begriffs vom Sein die Leitfrage der Metaphysik nach dem Was des Seins immer wieder neu zu stellen. 647 Doch hängt die Unaufhörlichkeit des philosophischen Fragens nicht mit der unendlichen Bedeutungsvielfalt des (von Aubenque vor allem im Sinne des öv, nicht im Sinne der ousia verstandenen 648 ) Seinsbegriffs zusammen, sondern mit der unbegrenzten Zahl an Möglichkeiten, die Einzeldinge in ihrer unendlichen Vielfalt begrifflich als Seiendes zueinander in Beziehung zu setzen. Die Unaufhörlichkeit des mit Notwendigkeit (auch hier stimme ich mutatis mutandis mit Aubenque überein) aporetischen philosophischen Fragens liegt in der ästhetischkognitiven Lust, im Eros am unmittelbar oder mittelbar Vorfindbaren, das Wahrnehmung und Denken als ihr Anderes zum Wahrnehmbaren und Denkbaren machen. Doch bleibt dabei der Begriff der ousia (in dem das Seiende, die όντα, seine volle Explikation findet) insofern fest, als die Struktur vorgegeben ist, aus der heraus Seiendes in seiner unendlichen Bezugsmöglichkeit erfaßbar ist. Der Begriff der ousia läßt sich damit aber nicht, wie Stegmaier richtig dargestellt hat, »in eine Anzahl beliebiger Merkmale auflösen« 649 , sondern ist jeweils 647
»C'est parce que l'être a plusieurs sens, et un nombre indéfini de sens, que l'on n'en jamais fini de poser la question: Qu'est-ce que l'être? L'être est toujours au delà de ses significations: s'il se disperse en elles, il ne s'épuise pas en elles et, si chacune des catégories est immédiatement être, toutes les catégories réunies ne seront jamais l'être tout entier. Il faut donc conserver le mot être pour désigner cet au-dela des catégories, sans lequel elles ne seraient pas, et qui ne se laisse pas ramener à elles« (P. Aubenque, Le problème de l ' être chez Aristote, a. a. Ο., 189f.).
648
Daß in der Leitfrage der Metaphysik die Frage nach dem Was des Seienden (des öv) sogleich mit der Frage nach der Seiendheit (ousia) verknüpft wird (τι rò öv, τουτό έστι τις ή ούσία, Ζ 1, 1028 b 4), erklärt Aubenque damit, daß, da auf die Frage nach dem Was des Seienden nicht direkt geantwortet werden könne, die Frage nach dem Was der Seiendheit die erste Form sei, in der jene grundsätzlichere Frage nach dem Was des Seienden gedacht werde. Dies bedeute aber nicht, daß das Seiende in letzter Analyse auf die Seiendheit reduziert werde (ebd., 196).
649
Werner Stegmaier, Der Substanzbegriff der Metaphysik, a. a. O., 36.
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nur aus einer bestimmten Struktur deduzierbar, die durch die Differenz von Stoff und Form gebildet wird, die ihrerseits wiederum Ausdruck der für das aristotelische Denken fundamentalen Potenz-Akt-Differenz ist. Das, was ousia jeweils ist, hängt davon ab, was wozu im Sinne dieser Differenz in Beziehung gesetzt wird. In diesem Sinne ist weder der Begriff des Stoffs noch der Begriff der Form (είδος) noch die ousia selbst fest und ein fur allemal bestimmbar, sondern immer wieder neu zu bestimmen. Das Verhältnis von Potenz und Akt, aus dem Seiendes jeweils erfaßbar wird, gründet im Begriff des telos. Wie auf der einen Seite etwas als Stoff und Form dadurch zueinander in Beziehung gebracht wird, daß das eine auf das andere als sein telos, sein Ziel und Zweck, bezogen wird, kann auf der anderen Seite auch eine Handlung, ein seelischer Akt, auf diese Weise in Beziehung gesetzt werden. Auf beiden Seiten mündet der Begriff der ousia als reiner ousia in etwas, was nur noch telos ist, und zwar dadurch, daß bei ihm nach einem telos als dem Wohin, mithin nach einem Zweck nicht mehr gefragt wird. Diese reine ousia läßt sich nicht mehr zu etwas als zu ihrem Ziel und Zweck in Beziehung setzen; aber sie bleibt gleichwohl in einer Korrelation erfaßbar. Aristoteles hat nämlich die eine Seite der reinen ousia als unbewegt Bewegendes, in dem er die Metaphysik gipfeln läßt, die andere Seite als Eudaimonia, in der die Ethik gipfelt, so beschrieben, daß beide aufeinander bezogen sind: das unbewegt Bewegende als Denk-, Wahrnehmbares und Begehrtes und die Eudaimonia als der Akt des Denkens, Wahrnehmens und Begehrens. Daß gerade in dieser Beziehung, in der Beziehung des unbewegt Bewegenden zur Eudaimonia, platonisches Erbe ausgedrückt ist und am wenigsten eine Abtrennung der Ontologie oder Metaphysik von der Ethik gesehen werden kann, bestätigt auch Flashar, obschon er doch gerade in dieser Abtrennung das Neue bei Aristoteles entdeckt zu haben glaubt. 650 Worauf hierbei aber noch hingewiesen werden muß, ist, daß unbewegt
Critique of Plato's Theory of Ideas in Aristotle's Ethics, a. a. 0 . , 14f. Flashar macht in diesem Zusammenhang, um den Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles in Hinsicht auf die die Beziehung von Metaphysik und Ethik ausdrückende Verbindung von Sein und Gut (connexion of being and value) zu verdeutlichen, auf die unterschiedliche Formulierung des Höhlengleichnisses aufmerkam, das uns in der aristotelischen Fassung Cicero in De nat. deor. (II 95) überliefert hat und das vermutlich aus dem Frühdialog De philosophia
stammt (bei Ross fr. 13, Aristoteles, Fragmenta selecta, a. a. O., 81). Es ist
richtig, daß beide Gleichnisse in den meisten Punkten differieren und im übrigen auch eine ganz andere Intention haben. Bei Aristoteles ist das Gleichnis - sofern es in der Art, wie Cicero es überliefert, richtig tradiert ist - eine Art Gottesbeweis. Dennoch bringt auch das aristotelische Höhlengleichnis - bei dem die mit allen Gütern ausgestatteten Höhlenbewohner nicht die irdische, sublunare Welt verlassen, sondern zu die-
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Bewegendes und Eudaimonia zwar beide als reiner Akt vollständig im Seinsbegriff, im Begriff der ousia aufgehen, daß aber beide, gerade weil ihr Verhältnis eine Korrelation ist, nicht miteinander identisch sind. Vielleicht ist auch dies eine Analogie zu Piaton, eine Analogie zur Transzendenz des Guten, wie sie Piaton im Sonnengleichnis im 6. Buch der Politeia (509 b) ausspricht. Wie bei Piaton das Gute jenseits des Seins ist, aber als der ewige Bezugspunkt für das Denken, könnte bei Aristoteles die ousia als unbewegt Bewegendes im Sinne des Denk- und Begehrbaren der transzendente Bezugspunkt für das Denken sein und in dieser Transzendenz der Grund für die Gewißheit der Unaufhörlichkeit der Begierde und der ewigen Möglichkeit der Eudaimonia (aus welcher Gewißheit heraus auch das Fundamentalaxiom der aristotelischen Philosophie zu verstehen ist) liegen,- freilich nur, sofern man nicht - auch im Falle des göttlichen bios nicht - von der Identität von Denkbarem und Denken ausgeht, die Aristoteles nirgends uneingeschränkt behauptet, sondern die er im Gegenteil als Sonderform von Relation aus den übrigen Formen des προς τι heraushebt.
ser aufsteigen - wie bei Piaton den metastrophischen Grundzug seines Philosophierens zum Ausdruck. Denn was die zur irdischen, zu unserer Welt aufsteigenden Höhlenbewohner bewundern und was sie zur Annahme der Existenz von Göttern führt, ist weder das Unveränderliche noch das sich Verändernde, sondern die Unveränderliches und Veränderliches zusammenschließende Kontinuität
des Wechsels, die sie im Kosmos,
sowohl im sublunaren Bereich (dem Bereich der Polis) wie im supralunaren Bereich, wahrnehmen: der Wechsel von Tag und Nacht, die immerwährende Ab- und Zunahme des Mondlichts und der ewige Auf- und Untergang sämtlicher Himmelskörper.
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Derrida, J. 243 Detel, W. 140 Dirlmeier, F. 20f., 25f., 31, 37, 39, 67, 80, 97, 292, 304 Driscoll, J. A. 194f. Düring, I. If., 244f„ 248 Ebert, Th. 179 Empedokles 284 Fortenbaugh, W. W. 31f. Fragstein, A. von 14, 140f. Frede, F. 198,209-212 Furth, M. 173-176,195 Gadamer, H. G. 41, 188 Gauthier, R.-A. 31, 33, 86, 103f. Geach, P. T. 143 Gehlen, A. 218 Geiger, L.-B. 134f. Gigon, O. 68, 106f., 307 Gill, M. L. 173,267 Gohlke, P. 240 Graeser, A. 31-35 Hager, F. P. 9f., 248 Happ, H. 213-216, 240f. Hardie, W. F. R. 300,303 Hartmann, N. 72 Hegel, G. W. F. 276f. Heidegger, M. 70, 81, 114, 129, 257 Heinaman, R. 196f„ 302 Heraklit 171,284,291 Höffe, O. 41,298,312 Hume, D. 56 Inciarte, F. 281,287
336
Personenregister
Ingenkamp, H. G. 3If. Irwin, T. 195 Jacobi, Κ. 302 Jaeger, W. 20, 244, 247f., 312 Judson, L. 267 Kahn, Ch. 210 Kamp, Α. 4, 13 Kenny, Α. 42,49,301,303 Kosman, Α. 266f. Lang, H. S. 254f. Lévinas, E. 81 Lukasiewicz, J. 124-126, 133, 136, 274-286 Manuwald, Β. 254,256 McDowell, J. 301 Meyer, S. S. 7, 4If., 50, 60 Nagel, Th. 302 Nietzsche, F. 116,188 Norman, R. 266 Oehler, K. 128,266 Owens, J. 194-196, 215f., 240 Patzig, G. 43f., 142, 147-152, 198, 209-212 Pieper, J. 269 Plato 2f., 6f., 13, 18, 21 f., 59, 64, 6571, 78-80, 83, 91f., 103, 106f., 121, 131, 138f., 177, 183-186, 188, 210, 213, 269, 283-288, 293, 303, 307Í, 311-317
Protagoras 66,284,287 Reale, G. 1,33,190,212 Reeve, C. D. 14,73,79,82 Regis, E. 215 Robinson, R. 68, 88, 90-93 Romeyer-Dherbey, G. 177f. Ross, W. D. 1, 10f., 83, 185, 202, 223,232, 263f„ 267,316 Rudolph, E. 260f. Seidl, H. 184,211,263 Sokrates 7, 11, 18, 21, 66, 91, 93, 96, 126f„ 130, 133, 179-181, 243, 269,275-280, 284,312 Stegmaier, W. 13, 128, 167-169, 315 Stemmer, P. 301 Thomas von Aquin 10, 22, 128, 134, 173-176, 195, 198, 216, 238, 257, 268 Tricot 190,212 Viertel, W. 214, 235 Vollrath, E. 125f. Wagner, H. 174 Weidemann, H. 210 Wieland, W. 13, 22f., 124, 169, 312 Wilamowitz-Möllendorff, U. von 177 Witt, Ch. 173,183 Zekl, H. G. 10, 145 Zürcher, J. 20,248
Sachregister akolastos 41, 60, 88, 90-98, 104, 232, 246, 295 Akrasia 68, 88, 91 akrates 41, 45-67, 76, 84-98, 104, 232, 246, 288, 295 Arete (Tugend, Tüchtigkeit) 3, 5, 9, 14-29, 33-35, 40, 61-75, 80-89, 98, 102, 104, 120, 203, 227, 230, 233, 295,297, 300-309, 312, 314 Begierde 8-15, 29, 36-47, 51-66, 79, 88-97, 100, 230, 231, 244, 246, 250-258, 265-272, 279, 285, 287295,307,314 δρεξις 8, 15, 29-39, 42-59, 97, 230, 246, 250,279, 293, 307 Besonnenheit 62,299 sophrosyne 59 Bewegung 8, 10, 25f., 108-121, 167169, 171, 176, 199, 205, 208, 222-285 passim, 294 κίνησις 108-110,115,223,293, 305 Dihairesis (Dihärese, dihäretisch) 13, 21, 22, 36, 131-175 passim, 194, 206,212,215,253 ενέργεια 2, 7, 19, 21, 25, 33, 82, 83, 98, 103, 108, 110, 115, 118, 123, 187, 193, 199, 200, 201, 206, 214, 224, 231,263,294, 344 εντελέχεια 86, 123, 185, 187, 199, 200,214,281,344
enkrates 45-51, 58, 60, 65, 67, 90, 96 Entscheidung 3-15, 37-42, 88-113, 271-288 προαίρεσις 4, 37, 39, 42, 97, 230, 271,279, 288 Erkenntnis 20, 34, 65, 70, 81, 92, 107, 140, 188, 201, 254, 278, 284, 294, 306, 307 Ethik 1-41 passim, 57-121 passim, 233-235, 271, 273, 283, 288, 290, 293-316 Eudaimonia 1-35 passim, 73-105, 111-121, 153, 159, 178, 190, 220309 passim, 314, Form (Aussehen, είδος) 11, 12, 23, 109, 118, 136, 160-239 passim, 273,277, 280,316 Freiwilliges, Freiwilligkeit 7, 9, 14, 15, 38-40, 42-55, 60, 62, 90, 100, 272 έκούσιον 38, 44 Freundschaft 73,307 φρόνησις 19,26,34,35,36,65,111, 177 Grundlegung 20, 140, 244, 248, 324, 327 Materie (Stoff) 10, 165-220 passim, 225-268 281, 282, 298, 300, 304, 307, 326 Metaphysik 1-15 passim, 22, 58, 59, 63, 77, 84, 103-113, 120-238
338
Sachregister
passim, 245, 248, 255, 260, 263, 267, 271, 273, 283, 287, 297, 298, 304, 305,309-316 ousia (Sein, Seiendheit, Wesen) 414, 38, 70, 73, 74, 85, 86, 120208 passim, 218-248, 260, 265274, 280, 287, 290, 295, 306-316, 317 Polis 28, 29, 66, 70, 71, 94, 101, 107, 187, 298, 299, 300, 303, 307, 308,309,312,317 Politile 2, 4, 6, 7, 9, 15, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 35, 36, 66, 107, 188, 296, 298, 299, 300, 305, 307, 309, 311,312,314, 324, 325 Psychologie 82, 257, 266, 280 Realismus transzendentaler 12, 129,312 Satz des Widerspruchs 272-290, 311 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 8, 15, 149, 289fr., 3 1 1
Seele 1, 3, 14, 21, 25-36, 53, 59, 60, 80, 85, 88, 118, 133, 137, 168, 177, 184, 189, 204, 214, 218, 224-227, 232, 238-242, 250, 257259, 269,311,314 Seiendes (το öv, τ α όντα) 1, 8, 12, 24, 33, 123-137, 154, 168, 171f., 184, 198, 226, 229, 236, 240, 243, 253, 257f., 281, 306, 311, 315f. spezifische Differenz 25,26, 38, 105, 186,218, 305 Staat 64, 312
Syllogismus 43, 47, 54-59, 91-96, 118, 136, 140-170, 201-207, 216, 254,272 synholon (Aus-beiden, Kompositum) 11, 12, 165, 170, 171, 176, 181220,225, 226,232-239, 273, 280 telos (Ziel, Zweck) 2, 11, 18, 19, 2127, 77-87, 102-119, 175, 189f., 203-219, 223-242, 252-265, 283, 287^294-305, 316 τί ήν έιναι (τηε) 5, 11, 173, 181, 190, 207-210 Trieb (epithymia) 37-60 passim, 66f., 79f., 88,93 Unbewegt Bewegendes (άκίνητον κινούν) 2, 9, 10, 14, 26, 234, 245, 251-259, 316f. Vernunft 7, 9, 33-42, 52-66, 76, 79, 89-93, 97, 228f., 234, 263, 271f., 299, 302 Weisheit 1 , 2 0 , 3 3 , 3 5 , 3 7 , 177 σοφία 1, 4, 20, 33, 34, 35, 37, 57, 85 Wirklichkeit (Akt, Verwirklichung, s. auch ενέργεια, εντελέχεια), 2, 64, 106, 124, 125, 129, 185ff, 200-206, 214, 219, 221, 224-242, 263,271, 275, 279, 285-287, 307 Zugrundeliegendes 138, 158, 199, 210,240 ύποκείμενον 128, 140, 154, 193, 197