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German Pages 251 Year 2019
Waldenfels · Ordnung im Zwielicht
Übergänge Band 61
Übergänge Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt
begründet von
Richard Grathoff Bernhard Waldenfels
herausgegeben von
Wolfgang Eßbach Bernhard Waldenfels
Band 61
Bernhard Waldenfels
Ordnung im Zwielicht 2., um ein neues Vorwort ergänzte Auflage
Wilhelm Fink
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INHALT
Vorwort zur Neuauflage: Voranfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zwischen Hund und Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A. AUF DER SCHWELLE ZWISCHEN ORDNUNG UND UNORDNUNG . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Präliminarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter Kronos und Zeus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrund und Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzweigte Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sichtbare und unsichtbare Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwellenerfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosmogonische Metaphern und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . Offene Anknüpfung im Gespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Auseinandersetzung in der Handlung . . . . . . . . . . . . Zwischenereignisse und responsive Rationalität. . . . . . . . . . .
23 26 28 29 32 34 36 39 45 49
B. ORDNUNG ALS SELEKTION UND EXKLUSION . . . .
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Reden und Handeln im Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachronische und synchronische Zusammenhänge . . . . . . Kräftefeld als Szenarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horizontale Ausweitung: thematisches Feld und Randzonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertikale Ausformung: Typik und Atypisches . . . . . . . . . . . . Topologie und Chronologie von Reden und Handeln. . . . . . Wichtigkeit und Richtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normalität und gestörte Verhaltensfunktionen . . . . . . . . . . . Übliche Sitten und unziemliche Verhaltensweisen. . . . . . . . . Gesetzte Normen und unrichtiges Verhalten . . . . . . . . . . . . . Habitualität als Verkörperung von Ordnung. . . . . . . . . . . . . Wettstreit der Fakultäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 56 57 59 63 65 68 71 72 74 76 78 81
6
INHALT
C. BEGRÜNDETE ODER BELIEBIGE ORDNUNG? . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Ordnungen begrenzter Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosmos als Gesamtordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprünge im Weltall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totalität und Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Gesamtordnung zur Grundordnung . . . . . . . . . . . . Universale Normen als Minimalordnung . . . . . . . . . . . . . . . Formalisierung und normatives Vakuum. . . . . . . . . . . . . . . . Druck der Universalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positivität, Willkür und Macht oder: der Satz vom unzureichenden Grunde . . . . . . . . . . . . . . . . .
85 87 89 91 93 96 97 98 100 105
D. ORDNUNG MIT ODER OHNE ORDNER? . . . . . . . . . . 109 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Subjekt, eine Frage des Etiketts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Seele als Spiegel des Alls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Subjekt als Epizentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urheber: Aktion und Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigentümer: Eigenheit und Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzgeber: Autonomie und Heteronomie . . . . . . . . . . . . . Die vergebliche Verdoppelung des Subjekts. . . . . . . . . . . . . . Leibliche Mitwirkung oder: das unberechenbare Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111 113 114 115 117 120 122 125
E. ENTSTEHENDE UND BESTEHENDE ORDNUNG. . . 129 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Ordnung und ihre Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßstäbe in der Erfahrung, im Erkennen und Handeln . . . . Produktion und Reproduktion von Ordnung . . . . . . . . . . . . Maßwerk und Maßstab, Vorbild und Vorschrift . . . . . . . . . . Schlüsselereignisse und Schlüsselerfahrungen . . . . . . . . . . . . Innovation als Verformung und Abweichung . . . . . . . . . . . . Zeitschwellen jenseits von Sitte und Mode . . . . . . . . . . . . . . Heterogene Ordnungen und relative Geltungsbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Ordnungskunst zwischen Finden und Erfinden . . . . . . . . . .
131 132 137 138 142 145 149 152 157
INHALT
7
F. DAS ORDENTLICHE UND DAS AUSSERORDENTLICHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Vor und außerhalb der Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schatten des Fremdartigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Riß zwischen Produktion und Provokation . . . . . . . . . . Zwischen den Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschreitung der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkte Überschreitung: vom Mangel zur Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radikale Überschreitung: zwischen Mangel und Überfülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbrüche und Ausbrüche des Außerordentlichen. . . . . . . . . Regression und Transgression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenname und Namenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Tür und Angel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163 164 165 168 170 171 174 177 181 183 184
Anschlußstellen und Stützpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Bildvariationen zum Thema ›Ordnung‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
VORWORT ZUR NEUAUFLAGE: VORANFÄNGE
Blickt man zurück, so entpuppen Anfänge sich oftmals als Voranfänge, in denen mehr steckt, als Schreibende ahnen, und blickt man hinter die Kulissen der Schreibstätte, so stößt man nicht selten auf überraschende Zufälle. Das nun wieder erscheinende Buch entstand im Winter 1984/85 während eines Pariser Forschungssemesters. Das Schlüsselwort Zwielicht sprang mir förmlich in die Augen, als ich dort auf einer Litfaßsäule ein Stück von Christoph Hein als Entre chien et loup angekündigt fand: Zwischen Hund und Wolf; mit dieser französisch inspirierten Umschreibung des Zwielichts setzt der Buchttext ein. Das Titelmotiv erwies sich als ein Kristallisationskern. In der Absicht, etwas von der Lockerheit einer frei schwebenden Aufmerksamkeit in den Gedankengang einströmen zu lassen, verzichtete ich im alphabetisch angeordneten Hauptteil auf gelehrten Ballast. Das Mittelstück »Anschlußstellen und Stützpunkte« entschädigt den Leser für die anfängliche Kargheit mit einem Werkstattkommentar, der allerdings mehr aufschließt als abrundet. Dort wird ersichtlich, woraus ich geschöpft habe und womit sich fortfahren läßt. Die abschließenden »Bildvariationen« sind nicht Illustrationen, sondern Proben eines Denkens in Bildern, das sich mit dem Denken in Worten verflicht. Darunter findet sich Goyas Kreidezeichnung Rache des Wolfes oder auch Der dressierte Wolf, in der das Leitthema sich in einen Rollentausch von Mensch und Tier verwandelt. Die Tatsache, daß die Bilder in der 1996 erschienenen amerikanischen Ausgabe fehlen, kann man den Schnittmustern einer auf Reinheit bedachten Vernunft zurechnen. Inzwischen hat die Bilderfreude zugenommen, auch in Deutschland. Bei den bekannten französischen Philosophen, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an die Öffentlichkeit traten, ist eine gezielte Beschäftigung mit der Malerei geradezu die Regel. Einem der Bildbeispiele, nämlich Paul Klees Hauptweg und Seitenwege, das mir von der Wand meines Bochumer Arbeitszimmers täglich entgegenschaute, habe ich jüngst nochmals die Ehre gegeben.1 1 Vgl. »Auf malerischen Seitenwegen«, in: S. Egendorfer, I. Hinterwaldner, Ch. Spies (Hg.), Was ist ein Bild? Antworten in Bildern, Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag, München 2012, S. 22-25.
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Das Buch Ordnung im Zwielicht bedeutet für mich einen Durchbruch, der aus meinen späteren Denkbemühungen nicht wegzudenken ist, ohne ihnen ihre Spitze zu nehmen. Der Satz von Foucault »Es gibt Ordnung – il y a d’ordre«, der in L’ordre des choses, dem ursprünglichen Titel von Les mots et les choses, und dann in L’ordre du discours anklingt, lieferte mir ein wichtiges Stichwort. Er ist verwandt mit ähnlich klingenden Formulierungen wie »Es gibt Rationalität« oder »Es gibt Sinn« aus Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung oder mit der Feststellung »daß es Wahrheit gibt«, die uns schon in Sein und Zeit begegnet. Daß der Ordnungsbegriff in der deutschen und der französischen Tradition verschiedene Konnotationen aufweist und auch verschiedene Abwehrreflexe weckt, ist in Kauf zu nehmen.2 Wichtiger ist etwas anderes. Das unergründliche Faktum einer Ordnung, das in seiner Kontingenz jeder Ordnung bestimmte Grenzen auferlegt, stellt uns nun vor die Frage, wie wir mit diesen Grenzen umgehen sollen. Darauf gibt es verschiedene Antworten, deren Sondierung sich wie ein kritisches Geflecht durch den Buchtext hindurchzieht. Wir haben von alters her gelernt, über alle Grenzen hinweg auf eine allumfassende Gesamtordnung zu schauen. Doch der Anspruch auf ein Ganzes, ein Erstes und Letztes, sei es die »Natur«, eine »absolute Gegenwart«, ein »Reich der Freiheit«, ein »Volksgeist«, »die Gesellschaft« oder »die Menschheit«, hat angesichts vieler totalitärer Auswüchse seine Attraktivität eingebüßt. Was geblieben ist, sind religiöse oder quasi-religiöse Fanatismen oder auch wissenschaftliche Surrogate wie das Gehirn, das denkt und bewertet. Doch schon die Rede von einem Ganzen, in dem diese Rede selbst noch beschlossen sein müßte, verwickelt uns in Paradoxien, die in der »Menge aller Mengen« ihren formalen Ausdruck gefunden hat. – Bescheidener ist der Anspruch auf eine letztregelnde Grundordnung, deren transzendentale oder diskursive Gesetze nur notwendige Bedingungen bereitstellen und die zureichenden Bedingungen der Empirie überlassen. Bei solchen Notgesetzen geht es letzten Endes um Chaosverhinderung. Die kosmische Vernunft, die mit der Erfindungskraft der Schöpfung im Bunde stand, weicht einer forensischen Vernunft, die primär auf Rechtfertigung und Begründung aus ist. Wie Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung bemerkt, herrscht immer noch die Idee, aber nicht mehr sonnenhaft, sondern »sublim geworden, 2 Zu den entsprechenden nationalen Varianten vgl. meinen Artikel »Ordnung« in: Esprit/Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, J. Leenhardt, R. Picht (Hg.), München, Zürich 1989 bzw. Au jardin des malentendus. Le commerce francoallemand des idées, Arles 1990, 21997.
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bleich, nordisch, königsbergisch«. Dies ändert sich auch dann nicht, wenn ein ästhetisches Zusatzprogramm beigefügt wird. – Man kann noch bescheidener auftreten, indem man sich mit laufenden Regelungen und positiven Fakten zufrieden gibt und der Normalordnung das letzte Wort läßt. Dies entspricht der Normalvernunft des von Nietzsche angekündigten »Normalmenschen«, der sich mit alten und neuen Ordnungen arrangiert, dabei Tugenden wie Flexibilität oder Anschlußfähigkeit ausbildet und sich durch programmgerechte Kompetenzen und Exzellenzen auszeichnet.3 – Im Schatten der Normalität gedeiht das Spiel mit beliebigen Ordnungen, das aus der bloßen Andersheit eine Tugend macht und sich, wie schon Valéry dem zeitgenössischen Avantgardismus vorhält, an einem »Automatismus der Kühnheit« berauscht. – Als letzte Möglichkeit bleibt das Liebäugeln mit einer Gegenordnung, das Ausscheren aus jederlei Ordnung, das Jonglieren mit Extremwerten, sei es »das Ereignis«, »die Bewegung«, »der Führer«, »die Gebung«, »die Präsenz« und neuerdings einmal wieder »das Leben«. Wo man mit einer neuen Unmittelbarkeit auftrumpft oder den »Blitzstrahl einer Andersheit« erwartet, rückt die Gewalt nahe, begleitet von den Beschönigungen einer felix violentia. Im Streit um Modernität oder Postmodernität halte ich mich an die Perspektive einer Verfremdung der Moderne, so mein Buchtitel von 2001. Den Grenzzonen einer Ordnung im Zwielicht nähern wir uns, indem wir zugleich vor die Ordnung zurück und über sie hinausgehen, indem wir uns zugleich innerhalb und außerhalb der jeweiligen Ordnung und also zwischen dem Ordentlichen und Außerordentlichen bewegen. Daraus erwächst ein Bezugsfeld, das eine Reihe prägnanter Motive enthält. Einige von ihnen haben sich in der Folgezeit als besonders ergiebig erwiesen. Jeder Ordnungswechsel läuft über Schwellenerfahrungen im Sinne von Walter Benjamin, verbunden mit einer Schwellensymbolik, wie Freud sie erkundet hat. Wir wechseln in andersartige Erfahrungsbereiche hinüber und überqueren Grenzen, doch ohne sie aufzuheben. Solche Schwellen, wie sie beim alltäglichen Aufwachen und Einschlafen, im Auf und Ab verschiedener Lebensphasen, im Wechsel der Generationen, bei Innovationen und Katastrophen oder bei interkulturellen Kontakten und Konflikten aufzutreten pflegen, sind Fremdheitsschwellen par excellence. Betrachten wir den weiteren Gang der Erfahrung, der sich in 3 Vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich 2011.
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Wortfolgen und Handlungsabläufen artikuliert, so stoßen wir auf offene Anknüpfungen, die sich der geregelten Verknüpfung entziehen, uns vor Alternativen stellen und uns mit Ausweglosigkeiten konfrontieren wie die Irrgänge des Labyrinths. Ein Wort ergibt das andere, und bisweilen verschlägt es uns die Sprache. Aus den entsprechenden Suchbewegungen entfaltet sich eine responsive Rationalität. Im Gegensatz zur kommunikativen Rationalität zielt diese nicht auf einen Konsens ab, Zusammenhänge bilden sich vielmehr im Antworten auf situative und kontextuelle Ansprüche, ohne deren Mitwirkung allgemeine Geltungsansprüche nichts weiter wären als ideale Geltungseinheiten ohne Bewegkraft. Diese offene Form der Sinnbildung geht zusammen mit den Gestaltbildungen und Aufforderungscharakteren der Gestalttheorie, mit der Organisation des Bewußtseinsfeldes bei Aron Gurwitsch, der Responsivität des Organismus bei Kurt Goldstein,4 der Asymmetrie von Selbst- und Fremdbezug bei Emmanuel Levinas oder den Unterbrechungen eines entretien infini bei Maurice Blanchot.5 Indirekte Schützenhilfe kommt inzwischen von den neuronalen und kommunikativen Netzwerken, die den Regelmodellen mit ihren binären Codes längst den Rang abgelaufen haben. Es gibt Synergien, die nicht auf Synthesen beruhen. Was sich in dem Zwischenfeld einer offenen Sinnbildung abspielt, sind Interlokutionen und Interaktionen, also Zwischenereignisse, in denen Eigenes und Fremdes sich verflechten, ganz im Gegensatz zur bloßen Koordination von Einzelakten. Was zwischen uns geschieht, läßt sich nicht zurückführen auf das, was jeder von sich aus sagt und tut. Kleists Verfertigung von Gedanken in der Rede bedeutet zugleich eine Verfertigung von Gedanken in der Wechselrede. Dabei bilden sich mundane und soziale Ordnungen mittlerer Reichweite. Wir stoßen auf eine Vielfalt von Praktiken, Diktionen und Techniken, auf Relevanzstrukturen im Sinne von Alfred Schütz, auf Symbole und Alltagsrituale im Sinne von Ernst Cassirer und Erving Goffman, auf Systemdifferenzierungen im Sinne von Luhmann, auf Wissens- und Diskursformen im Sinne von Michel Foucault und ähnliches mehr. Strenge Scheidungen wie wesentlich/zufällig, transzendental/empirisch, ontologisch/ontisch lösen sich auf in Grauzonen, in denen sich Neues anbahnt. Mittlere Ordnungen zeichnen sich aus durch Selektivität und 4 Vgl. Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Neudruck München 2013 im Fink-Verlag; das Buch war bislang nur in der 1934 bei M. Nijhoff in Den Haag erschienenen Ausgabe zugänglich. 5 Vgl. die Brückenschläge zwischen Blanchot, Levinas und der responsiven Phänomenologie in: Andreas Gelhard, Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005.
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Exklusivität, da sie Bestimmtes ermöglichen, indem sie anderes verunmöglichen. Kein Blick ohne Blickwinkel und kein Gefühl ohne »Gefühlswinkel«, wie Nietzsche sich ausdrückt. Diese Ausbildung von Erfahrungsreliefs zeigt sich bereits auf der Ebene der Aufmerksamkeit in der Art und Weise, wie uns etwas auffällt und wie wir darauf aufmerken, entsprechend den Prägungen und Steuerungen unserer Aufmerksamkeit. Diesen Faden habe ich in der Phänomenologie der Aufmerksamkeit (2004) weitergesponnen. Eine rein inklusive Ordnung, die nichts Fremdes außer sich hätte, wäre eine bloß gedachte Ordnung, deren Verwirklichung zwanghafte Züge annähme. Eine Erfahrung, die von sich selbst abweicht und sich selbst überholt, verwickelt sich an kritischen Knotenpunkten in Formen eines prädiskursiven Widerstreits, der sich anders als der prädikative oder auch der performative Widerspruch nicht mit dem Zwang besserer Argumente auflösen läßt. Eine Phänomenologie der Erfahrung, die für Kreativität, Heterogenität und Konflikte Raum läßt, hat zur Rückseite eine Kritik der argumentativen und konsensuellen Vernunft. Von größter Relevanz ist schließlich das Motiv des Fremden als eines Außerordentlichen.6 Das Fremde drängt sich auf, indem es den Intentionen unseres Wahrnehmens und Begehrens zuwiderläuft und sich den Regelungen unseres Reden, Tuns und Machens entzieht. Fremdbezug und Entzug sind untrennbar miteinander verquickt. Dies fängt an mit unserem leiblichen Selbst, das die Züge eines autonom agierenden Subjekts ablegt und etwas Unberechenbares behält. Ausgehend von einer Phänomenologie des Leibes, die eine leibhaftige Vernunft einschließt,7 ergeben sich Bezüge zum Unbewußten und Unwillkürlichen der Psychoanalyse, das sich als eine spezifische Form des radikal Fremden erweist. Doch das Fremde greift über auf die gesamte Erfahrung. Mit dem Paradox einer »Zugänglichkeit des originär Unzugänglichen«, das Husserl als erster mit der nötigen Schärfe in den Blick gerückt hat,8 6 Das Motiv des Fremden ist in Italien auf besondere Aufmerksamkeit gestoßen. Vgl. folgende Vorlesungsbände: Fenomenologia dell’estraneità, herausgegeben von Gabriella Baptist, Neapel 2002; Estraneo, straniero, straordinario. Saggi di fenomenologia responsiva, herausgegeben. von Ugo Perone, Turin 2011; Politiche dell’estraneo. L’istituzione del moderno e l’irruzione dell’altro, herausgegeben von Ferdinando Menga, Verona 2012. 7 Vgl. A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von MerleauPontys Denken, München 1986, dazu meine Vorlesungen Das leibliche Selbst, hg. von Regula Giuliani, Frankfurt/M. 2000. 8 Vgl. hierzu Husserls Sorbonne-Vorlesungen von 1929, die 1947 in Paris unter dem Titel Méditations cartésiennes in der Mitübersetzung von Levinas erschienen, bevor
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stellt die Erfahrung des Fremden uns vor die grundlegende Frage, wie wir das Fremde in den Blick nehmen und zur Sprache bringen können, ohne es durch unsere Aneignungsversuche seines Fremdheitscharakters zu berauben. Es gibt viele vergebliche Versuche, die sich entweder auf eine übergreifende Gemeinsamkeit aus Sitte, Tradition, Sprache oder kommunikativer Kompetenz stützen oder aber das Fremde vom Ich her mit den Mitteln der Einfühlung, der Analogiebildung oder der Anerkennung zu erschließen suchen. Das Eigene und das Gemeinsame sind wie Scylla und Charybdis, an denen die Odyssee des Fremden immer wieder zu scheitern droht. Ein Ausweg aus diesem Dilemma eröffnete sich mir mit der bereits erwähnten Responsivität. Ein Antworten, das sich nicht darauf beschränkt, normale Wissenslücken auszufüllen, entfaltet seine Kreativität derart, daß ich vom Anderen her spreche, bevor ich mit ihm über etwas und schließlich mit jemandem über ihn spreche. Hierin beweist die Ethik des Anderen, wie Emmanuel Levinas sie entwickelt hat, ihre Stärke. Mit einer »Divinisierung des Anderen«, mit der manche diesen jüdischen Denker abzutun suchen, hat dies nichts zu tun, selbst wenn man einräumt, daß bei ihm die bestehenden Ordnungen vielfach einem einseitigen Totalitätsverdacht ausgesetzt und wenig durchforscht werden. Das Außerordentliche ist nicht zu haben ohne das Ordentliche. Allerdings gilt für diesen Satz auch das Umgekehrte. Für mich war und ist der Foucaultsche Einsatz unerläßlich, doch scheint mir, daß das penser autrement wie auch die spätere Selbstsorge für responsive Ansprüche zu wenig Raum läßt.9 Methodisch gesehen ist eine Rede, die über das Fremde spricht, ohne den Ausgang vom Fremden zu verleugnen, nur als indirekte Rede möglich. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Figuren wie Abweichung, Verfremdung oder Überschuß, die uns aus den Grenzgängen der Künste und aus deren Beschäftigung mit dem Unsagbaren, Unsichtbaren
sie 1950 in Den Haag als Band I der Husserliana, herausgegeben von Stephan Strasser, erstmals auf deutsch zugänglich wurden. Wer diese Umwege nicht vor Auge hat, versteht wenig von der lückenhaften Situation der deutschen Nachkriegsphilosophie, die für Husserls Arbeit an den Phänomenen (so der Titel einer 1993 im Fischer-Verlag und dann 2003 im Fink-Verlag erschienenen Anthologie) wenig Geduld aufbrachte. Seit 1983 erscheint im Fink-Verlag die Reihe Übergänge, mit der die Herausgeber Versäumtes und Vergessenes wettzumachen hoffen. 9 Was meine Anknüpfung an Levinas und Foucault angeht, so verweise ich auf die entsprechenden Kapitel in: Deutsch-Französische Gedankengängen, Frankfurt/M. 1995, Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/M. 2005, ferner auf P. Gehring, A. Gelhard (Hg.), Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich 2012, S. 13-31.
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oder Unerhörten wohlvertraut sind. Was die Vielstimmigkeit der Rede angeht,10 so wurde mir Michail Bachtin zum ständigen Begleiter. Das Hyperbolische der Erfahrung, das im Zentrum meines jüngst erschienenen Buches Hyperphänomene steht, meldet sich im Schlußkapitel von Ordnung im Zwielicht mit aller Kraft zu Wort, und dies in einer Sprache, die vieles der platonischen Tradition verdankt. Die grundlegende Tatsache, daß etwas mehr ist als es selbst, heißt nicht, daß es ganz anders ist, wohl aber, daß es niemals ganz und gar es selbst ist, außer es wird völlig normalisiert und von seiner Herkunft abgeschnitten. Das Nicht-Identische, das uns von Adorno her in halb-hegelscher Form vertraut ist, bildet keinen Gegensatz zum Identischen, sondern dessen Schatten. Es sind dies Schatten eines positiv Unbestimmten, das dem Zwielicht seinen konzeptuellen Rückhalt gibt.11 Für die Rollen, die ‚jemand’ spielt, gilt ähnliches wie für die Vielfalt des ‚etwas’. Im Hintergrund dieses Verfremdungsprozesses wirkt eine Erfindungskraft, in der Ästhetisches und Technisches auf neue Weise zusammenfinden; auch die Mitwirkung der Dinge hat daran ihren Anteil. Der Doppelcharakter der Ordnung als Bestand einer Ordnung und Prozeß des Ordnens hat zur Folge, daß Ordnungen über sich selbst hinausgehen. Darin gleichen sie der linguistischen Doppelfigur von Sagen und Gesagtem. Versteht man das Fremde als Außerordentliches, so nimmt es einen beiläufigen, okkasionellen Charakter an, der sich wie die »Ichheit« des Ich in Sein und Zeit stets nur im Sinne einer »formalen Anzeige« generalisieren läßt. Fremdes lehnt sich anderswo an. Insofern kann man sagen: So viele Ordnungen, so viele Arten des Fremden. Von entsprechender Vielfalt sind die Wirkungsfelder, die sich auftun. Abschließend seien einige interdisziplinäre Themenbereiche benannt, in denen das Ordnungsdenken von Ordnung im Zwielicht auf spezielle Weise konkretisiert wurde. In einem Beitrag »Der Kranke als Fremder. Therapie zwischen Normalität und Responsivität«, der 1990 anläßlich einer gesprächstherapeutischen Fachtagung entstand, untersuche ich 10 Unter diesem Titel erschien Bd. 4 meiner Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 1999. 11 Dieses Motiv, das sich bis auf Husserl zurückverfolgen läßt, taucht in den Erläuterungen zur Eingangspassage auf. Vgl. inzwischen Gerhard Gamm, Die Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten im Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/M. 1994. Hier wird diese Problematik auf breiter Front aufgerollt unter Einschluß von Autoren wie Husserl, Merleau-Ponty, Castoriadis, Quine, Wittgenstein und Luhmann.
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das Konzept der Normalität, die Auswüchse eines Normalismus und die Möglichkeiten einer responsiven Therapie unter Bezugnahme auf Kurt Goldstein und Georges Canguilhem.12 In meinem Vortrag zum Thema »Ordnungen des Sichtbaren«, der 1990 im Rahmen einer Bochumer Gedenkvorlesung zu Ehren von Max Imdahl gehalten wurde, geht es darum, die Ordnungskonzeption für die Bilddebatte fruchtbar zu machen. In engem Zusammenhang damit steht der Text »Spielräume von Kunst und Technik«, der auf eine Münchener Werkbund-Tagung von 1991 zurückgeht.13 Eine weitere Tagung, die 2002 von Tilburger Rechtsphilosophen organisiert wurde, bezog sich, in ausdrücklichem Anschluß an Ordnung im Zwielicht, auf das Innen und Außen des Rechts und auf das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Phänomenologie des Fremden.14 Hinzukommt ein Beitrag zum Thema »Fremdheitsschwellen«, der aus einer 2010 von Würzburger Literaturwissenschaftlern veranstalteten Tagung »Liminale Anthropologie« hervorging.15 Das Fortwirken der Ordnungsproblematik in den größeren Zusammenhängen von Antwortregister (1994), Bruchlinien der Erfahrung (2002) und Schattenrissen der Moral (2006) sei lediglich erwähnt. Ein letztes Wort zu dieser Neuauflage. In der Zeit, als das Buch in erster Auflage erschien, notierte ich in meinem Philosophischen Tagebuch unter dem Datum 21. 4. 1987: »Vorsichtige Prophezeiung zur Ordnung im Zwielicht: Unter freundlicher Nichtanteilnahme der Öffentlichkeit…« Ganz so war es nicht, aber mittlerweile war das Buch vergriffen. Sollte meine pessimistische Prophezeiung auch weiterhin nicht ganz in Erfüllung gehen, so liegt dies am Fink-Verlag und in erster Linie an Raimar Zons, dem ich für den Entschluß, dieses Buch neu aufzulegen, sowie für lange Jahre ergiebiger und vertrauensvoller Zusammenarbeit meinen besonderen Dank ausspreche. München, Dezember 2012 12 Vgl. Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt/M. 1998, 2. erweiterte Auflage 2008, Kap. 6. 13 Vgl. Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M. 1999, Kap. 4 und 5. 14 Vgl. Inside and Outside the Order: Legal Orders in the Perspective of a Phenomenology of the Alien in: Ethical Perpectives (Leuven) vol. 13 (2006), S. 359-381, auf deutsch in: Schattenrisse der Moral, Frankfurt/M. 2006, Kap. V. 15 Vgl. J. Achilles, R. Borgards, B. Burrichter (Hg.), Liminale Anthropologien, Würzburg 2012, S. 215-27, auf italienisch in: M. Ponzi, D. Gentili (Hg.), Soglie. Per una nuova teoria del spazio, Mailand 2012.
ZWISCHEN HUND UND WOLF
Aus dem philosophischen Bestiarium: »Auch dieses ... kannst du an den Hunden sehen, und es ist gewiß sehr wunderbar an dem Tiere ... Sowie es einen Unbekannten sieht, ist es ihm böse, ohne daß jener ihm zuvor irgend etwas zuleide getan; wenn aber einen Bekannten, ist es ihm freundlich, wenn er ihm auch niemals irgend etwas Gutes erwiesen ... Aber dies ist doch gewiß eine herrliche Beschaffenheit seiner Natur und wahrhaft philosophisch ... Wie sollte nicht lernbegierig sein, was durch Verstehen oder Nichtverstehen das Häusliche und Fremde bestimmt?« (Platon, Politeia 376 a–376 b) »Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.« (Plautus, Asinaria) »... daß die Natur die Menschen so ungesellig gemacht und sogar einen zu des anderen Mörder bestimmt habe ... Doch wozu noch mehr Beweise für verständige Menschen in einer Sache, wofür sogar die Hunde ein Gefühl zu haben scheinen; wer kommt, den bellen sie an, bei Tag jeden Unbekannten, des Nachts aber jeden.« (Hobbes, Leviathan, 1, 13) »... daß es notwendig sei, den Menschen Gesetze zu geben, und daß sie nach Gesetzen leben müssen, weil sie sonst von den allerwildesten Tieren in nichts sich unterscheiden würden.« (Platon, Nomoi 874 e) »Take but degree away, untune that string, And, hark! What discord follows... Then every thing includes itself in power, Power into will, will into appetite; And appetite, a universal wolf, So doubley seconded wich will and power, Must make perforce a universal prey, And last eat up himself.« (Shakespeare, Troilus and Cressida, 1, 3)
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»Man darf einen Menschen, der einem den Krieg erklärt oder sich als ein Feind der eigenen Existenz herausstellt, töten, aus demselben Grund, aus dem man einen Wolf oder einen Löwen tötet. Ein solcher Mensch nämlich ist nicht gebunden durch das gemeine Gesetz der Vernunft und kennt keine anderen Regeln als die der bloßen Stärke und Gewalt. Man mag ihn deshalb behandeln wie Raubtiere – jene gefahrvollen und schädlichen Geschöpfe, von denen man sicher vernichtet wird, sobald man in ihre Gewalt gerät.« (Locke, Second Treatise On Government, III, 16) »Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat ... Aber dieser ist eben so wohl ein Tier, das einen Herrn nötig hat.« (Kant, Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 6. Satz)
Hund und Wolf, Häuslichkeit und Wildnis sind durch eine deutliche Grenze voneinander geschieden, wenn es dem Menschen gelingt, die Schwelle zu Kultur, Ordnung und Vernunft ein für allemal zu überschreiten. Zwischen beiden breitet sich eine Grauzone des Zwielichts aus, und die Ordnung gerät entre chien et loup, wenn eine Kulturordnung nie hinter sich läßt, woraus sie entstammt. Denken und Sein behalten dann Züge einer pensée sauvage und eines être sauvage, und die vollständige Zähmung scheitert am Widerspenstigen. Wer dem Gebell der Wachhunde mißtraut, muß nicht gleich mit den Wölfen heulen. Wenn in heutigen Rationalitätsdebatten die Vernunft ins Zwielicht gerät, so könnte diese Vernunftdämmerung auch auf die Möglichkeit hindeuten, daß die Vernunft trotz neuer Gefährdungen zu einem ihr gemäßeren Licht findet. Dies erfordert ein Umdenken, das aus dem Hin und Her von Antithesen wie Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskontinuität, Subjekt und Strukturen, Lebenswelt und System oder Genesis und Geltung herausfindet. Die Besinnung auf Herkünfte, Grenzen, Vielfalt, Wandel und Überschreitung gelebter und gedachter Ordnungen soll einem solchen Umdenken dienen. Mit den Verteidigern einer gebrochenen ›Moderne‹ teile ich die Auffassung, daß die großen unverbrüchlichen und allumfassenden Ordnungen einem überschwenglichen und gewaltsamen Vernunfttraum entstammen, dem das moderne ›Subjekt‹ vergebens nachläuft. Daß man dem Schwund dieser Ordnungen mit Minimalrationalisierungen plus hermeneutischem Zusatzprogramm beikommen kann, erscheint mir allerdings ebenso zweifelhaft. Begründung und Auslegung reichen nicht aus, das entstehende Vakuum zu füllen. Der Gedanke einer zwielichtigen Ordnung, die ermöglicht, indem sie verunmöglicht, die eingrenzt, indem sie ausschließt, die formt, in-
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dem sie verformt, geht wie ein roter Faden durch die folgenden Untersuchungen. Erprobt wird dieser Gedanke vorwiegend an kulturell-sozialen Ordnungen, so wie sie sich in der abendländischen Tradition herausgebildet haben. Doch sprechen viele Indizien dafür, daß auch anderenorts, so etwa im Bereich physischer, vitaler und formaler Ordnungen, ein entsprechendes Umdenken im Gange ist und daß auch andere Kulturen von ähnlichen Problemen nicht verschont bleiben. Ein solches Denken in Übergängen wird vor den Steilbauten der Systeme ebenso zurückschrecken wie vor den Rundwegen der Dialektik. Lokkere Verknüpfungsformen, die nicht jedes Und einem Also annähern, und das gelegentliche Ausweichen auf Seitenwege, denen die Zielangabe fehlt, könnten dafür sorgen, daß Fremdes und Halbpassendes einsickert, daß Anschlußmöglichkeiten sich vervielfältigen und der Entdeckungs-Verdeckungs-Vorgang mitsamt seinen Bruchstellen nicht allzu schnell hinter Definitionen und Argumentationen verschwindet. Dennoch, wer herumblättert, sollte den Wald nicht übersehen. Die einzelnen Etappen der Untersuchung sind vielfältig aufeinander bezogen und eng miteinander verzahnt. Das Ganze beginnt mit einem heuristischen Vorspiel. Soll der Blick über die Schwelle der Ordnung, der nach Ungeordnetem sucht, sich nicht sogleich in Selbstspiegelungen verfangen, bedarf es vorsichtiger Annäherungen, zu denen die Sprache der Mythen, Erkundungsgänge in die Prähistorie und Paläontologie, literarische Fiktionen, Schwellenerfahrungen, die Metaphorik der Kosmogonien und schließlich die Suche nach offenen Stellen im Gesprächsund Handlungsnetz einige Proben liefern. – Anschließend daran wird in einem strenger durchgeführten Aufriß die Ordnung als ein Prozeß der Selektion und Exklusion vorgeführt, der in verschiedenen Varianten und verschiedenen Stufen abläuft, ausgehend von Rede- und Handlungsfeldern und endend bei Rede- und Handlungsnormen. – Die beiden folgenden Kapitel sind stärker aporetisch angelegt. Zunächst wird unter den Stichworten Totalität, Universalität und Positivität die Frage nach der Begründung von Ordnung erörtert, die dann in die Frage nach den möglichen Ordnungsleistungen eines Subjekts übergeht. – Das Scheitern aller Versuche, die Positivität variabler Ordnungen auf einen zureichenden Grund zu stellen, lenkt den Blick zurück auf die Genealogie von Ordnungen und auf die Möglichkeit einer Produktion, die nicht bloß Maßstäbe anlegt und Regeln anwendet, sondern solche durch Verformung und Abweichung von bestehenden Ordnungen miterzeugt. – Das Ineinanderspiel von Finden und Erfinden schränkt die Beliebigkeit ein, doch die Frage nach dem, was das Ordnungsgeschehen in Gang hält, bleibt unbeantwortet, solange nicht schließlich im Ordentlichen Außer-
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ordentliches hervortritt, dessen Ansprüche über bestehende Ordnungen hinaustreiben, so daß das Ungeordnete nicht einfach hinter uns liegt, sondern vor uns. Ohne eine ständige Überschreitung wäre die Ordnung ein Gehäuse, über das wir nicht einmal sprechen und verhandeln könnten. Doch hängt die befreiende Wirkung nicht davon ab, daß die Überschreitung an sich hält, ohne im Positiven Fuß zu fassen? Das Spiel zwischen Licht und Schatten, das in diesen Suchgängen erprobt wird, läßt sich selber nur vorführen als ständige Verformung bestehender Ordnungskonzeptionen. Die Grundierung des eigenen Textes durch klassische Texte von Platon und Aristoteles, von Hobbes und Hume, von Kant und Nietzsche versteht sich als Versuch eines Umdenkens durch Umlesen. Signifikante und symptomatische Textstellen werden wie Lesezeichen präsentiert und einem Verfahren der Überprägnanz unterworfen, das die entscheidenden Züge deutlich hervortreten läßt. Daß unsere Lektüre selber selektiv und in weitem Maße typisierend verfährt, sei zugegeben. Wenn bei diesem heuristischen Verfahren etwas in den Maschen hängenbleibt, so ist es gut; wenn etwas entschlüpft, so bleibt aufschlußreich, wo und wie es entschlüpft. Nuancierungen, Korrekturen und alternative Lesarten sind willkommen, solange die verhandelte Sache im Blick bleibt und der leitende Gedanke nicht unter dem Treibsand der Gelehrsamkeit versinkt. Der Zuspitzung des Sachbezugs dient auch der weitgehende Verzicht auf eine ausdrückliche und ausführliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Autoren. Der Verzicht fiel mir leichter, da ich manches davon in vorbereitenden Einzelstudien vorweggenommen habe, was hier zwischen den Zeilen bleiben mag. Dennoch schien es mir ratsam, dem durchgehenden Haupttext Nebentexte an die Seite zu stellen, die einen Blick auf die Rückseite des Teppichs gestatten. Kapitelweise sind »Anschlußstellen und Stützpunkte« verzeichnet, aus denen hervorgeht, wo Fäden sich angesponnen haben und wo sie sich weiterspinnen lassen. Die Bilder am Ende sind solche, die dem Verfasser bei der Verfertigung der Gedanken vor Augen standen; sie sollten ein wenig auf das Geschriebene abgefärbt haben. Konzipiert wurde das Buch im Pariser Herbst 1984, geschrieben im Frühjahr 1986 in München. Daß es so rasch druckfertig wurde, verdanke ich meinen Bochumer Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die mit Schreibarbeit, Literaturbeschaffung, Registeranfertigung und Korrekturlesen zur Fertigstellung beitrugen. Ihnen gilt mein Dank ebenso wie Käte Meyer-Drawe als erster kritischer Leserin. Bochum, September 1986
A. AUF DER SCHWELLE ZWISCHEN ORDNUNG UND UNORDNUNG
1. Präliminarien Versuchsweise sei eine erste Bestimmung von ›Ordnung‹ vorausgeschickt, die neutral genug ist, um unsere Überlegungen nicht von vornherein in eine einseitige Richtung zu lenken, und weit genug, um unser Blickfeld nicht vorzeitig einzuengen. Ordnung (ordo, gr. ϰόσμος, τάξις) im allgemeinen Sinne ist ein geregelter (d. h. nicht-beliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem wiederholbaren, übertragbaren, mehr oder weniger ablösbaren Ordnungsgefüge qualitativer oder quantitativer Art (Schema, Muster, Form, Eidos, Formel usw.) und dem jeweiligen oder dauerhaften Ordnungsbestand. Von der Ordnung im statuarischen Sinne unterscheidet sich die Herstellung oder Entstehung eines solchen Zusammenhangs, die als von einem Ordner (ordinator, gr. ϰοσμήτωρ) ausgehendes Ordnen oder als Sichordnen (ordinatio) zu bezeichnen ist; wo Mißverständnisse ausgeschlossen sind, kann auch von ›Ordnung‹ im verbalen Sinne gesprochen werden. Die Frage, wie und wie weit diese Momente voneinander abzusondern sind, läßt sich vorweg nicht entscheiden. Die Frage etwa nach einer Ordnung in, vor oder an den Dingen würde uns bereits mitten in die Sachproblematik hineinführen. Doch abgesehen davon bewegen wir uns durchaus auf der Ebene klassischer Ordnungsvorstellungen, die sich nicht von Anfang an auf Spezial- und Minimalansprüche beschränken. Nehmen wir zum Vergleich eine klassische Begriffsbestimmung wie die von Cicero: ›ordo‹ bedeutet eine ›compositio rerum aptis et accomodatis locis‹ (De officiis 1, 40) – eine Zusammenstellung also von Dingen an passenden und ihnen zukommenden Plätzen. Ähnlich lesen wir bei Augustinus: ›ordo est parium dispariumque sua cuique tribuens loca dispositio‹ (De civitate Dei XIX, 13). Von passend oder unpassend können wir nur sprechen, wenn nicht alle Anordnungen gleich gültig sind, wenn es vielmehr einen Unterschied ausmacht, ob etwas hier ist oder dort, ob es so ist oder so, ob es so vor sich geht oder so. Zur Statuierung solcher Unterschiede bedarf es irgendeines Kriteriums, einer Regel (oder eines Gesetzes, einer Norm) im weitesten Sinne, die eine Abweichung, einen Mangel, einen Verstoß, also eine Regelwidrigkeit in eben solch weitem Sinne zuläßt. Dabei kann es sich um eine Vorzugsregel handeln, die einen Zustand oder Ablauf gegenüber einem anderen als besser qualifiziert, um eine Gebots- oder Verbotsregel, die ein Verhalten einem anderen als richtig entgegenstellt, schließlich – was uns im folgenden weniger beschäftigen wird – um eine Erklärungsregel, die bestimmte Ereignisse gegenüber anderen als wahrscheinlicher
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hinstellt, oder um eine Art von Spielregel, die eine bestimmte Prozedur vor einer anderen als korrekt auszeichnet. Ferner kommt es zunächst nicht darauf an, ob eine Regelhaftigkeit vorgefunden, eingesetzt, eingespielt oder schließlich ausdrücklich formuliert und eigens erläutert ist. Was dagegen in jeder Regelhaftigkeit und möglichen Regelwidrigkeit vorausgesetzt ist, das sind mehrere, verschiedenartige Bezugsglieder, und sei es nur, daß etwas nicht an seinem Platz ist. Ohne Zuordnung von etwas zu etwas wäre ein Zustand oder Ablauf nicht gegenüber seinem Gegenteil als geordnet zu qualifizieren; er wäre oder wäre nicht, wie etwa die einfachen Empfindungen Humes, die in sich selbst nicht ordnungsfähig (ordinabilis) sind. Das gleiche träfe zu auf völlig gleichartige Bezugsglieder; Zwillinge, die völlig gleich wären, könnten nicht jeder an seinem Platz sein, und die Zahlen 7 7 7 7 könnten nicht als Zahlenreihe angeordnet werden, da jede Anordnung so gut wäre wie die andere. Die Auffächerung der Ordnung in bestimmte Ordnungstypen (räumliche, zeitliche oder kausale Ordnung), in Ordnungsbereiche (Ordnung der Natur, des Lebens, des Menschen, der Gesellschaft, des Rechts, der Sprache usw.) und schließlich – was für unsere Fragestellung von besonderem Belang ist – in verschiedenartige Ordnungsstile (geschlossene, offene, hierarchische, globale, regionale Ordnung u. ä.) resultiert aus der Differenzierung dessen, was hier allgemein als Regelhaftigkeit bezeichnet wird. Pure Einfachheit und pures Einerlei wäre dann ein ebensolcher Grenzfall wie pure Vielfachheit und pures Vielerlei, beides würde uns an den Rand jeglicher Ordnung bringen. An den Rand der Ordnung – das ist leicht gesagt. Welchem Zustand nähern wir uns an, wenn wir uns dem Rand der Ordnung zubewegen? Welches ist der Gegenpart der Ordnung, ein regelwidriger Zusammenhang, der durchaus noch verständlich und dessen Regelwidrigkeit behebbar wäre, oder ein regelloser Zustand, der in sich unverständlich wäre? Haben wir es, in Husserls Worten zu reden, mit Widersinn oder Unsinn zu tun? Nehmen wir das Beispiel der Sprache. Entspricht das Gesuchte einer fehlerhaften Lautfolge oder einer sinnlosen? Natürlich kann etwas, das bestimmten Regelungen nicht entspricht, anderen Regelungen folgen, z. B. denen einer anderen Sprache oder einer tierischen Lautgebung. Irgendeine Ordnung wird es immer geben, noch die Zufallsverteilung im Raum unterliegt statistischen Wahrscheinlichkeitsraten. Man werfe alle Bücher einer Bibliothek wahllos in einen Raum; die Chance, daß alle Autoren mit A oder dem Geburtsjahr 1908 sich in einer bestimmten Ecke versammeln, wird verschwindend gering, aber kalkulierbar sein. Nun sind Bücher keine austauschbaren Gaspartikel, sie laden zum individuellen Gebrauch ein, und eine Be-
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nützungsordnung, die den Gebrauch regelt, läßt sich aus solch statistischen Zahlenspielen nicht herleiten. Dennoch beschränkt sich die Regellosigkeit, die hier auftritt, auf eine relative Regellosigkeit. Dieser Ausweg steht solange offen, wie wir nach einer bestimmten Ordnung fragen; diese grenzt sich ab von anderen Ordnungen, seien sie gleichrangig, höherer bzw. niederer Stufe. Wie aber steht es mit der vielberufenen Ordnung schlechthin, heiße sie Kosmos, Schöpfungsordnung, Vernunft, Rationalität oder wie immer? Wovon grenzt ›die‹ Ordnung sich ab? Wonach richtet sich ›der‹ Vernunftgebrauch? Fragen wir so, so scheinen wir in ähnliche Schwierigkeiten zu geraten, wie wenn wir in der Sprache über sprachlose oder sprachfremde Erfahrungen verhandeln wollten. Wie in der Sage des Midas scheint sich alles alsbald in das Gold der Sprache zu verwandeln oder auch in das Gold des Bewußtseins, die Währungsart macht keinen großen Unterschied. Ähnlich also auch hier. Das Ungeordnete wäre das, was der Ordnung vorausliegt und zur Ordnung gebracht wird oder gebracht wurde. Man kann schwerlich auf die Annahme eines Zu-Ordnenden verzichten, ohne die Ordnung in eine pure Idee, in eine reine Möglichkeit zu verwandeln, die von einem konkreten Ordnungsgefüge, einer Ordnungsstruktur nichts übrigließe. Dennoch haben wir mit dem üblichen Einwand zu rechnen, der uns an nicht zu hintergehende Voraussetzungen gemahnt. Indem wir das Zu-Ordnende bereden, betrachten und behandeln, bewegen wir uns bereits im Rahmen einer Ordnung, dahinter können wir nicht zurück, es sei denn um den Preis der Bewußt- und Kopflosigkeit. Wir können, so wie Kant seinen Rousseau verstand, auf einen solchen Vorzustand zurücksehen, nicht aber auf ihn zurückgehen. Als Zurücksehende bleiben wir auf sicherem Boden, woher aber stammt die Beunruhigung, die den Blick zurücktreibt? Ist es die nachzitternde Angst der Davongekommenen und doch nicht endgültig Davongekommenen? Anders gesagt, liegt der Zustand des Ungeordneten wirklich zurück? Sind Vor und Zurück, Auf und Ab nicht selbst schon Schemata, mit denen Ordnungshüter sich wappnen, um mit der Stimme einer gefestigten Vernunft den »unartikulierten Schrei« zu übertönen? Will man nicht entschlossen zu der alten Konvertierbarkeit von ens, verum, bonum et unum zurück, so muß man sich die Frage stellen, was jeweils zur Ordnung gebracht wird und »was da geordnet vorliegt«. Das heißt, man muß unterscheiden zwischen einem Unordentlichen im Sinne des Regelwidrigen, das unter die binären Qualifikationsraster einer Ordnung fällt, und einem Regellosen diesseits solcher Ordnung, das wir unterscheidungshalber Ungeordnetes nennen. Wer diesen Unterschied unter dem Verdacht des Irrationalismus begräbt, endet bei
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einer geschlossenen Ordnung, er treibt wohl oder übel Metaphysik im alten Stil, und sei es eine à fond(s) perdu. Die Frage, wie man über das X sprechen soll, das der Ordnung entgegensteht oder ihr vorausliegt, beginnt damit allerdings erst. Jeder direkte Zugriff und jede zudringliche Rede läuft Gefahr, das Zwielichtige jeglicher Ordnung alsbald in künstliches Licht zu tauchen oder es lediglich zu beschwören. Diese Verlegenheit zwingt uns auf Seitenwege. In heuristischer Manier werden im folgenden mythische Deutungen, prähistorische Mutmaßungen, paläontologische Funde, literarische Suchspiele, Erfahrungsskizzen, kosmogonische Metaphern, abweichende Gesprächs- und Handlungskategorien aufgeboten, die uns auf verschiedenen Wegen an die Schwelle führen, wo sich etwas von sich aus als Zu-Ordnendes andeutet und abzeichnet. Ohne solche verstohlenen Seitenblicke über die Schwelle, ohne das Offenhalten solcher Perspektiven würden die Ordnungsmechanismen freien Lauf haben, einen Lauf, der nach dem Schwund übermächtiger Ordnungssubstanzen nur noch durch künstliche Materialbeschaffung vor dem Leerlauf zu bewahren wäre.
2. Unter Kronos und Zeus Bei Platon sind Ordnung und Unordnung noch eingelassen in kosmische Prozesse, in denen das Ganze sich ordnet und entordnet. Im Politikos (268 d-274 e), in dem es um die politische Herrschaftsordnung geht, erzählt Platon eine »große Geschichte«, wie man sie Kindern erzählt. Die Menschen leben in zwei sich abwechselnden Zeitaltern. Das eine, in dem der Mensch sich verjüngend rückwärts schreitet, steht unter dem Zepter des Kronos. Dieser nimmt den Menschen alle Sorge ab, so daß ihnen alles ohne Mühe, Krieg und wilden Zwist von selbst gedeiht, selbst die Fortzeugung, die ihnen die Erde abnimmt. In diesem Goldenen Zeitalter halten Menschen noch mit den Tieren Zwiesprache. »Wenn also die Pfleglinge des Kronos, da sie so vieler Muße genossen und auch des Vermögens, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren vernünftig redend (διὰ λόγων) zu verkehren, dies alles recht gebrauchten zur Philosophie in ihren Unterredungen mit den Tieren und unter sich, von jedem Wesen erforschend, ob es, im Besitz irgend eines besonderen Vermögens, etwas von den andern Verschiedenes wahrgenommen habe zur Vermehrung der Einsicht: dann ist wohl leicht zu entscheiden, daß die
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damaligen Menschen tausendmal glückseliger daran waren als die jetzigen. Wenn sie aber reichlich mit Speise und Trank gesättigt sich untereinander und den Tieren solche Geschichten erzählten, wie auch jetzt von ihnen erzählt werden: so ist auch so die Sache wenigstens nach meiner Meinung gar leicht zu entscheiden.« Ob diese Symbiose von Naturnähe und Vernunfteinsicht mehr ist als eine Projektion der Heutigen, läßt Platon offen.
Das Zeitalter des Zeus, in dem diese Geschichte vom Zeitalter des Kronos erzählt wird, bricht an, wenn der »Steuermann des Alls« den Griff des Ruders losläßt und die Welt ihrem eigenen Lauf überläßt, so daß sie nun alternd voranschreitet. Wohin? Zunächst bewirkt die »Freilassung«, daß das Körperliche, das zuvor in die Ordnung (ϰόσμος) eingebunden war, seine alte Unordnung (ἀταξία) zurückgewinnt. Mit der Welt im ganzen ist auch der Mensch nun sich selber überlassen. Er entdeckt seine Mängel gegenüber den Tieren, die nun zu ihrer Wildheit zurückfinden. »Denn von der Sorgfalt des uns beherrschenden und hütenden Dämons verlassen, erfuhren die Menschen, da die meisten Tiere von irgend rauherer Natur ganz verwildert, sie selbst aber schwach und schutzlos geworden waren, von diesen vielerlei Leides und waren in den ersten Zeiten völlig hilflos und kunstlos, weil die von selbst sich darbietende Nahrung ihnen ausgegangen und sich selbst welche zu verschaffen sie noch nicht kundig waren, indem keine Art des Mangels sie vorher dazu genötigt hatte.« An die Stelle der göttlichen Obhut treten göttliche Gaben, Feuer, Künste, Saaten und ähnliches, mit denen der Mensch auf eigene Füße kommt. Dies ist erforderlich, weil »die Obhut der Götter den Menschen fehlte und sie nun sich selbst führen und selbst für sich Sorge tragen mußten eben wie die ganze Welt (ϰόσμος), welche wir zu aller Zeit nachahmen ...«
Das Zeitalter des Zeus ist gezeichnet von Erkenntnis- und Herrschaftszuwachs und gleichzeitigem Ordnungszerfall. Erreicht die Zerrüttung einen Grad, wo die Gefahr droht, daß die Welt »gänzlich aufgelöst in der Unähnlichkeit unergründliches Meer (ἄπειρον πόντον) versinke«, so wirft der Gott, der die Welt als Kosmos eingerichtet hat, das Steuer herum, auf daß sie als unsterblich und alterslos wiederhergestellt sei. Und was, wenn der Gott die Welt definitiv sich selbst überläßt? Wenn kein Kreislauf das Verlorene wettmacht? Wenn Ordnung und Unordnung vermischt bleiben? Folgt daraus, daß der »redende Verkehr« mit der Natur notwendigerweise in ein zivilisatorisches Selbstgespräch umschlägt, aus dem alles Wilde ausgeschlossen bleibt bis hin zum Gesang
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der Sirenen, gegen den Sokrates den Gegenzauber seiner Rede einsetzt (Phaidros 259 a-b)?
3. Abgrund und Grundlegung Ein Sprung in die Neuzeit, und wir begegnen Kants Überlegungen zum Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte, einer nicht durchweg freundliche Landschaften durchstreifenden »Lustreise«, zu der er sich einer »heiligen Urkunde« als Karte bedient. Erster Schritt: »Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensreise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein. Auf das augenblickliche Wohlgefallen, das ihm dieser bemerkte Vorzug erwekken mochte, mußte doch sofort Angst und Bangigkeit folgen: wie er, der noch kein Ding nach seinen verborgenen Eigenschaften und entfernten Wirkungen kannte, mit einem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes; denn aus einzelnen Gegenständen seiner Begierde, die ihm bisher der Instinkt angewiesen hatte, war ihm eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl er sich noch gar nicht zu finden wußte; und aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück zu kehren.«
Was der vernünftigen Ordnung vorausgeht, ist nicht Unordnung schlechthin, sondern eine feste Ordnung, die den Lebewesen auferlegt ist. Hier gab es »noch kein Gebot oder Verbot, und also noch keine Übertretung«. Mit dem »Fall« aus dieser Ordnung tut sich ein gähnender Abgrund auf (gr.: Chaos): für einen Weltaugenblick gilt die natürliche Ordnung nicht mehr, die Vernunftordnung noch nicht. Der Mensch hat gleichzeitig mit einem Zuwenig an tragender Wirklichkeit und einem Zuviel an Möglichkeiten zu kämpfen. Mit der vernünftigen Grundlegung, die sich einen eigenen Boden schafft, schließt sich der Abgrund wieder. Oder wird er nur überdeckt? Was wird aus den überschüssigen Möglichkeiten? Kann es dem »nicht festgestellten Tier« wirklich gelingen, sich durch den Gebrauch der Vernunft auf höhere Weise festzustellen, oder bleibt hier ein Stachel an Möglichkeiten, den ihm keine Vernunft nehmen kann? Geht nicht das Junktim von Mangel und Überfluß verloren, wenn der Mensch einseitig als »Mängelwe-
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sen« bestimmt wird, ausgeliefert einer Not, die am Anfang kein Gebot und am Ende nur noch Gebote kennt? Ein letzter Schritt: Der Mensch begriff, »er sei eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was auf Erden lebt, könne hierin einen Mitwerber gegen ihn abgeben. Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte: ward er eines Vorrechtes inne, welches er, vermöge seiner Natur, über alle Tiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zur Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah ... Dieser Schritt ist daher zugleich mit Entlassung desselben aus dem Mutterschoße der Natur verbunden: eine Veränderung, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll ist, indem sie ihn aus dem harmlosen und sicheren Zustande der Kindespflege, gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieb und ihn in die weite Welt stieß, wo so viel Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warten.«
Herrschaft oder Dienstbarkeit – die Entlassung aus der Fürsorge der Natur und dem Dienst an ihr wird durch Herrschaft über die Natur wettgemacht, eines ist die Kehrseite des anderen. Was der menschlichen Vernunftordnung vorausgeht, sinkt herab zum Mittel und Material, nachdem der »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit« vollzogen ist. Den Mitteln der Natur bleibt nichts anderes übrig, als durch Gefährdung und Mühsal hindurch ein gewisses Eigengewicht zu behaupten, »bis vollkommene Kultur wieder Natur wird«, doch dieses »letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung« betrifft eine zweite Natur, die die erste unterworfen und nicht aufgesogen hat. Unterworfene bleiben gefährlich, so daß es mit dem mutmaßlichen Ende seine Weile hat.
4. Verzweigte Evolution Ein weiterer Sprung führt uns in die paläontologische Spurenlese, die sich unterhalb mythischer Vorstellungen und heiliger Urkunden eingräbt. Doch was die Schaufel zu Tage fördert, läßt weder auf einen mythischen Kreislauf noch auf eine lineare Fortentwicklung schließen. Folgen wir der summarischen Darstellung von André Leroi-Gourhan,
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der unter dem Titel Le geste et la parole die Entwicklung von Technik, Sprache und Kunst nachzeichnet (dt. 1984), so sprechen Fossilfunde der letzten Jahrzehnte nicht nur im Reich des Lebendigen, sondern auch im Bereich des Menschlichen für eine »verzweigte Evolution« (44), die im eigentlichen Sinne mehr ist als eine bloße Ent-wicklung oder Ent-faltung dessen, was bereits angelegt ist. An den Knotenstellen treten »Optionen« auf, die etwa in der Tierwelt zur Gabelung in Läufer und Greifer, in Wasser- und Landbewohner führt, ohne daß die einen Vorstufe der anderen wären (72). Somit läßt jeder Fortgang Möglichkeiten offen und steigert sich nicht zu einem eindeutigen Fortschritt, der unter sich läßt, was er hinter sich bringt. Ähnlich beim Menschen. Die »Legende vom Affenmenschen«, die der Suche nach einem missing link innerhalb eines nicht abreißenden chain of being entspringt, erweist sich als haltlos, wenn bereits die ›ersten Menschen‹ keine halbgefesselten, sondern bereits nicht festgestellte Tiere sind. »Das Bild dieser ›ersten Menschen‹ stimmt fast überhaupt nicht mehr mit dem überein, was zwei Jahrhunderte philosophischen Denkens im Menschen zu sehen gelehrt haben. Die Tatsachen zeigen, daß der Mensch nicht ... eine Art Affe ist, der sich langsam verbessert, die majestätische Krönung des paläontologischen Gebäudes, sondern, sobald er zu fassen ist, bereits etwas ganz anderes als ein Affe. In dem Augenblick, da er uns erscheint, bleibt ihm noch ein langer Weg zurückzulegen, aber diesen Weg wird er weniger in der Richtung der biologischen Evolution zurücklegen als in Richtung auf die Befreiung von seinem zoologischen Rahmen – in einer völlig neuen Organisation, bei der die Gesellschaft fortschreitend an die Stelle des phyletischen Stromes tritt.« (152)
Die Befreiung des Kopfes, der Hand und des Gehirns, die sich im aufrechten Gang anbahnt, führt beim Menschen zu einer Entspezialisierung der Organe, die in der Fähigkeit zu einer nahezu unbegrenzten Generalisierung kulminiert. »Weder seine Zähne noch seine Hände, noch sein Fuß, noch endlich sein Gehirn haben jenen hohen Grad der Perfektion erreicht, den das Gebiß des Mammut, Hand und Fuß des Pferdes und das Gehirn mancher Vögel gewonnen haben; so blieb er zu beinahe allen möglichen Handlungen fähig, kann praktisch alles essen, er kann laufen, klettern und das unglaublich archaische Organ, das in seinem Skelett die Hand darstellt, für Operationen einsetzen, die von einem nur in der Generalisierung überspezialisierten Hirn gelenkt werden.« (155)
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Daß hiermit nicht nur Mängel wettgemacht werden, zeigen die ersten Zeugnisse ästhetisch-religiöser Art, die zwei zentrale Reaktionsweisen erkennen lassen: »Reaktionen auf den Tod« und »Reaktionen auf ungewöhnliche Formen« (140). Welchem physischen Mangel sollte ein Totenkult abhelfen, der nicht den Sterbenden, sondern den bereits Verstorbenen bzw. der Kohäsion der Gruppe gilt? Ginge es nur um das Überleben, um den »biologischen Erfolg«, so wäre die Qualle in ihren gleichbleibenden Anpassungsleistungen dem Menschen durchaus ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen (48). Doch Leistungen von Hand und Kopf, die über die Erfordernisse puren Überlebens hinausschießen, geraten ins Feld von Vieldeutigkeit und Ambivalenz. Schlichte Geräte wie der Faustkeil oder ein Sessel zeigen bei aller Funktionalität einen Formenüberschuß und einen dekorativen Überschwang, der es ausschließt, daß technische Erfindungen in eine perfekt mechanische Formel einmünden. Es bleibt stets eine gewisse »funktionelle Plastizität« und eine »Hülle des Stils« (374), deren partikularisierende Wirkungen dazu führen, daß das ›Ästhetische‹ allgegenwärtig ist. »Noch die reinste Kunst ist stets in tieferen Schichten verankert, sie taucht nur mit der Spitze aus jenem Sockel von Fleisch und Blut hervor, ohne den sie nicht wäre.« (342)
Was die Entwicklung der Sprache angeht, so lassen prähistorische figurale Darstellungen Spuren eines graphischen Ausdrucks erkennen, dessen mehrdimensionale Bildlichkeit noch nicht der Linearität der Schriftsprache untergeordnet ist. Die Linealisierung der Symbole, die deren Verfügbarkeit steigert, bedeutet zugleich eine Verarmung an Ausdrucksmitteln (264). Diese Entwicklung der Sprache redupliziert einen Triumph der Technik, dessen ambivalente Wirkung mehr und mehr zutage tritt. Die Exteriorisierung der Leistungen von Hand und Kopf, die den Organismus entlastet und seine Überspezialisierung steuert, führt gleichzeitig zur »Regression« (320) von Hand und Hirn, die in ihren Leistungen von Maschinen und Elektronengehirnen überflügelt werden. Diese unabdingbare Auslagerung von Funktionen, die in alle Lebensbereiche eingreift, schließt aus, daß man die Technisierung in den unteren Stockwerken einer sich vervollkommnenden Kultur ansiedelt. Die Ambivalenz, die sich in der Verquickung von Schöpfung und Zerstörung bekundet (234), reicht zurück bis in die Anfänge der Kultur. Eine Domestizierung, die einem »Gleichklang zwischen Raubtier und Mensch« (205) abgerungen wurde, endet wohl kaum bei reiner Hausmusik. Wenn aber die Entwicklung des homo sapiens zu wünschen
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übrig läßt, dann bleibt Raum für ›Katastrophen‹ in dem schillernden Sinn, den René Thom diesem alten Wort zurückgegeben hat.
5. Sichtbare und unsichtbare Städte Eine der frühesten Erfindungen der Menschheit ist die Stadt, und die verzweigte Entwicklung der Stadtkultur kann als Gradmesser dienen für die Vielgestaltigkeit und Ausgesetztheit der menschlichen Ordnung. Die Stadt, die von altersher als Zufluchts- und Vorratsstätte diente, soziale Integration und öffentlichen Austausch ermöglichte, in einer Art von »Nabelfunktion« das Zentrum des Universums symbolisierte und bis heute in seiner geographischen Anlage und Ausrichtung einen »kosmischen Reflex des Universums« bewahrt, ist in den beiden letzten Jahrhunderten unter den Druck der Industrialisierung geraten und in einer Auflösung begriffen, die durch Verkehrs- und Kommunikationsnetze nur notdürftig aufgefangen wird. Wenn wir der Langzeitperspektive des Paläontologen folgen, so droht die Humanisierung und Domestizierung von Raum und Zeit, die stets einen Bezug aufrechterhielt zwischen humanem Territorium und »wildem Universum«, in eine »Überhumanisierung« auszuarten mit einer überorganisierten Megalopolis als Horrorvision (Leroi-Gourhan 1984, Kap. XII). Der Wucherung imperialer Herrschaft, einstmals personifiziert in der Gestalt des Kaisers, setzt Italo Calvino die listige Städtephantasie eines berühmten Entdeckungsreisenden entgegen. »Nur bei den Berichten Marco Polos vermochte Kublai Khan durch die zum Einsturz bestimmten Mauern und Türme hindurch das Filigran einer Anordnung zu erkennen, die so subtil ist, daß sie dem Biß der Termiten entgeht.«
Städte, die man vom Sagen und Sehen zu gut kennt, unterhöhlt der Entdecker durch unsichtbare Zwillingsstädte, die sich in der Andeutung halten. So im Falle der Stadt Aglaura, wo Exzentrisches gewohnt, Absonderliches normal geworden ist. »Wollte ich dir also Aglaura auf das hin beschreiben, was ich selber gesehen und erlebt habe, dann müßte ich dir sagen, daß es eine farblose Stadt ohne Charakter ist und einfach so dahingestellt. Doch auch das würde nicht stimmen: Zu gewissen Stunden und in gewissen Straßenabschnitten siehst du, wie sich vor dir die Vermutung auftut zu etwas Unverwechselbarem,
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Seltenem, vielleicht Großartigem; du möchtest sagen, was es ist, doch all das, was bisher über Aglaura gesagt wurde, hält die Worte gefangen und zwingt dich, wiederzusagen statt zu sagen.«
Dem Befangensein im Gesehenen und Gesagten rückt der Autor nicht mit einem Modellversuch zu Leibe, sondern mit zweien, die sich narren wie Spiegelbilder. »›Von nun an werde ich die Städte beschreiben‹ hatte der Khan gesagt. ›Du wirst bei deinen Reisen feststellen, ob es sie gibt.‹ Aber die von Marco Polo besuchten Städte waren stets anders als die vom Kaiser erdachten. ›Und doch habe ich in meinem Geiste ein Stadtmodell konstruiert, von dem sämtliche möglichen Städte abzuleiten sind‹, sagte Kublai. ›Dieses enthält alles, was der Regel entspricht. Da die existenten Städte sich in unterschiedlichem Maße von der Regel entfernen, brauche ich nur die Ausnahmen von der Regel in Betracht zu ziehen und die wahrscheinlichsten Kombinationen zu errechnen.‹ ›Auch ich habe mir das Modell einer Stadt ausgedacht, von dem ich alle anderen ableite‹, erwiderte Marco. ›Es ist eine Stadt, die nur aus Ausnahmen, Ausschließungen, Gegensätzlichkeiten, Widersinnigkeiten besteht. Wenn eine solche Stadt das Unwahrscheinlichste ist, was es gibt, so erhöhen sich bei zahlenmäßiger Verringerung der abnormen Elemente die Wahrscheinlichkeiten, daß die Stadt wirklich besteht. Ich brauche also bei meinem Modell nur Ausnahmen zu subtrahieren und habe dann, gleichgültig, nach welcher Reihenfolge ich vorgehe, eine von den Städten vor mir, die, wenn auch stets als Ausnahmeerscheinung, existieren. Doch kann ich mein Unterfangen nicht über eine bestimmte Grenze vorantreiben: Ich würde Städte erhalten, die zu wahrscheinlich sind, um wahr zu sein.‹«
Mit der ironischen Pointe einer Überwahrscheinlichkeit läßt der Autor seinen Entdecker dafür sorgen, daß der Spalt zwischen Zu-Ordnendem und Geordnetem sich nicht schließt. Es genügt etwas Sand im Getriebe des Regelwerks: das Wahre ist nie ganz wahrscheinlich (Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte).
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6. Schwellenerfahrungen »Rites de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist. (Aber damit auch das Erwachen.) Und schließlich wogt wie der Gestaltenwandel des Traums über Schwellen auch das Auf und Nieder der Unterhaltung und der Geschlechterwandel der Liebe [...] Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ ... « (Walter Benjamin, Passagen-Werk 1, 617 f.)
Schwellenerfahrungen gibt es mancherlei Art. Sie treten mehr oder weniger markiert und ritualisiert dort auf, wo ein Lebens- oder Erfahrungsbereich in einen anderen übergeht wie bei Wachen und Schlafen, Gesundheit und Krankheit, bei Lebensabschnitten oder einschneidenden Erfahrungen, schließlich bei Leben und Tod. Gewisse Merkmale scheinen sich durchzuhalten. (a) Die Schwelle ist keine scharfe Grenzlinie, die man zieht und die man in der einen oder anderen Richtung nach Belieben überschreitet, sondern sie markiert eine Scheidezone von bestimmter ›Breite‹, die man zögernd betreten und auf der man wartend verweilen kann wie auf einer Hausschwelle. Die räumlich markierte Schwelle liefert den Stoff für eine reiche »Schwellensymbolik«, so das Verlassen eines Raumes und das Betreten eines anderen, Abreisen, Heimkommen, Trennung von einem Begleiter, Eintauchen in Wasser und ähnliches mehr, eine Symbolik, in der das Erwachen selbst in den Traum hineinragt (Freud, Traumdeutung, G. W., Bd. II/III, S. 508 f.). Darüber hinaus sind auch im Wachzustand Kommen und Gehen von Begrüßungs- und Verabschiedungsritualen umrankt, die selbst in der profanen Form »kleiner Pietäten« (Goffman 1974, 98) den Eindruck hinterlassen, es gehe darum, Auftauchendes ans Licht zu geleiten und Versinkendes zurückzuhalten. Schwellenerfahrungen verbinden sich also mit Übergangserlebnissen wie Einschlafen und Erwachen, Erkranken und Genesen, Heranwachsen und Altern, Fortgehen und Hingehen, Eintreten und Austreten oder Abschied und Begrüßung. Sie alle vollziehen sich in der Dämmerung eines gewissen Wartezustandes, der sich zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht ausbreitet.
SCHWELLENERFAHRUNGEN
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(b) Ungeachtet aller Übergangserlebnisse und Übergangsriten gibt es keine »Übergangs-Synthese«. Zwischen einer »Sinnprovinz« und einer anderen liegt ein Sprung, und das Zögern auf der Schwelle ist gerade ein Zögern vor dem Sprung. Übergangsriten dienen dazu, diesen Sprung deutend zu erleichtern. Von einem Sprung über eine Kluft hinweg sprechen wir insoweit, als es keine tragende Ordnung gibt, die beide Bereiche umschließt und übergreift, und insofern, als kein identisches Etwas und kein identischer Jemand zu finden ist, das und der hinüber- und herüberwandert nach identitäts- und kontinuitätsverbürgenden Regeln. Dementsprechend verbindet sich mit manchen Übergangsriten ein Namenswechsel, und um in der räumlichen Vordergrundsebene zu bleiben: Japaner sprechen nicht von eigener oder fremder, sondern von innerer oder äußerer Frau. Ob derartige sprunghafte Erfahrungen auf einer höheren Ebene überbrückt werden können, ob es Identitätsausweise gibt, die einen ungehinderten Wechselverkehr gestatten, mag vorerst offenbleiben. (c) Was in der Schwellenerfahrung jenseits der Schwelle auftaucht, ist nicht einfach draußen, sondern es drängt mehr oder weniger heftig über die Schwelle, verlockend oder beängstigend. Die Schwelle ist ein Einzugsbereich, selbst wenn sie sich zur Barriere auswächst, und was diesseits oder jenseits einer spezifischen Schwelle liegt, kann sich auf andere Weise Zugang verschaffen, so wie ein Schall geringer Frequenz allmählich in Vibrationsempfindungen und ein Schall übergroßer Frequenz in Schmerzempfindungen übergeht, von den Verkleidungskünsten der Traumsprache ganz zu schweigen. Die Schwellenerfahrung bekundet sich in Schlafanwandlungen, Todesahnungen, Liebesverlangen, in Frühlingserwachen und Herbstgefühl, in Heimweh und Fernweh oder in Berufs- und Zukunftsangst. Über die Schwelle hinweg sind wir dem ausgesetzt, was heraufflutet. (d) Zur Schwellenerfahrung gehört schließlich eine gewisse Asymmetrie. Das Diesseits und das Jenseits der Schwelle sind keine reversiblen Standortbereiche, die man nach Belieben vertauschen könnte. Immer gibt es einen Vorzugsbereich, von dem aus die Schwelle selbst überschritten wird, und einen Schattenbereich, aus dem das Verbotene, Beängstigende und Gefährdende heranströmt. Der »Knabe im Moor« wird von Gespenstern gejagt, bis er an der Scheide steht und vom gründenden Boden aus aufatmend zurückblicken kann: Tief atmet er auf, zum Moore zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre war’s fürchterlich, O, schaurig war’s in der Heide.
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Diese Asymmetrie zwischen Diesseits und Jenseits der Schwelle bekundet sich darin, daß noch das unschuldig scheinende Linke ins Sinistre und Linkische hinüberspielt. Schwellenerfahrungen spotten jeden Gleichgewichts. Diese Asymmetrie, die es ermöglicht, daß wir wachend über Wachen und Traum, lebend über Leben und Tod, altersklug über Jugend und Alter sprechen und nachsinnen, ist vielleicht die entscheidende Einfallspforte für den illusionären Anspruch, man könne sich dessen, was jenseits der Schwelle liegt, von sicherem Boden aus bemächtigen. Wie anders kann der Träumende auf einen solchen fremden Zugriff antworten, als indem er erwacht? Ist am Ende selbst die Traumdeutung ein Pyrrhussieg? Eine Einschläferung der Vernunft würde hier nicht weiterhelfen, wohl aber eine Wachsamkeit, die an der eigenen Wachheit rüttelt, sofern diese Erfahrungen zudeckt. Auch wenn wir den emphatischen Titel der Schwellenerfahrung dem Übergang eines Lebens- oder Erfahrungsbereichs in einen anderen vorbehalten, so reicht das Phänomen der Schwelle mit seinen kennzeichnenden Eigenschaften in den Bereich alltäglicher Erfahrungen hinein, und es ist keineswegs erhaben über die Empfindungsschwellen, die wir aus der Sinnesphysiologie kennen, und über die Hemmschwellen, von denen die Verhaltenstheoretiker sprechen. »Insofern eine jede Empfindung streng genommen die erste, letzte und einzige ihrer Art ist, ist auch jede Empfindung eine Geburt und ein Tod« (MerleauPonty 1966, 253). Wäre Prousts Bergotte so intensiv auf die Suche gegangen nach diesem »petit pan de mur jaune« in Vermeers Anblick von Delft, wenn die Sinne nur Material lieferten für eine Tätigkeit des Geistes? Fremdartiges kann durch alle Poren eindringen, beflügelnd oder lähmend, und beides wohnt oft eng beieinander. Wir sollten Stimulus und Reiz neu gewichten lernen, denn registrieren können Maschinen sie auch.
7. Kosmogonische Metaphern und Modelle Die Metaphorik des Ordnens oder Sichordnens, die unsere vertrauten philosophischen Theoreme und auch unsere wissenschaftlichen Modelle durchdringt, bildet eine Pufferzone zwischen Mythos und Logos. Aus dem immensen Reichtum an Motiven greife ich nur einige wenige heraus, angeleitet von der Frage, wie hier, wo es um die Entstehung umfassender und grundlegender Ordnungen geht, das Zu-Ordnende und Ungeordnete jeweils zur Sprache kommt. In vielen Fällen handelt es sich um Entwürfe eines geordneten Weltalls, eines Kosmos, der sei-
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nem ursprünglichen Wortsinne nach Schmuck und Ordnung bezeichnet. Indem Kosmogonien und Kosmologien mit innerweltlichen Modellen arbeiten, entgehen sie der Sprachlosigkeit, die sich bei einer direkten Redeweise einstellt. Auffällig ist eine bestimmte Einseitigkeit, die sich an diesen Modellen zeigt. Ein erstes Register umfaßt Modelle der Herstellung, die einen Ordner als Wirkursache voraussetzen. Der Hersteller kann als Handwerker auftreten, so der Bildner, der eine Materie formt, vom kompakten Lehm bis zur sublimeren Hyle des Bewußtseins; der Architekt, der aus Bausteinen einen fundierten Bau errichtet und dessen Konstitutionsleistungen bis zur Architektonik der Vernunft reichen; der Maschinenbauer, der Einzelteile montiert, ankoppelt und abkoppelt und – falls er dies nicht einem gesonderten Beweger und Lenker überläßt – die Maschine in Gang bringt oder aufzieht wie ein Uhrwerk. Daneben gibt es Hersteller-Figuren, die sich weniger die Finger schmutzig machen, so der Grenzzieher, der mit priesterlicher Gebärde den Horizont aufteilt, eine Landnahme mit der Aufteilung in Felder, Böden und Gebiete besiegelt bis hin zu den Feldern eines Gitterkästchens; der Feldherr, der wie der ϰοσμήτωρ Agamemnon (Ilias I, 16) über das Heer befiehlt und der durch Aufstellung der Heeresteile eine Schlachtordnung (τάξις) entwirft; der Gesetzgeber, der ziellosen und antagonistischen Kräften und Bewegungen ein Gesetz auferlegt, denen jene sich nur um den Preis eines erneuten Chaos entziehen können; schließlich der Gubernator, der steuernd und regierend in das Geschehen eingreift. Der Demiurg in Platons Timaios, der göttliche Feldherr in Buch XII der Aristotelischen Metaphysik, der Uhrmacher in Leibnizens Monadologie und, ins Unpersönliche gewendet: die Vernunft als Gesetzgeberin oder ein transzendentales Bewußtsein als Konstitutionszentrum – das sind prominente Beispiele solcher Modellbildungen. Für die Beschaffenheit der Denkfiguren, die sich in dieser Metaphorik abzeichnen, ist es nicht entscheidend, ob die Herstellung einem Gott, einer Koalition aus Gott und Mensch, dem Menschen oder einer anonymen Instanz anvertraut wird. Durch metaphorische Webfäden ist so manches moderne Begriffsmuster hinterrücks an Voraussetzungen geknüpft, die es offiziell bestreitet. Ähnliches gilt für ein zweites Register, das Modelle eines Erwachsens von Ordnung anbietet. Das Sichordnen läuft hier mehr oder weniger spontan ohne Ordner ab, sei es als Emanation aus einer überfließenden Quelle, als allmähliche Entfaltung oder Entwicklung eines Unentfalteten oder als plötzliches Auftauchen einer neuen Ordnung aus den Schlacken einer alten.
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Beiden Registern sind biologische Modelle beigegeben, den Herstellungsmetaphern das der Zeugung oder Erzeugung durch den Vater, den Entstehungsmetaphern das der Geburt aus dem Schoß einer Mutter, zumeist einer Mutter Natur bis hin zur Materie als mater formarum oder als Matrix. Nun also unsere Frage: Wie kommt das Zu-Ordnende oder Ungeordnete jeweils zur Sprache? Um mit den weniger interessanten Entstehungsmodellen zu beginnen, hier ist die Ordnung derart nahtlos in den Dingen verankert, daß der Selbstentfaltung im eigentlichen Sinne nichts vorausgeht, sie muß nur zutage treten, sich entfalten. Was dieses Nur bedeutet, ist allerdings schwer zu sagen. Wird der kontinuierliche Entwicklungszug durch emergente Neuformationen durchbrochen, so haben wir dieselbe Ordnung in den Dingen, nur vervielfacht; zu ordnen ist auch hier eigentlich nichts – es sei denn, die Neugestaltung stellt sich dar als Umgestaltung, doch dann ist sie mehr als reine Emergenz. Aufschlußreicher ist die Reihe der Herstellungs-Modelle. Hier handelt es sich in der einen oder anderen Form um eine Fremdgestaltung. Das Woraus der Herstellung gibt dieser eine dualistische Note, so daß sich ein winziger Spalt öffnet zwischen der Ordnung und ihrem Widerpart. Das gilt selbst dann, wenn sich das Woraus zu einem »aus dem Nichts« verflüchtigt; denn eine Leerstelle reicht nicht aus, um ein Schema zu revidieren. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß das Ungeordnete durchweg der Ordnung als negative Folie dient, es erscheint als amorph, roh, verworren, zufällig, gewaltsam, also in einem Zustand, der von der Ordnung alles zu erwarten hat, dem kein Einspruch und keine Mitrede eingeräumt ist. Das Chaos erscheint hier als hypostasierter Gegenpart der Ordnung. Mit dem Chaos läßt sich vielleicht liebäugeln, aber nicht verhandeln, und was nicht brauchbar ist, zählt zum kosmischen Müll. Damit hängt zusammen, daß die entscheidende Achse des Ordnens die Vertikale ist, sei es, daß einer unförmigen Masse eine Form aufgeprägt wird, sei es, daß Teile zu einem Ganzen verknüpft, sei es, daß zufällige Tatsachen oder konfligierende Kräfte einem Gesetz unterworfen werden. Diese Vertikale bestimmt umgekehrt auch die Entstehungs-Metaphern: etwas taucht auf, dringt ans Licht. Weder im Falle der Selbstentfaltung noch im Falle der Fremdgestaltung gibt es einen Mitspieler, der in der Horizontalen begegnet. Da das Ganze und Oberste den Fluchtpunkt des Ordnens bildet, bedeutet das Ordnen schließlich primär Einordnen und Unterordnen, was zur Folge hat, daß die Ordnung auf eine geschlossene Form hintendiert. Diese kann wie Kants System der Erkenntnis »zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem)
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wachsen, wie ein tierischer Körper...« (KrV B 861, Hervorhebung B. W.). Unser Einwand besagt nicht, daß diese vertikalen Ordnungsschemata ohne Erschließungskraft und unbrauchbar wären, er besagt nur, daß eine derartige Ordnungsmetaphorik bei exklusiver Anwendung dahin führt, daß die bestehende Ordnung ihr Entstehen verleugnet und sich in sich selbst abkapselt: das Ungeordnete verschmilzt mit dem Unordentlichen. Ordnung, verstanden als geregelter Zusammenhang zwischen diesem und jenem, legt uns aber keineswegs auf ein solch vertikales Ordnungsdenken fest. In der Tat gibt es weitere Metaphern-Reihen wie die der Namensgebung und die des Spiels, wo es durchaus Adressaten und Mitspieler gibt. Selbst bei den Automaten und Maschinen liegt seit Dädalus’ wandelnden Statuen die Pointe darin, daß etwas geschaffen wird, das aufgrund einer inszenierten Selbstbewegung eine Eigendynamik entwickelt. Und selbst in Platons mythischer Weltentstehung siegt der Nus nicht gewaltsam, sondern wendet das Mittel »besonnener Überredung« an, um sich die Notwendigkeit zu unterwerfen (Timaios 48 a). Umgekehrt kann die Namensgebung selber Züge der Herrschaft annehmen, so etwa in Hobbes’ politisch getönter Weltordnung (De Homine, Kap. X), und der Mensch kann sich mit Platon fühlen als »Spielzeug der Götter« (Nomoi 803 b), oder er kann herabsinken zur Figur in einem kosmischen Hasardspiel. Wir brechen hier den Streifzug in das Reich der Metaphern ab, gewarnt vor allzu geschlossenen Formationen, die das, was geordnet wird, einer umfassenden Ordnung einzuverleiben trachten, so daß am Ende nicht mehr viel über die Schwelle herüberdringt. In solchen Fällen tut ein anderer Anfang not.
8. Offene Anknüpfung im Gespräch Gehen wir von den kosmogonischen Metaphern und Modellen zurück auf die Ebene menschlichen Redens und Handelns, so ist nicht ohne weiteres zu erwarten, daß die zur Geschlossenheit tendierenden Ordnungskonzeptionen verschwinden. Im Gegenteil, die gewohnten Spiegelungen zwischen Kosmologie und Anthropologie lassen eher eine korrespondierende Ordnungsstruktur erwarten. Für eine Revision, die auf offene Ordnungsformen abzielt, empfiehlt es sich daher, Querwege einzuschlagen, um die eingeübten Kategorien mitsamt ihrem metaphorischen Nährstoff in Bewegung zu bringen. Wenn es so ist, daß die
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vertikal angelegten Ordnungsmetaphern durchweg ohne Mit- und Gegenspieler auskommen, so legt es sich nahe, auf Phänomene zurückzugreifen, wo Mit- und Gegenspieler unumgänglich sind. Das gilt für das Gespräch, dessen bewegliches Ordnungsgeschehen quer verläuft zu den klassischen Ordnungsachsen. Möglicherweise eröffnen sich von daher Ausblicke, die über das bloße Gespräch hinausführen. Wenn es in den klassischen Ordnungsformen um einzelnes geht, so gewinnt, wie unsere metaphorischen Beispiele illustrieren, das Zusammenstellen, Zusammenfügen, Zusammenbauen eine zentrale Funktion, und zwar ein Zusammenstellen, das selber bestimmten Ideen, Regeln oder Gesetzen folgt und auf ein Ziel ausgerichtet ist. Bildner, Befehlshaber, Gesetzgeber und Steuermann arbeiten vielfach Hand in Hand, Ordnung und Verordnung wohnen dicht beieinander. Variabel ist innerhalb dieser Perspektive nur die Art und die Herkunft des Zusammen. Ist das Band (δεσμός) bei Platon in den Kosmos eingewoben als wohlproportioniertes Verhältnis der Teile untereinander (Timaios 31 c), so wird mit dem neuzeitlichen Zerstäuben des Kosmos in Einzeldinge und Einzelvorgänge dieses Band zu einem heiklen Problem. Hume begnügt sich mit assoziativen Mechanismen und Gewöhnungen, um von atomaren Empfindungen zu zufälligen conjunctions und schließlich auf recht problematischem Wege zu notwendigen connections zu gelangen. Kant sieht in diesem bloßen Aufsammeln von Einheitsbildungen den Ruin jeder vernünftigen Ordnung und entzieht die »Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt« den Sinnen und weist sie der Selbsttätigkeit des Subjekts, dem transzendentalen Nachfahren des kosmologischen Demiurgen zu (KrV B 129 f.). Interessant ist an dieser Kurzgeschichte, daß der geregelte Zusammenhang jeweils über eine übergeordnete Instanz läuft, sei diese einheitsstiftend oder nur einheitsfindend. Der Rest heißt in Platons Kosmologie »tonwidrige und ordnungslose Bewegung« (Timaios 30 a), bei Kant »Aggregat« oder »Rhapsodie« (KrV B 860) oder gar »rohes chaotisches Aggregat« (V, 186), und Humes Empfindungen sind allzu ungesellig, um von sich aus eine Beigesellung zu erreichen: Was kann ein Schirm dafür, daß er neben einer Madonna steht? Zugegeben, Hume könnte auch auf andere Wege bringen, wenn man ihn etwa mit den Augen von Virginia Woolf läse, als Anwalt nicht einer atomisierten, sondern einer splittrigen Welt von Empfindungen, die im Einzelfall wechselnde Anschlüsse zulassen. Um das eingeschworene Zusammenspiel von Einheit hier und Mannigfaltigkeit dort zu durchkreuzen, hilft vielleicht der Rückgriff auf die schlichte Abfolge von Äußerungen im Gespräch. Hier ergibt eine Äußerung die andere, und besonders deutlich wird der Zusammen-
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hang in der Aufeinanderfolge von Frage und Antwort. Diese Anknüpfung läßt sich als spezifische Form eines Zusammenhangs betrachten, der eine offenere Form der Regelung erzwingt. Eine Frageäußerung ist ein interlokutionäres Ereignis, ein Ereignis bemerkenswerter Art. Es ist ein Ereignis, das in sich selbst nicht zur Ruhe kommt, sondern auf die Antwort als ein anderes Ereignis abzielt, ohne dieses selber herbeizuführen. Dabei handelt es sich nicht um eine nach bloßen empirischen Gesetzen ablaufende Sequenz von Vorkommnissen, die nach Art von Ursache und Wirkung verknüpft sind; denn ob eine Äußerung der anderen entspricht und somit eine gelungene Antwort ist, entscheidet sich nicht an der Regelmäßigkeit ihres faktischen Auftretens. Umgekehrt handelt es sich auch nicht um eine nach logischen oder axiologischen Gesetzen sich ergebende Konsequenz von Redeschritten; denn ein Schlußsatz etwa ist keine Antwort auf die Vordersätze, selbst wenn der Syllogismus mit verteilten Rollen gesprochen wird, und eine Erwiderung ist, pragmatisch gesehen, ebenfalls keine pure Gesetzesbefolgung. Und warum nicht? Weil eine Frage, von bestimmten Sonderfällen abgesehen, mehr als eine Antwort zuläßt, und selbst wo die Antwort auf Ja oder Nein reduziert ist, bleibt noch die Möglichkeit, einer Antwort auszuweichen oder sie zu verweigern, gegebenenfalls mit Gründen. Es braucht nicht erst eine Unendlichkeit von Möglichkeiten sein, vor denen Kant den ersten Menschen schaudern sieht, es genügt eine endliche Anzahl von Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, ohne daß eine schlechterdings bevorzugt wäre. Wer a sagt, muß nicht b sagen, ohne daß er deswegen Beliebiges sagen könnte. Zur Charakterisierung dieser merkwürdigen Zwischenlage, die sich der Dichotomie anspruchsfreier Tatsachen und kontrafaktischer Ansprüche entzieht, möchte ich, wie schon in einem früheren Zusammenhang (SV 297), von situativen oder kontextuellen Ansprüchen reden. Was kann in diesem Zusammenhang Anknüpfung besagen? Von einer gegebenen Mannigfaltigkeit, die durch Verknüpfung in Ordnung gebracht wird, kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil eine Äußerung sich erst aus einem Äußerungsfeld herausheben muß, um als solche aufzutreten. Dieses Sichherausheben und Sichabheben ist ein Differenzierungsgeschehen, das der Einschaltung von synthetisierenden und koordinierenden Mechanismen vorausgeht. Doch an dieser Stelle kommt es vorerst auf das an, was weiter geschieht, wenn das Ereignis der Frage als korrespondierendes Ereignis eine Antwort sucht und findet. Dem Zusammenhang, der sich hier bildet, gilt mein Augenmerk. (a) Als erstes fällt auf, daß die Bindung hier nicht von einem Dritten ausgeht, von einer übergeordneten Instanz, die eine gegebene Man-
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nigfaltigkeit verknüpfen würde; der Zusammenhang bildet sich unmittelbar zwischen den Gliedern der Ereigniskette. Die Antwort wird zunächst nicht in Bezug gesetzt zu etwas anderem, sondern sie ist die Beziehungsaufnahme oder Beziehungsfortsetzung selber. Das Gespräch gleicht dem Entrollen eines Teppichs und nicht der Betrachtung eines Teppichmusters. Natürlich läßt sich die Frage auf vielfache Weise mit der Antwort vergleichen, doch wer dies tut, antwortet selber nicht oder nicht mehr. Dem entspricht die intransitive Verwendung des Verbs ›anknüpfen‹; wenn ich irgendwo anknüpfe, so habe ich noch nichts, was ich im transitiven Sinne mit anderem verknüpfen könnte, es gibt nur ein Woran der Anknüpfung, sei es auf der Ebene des Sagens oder des Gesagten (vgl. lat.: sermonem nectere, engl.: to link up with oder franz.: lier conversation bzw. amitié avec). (b) Fragen und Antworten wie auch Reden und Hören stehen zueinander in einer asymmetrischen Beziehung. Das Fragen verhält sich zum Antworten nicht wie das Antworten zum Fragen. Darin gleicht diese Beziehung der Beziehung zwischen verschiedenen Zeit- und Raumdimensionen oder der Beziehung zwischen Vater und Sohn und nicht der Beziehung zwischen Geschwistern (deren Beziehung natürlich in vieler Hinsicht ebenfalls nicht symmetrisch ist). Gewiß kann ich Vater und Sohn als zwei Familienmitglieder, als zwei Deutsche oder zwei Menschen begreifen, doch damit schwindet die spezifische VaterSohn-Beziehung. Man kann natürlich auch auf den möglichen Wechsel der Gesprächspartner, auf symmetrisch verteilte Redechancen und ähnliches hinweisen, doch durch diese Vereinheitlichungen kommt der spezifische Bezug nicht zustande. Sofern ich antworte, tue ich gerade nicht dasselbe wie der andere, der zuhört. Die Beziehung bleibt also asymmetrisch; auch auf der Bezugsebene selber rundet sie sich nicht zu einem Ganzen, in dem Ich-Du und Du-Ich als Bezugskomponenten einer vollendeten Wechselrede aufgehoben wären. (c) Endlich bleibt als dritte Möglichkeit, daß Frage und Antwort sich in einem Dritten finden, das sie gemeinsam zustande bringen, etwa einer theoretischen Einsicht oder einem gemeinsamen Plan. Doch auch diese dritte Form der Ganzheitsbildung scheitert daran, daß das Ereignis des Sagens nie völlig im Resultat des Gesagten aufgeht. Eine Frage mag beantwortet, eine Bitte erfüllt werden, damit ist die Fragestellung oder die Bittstellung als Ereignis nicht ausgelöscht, und sei es aus dem einfachen Grunde, weil die Frage auch andere Antworten zugelassen hätte und möglicherweise noch zuläßt. Jede Frage, die nicht bloß eine verordnete ist, gleicht einer Wunde, die nie völlig vernarbt.
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(d) Versteht man unter Verknüpfung die Verbindung von Einzelgliedern zu einem Ganzen, dem sie sich ein- oder unterordnen, so gibt es keine Verknüpfung von Frage und Antwort, sondern eine Anknüpfung mit offenen Anschlüssen. Aus dem gleichen Grunde zeichnen sich interlokutionäre Ereignisse durch eine Singularität aus, die nicht die eines subsumierbaren Einzelfalles oder eines partikularen Momentes ist, sondern die einer Konstellation mit Reihen, Ketten, Netzen, also mit durchlaufenden und sich verzweigenden Relationen und offenen Anschlußstellen. Diese Singularität hat ihre eigene Form der Allgemeinheit, die eine laterale, keine vertikale ist. Diese Form der Allgemeinheit kommt dadurch zustande, daß Anknüpfungen sich vervielfältigen, verzweigen, verflechten. Wenn man schon eine Spielkonstellation nicht adäquat bestimmen kann, indem man Einzelfiguren zählt und allgemein als Bauer oder Dame kennzeichnet, so kann man erst recht keine offene Gesprächssituation hinreichend erfassen, indem man Einzelereignisse auf empirische Regelmäßigkeiten zurückführt oder sie normativen Regelungen unterwirft. Auch die Singularität von Zwischenereignissen zeigt empirische sowie ideelle Züge, aber ihr spezifischer Zusammenhang kommt in dieser Kombination von Faktizität und Idealität nicht zur Geltung. Wenn es zutrifft, daß jede Anfrage ein Feld von Anknüpfungsmöglichkeiten eröffnet, also mehrere Antworten zuläßt und nicht nur eine, so tut sich ein Riß auf zwischen Anfrage und Erwiderung; denn keine Antwort erfüllt den situativen Anspruch voll und ganz, jede bleibt auf irgendeine Weise hinter ihm zurück. Dieser Riß verkörpert ein unüberwindliches Und von merkwürdiger Art, trennend und verbindend zugleich, weil eine gelungene Antwort zwar die Frageintention erfüllt, doch ohne die Erfüllungs- und Anknüpfungsbedürftigkeit zu beheben. Dieser Hiatus hat etwas von der Schwelle, die verschiedene Erfahrungsbereiche voneinander scheidet und aneinander bindet wie Licht und Schatten. Eine Frage, die völlig beantwortet wäre, brächte auch die Gesprächsquelle zum Versiegen. Wir wären mit der erschöpfenden Antwort bei uns zu Haus. Insofern ist der Hiatus zwischen Anspruch und Erwiderung auch eine Bedingung dafür, daß überhaupt von einem Zwischen, von Interlokution, Interaktion, Zwischenwelt und Zwischenreich gesprochen werden kann, wo sich etwas zwischen Sprechenden und Handelnden ereignet, was sich weder vom Einzelnen allein bewältigen, noch von einer übergeordneten Instanz steuern, noch in ein Ganzes integrieren läßt. Ohne die offene Form der Anknüpfung gäbe es dieses Zwischen nicht. Gleichzeitig ist es die Multivalenz der interlokutionären Ereignisse und der daraus resultierende Hiatus zwischen Anfrage und Erwiderung,
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was eine Regelung des Zusammenhangs, also eine Ordnung nötig macht, die notgedrungen einen selektiven und exklusiven Charakter annimmt. Stünde uns nur eine Anknüpfungsmöglichkeit offen oder stünden uns alle zugleich offen, hätten wir es mit den Extremfällen eines notwendigen Zusammenhangs oder einer völligen Zusammenhanglosigkeit zu tun, so gäbe es keine Alternative. Dem nicht festgestellten Tier ist weder das eine noch das andere gegeben, deshalb muß es Feststellungen treffen, wenn es sich nicht völlig dem Wechsel und der Laune des Augenblicks ausliefern will. In einer noch sehr formalen Weise können wir auf unsere Frage nach der Organisationsweise interlokutionärer Ereignisse wie Frage und Antwort eine erste Antwort geben. Die elementare Ordnungsleistung bestünde darin, daß die Anknüpfung an interlokutionäre Ereignisse durch Einführung selektiver Gesichtspunkte geregelt wird. Ungeordnete Anknüpfungen werden dem Raster des Geordneten und Unordentlichen unterworfen, so wie etwa Inzestschranken und Heiratsregeln den Geschlechtsverkehr in bestimmte Bahnen lenken. Solche Theorien, die einer umfassenden, alles verknüpfenden Gesamtordnung verpflichtet sind, tendieren dahin, alle relevanten Ereignisse eindeutig zu machen, so daß es auf entscheidende Fragen nur die richtige Antwort gibt, die wie der Schlüssel aufs Schloß paßt oder dem einen Ziel zu vergleichen ist, das der Bogenschütze vor Augen hat: »Das Gute ist einförmig, das Schlechte vielförmig« (Aristoteles, Nik. Eth. 11, 6, 1106 b 28 ff.}. Natürlich ist auch der Konsens einförmig, verglichen mit den vielen Köpfen und Sinnen. Wer diesen Satz umkehren und das Böse an Stelle des Guten und den Dissens an Stelle des Konsenses verteidigen wollte, würde genauso wie der Ordnungshüter diesseits der Schwelle in einem bereits etablierten Entweder-Oder Fuß fassen; vergessen bliebe die Schwelle und das, was hinter der Schwelle liegt, so oder so. Dabei beschränkt sich die offene Anknüpfung an fremde Äußerungen nicht auf die Wechselrede, die doch ihrerseits eingebettet ist in eine nichtsprachliche oder vorsprachliche Ausdruckssphäre leiblichen Daseins. Ein bevorzugtes Beispiel sozialer Kontaktaufnahme ist der Wechselblick, der immer wieder die Form einer Dramatik des Blicks annimmt. Auch wenn jemand mich anblickt, wird eine Schwelle überschritten – und nicht überschritten. Den Blick sehen heißt, ihn auf irgendeine Weise erwidern, sei es im Zurückblicken, im Wegblicken, im wiederholten und versteckten Hinblicken – einem anhaltenden Spiel, das sich damit erklärt, daß der Andere mich sehend nie dort ist, wo ich ihn sehe, und er mich nie dort sieht, wo ich ihn sehe (Merleau-Ponty 1986, 328, dazu Lacan 1978, Kap. III). Denn um ihn dort zu haben, müßte ich ihn in eine Welt
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einordnen. Der Blickkampf, der darauf abzielt, durch Über- und Unterordnung der Labilität ein Ende zu machen, ist nur der unglückliche Versuch, dem nicht zu bewältigenden Anspruch zu entrinnen. Die sprachliche Äußerung ist also der Kristallisationskern für ein Schwellengeschehen, das weiter reicht als die sprachliche Verständigung. Wie weit es reicht und ob es auf die Kontakte zu den Dingen übergreift, das ist eine Frage, die einen weiteren Überlegungsschritt erfordert.
9. Offene Auseinandersetzung in der Handlung Dem folgenden Übergang vom Gespräch zur Handlung liegt die Annahme zugrunde, daß in jeder Handlung etwas mitwirkt, und zwar nicht bloß auf seiten des Handelnden, der mit oder gegen Andere handelt, sondern auch auf seiten dessen, woran gehandelt wird. Wenn es ein solches Mitwirkendes gibt, so läßt es sich ebensowenig wie die fremde Äußerung einem Ganzen einordnen oder einem Obersten unterordnen. Wenn wir so etwas auch nur in Erwägung ziehen, so zeigt sich, daß uns an entscheidender Stelle nicht nur die traditionellen Handlungstheorien im Stich lassen, die sich an einer kosmischen oder anthropologischen Zielordnung ausrichten, sondern erst recht neuere Theorien, die Zielorientierung und normative Regelung voneinander ablösen. Und dies gilt gerade für solche Theorien, die Handlungen aus der Perspektive der Handelnden beschreiben und bewerten. Die eingeübte Unterscheidung zwischen Rechtsfragen und Tatsachenfragen hat zur Folge, daß vielfach eine raffinierte Normenlogik einem psychologischen Unterbau aufgesetzt wird, der sich reichlich improvisatorisch aus hergebrachten philosophischen Begriffen und psychologischen Konstrukten herleitet. Greift man aber zurück auf eine teleologische Handlungslehre im Stile von Aristoteles, so muß man damit rechnen, daß man, ob man es will oder nicht, in kosmologisches Fahrwasser abdriftet. Doch ob man sich der Tradition von Aristoteles, Hume oder Kant anschließt, auffällig ist es, daß der Grundriß der Handlungstheorie dabei erstaunlich homogen bleibt. Uneinigkeit herrscht fast nur dort, wo es um die Gewichtung und Abgrenzung der Einzelmomente geht, das Gesamtinstrumentarium aus Zielen, Tatsachen und Normen scheint kaum umstritten. Die handlungstheoretische sententia communis hält sich durchweg an folgende Gesichtspunkte: der Handelnde setzt, findet oder verfolgt ein Ziel, verwendet dazu Werkzeuge und Materialien, stellt sich ein auf Umstände und Gelegenheiten, berücksichtigt besondere Bedürfnisse
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und Interessen und tut dies im Rahmen allgemeiner Normen, und sofern das Handeln ein soziales ist, erhalten Zielbestimmung, Arbeit, Bedürfnisse und Normen einen Bezug auf wirkliche oder mögliche Andere, sei es in Form eines strategischen Kalküls, der Andere als Konkurrenten und Gegner berücksichtigt, sei es im Hinblick auf eine Konsensbildung, die den Andern im Konfliktfall mir gleichstellt. Handlungen lassen sich demnach daraufhin beurteilen, ob sie gelungen sind, das heißt, ob sie ihr zugehöriges Ziel erreicht und unsere Absichten erfüllt haben, und zwar auf ökonomische und risikogerechte Weise. Ferner läßt sich fragen, ob Ausführung und Resultat den zuständigen Normen und Regeln entsprechen, das heißt, ob die Handlung richtig war. Auf diese Weise sondert sich das, was objektiv gegeben bzw. erzielt ist, von dem, was subjektiv erstrebt und gewollt wird, und beides unterscheidet sich von dem, was transsubjektiv gesollt ist. Im Rahmen eines solchen teleologisch ausgerichteten und normativ kontrollierten Verhaltens fällt alles, was uns aus der Außen-, Innen- oder Sozialwelt an Wirk- und Antriebskräften begegnet, unter das binäre Raster von zweckdienlich-zweckwidrig (geeignet-ungeeignet, förderlich-hinderlich), von bedürfnisgerecht-bedürfniswidrig, und dies alles ist eingespannt in das letztbestimmende Raster von normgemäß-normwidrig (richtig-unrichtig im weitesten Sinne). Was dieser dreifachen Matrix von Technik, Bedürfnis und Norm entschlüpft, ist im radikalen Sinne gleichgültig, indifferent, Sache des Zufalls, des Beliebens oder der Erlaubnis. Zwischen Selbsterhaltung und Vernunfterhaltung, zwischen Bedürfnisbefriedigung und Normerfüllung, zwischen Not von unten und Nötigung von oben bleibt kein Platz für Anderes, das uns herausfordern könnte. Da alles, was uns begegnet, durch vorgängige Ordnungen abgefangen ist, spielt sich im Grunde zwischen Eigenem und Fremdem nichts ab, denn koordinierte Einzelaktionen sind noch keine Inter-aktion, und ein subjektiver Gefühlsausdruck ist noch keine Wechselliebe, kein Liebesspiel und kein Geschlechterkampf. Was über die Schwelle unserer Handlungsordnungen herüberdringt, sind nur noch Geräusche, denn es taucht nichts mehr auf, was mit fremder oder unartikulierter Stimme sprechen könnte. Das Ungeordnete ist nichts mehr als der nichtverwertbare Rest einer etablierten oder sich etablierenden Ordnung. Wenn diese sich öffnet, so nur nach oben, nach unten hin ist sie abgedichtet, zumindest solange die Dämme der Kultivierung, der Zivilisierung und Moralisierung halten. Wenn nicht, so drohen Chaos und Barbarei. Um diesen abgestumpften Handlungsbegriff zu schärfen und dem Zusammenspiel mit anderem auch im Handlungsablauf Raum zu
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geben, könnte man fast geneigt sein, bei behavioristischen oder systemtheoretischen Verhaltenslehren Anleihen zu machen, wäre dort die Differenz zwischen Reiz und Reaktion nicht durchweg kausal-gesetzlich eingeebnet oder zur bloßen Reduktion von Komplexität neutralisiert. Doch auch so empfiehlt es sich, die abgenutzten Begriffe Stimulus und Response zu renovieren. Hinter dem terminologisch verblaßten Wort Reiz verbirgt sich eine ganze Skala von Möglichkeiten, die sich in Ausdrücken wie Anregung, Anreiz, Ansinnen, Anforderung, Aufforderung, Herausforderung, Zumutung, Anbieten, Angehen, Antun oder – um sich auch Transzendentalphilosophen erkenntlich zu zeigen – in der Affektion kundtut. Wird die Affektion befreit von dem dürftigen Status der Materialbeschaffung oder von dem dubiosen Dienst eines Anstoßes von seiten eines je ne sais quoi, wird dem Reiz etwas vom Anreiz, der Affektion etwas vom Affektiven belassen, so gewinnt der Reiz seine Bewegkraft zurück, den er in der teleologisch angelegten Bewegungslehre von Aristoteles selbstverständlich besaß. Unter modernen Bedingungen einer variablen Weltordnung wäre diese Möglichkeit neu zu durchdenken; Ansätze dazu finden wir bei Gestalttheoretikern wie Kurt Lewin und Wolfgang Köhler, wenn diese den Dingen selber »Aufforderungscharaktere« und »Gefordertheiten« zuschreiben, die sich nicht in Aufforderungssätzen artikulieren und sich nicht aus übergeordneten Norminstanzen herleiten. Der Reiz gleicht der dialogischen Frage darin, daß er, wie es bei Leibniz heißt, inclinat, non necessitat, oder daß er, wie es noch bei Kant heißt, die menschliche Willkür affiziert, aber nicht bestimmt (MS B 5). Ein Verhalten, das erzwungen wäre, könnte man demnach ebensowenig eine Handlung nennen wie eine Antwort, die eingeimpft wäre. Damit öffnet sich ein Spalt zwischen Anreiz und Antwort. Als Anreiz bezeichnen wir ein Ereignis oder einen Zustand, der zu einem bestimmten Verhalten anregt und es in bestimmte Richtungen lenkt, wobei die Anregung mehr oder weniger stark, die Gestalt mehr oder weniger ausgeprägt, die Richtung mehr oder weniger festgelegt sein mag. Die Reaktion auf einen solchen Reiz hat Züge einer dialogischen Antwort, sofern sie an etwas anderes anknüpft. Wie sehr diese Anknüpfungsmöglichkeiten durch Handlungsordnungen selegiert und normiert werden, wird uns noch ausführlich beschäftigen. Hier geht es um die Einsicht, daß in solchen Ordnungen überschüssige Möglichkeiten vorausgesetzt sind; ohne solche offenen Stellen wären Handlungsordnungen nichts als Konditionierungen und Dressuren. Nehmen wir einige Beispiele, deren Einseitigkeit offen zugegeben sei: einen Ball werfen, im Dunklen eine Treppe hinaufgehen, eine Klinge
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abtasten, eine Speise abschmecken, einen Fluß durchschwimmen, einem fortfahrenden Zug mit dem Blick folgen, ein Instrument einspielen, sich mit einer Katze anfreunden, im Sand spielen, eine Brücke bauen, Leuchtzeichen überwachen, Fischnetze auslegen, einen Brief schreiben oder einfach eine Telefonnummer wählen ... Wenn wir diese und ähnliche Beispiele analysieren, so zeigt sich, daß die Reize nicht bloß Auslöser sind, die uns in Bewegung setzen, oder Stoff, aus dem wir etwas machen, oder Mittel, die zu etwas anderem dienen, vielmehr haben die Dinge ein variables Maß an Eigengestalt, Eigengewicht, Eigenbewegung, an eigenen Zeitrhythmen und an eigener Umgebung. Wer mit oder gegen den Strom schwimmt, wer den Wind vor sich oder im Rücken hat, macht eine Bewegung mit oder widersetzt sich ihr, und bei solchem Mitmachen und Weitermachen stehen sich nicht Eigenbewegung und Fremdbewegung diametral gegenüber. Ebensowenig gilt dies für den Blick, der seinen Gegenstand verfolgt wie die Stimme einer Fuge ihre Gegenstimme. »Produktion ist stets ein Dialog zwischen dem Produzenten und seinem Werkstoff« (Leroi-Gourhan 1984, 380). Der Sand kommt der formenden Hand flexibler entgegen als der Stein, doch dafür dauert die eine Form nur bis zur nächsten Flut, während die andere Jahrhunderte überdauern kann. Ein Instrument spricht beim Einspielen leichter an als das andere, ich spüre es erst, wenn ich es ausprobiere. Und wie merkt ein Brückenkonstrukteur, ob seine Brücke in die Landschaft paßt? »Er spricht zur Natur, die Natur antwortet ihm, ... schließlich erreichen wir den Punkt, an dem wir mit der Natur zusammenarbeiten« (Mead 1973, 229). Und meine Füße, die im Dunklen die Treppenstufen finden, ohne zu zählen und ohne zu stolpern, würden mir einen Streich spielen, wollte ich ihnen mit Reflexion und freien Entschlüssen beikommen. Der Fischer, der den Fisch fängt, lockt ihn »mit Menschenwitz und Menschenlist hinauf in Todesglut« (Goethe). Und selbst Verrichtungen, die der Hand wenig Spielraum lassen, wie das Drehen der Telefonscheibe oder das Blättern im Kursbuch, können zu einem Umgang mit Zaubergeräten werden, die uns in eine andere Welt versetzen, wenn man ihnen mit der verfremdenden Spielkunst von Kindern und Dichtern begegnet. Wollte man einwenden, das seien doch mehr Körperbewegungen als Handlungen, so würde ich sagen: um so besser, denn ohne sie blieben nur noch Akte übrig, die sehr nach Akten riechen. Die Bürokratisierung von Handlungen kommt schon noch früh genug. Nun ein vorläufiges Resümee. Werden Handlungen nicht bereits zurechtgestutzt, so bietet sich im Umgang mit den Dingen durchaus die Möglichkeit, auf Anforderungen und Verlockungen der Dinge einzugehen, ein Zusammenspiel zu erproben, Verletzungen zu riskieren.
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Handlungen lassen sich demgemäß nicht nur danach beurteilen, ob sie gelungen oder richtig sind, sondern auch danach, ob wir einer Sache oder einer Aufgabe gerecht geworden sind, ob wir ihre Möglichkeiten genutzt und entfaltet oder bewahrt haben und ob wir mit ihr zurecht gekommen sind. Dieses setzt voraus, daß die Ziele selber im Handeln ausgehandelt und nicht von subjektiven Bedürfnissen vorgegeben und von transsubjektiven Normen verordnet werden. Da wir es also im Handeln stets mit etwas zu tun haben, das uns entgegenkommt und auf diese oder jene Weise mitspielt und uns mitspielt bis hin zur Tücke des Objekts, sprechen wir mit Kurt Goldstein und Merleau-Ponty von einer leiblichen Auseinandersetzung mit anderem. Ein absolutes »Vorrecht« genießt der Mensch nur, wenn er es sich nimmt, doch das gehört selbst schon zur Auseinandersetzung mit den »Mitgenossen«.
10. Zwischenereignisse und responsive Rationalität Versteht man Handeln als Auseinandersetzung, in der etwas zwischen dem Handelnden und dem Behandelten ausgehandelt wird, so erweckt das den Eindruck, als würde ein dialogisches Modell über den intersubjektiven Bereich hinaus ausgeweitet. Man kann da leicht von Entdifferenzierung sprechen oder gar von Neo-Animismus. Daher einige vorsichtige Erläuterungen. Zunächst, von Dialog und dialogischem Verhalten wurde fast nicht gesprochen, und zwar deshalb, weil in den herkömmlichen Dialogtheorien (einschließlich meiner eigenen) die Gefahr besteht, daß der Logos dem Dia-, dem Zwischen den Rang abläuft. Dies gilt auf jeden Fall dann, wenn ein umfassender Logos angesetzt wird, der auf die Dauer alle Differenzen beilegt und zur Einheit bringt. Diese Bedenken veranlassen mich, im Falle von Äußerungen von interlokutionären Ereignissen zu reden, so wie sich im Falle von Handlungen die Rede von interaktionären Ereignissen anbietet. Warum aber Ereignisse und nicht intentionale Akte oder Aktionen? Weil es darauf ankommt, das, was in Äußerungen und Handlungen geschieht, so neutral zu fassen, daß über ihren Zwischen-Charakter, der in Anspruch und Erwiderung kulminiert, in eigener Sache entschieden werden kann, ohne daß eine eingespielte Begrifflichkeit den Blick in festgefügte Bahnen lenkt. Das zentrale Problem besteht also nicht darin, wieweit ein ›dialogisches‹ Modell anzuwenden ist, sondern ob das, was in unserem Sprechen und Tun geschieht, einen derartig intermediären Charakter zeigt oder nicht. Was Ordnung und Rationalität besagt, hängt geradewegs ab von der Beantwortung dieser Frage.
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Als Zwischenereignis betrachte ich etwas, das, indem es geschieht, an anderes anknüpft, und zwar so, daß es auf dessen Anregung und Anspruch antwortet. Insofern dies auf jede Äußerung und jede Handlung zutrifft, wäre jede ein interlokutionäres oder interaktionäres Ereignis. Die Ordnung, die aus diesen Zusammenhängen entspringt und regelnd in sie eingreift, bezeichne ich als responsive Rationalität. In ihr verkörpert sich eine offene Regelung, da das, was geordnet wird, nicht selber dieser Ordnung entstammt. Sie regelt die Art und Weise, wie einer auf Fremdes eingeht und sich darauf einläßt. Entscheidend ist hierbei die konstitutive Asymmetrie, von der schon mehrfach die Rede war und die quer steht zu jenen Ordnungen, die auf symmetrische Zuordnung der Teile und auf Einordnung in ein Ganzes bedacht sind. Das Ereignis, an das angeknüpft wird, und das andere, das anknüpft, entstehen und bestehen zunächst in nichts anderem als der gezielten Anregung und der Antwort selber. Etwas fällt mir auf, etwas fragt sich, solche auslösenden Ereignisse gleichen einem Stein, der ins Wasser fällt und einen Wirbel auslöst. Diese Auffälligkeit und Fraglichkeit hat ein Moment der ἀταξία, der Ordnungslosigkeit an sich, die den Wellengang der Ordnung, der τάξις, durchbricht. Etwas, das auffällt, das fraglich wird, das uns auffordert, wird zunächst am besten beschrieben mit impersonalen Verben: »es denkt sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt« (Lichtenberg). Also durchaus auch Fraglichkeit ohne Frager, Anspruch ohne Ansprechenden, Herausforderung ohne Herausforderer – ähnlich wie Kant von »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« spricht. »Zuletzt ist es schon mit diesem ›es denkt‹ zuviel getan: schon dies ›es‹ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst« (Nietzsche, II, 581). Der »Vorgang selbst«, das klingt wie »die Sache selbst«, die doch wohl auch nicht ohne Auslegung zu haben ist. Doch kommt es nicht darauf an, einem deutungsfreien Etwas nachzujagen, sondern die Deutungsraster, ohne die wir gar nicht sprechen könnten, so zu verschieben, daß etwas von dem Ungeordneten durch das Geordnete durchschimmert. Zu diesen Deutungsrastern gehört das Gegensatzpaar von Tun und Leiden, von Aktion und Passion. Unbrauchbar wird dieses Gegensatzpaar zumindest in der Form, in der Aktion und Passion ein Geschehen markieren, das man einmal von seiten des Agenten betrachtet, der etwas zufügt, das andere Mal von seiten des Patienten, dem etwas zustößt (s. u. D 4). Dieser einseitige Input und Output läßt für Frage und Antwort und für die Verflechtung von Äußerung und Gegenäußerung keinen Raum. Es sind zwei Wirkzentren, zwischen denen nichts geschieht. Auch eine Wechselwir-
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kung, in der zwei Wirkende gleichzeitig aufeinander einwirken, ändert daran nichts, und nicht einmal eine Interaktion, in der verschiedene Aktionen koordiniert werden, führt zu einer Zwischen-Handlung. Um diese unangemessene Verteilung und Zuteilung von Aktionen und Passionen fernzuhalten, empfiehlt es sich, von Ereignissen zu sprechen, die verschiedene Formen der Mitwirkung, der Zusammenwirkung und im äußersten Falle auch der einseitigen Einwirkung zulassen. Wo es keine eindeutige Zuordnung von Handlungen und Äußerungen gibt, schwindet auch die Möglichkeit, diese in bestimmten Handlungs- oder Redeträgern zu lokalisieren. Sofern das ›es‹ letzter Nachfahr eines derartigen subjectum ist, wäre dieses in der Tat immer noch zu viel. Die Frage, wer es jeweils mit was oder mit wem zu tun hat und wer oder was jemand oder etwas jeweils ist, muß sich aus den Zwischenereignissen selber beantworten lassen und ist von Erkennungsmarken wie Objekt, Subjekt und Mitsubjekt freizuhalten. Zwischen vorgestelltem Objekt und vorstellendem Subjekt und mitvorstellendem Mitsubjekt könnten sich keine Rede- und Handlungsfäden knüpfen, und für eine responsive Rationalität bliebe kein Platz, weil das, was entgegensteht, nicht mitspielt. Die Ordnungen, deren unumgängliches Werk wir im folgenden betrachten, hätten ohne solche Mit- und Gegenspieler ein zu leichtes Spiel.
B. ORDNUNG ALS SELEKTION UND EXKLUSION
1. Reden und Handeln im Kontext Für die Kunst der Textauslegung ist es eine Selbstverständlichkeit, daß man Sätze, soweit möglich, als Teile eines Textes betrachtet und im Rahmen eines Kontextes behandelt; denn ihre Verständlichkeit leidet empfindlich, wenn man sie nicht in ihrer Funktion als Titel, Vers, Prämisse oder Zitat, als Bestandteil einer Fabel, eines wissenschaftlichen Traktats oder einer politischen Rede betrachtet und in dem Zusammenhang beläßt, in dem sie ihre Funktion ausüben. Ein Einzelsatz gilt hier nicht als elementare oder fundamentale Einheit, sondern als Textfragment, ähnlich den Scherben und Torsi, die der Archäologe ausgräbt. Und wo das zufällige oder gezielte Fragment eine besondere Aussagekraft entwickelt, dort hängt diese gerade an dem, was die Bruchstellen andeuten. Daß es bei alltäglichen Äußerungen und Handlungen anders zu sein scheint, hängt nicht an deren Eigencharakter, sondern an dem andersartigen Interesse, unter dem man sie betrachtet. Zunächst gilt es festzuhalten, daß es selbständige Einzelsätze und Einzelhandlungen oder deutungsfreie Basissätze und Basishandlungen nicht ›gibt‹, sondern daß sie durch Ablösung von ihrem Kontext und durch Neutralisierung ihrer Bezüge herauspräpariert werden. Sprachliche Äußerungen treten auf im Zusammenhang von Arbeitsanweisungen, Dienstbesprechungen, ärztlichen Untersuchungen, Parlamentsdebatten, Gerichtsverhören, Predigten, philosophischen Disputen, Lehrbüchern, Liebesgeständnissen oder Tischgesprächen, es gibt keine dialogische Äußerung schlechthin. Dasselbe gilt für moralische Handlungen wie Töten oder Lügen; sie treten auf als fahrlässige Tötung, Totschlag im Rausch, geplanter Raubmord, organisierte Maffiahandlung, Terrorakt oder Geiselerschießung, als Meineid, Patientenbetrug, Spionagetrick, falsche Steuererklärung oder als Notlüge. Jede Äußerung und jede Handlung tritt mithin auf indirekte Weise auf, gebrochen durch ein Medium von Zwischengliedern, Zwischenformen, Zwischeninstanzen. Eine direkte Rede würde zu einem Schrei gerinnen, so wie eine direkte Handlung sich auf einen Reflex, eine direkte Erkenntnis sich auf eine Augenblickserleuchtung zusammenziehen würde; das sind Grenzfälle, die sich einem reinen Widerfahrnis nähern, aus denen eine Theorie des Redens und Handelns aber nicht zu gewinnen ist. Wenn trotzdem in sprach- und handlungstheoretischen Zusammenhängen so viel von einzelnen Aussagen, Sprechakten, instrumentellen, strategischen oder kommunikativen Handlungen die Rede ist, so deshalb, weil eben ein spezifisches Interesse dominiert, das Interesse nämlich an sprachlicher oder logischer Korrektheit, an Wahrheit, Effi-
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zienz oder Richtigkeit, an einer normierenden Gesetzmäßigkeit also, die auf beliebige Fälle Anwendung findet. Gegen diese isolierende Betrachtung wäre, soweit sie sich ihre methodische Option eingesteht, wenig zu sagen, wenn sie nur nicht Gefahr liefe, das maßgebende Ordnungsgeschehen, das jeder Anwendung normativer Regeln vorausgeht, zu übersehen oder zu unterschätzen. Die einseitige Fixierung des Blicks auf Geltungsfragen tendiert dazu, die Zwielichtigkeit der Ordnung in ein künstliches Licht zu tauchen, das die Herkunft der Ordnung und deren Eigenzwänge vergessen macht. Insofern zielt die folgende Kontrastierung von Wichtigkeit und Richtigkeit darauf ab, Gewichte zu verschieben und nicht bloß Lücken zu füllen, die andere gelassen haben. Das Bestehen auf den Kontexten entspricht nicht der Nestwärme einer »lokalen Vernunft«, sondern es nährt sich von den Funken einer »verstreuten Vernunft«.
2. Diachronische und synchronische Zusammenhänge Die Rückgliederung des Redens und Handelns in Texte und Kontexte weist in zwei unterscheidbare, aber nicht trennbare Richtungen, in die diachrone Dimension von Abfolgen und in die synchrone Dimension von Feldern und Szenerien. Für den diachronen Aspekt schlage ich folgende Begriffsabgrenzungen vor. Eine Rede nenne ich eine gegliederte Äußerungsfolge von relativer Geschlossenheit, wobei offen bleibt, mit wem die Rede geführt wird, woran die Äußerungen anknüpfen und wieweit sie mit sprachlichen Mitteln ausgeführt wird. Eine Intrige nenne ich eine gegliederte Handlungsfolge von relativer Geschlossenheit, wobei diesmal offen bleibt, mit wem die Handlung vollführt wird, auch ein Einzeltäter geht mit sich zu Rate. Was ›Äußerung‹ und ›Handlung‹ selber angeht, so begnüge ich mich damit, sie in mehreren Anläufen und aus wechselnden Anlässen zu bestimmen. Was die Rede angeht, so wäre auf Text- und Dialogtheorien und soziologische Konversationsanalysen zu verweisen; daran anknüpfend könnte man von ›Diskurs‹ sprechen, doch ist dieser Terminus bereits anderweitig stark besetzt. Der Ausdruck Intrige als erzählbare Geschichte verweist auf diverse Ansätze zu einer Theorie der Narrativität, wie sie sich vor allem in literaturtheoretischen und historiographischen Zusammenhängen entwickelt haben. Dabei geht es in unserem Zusammenhang weniger um die Erzählstruktur als um die Charakterisierung der Handlungsabfolge als Ort einer Produktion und Reproduktion von Ordnung, bei der Synchronie und Diachronie eng ineinandergreifen. Den Termi-
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nus Diskurs reserviere ich für einen relativ abgeschlossenen, Reden und Tun umgreifenden Ordnungsbereich. Diese vorläufige Begriffsskizze mag an dieser Stelle genügen, ich werde später darauf zurückkommen. Die synchrone Dimension hat es unmittelbar mit der Einrichtung der verschiedenen Ordnungsformen zu tun. Feld und Szenerie geben den Raum ab, in dem Äußerungen und Handlungen sich zu präferentiellen Ordnungen verdichten, welche ihrerseits normativen Regelungen unterworfen werden. Diese sich situativ entfaltende Räumlichkeit hat selber einen zeitlichen Aspekt, so wie umgekehrt die Zeitlichkeit der Abfolge in ihrer simultanen Dichte einen räumlichen Aspekt annimmt. Vor allem der Feldbegriff verdient an dieser Stelle eine ausführlichere Vorklärung, die uns in den Forschungsbereich einer von der Physik angeregten Psychologie führt.
3. Kräftefeld als Szenarium Der Feldbegriff stammt bekanntlich aus der Physik des 19. Jahrhunderts und wurde erstmals systematisch ausgewertet in Maxwells Theorie des elektromagnetischen Feldes. Gestalttheoretisch inspirierte Forscher wie Wolfgang Köhler und Kurt Lewin haben ihn in die Wahrnehmungs- und Sozialpsychologie transponiert. Von daher übernahmen ihn phänomenologische Autoren wie Husserl, Aron Gurwitsch und Merleau-Ponty und nutzten ihn nach einer Reinigung von physikalischen Beimischungen für eine Theorie des Bewußtseins-, Wahrnehmungs- und Handlungsfeldes. Bühlers Zweifeldertheorie mit ihrer Zweiheit von Zeig- und Symbolfeld schlägt eine weitere Brücke zwischen Handlungs- und Sprachtheorie bis hin zur Sprachfeldforschung, die sich mit dem Wandel von Wortfeldern befaßt. In jüngster Zeit setzt Bourdieu diese Tradition fort in der Ausarbeitung einer Theorie des sozialen Feldes. Diese weitläufige Karriere eines zunächst auf ein einzelwissenschaftliches Theorem beschränkten Konzepts sollte aufmerken lassen; es könnte sein, daß dieses Konzept in eine Bresche springt und ein allgemeineres Umdenken anzeigt. Die Attraktion, die schon der physikalische Begriff ausübt, rührt wohl daher, daß Kraftgrößen bestimmten Raumpunkten zugeordnet werden und sich so auf ein Kräftefeld verteilen. Kurt Lewin hat entsprechend menschliches Verhalten mit Zeit- und Situationswerten korreliert, ein Modellversuch, dessen Grenzen hier nicht zu erörtern sind. Entscheidend ist, daß die raumzeitliche Zuordnung von Kräften und Prozessen eine Abkehr
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bedeutet von den leeren Raum-Zeit-Schemata der klassischen Physik, mit denen man seit Kant auch in der Philosophie vielfach operiert. Die wissenschaftliche Forschung bringt hier erneut etwas in den Blick, was in vorwissenschaftliche Alltagsvorstellungen abgedrängt schien, was aber aus den antiken Kosmologien nur zu gut vertraut ist, daß nämlich etwas seinen Ort und entsprechend auch seine Zeit hat. Wenn hier von einer Rückannäherung an die Ordnungsvorstellungen der alten Kosmologien gesprochen werden kann, so allerdings nur cum grano salis. Lassen wir die spezifische Problematik des physikalischen Feldes beiseite und beschränken wir uns auf das Erfahrungsfeld als Ort des Redens und Handelns, so können wir den Feldbegriff wie folgt definieren: Feld ist ein innerlich gegliederter, flexibel nach außen hin abgegrenzter Erfahrungsbereich, dessen Grenz- und Kraftlinien auf wechselnde Standorte innerhalb des Bereichs zulaufen. Verwandt damit sind Konzepte wie Szene, Bühne oder Schauplatz (G. Politzer in Anlehnung an Freud), Rahmen (Goffman) oder sozialer Raum (Bourdieu). Die Rede von Szenen oder Szenerien hat den glücklichen Effekt, daß hier das gesamte Umfeld des Geschehens, die Plätze von Spielern, wozu etwa bei Shakespeare auch Sturm und Blitz, Tageshelle und nächtliches Dunkel gehören, das Zubehör, die Kulisse und auch die Begrenzung des Schauplatzes mitbezeichnet werden. Diesem künstlichen Schauplatz entspricht der Natürliches und Künstliches vereinende Schauplatz einer Landschaft, einschließlich einer »Stadtschaft« (W. Benjamin). Das Entscheidende einer »dramaturgischen Handlung«, die sich an solchen Plätzen abspielt, ist nicht die Selbstdarstellung, in der man sich selber in Szene setzt, sondern die Aufführung des Dramas selber, das nicht geradewegs auf Zuschauer angewiesen ist (s. Politzer 1978, 193 ff.). Würde man das dramaturgische Handeln samt der dramaturgischen Rede auf ein Ausdrucksdrama reduzieren, so bliebe nicht mehr viel übrig von dem Boden, dem Rede (λέξις) und Handlung (πρᾶξις) entstammen. Die Organisationsform des Feldes und feldähnlicher Instanzen hebt sich ab von einem leeren Raum-Zeit-Schema und ebenso von einer allumfassenden, ein für allemal den Dingen zugemessenen Raum-ZeitOrdnung. Ein leeres Raum-Zeit-Schema böte zu wenig, weil hier niemals etwas seinen Ort fände, eine globale Raum-Zeit-Ordnung böte zu viel, weil hier alles ein für allemal seinen Ort hätte. Im ersten Fall wäre der Standort, von dem aus das Ganze sich entfaltet, nirgends, im anderen Falle wäre er überall. Das leere Schema ist ein abstraktives Konstrukt, das die konkrete Feldordnung nicht zu integrieren und zu erklären vermag, während der Kosmos erst gar nicht organisiert zu werden
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braucht, weil er die Ordnung selber ist. Das Feld gleicht dagegen einem zu eng gewordenen Kosmos; man muß sich arrangieren, weil zu viel darin Platz sucht. Das daraus resultierende Kräftespiel nötigt zu Ordnungsversuchen auf elementarer Stufe.
4. Thema und Relevanz Das Feld wäre also ein Zeit-Raum, in dem nicht alles in gleicher Weise Platz findet. Minimale Bedingung dafür, daß in diesem Raum überhaupt etwas vor sich geht, ist folgendes: es muß sich etwas von einem Hintergrund abheben und hervortreten. Ohne eine solche Differenzierung in Figur und Grund gäbe es nur ein monotones Einerlei, wir hätten nichts, woran wir anknüpfen, worüber wir reden und woran wir uns betätigen könnten. Und wir würden selber im Grau in Grau versinken; denn wo nichts ist, ist auch niemand. Hier haben wir es mit einer ersten Form von Selektion und Exklusion zu tun. Der Auftritt des einen bedeutet Abtritt oder Nichtauftritt des anderen, wobei der ›Grund‹, aus dem etwas auftaucht, selber etwas von einer Schwelle behält, über die eines herüberdringt, anderes nicht. Auf diese Weise bildet sich ein Relief heraus mit Vordergrund und Hintergrund. Im Anklang an die Sprache der Gestalttheorie, die bis ins physiologische Verhalten hinein von bevorzugten Wahrnehmungs- und Bewegungsgestalten spricht, bezeichnen wir das bevorzugte Worüber und Woran von Rede und Betätigung als Thema, wie Husserl und Aron Gurwitsch es tun, unter gleichzeitiger Anknüpfung an William James’ Unterscheidung von object und topic. Das Thema wäre etwas, das als dieses auftritt. Wenn wir nicht von vornherein einen allumfassenden Kosmos supponieren und die Stellung eines allüberschauenden Kosmotheoros usurpieren, so geht dieser Thematisierung nichts weiter voraus als andere Thematisierungen. Deshalb bedeutet Selektion im ursprünglichen Sinne nicht Auswahl aus bestehenden Erfahrungswirklichkeiten, sondern Auswahl aus sich anbietenden Erfahrungsmöglichkeiten, und dies im Sinne einer Verwirklichung des einen, was zugleich Verunmöglichung von anderem ist. Die Auswahl zwischen vorhandenen Angeboten kann erst beginnen, wenn eine Ordnung etabliert ist, auf die man zurückkommt. Diese Situation, die auf gewisse Weise der des göttlichen Geistes gleicht, der eine Welt entstehen läßt, legt es nahe, in Abwandlung einer bekannten Leibnizschen Formulierung zu fragen: »Warum ist jeweils dieses und nicht vielmehr jenes?« Wo der Hinweis auf die beste aller
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Welten mangels eines universalen Weltmaßstabs ausscheidet, können nur bescheidenere Antworten gegeben werden. Eine erste Antwort lautet: weil dieses wichtig ist, jenes dagegen unwichtig oder weniger wichtig. Im Anschluß an Dilthey, Heidegger und Alfred Schütz sind wir gewohnt, von Bedeutsamkeit oder Relevanz zu sprechen. Die verschiedenen Ausdrücke haben ihre besonderen Konnotationen. Bedeutsamkeit verweist auf die Sphäre von Bedeutung, Deutung und Zeichen, wo sich etwas bemerkbar macht; Relevanz, relevancy (lat.: relevare) beleuchtet den Vorgang der Aufwölbung und Abhebung, der ein Relief entstehen läßt; Wichtigkeit läßt schließlich das Moment des Gewichts und der Gewichtigkeit anklingen. Die letztgenannte Bezeichnung, die alltäglichste von allen, hat den Vorzug, auf das Kräftespiel hinzudeuten, das in den verschiedenen Organisationsweisen immer wieder zum Zuge kommt. Dafür gibt es auch weitere Indizien in der alltäglichen und philosophischen Sprache, so wenn Augustinus der Seele eine ›Schwerkraft‹ zuweist (pondus animi), wenn Gründe ›abgewogen‹ werden in einem Prozeß der ›Erwägung‹ (deliberatio), wenn die aufmerkende Zuwendung mit Spannung, Anspannung und Entspannung einhergeht (s. in-tentio, at-tentio) oder wenn etwas in den Hintergrund und an den Rand ›gedrängt‹ wird. Die Orientierung an einem reinen Bewußtsein, einem reinen Sinn und einer reinen Geltung hat dazu geführt, daß der Sinn der Kraft allzusehr den Rang abläuft, als gäbe es dort, wo Kräfte walten, nur blinde Mechanismen. Mit dem Hinweis auf Wichtigkeit oder Relevanz ist es noch nicht getan. Eine absolute Relevanz würde uns in eine Gesamtordnung zurückversetzen, die in dem Guten gipfelt und von daher den Fragehorizont abschließt. Anderenfalls bleibt nur eine relative Relevanz – relativ worauf? Drei Bezugsrichtungen bieten sich an. (a) Etwas hebt sich ab von einem Grund: ein Auftauchen aus ..., (b) etwas tritt auf für jemand: ein Auftreten für ..., (c) etwas tritt auf mit anderem: ein Auftreten mit... Die Frage nach dem Grund einer Themenbildung wäre in diesen drei Richtungen zu verfolgen, und zu fragen wäre nach den Relevanzkriterien, die der jeweiligen Bevorzugung zugrunde liegen. Sofern es sich um verschiedene Zusammenhänge handelt, die eine Regelung suchen, können wir bei der Themenbildung von einem Prozeß des Ordnens sprechen. Beginnen wir versuchsweise mit der ersten Relation (a). Etwas hebt sich ab von einem Grund, weil es selber wichtig, das Zurücktretende oder Zurückbleibende dagegen unwichtig oder weniger wichtig ist. Kann es dafür Kriterien der Bevorzugung geben, ohne daß man auf eine absolute Bevorzugung rekurriert? Ich kann zu vergleichen versuchen,
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was da ist, doch wie will ich das, was (da) ist, vergleichen mit etwas, was nicht (da) ist? Einen gewissen Versuch, diese Frage zu beantworten, macht die Gestalttheorie mit ihren Gestaltgesetzen, etwa dem Gesetz der Prägnanz, das es erlaubt, von ›guten Gestalten‹ zu sprechen und damit innerhalb der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren eine Sonderung vorzunehmen. Tatsächlich ist es so, daß unser spontanes Wahrnehmen nicht gleichwertig alle Möglichkeiten verwirklicht, die physiologisch realisierbar wären, und ähnliches gilt für unsere Eigenbewegung. Doch abgesehen davon, daß diese Gesetzmäßigkeiten bis heute reichlich hypothetisch bleiben, können die Funde, die in solchen Laborsituationen gemacht werden, nur die Beliebigkeit unserer kultur- und milieuspezifischen Organisationsformen einschränken, ohne diese adäquat zu erklären. Die Gestalttheorie liefert so etwas wie eine formale Syntax des Sehens und Hörens, die hinter deren Semantik und Pragmatik weit zurückbleibt. Rad oder Apfel sind Beispiele für kreis- oder kugelförmige Gebilde, doch auf einem solchen Gebilde kann man weder fahren, noch kann man es essen. Daß es auch hier einschränkende Regeln gibt, legt sich nahe, wenn man sich einfache Beispiele vor Augen hält. Ist es denkbar, daß in einer bestimmten Kultur die wiederkehrende Sonne, herumlaufende Katzen, Donner oder Regen keinerlei Beachtung finden und keinerlei Benennung erfahren und auf ewig im Hintergrund bleiben? Wenn wir mit einem vorsichtigen Nein antworten, so verweist das auf das Phänomen der Auffälligkeit, das sich bis zur Aufdringlichkeit steigern kann. Damit scheinen wir bereits bei der zweiten Relation (b) angelangt, die unseren Blick auf die Wichtigkeit für jemanden lenkt. Denn fällt nicht, aufs Ganze gesehen, dem einen dies auf, dem andern jenes? Doch hier ist die gewohnte Subjektivierung fernzuhalten. Das Auffallen und Einfallen von etwas, das dieses zum Thema macht, ist zunächst ein spontanes Ereignis; es ist keine Setzung, wie das Wort ›Thema‹ nahelegen könnte, sondern – wie Aron Gurwitsch immer wieder betont – eine Form der Selbstorganisation, die von keinem Ich gesteuert wird (vgl. schon Kant, KU B 292). Wollte man diesen Wirbel im Erfahrungsfeld, der bestimmte Muster erzeugt, willentlich und wissentlich hervorrufen, so müßte man vorweg schon über das verfügen, woraus man auswählt; man würde so nur fertige Erfahrungen sortieren, keine neuen machen, und von der Differenzierung in Figur und Grund bliebe schlechterdings nichts übrig. Platons Aporie aus dem Menon, die darauf hinausläuft, daß wir nichts suchen können, weil wir das, was wir suchen, entweder schon kennen und somit nicht zu suchen brauchen oder es nicht kennen und somit auch nicht suchen können, wiederholt sich hier in der spiegelbildlichen Form der Einfälle und des Auffälligen. Das Überschreiten oder
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Verweilen auf der Schwelle, das sich in solchen Zwischenereignissen bekundet, würde bei aktivischer Deutung einem eindeutigen Diesseits oder Jenseits geopfert. Doch das »Es fällt mir etwas auf oder ein« bedeutet ein Ereignis, das gerade die Schwelle zwischen Bekanntem und Unbekanntem überquert, ohne daß hier ein gegebenes ›Objekt‹ einem tätigen ›Subjekt‹ gegenübertritt. Die Frage nach dem Wer ist dativisch in das Wem zurückgenommen; wenn es hier eine Genesis und eine Synthesis gibt, so – mit Husserls Worten – eine passive. Wenn also nicht Tätigkeiten des ›Subjekts‹ für das Auftreten von etwas verantwortlich sind, so vielleicht tiefer gelagerte Dispositionen und Bewegungen. Folgen wir abermals Husserl und Aron Gurwitsch, so entspricht dem Thema auf seiten des Erfahrenden, Redenden und Handelnden ein spezifisches Interesse; die Bevorzugung in der ›Gegenstandsphäre‹ hat ihr Gegenstück in einer Bevorzugung innerhalb der ›Aktsphäre‹. Man wird darauf hinweisen können, daß der Erfahrende nicht als weißes Blatt in die Erfahrungswelt eintritt, sondern mit bestimmten Bedürfnissen, Triebregungen, Neigungen und Vorlieben, die ihn leiblich an die Welt binden und ihn für dieses empfänglich machen, für jenes nicht. Doch auch dies wäre nur dann eine ausreichende Erklärung für das Auftreten von diesem oder jenem, wenn der Mensch entweder gänzlich im »Gängelwagen des Instinkts« dahinführe oder ganz und gar unter der »Leitung der Vernunft« stünde (Kant, VI, 92). Im einen Falle hätte die Natur durch Erb- und Lernprogramme die Auswahl getroffen, reguliert durch den Druck des Überlebens, im anderen Falle hätte der Mensch sich als »Übertier« oder »Fast-Gott« (Nietzsche, I, 879) seine Welt geschaffen. Doch eine fugenlose Welt, die auf diese oder jene Weise die Abgründe zudecken wollte, widerspricht der Ausgangslage des Menschen. Die eigentümliche Verquikkung von Mangel und Überfluß zwingt ihn, Regelungen zu treffen, die nicht durch eine ›objektive‹, aber auch nicht durch eine ›subjektive‹ Relevanz voll abgedeckt sind. Letzteres ist schon dadurch ausgeschlossen, daß die angeblich selegierende Instanz des ›Subjekts‹ selber nur in der selektiven Form eines Interessen-›Subjekts‹ auftritt. Die Selektion durch ein ›Subjekt‹ erklären hieße, die Selektion durch einen Teil ihrer selbst erklären. Die erste Relation, die dem Auftretenden ein gewisses Eigengewicht einräumt, ist also durch die zweite Relation nicht zu absorbieren. Eben deshalb bleibt etwas, woran der Redende und Handelnde anknüpfen kann, gleich womit er es zu tun hat. Schließlich bleibt noch die dritte Relation (c). Sie wird uns im folgenden ausführlicher beschäftigen; eine Antwort auf die Frage: »Warum tritt jeweils dieses auf und nicht vielmehr jenes?« liefert auch sie nicht.
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Denn für das, womit etwas auftritt, wird etwas anderes nur wichtig, wenn dieses andere selber zum Thema wird. Eine Rückwirkung des begleitenden auf das begleitete Etwas ist nur denkbar, wenn bereits ein Zusammenhang gestiftet wurde, so daß sich der Verweisungsbezug umkehren kann wie beim Knaben und seiner Leier in Platons Phaidon. Unsere Frage »Warum tritt vielmehr dieses auf und nicht vielmehr jenes?« findet hier zumindest keine Antwort, die der Frage ein Ende machen würde. Gäbe es keine Gründe für dieses Auftreten, so bliebe nur der Hinweis auf ein zufälliges Geschehen, das dann auf höherer Ebene als willkürliche Setzung wiederkehrt. Diese Antwort widerspricht nicht nur der Erfahrung, die uns zeigt, daß uns keineswegs Beliebiges auffällt und einfällt, sie wäre ebenso anfechtbar wie die Gegenantwort, die einen zureichenden Grund verspricht. Was uns hier und immer wieder begegnet, sind Gründe, die den Spielraum der Beliebigkeit einschränken, ohne den Abgrund zu schließen, der die Entstehung von Ordnungen provoziert.
5. Horizontale Ausweitung: thematisches Feld und Randzonen Das Auftreten von Etwas in einem Feld verknüpft sich mit einer weiteren Organisationsweise: das jeweilige Etwas verweist auf anderes, das mit ihm auftritt und sich mehr oder weniger eng mit ihm verknüpft. Diese zweite Ordnungsleistung ist ebenso unentbehrlich wie die erste. Denn etwas, das sich lediglich von einem neutralen Hintergrund abhöbe, wäre ein Etwas überhaupt, aber kein bestimmtes Etwas. Insofern ist die Assoziation gleichursprünglich mit dem Etwas. Dieses erscheint als Knoten im Netz und nicht als einfaches und vereinzeltes Element, aus dem der Demiurg Beliebiges machen könnte, ohne dabei auf etwas anzusprechen. Ohne die ursprüngliche Verknüpfung mit anderem bliebe nur ein dissonantes Vielerlei, es blieben flüchtige Eindrücke, die von Phantomen nicht zu unterscheiden wären (vgl. Huss. IV, § 15). Von horizontaler Verallgemeinerung sprechen wir insofern, als das auftretende Etwas über sich hinausweist, ohne die Ebene der Konkretion zu verlassen. Es handelt sich um eine Verallgemeinerung durch Proliferation, nicht durch Subordination, und das entspricht dem genus, nicht im logischen, sondern im generativen Sinne. Die Leibnizsche Frage kehrt hier in neuer Gestalt wieder: »Warum ist jeweils etwas mit diesem und nicht vielmehr mit jenem?« Die erste
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Antwort lautet wiederum: weil dieses für das Etwas wichtig, belangvoll, zugehörig ist, jenes dagegen nicht. Wieder tritt eine Selektion und Exklusion auf. Den Inbegriff dessen, was in einer inneren, sachlichen Beziehung zum Thema steht, nennen wir mit Aron Gurwitsch thematisches Feld; was in einem äußeren, bloß zeitlichen Bezug zum Thema steht, wäre dann der Rand. Die Thematisierung, die etwas in den Brennpunkt rückt, stiftet Zusammenhänge und hat zur Kehrseite eine Marginalisierung. Beides geschieht mit einem Schlage wie die doppelte Auswahl, die auf den beiden Achsen der Sprache vor sich geht, eine Auswahl, die eines statt des anderen (Paradigma) und eines mit dem anderen (Syntagma) auftreten läßt (Jakobson 1974 a, 117 ff.). Die physikalischen Messungen, die sich eines Spektrogramms bedienen, werden nicht genauer, wenn dessen Farbskalen an Kleesche Bilder erinnern, und die Gefährlichkeit einer Schnittwunde hängt nicht davon ab, ob sie sich ein Einbrecher beim Zertrümmern einer Fensterscheibe oder ein Partygast beim Zerbrechen eines Weinglases zugezogen hat. Der Wechsel des Themas färbt unmittelbar auf dessen Umfeld ab. Was für den Bauern lästiges Unkraut ist, kann für den Botaniker ein seltenes, erhaltenswertes Gewächs sein. Das eine ›gehört dazu‹, das andere nicht. Woher aber stammen die Kriterien dafür, ob solche Zusammenhänge bestehen oder nicht? Wäre der Zusammenhang eine bloße Implikation, im äußersten Fall gar eine logische Implikation, so wäre mit dem Etwas auch der Kometenschweif zugehöriger Daten gegeben, und es entstünde kein weiteres Problem. Hätten wir es dagegen mit einer anfänglichen Zusammenhanglosigkeit zu tun, so könnte jedes sich jedem Beliebigen anschließen. Es käme also nur zu Zwangsehen oder zu Zufallsbekanntschaften, nicht zu Wahlverwandtschaften, die sich doch bis in die attractio electiva chemischer Elemente zurückverfolgen lassen. Halten wir uns von diesen spekulativen Extremen fern, so sind Zusammenhänge, wo sie nicht bloß reproduziert werden, selber zu stiften und herzustellen. In einem Prozeß der Erfindung wird ein Thema angeschlagen, und es löst Möglichkeiten der Durchführung aus, ohne eine bestimmte Möglichkeit vorzuschreiben. Das Thema gleicht weniger einem Grundstein als einem Ort in der Landschaft, von dem aus sich Wege der Entdeckung und Erschließung öffnen. Die Regelung der Zusammenhänge besteht dann darin, daß bestimmte Verknüpfungs- und Fortführungsmöglichkeiten bevorzugt, andere zurückgedrängt werden. Auf diese Weise reduziert sich die Mehrwertigkeit und Vieldeutigkeit der Ereignisse. Dieser Prozeß der Marginalisierung geht nicht in friedlichem Einvernehmen vonstatten. Ränder, welcher Art auch immer, ob Rander-
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scheinungen, Randgruppen oder »Randvölker«, entstehen dadurch, daß etwas an den Rand gedrängt wird, wo das Licht nicht mehr hinreicht. Diese Ausgrenzung vollzieht sich nicht ungestört und ungefährdet. Schon der »Pfiff von der Straße« kann mich von meinem »Denkthema« ablenken, dieser Pfiff als ein »störendes Thema«, das sich vielleicht »durchsetzt« (Huss. III, 302). Natürlich ist der Pfiff von der Straße nicht an sich schon eine Störung, sowie kein Kraut an sich Unkraut ist. Wenn etwas als Störung empfunden oder behandelt wird, tritt eine Abwehr in Kraft; das Thema wird gegen ablenkende Kräfte durchgehalten. Die Störung muß nicht von banalen Pfiffen kommen, die schönsten Musikklänge können sich lärmend »aufdringen« (s. Kant, KU B 221). Damit enthüllen die Grenzen der thematischen Felder ihre Mobilität. Eine Scheinwerfertheorie, die nur einen Lichtkegel hin- und herwandern läßt, der den »Sinnesbestand« des Belichteten und Beschatteten nicht antastet (Huss. III, 230, kritisch dazu: Gurwitsch 1966, Kap. 10), läßt diese zwielichtige Erfahrungsdynamik ins Harmlose abgleiten. Marginalisierung bedeutet kein bloßes Schattenspiel. Im übrigen ist zu warnen vor einem einseitigen Bildvergleich. Die RandMetaphorik entstammt der Vorstellung einer optischen Zentrierung des Bewußtseinsfeldes mit heller Zentralzone und dunklen Randzonen. Legt man andere Metaphern zugrunde wie die von Sichtblende, Raster oder Netz, so verweist dies auf mögliche Löcher und Lücken im Ordnungssystem, einem System, das nicht nur Außengrenzen kennt, sondern auch Binnengrenzen, die mit der Artikulation des Ordnungsbereichs im Bunde stehen. Wie es bei Wittgenstein heißt: »Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase ...« (Phil. Untersuchungen, Nr. 103) – fragt sich nur, ob man sie einfach abnehmen kann.
6. Vertikale Ausformung: Typik und Atypisches Zu den beiden ersten Ordnungsfunktionen gesellt sich schließlich eine dritte: was mit anderem auftritt, tritt zugleich als ein solches auf. In der Sprache Husserls, die wir auch hier mit Vorsicht verwenden, heißt das: Das thematische Objekt konstituiert sich mit einem bestimmten thematischen Sinn, sei es in Form einer materialen Differenzierung: etwas als Werkzeug, Naturding, Symbol usw., sei es im Sinne einer qualitativen Differenzierung: etwas als Wahrgenommenes, Erinnertes, Vorgestelltes, Beurteiltes, Behandeltes usw. Das bevorzugte Etwas wird also jeweils im bestimmten Sinne bevorzugt. Der thematische Sinn färbt unmittelbar auf die thematischen Zusammenhänge ab; denn je nach-
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dem, wie der thematische Sinn sich modifiziert, leben wir in einer Welt der Töne, in einer Arbeits- oder Zeichenwelt bzw. in einer Welt der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Phantasie oder der praktischen Entschlüsse. Träte etwas nicht jeweils als ein solches auf, so wäre es kein Etwas, das seinen Augenblick überdauerte, es wäre unsagbar, reines Ereignis. Von vertikaler Verallgemeinerung sprechen wir, sofern hier etwas über sich hinauswächst, ohne sich einem ideellen, formalen Schema zu unterwerfen. Die Gestalt, in der etwas als etwas auftritt, liegt noch diesseits der Differenz von Idealität und Faktizität, in einer Zone der Indifferenz also, die wir annehmen müssen, wenn wir nicht Unterscheidungsprodukte wie Form und Materie als gegeben unterschieben wollen. Die Differenz, die in dem Als auftritt und aus dem Tatsächlichen ein mehr als Tatsächliches macht, ist die Wiederholbarkeit, die zu denken ist als eine Art permanenter Wiederverkörperung, gleichsam als »Körperwanderung« (Merleau-Ponty 1984, 69), die bereits den elementaren Reaktionen körperlicher Sensorik und Motorik ihren Stempel aufdrückt und die schon den anfänglichen Formen des Werkzeugsgebrauchs und des symbolischen Ausdrucks ihren spezifischen Rhythmus verleiht (Leroi-Gourhan 1984, 3. Teil). Etwas tritt als etwas auf, das bedeutet, etwas tritt wieder auf; wenn ich von etwas spreche, ist es schon da, ein absolutes Original wäre unfaßbar. Das Paradox der Wiederholung liegt nun darin, daß etwas als dasselbe auftritt, obwohl doch dieses Wiederauftreten eine zumindest winzige Differenz ins Spiel bringt. Wiederholung ist die Wiederkehr des Ungleichen als eines Gleichen. Dieser winzige Spalt durchzieht alle Momente des »Zeigfeldes«. Etwas tritt auf als dieses, das zugleich anderes, das hier und zugleich anderswo, jetzt und zugleich andermal ist, und dasselbe gilt für jemanden, der zugleich dieser und ein anderer ist, der es mit diesem und einem anderen zu tun hat. Die ursprüngliche Verschiebung im Erfahrungsfeld, die keinen reinen Ursprung aufkommen läßt, bietet zugleich die Möglichkeit dafür, daß etwas oder jemand sich mit einem anderen einlassen kann, ohne den Umweg über separate Agenturen zu nehmen, die überall und unentwegt für jedes und jedermann zuständig wären. Die Ordnung entspringt, indem irgendwo und irgendwann etwas und jemand auftritt, das stets nur ist, was und wer es ist, indem es auf sich zurückkommt, ohne bei sich anzukommen, und das auf diese Weise Zukunft hat. Diese »sinnliche Idee« (Merleau-Ponty 1986, 198, in Anlehnung an Proust) nennen wir mit Husserl, Schütz und Gurwitsch Typus, eine Umrißgestalt, wie sie der Stempel hinterläßt, kein freischwebendes Eidos und kein abgelöster Begriff also. Die Gestalttheorie
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weist in dieselbe Richtung, wenn sie die ›Idealität‹ materialisierter Gestalten auf eine Transponierbarkeit beschränkt, die nicht schlackenlos ist wie eine Formel; denn diese läßt auch bei wiederholtem Gebrauch kein Nachbild zurück, wie Farb- oder Tongestalten es tun. Dieser Materialität des Allgemeinen entspricht eine Leiblichkeit der Erfahrung, in der sich noch kein geistiges Auge oder geistiges Ohr vom sinnlichen abgelöst hat. Fragen wir wiederum im Gefolge von Leibniz: »Warum tritt etwas als solches auf und nicht vielmehr als anderes?«, so könnte man abermals antworten: weil bestimmte Züge und Aspekte als wichtig hervortreten, andere nicht. Fragen wir weiter nach den Kriterien, denen diese Bevorzugung unterliegt, so bietet sich eine alte Antwort an: Wichtig sind die Züge, die immer wiederkehren. Damit würde sich die Scheidung in Typisches und Atypisches (s. Schütz 1971, 108) dem Unterschied zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem annähern. Doch diese Antwort setzt voraus, daß es eine ein für allemal bestehende wahre Typik gibt. Eine derartige Annahme scheitert aber daran, daß etwas als solches oder als anderes auftreten kann, wobei jeweils verschiedene Typiken ins Spiel kommen. Ein Gewässer kann als Trinkwasserreservoir, als Fischteich, als Badesee oder als Abwässeraufnahme benutzt werden, und entsprechend ändert sich, was als typisch zu gelten hat und auf welche Eigenschaften es ankommt. Daß Ereignisse geformt werden und Typisches von Atypischem gesondert wird, ist eine Unausweichlichkeit. Auf ein konkretes Ereignis oder ein Ding, an dem alles gleich wichtig wäre, könnte man ebensowenig antworten, wie der Organismus auf keinen Reiz reagieren kann, der nicht nach bestimmten Mustern verarbeitet würde. Ein konkretes Ereignis, das nicht dieser Formung unterworfen würde, wäre weder zu wiederholen noch wiederzuerkennen, es wäre nicht einmal benennbar. Es würde vorbeirauschen wie eine ungewohnte Musik oder eine Rede in einer völlig fremden Sprache; solange sich nicht bestimmte Strukturen und Rekurrenzen herausgebildet haben, hat es für mich keinen Sinn zu sagen, ich habe dieses schon einmal gehört. Es wäre dasselbe, wie wenn ich sagen wollte, ich bin schon einmal in dieses Wasser gestiegen. Und eine solche Formung läßt sich auch nicht reduzieren auf das empirisch-statistische Vorkommen bestimmter Merkmale unter gegebenen Umständen, auf das also, was gemeinhin zu erwarten ist, weil es zumeist geschieht. Eine solch methodisch nivellierende Außenbetrachtung, die wissenschaftliche Relevanzkriterien ohne Bezug auf den Redenden und Handelnden anlegt, kann der empirischen Überprüfung von Rede- und Handlungssituationen dienen, deren eigene Krite-
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rien gehen aber auf diese Weise verloren. Es mag eines Tages dahin kommen, daß Schwarzwaldtannen, im Durchschnitt betrachtet, mehr gelbe als grüne Nadeln haben; letztere als atypisch beiseitezusetzen, wird einem Förster kaum einfallen. Die Typik bezieht sich auf alle drei Relationen, die wir hinsichtlich der Ausbildung des Themas unterschieden haben. Thema, Relevanz und Typik rücken eng aneinander, solange man die lebensweltliche Perspektive im Blick behält. Die Frage nach den Auswahlkriterien bei der Typisierung führt uns an einen ähnlichen Punkt wie die Thematisierung. Die Auswahl geschieht nicht beliebig, wird aber auch nicht durch unabänderliche Auswahlkriterien gelenkt. Der Typus ist ein Wesen auf Zeit. So wenig es eine Störung schlechthin gibt, so wenig ein Atypisches an sich. Der Entstehung von Rändern durch Thematisierung entspricht eine Entstehung von Atypischem durch Typisierung. Dieses Widerläufige ist zu unterscheiden von dem Beiläufigen oder Akzidentellen, das innerhalb des Typenschemas (x als y) derart Platz findet, daß es durch äquivalente Werte ersetzt werden kann. So kommt es in den üblichen Badeordnungen nicht darauf an, welche Farbe die Badekappe hat, obwohl sie natürlich immer eine hat und die Farbe als solche zur Typik gehört. Würde dagegen jemand mit einer Motorradhaube ins Wasser steigen, so ist leicht vorauszusehen, wie ein Bademeister reagieren würde. Jeder Typus stößt an Toleranzgrenzen. So wie aber eine Störung Kondensationsherd eines neuen Themas sein kann, so kann das Atypische zum Herd eines neuen Typus werden. Anders als das Eidos ist der Typus durch keine ewige Wiederkehr gegen Änderungen gefeit. Dies ist ein Grund dafür, daß die Ordnungsmechanismen sich vervielfältigen.
7. Topologie und Chronologie von Reden und Handeln Die Bildung eines Feldes, in dem etwas mit anderem als ein solches auftritt, ragt in die Ordnungen des Redens und Handelns hinein und verzahnt diese mit den Strukturen der Erfahrung. Das Zeigfeld markiert eine Topologie und Chronologie des Redens und Handelns, dessen leibliche Zugehörigkeit zum Feld bestimmte Richtungen auszeichnet und bestimmte Wegstrecken vorschreibt. Die Zeigegebärde, die ein Dies-da aussondert und hervorhebt, setzt sich im Zeigewort fort; denn dieses bleibt leer ohne den Rückbezug auf den Standort, an dem es ausgesprochen wird. Ein »das da« oder »der da« am Telefon oder ein »heute« im Brieftext bleibt für sich genommen nichtssagend. Doch geht es uns hier nicht um die sattsam bekannte Theorie der okkasionel-
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len oder indexikalischen Ausdrücke, sondern um die selektiven Ordnungsfunktionen, die hier unvertretbar zutage treten und die sich in den Akten des Benennens fortsetzen. Ohne solche vorsprachliche Arbeit am Referenten gäbe es keinen Satzgegenstand, von dem wir etwas prädizieren könnten, noch ein Handlungsziel, das wir abwägen könnten. Weder der Akt des Zeigens noch der des Benennens ist bloßes Moment eines Sprechaktes, weil der eine wie der andere dessen Regelungen vorausgeht und sie übersteigt. Damit dringt das regulierende Moment der Wichtigkeit in die Regelungen der Rede und des Handelns ein; für alle Theorien, die Ordnungsleistungen unter den Primat der Richtigkeit stellen, bleibt hier ein blinder Fleck. Außer in den Fällen, wo eine Feldstruktur lediglich reproduziert und ein Ritual wiederholt wird, setzt jede Rede und Handlung eine Thematik voraus, in der sich bestimmt, was wann wo und wie von wem zu wem bzw. mit wem unter welchen Umständen gesagt und getan wird und was auf typische Weise wiedergesagt und wiedergetan werden kann. Wenn man diesen Prozeß der Thematisierung nachträglich mit den Augen eines Richters betrachtet, schrumpft dieses Geschehen zusammen zu einem vorliegenden Tatbestand, für den Zeugen aufgerufen werden. Doch schon aus der Aristotelischen Rhetorik ist zu lernen, daß die Vergangenheit nur in einer bestimmten Redeform, eben in der Gerichtsrede, dominiert, nicht aber in der beratenden Rede, die artikuliert, was erst noch zu tun ist, und nicht, was bereits getan wurde. Die Ordnungsleistung, die in der Entstehung und Fortführung eines Themas vollbracht wird, liegt selber jeder Normierung voraus, weil sie allererst Situationen definiert und Lagen schafft, auf die Normen anwendbar sind. Würden wir nicht sprechen, so könnten wir uns nicht widersprechen oder lügen, würden wir kein Spiel beginnen, so könnten wir nicht falsch oder unfair spielen. Daß alle Regelungen dem Reden und Tun Spielräume lassen, ist gewiß selbstverständliches Gemeingut jeder geläufigen Praktik und Hermeneutik, mag sie sich an Aristoteles oder Kant, an Wittgenstein oder Gadamer orientieren. Doch der Eindruck des Selbstverständlichen verliert sich, wenn wir bedenken, was schon im Vorfeld normengeleiteten Redens und Handelns an Ausschlußverfahren getätigt wird. Hierher gehören im Konfliktfall Argumente, die nicht mit Antithesen wie wahr-falsch oder richtig-unrichtig operieren, sondern mit Äußerungen wie: das ist unwichtig, das gehört jetzt nicht hierher, das hat nichts damit zu tun, das kommt zu früh oder zu spät, du bist nicht an der Reihe. Ein reiner Geltungsrichter, dessen Wahrheiten weder Zeitdruck kennen noch Aufschub dulden und die niemals fehl am Platz sind,
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scheint hier wenig ausrichten zu können. Beispiele, die von impliziten bis zu expliziten und formellen Festlegungen reichen, finden wir in den verschiedenen thematischen Feldern und Diskursen zur Genüge, handele es sich um Arbeitsplanung, Festsetzung von Tagesordnungen, Nachrichtenauswahl, Lehrpläne, Prüfungsordnungen, Forschungsbeihilfen, Wirtschaftsinvestitionen oder um alltägliche Zeiteinteilungen, Speisezettel und Ferienpläne. Diese Selektionen könnten nur dann der Konfliktzone entzogen werden, wenn universale Güterordnungen und Wertskalen vorlägen. Ähnliches gilt für die Form der thematischen Verknüpfung und die Art der Ausschließung; Verknüpfungen können mehr oder weniger locker, Grenzziehungen mehr oder weniger strikt sein. Man denke an Dramenregeln wie Einheit von Raum und Zeit oder methodische Anforderungen an wissenschaftliche Arbeiten. Wie systematisch muß ein Text sein? Was darf er einlassen? Wieviel ›Anarchie‹ kann geduldet werden? Oder im Bereich des Handelns: Wieviel Improvisation wird dem Angestellten zugemutet, wie streng sind Arbeitsrichtlinien? Was darf ein Patient oder ein Angeklagter noch sagen, ohne daß er vom Arzt oder Richter durch Wortentzug oder Weghören bestraft wird? Welche Lektüre ist für Kinder zulässig (früher: für Frauen)? Der Hinweis auf bewährte Traditionen bedeutet keine Antwort auf unsere Frage, weil Traditionen selber ein konfligierendes und selegierendes Geschehen darstellen, dessen Selektionsmechanismen durch Kanonisierungen, seien es offizielle oder inoffizielle, überdeckt werden. Kanon ist eine ›Wahrheit‹ die sich durchgesetzt hat, doch aus eigener Kraft? Jedenfalls ist es Sache der Institutionenforschung, die Selektionsagenturen und Selektionsmechanismen ausfindig zu machen, die weit ins Anonyme hineinreichen. Kulturpäpste, Schulhäupter, Kunsthändler, Revolutionäre, Industriekapitäne, Päpste und Wortführer jeder Art sind oftmals Stifterfiguren, die post festum ernannt werden, obwohl sie vielleicht nur den günstigsten Wind genutzt haben. Es sieht nun danach aus, als entstamme alles, was als wichtig auftritt, einer dubiosen Wichtigtuerei. Dieser Eindruck wäre falsch oder zumindest voreilig; denn die Frage, wie diese Selektionen einzuschätzen sind und woher sie ihre etwaige Überzeugungskraft beziehen, wird sich erst später stellen, wenn wir den Wandel von Ordnungen erörtern. An dieser Stelle sollte lediglich die Zwielichtigkeit einer Ordnung eingeschärft werden, die auf einer pränormativen Ebene beginnt und auf alle weitere Ordnung ihre Schatten wirft. Nur wer sieht, wie Erfahrungen von Anfang an zurecht gemacht werden, wird einer NormenEuphorie mißtrauen, selbst wenn diese sich zur vernünftigen Selbstnormierung steigert.
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8. Wichtigkeit und Richtigkeit Der Wechsel von der Organisation von Rede- und Handlungsfeldern zur Ebene der Beurteilung und Rechtfertigung von Rede- und Handlungsakten nimmt deutliche Konturen an, wenn wir versuchsweise die beiderseitigen Kriterien der Wichtigkeit und Richtigkeit gegeneinander stellen. Beide Kriterien werden hier als Kriterienbündel verstanden; die Wichtigkeit erstreckt sich, wie gezeigt, auf Thema, thematisches Feld und Typik, die Richtigkeit soll in dieser globalen Überlegung alle Formen binärer Beurteilung, also auch die Wahrheit als rectitudo umfassen. Der Vergleich beider Kriterien läßt bedeutsame Unterschiede in der Art der Ordnungsbildung erkennen. (a) Das Prädikat ›wichtig‹ bezieht sich primär auf etwas, das zur Rede oder zur Handlung ansteht, und es strahlt von dort aus auf alle übrigen Rede- und Handlungsfaktoren aus. Das Prädikat ›richtig‹ bezieht sich dagegen auf Verhaltensakte und deren Resultate. (b) Das Prädikat ›wichtig, tritt in der Regel als relative Bestimmung auf: etwas ist wichtig in bestimmten Zusammenhängen, für jemand usw., und es läßt sich ohne weiteres komparativisch verwenden: etwas ist wichtiger oder weniger wichtig. Das Prädikat ›richtig‹ tritt in der Regel als absolute Bestimmung auf; wo Bedingungen angegeben werden, betreffen sie nicht den Charakter der Gültigkeit selber, sondern den Anwendungsbereich, der begrenzt sein kann und Ausnahmen zuläßt; prototypisch sind Sätze wie: »Immer wenn ..., dann ...« oder »Jeder, der ...«. Die absolute Verwendungsweise zeigt sich auch darin, daß die komparativische Verwendung im strengen Sinne nicht möglich ist; richtiger als ..., wahrer als ..., das ergibt keinen rechten Sinn. Jemand, der nur 10 000,- DM raubt, handelt nicht richtiger als einer, der 20 000,- DM raubt. Eine Gewichtung von Verstößen ist etwas anderes als eine Gewichtung von Interessen. (Ich sage in beiden Fällen »in der Regel«, weil es Theorien gibt, die versuchen, die hier getroffene Unterscheidung zu unterlaufen, was hier nicht zu erörtern ist.) (c) Wo mehrere Themen einander das Attribut der Wichtigkeit streitig machen, sprechen wir von einem Widerstreit, während Aussagen oder Handlungsweisen, die einander das Attribut der Richtigkeit streitig machen, im Widerspruch miteinander stehen. Zwei widerstreitende Ansprüche können beide wichtig sein; zwei widersprüchliche Aussagen können nicht beide wahr sein. Auch das, was wir Dissens nennen, muß entsprechend differenziert werden. (d) Was als unwichtig ausgeschlossen wird, wird beiseite gesetzt, doch kann dieses Marginale oder Atypische zum Kondensationskern
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einer anderen Ordnung werden, es genügt eine Umordnung des Redeund Handlungsfeldes. Was dagegen als unrichtig ausgeschlossen wird, trägt den Makel der Unordnung an sich, es bedarf eines Umsturzes, um das Ausgeschlossene zum Zuge kommen zu lassen. Das Präfix Unbedeutet im Falle des Un-wichtigen und des Un-richtigen nicht dasselbe. Angesichts dieser doppelten Bestimmungen hat eine Verschiebung zwischen den beiden Funktionsbereichen wichtige Folgen für den Status der Ordnung, dem unser Interesse gilt.
9. Normalität und gestörte Verhaltensfunktionen Eine Vorform der normativen Richtigkeit stellt die Normalität dar. Auch hier geht es nicht um die produktive oder reproduktive Organisation eines Feldes mit seinen bevorzugten Themen, sondern um die Qualifizierung bzw. Disqualifizierung bestimmter Verhaltensweisen, deren Bindung an den Kontext sich im Laufe dieser Einschätzung lokkert. Normalität, so wie sie hier verstanden wird, setzt ebenso wie die Normativität eine Norm voraus, diese Norm tritt aber nicht gebietend oder verbietend an das Verhalten heran, sondern ist dem Verhalten eingebaut als Richtmaß dafür, ob dieses funktionsgerecht abläuft oder nicht. Auf elementare, aber nicht untrügliche Weise bekunden sich Beförderung und Hinderung des Lebens in Lust und Schmerz (s. Kant, VI, 551). Die Skala des Funktionsgerechten reicht vom Grenzwert des optimalen Ablaufs über den gestörten Ablauf bis zum Grenzfall eines katastrophalen Verhaltens (Goldstein 1934). Was nicht funktionsgerecht ist, wird als Anomalie abgesondert. Das klassische Exempel für diesen Bereich ist das Gegensatzpaar von Gesundem und Krankem oder Normalem und Pathologischem (Canguilhem). Das Besondere an diesem Exempel liegt darin, daß hier die Beeinträchtigung aus der Perspektive eines Patienten gesehen wird, was die Betrachtung über eine rein statistische Bestandsaufnahme physikochemischer Prozesse hinausführt. Es ist keine Frage, daß physiko-chemisch betrachtet die Metastase des Krebskranken etwas ganz Normales darstellt. Doch wenn jede Krankheit eine Anomalie ist, so ist nicht jede Anomalie eine Krankheit (Goldstein 1934, 266). Anomal kann auch die Körpergröße sein, was sich beim Gebrauch normaler Einrichtungen wie Türen und Betten oder beim Kleiderkauf hinderlich bemerkbar macht. Ein anderes Beispiel wäre der Linkshänder, der nicht einfach der spiegelverkehrte Bruder des Rechtshänders ist, sondern auf
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eine Gesellschaft trifft, wo von links nach rechts geschrieben wird, wo Instrumentalübungen mit Rechtshändern rechnen, was dem Outsider beim Tennis einen gewissen Überraschungsvorsprung sichert. Normalität und Anomalie des Leibes greifen über auf die »Verlängerung des Leibes« in Werkzeugen und Maschinen. Abweichungen vom Standardmaß führen bis zur Unbrauchbarkeit. Schließlich gibt es schon in gewöhnlichen Wahrnehmungsabläufen optimale und schlechte Bedingungen, wenn wir an Beleuchtung, Blickwinkel oder Sehabstand denken. Wir stoßen hier auf Phänomene der Orthoästhesie (Huss. XIII, 379), auch der Orthokinese, die den normativ auf Orthodoxie und Orthopraxie angelegten Verhaltensweisen vorausliegen. Auch hier stellt sich die Frage, woher die Kriterien stammen, nach denen funktionsgerechtes oder gesundes von gestörtem oder krankhaftem Verhalten unterschieden wird. Wenn wir auch hier damit rechnen dürfen, daß unser Verhalten von instinktiven Vorrichtungen bis zu einem gewissen Grade freigesetzt und künstlichen Regelungen anheimgegeben ist, folgt daraus, daß auch Funktionsstörungen und Krankheiten nichts rein Naturgegebenes sind, sondern Prozessen einer selektiven Normalisierung entstammen. Bis zu einem gewissen Grade stellen sich auch Gesundheit und Krankheit, bis hin zum Wahnsinn, als Kulturprodukte dar. Daraus folgt keineswegs eine beliebige Grenzziehung, denn diese würde uns die Natur bald schmerzlich heimzahlen. Es müßte schon ein heroischer Relativismus sein, der den Operationstisch überdauern sollte. In der Pathologie erscheinen Stereotypie und absolute Beliebigkeit als komplementäre Störungen (vgl. Merleau-Ponty 1976, 49). Oder um ein Beispiel von Goldstein aufzugreifen: der Patient Sch., bei dem Farbnamenamnesie mit der Unfähigkeit einhergeht, farbige Wollknäuel zu sortieren, erreicht den schmalen Grat, wo Orientierungsvariabilität in Orientierungslosigkeit umschlägt. Foucault mag diese gezielt einsetzen, um die Ordnung der Dinge zu erschüttern (1971, Vorwort), sie wird aber nur wirksam im Kontrast zu bestehenden Ordnungen. Zwischen dem Patienten Schneider, der sich mit Wollfäden abmüht, und Borges, der die Heterotopien einer chinesischen Enzyklopädie zelebriert, liegt das dünne Blatt Papier, das laut Joyce den Künstler vom Wahnsinn trennt. Also keine Entdifferenzierung von Gesundheit und Krankheit bietet sich an, wohl aber ein Achten auf den Prozeß der Differenzierung und Ausscheidung, der stets Gefahr läuft, bei fixen Grenzen zu enden, wo das Dysfunktionale, Kranke, Leidenmachende als absolute Negativität, Defizienz und Abnormalität erscheint, obwohl doch jede Lebensform, auch die des Kranken, zunächst nach ihren eigenen, andersartigen
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Normen zu betrachten – und ebenso zu behandeln wäre. Die Einschätzung der Normalität hat Folgen für die Therapie, die sich um eine Wiederherstellung der Ordnung bemüht und dabei vor der Frage steht, ob es sich um eine bloße Wiederherstellung der alten oder um die Erstellung einer neuen Ordnung handelt. Der Patient steht oft vor der Wahl »zwischen größerer Unfreiheit und größerem Leid« (Goldstein 1934, 281), wobei die Minderung des Leides bezahlt wird mit einer »Einschränkung des Milieus«. Eine Überbewältigung des Leidens schaltet mit den störenden und leidverursachenden Anomalien auch das aus, was über eine pure Lebenserhaltung hinausweist.
10. Übliche Sitten und unziemliche Verhaltensweisen Wenn wir nun zur Normativität übergehen, so haben wir es nicht mehr zu tun mit einer bloßen Störung von Ordnungsfunktionen, sondern mit einer Ordnungswidrigkeit. Unter Norm verstehe ich nach geläufigem Sprachgebrauch eine generelle Verhaltensvorschrift, die etwas zu tun oder zu lassen gebietet oder verbietet und auf diese Weise ordnungsgemäßes von ordnungswidrigem Verhalten sondert. Während Normalitäten einen flexiblen Umgang gestatten und sich bei Nichtbeachtung durch ihre Folgen rächen, gehört zur öffentlichen Geltung von Normen eine Verbindlichkeit und eine Ahndung von normwidrigem Verhalten. Doch lassen Obligation und Sanktion eine Steigerung und Verschärfung zu, was den Grad der Normierung betrifft. Auf dem Boden von Sitte, Brauch oder Konvention, worin sich das verkörpert, was man üblicherweise sagt und tut, sondert sich Schickliches von Unschicklichem, Geziemendes von Unziemlichem. Wie an antiken Ausdrücken wie πρέπον oder decorum oder an verwandten Ausdrücken unserer Sprache wie geschmackvoll oder taktvoll zu erkennen ist, spielt diese Qualifikation sehr ins Ästhetische hinüber und betrifft mehr den Verhaltensstil, das Drum und Dran der Ausführung und den Glanz der Darbietung als den Verhaltensakt mit seinem angestrebten Ziel. Der Handlungsstil muß sich sehr stark von den Anforderungen und Zielsetzungen der Handlung selber abgelöst haben, bis man erklären kann, Mord und Folter gehörten nicht zum rechten Ton, und eine geschmackvoll zugefügte Wunde fällt zweifellos in den Bereich eines ästhetisierenden Zynismus. Gemeinhin ist bei den Anforderungen der Sitte nicht von Mord und Betrug die Rede, sondern von der Ausführung gebotener oder erlaubter Handlungen. Sitten und Gewohnheiten gelten deshalb auch gemeinhin als gut oder schlecht, nicht als richtig
ÜBLICHE SITTEN UND UNZIEMLICHE VERHALTENSWEISEN
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oder unrichtig. Hierher gehört das ganze zivilisatorische Arsenal von Gruß- und Anredeformen, Eß- und Kleidersitten, erotischen Ritualen, Sprechgewohnheiten, Schreibstilen, Hygieneanforderungen und ähnlichem, wie es uns aus alten Sittengeschichten vertraut ist und wie es uns in neueren Erforschungen von Zivilisationsprozessen etwa bei Norbert Elias, Ariès, Foucault oder Bourdieu begegnet. Bei Verstoß gegen die Sitten, die spontan als ›gut‹ gelten, treten durchaus Sanktionen ein, nämlich solche der Mißbilligung bis hin zur Ächtung. Die Instanz solcher Sanktionen bleibt stark dem Anonymen verhaftet, sie ist verkörpert in der Gesellschaft, aber vielfach differenziert nach Milieus, Schichten, Ständen, Klassen, die jeweils ihren spezifischen Sittenkodex und ihren besonderen Comment verwalten. Diese Ordnungsweise als vorläufig abzutun hieße darauf warten, daß irgendwann einmal Sprechen, Handeln und Fühlen ganz und gar durch Ausführungsregeln festgelegt wären und der leibhaftige Sprecher und Täter programmiert wäre wie ein Computer. Diese Horrorvision müßte daran scheitern, daß die Ausführungen von Ausführungsanweisungen selber wieder auf Anweisungen angewiesen wären; doch dieses altgewohnte Argument, das wir aus der Aporie einer geregelten Regelanwendung kennen, sollte nicht zu dem umgekehrten Schluß verleiten, diese informelle und diffuse Form der Normierung sei ein harmloses Vorfeld von Recht und Moral. Sowenig der Schreib- oder Malstil des Künstlers eine harmlose Vorform ernsthafter Ideen bedeutet, sowenig bedeutet der alltägliche Verhaltensstil die harmlose Vorform einer ernsthaften Moral. Die Moral von der Geschichte beginnt schon im Stil, der hier wie dort, als Verkörperung von Ideen und Normen, der Mensch selber ist. Insofern treffen die Selektionsmechanismen, die in jede Sitte unweigerlich eingebaut sind, sehr empfindlich, sie schneiden ins eigene Fleisch. Gegen einen Richter kann man sich leichter empören als gegen ›die Gesellschaft‹ oder gegen ein Milieu, wo man selber mit allen Fasern an dem hängt, wovon man sich lösen möchte, und einen Torhüter kann man leichter bestechen als eine Gesellschaft, von der man sich, selbst wenn sie einen zuläßt, durch den geringsten Ton oder die geringste Bewegung selber ausschließt. »Setzen Sie sich in den Louis-Quatorze-Sessel« (Proust, II, 554, dt. III, 807), so Baron Charlus zu seinem ratlosen Gast in einem Ton, der nicht einmal Snobismus verrät, sondern nur die Selbstsicherheit eines alten Adeligen, der in der feinen Gesellschaft steckt wie in seiner Haut. Manchmal ist es schwer zu sagen, wer wen ausschließt. Natürlich kann man aus allem Kapital schlagen, soziales, kulturelles wie ökonomisches, man kann versuchen, eines ins andere umzusetzen
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(s. Bourdieu 1983), bis hin zum »Geld, das zu lächeln versteht« (Proust, I, 639, dt. II, 317), doch wechselt man damit nur Käfige. Ein Spalt öffnet sich erst, wenn auch Verhaltensstil und Verhaltensgewohnheit ihre Zwielichtigkeit behalten. Das Unschickliche und Anstößige ist nicht nur ein Mangel an Gesittetheit, sondern auch ein möglicher Ausweg aus einem verfestigten Sittengehäuse und einem überfeinerten Stilpalast.
11. Gesetzte Normen und unrichtiges Verhalten Mit der Normativität im strengen Sinne betreten wir einen reich beakkerten (vielleicht auch ausgelaugten) Boden, so daß ich mich auf einige gezielte Bemerkungen beschränken möchte. Sobald Obligation und Sanktion über das anonyme Man hinauswachsen und benennbaren Instanzen anvertraut werden, und sobald über die Verhaltensweise hinaus Handlungsziele und Handlungsmittel einbezogen werden, kommt es zu einer Sonderung von Richtigem und Unrichtigem im strikten Sinne. Rechtsgesetze sind Normen, deren Befolgung vor einem äußeren Forum zu verantworten ist und deren Übertretung Strafe zur Folge hat. Sittengesetze sind darüber hinaus Normen, deren Befolgung vor einem inneren Forum zu verantworten ist und deren Übertretung durch Gewissensvorwürfe und Verlust an Selbst- und Fremdachtung geahndet wird. Diese Legalisierung und Moralisierung, die noch durch religiöse Gebote und Verbote gestützt oder untermauert werden kann, sondert Abnormitäten aus, die sich durch ihre innere Disqualifizierung vom bloß Dysfunktionalen oder Unüblichen unterscheiden. Die weitgehende Konzentration auf die Geltungsfrage sollte nicht vergessen lassen, daß eine Reihe von Vorfragen anfallen. Eine erste Frage, wo haben Normen ihren Sitz? Will man nicht geradewegs Normen zu einer idealen Welt hypostasieren, so muß man Normen dort aufsuchen, wo sie ihre Funktionen ausüben, das heißt im Reden und Handeln, das sich nach ihnen richtet und sie befolgt oder nicht. Normen sind zunächst keine Gebots- oder Verbotstafeln, die man betrachtet, sondern Regeln, die man beachtet oder nicht. In diesem Sinne können wir von fungierenden Normen sprechen. Die Frage, ob Normen implizit oder explizit, informell oder formell in Geltung treten, sind wichtig im einzelnen, doch zweitrangig im Hinblick auf den zentralen Tatbestand, der uns hier interessiert. Die Verklammerung des »Handle so ...!« mit einem »Handle!«, das seine Antriebe nicht aus Normen bezieht, bringt es mit sich, daß die Befolgung jeder Norm, auch einer,
GESETZTE NORMEN UND UNRICHTIGES VERHALTEN
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die auf unbedingte Geltung Anspruch erhebt, an Bedingungen geknüpft ist, die nicht selber normativ geregelt sind. Die Frage nach dem Auftreten normativer Geltungsansprüche stellt sich hier, im Rahmen von Handlungsfeldern und Lebensformen, und nirgends sonst, genauso wie Sprachregeln nicht an ihrem eigenen Sprachhimmel hängen, sondern ihren Sitz haben in bestimmten Redefeldern und Redesituationen. Dabei macht es keinen großen Unterschied, von woher der Begriff der Norm entwickelt wird, ob von einer Stimme her, die sich gebieterisch meldet von einem Sinai herab oder abredend wie das Daimonion des Sokrates, oder aber, wie es das Wort Norm selber nahelegt, vom Richtmaß her oder schließlich von einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit her, die es auf andere Weise auch in der Natur gibt. Die Rückbindung der Norm ans Handeln und Reden hat zur Folge, daß auch die Norm in die Reihe der Selektions- und Exklusionsmechanismen gehört und als Über-Ich die Möglichkeiten der Responsivität einschränkt, wobei zwischen Sollen und Können sich ein ähnlicher Spalt auftut wie zwischen Anspruch und Erwiderung auf der Ebene des Redens und Handelns. Das ist schon deshalb so, weil man ein Versprechen oder eine Bitte erfüllen kann, aber keine generelle Vorschrift. Darin gleicht diese den unbeantwortbaren Fragen, die in interlokutionären Ereignissen an uns herantreten und unsere Antworten überdauern. In dieser Hinsicht erscheint jede generelle Norm zunächst als ein Fremdkörper, den unsere Erfahrung nicht assimiliert. Welche Folgen das hat und ob es dabei bleibt, sind Fragen, die uns noch begegnen werden. Eine zweite Frage, die sich hier stellt, ist die nach der möglichen Materie der Normierung. Die Antwort auf diese Frage kann lauten: Was als konstitutiver Faktor in Reden und Handeln eingeht, kann normiert werden. Das gilt für die einzelnen Momente jeder Rede- und Handlungsthematik (s. oben B 7). Normiert werden können Raum und Zeit, so etwa im Falle von Sitzordnungen, Redelisten, Aufenthaltserlaubnissen, Festzeiten und Prüfungsterminen. Ist eine Antwort aber weniger wahr, weil sie drei Stunden nach der Prüfung gegeben wird? Doch hilft das dem Prüfling wenig, sobald der Gong geschlagen hat. Es kann festgelegt werden, wer mit wem verkehren darf, wer eine ärztliche Operation durchführen darf, welche Sicherheitsbestimmungen dabei zu beachten sind usf. Die Regelungen verfestigen sich, je mehr institutionelle Handlungen in Zeremonien übergehen, die bis ins kleinste Detail festgelegt sind. Und selbst arglose Spaziergänge dürfen nicht ohne weiteres durch Nachbars Garten führen. Weiterhin können Anomalien, und sei es der bloße Name oder der fremde Tonfall, in negative
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Auszeichnungen verwandelt werden und zur Stigmatisierung führen (Goffman). Schließlich kann der Bereich der Umgangsformen und Anstandsregeln, der gemeinhin dem Brauch überlassen bleibt, in die Normierung einbezogen werden, so bei Gruß- oder Kleiderzwang, bei Lektüreüberwachung oder bei Heiratsverboten. Umgekehrt können normative Regelungen, so etwa im Bereich der Sexualität, sich zu bloßen Usancen abschwächen oder Verstöße gar, wie etwa im Falle der Kleptomanie, dem Krankhaften zugerechnet werden. Der Bereich des Rechts kann sich insgesamt stärker ins Therapeutische und Gesellschaftliche verlagern. Was das Ordnungsgeschehen in Bewegung hält, sind Übergänge in beiden Richtungen. Die Frage nach einer möglichen Gesamtdynamik des Ordnungsgeschehens oder nach bevorzugten Trends innerhalb bestimmter Traditionen ist mit dieser typologisierenden Betrachtung freilich nicht zu beantworten. Eine letzte Frage betrifft die Verknüpfung der Normen untereinander. Die weitgehende Herauslösung von Handlungen aus ihren synchronen und diachronen Zusammenhängen hat zur Folge, daß Normen nur beschränkt von der Organisation der Rede- und Handlungsfelder profitieren. Die alte conexio virtutum, die sich aus der Einbindung der Moral in bestimmte Lebensformen ergab, ist durch Normenkomplexe wie Verfassungen, Gesetzesbücher oder Grundwertetabellen nicht zu ersetzen, und wo der Gesichtspunkt der Universalität überwiegt, kommt es zu einem Gespann von Kasuistik und abstrakter Normativität, dem die Mittellage typischer Handlungszusammenhänge und spezifischer Regelungen entgleitet. Einen Ausweg böte der bereits früher angedeutete Rekurs auf Milieus, Berufsbereiche, Lebensformen, die in Gestalt von Diskursen durchaus ihre Normen enthalten. Was für eine Sprach- und Texttheorie selbstverständlich ist, daß es nämlich ein bestimmtes Sprachsystem und variable stilistische Kanons gibt, sollte einer Handlungstheorie billig sein, denn Handelnde sprechen kein moralisches Esperanto.
12. Habitualität als Verkörperung von Ordnung Die einseitige Orientierung an der Geltung von Ordnung führt dazu, daß das Normierungsgeschehen in gesetzten Normen kulminiert und alles andere zu Vor- oder Mischformen herabsinkt. Gemessen gar an einem wie auch immer einzuholenden Vernunftrecht und einer Vernunftmoral erscheinen Sitten als bloße Gewohnheiten und Konventionen, bestenfalls als Arsenal von Klugheitsregeln, die eine glückliche und gesunde Lebensführung garantieren, aber mit dem Gesollten nur
HABITUALITÄT ALS VERKÖRPERUNG VON ORDNUNG
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sehr bedingt zu tun haben. Man wird Max Weber zwar beipflichten, wenn dieser schreibt: »Überall ist das tatsächlich Hergebrachte der Vater des Geltenden gewesen« (1976, 15), doch Einspruch erheben, wenn er »flüssige Übergänge« offenhält. Mit der Entmischung von faktisch geltenden und innerlich gültigen Normen verwandeln sich die fließenden Übergänge in Kläranlagen. Ein Satz wie: »Denn das Gesetz hat keine andere Macht sich durchzusetzen als die Gewohnheit (ἒϑος)« (Aristoteles, Politik II, 8, 1269 a 20 f.) klingt dann wie ein Satz aus der Kohlberg-Fibel; er markiert eine Stufe, die der säuberlichen Scheidung von Konvention und Moral vorausgeht. Natürlich geht es auch später nicht ohne Konventionen; doch solche, die als bloße Konventionen eingeführt werden wie etwa eine orthographische Neuerung oder eine Steuertabelle, sind harmlose Abmachungen, die allen Prestiges entkleidet sind. Sie empfangen ihre Macht nicht aus Gewohnheit, sondern aus purer Setzung oder Fortsetzung. Entzauberte Traditionen mögen ruhig in Kraft bleiben, wenn ihre eigene Kraft gebrochen ist. Um eine Traditionsstürmerei zu verhindern, genügt etwas funktionalistischer Verstand. Das Bild wandelt sich, wenn wir davon ablassen, den Blick auf Geltungsfragen zu fixieren. Auch Aristoteles setzt das Gute keineswegs mit dem von den Vätern Überkommenen (πάτριον) gleich (s. Politik II, 8). Wie unsere ›Gewohnheit‹, so hat auch das griechische ἦϑος mit Eingewöhnung und Wohnen zu tun. So spricht auch Max Weber dort, wo »die tatsächliche Übung auf langer Eingelebtbeit beruht«, von Sitte, die mehr ist als bloßer Brauch. Sind Verhaltensstil, Sprech- oder Gangart einmal in Fleisch und Blut übergegangen, so tauscht man sie nicht mehr aus wie eine Krawatte. Der inkarnierten Bedeutung entspricht ein inkarniertes Verhalten. Gewohnheit als Eingewöhnung in einen Tätigkeits- und Lebensbereich führt uns zurück auf die Organisation von Rede- und Handlungsfeldern. So wie ein wiederkehrendes Thema die aktuelle Situation überdauert und sich zu einem vertrauten Thema verfestigt, so formen sich wiederholte Äußerungen und Handlungen zu einer Haltung, einem Habitus, und das Geflecht solcher Habitualitäten bildet spezifische Tätigkeits- und Berufsfelder, überdauernde Milieus und schließlich umfassende Lebensformen und Lebenswelten, in die das aktuelle Reden und Tun eingebettet ist. Diese Habitualisierung bedeutet eine Verkörperung von Ordnung, eine unter wechselnden Bedingungen erfolgende »Einverleibung von Strukturen« (Bourdieu), die selber weder auf mechanische Abläufe noch auf Regelanwendung reduziert werden kann. Der Erwerb eines know how bedeutet ein Können, das
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alles Kennen übersteigt. Institutionen, die von solcher Verkörperung aus gedacht werden, reduzieren sich nicht auf soziale Regelsysteme, Rollengefüge und Koordinationsstränge plus subjektive Zutaten. Es sind Körperschaften im buchstäblichen Sinne. Hinter dem homo oeconomicus, politicus ... academicus steckt kein Schauspieler, der Masken aufsetzt oder abnimmt, die Masken schneiden ins eigene Fleisch, und eine Stigmatisierung, die brandmarkt, war und ist mehr als eine bloße Metapher. Keine Frage ist es also, daß die Habitualisierung auf einschneidende Weise an den Selektionen und Exklusionen aller Ordnungsbildung teilnimmt; das Erlernen bestimmter Äußerungs- und Handlungsmöglichkeiten bedeutet ein Verlernen anderer Möglichkeiten. Habitualisierung von Verhalten und Sedimentierung von Sinn besagt, daß auch die verschiedenen Selektions- und Exklusionsmechanismen sich einnisten. Selbst das Leben, dessen métier Rousseau in seinem Emile neu zu lehren verspricht, ist keine endlos sich verströmende Quelle. Hat die Habitualisierung es nun mit Kriterien der Wichtigkeit oder mit solchen der Richtigkeit zu tun oder mit beiden zugleich? Wir kommen damit auf die kriteriologische Unterscheidung zurück, an der sich unser bisheriger Überlegungsgang orientiert hat. Methodisch ist anzunehmen, daß eine solche Unterscheidung nicht einfach gegeben ist, sondern gefällt wird, ausgehend von etwas, das sich auf diese Weise zerteilt. Dabei zwingt uns der Verdacht gegenüber einer Entmischung, die alle Sitte zu bloßen Vor- und Restformen rechtlich-moralischer Richtigkeit degradiert, keineswegs dazu, zum anderen Extrem überzugehen und einer Verschmelzung von Vernunft und Sitte, von Vernunft und Tradition, von richtigem Handeln und gutem Leben das Wort zu reden. Die Verkörperung solcher Ordnungen, die in ihrer Variabilität selektiv und exklusiv angelegt sind und die nie so weit gelangen, das Ungeordnete in ihre binären Raster zu integrieren, eröffnet ein Zwischenfeld mit beweglichen Grenzen. Sie sanktioniert weder die Entleerung von Brauch und Sitte zu leeren Hülsen noch deren Hinaufsteigerung zu einem Hort der Sittlichkeit. Eine solche Verkörperung verspricht vielmehr wechselnde Konstellationen, von denen auch die Funktionen und die wechselseitige Abgrenzung von Ordnungskriterien betroffen ist.
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13. Wettstreit der Fakultäten Blicken wir nochmals zurück auf die verschiedenen Organisationsweisen, so zeigt sich am Ende eine Art von Wettstreit der klassischen Fakultäten. Die Strukturbildung, die Rede- und Handlungsfelder erzeugt und verändert und die wir unter das Leitwort der Wichtigkeit gerückt haben, läßt Raum für eine Ökonomie der Kräfte, für Kräftespiel und Kräfteaustausch, und für eine Politik, in der Fragen der Dominanz und der Durchsetzung von Gesichtspunkten und Standorten auftreten, und beides ist nicht nur auf Ordnungen einer Gruppe, sondern auch auf die Ordnungen im Leben des Einzelnen zu beziehen; daß es einen »Bürgerkrieg« in der eigenen Seele geben kann, ist uns von Platon bis Freud geläufig. Der Hinweis auf Ökonomie und Politik soll nicht besagen, daß die Einrichtung und Veränderung von Ordnung auf Kräftespiele und Machtkämpfe zu reduzieren ist, er soll nur besagen, daß diese Momente unausweichlich in das Ordnungsgeschehen hineinspielen, eben weil Ordnungen selektiv und exklusiv auftreten. Mit der Normenbildung, die wir kontrastweise unter den umfassenden Gesichtspunkt der Richtigkeit gerückt haben, geraten wir ins Zuständigkeitsgebiet anderer Fakultäten. Die Normalität ist, wenn auch nicht ausschließlich, so doch prototypisch der Medizin verpflichtet, da es hier im Falle der Störung um Heilung geht. Der Bereich der Sitten und Üblichkeiten bildet eine breite Mittelzone, die sich eng an spezifische Rede- und Handlungsfelder bzw. an verschiedene Lebensformen anschließt. Diese Mittelzone ist die Domäne synchron und diachron verfahrender Sozialwissenschaften. Die Normativität im strikten Sinne findet ihren Rückhalt in der Jurisprudenz, wo es im Falle von Verstößen um Bestrafung geht. Eine bestimmte Art der Moralphilosophie (und Moraltheologie), die sich primär auf die Prüfung und Rechtfertigkeit von Normen verlegt, hält sich methodisch durchaus im Bannkreis des Rechts, so wie man den Moralisten als Richter ohne Zwangsgewalt bezeichnen kann. Wenn die Philosophie sich an diesem Wettstreit beteiligt, so sollte sie es weniger einseitig tun und eher im Stil einer Interfakultät. Dieses Tableau mag man im einzelnen abändern und ergänzen, wie man will, als Orientierungstafel taugt es wohl auch so. Deutlich wird, daß die verschiedenen Ordnungsformen sich nicht zu einer kontinuierlich ansteigenden oder anwachsenden Gesamtordnung vereinen. Vor allem zwischen dem Bereich der Feldstrukturen und dem der Normen besteht eine nicht zu behebende Spannung. In dem ersten Bereich geht es um eine fortdauernde Einrichtung von Ordnung in einem Ge-
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schehen, das als produktiv bzw. reproduktiv zu bezeichnen ist und auf begrenzte Ganzheiten wie Tätigkeitsfelder, Alltagsmilieus und Lebenswelten ausgerichet ist. Im zweiten Bereich geht es dagegen primär um die Wiederherstellung von Ordnungen in Prozessen, die einen korrektiven Charakter haben und sich in erster Linie auf Einzelstörungen und Einzelverstöße beziehen. Bezeichnend ist es, daß die Normen um so stärker zur negativen Form des Verbots hintendieren, je allgemeiner sie werden. Dies hängt damit zusammen, daß man Lebens- und Tätigkeitsbereiche nicht gebieten kann, man kann nur an und in ihnen arbeiten. Wenn ich hier weiterhin Medizin und Jurisprudenz als maßgebende Instanzen heranziehe, so mit einer wichtigen Einschränkung. Ich klammere Gesundheits- und Rechtspolitik aus und lasse auch außer acht, daß es einmal so etwas wie Diätetik und Epitreptik gab, Lehren also, die es mit dem gesunden und richtigen Leben zu tun hatten. Kurz, ich lege einen traditionellen Grundriß an, der unsere Problemlage nicht nur illustriert, sondern auch exemplifiziert und der von der Wandlung der Problemlage nicht unberührt bleibt. Jede Einrichtung einer Normeninstanz hat als Einrichtung ihre ökonomischen und politischen Implikationen, Ökonomie und Politik beginnen und enden nicht dort, wo Märkte und Amtsgewalten sich etablieren. Doch damit sind wir mitten in den Fragen, die uns hier beschäftigen und uns auch weiterhin nicht loslassen werden. Wir haben die Abfolge verschiedener Ordnungsweisen zugespitzt auf den Aspekt gleichzeitiger Selektionen und Exklusionen, beides zu verstehen nicht als Auswahl und Ausschaltung vorhandener Wirklichkeiten und Möglichkeiten, sondern als Entstehung eines vielfach geregelten Zusammenhangs, dem nichts vorausgeht als anders geregelte Zusammenhänge. Anderweitige Kennzeichnungen des Ordnungsgeschehens, etwa als Sicherung, Stabilisierung oder Aneignung, wurden bewußt zurückgestellt, weil sie bereits auf zu später Stufe einsetzen. Was wird gesichert, stabilisiert oder angeeignet? Bei Selektion und Exklusion gibt es einen Entstehungsherd, wo diese Frage sich nicht mehr stellt. Neben der Frage nach der Einrichtung von Ordnung stellen sich natürlich viele weitere Fragen wie die nach Reichweite und Dauer, nach Art der Verkörperung und Absicherung, nach Wirkungen und Funktionen der Ordnung. Vieles davon überschreitet die Grenzen unseres Themas. Nicht zu umgehen ist dagegen ein Fragenkomplex, der immer wieder aufgetaucht ist: Welches ist die Dynamik, die alle Ordnungsvielfalt in ein Ordnungsgeschehen verwandelt, und wo hat sie ihren Ort? Nimmt die Bewegung eine Richtung? Und wenn eine Entwicklung zum Ganzen, zum Höheren, zum Strengeren ausscheidet,
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woher nimmt die Bewegung dann ihr Richtmaß? Droht damit nicht der Absturz in Willkür und Gewalt? Wir werden diese Fragen aufgreifen, indem wir an einem vielumstrittenen Punkt anknüpfen, den wir bisher mit Bedacht beiseite gelassen haben. Welche Kriterien und Maßstäbe gibt es, um gute von schlechten Sitten, berechtigte von unberechtigten Normen zu unterscheiden? Diese Frage gibt uns Anlaß, die Frage nach der Vertretbarkeit von Ordnung noch einmal in ganzer Breite aufzurollen bis in die Zonen hinein, wo der Gegensatz von Wichtigkeit und Unwichtigkeit tonangebend ist. Die Gefahr, daß alles Ungeordnete in Unordentliches verwandelt wird, erhöht sich nämlich, wenn so erhabene Worte ertönen wie Recht und Moral.
C. BEGRÜNDETE ODER BELIEBIGE ORDNUNG?
1. Ordnungen begrenzter Reichweite Ordnungen, die durch Selektion und Exklusion entstehen, produzieren ihre Grenzen mit. Das gilt für Feldstrukturen, die variablen Relevanzkriterien gehorchen und vieles überhaupt im Hintergrund lassen, anderes an den Rand drängen oder als atypisch beiseite setzen, das gilt ebenso für Normen, die anomales, unziemliches und schließlich unrichtiges Verhalten disqualifizieren. Die Grenzen, die hiermit entstehen, sind auf der Ebene von Erfahrung, Reden und Handeln nicht zu überwinden. Ein Thema, eine Gestalt, eine Struktur lassen sich zwar verengen oder ausweiten, man kann zwischen Fein- und Grobstruktur wählen. Doch wie es Nah- und Fernsicht gibt, so gibt es Maximal- und Minimalgrenzen; werden sie überschritten, so verschwimmt das Thema in einer Leere oder Überfülle und verschwindet schließlich ganz. Themen oder Gestalten halten sich nur so lange durch, als sie sich aus einem Umfeld herausheben; ihre Konturen sind zugleich bestimmend und abgrenzend. Die Grenzen der Erfahrung können zwar mit künstlichen Mitteln überschritten werden, aber dadurch wird diese im strengen Sinne nicht erweitert. Die Großwelten, die sich im Teleskop zeigen, und die Kleinwelten, die im Mikroskop zu sehen sind, schließen sich nicht kontinuierlich an das natürliche Gesichtsfeld an, sondern bilden darin künstliche Inseln, die eigenen Feldgesetzen gehorchen. Ähnliches gilt für den Gebrauch von Computerprogrammen; zwischen Buchlektüre und Auswertung von Computermaterialien liegt ein Sprung, weil Daten anders organisiert sind als eine Buchseite. Um ein letztes Beispiel zu nehmen, der Eisenbahnzug setzt meine Gehbewegung nicht einfach fort, als ginge ich, nur eben schneller und weiter als sonst, vielmehr trete ich in der Zugfahrt in eine Reiseszenerie ein, die wiederum ihre eigenen Orientierungs- und Bewegungsgesetze hat. Ein allumfassendes Feld wäre wie eine Gestalt ohne Konturen und Hintergrund oder wie eine Struktur ohne Strukturiertes, ein Erfahrungsfeld, worin der Erfahrende Standorte bezieht und wechselt, wäre es nicht mehr. Ähnliches gilt für die Ausformung des in einem Feld auftretenden Etwas oder Jemand, die zu einem wiederholbaren Typus führt. Als sinnliche Idee, als materialisierte oder verkörperte Gestalt läßt sich seine Allgemeinheit steigern bis hin zu einem unbestimmten ›da ist etwas‹ oder ›da ist jemand‹, (s. Huss. XIX/1, 410), doch Generalisierung des Sinnlichen führt weder zu einer obersten Gattung noch zu Universalien. Die Generalität kann sich in verschiedene Richtungen verzweigen, stößt aber nie an eine oberste Grenze und läuft nie auf
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einen einheitlichen Punkt zu, denn dazu bedürfte es einer Übersicht, die keine Sicht mehr wäre. Für den Bereich der Normen, einschließlich der Normalitäten, der Sitten und Gebräuche, stellt sich das Problem etwas anders dar. Hier werden Grenzen nicht nur miterzeugt, sondern eigens gezogen: das Verbotene ist das Gegenteil des Gebotenen und nicht nur etwas anderes. Normen, die nichts ausschlössen, wären wie Messer, die nicht schneiden. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Warum gerade diese Grenzen und nicht andere? Die Frage stellt sich um so mehr, als Normen zunächst allesamt bedingt sind, und zwar nicht etwa so, daß notwendigerweise ihre Befolgung, wohl aber so, daß ihr Bestehen an Bedingungen geknüpft ist. Denn ähnlich wie sprachliche Regeln und Normen sind auch Handlungsnormen zunächst eingebunden in typisch wiederkehrende Kontexte und in relativ abgeschlossene Diskurse, die ihrerseits wandelbar sind. Eine Norm, die anordnen wollte, was man unter allen Umständen zu tun hat, müßte sich an einen Handelnden überhaupt richten, den es ebensowenig gibt wie eine feldübergreifende Sicht und eine diskursübergreifende Rede. Und eine Norm, die feststellt, was man unter keinen Umständen tun dürfte, müßte ihre Kontext- und Diskursunabhängigkeit auf irgendeine Weise dartun; denn jede Gebots- und Verbotsstimme, auch die der diversen Götter und ihrer Vertreter, spricht von irgendwoher, selbst wenn sie überall Geltung beansprucht. Es gibt also keinen Schritt, der geradewegs und unvermittelt über die Grenzen der Erfahrungsfelder und ihrer normativen Regelungen hinaus auf festen Boden führen würde. Die klassischen Auswegversuche, die mit dieser Schwierigkeit rechnen, laufen darauf hinaus, die Grenzen zu entschärfen. Die beiden Auswege, die ich dabei im Auge habe, lassen sich charakterisieren als Weg der Totalisierung, der zu einer wahren Welt aufsteigt, und als Weg der Universalisierung, der auf universale Normen ausweicht. In beiden Fällen besteht der Ausweg in einer gewissen Verdoppelung, einer Verdoppelung der sinnlichen Welt durch eine intelligible, einer Verdoppelung der positiv geltenden Normen durch innerlich gültige, was jeweils zu gegenläufigen Schwierigkeiten und zu positivistischen Gegenreaktionen führt. Totalität, Universalität und Positivität sind also die drei zentralen Momente, um die sich die folgenden Überlegungen drehen; der Steigerungstendenz, die auf einen jeweiligen Ismus hinausläuft, gilt unser besonderes Augenmerk.
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2. Kosmos als Gesamtordnung Den Aufstieg zu einer wahren Welt des Kosmos finden wir bei Platon und mit gewissen einschränkenden Unterscheidungen und Abgrenzungen auch bei Aristoteles. Dies ist eine erste Antwort auf unsere Frage nach der Ordnung; sie hat den vorausgehenden Überlegungen wiederholt als Folie gedient und ist nun eigens zu erörtern unter Bezugnahme auf die Unterscheidungen, die im vorigen Kapitel getroffen wurden. Die Suche nach einem Kosmos kann man betrachten als den Versuch, die Ordnung der Welt mit den Kriterien der Wichtigkeit oder der Lebensbedeutsamkeit zu entwickeln, unter Hintanstellung aller Fragen normativer Richtigkeit. Dieser Versuch erfordert allerdings eine winzige Blickdrehung. Wichtigkeit als das Gute für uns wird emporgesteigert zu einer Wichtigkeit an sich, die das Gute selber ist, entfaltet zu seiner ganzen Fülle und ausgebreitet mit all seinen inneren Bezügen. In moderner Diktion handelt es sich um eine substantielle oder materiale Rationalität, die den Dingen selber entsteigt. Weil die Ordnung in den Dingen verkörpert und angelegt ist, sind Normen im strengen Sinne, nämlich als Vorschriften, denen das Verhalten unterworfen wäre, nicht am Platze. Moderne Autoren, die eine solche Ethik als deskriptivistisch oder intuitionistisch einstufen, gehen an dem entscheidenden Punkt vorbei. Wenn es einen Kosmos gibt, der eine allgemeine Zielrichtung vorschreibt, so sind Gesetze nicht zu erlassen, sondern herauszufinden. Das Fehlen dogmatischer Tendenzen in der attischen Tradition trifft sich mit einer Minimalisierung institutioneller Regelungen und Normen, wie es nicht nur in der alltäglichen und politischen Praxis anzutreffen ist, sondern auch bei deren späteren Interpreten. Dort, wo nach Richtschnuren und Richtmaßen gefragt wird, werden sie aus dem Maßwerk der Dinge gewonnen und weiterentfaltet. Ein emphatisches Sollen hätte buchstäblich keinen Adressaten, was Kant dann dahin wendet, daß man sein Glück niemandem befehlen müsse – als ginge es Platon und den Griechen nur um das Glück des Menschen. Zur Verankerung der Ordnung in den Dingen paßt auch, daß es einen Schöpfer dieser Ordnung im strengen Sinne nicht gibt. Der Demiurg im Timaios hat Urbilder vor Augen wie ein menschlicher Handwerker und ist somit wohl zu begreifen als Personifikation der Ordnung selber, und der ›erste Beweger‹ muß sich nicht um die Dinge kümmern, die ohnehin ihm als dem Inbegriff der Wirklichkeit zustreben. Eine Ordnung, die keiner äußeren Begründung fähig und bedürftig ist, weil sie als Gesamtordnung alles Licht in sich enthält, braucht keinen Ordner;
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gäbe es ihn, er wäre noch arbeitsloser als der deistische Gott, der den Weltball anstößt. Kosmos als Gesamtordnung besagt, daß alles sich in ihn einordnet wie ein Teil ins Ganze. Es besagt, daß je nach Seinsmächtigkeit die niederen Wesen sich den höheren unterordnen, ohne daß diese auf ein Vorrecht pochen müßten. Es besagt schließlich, daß auf jeder Stufe Nebensächliches dem Wesentlichen beigeordnet ist. Hintergründe und Ränder entfallen, denn es gibt ein gegliedertes und gestuftes Gesamtthema, also kein Feld mit seinen Grenzen. Denn der Standort des menschlichen Betrachters ist ein verschwindender, er verschwindet, je mehr er sich dem Panorama des göttlichen Blicks nähert, der seinen Ort überall und allezeit hat. So ist überhaupt die Sprache des alles oder alle die adäquate Ausdrucksweise des Alls, wie es die berühmten Anfangssätze der Aristotelischen Lehrschriften bezeugen. Was im Grenzfall herausspringt, ist eine Gestalt ohne Grund, ein reines blendendes Licht, an das unser Auge sich nur mit Mühe gewöhnt (Politeia, VII). Diese tageshelle Mystik einer Gestalt ohne Grund findet ihren Gegenpart in der nächtlichen Mystik eines Grundes ohne Gestalt. Die Schau des Kosmos sprengt den Rahmen des Sehens. Ist dies vielleicht das kräftigste Indiz dafür, daß die Grenzen des Sehens sich nur zeigen, nicht überwinden lassen? Im übrigen tendiert die Vision des Ganzen zur Großzügigkeit im Einzelnen. Selbst Platon verzichtet darauf, sein Gemeinwesen in allen Einzelheiten auszumalen, und das gilt in erhöhtem Maße für Aristoteles. Das Zutrauen in die Ziele, auf die das Leben des Einzelnen wie das des Oikos und der Polis hingeordnet ist, gestattet es ihm, Tugenden nur τύπω, vorzuführen, in ungefähren Umrißzeichnungen, die durch praktische Findigkeit zu füllen sind (Nik. Eth. II, 2, 1104 a 1). Ein Hermeneut ist er dennoch nur in Maßen, denn was hinter den Handlungstexten steht, ist weder eine göttliche Stimme noch die pure Sitte, sondern der Kosmos, in dem der Mensch seinen Platz suchen muß, den er schon hat. In diesem Kosmos hat alles seinen natürlichen Ort, nicht nur der Stein, sondern auch die Polis, die den rechten Abstand zum Meer wahrt, und alles hat seine natürliche Zeit, vom rechten Zeitpunkt der Heirat über die Lehrjahre bis hin zur Akme als dem Höhepunkt der Lebens- und Schaffenskraft. Doch ist diese Gesamtordnung großzügig genug, selbst Zufälle zuzulassen, in denen sich ein wenig von der Widerspenstigkeit der ἀνάγϰη rührt, mit der selbst der göttliche Demiurg und auch noch der Staatengründer (Nomoi 757 e) rechnen muß. Von Pedanterie ist diese Kosmologie weit entfernt. Und dennoch. Sind die Grenzen der selektiven und exklusiven Ordnungen, mit denen es unsere Erfahrungen zu tun haben, wirklich ent-
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schärft oder nur überspielt? Die Antwort auf die Frage nach den Ordnungskriterien hebt sich selbst auf, wenn der Ordnung nichts mehr entgegensteht als die Ordnungslosigkeit, das Chaos, sei es in der Natur, sei es in der menschlichen Gemeinschaft. Wer wollte dieses schon verteidigen, ohne selber ein Chaot zu sein? Bei den Leugnern der göttlichen Ordnung packt den späten Platon doch noch die Ungeduld; für die ärgsten unter ihnen ist ein σωφρονιστήριον vorgesehen, ein Haus, in dem sie zur Besinnung gebracht werden und dessen Namen Schleiermacher nicht unpassend mit ›Zuchthaus‹ wiedergibt (Nomoi 908 a). Daß es an einem »möglichst wilden Ort «(ὡς ἀγριώτατος τόπος)« zu liegen hat, unterstreicht die Herkunft des Chaos: es kommt aus der Wildnis, wie der Wolf. Der Kosmos drängt alles Ungeordnete über die Schwelle zurück, zeigt dabei aber die Grenzen seiner Integrationskraft, die auch dann nicht schwinden, wenn man die Ordnung mit der weichen Hülle alltäglichen Einverständnisses umgibt.
3. Sprünge im Weltall Als Prüfstein für Ordnung und Unordnung dient den klassischen Denkern eines physischen und politischen Kosmos die Gerechtigkeit, die jedem das Seine zuweist und einen allgemeinen Ausgleich bewirkt. So heißt es in der eingangs zitierten Definition von Augustinus auf gut platonische Weise: ordo est parium dispariumque sua cuique loco dispositio. Das Ordnen als Stellenverteilung und Platzzuweisung hat es seit eh und je mit dem Problem einer vorgängigen Gleichheit und Ungleichheit zu tun. Wären alle Platzanwärter von Natur aus gleich, so hätten sie allesamt Anrecht auf gleichwertige Plätze oder, wenn es die nicht gibt, auf denselben Platz. Eine stabile Stufenordnung wäre so nicht zu erwarten. Nun, diese Schwierigkeit haben Platon und Aristoteles nicht, da die Lehrmeister des klassischen politischen Denkens nicht nur im Kosmos, sondern auch in der Polis und zwischen verschiedenartigen Gemeinwesen mit einer naturgegebenen Ungleichheit rechnen. Selbst Aristoteles, der die Gleichheit der Bürger in der Polis anvisiert und für diesen Fall auch eine Herrschaft reihum vorsieht (Politik II, 2), denkt dabei natürlich nicht an Frauen, Metöken und Sklaven. Dabei ist zu beachten, daß der Begriff der Gleichheit primär politisch und nicht formal rechtlich gehandhabt wird, so daß selbst bei allgemeiner Mitwirkung der Bürger der tatsächliche Einfluß auf das öffentliche Geschehen, wie bis heute nicht anders zu erwarten, offiziell wie inoffiziell beträchtlich variiert. Alle Ordnungsüberlegungen zielen unter diesen
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Umständen darauf ab, eine höhere, nämlich proportionale Form der Verhältnisgleichheit herzustellen. Ordnung besteht dann darin, daß jedem das Seine an Ehren und Ämtern zugeteilt wird, dem Tüchtigeren mehr, dem Untüchtigeren weniger, so daß der eine höher steht, der andere niedriger, doch jeder an seinem Platz ist. Die höchste Form der Ungerechtigkeit läge dagegen darin, daß man »Gleichen wie Ungleichen gleichmäßig eine gewisse Gleichheit austeilt«, was laut Platon in der herrschaftslosen Staatsform (πολιτεία ἄναρχος) der Demokratie geschieht (Politeia 558 c, s. auch Nomoi 757 a-758 a). Die crux jeder solchen Austeilung liegt darin, das Maß (μέτριον) der Würdigkeit (ἀξία) (Nik. Eth. V, 6, 1131 a 24 ff.) zu bestimmen, nach dem darüber entschieden wird, wem mehr gebührt, wem weniger. Als nüchterner Sammler politischer Verfassungen kann Aristoteles zugeben, daß dieser Maßstab von Verfassung zu Verfassung variiert. Und selbst Platon stellt diese schwer auszulotende höhere Gleichheit dem »Urteilsspruch des Zeus« anheim, dem die Menschen nur näherungsweise gerecht werden (Nomoi 757 b). Doch letzten Endes lautet die Antwort auf die Frage nach dem Maß: das Maß liegt in der Natur, speziell in der Natur des Menschen bereit. Wäre es anders, so gäbe es Ordnungen, aber nicht die Ordnung, nicht den Kosmos und keine Form des Gemeinwesens, die in sich selbst gerecht ist. Wie aber, wenn Gleichheit und Ungleichheit nicht einfach in den Dingen lägen, wenn sie selber unter bestimmten Bedingungen entstünden? Dieser Verdacht verdichtet sich bei Nietzsche zu der Feststellung: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das ›Blatt‹ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre« (III, 313). Die platonischen An- und Gegenklänge sind nicht zu überhören. Das Vergessen, das bei Platon der Sinnenwelt ihre Existenz verleiht, verleiht hier der Ideenwelt ihre Schein-Subsistenz. Einmal vergißt die Seele, welche Ordnung sie geschaut hat, das andere Mal vergißt die Seele oder besser der Leib, welche Ordnung er angerichtet hat – ein Vergessen, das durch die Rede von Gleichen (ἴσοι) und Ungleichen (ἄνισοι) erleichtert wird, weil es so aussieht, als sei die Gleichheit ein Attribut und keine Relation. Doch die angerichtete Ordnung ist eine zweifel-
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hafte Ordnung; denn Nietzsches Bemerkungen suggerieren den Gedanken, daß es den unverbrüchlichen Maßstab, der uns eine wahre von einer falschen Welt scheiden ließe, gar nicht gibt. Wir haben nur eine Kette von Metaphern, und was sich vom Nervenreiz über Bild und Laut bis auf den Begriff überträgt, ist alles andere als ein wahres Abbild einer wahren Welt. Dennoch kommt es zu einem minutiösen Sieg von Platon über Hume. Von Hume stammt der Nervenreiz, der nichts wiedergibt, doch soviel bleibt von Platon, daß ohne das Gleichsetzen des Nichtgleichen, das heißt ohne Festsetzung eines anfänglichen Maßstabs, ohne ›Feststellung‹ des Sinnlichen, gar nichts zu sagen und zu tun wäre. Auch Humes Assoziationsgesetze führen nicht weiter, solange die selegierenden Gesichtspunkte unerklärt bleiben; denn auf irgendeine Weise ist jedes jedem ähnlich oder unähnlich, und insofern ist die Ähnlichkeit nicht gegeben, sondern gestiftet. Ohne Gleichsetzung des Ungleichen und ohne ein Vergessen der Unterschiede gäbe es alles und somit nichts. Das »unerbittliche Gedächtnis«, das Borges seinem »unbändigen bodenständigen Zarathustra« zuschreibt und das zu keiner platonischen Idee imstande ist, gebiert eine »nimmermüde Wirklichkeit«, deren Vollgepfropftheit Babylon, London, New York in den Schatten stellt und unserem Gedächtnishelden zum Verhängnis wird (Borges 1970, 213 ff.). Was hiermit hervortritt wäre – platonisch gesprochen – eine unausweichliche Ungerechtigkeit, die nicht naturgegeben ist, sondern mit jeder Ordnung neu erzeugt wird. Fragen könnte man allerdings, ob dem Gleichsetzen des Ungleichen und dem Vergessen der Unterschiede nicht die umgekehrte Form der Ungerechtigkeit vorausgeht, nämlich ein Ungleichwerden der monotonen Gleichheit und ein Sichunterscheiden, ohne das es für uns nichts gäbe, was gleichzusetzen wäre. Denn was ›es gibt, ist ein Ordnungsgeschehen, dem weder Ideen noch Individuen als schlichte Gegebenheiten vorausgehen. Eine doppelte Ungerechtigkeit also? Auf jeden Fall kein fugenloser Kosmos, in dem alles seinen Platz fände.
4. Totalität und Totalitarismus Der wunde Punkt einer jeden Gesamtordnung liegt darin, daß alles, was sich ihr entzieht, zwangsläufig den Charakter des Unordentlichen annimmt; denn die Alternative für eine totale Ordnung kann nur das Chaos sein. Gäbe es diese Gesamtordnung, sie würde alle Schatten tilgen. So tun beim Heiligen Augustinus die Höllenqualen den Him-
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melsfreuden keinen Abbruch, weil selbst in den Höllenfeuern der Widerschein göttlicher Gerechtigkeit auszumachen ist. Vielleicht entspringt diese erhitzte Vision dem Übersoll eines Bekehrten, immerhin weist sie auf mögliche Konsequenzen hin, von denen auch ein Platon sich nicht ganz frei hielt. Gleichwohl sind Nuancen und Unterscheidungen am Platz. An erster Stelle könnte man sprechen von einer gelebten Totalität, die daraus entspringt, daß eine Gruppe ihre eigene Lebensweise fraglos als die wahre Ordnung ansieht. Hierbei handelt es sich um eine Doxa und eine Praxis, die sich zur Orthodoxie und Orthopraxie verfestigt, ohne den Status der ›natürlichen Einstellung‹ zu verlassen. Der Status einer solchen geschlossenen Gesellschaft läßt jede fremde Lebensform als drohendes Chaos erscheinen. Da die Abschirmung nicht durch Argumente geschieht, die einen Grund und Boden schaffen, der innere Sicherheit verleiht, kommt es vielfach zu einer Überregelung der Lebensabläufe, die eine starke Abriegelung nach außen hin zur Folge hat. Die normativen Regelungen haben ein außerordentliches Gewicht und eine außerordentliche Reichweite, sofern sie weitgehend eingeschmolzen sind in all die Ordnungsformen, die wir von der Normativität unterschieden haben. Dazu gehören strikte Heiratsregeln, Speisevorschriften, Diät-Rezepte, Festrituale, Arbeitsverteilungen, Geschlechterrollen, Altersvorrechte usf., all das, was wir aus den Handbüchern der Ethnologen oder auch schon aus einem Gesetzestext wie dem 2. Buch Moses kennen. Die präferentielle Wichtigkeit der Lebensbelange, die der Eigengruppe zugeschrieben werden, ist nicht nur zur Wichtigkeit an sich emporgesteigert, sondern zugleich normativ abgestützt, in der Regel mittels religiöser Mythen und Riten. In einer Art von Über-Feststellung des Tieres mimt der Mensch die geschlossene Umwelt und die Instinktsicherheit des Tieres, obwohl diese ›Naturwüchsigkeit‹, wie kulturelle Varianten selbst bei den archaischsten Gesellschaften zeigen, keineswegs der Natur entstammt. Das Mimikry wäre vollkommen in einer durchgängigen Normierung und Ritualisierung des Lebens; doch würde dieser Grenzwert erreicht, so wäre das Leben der Gruppe immobilisiert, unfähig, sich auf neue Herausforderungen einzustellen. Von einer solchen gelebten und in sich abgeschlossenen Gesamtordnung sind die griechischen Kosmologien oder Physiologien weit entfernt. Sofern der Kosmos sich in einem Logos entfaltet und dieser Logos in einer Theoria gipfelt, können wir von einer erschauten Totalität sprechen. Die Doxa ist hier auf dem Weg zu einer Episteme. Die Totalität steht nicht nur allem offen, was es an partiellen Ordnungen in der Welt gibt, sie bietet sich auch in einer offenen Form dar, solange
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die Denker des Kosmos an der Differenz festhalten zwischen der Ordnung an sich und der Ordnung für uns, oder aristotelisch gesprochen: zwischen dem Guten schlechthin und dem Guten für uns, und solange die Vergöttlichung (ϑείωσις) eine Angleichung an Gott (ὁμοίωσις ϑεῷ) (Theaitet 176 b) bleibt. Denn solange diese Beschränkung zugestanden wird, bleibt die Ordnung ein zu suchendes Ganzes, das in niemandes Besitz ist. Und in der Tat haben weder Platon noch Aristoteles ein philosophisches System ausgebildet, der eine nicht, sofern er in seinen Dialogen immer wieder neue Fragen erprobt, der andere nicht, sofern auch er seine Metaphysik aporetisch anlegt und im übrigen auf der Eigengesetzlichkeit verschiedener Wissensformen beharrt. Dies alles sei zugestanden, es bleibt dennoch eine ganz zentrale Schwierigkeit. Schon der Gedanke, daß es diese alles versöhnende und alles in sich vereinigende Gesamtordnung gibt, genügt, um alles Fragen und Suchen in eine bestimmte Richtung zu drängen, Differenzen und Konflikte herunterzuspielen und dort, wo dies nicht mehr gelingt und Alternativen unumgänglich werden, auf die große Scheidung von Ordnung und Chaos auszuweichen. Differenzen tendieren dazu, ins Indifferente, Gleichgültige abzugleiten, sich stufenförmig anzuordnen oder aber in die große Differenz von wahr und falsch, von gut und böse einzumünden. Diese kosmische Physis macht keine Sprünge und erträgt keine Sprünge, sie ist aus einem Guß, oder sie wäre nicht, was sie zu sein beansprucht. Es wäre vermessen, dieser Vision ihre Größe und Würde, ihre Erschließungs- und Zugkraft abzusprechen, dennoch ist nicht zu leugnen, daß alle Entdeckungen und Erfindungen letzten Endes mit dem Firnis des Unabänderlichen überzogen, daß Fugen und Risse gekittet werden. Und wenn das Für-uns sich nicht gänzlich einem An-sich integrieren läßt, so bleibt nicht aus, daß in die Ordnung Präferenzen einströmen, die einer bestimmten Lebensform angehören, so bei Aristoteles die Sklaven von Natur aus, die Unterordnung der Frauen, die Aussetzung geschwächter Nachkommen, bei Platon die doppelte Kriegsführung gegen Griechen und Barbaren, wovon einiges bis heute Schule macht. Nicht darauf kommt es an, daß solche kollektiven Idiosynkrasien sich breitmachen, keine Zeit bleibt davon verschont, was hier zählt, ist die Art, wie sie verfestigt werden. Dabei liegt das Problem nicht darin, daß die Natur nichtssagend, sondern daß sie vielsagend ist. Sie legt manches nahe, scheidet anderes aus, aber sie erteilt keine eindeutigen Direktiven, so daß jede schlichte Berufung auf die Natur zu einem Gewaltakt wird, der die Dinge eindeutiger macht, als sie sind. Man liest heraus, was man teilweise hineingelesen hat, und nennt es dann Natur der Sache. Maßt jemand sich an, für dieses Ganze
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zu sprechen und dessen Sprüche durchzusetzen, so gewinnt die Gesamtordnung totalitäre Züge, und sofern die selegierenden Interessen, die jede Lebensform durchziehen, sich hinter den Belangen des Ganzen verstecken, setzt sich die Idee des Ganzen dem Ideologieverdacht aus. Das nicht festgestellte Tier, das sich zu einem »Fast-Gott« aufschwingt, der die ganze Welt zur Heimat hat, bringt die Welt zu gut in Ordnung. Zwischen gelebte und erschaute Totalität schiebt sich mancherlei, organizistische Neuauflagen des Kosmos, methodische Formen des Holismus, und schließlich gibt es die pervertierte Form einer gemachten Totalität, wo Lebensgrenzen zu ideellen Grenzen emporgesteigert und Feinde geschaffen werden. Das Vakuum, das eine zerfallende religiöse oder kosmologische Ordnung hinterläßt, wird mit Surrogaten gefüllt, der verordnete Kosmos, der diesen nachäfft, macht Anleihen bei der Fraglosigkeit und Geschlossenheit der Doxa, bei archaischen Ängsten und Wünschen, doch gleichzeitig werden raffinierte Techniken eingesetzt, um sie in die Bahnen einer neuen Gesamtordnung zu lenken. Da für eine solche Stammes-Philosophie überzeugende Gründe schwerlich beizubringen sind, werden Mittel wie Propaganda, Indoktrination und Drill eingesetzt. Das Paradox einer künstlich geschaffenen Gläubigkeit gelingt nur, wenn das Machwerk selber als natürlich erscheint. Sofern nicht bloß eine Totalität bewahrt oder gesucht, sondern die Totalität zum Prinzip erhoben wird, können wir von Totalitarismus sprechen, in deren Pseudo-Archaik Religion, Wissenschaft, Kunst, Politik und Erziehung ineinanderfließen, gesteuert durch funktionale Imperative wie: alles für ... Was hier Interesse verdient, sind nicht die sehr dürftigen Ordnungsgehalte, wohl aber die Mechanismen ihrer Durchsetzung und mehr noch die Bedürfnisse, die solch artifiziellen Gebilden, solchen Weltanschauungen ohne Anschauung Nahrung geben.
5. Von der Gesamtordnung zur Grundordnung Eine wahre Welt, in der die relative Bedeutsamkeit oder Wichtigkeit bestimmter Handlungsweisen und Lebensformen zu einer absoluten Wichtigkeit hochgesteigert und erweitert wird, ergibt die Möglichkeit, die Frage nach der Richtigkeit unseres Verhaltens von den Sachen selbst her zu beantworten. Die Ordnung der Dinge ist zugleich eine Ordnung in den Dingen. Wenn diese übersteigerte Gesamtordnung, wie auf die Dauer zu erwarten, Sprünge zeigt und sich in Ordnungen zerteilt, die bis zu einem gewissen Grade auch anders sein könnten, so droht genau das, was
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bislang als einziger Gegenpart des Kosmos gegolten hat: das Chaos, und dies im Erkennen so gut wie im Handeln. Das Chaos kann in der weichen Form der Beliebigkeit auftreten oder in der harten Form der Gewalt. Ob die spielerische oder die gewaltsame Form der Beliebigkeit in den Vordergrund tritt, ist eine Frage der politischen Konjunktur. Was kann man dem drohenden Chaos entgegensetzen, wenn die Ordnung in den Dingen dahinschwindet? Regeln, denen wir als Redende und Handelnde zu folgen haben, gleich wie es mit der »Ordnung der Dinge« (KrV B 576) bestellt sein mag. Die Frage nach der Wichtigkeit an sich, nach dem Guten tritt zurück und verschwindet hinter der Frage nach der Richtigkeit von Verhaltensvorschriften. Die Anordnung als kosmische Disposition weicht einer Anordnung im Sinne praktischer Imperative. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Umbrüche und Krisen sowohl im biographischen wie im historischen Maßstab betrachten. Es handelt sich um typisch wiederkehrende Problemlagen, die aber auch in diesem Falle verschiedene Lösungen zulassen. Die hier skizzierte ist eine mögliche. Ich denke dabei mit zurückhaltender Vorsicht an bestimmte Entwicklungen, die an der Schwelle der Neuzeit mit dem allmählichen Zerfall kosmischer und feudal-gesellschaftlicher Ordnungen in Gang kamen und in philosophischen Autoren wie Hobbes oder Hume ihren besonders deutlichen Ausdruck finden. Denn was man etwas notdürftig unter das erkenntnistheoretische Etikett des Empirismus faßt, kann man auch als das Bemühen ansehen, sich dem Zerfall substantieller Ordnungen zu stellen, ohne sich sogleich hinter einem Ersatz-Kosmos, Ratio genannt, zu verschanzen. Mit der Verlagerung der Ordnungsproblematik von der Ebene der Wichtigkeit auf die der Richtigkeit verwandelt sich die Frage nach der wahren Welt in die Frage nach wahren Normen. Der Königsweg zur Beantwortung dieser Frage, der in Königsberg beginnt, ist ein Rechtsweg, der unter dem Namen ›Universalisierung‹ läuft.
6. Universale Normen als Minimalordnung Der Blick, dem das Ganze entschwindet und der doch weiter nach einem solchen Ausschau hält, behält nur disjecta membra zurück, unverknüpfte Einzelheiten, eine gegebene Mannigfaltigkeit, die auf ihre conjunctio wartet. Einem Wesen, das vor diesem Abgrund von Möglichkeiten steht und der Mannigfaltigkeit ausgeliefert ist, bleibt nur ein Ausweg, dem Chaos zu entfliehen. Das Gegebene und Gebbare wie auch das Bewirkte und Bewirkbare muß minimalen Bedingungen gehorchen, die
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genau so weit gehen, wie sie gehen müssen, um ein Chaos zu verhindern und Ordnung überhaupt zu ermöglichen bzw. zu gewährleisten. Wie in der Erkenntnis eine »negative Bedingung aller Wahrheit«, eine conditio sine qua non, als notwendig, aber nicht hinreichend auftritt (s. KrV B 84), so gibt es im Handeln negative Bedingungen aller Richtigkeit und, wie wir ergänzen können, im Sprechen negative Bedingungen aller Verständlichkeit. Sie betreffen nicht mehr ein All wie die positiven Gesetze des Kosmos, sondern nur noch jedes oder jeden aus einer Gesamtheit von Einzelnem und Einzelnen, und zwar, soweit ein Chaos zu vermeiden ist. Die Normen und Gesetze, die hier auftreten, explizieren nicht bloß eine Gesetzmäßigkeit, die schon in den Dingen verkörpert ist, sondern sie verdanken ihre Geltung einer Entmischung der Erfahrung, die sondert, was aus ihr stammt und was ihr vorausgeht. Die prototypische Figur, an der sich dieser fundamentale Akt des Ordnens orientiert, ist nicht der schaffende Künstler, sondern der Gesetzgeber und Richter, genauer: der Richter, der nach selbsterlassenen Gesetzen richtet. Dabei ist wie in jedem Rechtshandel zu unterscheiden »die Frage über das, was Rechtens ist (quid iuris), von der, die die Tatsache angeht (quid facti)« (KrV B 116). Prüfstein dafür ist die Verallgemeinerungsfähigkeit von Regeln und Normen. Vernünftig begründet sind solche Normen, die unter allen möglichen Umständen und für alle möglichen Beteiligten und Betroffenen Geltung beanspruchen können. Auf Einzelheiten kommt es hier nicht an, sondern auf den Grundriß dieser Ordnung, der relativ unabhängig davon ist, wie die Gesetzgebungs- und Prüfungsgremien besetzt sind, ob etwa ein ›Subjekt‹ sich mit sich selbst verständigt oder ein kritischer ›Diskurs‹ an seine Stelle tritt.
7. Formalisierung und normatives Vakuum Entscheidend für das normativ orientierte Ordnungsdenken ist die Gebärde der Grenzziehung und der Aussparung. Nicht jedes Feld, auf das sich unser Begriffsvermögen bezieht, ist ein Boden, auf dem Erkenntnis möglich ist, oder gar ein Gebiet, wo dieses als gesetzgebend auftritt (KU B XVI). Die Grenzziehung liegt bereits in dem Modell der Gesetzgebung beschlossen, in einem Modell, das nicht ohne Grund den Verfall des Kosmos begleitet und zunächst, so etwa bei Hobbes, in Gestalt einer politischen Theologie auftritt. Der befehlende und richtende Gott des Alten Testaments läuft dem rechnenden, auch dem künstlerisch schaffenden Gott der Griechen den Rang ab. Die Trennung von Sein und Sollen erhebt den Imperativ zum Urmodus der
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Sprache (De Homine, Kap. 10). Während das kosmische Denken alles, was ist, ein- und unterordnet und es so über sich selbst hinausführt, beschränkt das normative Denken sich auf den Gestus des Unterwerfens: alles sei der Vernunft untertan. Die Frage, was geschieht, falls die Untertanen gegenüber den Forderungen der Vernunft taub bleiben, läßt sich nur in Berufung auf ein Faktum der Vernunft beantworten; denn eine »neue Schöpfung« (Kant, VI, 365) ist nicht mehr Sache von Gesetzgebern und Richtern. Selbst wenn wir diese vorsichtige Grenzziehung einmal als problemlos akzeptieren, so fragt sich doch, was in den ›Feldern‹ und ›Territorien‹ geschieht, wo die gesetzgebende Vernunft nicht gebietet, weil sie sich dann mit der Empirie handgemein machen müßte. Man kann darauf erwidern: So wie Aristoteles nur in Umrissen aufzeichnet, was zu tun ist, und den Rest praktischer Umsicht überläßt, so legt Kant nur die Grundlagen für ein moralisches und rechtliches Handeln, während er den Rest offen läßt. Wer, der nicht von einer Regelsucht befallen ist, wollte solche Liberalität nicht begrüßen? Doch diese praktischen Hermeneutikern willkommene Nachbarschaft täuscht über wichtige Unterschiede hinweg. Allgemeine Umrisse lassen sich bruchlos fortführen und ausfüllen, solange man sich in einer umfassenden Erkenntnis- und Handlungsordnung bewegt. Ein formales Gesetz dagegen wird angewandt auf etwas, das nicht in ihm enthalten ist wie ein Teil im Ganzen (vgl. Huss. III, § 13). Man kann mit Aristoteles oder Wittgenstein eine Handlung als Ausdruck und Teil einer Lebensform betrachten, doch ist sie niemals Teil einer Rechtsordnung, außer jemand reduziert sich selbst auf eine Rechtsperson. Wenn die formale Gesetzgebung also nur negative Bedingungen vorgibt, die nicht zureichen, wie sehen dann die fehlenden positiven Bedingungen aus? Wir kommen der Frage näher, wenn wir uns deutlich vor Augen führen, was im Zuge von Begründung und Prüfung universalisiert wird und was hier Universalisierung überhaupt besagt. Bedeutet Universalisierung Verwandlung in ein Allgemeines, so wie Totalisierung eine Einfügung in ein Ganzes besagt, so bleibt festzustellen, daß sich Handeln so wenig universalisieren läßt wie Wahrnehmen, Reden oder Fühlen. Wenn Kants Imperativ in einer seiner Formeln lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«, so bin doch ich es, der so handelt, und nicht ein Ich überhaupt. Die Universalisierung setzt dementsprechend bei jenen Momenten der Handlung an, die selbst schon einen Allgemeinheitscharakter haben. Kant nennt sie Maximen, das heißt »subjektive Prinzipien«, von denen der Handelnde sich faktisch
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leiten läßt (s. GMS B 52). Wir können also unterscheiden zwischen einer allgemeingültigen, formalen Grundnorm und faktisch geltenden materialen Normen. Die Grenzen beschränkter Handlungsräume werden entschärft durch eine Verdoppelung der Normen. Werden dabei die materialen Normen in ein Allgemeines verwandelt? Die Antwort lautet abermals nein. Formale Normen bieten keine Handlungsanleitung, die von materialen Normen erwartet wird. Was der kategorische Imperativ bietet, ist nichts als »die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt ..., welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll« (GMS B 51-52). Die gesamte Universalisierung besteht also darin, daß konkrete Normen einem Maßstab unterworfen werden, der universale Gültigkeit verspricht, weil bei seiner Mißachtung jede moralisch-praktische Ordnung zusammenbräche. Streng genommen wird also gar nichts universalisiert, es wird nur ein universaler Gesichtspunkt gewählt, der es – ähnlich wie die Anwendung des logischen Widerspruchssatzes – gestattet, bestimmte Normen zu eliminieren, ohne solche zu generieren. Das Vorbild des Vernünftigen (φρόνιμος oder σπουδαῖος), der eine bestimmte Tradition maßgebend verkörpert, wird in Kants Grundlegung ersetzt durch ein Verfahren der Vernunft, das sich über alle Traditionen erhebt; doch das Wie der Handlungsbeurteilung kann das Was bestimmter Handlungsentwürfe und Handlungsfelder nicht ersetzen. Was aber wird aus dem, was bei aller ›Universalisierung‹ vorausgesetzt bleibt und durch keine ›Universalisierung‹ aufzuheben ist?
8. Druck der Universalisierung Selbst wenn die ›Universalisierung‹ zunächst nur in der Wahl eines Gesichtspunktes besteht, übt sie doch einen Druck aus, sofern sie alles dem Gesichtspunkt unterwirft, ohne daß dabei die Einseitigkeit und die Herkunft dieses Gesichtspunktes hinreichend bedacht wird. Die Indizien dazu finden wir bereits in den Beschreibungen dessen, was universalen Maßstäben der Vernunft unterworfen wird. Da ist bei Kant selber und bei seinen Nachfolgern immer wieder die Rede von subjektiven Maximen, partikularen Interessen und Bedürfnissen, von bedingten Geboten, denen das objektive Gesetz, das Vernunftinteresse und das unbedingte Sittengesetz entgegenstehen. Die erste Qualifikationsreihe ist durch und durch privativ angelegt; was der Vernunftregelung vorausgeht, ist nur subjektiv, partikular, bedingt. Dies hängt damit zusammen, daß der Mensch nach seiner »Entlassung aus dem Mutterschoße der Natur« sich als Sinnenwesen entpuppt, das in seinen
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Empfindungen, Bedürfnissen und Neigungen, also in seiner gesamten Sinnlichkeit auf sich selbst zentriert ist und um sich selber kreist, ausgestattet mit dem Rüstzeug einer instrumentellen Vernunft, die als »Sklavin der Leidenschaften« (Hume, Traktat, II, 3, 3) die Möglichkeiten der Selbsterhaltung und damit auch die Schärfe der Antagonismen nur noch steigert und den Menschen »tierischer als jedes Tier« macht. Dieser Mensch ist ein »Tier, das wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat«, der seiner »selbstsüchtigen tierischen Neigung« entgegenwirkt und ihm »den eigenen Willen breche« (Kant, VI, 40). Der »wilde Mensch« wird gezwungen, »seine brutale Freiheit aufzugeben, und in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen« (ebd. 42). Die ›universalistische‹ Moral Kants gibt also eine Antwort auf Probleme, die seine Anthropologie von neuzeitlichen Denkern wie Hobbes, Hume und Rousseau übernimmt. Zwar liegt auch für Platon zwischen Sinnenleben und Vernunftleben eine Kehre, doch hebt das erotisch befeuerte Streben das vernünftige Lebewesen von Stufe zu Stufe über sich hinaus, und für Aristoteles gehört die Geselligkeit zum Leben des Einzelnen, ohne daß sie ihm erst aufgezwungen werden müßte. Die Neuzeit sieht hier einen Bruch; mit Geboten und Gesetzen bricht die Vernunft ein in den Zyklus der Selbsterhaltung und bringt mühsam einen Prozeß der Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung in Gang, der die Rohheit der Anfänge, wenn es gut geht, allmählich glättet und ordnet. Was zurückbleibt, ist Schlacke. Die Moral bedeutet im Grunde nichts weiter als die Verinnerlichung des Rechts, das die Willkür des einen mit der des andern zusammenstimmen läßt, ergänzt durch den Anspruch und Antrieb, der von dem Gesetz als solchem ausgeht. Ansprüche, die den Kreis der Selbsterhaltung durchbrechen, können nur – wie der Engel mit dem Flammenschwert – ›von oben‹ kommen, als Abgesandte einer Sphäre der allgemeinen Vernunft. Diese anthropologischen Voraussetzungen sind alles andere als sakrosankt, und wir haben im Anfangskapitel bereits Versuche unternommen, sie von verschiedenen Seiten aus in Zweifel zu ziehen. Man kann moral- und rechtstheoretische Überlegungen auch nicht von ihnen ablösen; denn eine Handlungsnorm, die nicht in einen Gesetzeshimmel erhoben, sondern in ihrer Funktion betrachtet wird, bestimmt sich von dem her, was sie normiert. Die Folgen des gewählten Ansatzes sind deutlich. Was nicht dem Gesetz selber entstammt, schrumpft vor dem Richterstuhl der Vernunft zusammen zu bloßen quaestiones facti. All die Ordnungsprozesse, die im vorigen Kapitel vorgeführt wurden, gehen in dieser allgemeinen Faktifizierung unter. Nehmen wir zunächst die
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Handlungsfelder mit ihren Themen, thematischen Feldern und deren typischer Ausformung. Sie sind nicht bloß subjektiv, da die wiederkehrenden Strukturen, Anordnungen und Positionen das Erleben des Einzelnen genauso übergreifen wie Regeln; sie sind nicht bloß partikular, da alternativ und selektiv auftretende Ordnungsformen keine Teile sind, die sich einem Ganzen einfügen ließen; sie sind nicht bloß bedingt, da sie selber mitbedingen, was uns begegnet. Die Präferenzregelungen, die dafür sorgen, daß vielmehr dieses auftritt und nicht jenes usf., lassen sich nicht optimieren im Hinblick auf eine beste Welt. Sie lassen sich aber auch nicht normieren im Hinblick auf richtiges Verhalten. Die Kriterien der Wichtigkeit und die der Richtigkeit liegen auf zwei verschiedenen Ebenen. So gibt es bedeutende Verbrechen und unwichtige Wahrheiten. Wer Organisationsformen der theoretischen oder praktischen Erfahrung als nur partikular bezeichnet, gleicht einem Logiker, der eine empirisch wahre einer logisch wahren Aussage gegenüber als partikular einstuft. Die Unterbestimmung bestimmter Ordnungsleistungen zeigt sich auch in der geläufigen Unterscheidung von empirisch und transzendental. ›Empirische Begriffe‹ gibt es im strengen Sinne gar nicht, denn kein Begriff stammt ›aus der Erfahrung‹; er mag nicht aller Erfahrung vorweg sein wie Kants Kategorien, doch ist er immerhin bestimmten Erfahrungen vorweg, und in gewissem Sinne gilt dies bereits für jede sinnliche Reizgestalt, die sich wiederholt. Von bloßen Tatsachen ist bereits ›in der Erfahrung‹ nirgends eine Spur zu finden. Ähnlich steht es, wenn wir uns den Bereich materialer Normierungen vor Augen führen, angefangen bei Normalitäten über Sitte und Brauch bis hin zur Normativität im strengen Sinne. Materiale Normen sind ebensowenig vorhanden wie Handlungsfelder, sie gehen hervor aus Prozessen der Normierung, die Richtiges von Unrichtigem sondern oder auf der Stufe der Sitten Schickliches von Unschicklichem. Da diese materialen Normen wiederum auf einer anderen Ebene liegen als die formale Grundnorm, hat auch in diesem Falle die Rede von subjektiven Prinzipien oder von partikularen, bedingten Normen keinen Sinn. Die negativen Kriterien liefern keinen Ersatz für positive Kriterien, die in der Erzeugung materialer Normen bzw. in der Ausbildung umfassender Diskursformen wie Wissenschaft, Recht oder Kunst am Werk sind. Doch woher diese nehmen, woher sie rechtfertigen? Die Berufung auf ein drohendes Chaos mag zur Besinnung auf Prinzipien einer Ordnung überhaupt führen, zu bestimmten Ordnungen führt sie nicht. So kann der Hinweis auf den Drang zur Verständigung, den wir an der Schwelle der Sprachentstehung ansetzen können, kein einziges Sprachsystem erklären. Und so in allem, wo kulturelle Erfindung im
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Gang ist. Zwischen formale Normativität und materiale Faktizität, zwischen pure Rechts- und pure Tatsachenfragen schiebt sich, wie schon erwähnt, ein Vakuum. Wie dieses Vakuum füllen? Ein probates Mittel besteht darin, sich auf Sitten und Traditionen zu berufen, die es gibt, wie es Sprachen gibt. Doch abgesehen davon, daß dies die Frage nach den selektiven Prozessen, einschließlich der selektiven Prozesse der Traditionsbildung, nicht löst, entsteht hier die Gefahr, daß man aus der materialen Moral einmal zuviel herüberrettet, ein andermal zuwenig. Kants Metaphysik der Sitten, die es zuläßt, daß zum Beispiel Frauen, Leibeigene, Hauslehrer und Friseure (anders als Perückenmacher, die ein eigenes Opus liefern) kein aktives Bürgerrecht bekommen, eine Metaphysik, die mit teleologischen Erwägungen wieder zurückholt, was die Gesetzesstrenge beiseite gesetzt hat (s. Ebbinghaus 1968, Kap. 7), und dabei der Stimme der Natur immer wieder das Textbuch der bürgerlichen Gesellschaft unterlegt, läßt reichlich viel von der bestehenden Ordnung hinein. Will man das verhindern, so bleibt nur eine forcierte Formalisierung, die sich auf keiner Tradition mehr ausruht, dafür aber fern aller Reibung mit der Wirklichkeit in den leeren Himmel purer Tautologien aufsteigt. Die Universalisierung würde dann ihr Werk tun, indem sie – so gut es geht – eine Reinigung der Sitten vornimmt, ausscheidet, was dem Verallgemeinerungskriterium nicht standhält, für institutionelle Vorkehrungen sorgt, die diese Aussonderung rechtlich abstützen, und den Rest dem Belieben Einzelner und einzelner Gruppen überläßt, die nach ihrer Façon glücklich werden mögen, solange es der Freiheit der anderen keinen Abbruch tut, und die sich pragmatisch einigen mögen, wo es wie bei Rechts- oder Linksverkehr um nicht prinzipiell zu behebende Alternativen geht. Die ›Universalisierung‹ bestünde darin, daß das Gemisch aus Moral und Konvention entmischt wird. Dieses Verfahren sieht unverfänglicher und unschuldiger aus, als es ist. Zunächst, wenn schon Gemisch, so wird dieses auf einseitige Weise bestimmt, wenn man mit Kohlberg von einer konventionellen Moral spricht, die durch eine postkonventionelle, autonome Moral abzulösen ist. Statt von einer konventionellen Moral könnte man ebensogut von einer moralischen Konvention sprechen, so etwa wenn Übertretungen von Speisevorschriften Gewissensskrupel bereiten. Dann würde man sehen, daß die Entkonventionalisierung der Moral eine Entmoralisierung der Konventionen zur Kehrseite hat. Erst der reinen Moral entspricht die bloße Konvention (s. o. B 11). Diese Entmischung wäre dann problemlos, wenn die Sphäre materialer Normen und Gebräuche tatsächlich ein Gemisch wäre. Doch
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dem ist nicht so, aus dem einfachen Grunde, weil aus der Kombination universaler Normen und gelebter bzw. getroffener Vereinbarungen keine einzige Lebens- oder Handlungsordnung entspringt und so kein Rede- oder Handlungsakt zustande käme. Die Ansprüche und Herausforderungen, auf die eine Rede, eine Handlung und auch eine kulturelle und tradierte Lebensform antworten, entstammen weder einer universalen Norm noch konventionellen Regelungen, wie gezeigt wurde. Das Zugeständnis »kultureller Werte« macht die Sache nicht besser; denn damit wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse nur durch ein zweites Kulturprogramm erweitert, ohne daß der Zyklus der Selbstbefriedigung durchbrochen würde. Diese Umdeutung von Ansprüchen in Werte gehört selbst schon zu bestimmten Lebensformen, die es der normierenden Moral leicht machen, ihr Werk zu tun, weil so nur Eigenansprüche gegen universale Moral stehen, ohne daß Fremdansprüche sich geltend machen. Wenn es aber so ist, daß in Rede und Handlungen und Rede- und Handlungsfeldern situierte und habitualisierte Ansprüche auftreten, so bedeutet die Entmischung durch Universalisierung, daß solche Ansprüche zum Schweigen gebracht werden. Und zwar wie? Dadurch, daß im Lichte und unter dem Druck universaler Normen wiederum Ungleiches gleichgesetzt wird, und zwar unter dem Deckmantel des Rechts, während das kosmische Denken die Gleichsetzung vornimmt unter dem Deckmantel eines umfassenden Guten. Wenn das kosmische Denken mit seinem Ausgriff auf eine wahre Welt zuviel des Guten tut, indem es alle selektiven Ordnungen vereinnahmt, so tut das normative Denken mit seinem Rückgriff auf wahre Normen zuwenig des Guten, indem es diese Ordnungen nivelliert und entleert, ihre »Entwertung« betreibt, wie bei einer Hülle, die man abstreift. Denkbar wäre vielleicht eine Universalität ohne Universalisierung, wo die universalen Normen sich darauf beschränken würden, solche Verhaltensweisen zu brandmarken, die einer Erwiderung von Ansprüchen strikt entgegenstehen. Diese Normen wären eingebettet in eine responsive Rationalität, ohne mit dem Aushandeln konkreter Ansprüche zu konkurrieren. Ohne einen solchen Rückbezug nimmt die Universalisierung einen ähnlich gefährdenden Verlauf wie die Totalisierung, weil sie den Bereich konkreter Ansprüche systematisch schwächt, und dies im Dienste einer Chaosverhinderung. Das Winken mit dem Chaos scheint allen Zweiflern das Wort aus dem Munde zu nehmen. Wer wollte schon Mord und Totschlag oder die Unwahrheit verteidigen, ohne sich selber ans Messer zu liefern, und sei es das der Logiker? Doch der Unterschied von Sagen und Gesagtem gilt auch hier. Der
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Umgang mit Normen ist niemals identisch mit deren Gehalt, anderenfalls gäbe es die Moralisten und Pharisäer nicht, und insofern ist keine normative Rede einfachhin richtig, auch nicht im Falle der Normenbegründung. Die strikte Verbindlichkeit im Allgemeinen nährt eine wachsende Beliebigkeit im Besonderen. Hier zeichnet sich eine Koalition ab zwischen Normativisten und Positivisten, wären diese nur etwas behutsamer.
9. Positivität, Willkür und Macht oder: der Satz vom unzureichenden Grunde Wenn zutrifft, daß jede bestimmte Ordnung selektiv und exklusiv zustandekommt, so lauert, mit Nietzsche zu reden, »ein Abgrund hinter jedem Grund, unter jeder ›Begründung‹« (II, 751), der weder durch eine kosmische Gesamtordnung noch durch eine normative Grundordnung zu schließen ist. Daß es, wie Heidegger, Merleau-Ponty und Foucault mit verschiedenem Akzent behaupten, Wahrheit, Rationalität, Ordnung ›gibt‹, ohne daß dafür zureichende Gründe anzugeben sind, bedeutet ein permanentes Ereignis, das jeder Ordnung ein Moment grundloser Positivität anheftet. Doch was nicht notwendig und vollbegründet ist, ist damit keineswegs beliebig; was auch anders sein könnte, kann nicht wie auch immer sein. Wo es keine zureichenden Gründe gibt, kann es Bedingungen geben, ohne die nichts geht, und gute Gründe, die für etwas sprechen, ohne ein abschließendes Wort zu sprechen. Aus der fehlenden Notwendigkeit folgt also keineswegs, daß die Einrichtung und Veränderung einer Ordnung völlig beliebig verläuft, noch folgt daraus, daß die Leerstellen innerhalb einer Ordnung nach Belieben gefüllt werden. Denkbar sind eine Menge Faktoren und Verfahren, durch die Beliebigkeit eingeschränkt wird und die selber keineswegs beliebig sind, so etwa das Losverfahren, das selbst Platon, wenn auch als Notlösung, bei politischen Wahlen zuläßt (Nomoi 757 b). Treibt man das Moment der Positivität auf die Spitze, indem man das bloße Bestehen selbst als Grund angibt, so kommt man über die tautologische Versicherung, daß das, was ist, so ist, wie es ist, nicht hinaus. Wenn wir das Positivismus nennen, so müssen wir verschiedene Spielarten unterscheiden. Ein solcher Positivismus kann sich einmal an den Kosmos anlehnen und dessen Ordnung beerben, so etwa bei Protagoras. Wenn dieser der Ordnung von Natur aus eine Ordnung
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durch Satzung entgegenstellt, so sucht er ein Mittleres zwischen dem großen Kosmos, der alles umgreift, und dem großen Zufall, der alles zerstäubt; er sucht nach so etwas wie einem variablen und lokalen Kosmos, der verankert ist in der politischen Konstitution eines Gemeinwesens oder in der organischen Konstitution des Einzelnen. Ordnungsmaßstäbe werden durchaus beibehalten, nur werden sie relativiert. Verwandt damit ist eine zweite Spielart, die sich an die Gesetzgebung anschließt oder auch an gelebte Konventionen; normative Regelungen werden damit anerkannt, nur daß hinter den faktischen Gesetzen oder hinter den faktischen Sitten keine letzte Instanz mehr steht. Man kann in einem Falle von einer Lebensordnung ohne Totalität, im anderen Falle von einer normativen Ordnung ohne Universalität sprechen. Beide Versuche enthalten erwägenswerte Momente, doch kommen sie in Schwierigkeiten, weil sie das, was sie in Zweifel ziehen, einfach streichen. Solche Rumpfordnungen bleiben mit den Problemen belastet, die sie abzuschütteln suchen. Schließlich bleibt die wichtigste und radikalste Variante, die einer jeden Ordnung von Natur oder aus Vernunft sinnlich gegebene oder sprachlich wiedergegebene Tatsachen entgegenhält. Dieser Positivismus bewegt sich im Fahrwasser Humes. Der Kosmos hat sich aufgelöst in zusammenhanglose Einzelheiten, aus denen keine Notwendigkeit zu gewinnen ist. Doch das Pochen auf den Tatsachen führt dazu, daß der Gesichtspunkt der Ordnung gänzlich aus dem Blick gerät. Wird die Regelung des Zusammenhangs von diesem oder jenem, ohne den es buchstäblich nichts gibt, selber zu einer Tatsache gemacht, so verdoppeln sich die Tatsachen lediglich in ein niederes und ein höheres ›es ist‹, und auch diese Verdoppelung geht ähnlich wie die Verdoppelung der Welt und die der Normen am entscheidenden Punkt vorbei. Sie erreicht nicht den Punkt, wo Ordnendes und Zu-Ordnendes sich verquicken in einer Genese, die Möglichkeiten eröffnet, während sie andere verschließt. Die Bewegtheit des »es gibt Ordnung« wird immer schon stillgestellt in einem »es ist Ordnung«. Dabei bedeutet auch dieses tatsachenorientierte Ordnen ein Gleichsetzen des Ungleichen, nur nicht im Sinne der Einordnung oder der Unterwerfung, sondern im Sinne einer Einebnung der Unterschiede. An erster Stelle verschwindet jener Unterschied, der überhaupt erst die Frage nach einer Ordnung aufkommen läßt, der Unterschied zwischen einem Etwas und dem selegierenden, pointierenden Als oder Wie, der einen Auftritt von etwas ermöglicht und beschränkt (siehe oben B). Wo alles und jedes schlicht ist oder nicht ist, gesetzt ist oder nicht gesetzt ist, wo die Frage nach dem ›vielmehr so und nicht anders‹ erst gar nicht aufkommt, gibt es
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weder Ordnung noch Unordnung, sondern nur das Einerlei von Tatsachen. Und wo alles möglich ist, ist im Grunde nichts möglich; denn wenn das Wirkliche sich nicht zu einer Gestalt oder Struktur verdichtet, die eines zuläßt und anderes nicht, ist nie etwas möglich, bevor es wirklich ist. Der Grenzfall einer ganz und gar offenen Welt, wo alles unendlich vieldeutig ist, nähert sich damit dem antipodischen Fall einer geschlossenen Welt, wo alles eindeutig festliegt. Schattenlos und andeutungslos wäre eine Welt, deren Ordnung völlig begründet ist, genauso wie jene, deren Ordnung absolut beliebig ist. Benachbart dem Problem der Beliebigkeit ist schließlich das Problem der Macht. Gäbe es eine wahre Welt, die jedem seinen Platz zuweist, so wären Konflikte im Grunde bereits behoben. Die umfassende Ordnung, in der sich unser Erkennen und Handeln bewegt, liefert uns hinreichende Gründe, die es erlauben, jeden Streit argumentativ beizulegen. Sofern diese Ordnung sich im Erkennen und Handeln reproduziert, setzt sich im Streit das Wahre und Gute durch, ein Sieg also, den keiner sich als einzelner zugute schreiben kann. Wenn es ein Problem der Macht gibt, dann nur insoweit, als Unvernunft und Unordnung in der Welt regieren. Wie diese zu überwinden sind, ob mit Überzeugung, List oder Zwang, ist eine zweite Frage. Denkbar ist, daß die Vernunft zur Macht kommt und die Macht zur Vernunft gelangt – eine Vermählung von Vernunft und Macht, die Platon in seinem Philosophenkönig feiert und die Aristoteles in der offenen Form einer um das Gemeinwohl besorgten Regierung anvisiert. Geht man wie Hobbes und in seinem Gefolge auch Kant davon aus, daß der Mensch aus der Ordnung der Natur entlassen ist und er eine kulturelle Ordnung erst zu finden und zu schaffen hat, so entspringt die rohe Gewalt keiner bloßen Abweichung vom geraden Weg, vielmehr bildet sie die Vorstufe der Vernunft; sie regiert in dem Naturzustand, der nicht mehr natürlich und noch nicht gesetzlich ist. Sofern der Mensch diesem Zustand der Willkür nie ganz entwächst, gibt es auch keinen Machthaber, der nicht aus demselben »krummen Holze gezimmert« wäre (Kant, VI, 41) wie seine Untertanen. » Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige werden«, ist deshalb weder zu erwarten noch zu wünschen (Kant, VI, 228). Die Fragen von Macht und Gewalt, die hier zutage treten, werden gemeinhin der Verwirklichung der Vernunft zugerechnet, nicht dieser selber; denn diese kann nicht mit sich selbst in Widerstreit geraten, und die Menschen, sofern sie sich von Vernunft leiten lassen, können es auch nicht. Ein Problem der Macht gibt es auch hier nur, sofern die Vernunft nicht herrscht, nicht sofern sie herrscht. Die Rebellion gegen eine begründete Ord-
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BEGRÜNDETE ODER BELIEBIGE ORDNUNG?
nung wäre nicht nur ein Zeichen der Unvernunft, sondern auch der Unfreiheit, weil nur die Beachtung eines universalen Vernunft- und Moralgesetzes die Handelnden aus den Abhängigkeiten ihrer Sinnesnatur löst. Umgekehrt gibt es auch kein Problem von Vernunft und Macht, wenn alle Ordnung willkürlich gesetzt und gegen andere durchgesetzt würde. Die herrschenden Ideen wären dann nichts anderes als die Ideen der Herrschenden, woran ein Herrschaftswechsel nichts ändern würde. Ein Problem von Rationalität und Macht tritt dann auf, wenn unser Reden und Handeln auf Ansprüche antwortet, die Ordnungen aber, in denen dies geschieht, selektiv und exklusiv sind, ohne daß diese Selektionen und Exklusionen durch zureichende Gründe abgedeckt wären. Dem Moment der Positivität entspricht ein Moment der Macht: auf allen Ordnungsstufen setzt sich eines gegen anderes durch als bedeutsam, typisch, normal, schicklich oder richtig, ohne daß es erschöpfende Gründe auf seiner Seite hätte. Der Versuch, diese Begründungslücken zu schließen, führt selber zu einem Akt der Gewalt im Namen der Vernunft, sei es, daß Ansprüche, Alternativen und Vieldeutigkeiten in ein Ganzes gezwungen werden, sei es, daß sie zur Rettung universaler Maßstäbe entwertet und entkräftet werden. Demgegenüber kann der Zusammenhang von Geltung und Macht nicht eng genug angesetzt werden. Eine schlichte Frage wie: »Warum sagst du das?« oder: »Warum tust du das?« ist mit dem Hinweis auf die Wahrheit des Gesagten oder die Richtigkeit des Getanen niemals erschöpfend beantwortet. Es wäre so viel anderes zu sagen und zu tun, es gibt zu viele Wahrheiten. Würde man dem sokratischen Fragen freien Lauf lassen, so würde der platonische Kosmos unaufhörlich gesprengt. Etwas sagen und etwas tun ist niemals ein bloßer Fall für den Rede- oder Sittenrichter, eine Stimme ist nie reine Stimme der Moral, eine Tradition nie reines Forum der Vernunft. Verkennt man das Problem der Macht, das sich hier meldet, so liefert man sich ihm um so mehr aus. Die Verwandlung des Ungeordneten in Unordentliches nimmt dann seinen Lauf, auf der Ebene der Wichtigkeit durch Auswahl einer bestimmten Ordnung, auf der Ebene der Richtigkeit durch Ausschluß von Unordnung, die sich vom frühen Leid längst losgesagt hat. Bei dem Versuch, dieses Ordnungsgarn zurückzuspulen und das Ungleiche im Gleichsetzen wiederzuentdekken, empfiehlt sich als Leitfaden der Satz vom unzureichenden Grunde.
D. ORDNUNG MIT ODER OHNE ORDNER?
1. Subjekt, eine Frage des Etiketts Trägt jemand lange genug, einen Titel, so kann dieser derart eng mit dem Titelträger verwachsen, daß jeder, der an den einen Hand anlegt, den anderen in Mitleidenschaft zieht. Abschaffung der Monarchie und Königsmord sind am Ende nicht mehr zu unterscheiden. Doch werden weder Könige noch Subjekte geboren, sondern höchstens Thronanwärter, und auch die nur, wenn die Nachkommenschaft schon legitimiert ist. Andererseits ist es auch schwierig, dem König all seine Kleider zu nehmen. Ein nackter König wäre so gut wie eine nackte Wahrheit, man wüßte nicht, wie sie anreden oder wie über sie reden. Dieser Jemand, den wir hier umkreisen, tritt stets als dieser oder jener auf. Wenn Titel und Etikette, Funktionen und Ämter fragwürdig werden, so geraten wir in einen Prozeß der Umwertung und des Funktionswandels, der in schlichten Todeserklärungen lediglich seinen halb-mythischen Hintergrund offenbart. Es empfiehlt sich, in den Streit um Für und Wider, um Tod und Wiederkehr des Subjekts von der Seite her einzugreifen, um einen Streit um des Kaisers Bart zu vermeiden. Aufs Ganze gesehen stellt sich die Frage: Wann, unter welchen Umständen und unter welchen Bedingungen tritt so etwas wie Subjekt überhaupt auf? Denn dieses ›gibt‹ es so wenig wie ein Objekt, ein Elektron oder einen König. Dem Prozeß der Objektivation, der ein Objekt generiert, entspricht eine Subjektivation, die ein Subjekt konstituiert (vgl. Foucault 1986). Wenn man nicht auf eine selbstkonstituierende Urzeugung zurückgreifen will, die nichts erklärt, kann man das Subjekt nicht als schlechthin Erstes ansetzen; es gehorcht vielleicht einem Subjektprinzip, ist aber keines. Die zweite Frage, die sich anschließt, ist die nach den Funktionen, Aufgaben und Leistungen einer solchen Instanz; wie fungierende Normen ihrer Thematisierung vorangehen, so auch das, was wir in Anlehnung an Husserl fungierendes Subjekt nennen können. Hier eröffnet sich ein immenses Frage- und Untersuchungsfeld. Wir schränken es ein, indem wir die Frage nach dem Subjekt auf die Frage zuspitzen, was dieses Subjekt zu dem vielförmigen Prozeß des Ordnens beiträgt. Um die kurzschlüssige Alternative eines Alles oder Nichts zu vermeiden, tun wir gut daran, den großen Scheck eines Subjekts in Bargeld einzulösen. Der Jemand, der selber unaufdringlich im Hintergrund bleibt, tritt auf als Sprecher und Hörer, als Anredender, Angeredeter oder Beredeter, als ich, du oder als Glied eines Wir, als Täter, Mittäter oder Opfer, als empfindsames, lust- und schmerzempfindliches Wesen, als geborenes, zeugendes, gebärendes, leidendes und sterb-
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ORDNUNG MIT ODER OHNE ORDNER?
liches Wesen. Ein ›Subjekt‹, das dies alles vermöchte, hätte recht viel zu tun, kein Wunder, daß es von der Frage nach seiner Einheit geradezu besessen ist. Es könnte auch daran zugrunde gehen, daß es zu viele von ihm gibt. Spuren des ›Subjekts‹ haben wir in den beiden Anfangskapiteln immer wieder entdecken können. Das Thema klingt bereits an in der Metaphorik der Weltherstellung, die den Metaphern einer spontanen Weltentstehung gegenübertritt und in dem Modell der Anknüpfung eine Korrektur erfährt. Sofern Reden und Handeln ein responsives Verhalten darstellen, das einer responsiven Rationalität folgt, können wir auch allgemein von einem Respondenten sprechen, der es mit Korrespondenten zu tun hat. Im Rahmen der vielfältigen Ordnungsformen werden Ansprüche und Erwiderungen selektiv und exklusiv zurechtgemacht, und dies greift unmittelbar über auf den Erfahrenden, Redenden und Handelnden, dem etwas als etwas auffällt und entgegentritt, der im Erfahrungsfeld Positionen einnimmt, typische Verhaltensweisen ausbildet und schließlich in Prozessen der Normalisierung, der Zivilisierung und der Moralisierung zu einem bestimmten Jemand wird, von dem die Befolgung von Normen erwartet und der für deren Übertretung zur Rechenschaft gezogen wird. Der Antwortende gewinnt die Stellung eines verantwortlichen Subjekts, an den Richter jeden Formats sich halten können. Ist auch die moralische Subjektivität noch ein Etikett? Ich denke, die Würde eines Königs sollte uns nicht so sehr einschüchtern, daß wir sie in den Himmel erheben. Der Prozeß der Moralisierung partizipiert durchaus an dem Prozeß der Subjektivation. Im folgenden wird zunächst die Frage nach einer wahren Welt und wahren Normen aus dem neuen Blickwinkel der Subjektbildung aufgegriffen und bis zu dem Punkt geführt, wo die Frage nach der Positivität jeglicher Ordnung auf das Subjekt zurückschlägt, und zwar auch hier in Form einer unvermeidlichen Verdoppelung des Subjekts, die der Verdoppelung der Welt und der Normen einen weiteren Akkord hinzufügt. Am Horizont steht die Frage, ob das, was die Ordnungen offen lassen, ohne weiteres einem Subjekt zugeschrieben werden kann, oder ob dieses so sehr in das Zwielicht der Ordnung getaucht ist, daß eine solche Abrechnung nicht mehr stimmt.
DIE SEELE ALS SPIEGEL DES ALLS
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2. Die Seele als Spiegel des Alls Wenn begrenzte Erfahrungsfelder und Lebensweisen sich zu einer kosmischen Gesamtordnung ausweiten und zusammenschließen, bleibt für ein ordnendes Subjekt kein Raum. Dem Menschen ist ebenso wie allen Natur- und Lebewesen ein Ort im Ganzen und eine spezifische Entwicklungsbahn vorgezeichnet. Der Vorzug des Menschen liegt einzig darin, daß er mit Vernunft und Einsicht ausgestattet ist, die ihn befähigen, die Enge seines Standorts zu überwinden, die Gesetze des Alls zu erfragen und das eigene Leben danach auszurichten. Das gilt unabhängig davon, ob kosmologische und politische Ordnung, das Gute überhaupt und das menschlich Gute, theoretische und praktische Vernunft ineinander spielen wie bei Platon oder ob sie sich, wie bei Aristoteles, in zwei Orientierungsbereiche verzweigen, denn die durchgängige Zielgerichtetheit bleibt davon unberührt. Ähnlich steht es mit der Hierarchisierung der Einzelseele, die der stufenförmigen Anordnung des Kosmos entspricht. Der Mensch als »zusammengesetztes Wesen« gehört körperlich der Sinnenwelt an und ist als Vernunftwesen den Ideen verwandt. Indem die Vernunft in der Einzelseele die Herrschaft übernimmt und sich zur Schau des Alls aufschwingt, wird der Mensch über sich selbst hinausgeführt bis hin zur Teilhabe am Ganzen in einem Leben, das mehr als menschlich, nämlich göttlich genannt zu werden verdient (vgl. Nik. Eth. X, 7, 1177 b 26 ff .). Die Seele, die Platon im Phaidon als ideenverwandt vorstellt und die für Aristoteles »auf gewisse Weise alles« ist, lebt von dieser kosmischen Grundorientierung, fern eines jeden bloß psychologischen Dualismus. Der Mensch ist am meisten er selbst, wenn er über sich hinauswächst und mehr ist als Mensch. Die Selbsterhaltung geht auf dem Weg über eine Selbstläuterung in Selbststeigerung über, bis hin zur manischen Ekstase, die in Erotik und Poesie über jeden Regelkanon erhaben ist. Was der Mensch auf diese Weise findet, ist freilich kein Überfluß an Möglichkeiten, sondern eine wohlbemessene Wirklichkeit, durch deren Maße auch die Mania eingeholt wird; der Eros zerteilt sich unter dem dihairetischen Seziermesser in einen rechten und einen linken, einen göttlichen und einen krankhaften (Phaidros 266 a). Wenn selbst der göttliche Demiurg nach dem Muster von Ideen schafft, so erst recht der Mensch. Gelungenes Handeln und Erkennen bedeutet aufs Ganze gesehen Reproduktion der kosmischen Ordnung im Leben des Einzelnen und der Polis, bei aller klugen Erfindung im Einzelfall. In diesem Sinne ist Erkennen Wiedererinnerung. Das Vergessen, das ihr vorausgeht, und das Verfehlen der Ordnung, das dadurch möglich
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wird, ist der Preis für die Sonderstellung des Menschen. Der Mensch hat seinen Platz nicht, sondern muß ihn suchen, indem er sich sein Lebenslos wählt: »Die Schuld liegt beim Wählenden, der Gott ist schuldlos« (Politeia 617 e) – eine Schuld (αἰτία), die dann auch Ursache bedeutet. Wenn der Mensch dem Kosmos etwas hinzufügt, so die Abweichung von der rechten Bahn, die aber – im Lichte des Kosmos betrachtet – reine Privation und in diesem Sinne ein Nichts ist. Unordnung kann der Mensch schaffen, Ordnung findet er vor. Produktiv ist die Seele nur als Zerrspiegel. Solange die Ordnung herrscht, kann es zu einem Kampf zwischen Freiheit und Unordnung kommen, so im Kampf gegen politische Tyrannis, wo es um eine relative Autarkie im Rahmen des Ganzen geht. Von einem Widerstreit zwischen Freiheit und Ordnung schlechthin kann dagegen nicht die Rede sein; denn wenn etwas die Fesseln der Seele löst, so doch das Wahre und Gute.
3. Das Subjekt als Epizentrum Erst wenn der Kosmos brüchig wird, wenn der Rückhalt einer umfassenden Lebensordnung schwindet und die Umrisse des Ganzen zu verschwimmen beginnen, dann kann es sein, daß jemand einen Notkahn besteigt, bei sich selbst Zuflucht sucht, sich auf ein Ich besinnt, das bisher nur mitlief und nun mit seinem neuen Artikel zwischen Begriff und Name schillert. Wenn der allgemeine Boden schwankt, tut es gut, sich auf etwas zu besinnen, das nicht mehr auf gewisse Weise alles ist, wohl aber auf gewisse Weise allem zugrunde zu liegen scheint, ein ὑποϰείμενον, ein subjectum. Vielleicht ist dieses also ein Epizentrum, das dem Erbeben des Kosmos entspringt. Das Zersplittern einer vorgegebenen, gefestigt erscheinenden Ordnung ruft die Frage wach nach einem Ordner, und wie in jener frühen Zeit zu erwarten, steht diese Frage unter theologischen Auspizien, greifbar bei Descartes und Hobbes und zurückreichend in den spätmittelalterlichen Streit der Nominalisten. Ein Gott, der auch eine andere Mathematik schaffen könnte, ein Gott, der mit alttestamentlicher Strenge in die politische Arena herabsteigt, ein solcher Gott öffnet Breschen für ein menschliches Subjekt, öffnet aber auch der Willkür Tür und Tor. Wie weit dabei der Mensch als imago dei oder Gott als imago hominis im Spiel ist, das ist eine Frage, die uns hier nicht beschäftigen muß; es kommt auf die Denkweise an, mag sie sich theologisch oder anthropologisch drapieren oder zu einer theologisch-anthropologischen Allianz zusammenfinden.
URHEBER: AKTION UND PASSION
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Daß jemand sich als ›Subjekt‹ eine allgemeine Ordnungsfunktion anmaßt, ist trotz jahrhundertelanger Übung alles andere als selbstverständlich. Schwierigkeiten werden nicht ausbleiben. Irgendwo und irgendwann steht jemand auf, spricht zu sich und besinnt sich auf sich, als Neuling hat er noch die alten Parolen im Ohr; die Gefahr, daß eine Ersatzlösung versucht wird, die mit schmäleren Mitteln die alten Resultate erbringen soll, liegt nahe, und wir finden davon eine Menge Spuren. Oder man bescheidet sich, doch was wird dann aus dem Rest, von dem man nicht loskommt? Schließlich, welches ›Subjekt‹ soll zum Zuge kommen? Das Angebot des cartesischen Cogito ist ziemlich reich und wurde bisher in vielen Tonlagen durchgespielt, vom cogito bis zum amor ergo sum. Dabei zeigt sich eine grundlegende Zweideutigkeit. Alles, was mit dem Menschen als Sinnenwesen zusammenhängt, wird zumeist als nur subjektiv eingestuft, seien es Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Interessen oder Ausdrucksformen. Von dieser sinnlichen Subjektivität unterscheidet sich eine rationale Subjektivität: als Vernunftwesen billigt man dem Subjekt zu, was nicht mehr nur subjektiv ist, nämlich spontanes Denken, reines Wollen, verantwortliches Handeln und ähnliches. Die Verteidigung des Subjekts oder des Subjektiven kann demgemäß subversive oder stabilisierende Züge annehmen. Die Doppelheit von Sinnlichkeit und Vernunft tritt in ein neues Licht, wenn beide nicht mehr durch einen Kosmos aufgefangen werden. Im folgenden begnüge ich mich damit, meinem Thema entsprechend die zeitweilige Konjunktur von Subjektivität und Rationalität ins Zentrum zu rücken, und dies mit der entscheidenden Frage, was es überhaupt heißen mag, daß ein Ordner etwas ordnet.
4. Urheber: Aktion und Passion Wenn jemand versucht, Zentrum und Fundament einer erst noch zu erkundenden oder gar zu schaffenden Ordnung in sich selbst zu finden, so muß er sich zunächst dessen vergewissern, daß überhaupt etwas von ihm ausgeht und daß nicht etwa nur ein fremden Gesetzen gehorchendes oder gar blindlings oder wahllos ablaufendes Wirkgeschehen durch ihn hindurchgeht. Das durchgängige Geschehen muß wenigstens augenblicksweise angehalten werden, sonst gäbe es keinen archimedischen Punkt, von dem aus jemand in das Geschehen eingreifen könnte. Es gibt gängige interlokutionäre Ereignisse, wo die Tür sich einen Spalt weit in diese Richtung öffnet. Auf die Frage: »Wer hat dies
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getan oder wer ist bereit, dies zu tun?« kann man mit »ich« antworten: »Ich und kein anderer, ich und kein anderes«, und dieses »ich« trägt noch keinen Artikel und schreibt sich noch nicht groß. Es steht noch in einem interlokutionären und interaktionären Geschehen, das seinerseits keine ähnliche Frage zuläßt. Wer hat dieses Gespräch oder diese Geschichte getan? – das ist eine in dieser Form sinnlose Frage, die sich in dem vielfältig hin- und herlaufenden Geflecht buchstäblich verhaspeln würde. Aus diesem Grunde sprachen wir in einem ersten Anlauf (A 10) von Zwischenereignissen, die sich zu synchron und diachron übergreifenden Szenerien und Sequenzen anordnen (B 1-3). Damit ein Ich sich großschreiben kann, muß es aus diesen relativierenden Zusammenhängen heraustreten und diese selber in identifizierbare Einzelheiten auflösen. Die Differenz von Ich und Anderen, die zum Rede- und Handlungsfeld hinzugehört, steigert sich zu einer Präferenz. Der Sprecher und Täter macht sich zum Urheber, zum Autor von Einzeläußerungen und Einzeltaten, die er sich selber zurechnet. Urheber, das ist eine Ursache, die weiß, was sie tut, die sich ein Ziel vorstellt und die zugleich etwas tun und lassen und dieses statt jenem tun könnte. Wir kennen dies von Kant her als »Freiheit im kosmologischen Verstande«, als »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (KrV B 561) – in der Sprache Humes eine »liberty of spontaneity«. Dieses scheint eine recht geläufige Sache. Daß die Seele ein Sich-selbst-Bewegendes ist, finden wir auch bei Platon (Phaidros 245 c), und das überträgt sich auf die Beseeltheit des Kosmos. Und im enger abgesteckten Handlungsbereich der Aristotelischen Ethik wird spontanes Handeln von gewaltsamen Widerfahrnissen unterschieden; das eine Mal ist die ἀρχή der Bewegung im Handelnden, das andere Mal außer ihm, und beides schon bei Kindern und Tieren (Nik. Eth. III, 1). Doch da dem Woher der Bewegung das Woraufhin einer Bewegkraft korrespondiert, welche nicht in der Macht des Handelnden liegt, bleibt dessen Initiative eingebettet in physische und soziale Zusammenhänge; der Handelnde fängt nie rein von selbst an. Er ist Lenker, aber nicht Urheber der Bewegung. Erst wenn diese kosmischen Zielvorgaben ihre Zug- und Orientierungskraft verlieren und mechanisch wirkende Kräfte an deren Stelle treten, entsteht das Bedürfnis, eine Urheberschaft zu reklamieren, die sich von fremden Einflüssen freihält. Wenn der Mensch sich angesichts seiner körperlichen und sozialen Abhängigkeiten schwerlich als reinen Täter betrachten kann, so bleibt ihm doch die Möglichkeit, etwas abzusondern, was sich als reines Tun darstellt. Hier entspringt als erste große Scheidung die zwischen Aktion und Passion, in der die Passion als bloße Beschränkung und Umkehrung der
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Aktion gedacht wird. Schon früher wurde auf Descartes’ »Passiones animae« hingewiesen. Aktion und Passion verhalten sich spiegelbildlich zueinander. Ein und dasselbe Ereignis ist Passion im Hinblick auf das »Subjekt«, dem es geschieht, und Aktion im Hinblick auf das »Subjekt«, das es geschehen macht (I, 1). Dieselbe Äußerung wird von einem gesprochen, vom anderen gehört, dieselbe Tat wird von einem getätigt, vom anderen erlitten. Ob physische oder soziale Handlung, die eigene Aktion ist fremde Passion und umgekehrt. Selbst wo Aktion und Passion sich weniger schroff gegenüberstehen, so in dem Gegensatzpaar von Spontaneität und Rezeptivität, behält die Selbsttätigkeit eindeutig die Oberhand gegenüber allem Pathischen, das als Beschränkung aufgefaßt wird und zu Abhängigkeiten führt. Dabei handelt es sich abermals nicht in erster Linie um eine psychologische Unterscheidung, die Vorgänge innerhalb der Welt beträfe, sondern um eine ontologische Unterscheidung. Selbsttätigkeit bedeutet die genuine Seinsweise eines Wesens, das sich selber ›Subjekt‹ zu nennen beginnt und aus den Trümmern des Kosmos rettet, was zu retten ist, in diesem Fall einen Rest von actus purus. Für diesen »zweiten Beweger« gilt nicht mehr, daß er gleich dem ersten Beweger »bewegt wie etwas, das geliebt wird« (Met. XII, 1072 b 3), die moderne mechanisierte Natur gehorcht nur der Nötigung, es bedarf keiner Erotik, sondern der Gesetzgebung.
5. Eigentümer: Eigenheit und Fremdheit Der Handelnde würde über Fulgurationen des Augenblicks nicht hinausgelangen, wäre seine Tätigkeit nicht eingebettet in eine vertraute Eigenwelt, in der er sich auskennt und zurechtfindet, eine Welt, von der die Handlungen angeregt werden und in die deren Resultate gestaltend zurückkehren. Das reicht vom eigenen Leib über eigene Vorfahren und Nachkommen, eigene Kleider, eigene Wohnung und weitet sich aus bis hin zu verfügbaren Kenntnissen und Fertigkeiten und rundet sich ab in Bekanntheitskreisen wie der eigenen Heimat, der eigenen Kultur, der eigenen Geschichte. Es ist die Welt, in der der Handelnde zu Hause ist und sich zu Hause fühlt. Damit kommt es zu einer zweiten großen Scheidung, nämlich zwischen Eigenem und Fremdem. Genauer müssen wir unterscheiden zwischen Eigenem und Eigenartigem, Fremdem und Fremdartigem. Das Fremde wären unbekannte und unverfügbare Erfahrungsgehalte und Erfahrungsbereiche, sozusagen weiße Flecken innerhalb der eigenen Welt, Unbestimmtheiten, für die Bestimmungsregeln bereitliegen, und Leerstellen, die sich bei geeignetem Erfah-
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rungsfortgang füllen lassen. Fremdartiges wäre dagegen etwas, was die bestehenden Erfahrungsstrukturen und Erfahrungsordnungen sprengt, Unbekanntes in einem gesteigerten Sinne also, für das unsere Ordnungsraster nicht ausreichen. Beispiel für das Fremde wären mangelnde Kenntnisse innerhalb der eigenen Sprache, Beispiel für das Fremdartige wäre eine unbekannte Fremdsprache. Das Fremdartige kann verschieden auftreten, auf gleicher Stufe in Form ähnlich entwikkelter Lebensformen, Kulturen, Sprachen, auf früherer Stufe, so die eigene Kindheit und in kollektiver Form sogenannte primitive Lebensformen bis hin zu tierischen Vorformen, schließlich kann es auftreten als Abart, so im Falle von Anomalien und Erkrankungen. Drei zentrale Figuren, in denen das Problem von Eigenheit und Fremdheit besonders virulent wird, sind das Kind, der Wilde, der Irre oder der Narr, dazu im Schatten das Tier. Was wir hier in großen Umrissen aufgezeichnet haben, sind die Schattenseiten jener selektiven und exklusiven Ordnungen, die in den Strukturen der Lebenswelt und unserer Alltagswelt angelegt sind und aller normativen Regelung vorausliegen. Käme es nicht zu solchen Abund Ausgrenzungen, durch die bestimmte Anschlußmöglichkeiten bevorzugt, andere benachteiligt werden, so würde die chaotische Vielfalt alle Handlungsorientierung und Handlungsplanung verhindern. Aus den Forschungen von René Spitz wissen wir, daß ein Kind, das nicht um den achten Monat herum zu fremdeln beginnt und Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden lernt, elementare Störungen aufweist, vielfach hervorgerufen durch einen häufigen Wechsel der ersten Bezugspersonen. Die Hunde, die Platon den Wächtern als Vorbild entgegenhält, partizipieren als Haustiere an diesem Häuslichwerden der Welt. Problematisch wird es erst, wenn wir auch hier die Art und Weise der Ab- und Ausgrenzung in Betracht ziehen. Solange der Mensch sich in einem Weltall zu Hause fühlt, kann die Eigensphäre sich schrittweise ausweiten vom nächsten Milieu über Land und Leute bis hin zum Kosmos, den der Weltbürger bewohnt. Je mehr der Betrachter und Bewohner sich dem All nähert, desto mehr schwinden die Schatten der Fremdheit. Im Kosmos hätten wir den Grenzfall einer Eigenheit ohne Fremdheit, eines allgemeinen Einschlusses, der weitere Anschlüsse hinfällig macht. Daß diese schöne Ordnung die Schatten der Fremdheit keineswegs tilgt, sondern nur verbirgt, brauchen wir hier nicht zu wiederholen. Jedenfalls ändert sich die Sachlage, wenn der Mensch sich in einer Welt ohne Mitte und ohne sichere Grenzen vorfindet und nun versucht, in
EIGENTÜMER: EIGENHEIT UND FREMDHEIT
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sich selbst ein Zentrum zu finden. Wie innerhalb der Handlung ein reines Tun sich ablöst, so auch hier eine reine Eigenheitssphäre, die alles umfaßt, was mir zugehört. Das Personalpronomen setzt sich fort im Possessivpronomen, und die Bevorzugung des Ich verstärkt sich zu einer Bevorzugung des Meinigen. Das Eigene wird zum Eigentlichen, von dem sich das Fremde und Fremdartige als Abkünftiges absetzt. Der Urheber wird zum Eigentümer, der allem Fremden und Fremdartigen mit der unausweichlichen Grundgebärde der Aneignung entgegentritt bis hin zu dem »Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«. Die Aneignung kann sich auf den direkten Weg zum Ich machen. In solcher Egozentrik wird das Fremde bewältigt, indem es als Abwandlung, Doublette, Kopie des Eigenen begriffen wird, angewiesen auf mühselige Erschließungsverfahren wie Einfühlung und verstehendes Sich-hinein-Versetzen. Selbst Husserl, der die eigene Gegenwart ausweitet zu einer Appräsenz, kommt über ein Gegenwartsgefälle nicht hinaus. Die Urpräsenz ist vom eigenen Erleben besetzt. »Erfahrungsfremdes« oder »Bewußtseinsfremdes« erscheint ihm verknüpft mit der widersinnigen Annahme eines »Lochs im Bewußtsein« (Huss. XVII, 239 f.). Die Fixierung auf das Problem der Gewißheit gehört ganz und gar in diesen Rahmen. Gewißheit ist Wahrheit, von der ich weiß, daß sie eine ist; sie ist aneignungsfähige Wahrheit, die Sicherheit verspricht, wenn nicht Sicherheit im Ganzen, so doch an einem Ankerplatz. Die Aneignung kann aber auch den weiten Weg gehen, der durch den Logos führt. In einer solchen Logozentrik wird das Fremde bewältigt, indem Eigenes und Fremdes in einen universalen Denkraum integriert wird. Handelt es sich um einen formalen Rahmen, so kommt es zu einer Reinigung: »Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigem vermischt ist« (KrV A 11) – ein Nachklang der platonischen Katharsis, in der die Seele sich vom sinnlichen Beiwerk und Blendwerk reinigt, beginnend bei reinen Farben, Tönen und Gerüchen (Philebos 51 a-e), deren Reinheit und Einfachheit »durch keine fremdartige Empfindung gestört und unterbrochen wird« (KU B 40 f.). Gerät der Rahmen in Bewegung, so bietet sich der Weg der Versöhnung an, der in Aufhebung der Entfremdung den »Schein ablegt, mit Fremdartigem ... behaftet zu sein« (Phänomenologie des Geistes, Einleitung), und zu einer Einheit von Eigenheit und Fremdheit führt, die – wie stets bei diesen übergreifenden Bewegungen – den einen Pol bevorzugt: bei allem Einschluß der Fremdheit, es wird angeeignet und nicht enteignet. Der unmittelbare Eigentümer, der geradewegs nach dem Fremden greift, hat mit der Gefahr zu rechnen, daß er nicht Herr ist im eigenen Hause. Wollte das Ich sich Fremdes aneignen, müßte es durch Aneig-
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nung des Es sich erst eine Aufnahmestätte bereiten. Der mittelbare Eigentümer, der indirekt das Fremde bearbeitet, gerät dagegen in die Fänge eines Über-Ich: der Logos als Gesetz, dessen das Ich auch nicht so leicht Herr wird.
6. Gesetzgeber: Autonomie und Heteronomie Gesetze braucht zunächst einmal der Handelnde selbst. Bestünde seine Freiheit nur darin, daß er von der Notwendigkeit der Naturgesetze ausgenommen wäre, so würde kein neues Ordnungszentrum entstehen, sondern nur ein Wirbel regelloser Laune und Willkür. Wie Hume mit leichtem Sarkasmus bemerkt, wäre dann der Irre der Freieste von der Welt, weil man seine Reaktion so wenig berechnen kann (Traktat, II, 3, 1). Das Worumwillen als Beweggrund des Handelns, das einer vorgegebenen Zielordnung entstammt, ist dahin. So bietet sich das Gesetz an als missing link zwischen einem zügellosen Begehren und einem vernünftigen Willen, doch welches Gesetz? Bliebe der Urheber einer Handlung einem fremden Gesetz unterworfen, so wäre das stolze Subjekt ein bloßer subjectus im Sinne des Untertanen (vgl. Kant, MS B 224), und es müßte befürchten, daß sich die drohende Willkür der Ereignisse lediglich auf die Ebene willkürlicher Gesetze verlagert. Diese Befürchtung wäre beseitigt, wenn das Subjekt die Selbsttätigkeit durch eine Selbstgesetzgebung untermauert. Dies führt zu einer dritten großen Scheidung, nämlich der zwischen Autonomie und Heteronomie, wiederum mit einem deutlichen Gefälle. Wenn der Handelnde, ungeachtet aller Eigentätigkeit, bis zu einem gewissen Grade von Anderem, von einem Heteron abhängig bleibt, so muß er doch vermeiden, daß er von den Gesetzen dieses Andern abhängt. Das Streben nach Selbstgesetzgebung bedeutet also eine gleichzeitige Entmachtung des Anderen, in welcher Form dieses auch auftreten mag. Damit kommen wir zum Kernpunkt unserer Überlegungen, zur Frage nach dem Ordner, und wir stoßen hier auf eine fundamentale Schwierigkeit, die den transzendentalen Theorien des Subjekts bis heute anhaftet. Einen Einwand von Jean Cavaillès (1947, 65) abwandelnd, könnte man so argumentieren: Entweder ist die Gesetzgebung, die vom Subjekt ausgeht, ein Geschehen, das ohne Gesetze abläuft, dann sind die erlassenen Gesetze als Gesetze willkürlich, oder es ist ein Geschehen, das nach Gesetzen abläuft, dann bedeutet die Gesetzgebung keine Selbstgesetzgebung. Mit anderen Worten, entweder ist Autonomie Auto-nomie, dann ist sie keine Gesetzgebung, oder sie ist Autonomie, dann ist sie keine Selbstgesetzgebung.
GESETZGEBER: AUTONOMIE UND HETERONOMIE
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Aufschlußreich für die Funktion des Gesetzgebers ist ein Blick in die Sphäre von Politik und Recht, aus der die Nomenklatur der Gesetzgebung herstammt. Die Gültigkeit positiver Gesetze wird fraglich, wenn unsicher bleibt, von welcher Instanz sie nach welchen Verfahren erlassen wurden, und solche Gesetze werden ungültig, wenn der Gesetzgeber sie durch andere ersetzt. Mit anderen Worten, es gibt keine positiven Gesetze ohne Gesetzgeber, aber dieser ist natürlich kein reines Subjekt, sondern eine Instanz oder Funktion, die bereits eine Ordnung voraussetzt. Ein ›erster Gesetzgeber‹ käme in ähnliche Schwierigkeiten wie unser reines Subjekt. Nehmen wir als Kontrast andere Arten von Gesetz, etwa die Gesetze der Perspektive in der Malerei, ein mathematisches Theorem, Schachregeln oder Lautregeln der Sprache. Was wird der Geltung solcher Gesetze und Regeln hinzugefügt, wenn man ›Gesetzgeber‹ angeben kann, die die Zentralperspektive in die Malerei eingeführt, eine mathematische Formel gefunden, das Schachspiel eingerichtet oder Lautregeln erlassen haben? Abgesehen davon, daß solche Erfindungen oft im Anonymen versickern, ist die Angabe eines ›Gesetzgebers‹ im strengen Sinne nichtssagend. Die klassische Geometrie gewinnt nicht und verliert nicht an Strenge, wenn man sie auf Euklid zurückführt, und die Zentralperspektive ist erlernbar, ohne daß man ihr die großen Namen aus der Renaissance anheftet. Wenn wir beim frühen Sartre lesen: »Innerhalb des freien Entwurfs eines Satzes organisieren sich also die Sprachgesetze; sprechend binde ich die Grammatik; die Freiheit ist das einzig mögliche Fundament der Sprachgesetze« (1962, 653), so sind wir nicht weiter als Descartes, den Sartre auf existentialistische Weise wiederholt. Der freie Akt, der ein Gesetz schafft, das ihn rückwirkend bindet, gleicht einer Münchhauseniade. Und weiter, können mathematische Gesetze oder Schachregeln eines Tages ungültig werden wie Steuergesetze? Würde im Iran das Schachspiel verboten, so wären dessen Regeln nicht außer Kraft gesetzt wie eine Verkehrsregelung; man kann weiterhin danach spielen, während ein abgesetzter Minister nicht weiter Erlasse unterzeichnen kann. Wenn es aber keine Instanz gibt, die jene Regelungen und Gesetze einfach abschaffen kann, so kann es auch keine geben, die sie einfach erlassen hat. Gegenüber Gesetzen, die eine interne Stimmigkeit aufweisen, wäre ein gesetzgebendes Subjekt in einer ähnlichen Lage wie der König im »Kleinen Prinz«, der sich seinen letzten Untertan bewahrt, indem er ihm befiehlt, was dieser ohnehin tut, nämlich zu gehen. Für ein solches Subjekt ist es am Ende gleich, ob »Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denket« (KrV B 404); denn ein solcher ordinateur würde nur nach Programm laufen. Am Ende spricht das Gesetz selber oder, wie es bei Cavaillès
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heißt: »Die Struktur spricht über sich selbst« (1947, 24). Eine solch hyperbolische Ausdrucksweise läuft hinaus auf eine Gesetzgebung ohne Gesetzgeber; die Nähe zum Gesetz kann für das Subjekt tödlich werden, wie wir im Denken der jüngsten Gegenwart erleben. Oder, eine letzte Möglichkeit, besteht die Autonomie etwa darin, daß jener, der danach handelt, aus Einsicht handelt? Der Unterschied wäre dann der zwischen einem Rechenautomaten und einem Mathematiker, doch wie es mit dessen Gesetzgebung bestellt ist, brauchen wir nicht zu wiederholen. Die Selbstgesetzgebung betätigt sich willkürlich, oder sie geht über in eine Vernunftgesetzgebung, so daß wir nicht weiter wären als am Ende des vorigen Kapitels. Das Subjekt hätte uns also keinen Schritt weitergebracht.
7. Die vergebliche Verdoppelung des Subjekts Das Subjekt, das sich lediglich auf ein Epizentrum zurückziehen kann, bleibt Kräften und Gesetzen ausgesetzt, die sich seinen Zentrierungsversuchen widersetzen. Die drei Scheidelinien, die Aktion von Passion, Eigenheit von Fremdheit, Autonomie von Heteronomie absondern, laufen mitten durch das Subjekt hindurch. Dieses denkende Schilfrohr, dieser entfremdete Eigentümer, dieser untertänige Herrscher sieht sich ständig bedroht von dem, was er ausgrenzt und zu besitzen und zu beherrschen trachtet, und außerdem treten andere Epizentren auf, die seine Einzigkeit in Frage stellen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich darin, daß das Subjekt eine Verdoppelung vornimmt und ein wahreres, höheres, sublimeres Subjekt von sich abspaltet. Dem besonderen tritt ein allgemeines, dem empirischen ein intelligibles, dem mundanen ein transzendentales Subjekt gegenüber. So kann es zugleich als bewirkte Ursache und spontaner Urheber auftreten, seine Handlung zugleich als »Naturhandlung« (KrV B 575) und als Vernunfthandlung betrachten und Gesetzen gehorchen, die es selber erläßt. Der späte Husserl, der die Narben dieser Tradition nicht verleugnet und viele ihrer Schwierigkeiten bündelt, spricht von der »Paradoxie« einer menschlichen Subjektivität, die zugleich »Subjektsein für die Welt« und »Objektsein in der Welt« bedeutet (Huss. VI, § 53). Wäre die Subjektivität identisch mit der mundanen Menschheit, so entstünde der Widersinn, daß ein Teilbestand der Welt diese als Ganzes konstituiert. »Der Subjektbestand der Welt verschlingt sozusagen die gesamte Welt und damit sich selbst.« Gegen diesen Widersinn eines Kronos, der nicht nur seine Kinder verschlingt, sondern sich selbst, setzt Husserl eine transzenden-
DIE VERGEBLICHE VERDOPPELUNG DES SUBJEKTS
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tale Subjektivität, die durch mundane Selbstobjektivation und durch soziale Selbstdeklination sich verweltlicht und vergesellschaftet und durch transzendentale Reflexion diese Konstitutionsfäden zurückspulen kann. Die Verdoppelung wäre in eine bloße Selbstverdoppelung neutralisiert, wenn sich das Subjekt zu fassen bekäme als ein Selbst, das in und trotz seiner Verdoppelung intakt bliebe. Doch dies scheitert, wie Husserl selber demonstriert, an der Zeitlichkeit, die eine Andersheit in das Arcanum der Selbstgegenwart hineinträgt und einen nie einzuholenden Aufschub bewirkt (s. Derrida 1987). Selbst die eigene Stimme wird bauchrednerisch, wenn sie sich nur noch auf sich selbst einläßt. Aufs Ganze gesehen scheint die Schwierigkeit darin zu bestehen, daß das moderne Subjekt unendliche Ansprüche auf eine Gesamt- oder wenigstens Grundordnung aufrechterhält, obwohl ihm nur endliche Mittel bleiben, um sie wahrzumachen. Daraus resultiert ein Schielen, eine »ontologische Diplopie« (Merleau-Ponty 1986, 216), da das Subjekt zugleich hier und überall, jetzt und immerzu seinen Aufenthalt sucht, oder es kommt zu einer Maskerade, in der der transzendentale Akteur sich ständig empirische Doubles zulegt, die aber ihr Doppelgängertum auf eigene Faust fortsetzen, Arbeit, Leben und Sprache mit »Quasi-Transzendentalien« ausstatten, partielle Autonomiebestrebungen fördern, die Rolle zwischen Herrscher und Untertan umkehren und dem Subjekt mit solchen Machenschaften in den Rücken fallen (Foucault 1971, Kap. IX). Ob das Subjekt sich mit der Abspaltung reiner Instanzen begnügt oder das Spiel der Vermischung oder Vermittlung treibt, eine Grund- oder gar Gesamtordnung bringt es so nicht zustande, weder in der Unterscheidung von Endlichem und Unendlichem noch in deren Versöhnung. Und wenn es, müde dieses Doppelspiels, sich auf pure Endlichkeit zurückzieht, behält es nur ein Residuum in Händen, das dem Doppelspiel im übrigen auch nicht entgeht. Der Rückzug auf Eigentlichkeit, Authentizität, Wahrhaftigkeit ist nur ein hilfloser Versuch, innerhalb einer geschrumpften Subjektivität zu retten, was zu retten ist. Wo die Subjektivität sich nicht an eine bestehende Ordnung anlehnt, gerät sie ins Beliebige. Doch was in unserem Zusammenhang besonders interessiert, das sind die teilweise bis ins Unkenntliche abgesunkenen Spuren, die eine subjektorientierte Ordnungsform hinterläßt, unabhängig davon, ob das Subjekt es bis zum Ordner bringt oder über die Position eines geordneten Ordners nicht hinausgelangt. Die Selektionen und Exklusionen, die wir früher mit den filtrierenden Gesichtspunkten von Wichtigkeit und Richtigkeit in Verbindung gebracht haben, gewinnen einen neuartigen Akzent, wenn die Zentrierung auf ein Subjekt hinzu-
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kommt. Das Reservat, das sich das Subjekt einrichtet, gleicht eher einer Einöde als einer Oase; denn es kommt zu weiteren Aus- und Abgrenzungen und zu neuen Reduktionen, die den Eigner ebenso empfindlich treffen wie seine Anrainer. Was sich den Ordnungsansprüchen des subjektiven Ordners entzieht, was das Subjekt sich nicht selber zurechnen, sich nicht aneignen oder nicht seinen eigenen Gesetzen unterwerfen kann, wird herabgemindert, abgewehrt, an den Rand getrieben. Was übrig bleibt, sind Reduktionsformen: Wahrheit als Gewißheit, Interlokution als Kombination von Aktion und Passion, Selbstsein als Eigenheit, und dies alles verstärkt durch eine Gesetzgebung, in der die Selbst- und Fremdverfügung durch einen Logos abgesichert ist. Eine bedeutsame Residualkategorie ist das Rohe. Die Erudition, keine creatio e nibilo, aber doch eine creatio e rudi, entwickelt ihre Gesetzlichkeit nicht aus einer Auseinandersetzung mit anderem, sondern aus eigenen Vorentwürfen, die auf Verfügung, Aneignung und Sicherung abzielen. Die Bevorzugung der Einheit gegenüber der Vielheit, des Selben gegenüber dem Andern, der Identität gegenüber der Differenz, des Zentrums gegenüber der Peripherie begegnet uns zwar in allen Ordnungen, die sich zu einem eindeutigen Bestand verfestigen, doch bekommt auch sie durch die Subjektivierung einen stärkeren Akzent. Die bekannte Annahme, daß das Mannigfaltige gegeben, die Verbindung eines Mannigfaltigen dagegen »nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus der Selbsttätigkeit ist« (KrV B 130), illustriert, wie aus der engen Verbindung von Subjektivität und Rationalität ganz spezifische Ordnungsweisen erwachsen. Diese Sonderung von Einheit und Vielheit, die von einer entsprechenden Einstufung von Sinnlichkeit und Verstand, von Anschauung und Handlung begleitet wird, wäre nichts weiter als eine dubiose Psychologie, stünde dahinter nicht die entschlossene Absonderung dessen, was aller Erfahrung vorweg ist, von dem, was aus ihr stammt. Dies ist eine Entscheidung sub specie subjecti, besser ad speciem subjecti, denn in solchen methodischen Blickstellungen bildet sich erst ein Subjekt, das als Ordner auftritt und seinen Beruf verfehlen würde, wollte es als geordnet gelten lassen, was es nicht selbst geordnet hat. Doch ist nicht für den Sprachunkundigen auch eine Fremdsprache etwas, das sich einer gegebenen Mannigfaltigkeit annähert, nur weil es nicht seiner eigenen Sprachordnung gehorcht?
LEIBLICHE MITWIRKUNG ODER: DAS UNBERECHENBARE SUBJEKT
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8. Leibliche Mitwirkung oder: das unberechenbare Subjekt Die Zweifel an der Macht eines ordnenden Subjekts, eines kosmétor, der mehr wäre als ein programmierter ordinateur, sollten uns nicht in Alternativen hineintreiben, die bis heute immer wieder aufflackern: hier ein allmächtiger Theaterdirektor, dort Theater ohne Autor, hier ein freier Strukturierer, dort sich selbst aussprechende Strukturen, kurz: hier ein allmächtiges Subjekt, dort allmächtige Strukturen, und dazwischen ein vielfältiges Tauziehen, das nur die Mischungsverhältnisse ändert, nicht die Essenzen. Diesem Hin und Her von Aneignung und Enteignung entziehen wir uns am besten, wenn wir nochmals auf die großen Unterscheidungen zurückkommen, die dem Subjekt auf die Beine geholfen haben. Betrachten wir Äußerungen und Handlungen in den Zusammenhängen, in denen gesprochen und gehandelt wird, so erweisen sich Aktion und Passion als Spaltprodukte, hervorgegangen aus Ereignissen, die wir an früherer Stelle Zwischenereignisse genannt haben. Nichts zwingt uns hier zu Alternativen wie Ich oder der Andere, Ich oder das Andere, Hammer oder Amboß. Ereignisse, die in einem Zwischenfeld aufeinander antworten, aneinander anknüpfen, sich miteinander verketten, laufen weder automatisch ab, noch lassen sie sich eindeutig bestimmten Steuerungszentren zuordnen. Sowohl in der Auseinandersetzung mit behandelten und besprochenen Dingen wie in der Auseinandersetzung mit Mitrednern und Mittätern kann die Initiative variieren, sich verstärken oder sich abschwächen. Die reine Passion, wo jemandem etwas bloß zustößt, ist ein ebensolcher Grenzfall wie die reine Aktion, wo jemand eigenmächtig tätig wird. Zwischen diesen Grenzfällen gibt es die »vermischten Handlungen«, die Aristoteles zu den Sonderfällen unfreiwilliger Handlungen zählt (Nik. Eth. III, 1), die aber in Wirklichkeit die Regel sind, wenn man darunter eine dosierte Mitwirkung versteht; sie läßt verschiedene Spielarten zu wie Initiative, Erwiderung, Mittun, Sichfortreißenlassen und Widerfahrnis. Wenn man Begriffe wie Tun und Leiden weiterhin verwenden will, so wären sie ganz und gar zu relativieren und kontextuell zu verwenden, wie Husserl es in seinen Analysen intentionaler Schichtungen und Verweisungen vielfach tut. Handlungen werden leiblich »inszeniert« (Huss. IV, 98, 259), und der Handelnde, der die Handlungen und sich selber in Szene setzt, tut dies im Rahmen einer Szenerie und einer Intrige, in die er aufgrund seiner leiblichen Situierung eingelassen ist.
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Die Zugehörigkeit zu einer Sphäre der »Zwischenleiblichkeit« (s. Merleau-Ponty 1986) verhindert auch, daß Eigenheit und Fremdheit sich sorglich voneinander abgrenzen lassen. Das geglückte Leben, das zunächst Tun ist und kein Besitz (Nik. Eth. IX, 9, 1169 b 29 f.), ist zugleich ein Mitleben, und in seiner Gemeinsamkeit bildet es ein Geflecht von Eigenem und Fremdem, das sich der Einzelne erst nachträglich und auch dann nur bis zu einem gewissen Grade aneignen kann. Wenn Sprecher und Täter nicht als separate Strahlungszentren oder Aktquellen vorausgesetzt, sondern aus der Interlokution und Interaktion begriffen werden, so entsteht Eigenes durch Differenzierung von Eigenem und Fremdem, wobei die Grenzlinien variabel sind, was die Verlaufsform und was die Deutlichkeit angeht. Das »Mitgefangen, mitgehangen« ist dort die Regel, wo man nicht bloß fertige Resultate austauscht oder Verhaltensabläufe routinemäßig arrangiert und montiert, sondern wo Reden und Handeln produktiv werden auf der Suche nach etwas, das sich nur in Umrissen zeigt und auf seine Gestaltung wartet. Je codierter ein Verhalten ist, um so genauer läßt sich der Prozeß auf Sender und Empfänger aufteilen, je erfinderischer er ist, desto weniger ist dies möglich. Daß Reden und Handeln in eine Schicht des Namenlosen, des Anonymen hineinreichen, führt keineswegs zu einem verantwortungslosen Gerede und Getue, in dem der Einzelne versinkt; denn Anknüpfung und Erwiderung setzen Zäsuren, an denen jeder gefordert wird. Doch eine Verantwortung, die dem responsiven Verhalten eingefügt bleibt, widersteht andererseits einer Juridisierung und Moralisierung, die von der Fiktion ausgeht, irgend jemand müsse es stets gewesen sein, weil jemand haftbar zu machen ist. Wird dieses begrenzte Versicherungs- und Verschuldungs-Interesse und die daraus erwachsende Konstruktion verabsolutiert, so entsteht der Aberglaube, wo gesprochen und gehandelt werde, gäbe es jeweils einen bestimmten Sprecher und einen bestimmten Täter. Auf diese Weise springt man geradewegs von der Präferenz der einzelnen Eigenaktion hinüber zur Indifferenz einer Eigenes und Fremdes koordinierenden Tätigkeit, und auf der Strecke bleibt die Differenz von Eigenem und Fremdem, die sich in der Interferenz verschiedener Verhaltenszüge herausbildet und die so etwas zuläßt wie »Plurales ohne Gleichheit, ohne In-differenz« (R. Barthes 1978, 72). Doch letzten Endes ist die Differenz von Eigenem und Fremdem unüberwindlich. Der Versuch einer Selbstaneignung endet seinerseits bei einer Spaltung von Ich und Mich, von je und moi, von I and me. Die Gegenstimme tönt mir nicht erst von außen entgegen, sie ertönt im eigenen Haus als ein Echo, das mich narrt oder begleitet wie in der latenten Mehrstimmigkeit mancher Solostücke.
LEIBLICHE MITWIRKUNG ODER: DAS UNBERECHENBARE SUBJEKT
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Die leibliche und zwischenleibliche Zugehörigkeit zu einem Redeund Handlungsfeld läßt also eine Mitwirkung zu, die sich der Alternative »mit oder ohne Ordner« entzieht. Wir zögern, in diesem Falle noch von einer leiblichen Subjektivität und Intersubjektivität zu sprechen. Denn daraus erwächst die Gefahr, daß die Subjektfunktion nur tiefer in die Erfahrung verlagert, aber nicht entschieden transformiert wird. Wenn der Leib allem zugrunde liegt, öffnen sich zwar die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem, aber doch nur vorläufig. Eine radikale Revision setzt voraus, daß das Selbst in seinem innersten Kern als antwortend und mitwirkend gefaßt wird. Greift man den gestalttheoretischen Begriff der Selbstorganisation auf, wie Aron Gurwitsch und Merleau-Ponty es tun, so bedeutet dies, daß das Ich in seinem responsiven Eingehen auf Andere und Anderes zweierlei Organisationsschüben ausgesetzt ist, nämlich dem eines vorichlichen Es mit seinen Antriebskräften und Kräftefeldern und dem eines überichlichen Es mit seinen rationalen Regelungen (s. Grathoff/Waldenfels 1983, 26). Das Ich lebt zwischen Logos und Pathos; es ist weder Herr über die Einfälle, die ihm kommen, noch über die Regeln, denen es folgt. Diese doppelte Dezentrierung, die ihm sowohl als einem être sensible wie als einem être raisonnable widerfährt, läßt von der Zentrierung auf ein Subjekt nicht viel übrig. Mit den Gesetzen des être raisonnable kommen wir auf die dritte und zentrale Scheidung zurück, nämlich auf die zwischen Autonomie und Heteronomie. Die vielfältige Mitwirkung des Redenden und Handelnden eröffnet einen Ausweg aus der angeblichen Alternative, er handle jeweils innerhalb der Ordnung oder schaffe die Ordnung. Was uns im folgenden Kapitel zu untersuchen bleibt, ist die Möglichkeit, daß jemand an der Ordnung arbeitet in einer Art von Mitschöpfung. Ein Ordner, der die Abgründe der Positivität überdecken könnte, ist weniger als zuvor zu erwarten. Um die unzureichenden Gründe wettzumachen, ist dieses ›Subjekt‹ zu unberechenbar. Das Zwielicht bleibt, da auch die Autonomie ihr Heteron miterzeugt, und so verläßt uns auch nicht die Frage, wodurch das Ordnungsgeschehen in Gang gehalten und vor dem Zerfall bewahrt wird.
E. ENTSTEHENDE UND BESTEHENDE ORDNUNG
1. Ordnung und ihre Maßstäbe Die Positivität der Ordnungen, die durch keine Gesamt- oder Grundordnung aufzufangen und durch kein ordnendes Subjekt zu beheben ist, nötigt uns dazu, die Frage nach den Kriterien und Maßstäben dorthin zu verfolgen, wo Ordnungen sich bilden und befestigen und wo sie einander ablösen und verdrängen. Selektive und exklusive Ordnungen schließen aus, daß die Genealogie bestimmter Ordnungen sich zu einem Gesamtgeschehen vereint, in dem ein Ganzes nach und nach zutage tritt und sich verwirklicht. Beschränken wir uns dagegen auf einen universalen Ordnungsrahmen, so kommen wir an die Genealogie selber nicht heran; das normative Vakuum bleibt bestehen, wenn Moral und Recht sich mit der Ergänzung durch faktisch ablaufende Sittengeschichten und Traditionen begnügen. Wir werden also einen Weg suchen, nach den Bedingungen spezifischer Ordnungsbildung zu fragen, ohne dem Sog einer Totalisierung oder Universalisierung zu erliegen. Dabei sind die Gesichtspunkte der Totalität und Universalität selber auf ihre Entstehungsbedingungen hin zu befragen. Mit dieser Historisierung von Maßstäben rufen wir die Gespenster des Relativismus wach. Doch der Philosoph »wird, statt vor ihnen davonzulaufen, es vorziehen, den dunklen Winkel zu durchleuchten« (Huss. XVII, 244). Mit geschichtsphilosophischen Bedürfnissen und Befürchtungen ist es jedenfalls nicht getan. Knüpfen wir nochmals bei unserer anfänglichen Definition der Ordnung an. Ordnung, so sagten wir, ist ein geregelter Zusammenhang zwischen diesem und jenem, wobei zu unterscheiden ist zwischen dem Ordnungsbestand und seinem Ordnungsgefüge. Wo eine Regelung erwartet und behauptet wird, droht auch Regellosigkeit und Regelwidrigkeit. Um zu entscheiden, ob das eine oder das andere vorliegt, bedarf es bestimmter Kriterien oder, wie wir auch sagen, bestimmter Maße. Durch die Messung kann zweierlei festgestellt werden, nämlich ob das Zu-Ordnende in Ordnung ist oder ob das Ordnungsgefüge selber in Ordnung ist. Daraus ergibt sich eine Dreistufigkeit: das Gemessene, das gemessen wird, das Maß, woran es gemessen wird, und das Maß des Maßes, woran ein Maß gemessen wird, und letzteres in beliebiger Iteration. Der drohende Regreß wäre behoben, wenn es ein letztes Maß gibt, das es ermöglicht, strittige Fragen, die auf früheren Stufen auftreten, mit Gründen zu entscheiden. Ein solch letztes Maß bietet sich an in der Berufung auf eine Gesamtordnung: die Wahrheit ist das Ganze – jeder Einspruch fiele hier buchstäblich ins Leere. Eine andere Möglichkeit, man rekurriert auf universale Grundmaße, denen jeder positive
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Maßstab entsprechen muß. Wenn weder der eine noch der andere Weg eine ausreichende Lösung verspricht, müssen wir, so weit und so gut es geht, eine Antwort suchen, indem wir die positiven Maßstäbe in ihrer positiven Funktion befragen, ohne eine transzendierende Wertung in Anspruch zu nehmen. Es wird sich zeigen, wie weit wir damit kommen. Doch vorweg sind einige allgemeine Fragen zu klären.
2. Maßstäbe in der Erfahrung, im Erkennen und Handeln Die Frage nach maßgebenden Unterscheidungskriterien stellt sich nicht erst auf der Ebene von Satzäußerungen, sondern bereits auf der Ebene perzeptiver Kognitionen und Rekognitionen, und zwar in all den Fällen, wo Augenschein und Augenmaß nicht ausreichen, um über Erfahrungsansprüche zu entscheiden; auch eine »Meßkunst der Lüste«, wie sie im Platonischen Protagoras gefordert wird, ist hier von Belang. Dazu einige Beispiele. Ist die Erscheinung am Horizont eine Oase oder eine bloße Fata Morgana? Wie werden uns die Pilze bekommen, wie dieser Wein? Stammt der Wein aus österreichischen Kellern oder anderswoher? Was bedeuten die roten Flecken im Gesicht, eine Allergie oder ein anziehendes Fieber? Trug der Täter einen blauen oder einen gelben Anorak? Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt? Mit Ausnahme der letzten Frage, die eine Frage nach dem richtigen Maß nicht aufkommen läßt, handelt es sich um Alternativen, zwischen denen zu entscheiden ist. Das Kennzeichen (τεϰμήριον), das es erlaubt, den Streitfall zu schlichten, gilt deshalb durchweg als Unterscheidungszeichen (ϰριτήριον). Dabei entsteht das Problem, wer als Richter (ϰριτής) über dieses Zeichen verfügt und den Rechtsspruch fällen kann, jeder Betroffene, der Experte oder der Weise – ein Problem, das schon in Platons Theaitet ausführlich erörtert wird (vgl. speziell 157 b, 160 c, 178 c). Indem wir uns abermals an Platon halten, können wir die Meßkunst aufteilen, »als den einen Teil derselben alle Künste setzend, welche Zahlen, Längen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteil abmessen; als den anderen aber alle, die es tun gegen das Angemessene (μέτριον) und Schickliche (πρέπον) und Gebührliche (δέον) und alles, was in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat« (Politikos 284 e). Die Bauleute, die sich besonderer Genauigkeit befleißigen, bedienen sich dabei eines »Richtscheits« (ϰανών) (Philebos 56 b). Natürlich können wir die hier auftretenden Erfah-
MASSSTÄBE IN DER ERFAHRUNG, IM ERKENNEN UND HANDELN
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rungskriterien auffassen als Prädikatenregeln, doch heißt das nicht, daß die Organisation der Erfahrung selber nichts weiter ist als ein implizites Prädizieren. Die Sinnfälligkeit des Maßstabs verblaßt, wenn wir auf die Ebene expliziter Satzäußerungen, geplanter Handlungen und Hervorbringungen überwechseln. Woran bemißt sich, ob eine Aussage wahr, eine Handlung richtig, ein Werk kunstgerecht ist? Die Beantwortung dieser Frage scheint zu einer tiefgehenden Diskrepanz zwischen kognitiven und praktischen Maßstäben zu führen. Eine Tatsachenaussage, so scheint es, gilt als wahr, wenn der behauptete Sachverhalt besteht, einfacher gesagt, wenn sie den Tatsachen entspricht. Diese Entsprechung stellt sich von Fall zu Fall her, ein positives Wahrheitskriterium, das alle Fälle vorwegnehmen müßte, kann es nicht geben, und Kant warnt uns davor, mit solch unvernünftigen Fragen »den Bock zu melken« (KrV B 82 ff.). Das positive Kriterium liefert somit der beurteilte Sachverhalt, der unsere Urteilsintention erfüllt. Es bliebe also bei einer Zweistufigkeit von Gemessenem und Maß, ohne daß dieses selbst wieder einem zusätzlichen Maß der Aussagenbeurteilung unterläge. Anders steht es offensichtlich mit der Handlungsbeurteilung. Das gilt zwar noch nicht, solange wir uns auf den bloßen Erfolg beschränken. Dieser ist dann gegeben, wenn der erzielte Sachverhalt, die Tat also, den Intentionen des Handelnden entspricht. Der Maßstab liegt in diesem Falle in der Absicht oder den Planungen des Handelns, und dies überträgt sich auf den gesamten Bereich technischer Herstellung, auf das »Technisch-Praktische«, das Kant aus diesem Grunde zum Bereich der theoretischen Naturbetrachtung zählt. Diesen Zusammenhang unterstreicht Searle, wenn er von einer doppelten »fitness«-Richtung spricht, einer »Geist-zu-Welt-Richtung« im Falle von Glauben und Meinen, einer »Welt-zu-Geist-Richtung« im Falle von Wünschen und Absichten (1983, 7 f.). Doch diese Symmetrie wird durchbrochen, wenn wir vom Bereich der Pragmatik überwechseln zu dem der Moral. Schon Aristoteles unterscheidet zwischen einer theoretischen und einer praktischen Wahrheit und definiert letztere nicht als Übereinstimmung mit dem bloßen Streben, sondern als Übereinstimmung mit dem richtigen Streben (ὄρεξις ὀρϑή) (Nik. Eth. VI, 2, 1139 a 30 f.). Mit dem Schwinden kosmischer Maßstäbe verschiebt sich die Orientierung auf die Ebene von Normen, und hier kommt es zu der schon erwähnten Normenverdoppelung. Die faktische Geltung ist zu unterscheiden von einer inneren Gültigkeit, die »subjektive Anerkennung« von einer »Anerkennungswürdigkeit«, denn anderenfalls würden Rechtsfragen auf Tatsachenfragen reduziert. So ent-
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scheidet letzten Endes über die Richtigkeit der Handlung ein Maß des Maßes. Ähnliches gilt für den Bereich des Ästhetischen, da hier der faktisch verbreitete Geschmack nicht ohne weiteres ein guter Geschmack ist, andernfalls wäre jede Kunstkritik hinfällig. Doch diese anscheinende Asymmetrie zwischen kognitiven und praktisch-moralischen Maßstäben hat ihre Tücken und läßt mancherlei Einwände zu. (a) Nackte Tatsachen, so wird man leicht zugestehen, gibt es nur für den Positivisten, der das, was ist, aller Bedeutung entkleidet. Anders bei kosmologischen Denkern wie Platon und Aristoteles. Wenn Platon den Homo-Mensura-Satz korrigiert, indem er Gott zum Maß aller Dinge erklärt (Nomoi 716 c), so hat er an dieser Stelle zwar das maßvolle oder maßlose Verhalten des Menschen im Auge, doch darüber hinaus ist alles Seiende an seiner Idee zu messen, so wie für Aristoteles alles Seiende in der Entelechie sein inneres Maß hat. Die logische oder ontisrhe Wahrheit des menschlichen Intellekts, der sich in seinem Erkennen nach den Dingen richtet, wird auch hier verdoppelt, nämlich durch eine onto-theologische Wahrheit, die sich nach den Ideen oder, in theologischer Version, nach dem göttlichen Intellekt bemißt. Und für Kants transzendentales Denken ist der empirischen eine transzendentale Wahrheit vorgeordnet. Der transzendentalen »Logik der Wahrheit« kann »keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich den Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Objekt, mithin alle Wahrheit« (KrV B 87). Die transzendentale Logik liefert also Bedingungen, die im empirischen Sinne weder wahr noch falsch sind, sondern beides ermöglichen. In dem Nachweis, daß sie dies tun, erweist sich ihr Recht. Man kann, wie Husserl es tut, diese Wahrheitslogik erweitern um eine reine Bedeutungslehre, in der Gesetze eines zu vermeidenden Widersinns und Unsinns auftreten, man kann die formale Ontologie in regionale Ontologien auffächern, doch diese und ähnliche Modifikationen ändern nichts an dem Grundansatz, auf den es hier ankommt. Die Erkenntnisordnung entsteht aus dem Zusammenspiel von empirisch-kontingenter Erfahrung und notwendigen Erkenntnisbedingungen, die der Erfahrung ein Ordnungsraster bereitstellen und auf diese Weise Erkenntnis ermöglichen. Doch wiederum stoßen wir auf das ungelöste Problem zureichender Bedingungen. Wenn die allgemeine Ordnung variable Ordnungen nicht nur zuläßt, sondern erfordert, so schiebt sich zwischen Empirie und allgemeine Vernunft eine Ebene spezifischer Ordnungen, deren Maßstäbe weder der Empirie noch einer allgemeinen Vernunft entstammen können. Beruft man sich auf eine Gesamtvernunft, so kann man den – wenn auch fragwürdigen – Versuch machen, die bestimmten Ordnungen als Stu-
MASSSTÄBE IN DER ERFAHRUNG, IM ERKENNEN UND HANDELN
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fen einer Vernunftarchitektonik oder einer Vernunftentwicklung zu begreifen und sie so an deren Notwendigkeit teilhaben zu lassen. Beschränkt man sich auf eine Grundordnung, so entfällt diese Möglichkeit. Zwischen universalen Bedingungen der Erfahrung und dieser selbst tut sich ein Vakuum auf. Dies wird verschleiert, wenn man von empirischen Begriffen und Gesetzen spricht; empirisch wären diese nur dann, wenn sie alternativenlos aus der Erfahrung selbst geschöpft werden könnten. Diese Bastard-Empirie ist also zu ersetzen durch positive Ordnungsinstanzen wie Theorien, Paradigmen, Rahmenwerk, Wissensformen, Diskurse, die in ihrer Variabilität bestimmten Erfahrungen voraus sind, aber nicht allen. Darin gleichen sie den faktisch geltenden Normen, und das Problem einer Verdoppelung der Ordnungsstrukturen stellt sich also im kognitiven Bereich ebenso wie im praktischen. (b) Eine Asymmetrie zwischen kognitiven und praktisch-moralischen Maßstäben könnte man aber auch in umgekehrter Richtung suchen. Der ontischen oder empirischen Wahrheit, die sich von den Dingen herleitet, scheint keine ontische oder empirische Richtigkeit zu entsprechen; denn Normen, die gebieten, was getan werden soll, können sich nicht stützen auf das, was ist. Doch auch hier deutet sich eine gewisse Korrektur an. Wenn das Handeln ähnlich wie das Reden als responsives Verhalten zu begreifen ist, das Ansprüche erwidert und auf Zumutungen eingeht, so erhält auch der Erfahrungsbereich eine bestimmte Ausrichtung. Eine Aufforderung, die in der Erfahrung auftritt, hat es durchaus mit dem zu tun, was einer zu tun hat, und nicht nur mit dem, was er tut, und ob und wie weit er der Aufforderung gerecht geworden ist, bemißt sich nicht allein an einer allgemeinen Norm. Ein Anspruch sinkt erst dann als »bloßer Anspruch« (KU B 114) hinter das Gebot zurück, wenn er an einem universalen Anspruch gemessen wird. Doch es sei nochmals wiederholt, materialer Anspruch und formale Gesetzlichkeit liegen auf disparaten Ebenen, das eine kann nicht gegen das andere aufgerechnet werden. Das ginge nur dann, wenn es ein positives Allgemeines gäbe, dem man sich mehr oder weniger annähert. (c) Der Unterschied zwischen Logik der Wahrheit und Logik der Richtigkeit rührt also nicht daher, daß im einen Falle die Erfahrung, im anderen Falle erfahrungsunabhängige Gesetze maßgebend wären, der Unterschied liegt woanders. Hat man einmal streng zwischen Reich der Natur und Reich der Freiheit unterschieden, so ist eo ipso auch zwischen zweierlei Art von Gesetzen oder Regeln zu unterscheiden. Die bekannte Unterscheidung von Searle aufgreifend und abwan-
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delnd, können wir sagen: Naturgesetze, transzendentale so gut wie empirische, sind konstitutive Regeln, Freiheitsgesetze dagegen regulative Regeln. Naturereignisse sind geltenden Gesetzen unterworfen; wenn sie den empirischen Gesetzen nicht ›folgen‹, so verhalten sie sich nicht regelwidrig, sondern die Gesetze sind falsch oder unzulänglich; wenn sie den transzendentalen Gesetzen nicht ›folgen‹, so verhalten sie sich wiederum nicht regelwidrig, sondern regellos, die Ereignisse verflüchtigen sich. Bei einem moralisch-praktischen Handeln dagegen ist mit der Geltung der Regeln die Befolgung nicht gewährleistet; folgen die Akteure den Regeln nicht, so verhalten sie sich regelwidrig. Eine Handlung bleibt eine Handlung, auch wenn sie unrichtig ist. Gültige Naturgesetze implizieren, daß das, was eintreten wird, ihnen gemäß ist, geltende Freiheitsgesetze implizieren dies nicht. Insofern gabelt sich hier die erwähnte Frage nach dem Zu-Ordnenden und der Ordnung selber, während sie es dort nicht tut. Doch auch dies ist keine erschöpfende Antwort. Man wird zugeben, daß es regulative Regeln nur gibt, wo Wahlmöglichkeiten bestehen, doch umgekehrt kann man für das Handeln durchaus konstitutive Regeln ausmachen, die nicht das richtige Handeln betreffen, sondern das Handeln als solches. Das gilt etwa für die Ausbildung von Handlungsfeldern, die ebensowenig wie das Regelbefolgen (s. Heringer 1974, 17) Handeln ist, sondern zu den Bedingungen von Handlungen gehört. Nur wenn man alles, was nicht durch Normen geregelt ist, in die bloße Natur abschiebt, treten kognitive und praktische Gesichtspunkte derart auseinander. Die Kluft verringert sich, wenn man das Erkennen von dem, was ist, nicht bloß mit richtigem Handeln, sondern mit Handeln schlechthin vergleicht und eine Praktik (Huss. III, § 147) ins Auge faßt, deren Gesetzlichkeit zwischen Natur- und Sittengesetz steht. Schließlich rücken Erkennen und Handeln enger zusammen, wenn man nicht ihre bloßen Geltungsansprüche abwägt, sondern im Auge behält, was beide zustande bringen. Hier tun wir gut daran, von einem kognitiven und praktischen Umgang mit Dingen und Menschen zu sprechen, wobei Bemerken und Bewirken kreisförmig ineinandergreifen. Dazu gehört auch ein Umgang mit dem Wissen, der selber weder wahr noch falsch ist, aber wie aller Umgang auf Hindernisse stößt, Kosten und Mühen verursacht, Unterlassungen und Verbote zuläßt. Tatenloses Erkennen wäre ein ebensolcher Grenzfall wie blindes Tun oder wie eine Erkenntnis, die nichts als wahr, eine Handlung, die nichts als richtig zu sein verspräche. Wenn dies nur Grenzfälle sind, so greifen Regelungen und Maßstäbe ineinander im Rahmen einer »diskursiven Praxis«, die uns von frei im Raum herumflatternden Spektren und Akten befreit.
PRODUKTION UND REPRODUKTION VON ORDNUNG
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3. Produktion und Reproduktion von Ordnung Die Maßstäblichkeit von Ordnung gibt uns die Möglichkeit, innerhalb des Ordnungsgeschehens eine wichtige Unterscheidung einzuführen. Wir sprechen von produktivem Verhalten oder einem produktiven Ereignis, sei es im Bereich der Erfahrung, des Handelns, des Herstellens oder des Erkennens, immer dann, wenn zugleich mit einem neuen Produkt auch ein neuartiges Ordnungsgefüge, eine neue Regelung und ein neues Maß entsteht, während beim reproduktiven Verhalten das neue Produkt im Rahmen eines hergebrachten Ordnungsgefüges verbleibt, einer bestehenden Regel folgt und einem vorhandenen Maßstab unterworfen bleibt. Es versteht sich, daß reine Reproduktion nur einen Grenzwert darstellt; denn sie wäre nur dann gegeben, wenn durch die Regelung der geregelte Zusammenhang bis in alle Einzelheiten festgelegt wäre, so daß nur noch ununterscheidbare Kopien produziert würden. Eine Annäherung an die reine Reproduktion ist allerdings möglich, so etwa im stereotypen Verhalten, in stark ritualisierten Rede- oder Handlungsakten oder bei der puren Auslösung technischer Effekte, die apparativ als »Immer-Fertiges« bereitstehen (Blumenberg 1981, 37). Daß auch der gegenteilige Grenzfall einer reinen Produktion ausgeschlossen ist, wird weiter unten zur Sprache kommen. Hier genügt die Feststellung, daß der Unterschied zwischen Produktion und Reproduktion als graduell zu verstehen ist, nicht als disjunktiv. Diese Unterscheidung läßt sich erläutern durch den Hinweis auf die Vertrautheit unserer alltäglichen Erfahrungen und den Einbruch von Unvertrautem. Zum normalen Gang der Erfahrung gehört es, daß uns immer wieder Neues begegnet, das im Rahmen unserer vorgegebenen Ordnung bleibt, den Ordnungsrahmen auf verschiedene Weise füllt und die Ordnungsmaßstäbe zunehmend erprobt. Die bestimmte Unbestimmtheit, die unsere Erfahrungsstrukturen kennzeichnet, ist angelegt auf dauernde Fortbestimmung und partielle Umbestimmung: Dies Wohnhaus ist vierstöckig und stammt aus dem 19. Jahrhundert …, oder: Dies Haus ist kein Wohnhaus, sondern ein Gefängnis. Die Einstimmigkeit einer bestehenden Erfahrungsordnung spiegelt sich in einer sozialen Übereinstimmung, die normale Verständigung ermöglicht und trotz aller Unstimmigkeiten und unerläßlicher Wechselkorrektur aufs Ganze hin und auf die Dauer gesehen einen Einklang verspricht. Die typischen Erfahrungsgestalten, die wir antreffen, treten auf als »ektypische« Nachbilder, als Nachgestalten, Wiederholungen (vgl. dazu Kant, KU B 207). Wir begnügen uns also hier mit einem Maßnehmen an anderem, das die Frage nach dem maßgeblichen Anderen,
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nach den prototypischen Urbildern, offen läßt. Dem stünde die Möglichkeit gegenüber, daß Neuartiges in unsere bestehende Erfahrungsordnung einbricht und zu radikalen Umbestimmungen und Neubestimmungen nötigt, so daß die Regeln und Rahmenbedingungen unserer Erfahrung und unserer Wechselverständigung modifiziert werden. Wir stoßen hier auf ein Maßgehen, das nicht mehr an anderem Maß nimmt. Bedeutet das, daß hier ein Maß einfachhin gesetzt wird? Schauen wir nochmals hin, was Produktion und Reproduktion eigentlich besagen und auf welche Weise etwas produziert und reproduziert wird. Wenn wir eine Skala zunehmender und abnehmender Produktion aufstellen, scheint es möglich, alle Ordnungsformen auf dieser Skala einzutragen. Produktion könnte dann vieles besagen, die Neudefinition einer Situation, die Umstrukturierung eines etablierten Feldes, die Einführung neuer Erfahrungs- oder Handlungsmuster, einen Eingriff in die Normalität, eine Änderung der Sitten, schließlich eine implizite Änderung im Normengefüge bis hin zur expliziten Aufstellung neuer Normen. Dies würde nicht nur für unsere tradierten Alltagswelten gelten, sondern für sämtliche Sonderbereiche wie Erziehung, Gesundheitswesen, Rechtsprechung, Wirtschaftssystem, politische Ordnung, wissenschaftliche Forschung, Kunst und religiöser Kult, die jeweils ihre spezifischen Formen der Stiftung, der Veralltäglichung und Erneuerung aufweisen. Diesen Wechsel von Produktion und Reproduktion finden wir schließlich in der individuellen Biographie genauso wie in der kollektiven Geschichte einer Generation, eines Volkes, einer Kulturgemeinschaft. Doch an das produktive Geschehen kommen wir erst dann wirklich heran, wenn wir eine weitere wichtige Unterscheidung einführen.
4. Maßwerk und Maßstab, Vorbild und Vorschrift Wir haben früher (B 6) von typischen Erfahrungsgestalten gesprochen und sie als die Art und Weise charakterisiert, wie etwas wiederholt in der Erfahrung auftritt. Alltägliche Beispiele dafür wären bekannte Gesichter, Handgriffe, Sprachwendungen, Melodien, Düfte, Treppenstufen, die uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, daß wir sie nur vergessen können, indem wir einen Teil unserer selbst vergessen. Dazu gehören auch symbolische Zeichen wie Telefonnummern und Namen, die ins Sensorische und Motorische übersetzt werden, so daß am Ende unser Leib als »gardien« des Vergangenen (Proust, I, 6, dt. 1, 14) fungiert. Bei solch »sinnlichen Ideen« ist zwischen dem Ordnungs-
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bestand und seinem Ordnungsgefüge so wenig zu unterscheiden wie zwischen Leier und Harmonie, das Bild ist zugleich Urbild. Die Regelung, die hier zutage tritt, ist nicht nur konstitutiv in dem Sinne, daß ohne sie etwas gar nicht wäre, was es ist, sie ist darüber hinaus in das Geregelte eingebaut. Ein solch verkörpertes und materialisiertes Maß können wir als Maßwerk bezeichnen, ohne es damit, wie im Falle gotischer Kathedralenfenster, auf geometrische Füllsel zu beschränken. Ein solches Maßwerk ist nicht aus der Erfahrung, da es selber diese regelt, es ist aber auch nicht vor der Erfahrung, weil es keine Leerform ist, die mit entsprechenden Materialien ausgefüllt wird und Erfahrung bloß ermöglicht. Was es mit diesem Maßwerk auf sich hat, zeigt sich, wenn wir die Entstehung des Neuartigen im Auge behalten. Mit der Produktion eines Neuartigen wird ein neues Maß mitproduziert, das Maß entsteht also mit der Erfahrung, die sich nach ihm bemißt. Die Entstehung der Ordnung führt uns hier an einen merkwürdigen Ort der Indifferenz des Differenten, fernab aller Verdoppelung. Zunächst haben wir eine Indifferenz von Zu-Ordnendem und Ordnendem, von Geregeltem und Regel, von Bemessenem und Maß, das heißt aber auch: von Allgemeinem und Besonderem, von Ideellem und Faktischem; denn solange sich das Regelhafte nicht als allgemeine Form ablöst, gibt es auch nichts Individuelles, was unter die Regel fiele. Gäbe es nur diese Symbiose von Gestalt und Gestaltetem, wir wären einer »Tyrannei« des Einmaligen (Proust, I, 660, dt. II, 347) ausgeliefert, die sich von Augenblick zu Augenblick ändert, aber nicht lockert. Die Differenz zwischen Maß und Gemessenem entsteht durch die Ablaufgesetze der Zeit. Etwas erscheint als dasselbe, sofern es noch einmal und immer wieder auftritt und mithin auch nicht dasselbe ist. Mit der Wiederholung tritt das Gemessene in eine gewisse Distanz zur Gestalt, an der es sich mißt und an der die Reproduktion Maß nimmt. Sofern die reproduzierte Gestalt mit der produzierten identisch ist, wird sie an sich selber, soweit sie verschieden ist, an anderem gemessen. Das Maß wird zum Richtmaß, wenn eine Ordnung sich reproduziert. Die Richtigkeit entsteht aus dieser Differenz zu sich selbst. Von diesen verkörperten Maßen, die sich als Gestalt oder Struktur materialisieren, unterscheiden wir Maßstäbe im engeren Sinne, die von der bemessenen Sache ablösbar sind und an sie angelegt werden wie ein Zollstock oder eine Meßlatte. Hierher gehören Begriffe, Gesetze, Formeln, Normen, die Bedingungen enthalten, denen bestimmte Materialien genügen müssen, ohne daß die Materialisierung selber vorgeführt wird. So enthält der Begriff Dreieck keine Angabe darüber, ob das Dreieck rechtwinklig ist oder nicht, ein Fallgesetz äußert sich nicht
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darüber, ob der fallende Körper gefährlich ist oder nicht, und die Strafe für Raubmörder nimmt im allgemeinen keinen Bezug auf Haarfarbe oder Geschlecht. Das Ordnungsgefüge ist hier vom Ordnungsbestand unterschieden. Ein spezifischer Maßstab geht nicht allen Erfahrungen voraus, aber doch denen, die sich nach ihm bemessen. Ein Begriff oder eine Formel können leer sein, eine Gestalt oder Struktur nicht, da sie nichts anderes sind als das Arrangement bestimmter Materialien. Diese Differenz von Maß und Bemessenem, die nicht erst durch Wiederholung und Wiederverkörperung entsteht, bringt es mit sich, daß ein neuer Maßstab nicht einfach mitproduziert wird wie das Maßwerk, er wird eigens produziert, und er wird nicht wiederholt, sondern angewandt. Er tritt nicht bloß mit anderem auf, denn etwas, das als etwas auftritt, ist immer schon mehr als das, was sich unter einen Begriff oder ein Gesetz subsumieren läßt; in diesem Sinne sind alle Ordnungsmaßstäbe regulativ, mit Ausnahme jener, die notwendige Bedingungen enthalten (s. o. E 2). Allerdings begegnet uns auch der Ordnungsmaßstab zunächst nicht als neuer Gegenstand, sondern in einer Funktion, die als Funktion nur entstehen und bestehen kann, indem sie sich auf mögliche Zusammenhänge bezieht, die zu regeln sind. Insofern werden auch Ordnungsmaßstäbe produziert im Hinblick auf neu zu Regelndes und zu Ordnendes. Der Unterschied zwischen konkreten und abstrakten Maßen, zwischen Maßwerken und Maßstäben, läßt sich auch noch auf andere Weise fassen. Das konkrete Maß wirkt als Vor-bild, als Paradigma, das man nachahmt und dem man sich mehr oder weniger annähert. Daß es auch abschreckende Vorbilder gibt, soll hier noch außer acht bleiben. Bei Vorbildern ist nicht nur an visuelle Bilder zu denken, sondern auch an Klangfolgen, Handgriffe, Sprachzüge, Handlungsmuster und Forschungsweisen, an alles das also, was neue Wege bahnt. Ferner bedeutet Nachahmen nicht Kopieren, sondern ein Nachbilden mit eigenen Mitteln und ein Umsetzen in eine neue Situation. Zu denken ist zum Beispiel an das Erlernen einer Sprache durch Lesen, Hören, Nachsprechen, Mitsprechen, eine Einübung, die aller Regelkenntnis vorausgeht. Mißt man sich an dem Vorbild, so bedeutet das, daß die ›Nachbilder‹ in ein Verhältnis mehr oder weniger großer Teilhabe treten und eine Vervollkommnung zulassen. Anders bei Vor-schriften, bei Normen. Diese werden angewandt, befolgt oder nicht befolgt, erfüllt oder nicht erfüllt, doch kann man sich einer Vorschrift nicht annähern wie einem Vorbild. Das Verhältnis der Teilhabe wird hier abgelöst durch das der Subsumption: etwas fällt unter eine Norm, der es entspricht oder nicht. Während das Verhältnis zum Paradigma sich als
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analogisch darstellt, nimmt das Verhältnis zur Norm eine digitale Form an. Eine Gesetzesnorm kann man erfüllen oder nicht, man kann sie nicht besser erfüllen, sowenig man eine Telefonnummer besser wählen kann und sowenig ein Satz wahrer sein kann als der andere. So läßt auch Kants guter Wille sich nicht steigern in einen besseren Willen. Ein Übersoll sprengt die Grenze des Vorgeschriebenen. Dieser Unterschied dringt bis in die Sprache ein, ich kann etwas besser sagen, aber nicht besser aussagen, die Aussage trifft zu oder nicht. Mit der Unterscheidung von Vorbild und Vorschrift nähern wir uns abermals der Alternative von kosmischem und normativem Denken. Im ersten Falle erscheint der Kosmos als ein umfassendes Urbild, dem es nachzustreben gilt, im anderen Falle regieren Gesetze, die der Natur und der Freiheit vorschreiben, was geschieht und was zu tun ist. Die Orientierung an einem ewigen Vorbild verwandelt alles Erkennen in ein Wiedererkennen, alle Produktion in eine Reproduktion, die sich an bestehenden Maßen orientiert. Die Fundierung der Ordnung in Grundnormen überspringt das Problem spezifischer Produktion, solange nicht auch dem Erkennenden und Handelnden zugestanden wird, was dem genialen Künstler vorbehalten bleibt, nämlich nicht bloß nach Regeln zu schaffen, sondern Regeln zu geben (Kant, KU § 46), und zwar ohne daß eine zielstrebige Natur in ihm wirkt. In diesem Sinne ist, mit Nietzsche zu reden, auch das Erkennnen ein Schaffen, und ähnliches gilt für das Handeln. Erkennender und Handelnder treten dort, wo sie produktiv werden, nicht einfach als Künstler auf, aber doch wie Künstler, mit denen sie sich an diesem Punkt treffen. Sofern die Einbildungskraft nicht bloß eine bestehende Ordnung reproduziert, sondern eine neue produziert, enthält jedes Vorbild ein Moment künstlicher Vorschrift. Zwischen der Vorverlagerung der einmal produzierten Ordnung in die Dinge und der Beschränkung auf eine notwendige Ordnung vor den Dingen taucht die Möglichkeit auf einer variablen Ordnung der Dinge, wo die Rationalität sich »genau an der Erfahrung bemißt, in der sie sich enthüllt« (Merleau-Ponty 1966, Vorwort). Eine solche Ordnung hält zwischen perfectio und bloßer rectitudo Steigerungsmöglichkeiten offen. Heißt das nun, daß wir Ordnungen, die derart ihre eigenen Maße mitproduzieren, als gültig, als wahr oder richtig erklären, weil sie so entstanden sind und fortan weiterbestehen? Man würde damit ein Maß zu seinem eigenen Maß erheben, zu einer mensura sui, wo Maß und Maß des Maßes zusammenfielen. Eine solch kurzschlüssige Verfestigung der Position und der Positivität in einen Positivismus schneidet nicht nur Fragen ab, sie besagt im eigentlichen Sinne nichts, suggeriert
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aber immer noch, daß dort etwas zu sagen sei. Sie besagt nichts, denn die Verdoppelung des Maßes zum Eigenmaß wird zur puren Tautologie, wenn die Verdoppelung keine Möglichkeit enthält, das entstehende Maß so oder so zu beurteilen. Sie gleicht dem sic volo, sic iubeo, das kein Argument enthält, sondern nur eine Bekräftigung. Ein solcher Positivismus suggeriert, es müßte eine Rechtfertigung geben, und genau hier setzt der Zweifel ein. So wie die ontologische oder transzendentale Wahrheit nicht selber als wahr oder falsch gilt, sondern wahre und falsche Zuordnungen ermöglicht, und so wie eine universale Grundnorm nicht selber als richtige oder unrichtige Handlungsmaxime gilt, sondern diese Unterscheidung ermöglichen soll, so steht es auch mit den variablen Ordnungen, von denen hier die Rede ist. Bedingungen für wahr und falsch, richtig und unrichtig sind nicht wahr oder richtig, sondern sie sind diesseits von wahr und falsch, von richtig und unrichtig, denn ohne ein solch vorgängiges Ordnungsgefüge gäbe es gar nichts, was sich zutreffend oder unzutreffend zuordnen ließe. Ein Beispiel dafür liefert uns die Sprache, die Lieblingswendungen, Sprechgewohnheiten, stilistische Eigenarten, Grammatikregeln und Normen anbietet, einen Fundus von Ordnungsformen also, den wohl niemand insgesamt als wahr oder richtig deklarieren würde. Dasselbe gilt auch für Wahrnehmungs- und Handlungsordnungen, die in bestimmten Lebensformen oder Berufsfeldern verankert sind. Wollte man sie insgesamt beurteilen, so müßte man sich auf eine wahre Lebensform beziehen, die alle konkreten Lebensformen in sich fassen müßte, oder aber auf eine letztgültige Lebensnorm, die als Supernorm auf alle Lebensformen herabblicken würde – das alte Dilemma, von dem schon zur Genüge die Rede war. Folgt daraus, daß die variablen Ordnungen der Dinge beliebig sind? Dieser drohenden Beliebigkeit kann man auf vielfache Weise zu Leibe rücken. Vorerst tun wir es, indem wir auf die Entstehungsbedingungen von Ordnungen achtgeben. Dies ist nicht der einzige, aber doch ein wichtiger Weg, um zu zeigen, daß nicht alles möglich ist. Auch die Genesis hat ihre Logik.
5. Schlüsselereignisse und Schlüsselerfahrungen Die Rede von Produktion und Reproduktion ist nicht so zu verstehen, als handle es sich um produktives Tun, das einem bestimmten Produzenten und Reproduzenten zuzuordnen wäre. Außer in den Fällen, wo explizite Muster vorgestellt und Normen aufgestellt werden, handelt es
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sich um ein Geschehen, in dem Ordnung sich produziert und reproduziert. Die Produktion einer Ordnung geschieht zunächst im Raume der Erfahrung, nämlich so, daß das Geschehen sich in bestimmten Ereignissen verdichtet und das Bezugsnetz sich an bestimmten Stellen verknotet. Diese herrenlosen Ereignisse, die sich nicht in einen bestehenden Kontext einordnen lassen, sondern selber Szenerien bilden und Geschichten auslösen, solche ›Urstiftungen‹, in denen Geltung und Genesis untrennbar verknüpft sind, nennen wir Schlüsselereignisse. Es sind signifikante Ereignisse, ähnlich wie Mead vom »signifikanten Anderen« spricht, überdeterminiert in dem, was sie an Sinnpotential anbieten. Sie sind zu unterscheiden von zufälligen Auslöseereignissen, die aus geläufigen Bahnen herausreißen, ohne selber einen neuen Weg zu eröffnen. Schlüsselereignisse können sich kondensieren zu Schlüsselthemen, Schlüsselszenen, Schlüsseldingen, Schlüsselworten, Schlüsselwerken, Schlüsselfiguren, bei denen sozusagen Code und Botschaft in eins fallen, da sie der Erfahrung neue Aufschlüsse geben und neue Anschlüsse ermöglichen. Die Ambivalenz solcher Ereignisse beruht darauf, daß hier Pathos und Mathos, Attraktion und Repulsion sich verstricken und jedes vorgängige Richtmaß versagt. Darin gleichen sie einer Frage oder einer Zumutung, nicht einer Aussage oder einem Gebot. Hierbei ist an biographische, intime und öffentliche Ereignisse zu denken, die das individuelle und kollektive Leben skandieren, unterhalb der Schwelle einer sich wiederholenden Normalordnung. Zu solchen Schlüsselerfahrungen gehören Ereignisse und Instanzen der Kindheit, Familienbindungen, Kindheitsorte, frühe Vorlieben und Traumata, frühe Leseabenteuer; dazu gehören einschneidende Lebensereignisse wie Liebesgeschichten, Konversionen, Krankheiten; urgeschichtliche Einbrüche wie die Entdeckung des Feuers, der Beginn der Viehzucht und das Seßhaftwerden; kulturelle Etappen wie Entdeckungen, Erfindungen, Religionsstiftungen, Wirtschaftskrisen und Vertreibungen; schließlich politische Ereignisse wie Krieg, Revolution, Verfolgung, Progrom oder Résistance. Solche Ereignisse sind nicht nur gloriose Menschheitsereignisse, sondern auch zerstörerische oder zumindest halbzerstörerische wie die Französische Revolution, und was »sich daran nicht mehr vergißt«, ist nicht nur das Phänomen, daß ein Volk sich erstmals seine eigene Verfassung gegeben hat, sondern vieles andere dazu. Kant erlaubt sich in seinen Geschichtsbetrachtungen (VI, 356 ff.) einiges an kognitiver Dissonanz, wenn er die Zuschauer einer Begebenheit applaudieren läßt, die sie als Handelnde strikt abzulehnen haben. Man male sich ein Gespräch aus zwischen Zuschauern und
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Tätern, zwischen Kant und Danton, nach welchen Regeln sollte ein solches Gespräch ablaufen? Den einen die culpa, den anderen die felicitas? Was Kant hier mühsam auf verschiedene Rollen verteilt, hätte seine Wahrheit, wenn »Begebenheit« und Handlung miteinander verquickt würden. Was wir hier, right or wrong, Schlüsselereignisse nennen, sind solche Ereignisse, die nicht von den Handlungen derer herrühren, für die sie Schlüsselereignisse sind. Beurteilen läßt sich, wie wir darauf antworten, nicht aber das, was solche Antworten hervorruft. Die Moralisierung der privaten und öffentlichen Geschichte scheitert daran, daß sie stets zu spät kommt. Die Gefahr, daß jemand sich die Hand oder den Mund verbrennt, ist durch pure Verbote nicht aus der Welt zu schaffen, und gebrannte Kinder sind wir alle. Wenn wir trotzdem weiterhin von Vorbild sprechen, so ist dabei auch an fragwürdige und abschreckende Vorbilder zu denken, wie es auch exemplarische Fehler und unsinnige Vorschriften gibt. Die Struktur solcher Schlüsselereignisse mag an einem Beispiel aus der Kindheitsgeschichte erläutert werden. Zur Frühgeschichte jedes einzelnen gehört die Bindung an Bezugs- und Autoritätspersonen, seien es die leiblichen Eltern oder andere, die an deren Stelle treten. Wie schon Aristoteles zu verstehen gibt (Physik I, 1), läuft die frühkindliche Erfahrung nicht so ab, daß dem Kind Individuen begegnen, die aufgrund allgemeiner Eigenschaften erst als Männer, dann speziell als Vater hervortreten, sondern der Vater ist zunächst der Inbegriff an Männlichkeit, ähnlich wie die Mutter ein Inbegriff an Weiblichkeit ist mitsamt allen kulturellen Spezifikationen, und erst in Schritten weiterer Differenzierung sondern sich Bekannte von Unbekannten, Mütter von Nicht-Müttern usf. Das geschieht auf ähnliche Weise, wie sich in der Wahrnehmung ein Farbsystem, in der Sprache ein Lautsystem herausbildet. Am Anfang steht nicht eine Unbestimmtheit, die einen puren Mangel an Bestimmtheit verrät, sondern eine Überdetermination, ein Kondensat, eine Kristallisation. Daß wir uns auf dieser frühen Stufe noch diesseits der Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem bewegen, zeigt sich auch daran, daß unsere Kinder bis zu einem gewissen Alter Eigennamen mit dem unbestimmten Artikel versehen und als Prädikat verwenden, wenn das Duplikat durch Gangweise, Gesichtsausdruck oder Kleidung dem Original ähnelt. Da gibt es dann »eine Frau A«, wie wir von »einem frühen Cezanne« sprechen, wenn wir eine singuläre Bildphysiognomie meinen. Umgekehrt tauchen in den Taxinomien der wissenschaftlichen Botanik Eigennamen auf wie Brassica rapa, die sich nicht mit dem unbestimmten Artikel versehen oder in den Plural setzen lassen – wie Artnamen. Es gibt einen Kohl-
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rabi, aber nicht eine Brassica rapa. Lévi-Strauss (1968, Kap. VII) führt dies als Beispiel an für eine Benennungspraxis, in der zwischen Eigennamen und Kollektivnamen kein grundsätzlicher Unterschied besteht, eine Praxis, die in den Namensystemen indianischer Stämme ebenso verschiedenartige Blüten hervortreibt wie in unserer Benennung von Vögeln und Pferden, von Hunden und Vieh. Wenn die Vereinzelung ein bloßer Limes ist, den wir nie erreichen, so hat das ›bestimmende‹, eingebürgerte Denken zur Kehrseite ein ›reflektierendes‹, wildes Denken, das der Erfahrung nicht vorweg ist, sondern mit ihr anhebt. Es hebt an in anfänglichen Erfahrungen, die wir machen, wenn Neuartiges durchbricht und also etwas auftritt, das unter kein Schema, keinen Begriff und kein Gesetz paßt. Das Neuartige fungiert als index sui, als Bild, das Urbild und Abbild in eins ist. Erst wenn die anfängliche Erfahrung verblaßt, löst sich das Urbild von seinem Ursprungsherd und wird zu einer Vorlage, einem Muster, das sich handhaben läßt auf eine Weise, wie eine Erfahrung es nie gestattet. Prousts »Recherche« kann man als den Versuch betrachten, solche Schlüsselereignisse wiederzufinden, ausgehend von aktuellen Vorkommnissen, die Resonanz wecken und das verlorene Urbild wachrufen.
6. Innovation als Verformung und Abweichung Die Produktion einer Ordnung ist nicht nur der Reproduktion bestehender Ordnungen entgegengesetzt, als Neuproduktion oder Innovation läßt sie eine neue Ordnung an die Stelle der alten treten. Wir haben hier also nicht mehr nur eine Differenz innerhalb einer Ordnung, sondern eine Differenz zwischen der einen und der anderen Ordnung. Doch bei dieser Formulierung ist Vorsicht geboten. Wenn wir eine Ordnung gegen die andere stellen, beide gar vergleichen oder typologisieren, so nehmen wir die Stellung eines äußeren Beobachters ein, für den Unterschiede bereits vorliegen. An die Entstehung von Ordnung kommen wir so nicht heran; denn diese besteht in nichts anderem als in der Ablösung einer Ordnung durch die andere. Was vor dem vergleichenden Blick nebeneinanderrückt, verdrängt einander, wenn wir uns auf das Ordnungsgeschehen selber einlassen. Die Selektion und Exklusion, die wir als Grundmoment jeder Ordnung ausgemacht haben, tritt auch im Verhältnis zwischen verschiedenen Ordnungen in Kraft. Eine neue Ordnung setzt sich durch gegen eine alte, in welcher Form auch immer dies geschehen mag. Eine Unschuld des Werdens, die dieser Konfliktzone entrückt wäre, gäbe es nur, wenn wir von einer Urpro-
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duktion ausgehen könnten, die nichts wäre als reine Produktion. Gestalttheoretisch entspräche dies einer ersten Gestalt, die sich von nichts abheben dürfte, einer Gestalt also ohne Grund. Doch eine Ordnung, die sich von nichts abhöbe, wäre überhaupt keine bestimmte Ordnung, sie wäre wie eine Ursprache vor aller bestimmten Sprache. In der Frage nach einem solchen Anfang stecken Probleme, die wir hier noch nicht erörtern wollen, nur soviel steht fest: der Anfang, nach dem wir fragen, ist in der Frage bereits vorausgesetzt. Um einen Anfang zu machen, und sei es auch nur in Gedanken, kommen wir immer schon zu spät. Nun stellt sich die Frage, auf welche Weise eine Neuordnung sich von einer bestehenden abhebt und sie verdrängt. Bei der Beantwortung dieser Frage greifen wir auf Begriffe zurück, die ihre wechselnden Anklänge in der Sprachtheorie, der Sozialtheorie, der Rechts- und Moraltheorie haben, ohne daß wir allzusehr in die Details zu gehen brauchen. Ein erster Begriff, der sich anbietet, ist der Begriff der Verformung, der Deformation, der in den Bereich der Vor-bilder weist. Die Verformung, eine Verunstaltung, bezieht sich auf bestehende Formationen, auf Gestaltungen, in deren Ordnungsgefüge sie eingreift, im Gegensatz zur Konformität eines Verhaltens, das die Form wahrt, auch wenn es fallweise gegen sie verstößt. Allerdings tasten nicht alle Deformationen das bestehende Ordnungsgefüge an. Man denke an perspektivische Verzerrungen oder an geregelte Gestaltwechsel, an das Auf- und Absetzen einer Brille, an sprachliche Verballhornungen und Schnitzer, an Grimassen und ähnliche Entgleisungen, die solange ungefährlich bleiben, als sie sich nicht zu einer kohärenten Verformung (Malraux, Merleau-Ponty) zusammenschließen. Es gibt vieles, was nicht in einen thematischen Zusammenhang gehört, was störend und belästigend wirkt oder als ungewöhnlich, als atypisch auffällt. Dies sind sozusagen »normale Abweichungen« (vgl. Goffman 1967, 160 ff.), Geräusche, die jede Ordnung umgeben. Eine neue Ordnung zeichnet sich erst ab, wenn ein neuer Ton hineinkommt, der sich zu einem neuartigen Klangsystem ausformt. Unter kohärenter Verformung verstehen wir also die Bildung eines neuen thematischen Zusammenhangs mit einer neuen Typik, sei es im kleinen oder im großen, in augenblicklicher oder dauerhafter Form, in einem Spezialbereich oder in der Gesamtheit einer Lebensform, wenn diese einen neuen Lebenszusammenhang ausbildet. Der Begriff der Verformung bietet sich ähnlich wie der der Verfremdung in solchen Fällen an, wo die Innovation sich im sinnlichen Bereich materialisierter Bedeutungen bewegt, so bei allen künstlerischen Erfindungen.
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Der zweite Begriff wäre der Begriff der Abweichung. Abweichen kann man von einem Niveau, vor allem aber von einer geraden Linie, einem rechten Weg, einer Bahn, wie sie den Gestirnen vorgeschrieben ist. Insofern verbindet sich der Begriff der Abweichung mit dem der Norm. Abweichungen können in den verschiedensten Ordnungsformen auftreten, als Abweichung vom normalen Verhalten, von Brauch und Sitte, von Recht und Gesetz oder von der geltenden Moral. Auch hier müssen wir wiederum unterscheiden zwischen einem gelegentlichen oder auch wiederholten Regelverstoß und einer systematischen Regelverletzung, die auf eine neue Regelung abzielt. Ähnliches finden wir in den Neuerungen der Kunst und der Wissenschaft; der Kontrast von Normalität und Revolutionierung einer Ordnung ist ein durchgängiges Phänomen. Novalis gibt dem einen kosmischen Widerhall, wenn er schreibt: »Krumme Linie – Sieg der freyen Natur über die Regel« (Schriften, hg. von Kluckhohn/ Samuel, Bd. 2, 257). Die Schlüsselereignisse, von denen wir oben gesprochen haben, nehmen in dieser Umbruchzone den Charakter von Ubergangsereignissen an. Neue Vorbilder fungieren als Zerrbilder vorhandener Vorbilder, neue Vorschriften als Streichungen alter Vorschriften. Diese Übergangsereignisse sind also Irregularitäten, Anomalien in einem weiten Sinne. Die Ansiedlung in einer Übergangszone verleiht diesen Ereignissen eine eigentümliche Ambivalenz. Betrachtet man sie aus dem Blickwinkel der bestehenden Ordnung, so sind sie nichts als Verstöße, betrachtet man sie aus der Perspektive einer entstehenden Ordnung, so erscheinen sie als Vorstöße in ein Neuland. Wir kennen dies nicht nur aus der Geschichte politischer Regimewechsel, sondern auch aus der Geschichte religiöser Häresien, künstlerischer Sezessionen und wissenschaftlicher Neuerungen und aus den Veränderungen alltäglicher Lebensordnungen, die in den meisten Fällen allmählich, oft mit unmerklichen Verschiebungen innerhalb des Ordnungsgefüges vonstatten gehen. Hierbei rücken entstehende und bestehende Ordnung einander wechselseitig ins Zwielicht. Die gemeinsame Verständigung zerbröckelt, und in extremen Fällen kann die Unsicherheit so weit gehen, daß die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Wahn verschwimmen. Alfred Schütz und Foucault zeigen dies in ihren Don-Quijote-Interpretationen in aller Deutlichkeit. Wenn die Wirklichkeit bis in ihre Grundfesten hinein immer nur in bestimmten Deutungen und Auffassungen auftaucht, so führt die neue Ordnung eines »anderen Zustandes« (Musil) auch zu einer gewissermaßen neuen Wirklichkeit (Berger 1983), doch fehlt es an Kriterien, die eindeutig und unstrittig genug wären, um produktive Einbildung
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definitiv von bloßer Einbildung zu unterscheiden. Sporadische Anomalien gleichen Augenblickswahrnehmungen, bei denen wir nicht mit Sicherheit entscheiden können, ob wir ein Phantom vor uns haben oder ein reales Ding; denn dieses verdankt seine Subsistenz den Zusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen, in denen es auftritt (Huss. IV, § 15). Ohne solche orientierenden und bewährenden Zusammenhänge sind wir verloren. Was aber geschieht, wenn diese sich neu bilden? Die Ambivalenz von Übergangsereignissen schwindet, wenn man von einer Gesamtordnung ausgeht; denn hier erscheinen alte und neue Ordnung als Teile eines gegebenen oder als Stufen eines entstehenden Ganzen. Abweichung besagt dann entweder Abweichung von einer engeren oder niederen Ordnung zugunsten einer weiteren oder höheren – oder aber Abweichung von der rechten Ordnung, was eine Form der Unordnung ist. Die Ambivalenz schwächt sich ab, wenn man sich auf eine Grundordnung bezieht; alte und neue Ordnung sind dann nur empirische Varianten eines formell vorgezeichneten Ordnungsgefüges. Dem Blick aufs Ganze entgeht ebenso wie dem Blick aus der Höhe das eigentümliche Geschehen des Ordnungswandels, es entgeht ihm aber auch die Einsicht in den Ordnungskonflikt, der aus dem Zusammenprall heterogener Ordnungen entsteht und der durch keine Gesamtordnung beizulegen, durch keine Grundordnung zu schlichten ist. Wir stoßen hier wiederum auf das Problem von Macht und Gewalt, auf den Zusammenhang von Produktion und Destruktion, der durch schöne Konstruktionen und durch einen guten Willen nicht zu beseitigen ist. Was wir hier als Widerstreit zwischen alter und neuer, bestehender und entstehender Ordnung skizziert haben, gilt mutatis mutandis auch für den Zusammenprall zwischen bestehenden Ordnungen, der daraus resultiert, daß eine Ordnung sich bis zu einem gewissen Grade als Verformung der anderen darstellt. Die gleichzeitige Attraktion und Repulsion zwischen Gruppen, Völkerschaften und Kulturen rührt genau hierher; das Fremdartige schillert zwischen Heilmittel und Gift, ohne daß eine strenge Grenze zu ziehen wäre. Tacitus mag seinen Römern die Germanen als Mahnbild kraftvoller Lebensweise vor Augen halten, doch das geht nur so lange, wie das projizierte Gegenbild auf der Bildungsleinwand bleibt. Völkerverständigung nimmt ihren mühsamen Weg jenseits von eindeutiger Über- oder Unterlegenheit, von Generation und Degeneration.
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7. Zeitschwellen jenseits von Sitte und Mode Die Innovation führt zu einem Widerstreit zwischen Altem und Neuem. Soll der Streit innerhalb des zeitlichen Geschehens beigelegt werden ohne Rekurs auf transzendierende Instanzen, so bieten sich zwei Möglichkeiten an, die uns als lang anhaltendes Wechselspiel vertraut sind. Man kann das Gute und Wahre mit dem von den Vätern Überkommenen gleichsetzen oder aber mit dem von kommenden Generationen zu Erreichenden. Einmal gilt das Alte als Altes, das andere Mal das Neue als Neues, dort herrscht die Sitte, hier die Mode (s. Max Weber 1976, 15) oder, wenn dies allzu ephemer klingt, das Moderne. Nun sind Traditionalismus und Modernismus ebenfalls untaugliche Mittel, den Abgrund zu überbrücken und die Legitimationslücke zu schließen, die eine positive Ordnung hinterläßt. Doch möchte ich hier nicht die übliche Kritik wiederholen, sondern fragen, wie die beiden Zeitdimensionen in das Entstehen und Bestehen von Ordnung hineinragen. Denn aus der Kritik an der Verabsolutierung zeitlicher Gegebenheiten folgt nicht, daß die Zeit nicht auf ihre Weise zur Entstehung von Ordnung beiträgt. Beginnen wir mit der Dimension der Vergangenheit. Wo Tradition in Anspruch genommen wird, da tritt sie meist auf als Fundament, Forum, als Berufungs- und Rechtfertigungsinstanz oder als Stabilisierungsfaktor, und genau dies wird von den Gegnern des Traditionalismus bekämpft, weil dadurch jedes Recht zum Vorrecht, jedes Urteil zum Vorurteil verfestigt wird. Aus diesem Streit zwischen Traditionalisten und Antitraditionalisten treten wir heraus, wenn wir Tradition nicht primär unter dem Aspekt einer Rechtfertigung oder Festigung von Ordnung, sondern unter dem einer Produktion von Ordnung betrachten. Tradition zeigt sich hier als etwas, woran gearbeitet wird, sei es durch Verformung und Veränderung, sei es durch Fortführung und Bewährung. Selbst der revolutionäre Bruch zollt auf diese Weise der Tradition seinen Tribut, von normalen Erprobungen ganz zu schweigen. Die Frage nach dem Gewicht der Tradition hat also mit Kontinuität und Diskontinuität nur bedingt zu tun. Ausgeschlossen wird durch die Heterogenität entstehender Ordnungen allerdings eine große Gesamttradition, die eine sich entfaltende Gesamtordnung voraussetzen würde. Wo es Ordnungen im Plural gibt, dort gibt es auch Traditionen im Plural. Ein schlichter Traditionalismus scheitert schon daran, daß eine bestimmte Tradition fortgesetzt wird, und die Selektion, die hierbei ins Spiel kommt, ist nicht selber vorgegeben, sondern sie geschieht jetzt. Doch abgesehen davon ist die Mitwirkung tradierter Bestände aus der Fortentwicklung einer Ordnung wie auch aus dem
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Wandel von Ordnung zu Ordnung nicht fortzudenken. Die einzige Alternative wäre eine creatio continua, die eine Abfolge unverbundener Augenblicke ergäbe, die keinerlei Verläßlichkeit, keinen Vertrag und keine Verpflichtung zuließe und die im Extremfall in den Wahnsinn führen müßte. Doch mit dieser Überlegung ist es noch nicht getan. Die Innovation arbeitet nicht nur an einer Tradition, sie bezieht ihre Schwungkraft aus einem Anfang, der immer schon gemacht ist, wenn eine Tätigkeit einsetzt. Auch in diesem Sinne behält jede persönliche Tätigkeit etwas von einem Ereignis, das ins Anonyme absinkt. Eine Ordnung, die aufs Ganze gesehen keinem Ordner zugeschrieben werden kann (s. o. D 6), entstammt einer Urproduktion, die immer schon geschehen ist und sich jedem Zugriff entzieht. Nicht weil es eine unveränderliche Ordnung in den Dingen gibt, wohl aber weil der Prozeß des Ordnens immer schon begonnen hat, nimmt jedes Erfinden Züge eines Wiederfindens, jedes Schaffen Züge eines Wiederschaffens an; dieses Wieder ist die einzige Weise, wie wir an unseren Ursprung herankommen. Die vorausgesetzte Urproduktion gehört einer Vorvergangenheit an, die sich nicht auf eine Zeitachse in die Relation von Früher und Später einordnen läßt. Es ist eine Frühe, die nicht früher ist, sondern jetzt, die nicht einer kindlichen Frühgeschichte angehört, sondern sich immerzu erneuert, wenn etwas Neuartiges durchbricht wie am ersten Tag. Staunen, Verwunderung, Angst, Erschrecken, Entsetzen, all diese Affekte, mit denen wir auf solche Ereignisse antworten, weisen darauf hin, daß wir dort, wo Neuartiges aufbricht, nicht das erste Wort und nicht die Initiative haben. Dieser sich wandelnde Ursprung liegt hinter einer Schwelle. Solche Voranfänge lassen sich nicht begründen, und doch sind sie nicht in unser Belieben gestellt, denn unsere Wahl kommt immer schon zu spät. Wie wir unseren Leib, unsere Muttersprache, unsere ursprünglichen Neigungen, Abneigungen und Rhythmen der Erfahrung nicht wählen, so auch nicht die Tradition als den Inbegriff einer vorgegebenen Ordnung. Wir wählen innerhalb einer Tradition, wir wählen nicht diese selbst. Die Voranfänge, von denen hier die Rede ist, liegen nicht irgendwo in weiter Ferne, sie sind dem Leib der Gegenwart eingeschrieben wie ein Muttermal. Diese Ordnung, die mit unserer Existenz eingesetzt ist und fortgesetzt wird, liegt also jenseits von Begründen und Belieben, mit ihr ist kein Staat zu machen. Ihr Gewicht behält diese Ordnung nur, solange sie unvergleichlich bleibt, hors de série, auch außerhalb der Zeitreihe. Wird das Vergangene herabgesetzt zum Früheren, das sich vom Gegenwärtigen abhebt, so läßt sich kein Grund anführen, warum eine frühere
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Ordnung sein soll und nicht vielmehr eine spätere. Die Zeitstelle gibt als solche kein Argument her, und eine Verherrlichung des Archaischen, des Vergangenen als solchen, verurteilt sich selber zu einer illusionären Rationalisierung. Eine Tradition ohne Traditionalismus wäre eine solche, auf die wir nicht zählen können, denn gerade daher nimmt sie ihr Gewicht. Ähnliches wäre zu sagen über die Dimension der Zukunft. Mit dem Voranfang ist eine Zukunft eröffnet, die ebenfalls weiter reicht als unsere Voraussagen und Planungen. Auch sie ist nicht auf der Zeitachse anzusiedeln als das, was später einmal kommt; sie gehört der Gegenwart an als das, was jetzt aussteht und bevorsteht und sich auf diese Weise unserem Zugriff entzieht, bis hin zum Tod, auch er »anwesend in Abwesenheit« (Landsberg 1973, 14). Auch die Zukunft liegt hinter einer Schwelle, betroffen von unseren Wahlen, aber nicht ihnen entstammend. Eine Sprach- und Handlungstheorie, die sich auf Fragen der Gültigkeit und Richtigkeit konzentriert, geht an diesem Zeitgeschehen zwangsläufig vorbei, verkennt die Gewichte, die dem Sagen und Tun als zeitlichem Ereignis auferlegt sind. Der moralische Sprecher und Täter mag lügen oder die Wahrheit sagen, jemanden leben oder sterben lassen, selber dünkt er sich in seiner Moralität jenseits des »langen, verzweifelten, täglichen Widerstandes gegen den unaufhörlich stellenweise fortschreitenden Tod, wie er sich durch unser ganzes Leben zieht und immer wieder Fetzen von uns ablöst, auf deren verwesendem Stoff neue Zellen gedeihen« (Proust, I, 671 f., dt. II, 365). Er kennt nicht Tod und Wiedergeburt, die zwischen Gewöhnung und Erneuerung ihr Spiel treiben, und irgendwann ihr letztes Spiel. Doch Kehrseite einer normativistisch, funktionalistisch oder sonstwie betriebenen Schwächung der Traditionen ist eine Entleerung der Zukunft. Wo Mode mehr ist als ein Gewürz der Geschichte, wo sie den Wechsel als solchen einklagt und betreibt, gerät sie in einen Kreislauf, bei dem sich in der Zukunft nur noch ein gegenwärtiges System reproduziert. Denn wenn das Neue, das, informationstheoretisch gesprochen, einen hohen Informationswert erreicht und wenig Redundanz enthält, selber als das Gute und Erstrebenswerte gilt, erfüllt ein unwahrscheinliches, unerwartetes Ereignis die Funktion so gut wie das andere, solange nur die Produzenten die Technik der Lusterzeugung beherrschen, sei es im Rahmen eines ökonomischen, politischen, kulturellen oder religiösen Systems. Ein bestehendes System erzeugt Geräusche, um seine Maschinen nicht rosten zu lassen, und wenn das Brot hinreichend vorhanden ist, müssen die Spiele zunehmen, damit das Volk Ruhe hält. Dieser Leerlauf einer kulturellen Maschinerie, die nicht sel-
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ten der Maxime ars brevis, vita longa huldigt, fordert zur Maschinenstürmerei geradezu heraus. Denn warum soll etwas funktionieren und nicht vielmehr nichts? Eine Archaik ohne Archaismus, eine Futurik ohne Futurismus, wie könnte sie aussehen? Verordnungen, und seien sie noch so moralisch, helfen da nicht weiter.
8. Heterogene Ordnungen und relative Geltungsbedingungen Der Einwand der Beliebigkeit begleitet unsere Überlegungen zur Entstehung von Ordnung wie ein schriller Mißton. Einiges wurde bereits erwähnt, was die Beliebigkeit einschränkt: daß es nämlich relativ geltende Maßstäbe gibt, ohne die alles Reden und Handeln unmöglich wäre; daß die Produktion von Ordnung kein Produzieren aus heiterem Himmel ist, sondern ein Produzieren, angestoßen von Auslöse- und angebahnt von Schlüsselereignissen, arbeitend an bestehenden Ordnungen und rückgebunden an Voranfänge einer Urproduktion, die nicht einzuholen ist und immer noch etwas ausstehen läßt. Dennoch, wird nicht doch am Ende Positivität durch Positivität und das, was ist, durch das, was ist, erklärt, so daß Geltungsansprüche in der Faktizität des Sprechens untergehen? Droht nicht ein – wenn auch noch so verfeinerter – Relativismus, wenn wir Geltungsfragen in den Bereich der Genealogie abschieben? Nun, gegen diese Vermutung wurde wiederholt einiges ins Feld geführt. Doch empfiehlt es sich, diesen alten Einwand in gesammelter Form aufzugreifen und nochmals »den dunklen Winkel« zu durchleuchten. Man tut den Einwand des Relativismus allzu leichtfertig ab, wenn man dahinter nur einen vermessenen Fundamentalismus vermutet, der meint, ohne letzte Fundamente nichts Rechtes tun und sagen zu können. Zwei wichtige Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt. Die Idee des Wahren und Guten, die seit Platons Zeiten immer wieder die konkrete Welt in den Schatten stellt, nimmt zwei Funktionen wahr, auf die man nicht mit leichter Hand verzichten kann. Einmal dient die Idee als intensivierendes Ferment, das Steigerung und Spannung erzeugt; wird sie ersatzlos geopfert, so drohen Gleichmacherei und Gleichgültigkeit, die zu einem kulturellen Kältetod führen könnten. Zum anderen dient die Idee mitsamt ihren Nachfolgern als Appellationsinstanz gegen pure Willkür, Laune und Macht, gegen alles das, was auf bloße
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Tatsachen pocht. Hier machen es sich die fröhlichen Dekonstruktionisten manchmal reichlich einfach, wenn sie nur an den Abbau, nicht an den Umbau denken. Unter Relativismus verstehe ich wie üblich die Relativierung von Geltungen. Die Maßstäbe, nach denen die Wahrheit von Aussagen und die Richtigkeit von Handlungen beurteilt werden, richten sich nach wechselnden Umständen und Instanzen. Je nachdem, welche Instanz man als maßgebend einsetzt, nimmt der Relativismus die Form des Psychologismus, Soziologismus, Historismus oder Kulturalismus an. Schon bei Protagoras bedeutet Relativismus keinen Skeptizismus, denn die Ordnung erscheint hier selber als relativ; er bedeutet keinen Empirismus, denn es werden durchaus generelle Maßstäbe zugelassen; er bedeutet auch keinen Solipsismus, denn – zumindest im PraktischPolitischen – sind die Maßstäbe von sozialer Beschaffenheit. In diesem Sinne handelt es sich um einen Relativismus von Ordnungen, innerhalb derer Verbindlichkeiten herrschen, während diese insgesamt auf bloßer Satzung beruhen. In das Fahrwasser eines solchen Relativismus geraten wir, so scheint es, wenn die Maßstäbe positiv bestehender Ordnungen weder in eine Gesamtordnung eingebettet noch durch universal geltende Grundnormen abgesichert sind. Wählen wir den Kompromiß, universale Maßstäbe bloß eliminierend einzusetzen, so bleibt ein normatives Vakuum, und abgesehen davon entsteht ein normativer Druck, der alle positiven Ordnungen auf die Ebene des bloß Partikularen herunterdrückt und auf diese Weise systematisch entwertet. Gegen den Einwand des Relativismus läßt sich allerdings mehr aufbieten als eine solche Notlösung; wir müssen nur aus dem Disput zwischen Absolutisten und Relativisten ausscheren, indem wir die Frageebene wechseln. Das wird deutlich, wenn wir uns die entscheidenden Voraussetzungen dieses alten Streites vor Augen führen. Aus der Sicht seiner Kritiker besteht der Relativismus darin, daß derselbe Tatbestand oder dieselbe Tat von Fall zu Fall beziehungsweise von Ordnung zu Ordnung nach widersprechenden Kriterien beurteilt wird, so daß in einem Fall p ist, was im anderen Fall nicht-p ist. Der Relativist würde sich aus Platons Taubenschlag bedienen und Marken herausholen, die er systematisch vertauscht. »Fair ist foul, and foul is fair«. Derselbe Wein schmeckt bitter, wenn er vom Fiebernden getrunken, er schmeckt süß, wenn er vom Gesunden getrunken wird. Dieselbe Person glaubt im Traum zu fliegen und weiß beim Aufwachen, daß sie im Bett lag. Diese und ähnliche Beispiele sind uns aus dem Theaitet vertraut, und sie haben in der Tat Schule gemacht. Wer das eine wie das andere behauptet, gerät in Widerspruch mit sich selbst und behauptet am
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Ende nichts mehr. Hierbei wird vorausgesetzt, daß wir überhaupt in demselben Sinne über dasselbe sprechen. Doch Gesunde und Kranke, Wachende und Schlafende leben zugleich in und außerhalb derselben Welt und können sich nicht geradewegs widersprechen. Nun wird man erwidern, Krankheit und Traum sind Anomalien, die vom normalen Zustand her unterschieden und als Abwandlungen und Abweichungen verstanden werden. Doch dagegen steht, daß Anomalien durch Normalisierungsprozesse erzeugt werden (s. o. B 9), nicht beliebig zwar, aber doch so, daß das Ausgeschlossene innerhalb der exklusiven und maßgebenden Sphäre nie erschöpfend zu Wort kommt. Andernfalls wäre Traum nur Traum, Krankheit nur Krankheit; und das würde auf eine Verabsolutierung der Normalität hinauslaufen, die sich in Gegensatzpaaren wie Erwachsene und Kinder, Zivilisierte und Primitive, Rechtgläubige und Heiden oder Kultivierte und Barbaren ständig wiederholt. Wenn zutrifft, daß alle konkreten Ordnungen durch Selektionen und Exklusionen entstehen, so stoßen wir auf eine Heterogenität im wörtlichen Sinne: die Ordnungen sind verschiedener Herkunft und lassen sich auf der Ebene der Positivität nicht homogenisieren. Von der geraden Ebene widersprechender Aussagen und Empfehlungen geraten wir auf die schiefe Ebene widerstreitender Fragestellungen und Organisationsweisen, die uns überhaupt etwas zu sagen und zu tun erlauben, was wahr oder falsch, richtig oder unrichtig sein mag, und die deshalb nicht selber diesen Kriterien unterliegen können – es sei denn, es gäbe einfach so etwas wie eine unbedingte Wahrheit oder eine unbedingte Richtigkeit. Doch wovon sollte dies die Wahrheit oder die Richtigkeit sein? Es handelt sich also nicht mehr um einen Relativismus der Geltung, sondern um eine Relativität von Geltungsbedingungen, wozu auch die Relativität von Argumentationsfeldern gehört. Es sei nochmals erinnert an die Unterscheidung von Wichtigkeit und Richtigkeit, die das Auftreten von Sinngestalten, Sprachformen, Begriffsfeldern, Methoden und Argumentationsweisen betrifft, keine einzige Äußerung und keine einzige Handlung ist davon ausgenommen. Sofern man nicht alles menschliche Reden und Tun in eine Angleichung an den Kosmos oder den Gott hineinzieht, ergibt sich von Ordnung zu Ordnung eine Unvergleichbarkeit, eine Inkommensurabilität also mangels eines gemeinsamen Maßstabs. Doch auch hier ist Vorsicht am Platz. Unvergleichbar heißt nicht, daß verschiedene Ordnungen wie Lautsysteme, Verwandtschaftssysteme, Gartenanlagen, Heilmethoden, Kampftechniken und Grußformen nichts miteinander zu tun haben. Es gibt sehr wohl Überlappungen und Überschneidungen – man denke etwa an das germanischromanische Doppelvokabular des Englischen –, es gibt Wiederaufnah-
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men früherer Ordnungen in späteren, es gibt verwandte Eigenschaften, typologische Gemeinsamkeiten, die bis zu universal nachweisbaren Gesetzlichkeiten reichen. Doch was es nicht gibt, ist eine Vergleichbarkeit verschiedener Lebensformen, Sprachsysteme oder Denkweisen in toto, und dies nicht etwa deshalb, weil sie sich beim Vergleich als gänzlich unähnlich herausstellen könnten, was ja die totale Ähnlichkeit nur umkehren würde, sondern weil sie einen Vergleich gar nicht zulassen. Selektive Ordnungen sind unvergleichlich in einem radikalen Sinne: es fehlt uns der Ort, von dem aus wir sie überblicken und aneinander messen können, und zwar deshalb, weil wir selbst in einer Ordnung leben. Jeder Universalisierungs- und Totalisierungsversuch geht von irgendwo aus, und jeder Vergleich hinkt. Nun könnte man einwenden, ein Totalvergleich mag illusorisch sein, doch das schließt nicht aus, daß wir im Konfliktfall einzelne Äußerungen und Handlungsvorschläge aus dem Lebenszusammenhang herauslösen und auf ihre Gültigkeit prüfen. Muß man ein österreichischer Weinbauer sein, um Giftspuren im Wein auszumachen? Muß man im Mittelalter leben, um etwas Triftiges gegen Hexenverbrennungen sagen zu können? Muß man ein Deutscher oder gar ein Jude sein, um völkischen Rassegesetzen argumentierend entgegenzutreten? Hierauf würde ich entgegnen: Relativierung von Geltungsansprüchen besagt nicht, daß eine Geltung ›rein als solche‹ bedingt ist, sondern daß jeder Anspruch unter bestimmten Bedingungen erhoben wird, unter bestimmten Bedingungen, das heißt in einem bestimmten Rahmen, unter bestimmten kognitiven, praktischen und institutionellen Voraussetzungen, vor einem engeren oder weiteren Auditorium, das im Grenzfall das eigene Selbst sein kann, und dies alles zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und mit zu erwartenden Folgen. Es geht nicht darum, daß 2 x 2 mit einem Mal 5 sein kann oder daß ein Verbrechen plötzlich zu einer lobwürdigen Tat wird, wenn man nur eben die Pyrenäen überquert, es geht vielmehr darum, daß nicht irgendwer irgendwie irgendwann irgendwo zu irgendwem 2 x 2 = 4 sagt oder »Du sollst nicht töten«. Es gibt keine unbedingten Äußerungen und keine unbedingten Handlungen. Die gibt es selbstverständlich nicht, wird man erwidern und auf Kant verweisen, der die Unbedingtheit des Sittengesetzes durchaus mit der Bedingtheit natürlicher und gesellschaftlicher Handlungen zusammendachte. Doch wenn man beides durch eine Kluft trennt, um die Unbedingtheit der Geltung nicht zu gefährden, kommt man an Handlungssituationen und Handlungsordnungen nicht mehr heran. Will man nicht einer Fetischisierung von Moral und Recht Vorschub leisten, so muß man ausgehen von einem jeweils spezifischen
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Umgang mit Normen, der mit deren Geltungsgehalt nicht identisch ist, genauso wie der Umgang mit mathematischen Gesetzen und Formeln nicht aus eben diesen hervorgeht. Kehren wir unter diesem Aspekt nochmals zurück zu dem, was wir anfangs zur Funktion einer Idee des Wahren und Guten sagten. Taugt eine universale Norm zur Appellationsinstanz in Konfliktfällen? Das tut sie allenfalls dann, wenn jemand eine Maxime vertritt, die keiner wie auch immer zu erreichenden Verallgemeinerung standhält. Nun sehen Konfliktfälle, bei denen überhaupt Gründe angeführt werden, meistens so aus, daß dort, wo die einen Menschenrechte einklagen, die anderen von medizinischen Pflegefällen sprechen, daß dort, wo die einen von Terrorakten sprechen, die anderen das Recht eines von seinem Boden vertriebenen Volkes reklamieren, daß dort, wo die einen von Verletzung des Völkerrechts sprechen, die anderen das Recht eines kriegsähnlichen Verteidigungsfalls oder einer Bündnisverpflichtung ins Feld führen, daß dort, wo die einen vor drohender Menschheitsvernichtung warnen, die anderen von Verteidigung der Freiheit sprechen, daß dort, wo die einen auf den Raubbau an der Natur hinweisen, die anderen mit Erfordernissen der Wirtschaft und der Sicherung von Arbeitsplätzen argumentieren usf. Das sind Beispiele genug dafür, daß das, was man mit guten Gründen ablehnen und bekämpfen mag, in den meisten Fällen nicht zu bekämpfen ist, indem man die mangelnde Universalisierbarkeit der Maximen rügt, und dies noch ganz abgesehen davon, daß Maximen niemals isoliert auftreten, sondern als Teil eines Rechtssystems, einer politischen Verfassung oder eines Moralkodexes. Nehmen wir den weiteren Fall, daß jemand mit fadenscheinigen Argumenten, etwa unter Berufung auf die verschiedene Naturausstattung, eine bestimmte Menschengruppe offen zu Untermenschen erklärt, so brauchen wir kein Normenuniversalist zu sein, um dem zu widersprechen. Nebenbei gesagt, in der neueren Geschichte des politischen Widerstandes haben Skeptiker, Positivisten und andere Verfechter einer moderaten Vernunft, wenn nicht alles täuscht, keineswegs schlechter abgeschnitten als solche, die auf massive Vernunftgründe Wert legten. Schließlich der äußerste Fall; jemand bekennt sich mit zynischer Offenheit zu einer Maxime, hinter der nichts steht als sein eigener Wille. Dagegen helfen keine Argumente. Man kann einem Kallikles nicht mit Gründen beibringen, warum er auf Gründe hören soll. Mit der Motivationskraft eines universalen Gesetzes ist es nicht weit her, seine Unbedingtheit bezahlt es mit einer deutlichen Desensibilisierung. Platon hatte es da mit dem Guten, nach dem alles strebt, leichter; die Vernunft, die an Lust und Unlust anknüpft, zieht die Seele sanft und
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zwanglos am »goldenen Leitfaden« des Gesetzes (Nomoi 645 a). Eine Resensibilisierung könnte sich abzeichnen, wenn Ansprüche nicht nur von oben erwartet werden. Relativierung, die gemessen an absoluten, losgelösten Ansprüchen als Beschränkung erscheint, bedeutet schließlich von Hause aus ein In-Beziehung-Setzen.
9. Ordnungskunst zwischen Finden und Erfinden »Alle heiligen Spiele der Kunst«, heißt es bei Schlegel, »sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiel der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk« (Krit. Ausg., Bd. II, 324), und die Welt ist am Ende »ein sich selbstgebärendes Kunstwerk«, so tönt es bei Nietzsche weiter (III, 495) – selbst ein Künstler wäre noch zuviel. Da füllt sich das Vakuum, das eine minimale Grundordnung hinterläßt, es füllt sich unter Rückanklängen an den göttlichen Demiurgen, nur daß es keine hierarchisch verfaßte Welt von oben mehr ist (s. o. A 7), sondern eine Welt zunehmender und erschlaffender Kräfte. Auch hier also eine Relativierung und Perspektivierung, doch ohne einen Zentralpunkt, der alle Perspektiven nur Perspektiven sein ließe. Von Relativismus kann nicht die Rede sein, von Gleich-macherei und Gleich-gültigkeit auch nicht, doch wird die Frage nach Wahrheit und Richtigkeit hier nicht mit einem Gewaltstreich gelöst, der Wille zur Macht heißt und uns aus aller Verantwortlichkeit entläßt? Die Rede von der Welt als Kunstwerk, ob nun mit oder ohne Künstler, liefert das Stichwort für eine Kritik, die überall Ästhetizismus wittert, wo das Künstlerische über die Stränge der Ästhetik schlägt. Der Künstler mag eine Welt schaffen nach eigenen Regeln oder die Natur mag es in ihm tun, er mag als alter deus auftreten, solange er der Moral und der Wissenschaft, den Hütern des Richtigen und des Wahren nicht hineinredet und jene Wand nicht durchbricht, »die zwischen die Phantasien der Literaten und die Realitäten der Welt gesetzt ist« (Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, S. 14). Eine Vermischung der Sphären, die den Künstler zum Lebenskünstler avancieren ließe, eben das wäre Ästhetizismus mit Nietzsche als dessen Kronzeugen und den Frühromantikern als Vorläufern, von den vielen Epigonen ganz zu schweigen. Das Fatale an dieser Flurbereinigung liegt darin, daß das künstlerische Schaffen so weit vom Forschen und Handeln weggerückt wird wie dieses von jenem. Wenn eine kognitive und praktische Ordnung weder in den Dingen noch vor den Dingen fertig bereitliegt, so ist sie zu produzieren und zu erfinden. Sofern die produktive Einbildungskraft hier
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am Werk ist, können wir von einem Moment des Künstlerischen sprechen, das nach einer Poietik des Erkennens und Handelns verlangt. Hierzu gehört eine spezifische Technik, die nicht mehr nur Mittel vorgegebenen Zwecken zuführt, sondern an der Modulation von Forschungsund Handlungsfeldern beteiligt ist. Insofern gibt es etwas Technisches im Erkennen, Sprechen und Handeln. Die alte Dimension der τέχνη, des Artifiziellen, formiert sich unter den neuen Auspizien einer Ordnungsentstehung zu einem neuen Zusammenhang. ›Ästhetisches‹ wie Technisches sind seit Menschengedenken allgegenwärtig (s. o. A 4). Nun lehrt aber ein Blick in die Werkstatt des Künstlers wie in die des technischen Erfinders, daß hier nicht willkürlich produziert wird, sondern daß Finden und Erfinden von Ordnung in wechselnder Dosis zusammenwirken. Man denke etwa an die großen Serien der Flug- und Schwimmgeräte, in denen Vogelflug und Fischflossen eine zentrale Rolle spielen, ohne eine definitive Vorlage abzugeben. Man denke ferner an die Landschafts- und Gartenkunst, die etwas von dem Prozeß der Urbarmachung in die Welt der Zivilisation hinüberrettet. »Halb Kunstwerk, halb Natur« (R. Arnheim), ist sie eine Schwellenkunst par excellence, die in den typischen Stilvarianten des französischen, des englischen und des japanischen Gartens die Natur offen zurechtstutzt, sie in ein heimliches Formenspiel einfängt oder Naturkräfte wie Wind und Wasser für sich arbeiten läßt; ob dabei mehr Zucht herausspringt oder mehr Wildwuchs, ohne das Zusammenspiel von Eingreifen und Gewährenlassen verlöre sie allen Reiz. Schließlich der Maler, der mit Farbe und Leinwand hantiert, der Dichter, der an der Sprache arbeitet, auch sie haben es nicht mit einer bloßen materia prima zu tun, sondern mit vorgeformten Materialien, die bestimmte Winke geben und Wege eröffnen, von denen man nicht weiß, wohin sie führen. Woher stammt der Maßstab, dem der Maler folgt? Dort, wo er nicht nur sich oder andere kopiert, entwickelt der Maßstab sich im malerischen Tun selber, und ein Kunstbetrachter oder Kunstkritiker wird ihn nirgends anders ausfindig machen als in den Werkspuren, denen es nachzugehen gilt. Der Künstler zieht sich in dem, was er versucht, seine eigenen Betrachter und Kritiker heran, und das Werk schafft sich selbst seine Nachwelt (Proust, I, 531 f., dt. II, 159). Reines Erfinden, das heißt ein Setzen von Maßstäben, und reines Finden, das heißt ein Entgegennehmen von Maßstäben oder auch eine Verflüssigung aller Maßstäbe in der paradoxen Gestalt einer »tychistischen Kunst«, die den Zufall für sich arbeiten läßt, das sind nur Grenzfälle, denen das Schaffen des Künstlers, auch das des Technikers, sich annähern kann, ohne es zu erreichen. Ein alter deus ist der Künstler in diesem Sinne nicht.
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Bedeutet es Ästhetizismus oder Technizismus, wenn man diese Sichtweise auch auf ein Erkennen und Tun anwendet, das seine Themen und Fragen in Auseinandersetzung mit anderem aushandelt? Warum nicht Begriffe mit einer Malweise vergleichen? »Ist denn auch nur unsere Malweise willkürlich? Können wir uns einfach entscheiden, die der Ägypter anzunehmen? Oder handelt sich’s da nur um hübsch und häßlich?« (Wittgenstein 1982, 297) Ein Künstler kann sich, so heißt es, nicht irren und sich nicht moralisch verfehlen, denn er produziert Schein als schönen Schein, dabei nur sich selbst verpflichtet, während sich Erkennende und Handelnde an der Wirklichkeit reiben, verpflichtet auf die Gesetze der Wahrheit und der Richtigkeit. Daß dieser Schein, ob schön oder nicht, unser alltägliches, privates wie öffentliches Leben mächtig durchdringt, mag man als fatale Grenzüberschreitung abtun. Jedenfalls reicht die rigoros verordnete Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Geltungsagenturen an die Entstehung von Ordnungen nicht heran. Wenn es einen archimedischen Punkt gibt, dann den, um den sich die Ordnungen drehen. Wollte man diesen Angelpunkt selbst, als Ordnung in oder über allen Ordnungen, einordnen oder verordnen, so käme es auf die Dauer zu einem geregelten Leerlauf. Eine Ordnung im Entstehen lebt von dem, was sie draußen läßt.
F. DAS ORDENTLICHE UND DAS AUSSERORDENTLICHE
1. Vor und außerhalb der Ordnung Das Zwielichtige einer jeden Ordnung besteht darin, daß Ordnung Erfahrungen gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht, daß sie aufbaut und abbaut, daß sie ausgrenzt, indem sie eingrenzt, ausschließt, indem sie auswählt, kurz: daß Licht und Schatten ineinanderspielen. Es bilden sich Übergangszonen, Schwellen, auf denen wir uns aufhalten können, ohne sie hinter uns zu lassen. Keine Gesamtordnung und keine Grundordnung kann diese Lücken füllen, die immer wieder innerhalb einer einzelnen Ordnung und zwischen verschiedenen Ordnungen aufklaffen und somit auch die angemaßte Stellung eines zentrierenden Subjekts untergraben. Die Positivität von Ordnungen, die auf keinen sicheren Grund gestellt sind, läßt immer wieder die drohende Frage aufkommen, ob damit nicht Willkür, Macht und Gewalt das letzte Wort behalten. Daß sie nicht das einzige Wort haben, zeigt sich in der mannigfachen Einschränkung der Beliebigkeit, von der immer wieder die Rede war. Doch das letzte Wort bliebe ihnen, wenn un-zureichende Gründe und un-berechenbare Subjekte sich in dieser Negativität erschöpften. Willkür und Macht ›in letzter Instanz‹ also? Auch die Frage nach der Ordnungsdynamik stellt sich in diesem Zusammenhang. Wenn das Ordnungsgeschehen nicht auf ein Ganzes hinausläuft und sich nicht an der sicheren Leine einer Grundnorm bewegt, wodurch wird es dann in Gang gehalten? Warum ist ›im Grunde‹ nicht eine Ordnung so gut wie die andere? Wenn sich zu diesen Fragen etwas sagen läßt, so doch wohl nur, indem wir nochmals auf unseren Anfang zurückkommen, nämlich auf die Überlegungen, die sich auf der Schwelle von Ordnung und Unordnung bewegten. Wenn man Ordnungen nicht als fertige hinnimmt und hypostasiert, so setzen ihre selektiven und exklusiven Leistungen etwas voraus, was in Ordnung kommt und ihnen als Zu-Ordnendes vorausgeht. Doch dieses präordinale Ungeordnete, das wir vom intraordinalen Unordentlichen zu unterscheiden haben, läßt sich nicht direkt sagen und erfassen, weil dieser Zugriff immer schon eine Ordnung voraussetzt, deren Mittel er nutzt. Wir können vor die Ordnungen unseres Redens und Handelns nicht zurückgehen, wir können höchstens auf sie zurücksehen. Deshalb begnügten wir uns zu Anfang mit einer Reihe indirekter Näherungsweisen. Von diesem indirekten Weg kommen wir nicht los, doch können wir nun, nachdem wir uns die verschiedenen Ordnungsformen und Ordnungswege vor Augen geführt haben, unsere Anfangsfrage wieder aufgreifen, indem wir sie aus der Ordnung selber hervorwachsen sehen. Der Versuch läuft dar-
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auf hinaus, das, was der Ordnung vorausgeht, zu thematisieren als das, was über die Ordnung hinausgeht. Das ›Ursprüngliche‹ läge in diesem Sinne nicht hinter uns, sondern vor uns; es wäre nicht von ehedem, sondern träte jetzt auf und immer wieder (Merleau-Ponty 1986, 236, 335). Dies ist nur möglich, wenn Ordnen bei aller Selektion-Exklusion zugleich auch Transgression, Überschreitung von Ordnung besagt. Das hieße, daß alles, was in eine Ordnung eingeht, sich auf gewisse Weise auch außerhalb ihrer bewegt. Als Außerordentliches verliert das Ungeordnete seinen rein negativen Klang und rückt neben das Ordentliche und Unordentliche, indem es sie überbietet. Es kommt nun alles darauf an, dieses Außen und diesen Überschuß zu artikulieren, ohne wiederum auf eine bloße Verdoppelung der Ordnung zu verfallen; denn daraus entstünde nur eine weitere Positivität, die uns keinen Schritt weiterbrächte.
2. Die Schatten des Fremdartigen Fremdartiges wurde früher bestimmt als das, was durch bestehende Erfahrungsstrukturen und Erfahrungsordnungen ausgeschlossen wird (D 5). Doch von diesem Fremdartigen kann nur dann eine beunruhigende, belebende und bedrohende Wirkung ausgehen, wenn das Ausgeschlossene in seiner Ausgeschlossenheit virulent bleibt und auf gewisse Weise dazugehört. Dies trifft dann zu, wenn das Fremdartige mitten in der vertrauten Welt haust und nicht abseits von ihr. Um dies zu verstehen, müssen wir die selektiven und exklusiven Ordnungsleistungen zurückbeziehen auf das, was zur Ordnung gebracht wird, und zurückgehen auf die offene Form der Anknüpfung und Auseinandersetzung (A 8-10). Die offene Form besteht in einem Anspruch, der sich weder als Teil einem Ganzen einordnen noch als Fall einem Gesetz unterordnen läßt und eben deshalb eine selektive Antwort provoziert. Jede Ordnungsleistung, die auf einen solchen Anspruch antwortet, hat die Form eines »... und nicht vielmehr ...« (B 4 ff.). Diese präferentielle Differenz, aus der eine Ordnung entspringt, ist selbst nicht mehr Moment dieser Ordnung. Die Genealogie einer Ordnung führt uns in sie hinein und über sie hinaus, und dies beides in einem Schritt. Eine Gleichzeitigkeit von Innen und Außen hat zur Folge, daß jede Bestimmung, die in einer Ordnung vorkommt, dort in gebrochener Form vorkommt. Etwas, das in der Erfahrung auftritt und mit dem wir es redend und handelnd zu tun haben, ist anwesend und abwesend zugleich, es selber und ein anderes, hier und anderswo, jetzt und ander-
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weitig, mit diesem verbunden und mit anderem. Wäre es ganz und gar anwesend oder ganz und gar es selbst, so würde es sich in eine bestehende Ordnung einfügen; wäre es ganz und gar abwesend oder ein ganz anderes, so hätte es mit dieser Ordnung nichts zu tun. Die gleiche Gebrochenheit finden wir zwischen Handelndem und Mithandelndem, Redendem und Mitredendem, die in einem Bezug zueinander stehen, der durch einen gleichzeitigen Entzug erkauft ist. Jemand, sei es der Partner oder ich selbst, ist immer zugleich anwesend und abwesend und ist gleichzeitig er selbst und ein Anderer. Der Versuch, diese Gebrochenheit zu tilgen durch totale Anwesenheit und volle Selbstheit, führt zur Gespaltenheit; ich bin um so mehr ein Anderer, je mehr ich meiner habhaft zu werden versuche (D 5). Am Ende wird dem Narziß seine Selbstbespiegelung zum Verhängnis, sein eigenes Bild lockt ihn in den Abgrund. In der Tat kann der Blick in den Spiegel in extremen Fällen eine Suizidneigung auslösen. Ähnlich steht es mit der Beziehung zum Anderen. »There is always another one walking beside you« (T. S. Eliot) – immer ist ein Dritter hinter und neben uns, nicht als Beobachter oder Mittler, sondern als Ferner, der jede erschöpfende Kommunikation ausschließt, und auch hier kann eine Übernähe in Aggression umschlagen. Die Begriffssprache, die wir wohl oder übel gebrauchen, könnte den Verdacht nahelegen, das Fremdartige sei eine Negation, welche die Positivität des Eigenartigen begleitet: omnis determinatio est negatio. Doch ein Schatten ist kein Negat, sondern etwas, das miterfahren wird und sich mit dem Erfahrenen verändert und verliert. Eine Synthese ist nicht in Sicht.
3. Der Riß zwischen Produktion und Provokation Ordnungsformen wie die offene Anknüpfung und die offene Auseinandersetzung zeichnen sich dadurch aus, daß der Anspruch ein Überanspruch, die Herausforderung eine Überforderung ist, da jede Antwort hinter dem erhobenen Anspruch zurückbleibt. Ein selektives und exklusives Hören und Sehen ist zugleich ein Überhören und Übersehen, und jedes derartige Reden ist auch ein Verschweigen und bringt zum Schweigen, jedes derartige Handeln ist auch ein Unterlassen und bringt zum Erliegen, da kein allumfassender Logos dahintersteht. Man könnte geradezu von einer prästabilierten Disharmonie sprechen. Es gibt eine Reihe von Rissen, die durch unser Erfahren, Reden und Handeln hindurchgehen. Das Sagen deckt sich nicht mit dem etwas sagen,
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dieses nicht mit dem etwas Wahres oder Falsches sagen; das Gesagte bleibt hinter dem Gemeinten, das Geantwortete hinter dem Gefragten zurück wie das Genommene hinter dem Geschenkten – »tra un fiore colto e l’altro donato/ l’inesprimibile nulla« (G. Ungaretti). Ähnliche Sprünge ziehen sich durch das Handeln und schaffen einen Abstand zwischen Tun, etwas tun und etwas Richtiges oder Falsches tun. Diese Diskrepanzen gehören zur Eigenart von Zwischenereignissen, die aneinander anschließen, ohne daß der Zusammenschluß in vorgegebenen Zielen verankert oder durch feste Regeln garantiert wäre. Solche Diskrepanzen liefern aber nicht nur Zündstoff für Konflikte, sie sind auch das, was unser Erfahren, Reden und Tun in Gang hält und es über bestehende Ordnungen hinaustreibt. Doch wie geschieht das? Betrachten wir den Riß, der für unsere Überlegungen entscheidend ist, den Riß nämlich zwischen einem produktiven Verhalten, in dem das Ordnungsgefüge sich verändert, und der Provokation, auf die eine produktive Erfindung antwortet. Die Produktionskunst, die wir zwischen Finden und Erfinden gestellt haben (E 9), bedarf einer weiteren Erläuterung. Riß besagt, daß ein Zusammenhang besteht, aber ein gebrochener, kein geschlossener. Hinter den Rissen steht kein einheitlicher Grundriß. Denn die Provokation, so etwa eine originäre Frage, ist ein Ereignis, das Ordnungen hervortreibt, doch selber in keine paßt. Frage und Antwort lassen sich in ihrer Heterogenität nicht teleologisch auf ein umfassendes Ziel ausrichten und nicht normativ nach allgemeinen Regeln steuern wie zwei Sachbehauptungen oder zwei Handlungsvorschläge. Der Zusammenhang, der zwischen Frage und Antwort gestiftet wird, liegt Wahrheitsansprüchen und Konsensforderungen voraus. Frage und Antwort lassen sich auch nicht systematisieren und hierarchisieren wie Erkenntnisse, die sich stückweise einem Wissenskorpus einfügen. Die Gesten des Ein- und Unterordnens scheitern daran, daß Frage und Antwort keine vergleichbaren Elemente einer Äußerungsmenge sind, es sei denn, ich sehe von ihrem Charakter als Frage und Antwort ab und betrachte sie etwa als deutsche Sätze oder als taktische Schachzüge. Es gibt verschiedene Versuche, auftretende Risse zu heilen, zu flikken oder zu umgehen und damit die Grenze zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem zu entschärfen. Man kann die Diskrepanz umdeuten in intraordinale Differenzen von Subjekt und Objekt, von Subjektivität und Substanz, von Begriff und Sache, von Idee und Wirklichkeit, von Intention und Erfüllung usw. Die Unangepaßtheit wird aufgefangen durch eine vorgängige oder letztgültige Angepaßtheit, sei es im Sinne einer kosmisch-teleologischen Gesamtordnung, einer norma-
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tiven Grundordnung oder bloß im Sinne der Tradition als einer faktisch geltenden Ordnung oder verschiedenartiger Kulturen als faktisch vorfindlicher Ordnungen. Die Fraglichkeit des Seins selber wird auf diese oder jene Weise ausgeschaltet (vgl. C). Man kann aber auch den Spalt zu vermeiden oder abzumildern versuchen, indem man sich der reinen Produktion oder der reinen Provokation annähert. Die Herabsetzung des einen Pols, des Pols der Kreation und der Produktion, führt im Extremfall zur Gefügigkeit und Hörigkeit, der Antwortende sinkt herab zum Werkzeug oder Sprachrohr. Die Herabsetzung des anderen Pols, nämlich des Pols der Provokation, führt zu einer Kreation, die nur noch um sich selbst kreist, und somit zur Beliebigkeit, die bloße Spielarten und Moden hervortreibt. Das lockere Band zwischen Frage und Antwort knüpft sich zur Schlinge, wenn es einer Ordnung eingepaßt wird, es löst sich, wenn nur noch Weisungen oder Schöpfungen übrigbleiben. Auf die eine wie die andere Weise schwindet die offene Entsprechung, die das Verhältnis von Frage und Antwort, von Herausforderung und Erwiderung, von challenge und response kennzeichnet und eine Tür für das Außerordentliche offenhält. Eine Frage, die mehr ist als bloße Floskel oder Routine, ist nie völlig am Platz, und nicht umsonst erscheint Sokrates als ein ἄτοπος. Von hier aus fällt ein eigenes Licht auf die Problematik von Begründung und Beliebigkeit. Wenn unser Reden und Handeln auf einen Überanspruch antwortet, der sich nie ganz und gar erfüllen läßt, so erscheint das Unzureichende der Gründe und das Unberechenbare des Redenden und Handelnden nicht als zu behebender Mangel, sondern als konstitutives Merkmal einer responsiven Rationalität. Eine Antwort, die völlig begründet wäre, wäre keine Antwort, die eine Kluft überquert, sondern eine Schlußfolgerung, die eine Linie auszieht. Der Spielraum zwischen Frage und Antwort behält etwas Abgründiges, ohne das Frage und Antwort nicht wären, was sie sind, nämlich zerbrechliche Stege und zerreißbare Seile. Die Antwort ist zwar mehr oder weniger motiviert, doch durch einen Beweggrund, der niemals zwingend ist; was uns bewegt, ergibt sich, wenn wir der Bewegung folgen. Nun, so könnte man einwenden, verlagert sich damit nicht alles auf die Frage nach der Berechtigung von Ansprüchen und Anforderungen? Gibt es nicht berechtigte und unberechtigte Ansprüche, zumutbare und unzumutbare Herausforderungen, wodurch alle responsiven Ordnungsleistungen in ein erneutes Zwielicht rücken? Darauf wäre zu erwidern: Ein Anspruch kann nur auf seine Berechtigung geprüft werden, wenn es sich um einen Rechtsanspruch handelt, der allgemeinen Maßstäben unterworfen ist. Doch Fragen, Bitten oder Aufforderun-
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gen, ob verbal vorgebracht oder nicht, sind als solche weder wahr noch falsch, weder richtig noch unrichtig. Umgekehrt sind es auch keine bloßen Tatsachen, denn diese könnten mich nicht beanspruchen oder gar überbeanspruchen. Die Gesichtspunkte der Totalität, der Universalität und der puren Positivität versagen hier. Mit jedem Anspruch, der in der Erfahrung auftritt, tritt etwas auf, das selektive und exklusive Formungen produziert, aber in diesen nicht aufgeht. Denn eine Frage ist niemals Teil eines Ganzen, Fall eines Gesetzes oder nackte Tatsache. Die schlichte Frage: »Warum sagst du das?« löst einen Wirbel aus, der über alle Normierungen hinweg auf das Ereignis des Sagens selber zurückführt. Das gilt auch für die Stimme des Gesetzes. Das Hören auf das Gesetz ist etwas, das nicht selber unter das Gesetz und seine binären Maßstäbe fällt, sondern zu dessen Genealogie gehört. An dieser Stelle zeigt jede Logik und Moral einen toten Punkt, über den wir mit Argumenten nicht hinwegkommen. Jeder Anspruch behält etwas vom Stachel eines Anreizes, der nicht voll zu legitimieren ist.
4. Zwischen den Ordnungen Eine Frage, eine Herausforderung, die an jemanden herantritt, ist bereits ein Ereignis, das nicht innerhalb einer bestehenden Ordnung Platz findet. Insofern überschreiten wir ständig die bestehende Ordnung, da wir uns, abgesehen von Grenzfällen, nie ganz und gar reproduktiv verhalten (E 3). Doch solange unsere Antworten auf dem Boden einer bestehenden Ordnung verbleiben, hält unser Reden und Tun sich im Rahmen dessen, was innerhalb bestimmter Diskurse gesagt und getan werden kann. Die Ordnung der Dinge, in der wir uns mit Selbstverständlichkeit bewegen, ist von den Dingen selber nicht zu unterscheiden, und die Brüche, die alle Identität durchziehen, bleiben verdeckt. Mit der selbstverständlichen Vertrautheit des Ordentlichen bleibt auch das Außerordentliche im Hintergrund; es ist mit da, aber nicht als solches da. Soll die jeweilige Ordnung ihre Grenzen zeigen, so muß sich unsere vertraute Erfahrung verfremden; wir müssen, was wir kennen, mit anderen Augen sehen und in Situationen geraten, wo wir uns nicht mehr auskennen. Abgesehen von dem Übergang zwischen einer bestehenden und einer neu entstehenden Ordnung, von der ausführlich die Rede war, erwächst eine Verfremdung des Eigenen aus der Konfrontation mit einer anderen Ordnung, mit einem fremden Leben, einem fremden Milieu, einer fremden Sprache, einer fremden Kultur. Das Fremdartige begegnet uns als etwas, das innerhalb unserer Ord-
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nung nicht gesagt und getan werden kann, wohl aber in einer anderen. Das Außerordentliche tritt auf als anderswo bestehende Ordnung. Zwischen den Diskursen machen sich Fälle des Widerstreits (différend) geltend, die durch keinen der fraglichen Diskurse zu schlichten sind (Lyotard 1987). Würde alles auf einen theoretischen und praktischen Vergleich hinauslaufen, so wäre das Bedrohliche und Lockende, das vom Exotischen ausgeht, nicht zu erklären. Komparatistik erzeugt keine Konfrontation. Wir müssen also auch hier nuancieren. Das Fremdartige entfaltet seine provokative Kraft nur dort, wo es dem Eigenartigen so nahe rückt, daß es als mögliche Eigenart und Abwandlung des Eigenen erscheint. Das Außerordentliche ist kein Produkt einer Entäußerung, denn dann wäre eine anfängliche Einheit vorausgesetzt, die Entfaltung zuläßt, aber keine grundlegenden Selektionen und Alternativen. Das Außerordentliche ist, paradox formuliert, das Außen einer bestimmten Ordnung, kein vages Irgendwo. Dies läßt sich zeigen auf allen Stufen, wo eine fremde Ordnung auftritt. Nehmen wir das vertraute Beispiel der Fremdsprache. So fremd eine Sprache auch sein mag, sie ist niemals völlig fremd; denn zumindest unterscheiden sich Sprachlaute von bloßen Naturlauten. Ich sehe und höre Jemanden sprechen oder sogar zu mir sprechen, das besagt: ich habe es mit Ausdrucksgestalten, selbst mit Spuren einer Lautsymbolik zu tun, die nicht aus einer ganz anderen Welt kommen. Die Konfrontation mit dem Ereignis des Sagens beginnt, noch bevor ich das Gesagte verstehe. Ohne eine »Tatsache des Bedeutens« (Jakobson 1969, 42), die jeder gemeinten Bedeutung zugrunde liegt, wüßte man nicht, wie ein Kind je zur Sprache der Erwachsenen Zugang finden, ja auch nur suchen sollte. Gewiß, zum Verständnis des Gesagten bedarf es spezifischer Bedingungen, die sehr weit reichen; da man eine Sprache nur gründlich versteht, wenn man am Leben ihrer Benutzer teilnimmt, erfordert das Verständnis des Fremdartigen immer auch eine Änderung der eigenen Lebensform. Doch das schließt nicht aus, daß das Fremdartige als solches nur da ist, solange es sich dem Eigenen entzieht. Wenn hierbei das Fremdartige dem Eigenartigen nicht gänzlich fremd ist, so bedeutet das nicht in erster Linie, daß beides miteinander verglichen werden kann, sondern daß sich die verschiedenen Ordnungen mehr oder weniger überschneiden und eine in der anderen ein Echo weckt (E 8). Das Verlockende und Bedrohliche wird um so größer, je näher das Fremdartige rückt. Madame Verdurin wird nicht beunruhigt durch die Geschichten, die im vornehmen Faubourg Saint-Germain passieren, sondern von Einbrüchen und Ausbrüchen, die ihren petit clan gefährden, und ein »monströser Zwilling« (Leroi-Gourhan) wie der Affe er-
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schreckt und belustigt uns mit seinen Grimassen mehr als der Anblick einer wiederkäuenden Kuh oder der ferne Blick einer Katze. Solche Überschneidungen und Überkreuzungen, solche Resonanzen und Konsonanzen sorgen dafür, daß die verschiedenen Ordnungen nicht durch scharfe Grenzen voneinander geschieden und auch nicht nahtlos aneinander geknüpft sind, daß sich vielmehr Zwischenzonen, Krisenherde und Übergangsbereiche ausbilden mit einem vielfachen Grenzgängertum, das seinerseits spezifischen historischen Bedingungen unterliegt. Eine moderne Form des Grenzgängertums ist die Suche nach dem inconnu, das niemals in ein Bekanntes zu verwandeln ist (Merleau-Ponty 1986, 137) und das vielfach so flüchtig auftritt wie Baudelaires Passantin. Der Sinn für das blitzartig Einbrechende und rasch Vorübergehende bekundet sich in der Vorliebe für das Flanieren, für das Reisen, von der Romantik über Baudelaire bis hin zu den Surrealisten und Walter Benjamins Passagen, wo die seit langem angebahnte » Überseßhaftigkeit« (Leroi-Gourhan 1984, 228) nomadische Gegenkräfte weckt und die Lebenskunst in einer entzauberten Lebenswelt ihren Platz sucht (s. Kiwitz 1986). Nach dem Schwund einer vollendeten Ordnung, der man sich angleicht und annähert, läuft die Erfahrung des Fremdartigen, die über die bestehende Ordnung hinausführt, nicht mehr über eine höhere Regelung, sondern über eine »Entregelung der Sinne« (Rimbaud). Diese Erfahrung schlägt dort ins Illusionäre um, wo das Anderswo positiv besetzt wird als imaginäre Fülle, ins Illusionäre deshalb, weil das Anderswo als zweites Hier seine Zugkraft verlieren müßte.
5. Überschreitung der Ordnung Die Interdiskursivität, in der das Außerordentliche als anderswo bestehende Ordnung auftritt, könnte ihre provokative Kraft nicht entfalten, würde nicht jede Ordnung in sich selbst über sich hinaustreiben. Dem fremden Eigenen muß ein eigenes Fremdes, eine Fremdheit im eigenen Haus gegenüberstehen. Es ist schwer vorzustellen, daß ein Haus- oder Schoßhund von der Lebensweise des Wolfes fasziniert würde. Das Außerordentliche als bestehende andere Ordnung entnimmt seinen schillernden Glanz einem Außerordentlichen, das eine anderswo mögliche Ordnung andeutet. Dieses Anderswo ist nicht zu verstehen als pures Nirgendwo, als Utopie, sondern als Atopie, die aus der Konfrontation mit einer Heterotopie entspringt. Wenn die Diskursivität in der Differenz besteht zwischen dem, was in einer Ordnung gesagt und getan
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werden kann, und dem, was gesagt und getan wird, und wenn die Interdiskursivität in der Differenz besteht zwischen dem, was in dieser, und dem, was in jener Ordnung gesagt und getan werden kann, so besteht die Transdiskursivität in der Differenz zwischen dem, was in einer Ordnung gesagt und getan werden kann, und dem, was in ihr nicht gesagt und getan werden kann. Das Unsagbare, Unsichtbare, Unhörbare, Untunliche usf. ist die Kehrseite des Sagbaren, Sichtbaren, Hörbaren, Tunlichen. Diese Kehrseite ist gegenwärtig im Überanspruch dessen, was zu sagen, zu sehen, zu hören, zu tun ist, und sie tritt als Außerordentliches hervor, wenn eine bestehende Ordnung ihre Grenzen und Lücken zeigt. Kehrseite bedeutet, daß das Außerordentliche keinen Eigenbereich bildet und kein Eigenleben entfaltet; damit verhält es sich ähnlich wie bei Saussures Blatt Papier, bei dem man die Vorderseite nicht zerschneiden kann, ohne die Rückseite zu zerschneiden. Den Grenzzonen zwischen einer bestehenden und einer neu bzw. anderweitig bestehenden Ordnung entsprechen Randzonen und weiße Flächen innerhalb der eigenen Ordnung, wo es rumort und ein vielfältiges Randgängertum sich breit macht. Die Ambivalenz des als irrelevant, atypisch, anormal, sittenwidrig oder normwidrig Ausgeschlossenen bildet den Antrieb für eine vielfältige Bewegung des Überschreitens, die sich in Ermangelung einer umfassenden und letzten Ordnung als »Aufstieg auf der Stelle« (Merleau-Ponty 1986, 229) vollzieht, das heißt als Aufbruch, der nicht anderswo ankommt.
6. Beschränkte Überschreitung: vom Mangel zur Erfüllung Der vielleicht heikelste Punkt in der Überschreitung bestimmter Ordnungen ist der Zusammenhang zwischen dem Moment des Negativen und dem des Elativen, zwischen dem Un-geordneten und dem Außerordentlichen, das sich in Überanspruch und Überforderung als Überordentliches darstellt. Wie kann ein Nicht in ein Mehr umschlagen, das Zuwenig sich mit einem Zuviel verbünden? Was unterscheidet pure Maßlosigkeit vom Übermaß? Heikel ist dieser Punkt, weil eine Überschreitung, die sich über Grenzen hinwegsetzt, ohne sie aufzuheben, diese verletzt. Eine Übertretung von Ordnung also, die durch Verletzung erkauft, vielleicht zu teuer erkauft ist? Die Orientierung an einer Gesamtordnung oder einer Grundordnung bietet abermals zwei Möglichkeiten, die Überschreitung zu entschärfen und den Verletzun-
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gen den Stachel zu nehmen. Um diese beiden Möglichkeiten zu unterscheiden, sprechen wir einmal von Übersteigung, das andere Mal von Übertretung. Geht man von einer Gesamtordnung aus oder auf sie zu, so ist jedem Menschen seine Bestimmung und Erfüllung vorgezeichnet, die sich in Stufen und Etappen erreichen läßt. Das Streben nimmt, wie der platonische Eros, seinen Lauf zwischen Mangel und Fülle. Zuviel des Guten kann es nicht geben, es gibt nur ein Zuviel an Gütern, deren Gebrauch und Genuß auf ein rechtes Maß zwischen Zuviel und Zuwenig zuzuschneiden ist; denn es verhält sich hier ähnlich wie bei einem Zuviel an Wahrnehmungsreizen, wo ein Übermaß die Wahrnehmungsorgane zerstört (De anima II, 12). Platon und Aristoteles greifen zurück auf die griechische Medizin, die Gesundheit als ausgewogenes Kräftespiel im Organismus begreift, und sie beherzigen die alten Weisheitslehren, die generell vor einem Zuviel warnen, insbesondere vor der Anmaßung einer Hybris, die es aus eigenen Stücken den Göttern gleichtun will. »Wovon es kein Übermaß (ὑπερβολή) gibt, das ist gut, was dagegen größer ist, als es sich gebührt, ist schlecht« (Aristoteles, Rhet. I, 6, 1363 a 2-3). Das Ganze verwirklicht sich, indem jedes Wesen seine Grenzen einhält und eben dadurch am Ganzen partizipiert. So auch der Mensch, dessen Seele auf gewisse Weise alles ist. Der Kosmos, der allem seinen Platz zuweist, verkörpert ein Maß, das zwischen Zuviel und Zuwenig die Mitte hält. Wenn es eine Steigerungs- und Gipfelform des Guten gibt, dann eben als Verwirklichung dieser Mitte (Nik. Eth. III, 6), die dann – gemessen am Durchschnittsverhalten – ein »Übermaß« an Vorzüglichkeit erreichen kann (vgl. Nik. Eth., VII, 1, 1145 a 23 f.; Rhet. I, 9, 1367 b 6 f.). Was aber über das rechte Maß hinausgeht, erscheint als περισσός, als übermäßig, überflüssig, ungerade wie eine Zahl, die aus der Reihe tanzt. Die umgrenzte Gestalt (πέρας) hält das Ungestaltete und Unbegrenzte (ἄπειρον) in Schach. Wo also Grenzen zu übersteigen sind, da in Richtung auf ein Ganzes und Höchstes, in dem die Bewegung zur Ruhe kommt. Stützt man sich dagegen auf eine normative Grundordnung, so weicht die zu erwartende Erfüllung eines Strebens der geforderten Erfüllung einer Norm, ohne die es nicht mit rechten Dingen zuginge. Wie die Kriterien von Wichtigkeit und Richtigkeit auseinandergehen (s. o. B 8), so auch die jeweiligen Bewegungen des Überschreitens einer Ordnung. Der Überstieg über die Grenzen begrenzter Tätigkeitsfelder und Lebensformen bedeutet eine graduelle Erweiterung, die ein Mehr oder Weniger zuläßt und die Grenzen des Sagbaren, Sichtbaren und Tunlichen zurückschiebt; die Verletzung partikularer Ordnungen wird
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in einer Gesamtordnung aufgefangen. Nicht so bei der Übertretung von Normen, die nicht der Erweiterung eines Bewegungsspielraums entspricht, sondern einer Richtungsänderung: einem Abweichen vom rechten Wege wie bei Herakles am Scheidewege. Die digitale Ordnung von Ja und Nein läßt kein analogisches Mehr oder Weniger zu, wenn es um Geltungsansprüche geht. Man kann mehr oder weniger trinken, mehr oder weniger hart zuschlagen, doch ist man ein Verkehrssünder oder ein Mörder oder ist es nicht. Die Übertretung einer Norm hat es auch nicht mit dem zu tun, was sich nicht sagen oder tun läßt, sondern mit dem, was durchaus gesagt oder getan werden kann, aber nicht gesagt oder getan werden soll. Wenn im Bereich der Normen eine Übertretung geduldet wird, so nur im Hinblick auf übergeordnete und überzeugendere Normen bis hin zu universalen Vernunftnormen, deren Anerkennungswürdigkeit Übertretungen nur noch um den Preis schierer Unvernunft und radikaler Unordnung zuläßt. Natürlich braucht auch ein Verfechter einer unverbrüchlichen Rechts- und Moralordnung hier nicht stehen zu bleiben. Unter dem Schutzdach unerbittlicher Imperative können Postulate gedeihen, die dem vollendeten Gut der Glückseligkeit ihr Recht lassen und im Jenseits ergänzen, was im Diesseits fehlt. Bis es soweit ist, sorgt eine weise Natur dafür, daß nicht ein Zuviel an Gütern und ein Zuwenig an Übeln die Menschen dazu verführt, es sich in einem arkadischen Schäferleben wohl sein zu lassen, »gutartig wie die Schafe, die sie weiden« (Kant, VI, 38). Man kann diese postulatorische Metaphysik durch geschichtsphilosophische oder evolutionäre Programme ersetzen oder den Spannungsbogen, der von der Glückswürdigkeit zur Glückseligkeit, vom höchsten zum vollendeten Gut hinüberführt, im Leeren enden lassen, dieses Geschiebe hinter den Kulissen eines ehemaligen Welttheaters ändert wenig an den Grundlinien des Denkens. Diese Grundlinien sind es, die dem Übermaß und dem Überfluß den Index des Zuviel erteilen. Dieses Denken geht nämlich aus von einem zu behebenden Mangel, dem eine ausstehende Ganzheit entspricht. Alles, was über die bloß reproduktive Selbsterhaltung hinausgeht, gewinnt den Charakter der Selbstverwirklichung, der Selbsterweiterung und der Selbststeigerung: das Selbst sucht, was ihm abgeht. Soll die unersättliche Leidenschaft des Habens, Herrschens und Geltens nicht bis ins Zerstörerische anwachsen, so muß an irgendeiner Stelle der bloße Anreiz der Lust umschlagen in den Anspruch eines Guten, das nicht mehr nur ein Gut für mich oder für uns ist, sondern das Gute an sich. Dieser Umschlag vollzieht sich, wenn der Einzelne sein Streben dem Ganzen einordnet oder aber sein Streben einem grundlegen-
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den Gesetz unterordnet und die Erfüllung seines Eigenstrebens allenfalls als Zugabe erhofft. Gemessen an einer sich stufenweise entfaltenden Gesamtordnung erscheint das Außerordentliche als Vorgabe, gemessen an einer grundlegenden Gebots- und Verbotsordnung erscheint es als Abfall. Als Transzendierung endlicher Lebensgrenzen ist die Überschreitung etwas Vorläufiges, als Transgression von Gesetzen und Normen etwas Hinfälliges; denn die Fülle des Guten hat nichts außer sich, die Strenge des Gesetzes duldet keine Ausnahme. Das Jenseits der Ordnung hat letztlich keinen Sinn oder aber einen pervertierten Widersinn.
7. Radikale Überschreitung: zwischen Mangel und Überfülle Übermaß und Überfülle erscheinen in einem anderen Licht, wenn die Ordnung ins Zwielicht rückt und wir auch hier zu rechnen haben mit der Lage eines nicht festgestellten Tieres, dem in Ermangelung einer fest vorgezeichneten Lebensbahn verschiedene, doch nicht alle Wege offen stehen, und das in Herausforderungen und Auseinandersetzungen befangen ist, die sich nur selektiv, also nie gänzlich bewältigen lassen und die aus sich selber das Mehr einer nicht zu bändigenden Überfülle hervortreiben. Ordentliches und Außerordentliches, Mangel und Überfülle begegnen sich über eine Schwelle hinweg; wenn der Mangel definitiv ist, so auch der Überschuß. Das bedeutet, daß Überstieg und Überschreitung nie restlos vollzogen werden. Das Phantasma der Fülle erwächst aus der Erwartung, man hätte alles, wenn man nur einmal die Schwelle überschritte und einen Blick hinter den Spiegel täte. Doch das könnte, mit Husserl zu reden (Huss. III, § 44), nicht einmal ein Gott. Das Über ist unlösbar gekettet an das Nicht; es tritt auf, wenn die Grenze einer Ordnung pari passu gesetzt und überschritten wird. Ohne Rückbindung an die Negativität bleiben nur Allmachtsphantasien bis hin zu den karikierenden Bildern eines Superman. Spuren einer Hyperontologie, die aus einer Meontologie hervorgeht, finden wir schon bei Platon, wenn er die Erfahrung des Seienden im Doppelspiel von Absterben und erotischer Beflügelung über sich hinaustreibt bis hin zur Blendung durch ein Licht, das ἐπέϰεινα τῆς οὐσίας, über das Sein hinaus ist und das bei den Neuplatonikern eine Kaskade von Hyperbeln auslöst, gespeist aus der überfließenden Quelle eines Überseienden, dessen Überfülle (ὑπερπλῆρες) ein Anderes schafft
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(Plotin, Enn. V, 2,2). An Einwänden gegen eine solche Übersteigung und Übersteigerung der Erfahrung fehlt es nicht. Wird hier nicht lediglich eine Fülle erschlichen im Zuge einer überschwenglichen Erfahrung, die über die Grenzen unserer Erfahrung hinweggleitet auf den Flügeln einer Schwärmerei, die Platon zum Vater hat (Kant, III, 387)? Dies doch wohl erst dann, wenn der Eingeweihte sich im höheren Licht einrichtet, wenn das blendende Licht in eine Idee eingefangen und der Überfluß kanalisiert, der Überschuß verwertet wird, sei es in einer Heilsökonomie, einer Denkökonomie, einer Kunstökonomie oder in der beschränkten Ökonomie puren Überlebens. Ein Überstieg, der die Schwelle, welche Mangel und Überfülle verbindet und trennt, hinter sich zu bringen trachtet, läßt so viel zurück, daß man sich genötigt sieht, Überschüsse zur Kompensation des Mangels einzusetzen. Alles Außerordentliche wird am Ende zum Lückenbüßer innerhalb einer verunsicherten Ordnung. »Sie sagen ›Christus‹ und meinen Kattun«. Schwerer noch wiegt ein anderer Einwand. Schwärmerei glaubt sich nicht nur über die Grenzen der Erfahrung hinwegsetzen zu können, sie glaubt sich auch erhaben über die Grenzen von Logik, Recht und Moral. Der Schwärmer, der Grenzen der Erfahrung überspielt, wird zum Gesetzesbrecher, der sich selbst zum outlaw macht, wenn er alle Normen mißachtet. Die ästhetische, religiöse oder erotische Phantasie mag ausschwärmen, doch in den Grenzen der reinen Vernunft, deren karges Ja und Nein jeder Überschreitung Einhalt gebietet. Logik, Recht und Moral sind aus sich selbst korrigierbar, aber nicht auf Anderes hin überschreitbar. Es gibt ein jenseits dieser Logik, dieses Rechts und dieser Moral, doch kein jenseits der Logik, des Rechts und der Moral. Jenseits der Vernunftordnung gibt es nichts zu suchen, denn dort findet sich nichts als pure Unordnung. Hierauf läßt sich manches erwidern. Zunächst einmal ist das Normale selber ein polemischer Begriff, und »so geht denn auch jede Präferenz für eine mögliche Ordnung – zumeist implizit – einher mit der Aversion gegen die mögliche Gegenordnung« (Canguilhem 1977, 164). In der innovatorischen Überschreitung einer Ordnung vereinen sich Konstruktion und Destruktion. Doch wäre die Überschreitung nichts weiter als eine Übertretung, die das Ordnungswidrige als solches wählt und dem Wahren das Falsche, dem Richtigen das Unrichtige, dem Guten das Böse entgegensetzt, so bliebe sie auf dem Boden der bestehenden Ordnung, die etwaige Störungen ihres Bestandes durchaus mitbedenkt und mitverwaltet. Eine Gegenordnung kommt erst dann zum Zuge, wenn das Neue sich in der Umwertung der bestehenden Ordnung deren Verfügungsgewalt entzieht und deren binäre Raster
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verschiebt. Ohne solche »affirmative Kritik« (Kiwitz 1986, 132) würde sich gar nichts bewegen. Wer lediglich gegen die Gesetze perspektivischer Darstellung oder gegen die Gesetze der Grammatik verstößt, ist ein Anfänger oder Stümper, jedenfalls kein Neuerer; nicht umsonst steigert mangelndes Können den Anpassungsdruck. Ebenso ist jemand, der aus Mutwillen, aus Schwäche oder aus Eigennutz die Gesetze einer Gesellschaft mißachtet, noch kein Aufrührer, der sie aus den Angeln hebt. Ein Parksünder und ein Revolutionär sind zweierlei. Wie aber, wenn die zu überschreitende Ordnung eine Ordnung ist, die universelle Geltung beanspruchen darf? Welche Gegenordnung läßt sich einer Ordnung entgegensetzen, die Reden und Handeln überhaupt erst ermöglicht? Doch wohl keine. Eine systematische Überschreitung dieser Ordnungen müßte, so scheint es, als Antilogik oder Antimoral in pure Destruktion umschlagen und sich zur Selbstdestruktion steigern, da der Widerredende und Zuwiderhandelnde als gleichwohl Redender und Handelnder die Gesetze in Anspruch nimmt, die er bestreitet. Will der Antilogiker und Antimoralist nicht ins eigene Messer laufen, so bleibt ihm nur die Sprach- und Handlungslosigkeit, und selbst dort ereilt ihn der Logos, den dieses Lebewesen nicht abschütteln kann, weil es ihn hat. Selbst für eine Alogik und Amoral scheint kein Platz. So wäre es, wenn es reine Geltung gäbe ohne relativierende Geltungsbedingungen, in denen sie sich verkörpert, und ohne einen Werdegang, aus dem sie entsteht. Es genügt, an das zu erinnern, was an früherer Stelle gesagt wurde (s. o. C 8, E 8). Ein Jenseits universaler Rede- und Handlungsordnungen kann es nur geben, wenn es ein Diesseits gibt, das ihnen von Anfang an ihre Grenzen zuweist. Früher als jede Norm sind nun in der Tat Überansprüche, die unser Reden und Handeln in Gang bringen, in Gang halten und über sich hinaustreiben, sowie hinter den Ansprüchen zurückbleibende Antworten. Wären Herausforderung und Antwort, Provokation und Produktion völlig aufeinander abgestimmt, so gäbe es nichts zu regeln. Insofern entstehen Gebot und Verbot nicht nur gleichzeitig mit der Übertretung, sondern Abweichung, Übertretung und Anormales sind, genealogisch betrachtet, früher als das Normale. Die zeitliche Verschiebung, die sich in diesem Prius bekundet, markiert abermals den Unterschied zwischen dem Ungeordneten, das zu ordnen ist, und seiner Zerteilung in Ordentliches und Unordentliches. Wird der Vorzustand der Ordnung für sich gesetzt, so nimmt er Züge einer Rückprojektion an. »Das Bild des Chaos ist das einer negierten, das Bild des Goldenen Zeitalters das einer wilden Regelhaftigkeit« (Canguilhem 1977, 165). Wird die ent-
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standene Ordnung von ihrer Herkunftsgeschichte abgelöst, so kommt es zu einem Logizismus, Legalismus, Moralismus, zu Formen also, die in ihrem Universalisierungsstreben selber partikular und gewaltsam sind. Solch verfestigte Ordnungen an ihre a-logischen, a-juridischen und a-moralischen Ursprünge gemahnen heißt, sie überschreiten, ohne sie aufzuheben. Eine Normativität, die nicht durch Anormales beunruhigt und durch Enormes überschritten wird, erstarrt zu einem künstlichen System, das seiner Antriebskräfte beraubt ist. Maße stoßen nicht nur auf andere Maße, die sie einschränken, sondern auch auf ein Übermaß, das sie überschreitet. Ohne einen »Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«, bleibt nur eine Ordnungsmaschinerie, die sich um sich selber dreht und bloß einen Mehrwert kennt, den sie selber verbraucht.
8. Einbrüche und Ausbrüche des Außerordentlichen Eine Überschreitung, die sich nicht zu einer Gesamtordnung emporsteigert und sich auch nicht spiegelbildlich in einer Grundordnung einnistet, muß ein Außen erreichen, das nicht aus Entäußerung, ein Fremdes, das nicht aus Entfremdung stammt. So findet sich ein Außerordentliches, das vereinbar ist mit begrenzten Ordnungen, bei denen Ein- und Ausgrenzung, Ermöglichung und Verunmöglichung eins sind. Eine solche Überschreitung bedeutet auch keine Entgrenzung und Entdifferenzierung, die im Meer des Grenzenlosen und Unterscheidungslosen, in der puren Ordnungslosigkeit endet. Die völlige Unbestimmtheit wäre nur das Negativbild völliger Bestimmtheit und ein Restposten aus der Dialektik von Sein und Nichts, die das Nichts nur erreicht, indem sie von der Bestimmtheit des Seins absieht, es also denkt und nicht erfährt. Totale Auflösung und totale Aufhebung wohnen dicht beieinander. Das Unsagbare, Unsichtbare, Unhörbare, Untunliche, von dem wir sprachen, ist nur faßbar im Sagen, Sehen, Hören und Tun selber und hat nichts zu tun mit dem Sprach-, Gesichts-, Gehör- und Tatenlosen. Es ist kein vages Ungefähr, kein Ausdruck einer »objektlosen Erwekkungsbereitschaft«, sondern ein jeweils leibhaftig bestimmtes Überhinaus, das sich an den Schwellen der Ordnungen bricht und in den Grenzzonen zwischen verschiedenen Ordnungen, in den Rand- und Leerzonen der jeweiligen Ordnung auftaucht. Brüche, die den gängigen Lebensrhythmus von Schlafen und Wachen, von Nahrungszufuhr und
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Geschlechtsverkehr aufhalten und zu mannigfachen Formen der Grenzüberschreitung führen, gehören zum ältesten Bestand der Menschheit und nicht erst zum Schaum und Abschaum einer überzüchteten Zivilisation (s. Leroi-Gourhan 1984, 352 f.). Das Aus und Ein von Aus- und Einbrüchen hat wie alle Brüche etwas Unvermitteltes, etwas Gewaltsames, das durch keine Begriffsklammern und Argumentationsverbände zu beheben ist. Wäre es nicht so, so würden wir uns auf dem Boden und im Rahmen einer eingespielten Ordnung bewegen, ohne daß dessen Grenzen sichtbar würden. Wenn das Außerordentliche die Kehrseite des Ordentlichen bildet, so sind Einbrüche und Ausbrüche so weitläufig und vielfältig wie die Regelhaftigkeit, die sich je nach Ordnungsbereichen, Ordnungstypen, Betätigungsarten und Lebensformen verschiedenartig darstellt. Die Schwellenerfahrungen, von denen wir ausgingen (A 6), wären also in ihrer ganzen Breite wiederaufzunehmen. Man wird das Außerordentliche im Wahrnehmen, Hantieren und Fühlen ebenso finden wie in den Rätseln des Denkens und den Aporien des Handelns, in der Malerei so gut wie in der Mathematik oder der Politik, und man wird es am intensivsten dort finden, wo einmalige oder wiederholte Schlüsselereignisse wie Geburt, Tod, Wiedergeburt, wie Gründung, Erfindung, Umwälzung, Erneuerung oder Vernichtung im individuellen und kollektiven Leben einen Umbruch erwirken (E 5). Das Außerordentliche kennt aber nicht nur bestimmte Ein- und Ausbruchsstellen, sondern auch bestimmte Durchbruchsformen, die sich zu einer Hyperbolik des Außerordentlichen gruppieren, freilich nicht systematisieren lassen. Einige Beispiele mögen genügen, um dieses heterogene Feld zu illustrieren. Daß wir dabei mehrfach auf die Sprache der Bilder hinweisen, geschieht nicht von ungefähr; die Bildsprache ist kein Ersatz für die Begriffssprache, doch ein Lösemittel gegen deren Verhärtung. Die Durchbruchsformen des Außerordentlichen setzen sich jeweils von einer bestimmten Normalform der Ordnung ab, oft in polemischer Gegenstellung, stets in Gefahr, im bloß Ordnungswidrigen stekken zu bleiben oder in den Sog des schlechthin Ordnungslosen zu geraten, gewichtig nur dort, wo sie mehr sind als bloße Reaktion auf das Ordentliche. Auf die Eindeutigkeit einer terminologisch gefestigten Ordnung, die den Sinn der Rede verfügbar macht, aber auch stillegt, antwortet ein Vieldeutigmachen, das den »Überschuß« des Gemeinten über das Gesagte und des Gesagten über das Gemeinte wahrt (Merleau-Ponty), das Unsagbare als Zu-Sagendes gegenwärtig hält und mit der Vervielfältigung von Anschlußmöglichkeiten einer Herrschaft durch Eindeutig-
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machen (Vološinov 1975, 72) entgegenwirkt. In der Vervielfältigung der Äquivokationen erscheint ein Sprachvirtuose wie Joyce geradezu als Antipode Husserls (Derrida 1987, 136). Collagen und Assemblagen sind geeignet, den » Polymorphismus des wilden Seins« (Merleau-Ponty 1986, 319) in Erscheinung treten zu lassen. Mit der Bemessenheit einer Ordnung, die sich aufs Mittlere oder Mitttelmäßige einspielt, kontrastiert eine Steigerung ins Extrem, die unsere gewohnten Maßstäbe sprengt. Hierher gehört auch die Theorie des Erhabenen, ein neuplatonisches Erbgut, das die Zirkel der neuzeitlichen Ästhetik auf beachtliche Weise stört. Die Übergröße und Übermacht der Natur, die unsere Einbildungs- und Darstellungskraft übersteigt, führt auch bei Kant an den »Abgrund« einer Erfahrung, die Bedrohung, Gefahr und Gewalt mit sich führt. Doch wird die »Formlosigkeit« des Alls im Durchgang durch die Windstille des Ästhetischen am Ende aufgefangen durch die Form des moralischen Gesetzes. Was dem Menschen als Sinneswesen abgeht, gewinnt er als Vernunftwesen zurück, wobei allerdings die Gewalt der Natur umschlägt in die »Gewalt« des moralischen Gesetzes, das sich die Sinne unterwirft (KU B 110). Möglichkeiten, das Unermeßliche selber sichtbar zu machen, begegnen uns in den Seerosenfeldern Monets und in den Farbwänden Barnett Newmans, die der Blick nicht mehr überschauen, in die er nur noch eintauchen kann. Wir nähern uns einer Erfahrung des reinen Grundes, wo die Gestalten verschwimmen und sich in ein Bildgeschehen verwandeln. Die Einstimmigkeit des mundanen und sozialen Alls, innerhalb dessen jedes einzelne nur insoweit zum Zuge kommt, als es sich mit allem anderen verträgt und sich in das Ganze einfügt, zerbricht an einer Simultaneität des Inkompossiblen, in der Dinge und Menschen miteinander rivalisieren, sich meinen Blick und meine Anrede streitig machen und doch erst in der Anwesenheit, die durch eine Abwesenheit unterhöhlt ist, ihre Tiefe und Dichte zurückgewinnen, die ihnen der angemaßte Überblick raubt. Dies »Zerspringen des Seins« (Merleau-Ponty 1986, 333), dessen Splitter funkeln und verletzen, findet seinen Ausdruck in mannigfachen Versuchen der modernen Kunst, wo die klassische Zentralperspektive aufgekündigt wird zugunsten multipler und multivalenter Darstellungsweisen, die nicht mehr auf ein Zentrum zulaufen. Erinnert sei nur, stellvertretend für vieles, an die flimmernden Bild- und Satzfragmente bei Delaunay und Apollinaire, an die Heterogenitätsschwellen in Magrittes Bilderrätseln, an die Unmögliches möglich machenden Metamorphosen in M. C. Eschers Bildmustern oder an die Groteske als ein Zugleich ambivalenter, heterogener und widersprüchlicher Elemente (s. Bachtin 1968).
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Der Sparsamkeit einer ökonomischen Zweckhaftigkeit, die Mittel und Risiken reduziert, keinen Schritt zuviel tut, Kräfte schont und nichts umsonst geschehen läßt – bis hin zur »Natur, die nichts umsonst tut« –, widersetzt sich der Sinn für das Überflüssige, Festliche, Ausschweifende, verbunden mit Akten der Verausgabung, der Schenkung, der Verschwendung. Der archaische Brauch des Potlatsch, den Marcel Mauss als eine in ihrem Kern keineswegs entbehrlich gewordene Frühform von sozialem Austausch betrachtet und der sich bei Georges Bataille steigert bis zur Selbstverschwendung des Menschen auf einem Fest des Lebens, steht für eine Fülle von Zutaten, mit denen das Leben, auch das soziale, über alle Zwecke hinausschießt. Hierher gehören Geschenk, Schmuck, Duft, Spiel, der Müßiggang, der »aller Laster Anfang« ist, das ganze Ensemble von »luxe, calme et volupté«, das sich durch Anmut, Geschmack, Eleganz oder Üppigkeit auszeichnet und nicht durch pure Treffsicherheit. Wenn dieser Hintergrund nutzloser Lebenskräfte unter dem Druck kalkulatorischer Rationalität dahinschwindet, schrumpft der Kosmos, der einstmals das Schmuckhafte ausdrücklich mit einschloß, zu einem dürren Ordnungsskelett. Die Besonnenheit einer Herrschaft, die sich unvermeidlich zur Selbstbeherrschung verinnerlicht und eine disponible Regelhaftigkeit hervorbringt, wird unterspült von Formen rauschhafter Ekstase, in denen der Mensch außer sich gerät und ein Anderes in ihm zu Wort und zum Zuge kommt, das sich erlernbaren Regeln entzieht, so schon bei Platon, wenn er der Sophrosyne verschiedene Formen der Mania entgegenstellt, vom Eros über die Weissagung bis zur Dichtung. Die Eingewöhnung einer eingesessenen Vernunft wird gelockert durch verschiedene Formen der Verfremdung, der Narretei, der Exzentrik bis hin zur Schaffung des »syntaxfreien Raumes« der Surrealisten (Leroi-Gourhan 1984, 485), der neue Möglichkeiten der Zusammenstellung zuläßt. Die Gefangenheit und Befangenheit in einer selbstgeschaffenen oder auferlegten Lebensform provoziert Auszüge, Ausfahrten, Auswanderungen, also Absetzbewegungen, die in politisches, künstlerisches, religiöses oder persönliches Neuland vorstoßen. Der Exodus verwandelt sich ins Exil, wenn er erzwungen ist. Die Hierarchie einer Stufenordnung wird durch karnevaleske Ereignisse durchbrochen, in denen soziale Rollen sich verkehren und in einem »Schauspiel ohne Rampe« die vertikale Ordnung sich in die horizontale biegt – wenigstens für einen Tag (Bachtin 1971, 137). Die gravitätische Ernsthaftigkeit des Geistes, der sich wohlbegründet und unentbehrlich dünkt, findet ihren Meister im Gelächter, das unter
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der Argumentationslinie agiert. Die Vernunft wehrt sich dagegen von altersher mit Maximen wie: »Der Tor lacht, auch wenn es nichts zu lachen gibt«, so bei Thales und der Magd. Sie sorgt für eine Erziehung, in der es nicht zuviel zu lachen gibt; die Wächter der Stadt würden die Stadt aus der Fassung bringen, wenn sie selber aus der Fassung gerieten und das homerische Gelächter um sich griffe. Weisheitsliebhaber brauchen wir, keine Lachliebhaber (Politeia 388 e). Oder die Vernunft versucht es mit der Verharmlosung; Lachen ist gesund, das »beförderte Lebensgefühl im Körper« macht Vergnügen, doch möge man sich beileibe nichts dabei denken: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« (Kant, KU B 225). Sollte das Lachen etwas mit dem Außerordentlichen zu tun haben, so wäre es mit der Vernunft auf gleichem Fuße zu behandeln, so wie der Witz (sal) das Salz der Vernunft ist. Das Lachen »macht das Bewußtsein, das Denken und die Einbildungskraft des Menschen frei für neue Möglichkeiten. Aus diesem Grund geht großen Wandlungen – sogar auf dem Feld der Wissenschaften – ein bestimmtes karnevalisches Bewußtsein voraus, das den Weg bereitet« (Bachtin 1968, 49). Einer tränenlosen Vernunft wäre ähnliches zuzumuten: »sunt lacrimae rerum« (Vergil). Wenn selbst Dinge ihre Tränen haben, sind diese gewiß mehr als subjektiver Ausdruck. Der Mensch bricht in Lachen oder Weinen aus, wenn ihn etwas überkommt, dessen er in seiner exzentrischen Position nicht Herr wird (Plessner, VII, 359 ff.), und das sind nicht bloß ›seine Gefühle‹. Genauso wie Reden und Handeln können Lachen und Weinen an den Grundfesten einer Ordnung rütteln. Die Serie der Hyperbeln, in denen sich Außerordentliches ankündigt, ließe sich fortsetzen, doch bis ins Beliebige?
9. Regression und Transgression Eine Überschreitung, die ihrer selbst Herr wäre, würde keine Grenzen überschreiten, sie würde diese nur verschieben. Grenzüberschreitung bedeutet deshalb immer auch Selbstüberschreitung. Diese radikale Form der Überschreitung kann ihre Schwungkraft nicht aus sich selbst nehmen, aus selbstgefertigten Planungen und Entschlüssen, sondern nur aus einer Bewegung, die schon begonnen hat (s. o. E 7). Insofern bedeutet die Überschreitung eines bestimmten Niveaus an Selbstbewußtsein und Selbstverfügung zugleich deren Unterschreitung. Hieraus erklärt sich, daß jeder Durchbruch des Außerordentlichen etwas Kind-
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liches und Barbarisches an sich hat und das Pathologische streift. Dahinter lauert ein Chaos, die Grenzen verschwimmen; im äußersten Falle rücken Welt- und Selbstverlust nahe. Diese regressiven Momente in der Transgression verlocken dazu, den labilen Zusammenhang von Unordentlichem und Außerordentlichem zu lockern und der Versuchung zu purer Regression stattzugeben. Doch die lockende Entgrenzung, die sich als Ausschreitung, als Exzeß ausleben läßt, trägt ihr Scheitern in sich. Der Anspruch, der über die bestehenden Grenzen hinaustreibt, würde erlöschen, sobald er erfüllt wäre. »O daß wir unsere Ururahnen wären ...« (G. Benn) – wären wir es, so verlöre der Wunsch jeden Sinn, der Wunschsatz wäre nicht einmal mehr aussprechbar. Das Außerordentliche lebt vom Kontrast zum Ordentlichen, das es überbietet. Erfindungen der Sprachund Liebeskunst haben nichts zu tun mit unartikuliertem Gestammel und wahlloser Paarung. Dabei kann die Rede von einer Regression zu Mißverständnissen führen; denn schon das Lallen und Liebeswerben des Kindes ist alles andere als ein Sprach- und Gefühlsbrei. Man sollte symbiotische Frühstufen und andersartige Formen der Individuation, wie wir sie auch in archaischen Lebensformen finden, nicht mit rückläufigen Folgen einer Entindividuierung gleichsetzen; denn diese ist durchaus ein Spätprodukt, Reaktion auf eine Überindividuierung. Der Rückgang auf einen Zustand der Entgrenzung und der Entdifferenzierung verspricht, mit der Entindividuierung zugleich das Negative zu bewältigen, über das sich die Überschreitung nur erhebt, ohne es aufzuheben. Damit kommen wir auf die Frage zurück, ob sich die Reihe der Hyperbeln beliebig fortsetzen läßt. Der Durchbruch zu einem Außerordentlichen kann daran scheitern, daß der Überschreitende an dieser Bewegung zerbricht. Hierher gehört die ganze Skala erlittenen Leidens, beginnend mit leichten Verletzungen und endend in der Vernichtung durch den Tod. Die Frage, wieweit Leiden als Durchbruch oder Durchgang gelebt werden kann, möchte ich hier nur stellen, nicht weiter verfolgen. Immerhin läßt sich behaupten, daß eine überzogene Abschirmung gegen den Einbruch des Verletzenden und Vernichtenden neues Leiden schafft, indem es den Leidenden in einen Sicherheitsgürtel einschließt, der mit dem Leiden auch das Leben fernhält: eine Überbewältigung des Leidens. Das erlittene Leiden steigert sich im zugefügten Leiden, das im Mord als bewußter Tötung kulminiert. Das Zerbrechen des Leidenden resultiert hier aus einem Verbrechen. Auch hier also ein Durchbruch des Außerordentlichen? Es sei nochmals betont, daß eine pure Option für jenes Unordentliche, das zu jeder Ordnung gehört, diese nicht sprengt.
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Hier scheint die Regression eine Alternative zu öffnen, indem sie nicht nur vor die Unterscheidung von Gut und Böse zurückgeht, sondern diese selbst zurücknimmt in eine »Überindividualität des Lebens«, eines Lebens, das sich im Tod, wechselseitigem Sichauffressen und geschlechtlicher Fortpflanzung selber verschwendet und verzehrt, so daß Nicht und Überhinaus miteinander verschmelzen. »Und den Luxus des Todes betrachten wir ebenso wie den Luxus der Sexualität, nämlich erst als eine Negation unserer selbst und dann, in einer plötzlichen Umkehrung, als die eigentliche Wahrheit der Bewegung, die sich durch das Leben manifestiert« (Bataille 1975, 61). Natürlich ist ein solches Todesfest des Lebens über triviale Kabinetts- und Wirtschaftskriege, über profitable Raubmorde und Einbrüche hinaus, denn dort herrscht noch das Kalkül einer »eingeschränkten Ökonomie«, Versucherisch ist die Gestalt des Opfers einer Verschwendung, bei der es schließlich gleichgültig ist, wer wen opfert. Wäre diese vollendete Amoral erreicht, so wären wir nicht nur aus der Moral heraus, sondern auch aus dem Wechselspiel von Herausforderung und Erwiderung, das alle Überschreitung in Gang hält, auch die Überschreitung einer »beschränkten Ökonomie«. Sollte es aber nicht gelingen, das Leben derart zu revolutionieren, daß das Außerordentliche in einem permanenten Verschwendungsfest selber zur Ordnung wird, was bleibt uns dann? Ist nicht mit Händen zu greifen, daß Außerordentliches nach einer Schonfrist selber in die bestehende Ordnung einbezogen wird, daß es vermarktet, vermachtet, verarztet wird in der Form von Chocs, Trips und Exaltationen jeglicher Art? Finden wir nicht dort, wo sich Schleusen zu öffnen schienen, nur zu bald regulierbare Stauwerke und Druckventile, die selber der »totalen Integration« (J. Ellul) in eine schöne neue Ordnung dienen? Diese Klagen sind so neu nicht. Doch Transgression besagt nicht den Erwerb eines status supraordinalis, sondern einen ständigen Grenzverkehr, der sich einer Einfriedung widersetzt, ohne einer Entgrenzung nachzujagen.
10. Eigenname und Namenlosigkeit Wenn das Ordentliche stets kontrapunktiert wird durch ein Anderswo, das nicht in der Ordnung Platz findet, aber diese beunruhigt, so schlägt dies zurück auf den Status des Redenden und Handelnden. Der Respondent ist niemals dort, wo er Spielzeug seines eigenen Denkens ist. »Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke« (Lacan, Ecrits,
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517, dt. II, 43). Diese Dislozierung rückt das sogenannte Subjekt aus dem Zentrum und entzieht ihm die Basis. Das Ich ist nicht nur ein Anderer, aus dem Blickwinkel einer jeweiligen Ordnung betrachtet ist er auch ein Niemand (Merleau-Ponty 1986, 310). Dieser Selbstentzug, der den Anderen so gut trifft wie mich, ist durch keine Selbstverdoppelung wettzumachen. Er resultiert aus einer Selbstüberschreitung, die an den verschiedenen Formen der Überschreitung teil hat und zwischen Selbstverfestigung und Selbstauflösung einen eigenen Weg offen hält. Wie sollen wir den Redenden und Handelnden bezeichnen, wenn er keine Seele ist, in der sich das All spiegelt, noch ein Subjekt im Sinne eines Oberhaupt-Untertan, der einem selbsterlassenen Gesetz unterliegt? Bleibt nicht als letzte Zuflucht der Name, der jemandem eigen ist und benennt, was allgemein nicht sagbar ist? Eine unsagbare Individualität, die durch Eigennamen aufgezeigt und kenntlich gemacht würde, wäre nur ein Tropfen im Meer der Bestimmungen und Verheißungen, ein Unteilbares, das als letzter Bestandteil der jeweiligen Ordnung eingefügt bliebe. Doch wenn alles, was in einem Feld auftritt, nur auftritt, indem es von anderem abweicht und sich abhebt, so ist es singulär wie die Ordnung selber, kein bloßes Teil oder Element. Der Name, auf den der Respondent hört, wenn er auf eine Provokation antwortet, führt einen Kometenschweif von Namenlosigkeit mit sich, der das Außerordentliche streift. Der Angerufene, der auf den Namen hört, ist es und ist es nicht. »O wie gut, daß niemand weiß ...« – auch ich selber nicht. Verantwortungslosigkeit? Ist es ein leichtsinniger oder sinnloser Traum, wenn man sich vorstellt, es könne bisweilen etwas geben, das gesagt und gehört, geschrieben und gelesen wird, wie wenn es regnet, ohne daß ein namentlicher Absender dazwischen tritt? »Ich lese, also schreibt es« (I. Calvino). Und wie wäre es, wenn jede Äußerung, die über das Normale hinausgeht, etwas von der Botschaft eines Unbekannten hätte?
11. Zwischen Tür und Angel Das Ich, das in der Theorie vorkommt, mag im Halbschatten bleiben, doch gilt dies auch für das federführende Ich, das für die Behauptungen einer Theorie geradezustehen hat? Wenn dieses Ich zu behaupten wagt, jede Ordnung stehe im Zwielicht, da sie zugleich auswähle und ausschließe, eingrenze und ausgrenze, so sollte man meinen, daß es selber als der Theoretiker zwielichtiger Ordnungen aus dem Dämmerlicht heraustritt, um im Lichte der Sonne die Länge der Schatten abzu-
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messen. Denn wäre der Theoretiker seinerseits in eine selektive und exklusive Ordnung unter anderen eingeschlossen, wie könnte er sich dann anmaßen, über Ordnung überhaupt zu sprechen? Ist er aber nicht in eine solche Ordnung eingeschlossen, so gibt es zumindest eine Ordnung über allen Ordnungen, die dem Zwielicht entrückt wäre, weil sie kein Außen mehr hätte, das mit ihr steht und fällt. Diese eine Ordnung wäre die des Theoretikers, der damit zum Extraordinarius aufrückt, indem er die Gesamtschau der Metaphysik in eine Metatheorie hinüberrettet und als Höhlenbeschauer den Höhlenbewohnern den Rang abläuft. Jeder für sich, der Theoretiker für uns alle. Dabei ist es gleichgültig, ob die Theorie durch ein Subjekt, eine Forschergemeinschaft oder eine anonyme Instanz vertreten wird. Formalisiert man diese Position, so gerät die Ordnung aller Ordnungen in ähnliche Paradoxien wie die Menge aller Mengen. Ein Theoretiker hingegen, der von den Grenzen jeglicher Ordnung, ihrem Voraus und Darüberhinaus spricht, ohne dies von einem hohen oder zentralen Ort aus zu tun, scheint unter dem Rückstoß seiner eigenen Theorie zwischen Tür und Angel zu geraten, ein weder bequemer noch ungefährlicher Platz. Ob er konsequent bleibt und seinen eigenen Diskurs der allgemeinen Theorie unterwirft oder aber in der bekannten Bauchrednerei die eigene Theorie ausnimmt, in beiden Fällen bleibt von einer Theorie, die den selektiven und exklusiven Charakter jeglicher Ordnung behauptet, nicht viel übrig. Wir geraten hier in das vertraute Fahrwasser argumentativer Rettungsaktionen, die auf eine Diskrepanz zwischen Ausgesagtem und im Aussageakt enthaltenen Voraussetzungen setzen. Was die Sache nicht hergibt, müssen Methoden und Prozeduren durch die Hintertüre wieder hereinholen. Wie vor Gericht Lebenszusammenhänge auf relevante Tatbestände zurechtgeschnitten werden, so werden Gesprächs- und Textzusammenhänge auf Satzbestände reduziert. Daraus lassen sich dann Kernsätze herausfiltern, die einprägsam sind wie Briefmarkenbilder und ein kritisches Verfahren, günstigenfalls ein Schnellverfahren erlauben. Musterhafte Satzleichen sind: Die Wahrheit aller Aussagen ist relativ; Lebens- oder Wissensformen sind unvergleichlich; die Vernunft hängt ab von Anderem; Erkenntnis ist Machtausübung usf. Wer etwas dagegen einzuwenden hat, wird argumentieren, also seinen Kontrahenten recht geben, oder er wird sich selbst verabschieden. Die Selbstexekution des Argumentationsverweigerers gehört zum eisernen Bestand dieser Verfahrensweise ... Es gibt Dilemmas, denen man nur entkommt, wenn man erst gar nicht in sie hineingerät. Warum nicht zu diesem Zweck den Spieß der
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Selbstbezüglichkeit umdrehen? Was spricht gegen die Annahme, daß ein Großteil dessen, was über begrenzte Rede- und Handlungsfelder gesagt wurde, auf den philosophischen Diskurs, der diese Grenzen aufzeigt, zurückfällt? Auch im philosophischen Diskurs haben wir es nicht mit Sätzen aus heiterem Himmel zu tun, die wahr oder stimmig sind – und sonst nichts. Philosophie, die tradierbar ist wie eine Wissenschaft, besteht aus Texten, in denen Fragen aufgegriffen und aufgeworfen, Themen ausgewählt, begriffliche Unterscheidungen getroffen, Vergleiche angestellt, andere Texte zitiert oder nicht zitiert, fremde Äußerungen kommentiert, Kapiteleinteilungen vorgenommen, Titel und Überschriften festgesetzt werden – und in denen natürlich auch behauptet und argumentiert wird. Die Abfassung und der Umgang mit Texten ist seinerseits geregelt durch Institutionen, die den Gedankenfluß lenken. Ein solcher Diskursbereich gleicht teils einer Landschaft, teils einem Atelier, teils einem Gerichtshof, teils einer Meditationszelle, teils einer Schaubühne. Was wir nicht finden, sind ortlose Behauptungen, die nichts sind als gültig oder nicht. Was wir allenfalls finden, sind Versuche, bestimmte Geltungsansprüche und Argumentationsformen aus den konkreten Kontexten herauszulösen; doch eine solche Formalisierung, Generalisierung oder Universalisierung ist selber ein diskursives Verfahren, das bestimmten Bedingungen unterliegt und bestimmte Folgen zeitigt. Es müßte mit merkwürdigen Dingen zugehen, wenn der philosophische Diskurs nicht auch seine blinden Flecken hätte. Man wird dagegen einwenden, daß ein Diskurs, der nicht anders vonstatten gehe als alle übrigen Diskurse, sich überflüssig machen würde. Das sei zugegeben. Doch dann fragt sich, wie der philosophische Diskurs sich von anderen Diskursen unterscheidet und mit ihnen Beziehungen pflegt. Ein Diskurs, der seine eigenen Grenzen hat, taugt nicht zum Superdiskurs, der eine Gesamtordnung präsentiert oder eine Grundordnung repräsentiert. Doch der Verzicht auf eine solche leitende Funktion nötigt ihn nicht, sich damit zu begnügen, faktisch bestehenden Diskursen den Hilfsdienst bloßer Metadiskurse anzubieten, für den übrigens jeder entwickelte Diskurs über kurz oder lang selber aufkommen kann. Was bleibt, ist die Möglichkeit eines indirekten Diskurses, der sich an andere Diskurse anlehnt, sich in sie einnistet, sie befragt, aufsprengt, zerlegt, wachhält wie ein Salz, das Speisen nicht ersetzt, sondern würzt. Indirekter Diskurs, das bedeutet auch indirekte Rede, eine Rede also, die eine andere begleitet, zitiert, variiert, erläutert, vervielfältigt und sie auf gebrochene und schräge Weise fortsetzt. Wenn alles Gegebene Aufforderungscharakter hat, so bedeutet auch eine solche Begleitrede nicht bloße Wiedergabe, Beschreibung oder Ausfal-
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tung dessen, was schon da ist, vielmehr bedeutet sie ein ständiges Antworten und Eingreifen, eine Intervention, die überschreitet, ohne aufzuheben. Schon die wiederholte Zitierung eines Satzes oder eines Autors verändert deren spezifisches Gewicht, vervielfältigt die Anschlußmöglichkeiten, führt zu Abnützungserscheinungen. Ein solch indirekter Diskurs hätte seinen Ort gleichzeitig innerhalb und jenseits des direkten Diskurses, an den er sich anschließt. Sofern dieser indirekte Diskurs kritisch ist, schwebt die Kritik ebenfalls zwischen Tür und Angel; sie wäre weder bloß immanent noch geradezu transzendent, als spezifisch gezielte Kritik würde sie sich nähren von den Schatten des Außerordentlichen, die eine jede Ordnung um sich verbreitet. Daß es möglich ist, Grenzen und Löcher der Erfahrung zu bewahren, ohne die Grenzen aufzuheben oder die Löcher zu schließen, lehren uns bereits alltägliche Dinge, wenn man ihre Unalltäglichkeit mit in Betracht zieht. Dazu ein abschließendes Exempel, das uns zu den Schwellenerfahrungen des Anfangs zurückführt. Ich denke an das Einschlafen und das Schlafen, das bereits in der Art, wie wir uns darüber äußern, seine Besonderheit erkennen läßt. Ich kann nicht sagen: »Ich schlafe ein«, ohne mich wach zu halten und mich selber Lügen zu strafen, und ich kann erst recht nicht sagen: »Ich schlafe.« Enthielte der Satz lediglich eine unausgewiesene Behauptung, so könnte ich ihn durch indirekte Indizien oder durch fremde Zeugnisse aufbessern. Wäre der Satz grammatisch unkorrekt, man müßte Tabellen wie dormio, dormis .., ausmerzen, indem man Kriterien anlegt, für die eine Grammatik selber nicht mehr zulangt. Wäre der Satz schlicht falsch oder unzutreffend, wie könnte ich dann nachträglich sagen: »Ich habe geschlafen«, und wie könnte jemand anders von mir sagen: »Er schläft gerade«? Wollte man die Triftigkeit des Satzes unterhöhlen, indem man ihn umformt in ein »Es schläft« mit der Begründung, ein Ich müsse jederzeit fähig sein, sich seine Akte und Zustände selber zuzuschreiben, so käme man zu merkwürdigen Schlußfolgerungen; Wachen und Schlafen würden sich voneinander abspalten, und es gäbe kein Einschlafen und Erwachen mehr, das eine Schwelle überquert, ohne den Abstand zu überbrücken. Wir haben hier also den seltsamen Fall vor uns, daß eine Aussage sich nicht machen läßt, obwohl sie weder unsicher, unsinnig noch falsch wäre. Wir sind durchaus nicht im Zweifel darüber, wovon die Rede ist, und können uns an die Erfahrung, die sich nicht bewußt durchleben und auf der Stelle zum Ausdruck bringen läßt, herantasten und sie umkreisen. Der unüberbrückbare Kontrast zwischen Schlafen und Wachen macht das eine nicht zum ganz Anderen des anderen. Doch so einzigartig, wie es scheint, ist diese
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Grenzerfahrung und Grenzrede gar nicht. Ein Kind, das sagen würde: »Ich bin ein Kind«, ein Wilder, der sagen würde: »Ich bin ein Wilder«, ein Wahnsinniger, der sagen würde: »Ich bin wahnsinnig«, würden aufhören zu sein, was sie von sich selbst sagen, es sei denn, sie sagen nur nach, was andere von ihnen sagen. Überall, wo die Grenze eines Lebens- und Erfahrungsbereichs überquert wird, gibt es ein Reden, das an der Grenze, nicht von der Grenze spricht und das über eine Schwelle hinweg spricht, ohne diese aufzuheben. Der Rest ist Rationalisierung, das heißt ein Versuch, auch noch das Zu-Ordnende in der jeweiligen Ordnung unterzubringen. Warum aber sollte eine Theorie einhelliger sein als die Wirklichkeit?
ANSCHLUSSSTELLEN UND STÜTZPUNKTE
Zwischen Hund und Wolf. – Laut Grimms Deutschem Wörterbuch (1954) liegt der ersten Worthälfte von Zwie-licht, twi-light »nicht eigentlich die Bedeutung ›doppelt‹ zugrunde, sondern die Vorstellungen ›halb, gespalten, geteilt‹ oder ›zweifelhaft, schwankend‹, wie sie von ›doppelt‹ aus sich leicht ergaben«. So bedeutet ›Zwielicht‹ 1. das schwache Licht in der Abend- und Morgendämmerung, 2. die dämmrige Beleuchtung überhaupt und schließlich 3. ›Unbestimmtheit, Unklarheit‹ im bildlichen Sinne. (Daß Unbestimmtheit keine bloße Privation ist, sondern Ingrediens einer jeden Erfahrung, gehört zum ABC der von Husserl ausgehenden Phänomenologie; vgl. etwa Huss. XIX/1, 410; 1, 83). Im Französischen wandert das Zwielichtige hinüber in einen Zwischenzustand sich ausbreitender Unkenntlichkeit, der nicht ohne Gefahr ist: entre chien et loup. Griechisch gesprochen breitet sich ein Wolfslicht (λυϰόφως) aus, ein Schattenspiel, das der Sonne Homers durchaus nicht fremd ist (vgl. Bremer 1976). Im Japanischen zerteilt sich die Zwielichtigkeit selbst noch in eine doppelte Dämmergestalt; Morgendämmerung heißt Kawatare = ›er (ist) wer?‹ und Abenddämmerung Tasogare = ›wer (ist) er?‹ Gott oder Wolf. – Das Motto homo homini lupus, das von Hobbes berühmt gemacht, aber keineswegs erfunden wurde, ist das Negativ eines griechischen Sprichworts, das den Menschen für den Menschen einen Wohltäter sein läßt: homo homini deus. Vgl. Tricaud 1969.
KAPITEL A: AUF DER SCHWELLE ZWISCHEN ORDNUNG UND UNORDNUNG Zu A 1 Ordnungsdefinitionen. – Der in der Ausgangsdefinition verwendete Regelbegriff (der auch durch einen entsprechend weit gefaßten Gesetzes- oder Normbegriff ersetzt werden könnte, vgl. etwa G. H. v. Wright: Norm and Action) beschränkt sich nicht, wie heute zumeist üblich, auf die Bedeutung von Verhaltens- oder Handlungsvorschriften bzw. Verhaltens- oder Handlungsmuster. Denn obwohl unsere Überlegungen sich thematisch weitgehend auf sozio-kulturelle Ordnungen beschränken, bedarf es doch eines Denkrahmens, der weit genug ist, den Kontrast zwischen klassischen und modernen Ordnungskonzeptionen überhaupt in den Blick zu bringen. Auf kosmische Ausblicke könnte man nur dann verzichten, wenn etwa der griechische Kosmos bloßes Produkt mangelnder Distinktion wäre, so daß eine analytische Sezierarbeit, wenn nicht leichtes, so doch gewonnenes Spiel hätte – bis hin zur Reduzierung der platonischen Ideenschau auf ein know how des Handelns. Immerhin braucht noch Kant den Regelbegriff, ungeachtet aller Brüche zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, auch im Bereich der Natur. Ordnungsvielfalt. – Was die Vielfalt von Ordnung in den verschiedenen Sach- und Lebensbereichen und in den zugehörigen Disziplinen angeht, so sei nachdrücklich verwiesen auf den von Paul G. Kuntz besorgten Sammelband: The Concept of Order (1968), auf den wir uns mehrfach beziehen. Geschichte und Wandel des Ordnungsbegriffs. – Neben dem ausführlichen Artikel ›Ordnung‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie vgl. zur platonischen Herkunft des metaphysischen Ordnungsbegriffs Helmut Kuhn (1962, Kap. III), zum mittelalterlichen Ordo Hermann Krings (1982). Die Autoren des unter dem Titel Problem der Ordnung herausgegebenen Kongreßbandes (Kuhn/Wiedmann 1962) suchen dem »Ordnungsschwund«, den Hans Blumenberg im Spätmittelalter einsetzen und in einen Prozeß der »Selbstbehauptung« einmünden läßt (s. auch 1974, 158 ff.), zumeist mit probaten ontologischen, transzen-
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dentalen, hermeneutischen oder existenzphilosophischen Mitteln beizukommen. Zur neueren Konzeption variabler Ordnungen, in der Zufall, Wahrscheinlichkeit, Komplexitätsgefälle und Selektion eine konstitutive Rolle spielen, findet man mehr in dem erwähnten Sammelband von Kuntz, und zwar namentlich in den Beiträgen von J. K. Feibleman, P. Weiss, J. C. Greene und Ch. Hartshorne, die sich in der hierzulande allzu wenig beachteten Tradition von Peirce und Whitehead bewegen. Ordnung ohne Gegenpart? – In einer frühen Schrift von Augustinus heißt es: »›Sage wenigstens, was du für das Gegenteil der Ordnung hältst! – ›Nichts‹, sagte er, ›denn wie kann es das Gegenteil zu einer Sache geben, die das Ganze eingenommen, das Ganze innehat? Was nämlich der Ordnung entgegengesetzt wäre, müßte sich notwendig außerhalb der Ordnung befinden; ich sehe aber nichts, was sich außerhalb der Ordnung befindet: folglich darf man keinen Gegensatz zur Ordnung annehmen.‹ – ›Also ... ist der Irrtum der Ordnung nicht entgegengesetzt? ...‹« (De ordine I, 6, 15, Üb. E. Mühlenberg, Artemis).
Dagegen bei Schelling: »Immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unbegreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest ...« (Ausgewählte Werke, Bd. 5, Darmstadt 1968, 303 f.).
Zu A 4 Verzweigte Evolution. – In einer Evolution, die nicht auf einen eindeutigen Gipfelpunkt zusteuert, ist das Menschliche nur zu fassen im Sinne einer anthropologischen Differenz. Den Spielraum, den die mangelnde Spezialisierung und Festlegung der menschlichen Ausstattung eröffnet, füllt der Mensch mit Artefakten: technischen Geräten, sozialen Regeln und Zeichen, die in spezifischer Weise auf die »biologische Herausforderung« antworten. Unter dieser Perspektive präsentiert Frank Tinland die reichen Erträge von Technikgeschichte, Sozialanthropologie und Linguistik, soweit diese sich mit der ordnungsstiften-
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den Andersheit des Menschen befassen (La différence anthropologique, Essai sur les rapports de la Nature et de l’Artifice, 1977). Zu A 7 Kosmogonischer Geist. – Ein schillerndes Exempel aus neuerer Zeit: »The mind, in short, works on the data it receives very much as a sculptor works in his block of stone. (...) Other sculptors, other statues from the same stone! Other minds, other worlds from the same monotonous and inexpressive chaos!« (W. James, Principles of Psychology I, 288 f.).
Das Bewußtsein tritt das Amt des Demiurgen an, indem es auswählt und ausläßt – »selection of some, suppression of the rest«. So entsteht kein Kosmos, sondern eine Welt unter anderen möglichen Welten. Wonach wird ausgewählt, wenn das Material eintönig und ausdruckslos ist und keine Sphärenharmonie nach alter Weise tönt? Und was wird aus dem ›Rest‹? Kritisch äußert sich dazu Aron Gurwitsch (1975, § 4), der auf das Problem der ersten Aussonderung und der Stabilisierung des Ausgesonderten hinweist und sich, mit der Berliner Gestalttheorie und ähnlich wie Merleau-Ponty, für eine autochthone Organisation der Erfahrung ausspricht. Zu A 8 Ordnung des Gesprächs. – Daß die Ordnung im Gespräch nicht von einer steuernden Instanz ausgeht, sondern der wechselseitigen Anknüpfung von Äußerungen entstammt, führt zu einem ›Zwischenreich‹, dessen niemand Herr ist. Diesen Gedanken habe ich in meinem Zwischenreich des Dialogs (1971, abgekürzt ZD) ausführlich entwickelt, ausgehend von Husserl, Merleau-Ponty und der sog. Dialogphilosophie, bestärkt durch den andersartig akzentuierten Versuch von Michael Theunissen (Der Andere). Inzwischen sehe ich meinen frühen Versuch noch allzu sehr eingebettet in den Horizont eines teleologisch sich entfaltenden Logos, und so bin ich dazu übergegangen, das Zwischen diskursiv zu radikalisieren (s. meine Selbstrevision in dem Aufsatz »Dialog und Diskurse«, 1986, ferner unten: A 10). Auf dem Weg dahin habe ich viel gelernt von linguistischen Theorien (F. de Saussure, K. Bühler, R. Jakobson, M. Bachtin/V N. Vološinov, L. S. Wygotski, H. Hörmann) sowie von Interaktions- und Gesprächsanalysen im Gefolge von G. H. Mead, A. Strauss, A. Schütz und H. Garfinkel; ich
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verweise diesbezüglich auf meinen Aufsatzband Der Spielraum des Verhaltens (1980, abgekürzt SV, bes. Kap. 7, 9, 10, 12.). Reihung, Verkettung. – Schon in der Stoa werden der Physis zwei verschiedene Ordnungsformen zugewiesen: das Gefüge bleibender Wesensformen (σύστημα) und die Kette der Ursachen (εἱρμὸς αἰτιῶν, series causarum); erstere nötigt zur Übereinstimmung mit dem Ganzen (ὁμολογία), letztere zum Eingreifen im rechten Augenblick (εὐϰαιρία) (vgl. Forschner 1981, 209 f.). Diese Ereigniskette ist natürlich nicht gleichzusetzen der »großen Kette der Wesen«, die – wie Homers goldene Kette – vom Himmel zur Erde hinabhängt (vgl. unten: zu C 4). Entfernter Hinweis auf eine Achsenverschiebung in der Mathematik: »Der Weg der mathematischen Begriffsbildung war – wie sich im Gegensatz zu der traditionellen logischen Lehre zeigte – durch das Verfahren der Reihenbildung bestimmt. Nicht darum handelte es sich, aus einer Mehrheit gleichartiger Eindrücke das Gemeinsame herauszuschälen, sondern ein Prinzip festzustellen, kraft dessen das Verschiedene auseinander hervorgeht.« (E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 196).
Ein noch entfernterer Hinweis auf die Historie: In der historischen Schule der Annales wird der Ereignisgeschichte eine serielle Geschichte entgegengestellt. Serie bedeutet hier eine homogene, statistisch-gesetzmäßige Abfolge wiederkehrender Tatsachen, also eine geregelte Form von Anknüpfungen. Diese anonymisierende Langzeitperspektive läßt sich natürlich auf alle Handlungs- und Gesprächsabläufe anwenden. Wären Rede- und Handlungsereignisse aber nichts weiter als solche repetierbaren Kettenglieder, so wäre der Wandel von Ordnung nur noch zu konstatieren, nicht mehr zu begreifen. Ordnungswandel kann nur als Wandel verstanden werden, wenn die Regelung der Anknüpfungen eine mehr oder weniger offene Regelung ist. Zur Methodik und Problematik einer seriellen Geschichtsauffassung, die auch bei Foucault ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat, vgl. Ricœur, Temps et récit, I, 152 ff. Asymmetrie im Gespräch. – Daß Partner eines Gesprächs nicht in gespiegelter Form dasselbe tun, gehört zu den Grundeinsichten einer Dialogphilosophie, die der funktionalen Einheit eines Ich-Subjekts oder der zirkulären Geschlossenheit einer Wir-Gemeinschaft die Differenz von ›ich‹ und ›du‹ entgegensetzt (vgl. ZD 149-151, 306 f.). Die
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Asymmetrie nimmt eine radikale Form an, wenn der umgreifende Logos des Dialogs sich selber zerteilt und vervielfältigt. Dazu Emmanuel Levinas: »Die Abwesenheit des anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen« (Die Zeit und der Andere, 65). Zur Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen vgl. Totalité et infini, 24, 190 f., Autrement qu’être..., 152, 201.
Ferner Michail Bachtin: »Frage und Antwort sind keine logischen Beziehungen (Kategorien); man kann sie nicht in einem einzigen (einheitlichen und in sich geschlossenen) Bewußtsein unterbringen; jede Antwort gebiert eine neue Frage. Frage und Antwort setzen wechselseitige Außerhalbbefindlichkeit voraus. Wenn die Antwort nicht aus sich heraus eine neue Frage gebiert, fällt sie aus dem Dialog heraus und geht in die systematische Erkenntnis ein, die ihrem Wesen nach unpersönlich ist. Der Dialog setzt die verschiedenen Chronotopen des Fragenden und des Antwortenden voraus (ebenso die verschiedenen Sinn-Welten – ›ich‹ und ›der andere‹). Frage und Antwort werden vom Standpunkt eines ›dritten‹ Bewußtseins und seiner ›neutralen‹ Welt aus unweigerlich depersonifiziert.« (Die Ästhetik des Wortes, 352) Bei einem dialogischen Autor wie Dostojewski ist der große Dialog »als nicht abgeschlossenes Ganzes konzipiert, in dem das Leben stets auf der Schwelle dargestellt wird« (Probleme der Poetik Dostoevskiis, 71).
Zur empirischen Untersuchung der Asymmetrie von Sprechen und Hören: W. Deutsch und R. J. Jarvella in: Graumann/Herrmann 1984. Zur Asymmetrie im pragmatischen Konsens: » a weiß, daß b glaubt, daß S p«, »b weiß ...« – eine beidseitige Annahme, die nicht in den sachlichen Konsens eingeht – vgl. Jacques 1986, 344 ff. Sagen und Gesagtes. – Zum Ereignis des dire und dédire, das in seiner Diachronie im Gehalte des dit niemals aufgeht, vgl. Levinas, Autrement qu’etre ..., 6 f., 58 ff. und Kap. V. Diese Unterscheidung schlägt auf den Sprecher zurück, und damit eröffnen sich Zusammenhänge zur sprachtheoretischen Unterscheidung von sujet de l’énonciation und sujet de l’énoncé, die von Lacan (Ecrits, 664, 800, dt. II, 174) über Jakobson (1974 b, 35 ff.) zu Husserls Lehre von den okkasionellen Ausdrücken zurückreicht. Siehe auch unten zu D 8: hybride Redeformen. Hier liegen Möglichkeiten bereit, das dialogische Geschehen weiterzudenken, auf die ich an anderer Stelle zurückzukommen hoffe.
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Laterale Allgemeinheit. – Von einem universel latéral spricht MerleauPonty in seinen ethnologisch ausgerichteten Überlegungen zu Mauss und Lévi-Strauss (s. Métraux/Waldenfels 1986, 20). In seinem letzten Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare werden unter Stichworten wie Verflechtung, Ausstrahlung, Übergreifen oder Überschreiten horizontale Verknüpfungsformen angezielt, die sich zu Geflechten, Geweben, Konstellationen und Konfigurationen verdichten. – Im Rahmen epistemologischer Erwägungen setzt Castoriadis der vertikalen Organisation der traditionellen Wissenschaftstheorie eine »gefächerte Organisation« entgegen – »eine unbegrenzt in die Tiefe hinein verlaufende Formation von Schichten, die stets organisiert, aber niemals vollständig organisiert, die stets verknüpft, aber niemals vollständig verbunden sind« (Durchs Labyrinth, 149). Statt von lateraler oder horizontaler könnte man auch von konsonantischer Allgemeinheit reden, nämlich von einer Allgemeinheit, die mitanklingt, ohne vokalisch den Ton anzugeben. Daß sich von daher Brücken schlagen lassen zu Walter Benjamins »Konstellationen« und zu einem Allgemeinen, das »im Zentrum der individuellen Sache haust« (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 162), scheint mir unbestreitbar. Von einem »Affekt gegen das Allgemeine« ist in der Tat nichts zu erwarten, was weiterführt, doch gibt es verschiedene Formen des Allgemeinen. Zu A 9 Handeln als offene Auseinandersetzung. – Diese Konzeption findet sich in Kurt Goldsteins biologisch fundierter Verhaltenstheorie: Der Aufbau des Organismus, woran Merleau-Ponty sich in seinem frühen Werk Die Struktur des Verhaltens ausdrücklich anschließt (s. Vorwort). Aufforderungscharaktere und Gefordertheiten. – Die Gestalttheorie, die in der Wahrnehmungstheorie so entschieden die Dualität von roher Materie und äußerlich aufgeprägter Form ablehnte, mußte dort, wo sie sich zur Verhaltenstheorie ausweitete, ebenfalls die Dualität von Gegebenem und Gerolltem oder Gefordertem unterminieren. So heißt es bei Kurt Lewin (1926, 317): »Die Wahrnehmung eines Gebildes oder Ereignisses kann ... 1. das Entstehen eines bestimmten gespannten seelischen Systems veranlassen, das vorher zumindest in dieser Form nicht bestanden hat: ein solches Erlebnis veranlaßt etwa unmittelbar eine Vornahme, oder ein Verlangen wird geweckt, das bis dahin noch nicht vorhanden war.
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2. Ein an sich bereits bestehender Spannungszustand, der etwa auf eine Vornahme, ein Bedürfnis oder eine halberledigte Handlung zurückgeht, spricht auf einen bestimmten Gegenstand oder Ereignis, das z. B. wie eine Lokkung erlebt wird, an, derart, daß gerade dieses gespannte System nunmehr die Herrschaft über die Motorik erhält. Von solchen Gegenständen wollen wir sagen, sie besäßen einen ›Aufforderungscharakter. 3. Derartige Aufforderungscharaktere wirken zugleich (ebenso wie gewisse andere Erlebnisse) als Feldkräfte in dem Sinne, daß sie die psychischen Prozesse, vor allem die Motorik, im Sinne einer Steuerung beeinflussen. 4. Gewisse zum Teil durch Aufforderungscharaktere veranlaßte Hantierungen führen zu Sättigungsvorgängen resp. zu Erledigungen von Vornahmen und damit zum Ausgleich der Spannungen des zugrunde liegenden Systems auf einem Gleichgewichtszustand niederen Spannungsniveaus.«
Beispiele: »Das schöne Wetter, eine bestimmte Landschaft locken zum Spazierengehen. Eine Treppenstufe reizt das zweijährige Kind zum Heraufklettern und Herunterspringen; Türen reizen es zum Auf- und Zuschlagen, kleine Krümchen zum Auflesen, ein Hund zum Streicheln; der Baukasten reizt zum Spielen; die Schokolade, das Stück Kuchen will gegessen werden usw.« (350)
Oder bei Wolfgang Köhler (1968, 242 f.): »Eine Tatsache, ein Gebilde oder eine Handlung wird innerhalb eines Zusammenhanges von anderen Tatsachen, Gebilden oder Handlungen gefordert. Dies gilt sowohl für negative als auch für positive Gefordertheit ... Innerhalb des betreffenden Zusammenhanges ist die Gefordertheit ein abhängiges Charakteristikum, das kein selbständiges Dasein für sich ohne die Gebilde hat, die in diesen Zusammenhängen zueinander passen oder nicht passen. ... Jede Gefordertheit transzendiert von bestimmten Teilen eines Zusammenhanges zu anderen Teilen desselben Zusammenhanges. Wie alle anderen Arten von Bezogenheit ist sie in diesem Sinne ein gerichteter überörtlicher Tatbestand, ein Vektor, der nicht in Stücke geteilt werden kann, die nur ein örtliches Dasein haben. ... Die Gefordertheit unterscheidet sich deutlich von anderen Formen der Bezogenheit durch ihren fordernden Charakter. Sie schließt Akzeptierung oder Ablehnung des augenblicklichen Status des betreffenden Zusammenhanges ein, oft spezieller die Akzeptierung oder Ablehnung von einem Teil durch den Rest des Zusammenhanges. Dieser fordernde Charakter hat Grade von Intensität.«
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Schließlich der Pädagoge M.J. Langeveld (1968, 146f.): »Wir kennen den eigentümlichen Appell der Dinge, der auch für Kinder so besonders wichtig ist. Irgendeine Dingeigenschaft appelliert an uns, und der Gegenstand spricht uns sozusagen im Gerundivum an: der Gegenstand verlangt von uns, daß wir etwas mit ihm tun.«
Parallel dazu haben Scheler, Heidegger, zögernder auch Husserl (vgl. etwa Huss. IV), zu einer Revision des traditionellen Empfindungsbegriffs angesetzt (s. dazu SV, Kap. 4). In Merleau-Pontys Wahrnehmungslehre, die von einer Symbiose von Organismus und Welt ausgeht, spielen Appell, Aufforderung, Anspruch und Herausforderung der Dinge vollends eine zentrale und sich steigernde Rolle. Vgl. zu diesem gesamten Themenkomplex die gründliche Darstellung bei Käte Meyer-Drawe (1984, 166 ff.). Rohe Empfindung. – Daß die Roheit und Ausdruckslosigkeit der Empfindung auch etwas mit der gesellschaftlich bedingten Rohheit und Kargheit des Blicks zu tun hat, deutet der junge Marx an (MEW, Ergänzungs-Bd. I, 542): »... der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals; er hat keinen mineralogischen Sinn...«
Wenn das auch bei Novalis stehen könnte oder sonstwo, um so besser. Jedenfalls gibt es auch eine Ökonomie des Blicks. Mitwirkung der Dinge. – Ähnlich wie man in der Semiotik Mitteilungen ohne Adressenten annimmt (Jakobson 1974 b, 168 f.), so könnte man in der Praktik von einer Mitwirkung ohne Akteur sprechen, ohne damit die informationstheoretische Zerstückelung der Kommunikation zu übernehmen. Aufforderung versus Herausforderung. – Haben wir mit der handlungstheoretischen sententia communis nicht übertrieben? Nehmen wir ein Beispiel, das uns eines Besseren zu belehren scheint, die weiträumig angelegte Rekonstruktive Pragmatik von Dieter Böhler, wo neben der Zielrichtung und den normativen Ansprüchen dem Situationsbezug eine zentrale Rolle zugesprochen wird, und zwar in der Bestimmung der Handlung als Antwort auf eine Herausforderung durch die Situation. Doch alsbald beginnen die Reservationen. 1. Herausforderung ist
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nicht Aufforderung, denn die Situation enthält nur das Daß eines antwortenden Verhaltens, kein Was (260). (Gegenfrage: Wäre eine solche richtungslose Herausforderung mehr als ein bloßer Schock?), 2. Diese Frage-Antwort-Relation ist nur quasi-dialogisch, weil die Reziprozität fehlt (257). (Gegenfrage: Kann man antworten auf etwas, das zu nichts auffordert?). 3. Dieses »Defizienzmodell« (329) verlangt nach dem vollgültigen Dialog, der uns mit Fremd- und Selbstaufforderungen konfrontiert und so auch mit Geltungsansprüchen, die den Dialog auf bekannte Weise zum »uneingeschränkten Dialog« erheben. Für die »Situationsgerechtigkeit« bleibt nur noch der Erfolg übrig, der eine Antwort auf die Situation als passend, angemessen, schließlich als richtig erscheinen läßt wie beim bloßen Abfragen (333-338). Daß der Situation nicht einfach abzulesen und zu entnehmen ist, was zu tun ist, sei gern zugegeben, doch bleibt als Alternative nur die merkwürdige Konstruktion einer Selbstaufforderung, die zwischen Situation und Handeln tritt (319)? Wie, wenn dem, was in der Situation begegnet, eine Mitsprache zukäme? Zu A 10 Akt und Ereignis. – Wenn man, wie Georg Henrik von Wright und viele andere, act als ein »effecting (›at will‹) of a change« vom event als einem »change in the world« absondert, so ist vorweg bereits zwischen dem, was von einem Handelnden ausgeht, und dem, was die Dinge und die Mithandelnden hinzutun, geschieden, und zwar ausdrücklich nach dem Muster von Aktivität und Passivität, das im Falle »kollektiver« Handlungen nur individuelle Akte zuläßt, die durch »vereinte Anstrengungen« miteinander verbunden sind (Norm and Action, 35-38). Man kann nicht umhin, von ontologischen Vorentscheidungen zu sprechen, die sich hinter der im übrigen durchaus hilfreichen Unterscheidungsarbeit verbergen. Auch die Handlungslogik verlangt nach einer Genealogie. Responsivität und Dialogizität. – Kurt Goldstein spricht im Falle des Kranken von einer mangelnden Responsivität (1934, 270). Vgl. dazu die dialogische Sprachtheorie von Bachtin und Vološinov: »Das Wort wird im Dialog als seine lebendige Replik geboren, es erlangt seine Form in der dialogischen Wechselwirkung mit dem fremden Wort im Gegenstand. Der Entwurf des Gegenstandes durch das Wort ist dialogisch.
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Aber darin erschöpft sich die innere Dialogizität des Wortes keineswegs. Jedes Wort ist auf eine Antwort gerichtet ...« (Vološinov 1975, 129)
Zu entsprechenden Möglichkeiten einer pragmatischen Dialogik vgl. das unter B 7 erwähnte Werk von Jacques. Handeln und Unterlassen. – Von einer responsiven Handlungstheorie fällt auch einiges Licht auf das Problem der Unterlassung von Handlungen, deren Unterscheidung vom bloßen Nichthandeln jedem Juristen eine Selbstverständlichkeit ist, die der Handlungs- und Normenlogik aber besondere Schwierigkeiten macht. So läßt sich die Formel [~p] x ➝ ~ [p] x (zu lesen: »Wenn jemand die mit p bezeichnete Handlung unterläßt, so führt er diese Handlung nicht aus«)
nicht einfach umkehren. Ein Analphabet ›unterläßt‹ nicht das Lesen (vgl. v. Wright, in: Lenk 1974, 14 f., ausführlicher: v. Wright 1963, Kap. III). G. H. v. Wright rekurriert hier unter anderem auf ein Können (ability), um den Unterschied zu artikulieren. Von uns aus käme eine Anforderung hinzu, auf die man zu antworten hat, und zwar derart, daß noch die Verweigerung der Antwort eine Antwort wäre (»Wir können nicht nicht kommunizieren«, Watzlawick); diese Antwort läge noch vor der Schwelle allgemeiner Gebote und Verbote, und sie ließe sich auch nicht normativ einfangen, indem man Aufforderungen wie »N. N., öffne jetzt gleich das Fenster« in partikulare Vorschriften umdeutet (so v. Wright 1963, 81). Solche Unterlassungen übergreifen den Unterschied von Reden und Handeln; ein Verschweigen kann nicht wahr oder falsch sein, aber übervorsichtig oder auch – wie im Falle des Hehlers – gesetzeswidrig. Eine responsive Rede- und Handlungstheorie würde also über eine bloße Satztheorie wie über eine bloße Tattheorie hinausgehen. Abermals wäre das Sagen und das Tun mehr als das Gesagte und das Getane. Zu weiteren Konsequenzen daraus siehe unten F 3.
KAPITEL B: ORDNUNG ALS SELEKTION UND EXKLUSION
In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die bekannten phänomenologischen, gestalttheoretischen und pragmatischen Feldtheorien mit Theorien einer sozialen Szenerie wie denen von G. Politzer, E. Goffman oder P. Bourdieu, mit narrativen Handlungstheorien und schließlich mit Foucaults Diskurstheorie in einen fruchtbaren Austausch zu bringen. Ergänzend verweise ich auf meinen Foucault-Aufsatz (»Verstreute Vernunft«) und den schon erwähnten Aufsatz über »Dialog und Diskurse« (beide 1986), wo ich der Auffächerung des großen Dialogs in regionale und spezifische Diskurse nachgehe. Zur Rückverlagerung der Normenproblematik in Erfahrungs-, Rede- und Handlungsfelder erwähne ich meinen programmatischen Entwurf »Die Herkunft der Normen aus der Lebenswelt« (In den Netzen der Lebenswelt, 1985, abgekürzt NL, Kap. 7), den ich an dieser Stelle fortsetze. Zu B 1 Moralisches Handeln im Kontext. – »Like money, the moral dimension can be a universal form for which almost anything can be done ... The moral act, the move in human relationships, is therefore more than the activities of making, servicing, exchanging, and simple doing, but it is ... more without being separate, without being radically other ... A move in the web of human relationships is never an act just by itself; it needs to be embodied ...«
So Robert Sokolowski in seiner Aristoteles und Husserl gleichermaßen verpflichteten Studie Moral Action (47 f.), die aus der antiken Ethik herausholt, was herauszuholen ist, aber eben auch die Bestimmung moralischer Akte als »being-at-work of human nature« (51), die dem Selektionsund Exklusionsdruck konkreter Handlungsordnungen ausweicht und Konflikte aufs Kasuistische beschränkt, wo sie im Rückgriff auf ungewollte Nebenwirkungen, Gesetzesbefehle und Güter-Schaden-Abwägungen bewältigt werden (106 ff.). Vgl. dazu unsere kritische Analyse: C 2-4
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Zu B 2 Intrige. – Ricœur gebraucht diesen Terminus in seiner Theorie der Narrativität zur Wiedergabe des μῦϑος der aristotelischen Mimesis-Lehre (Temps et récit I, 57 ff.). Zuvor hatte schon Paul Veyne diesen Ausdruck benützt zur Kennzeichnung einer »sehr menschlichen und wenig ›wissenschaftlichen‹ Mischung aus Materialursachen, Zielen und Zufällen« (Comment on écrit l’Phistoire, 46). Zu B 3 Feldbegriff. – Zum Bedeutungspotential des in der Physik entwickelten Feldbegriffs siehe Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism, II, 176 f.: »We are accustomed to consider the universe as made up of parts, and mathematicians usually begin by considering a single particle, and then conceiving its relation to another particle, and so on. This has generally been supposed the most natural method. To conceive of a particle, however, requires a process of abstraction, since all out perceptions are related to extended bodies, so that the idea of the all that is in our consciousness at a given instant is perhaps as primitive an idea as that of any individual thing. Hence there may be a mathematical method in which we proceed from the whole to the parts instead of from the parts to the whole. For example, Euclid, in his first book, conceives a line as traced out by a point, a surface as swept out by a line, and a solid as generated by a surface. But he also defines a surface as the boundary of a solid, a line as the edge of a surface, and a point as the extremity of a line (...) He (Faraday) never considers bodies as existing wich nothing between them but their distance, and acting on one another according to some function of that distance. He conceives all space as a field of force, the lines of force being in general curved, and those due to any body extending from it on all sides, their directions being modified by the presence of other bodies.«
Zur handlungstheoretischen Umarbeitung des Feldbegriffs vgl. Kurt Lewin, Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bei Phänomenologen, angefangen bei Husserl, der in den Ideen von einem »Feld der Freiheit« (Huss. III, 195), einem »Feld der Praxis« (Huss. VI, 261) spricht, bis hin zu Merleau-Pontys Phänomenfeld (champ phénoménal) (1966, 75 ff.) und Aron Gurwitschs Bewußtseinsfeld, wird der Feldbegriff zum zentralen Bestandstück einer Theorie offen-endlicher Erfahrung.
ORDNUNG ALS SELEKTION UND EXKLUSION
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Sinn und Kraft. – Dies ist kein Begriffspaar, das der reinen Phänomenologie entstammt. So spricht Husserl etwa an einer Nachlaßstelle (C 16 III, 1932, S. 9-10) mit Max Weberschen Tönen von einem »wechselseitigen Sichdurchsetzen von Interessen«, um doch anschließend die »Einstimmigkeit gerichteten Lebens in der Einheit eines totalen Interesses« zu beschwören. Die Lage ändert sich dort, wo Marx, Nietzsche und Freud ins Blickfeld geraten. Bei Scheler treten in der Geschichte Idealfaktoren den Realfaktoren an die Seite, was noch eine säuberliche Grenzziehung erlaubt. Um spätere Texte zu zitieren: Ricœur erörtert in seinem Freud-Buch, im Kapitel über die Archäologie des Subjekts, den Zusammenhang von intention und tension, zurückgreifend auf den conatus bzw. appetitus von Spinoza und Leibniz, und der frühe Derrida fügt in einem literaturtheoretischen Essay ausdrücklich »Kraft und Bedeutung« zusammen (s. Die Schrift und die Differenz). Zu B 4-6 Thema, Interesse, Relevanz. – Thema und Interesse sind Begriffe, die schon zeitig bei Husserl auftauchen (vgl. Huss. III, § 122; IV, § 5; weitere Belegstellen: ZD 88 ff.). Eng benachbart ist die sorgliche Unterscheidung von aktiver Aufmerksamkeit (Suchen) und passiver Aufmerksamkeit (Sichaufdrängen), von Auffälligkeit des Gegenstandes, Interessenrichtung und Milieurahmen, wie wir sie bei Scheler im Formalismus in der Ethik (158 f.) finden. Ein weiterer bahnbrechender Autor ist William James mit seiner Unterscheidung von object und topic – letzteres ein Wort, das auf die rhetorische Topik zurückweist – und mit seiner Betonung der selectivity des Bewußtseins (Principles of Psychology I, 275 ff. bzw. 284 ff.), die in Bergsons selektiver attention á la vie ihr Pendant findet. Die Bevorzugung bestimmter Wahrnehmungsgestalten, die sich in den bekannten Gestaltgesetzen bekundet, hat Kurt Goldstein zur Bevorzugung ausgezeichneter Bewegungs- und Verhaltensweisen ausgeweitet (1934, 219 ff.) Diese philosophischen und gestalttheoretischen Anregungen sind allesamt eingegangen in Gurwitschs Theorie des Bewußtseinsfeldes und in Schütz’ Theorie der umschriebenen Sinnprovinzen, der vielfältigen Realitäten und der Typenbildung. Zur neueren Forschung vgl. Grathoff/Waldenfels 1983.
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Thema im sprachtheoretischen Sinne. – Vološinov (1975, 163 ff.) versucht die Realisierung eines sprachlichen Sinnes von zwei Grenzbegriffen aus zu fassen. Obere Grenze des sprachlichen Sinnes ist das einheitliche, konkrete, kontextuelle Thema, das an die historische Situation gebunden bleibt, untere Grenze ist die abgelöste, isolierte Bedeutung. Wäre eine dieser beiden Grenzen erreicht, so würden wir zur reinen Differenz singulärer Einmaligkeit oder aber zur reinen Identität bloßer Wiederholung gelangen. Der reinen Produktion stünde im äußersten Falle eine reine Reproduktion gegenüber, was von dem Herausgeber S. Weber (Vorwort, S. 29 ff.) mit Recht kritisiert wird. Siehe dazu unten E 3. Cur potius quam. – Daß die Frage nach der Organisation der Welt erst dann eine radikale Form annimmt, wenn die Leibnizsche Formel des potius quam ständig mitbedacht wird, ist nach wie vor aus Heideggers Schrift Vom Wesen des Grundes zu lernen, selbst wenn die Abgründigkeit nicht so geradewegs in Freiheit umzumünzen ist. Zum historischen Umfeld des Satzes vom zureichenden Grunde: Lovejoy 1985, Kap. V. Ontologische Deutung des Gestalthaften. – Wichtig ist, daß der Auftritt von ›etwas‹ und ›jemand‹ nicht als bloß phänomenale Gestaltbildung verstanden wird, die sich dann zwangsläufig um eine reale Unterlage verdoppelt, sondern daß sie vielmehr verstanden wird als Herausbildung eines ontologischen Reliefs, bis hin zur »festen Wand« eines Milieus (Scheler, a.a.O.): etwas oder jemand ist, indem es oder er sich abhebt. Zum ›etwas‹ oder jemand‹, diesseits von Wesen und Tatsache, von Allgemeinem und Besonderem, vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 142-212, zur ontologischen Deutung von Gestalt und Gestalthaftem vgl. die entsprechenden Wörter im dortigen Index. Zu B 6 Typik und Wiederholung. – »Die Berechenbarkeit eines Geschehens ... liegt in der Wiederkehr ›identischer Fälle‹«, die nicht ohne Grund auf Gänsefüßchen daherkommen (Nietzsche, III, 768). Zu B 7 Zeigfeld. – Zur Verankerung von Reden und Handeln in einem Zeigfeld: Karl Bühler, Sprachtheorie, Teil II.
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Logischer Gesprächsraum. – Zur Ausbildung eines »espace logique de l’interlocution«, der bestimmte einschränkende Anfangs-, Verlaufsund Beendigungsbedingungen setzt, sei verwiesen auf die überaus gründlichen und weit gesteckten dialogischen Untersuchungen von Francis Jacques (Dialogiques, 1979, dt. 1986), die sich auf die dialogisch-sprachliche Arbeit am Referenten konzentrieren. Was traditionell ›Objekt‹, ›Subjekt‹ und ›Mitsubjekt‹ heißt, wird in der Form von coréférence und rétroréférence aus dem Gesprächsaustausch neugewonnen. Die Begrenzung des Themenfeldes läuft in dieser Sprachpragmatik über die Präsuppositionen, die in jeder Ausgangsfrage stecken und die den weiteren Gesprächsverlauf in bestimmte Bahnen lenken (1986, 168 ff.). Innerhalb des mit idealisierenden Voraussetzungen arbeitenden Dialogmodells verlieren die Gesprächsschranken allerdings an Gewicht, das sie in dem abschließenden Ausblick auf eine »ideale und unbeschränkte Kommunikationsgemeinschaft« nicht zurückerhalten. Die ausgesparten institutionellen Zwischenstufen müßten, so meine ich, der vorsichtig anvisierten Endstufe Abbruch tun. Topologie und Chronologie. – Wichtige Ansätze zu einer politischen Topologie des Redens und Handelns finden sich bei Hannah Arendt, Vita activa, Kap. 5. Das »Bezugsgewebe« menschlicher Rede und Handlung befindet darüber, was jemand ist; im Hintergrund steht die öffentliche Agora der Griechen, das öffentliche Forum der Römer, woran freilich allzu umweglos Maß genommen wird. – Die Raumund Zeitstruktur des Handelns spielt auch eine merkliche Rolle in Bourdieus ethnologisch untermauerten Überlegungen zu einer Theorie der Praxis (1976), die sich inzwischen zu einer Theorie des sozialen Raumes (1985) nicht nur verdichtet, sondern auch verhärtet hat. Ein Balanceakt zwischen Subjektivismus und Objektivismus gerät zu einem Doppelspiel, wenn die antithetischen Versatzstücke nicht umgeschmolzen werden. Selektion und Exklusion gesellschaftlicher Diskurse. – Foucault schreibt in Die Ordnung des Diskurses, S. 7: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selegiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenhaft Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«
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KAPITEL B
Entscheidend ist die Einsicht, daß Selektion und Exklusion in die ›Produktion‹ selber eingebaut sind – ein Gesichtspunkt, der sich in Foucaults späteren Schriften noch verstärkt, aber Gefahr läuft, den Diskurs einem bloßen Spiel der Macht zu überantworten (siehe unten C 9). Daß die »räumliche Metapher von einschließender und ausschließender Vernunft ... an den Voraussetzungen der Subjektphilosophie haften bleibt« (J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 360), leuchtet allerdings nur dann ein, wenn man selber zuvor alle »Schlüsselgewalt« personifiziert, als gäbe es nicht wenigstens so etwas wie den Satz vom ›ausgeschlossenen‹ Dritten; Foucaults Versuch eines penser du dehors verwandelt sich dann in ein schlichtes Denken dessen, was draußen ist. Wäre nicht das Denken selber ›draußen‹, hätte nicht Vernunft ihre eigene Andersheit, so bliebe in der Tat nur ›Das Andere der Vernunft‹, ein Titel, der, buchstäblich genommen, durch den zwiefach gesetzten bestimmten Artikel in eine Zwickmühle gerät. Wer könnte sich der Vernunft ungestraft widersetzen? Wissenschaftstheoretische Schützenhilfe. – Laut Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 368, gilt: »Die Prinzipien verursachen eine gewisse Abgeschlossenheit: es gibt Dinge, die nicht gesagt oder ›entdeckt‹ werden können, ohne die Prinzipien zu verletzen (und das heißt nicht: ohne ihnen zu widersprechen).«
Ein nicht nur taktisch zu nehmender Hinweis: »Es ist die Paradoxie des modernen Irrationalismus, daß seine Verfechter den Rationalismus stillschweigend mit Ordnung und wohlgesetzter Rede statt mit einer bestimmten Art von Ordnung oder Rede gleichsetzen und sich damit gezwungen sehen, Gestammel und Absurdität zu propagieren ...« (ebd., 307).
Zu B 9 Normalisierung. – Wichtig sind in diesem Zusammenhang alle Versuche in der neueren Psychiatrie und Psychopathologie, die darauf abzielen, die rein negative und fixe Bestimmung von Pathologien und Anomalien zu überwinden im Rückgang auf Normalisierungsprozesse, die Raum lassen für eine Andersheit und ein Anderswerden von Normen. Vgl. hierzu G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, ein reich dokumentiertes Werk, das gleichzeitig mit Merleau-Pontys Struk-
ORDNUNG ALS SELEKTION UND EXKLUSION
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tur des Verhaltens erschien; beide Autoren verdanken entscheidende Anregungen K. Goldsteins Aufbau des Organismus. In den nämlichen Zusammenhang gehören die älteren Arbeiten von L. Binswanger und E. Minkowski sowie die neueren medizin- und rechtshistorischen Arbeiten von Foucault, die sich teilweise an Canguilhem anschließen. Aus deutscher Sicht vgl. den informativen Beitrag des Mediziners W. Blankenburg in Grathoff/Waldenfels 1983 oder eine auf narrativen Interviews aufbauende exemplarische Studie wie die von C. Hoffmann-Riem: Das adoptierte Kind (1984), wo Normalisierungsvorgänge sich mit Fragen der Identitätsbildung verquicken. Zu B 10-11 Normativität. – Zur Unterscheidung verschiedener Formen der Normativität: Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, §§ 4 ff. Die typologischen Unterscheidungen zeichnen sich durch einen Reichtum an Nuancen und einen Sinn für Übergänge aus, der unserer genealogisch angelegten Untersuchung entgegenkommt. Im übrigen ist es offenkundig, daß unsere Überlegungen eine Ordnungskonzeption ins Auge fassen, die sich weder auf zweckrationale Ordnung beschränkt, noch auch die Frage nach der Legitimität von Ordnung derart betont, wie Max Weber es im Fahrwasser des Neukantianismus tut. Vermerkt sei jedoch, daß Weber einen »eindeutigen Richtigkeitstypus« für die Untersuchung der »Richtigkeitsrationalität des Handelns« für undurchführbar hält (1968, 438). Zu B 12 Habitualität. – Dieser Begriff, den Bourdieu etwas weit von Panofsky herholt (1974, Kap. VI, ferner 1976, 164 ff.), hat natürlich seit Aristoteles (Nik. Eth. II, I) seinen wohlbestellten Ort in der Tradition, auch in der phänomenologischen (s. Huss. IX; Merleau-Ponty 1966, 161177; 1976, 109 ff.), desgleichen spielt er eine Rolle in den frühen Debatten der Sozialwissenschaften (vgl. z. B. Mauss 1978, II, 202). Der Clou der Wiederentdeckung liegt in der Aufwertung dieses Konzepts gegenüber dem Überhang an normativen oder umgekehrt behavioristischen Sprach- und Handlungstheorien. Es ist bezeichnend, daß selbst ein so flexibler Handlungstheoretiker wie G. H. v. Wright im Falle von customs, die er als social habits deutet, über gemischte und negative Bestimmungen nicht hinausgelangt; customs gleichen teils den Regelmäßigkeiten von Naturvorgängen, teils der Regelhaftigkeit von
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KAPITEL B
Normen, doch in letztgenannter Hinsicht sind sie bloß anonym und implizit, indem sie einen »normativen Druck« ausüben (1963, 8 f.). Verkörperung. – Die mundan-sozial dimensionierte Körperlichkeit, die nur ein sehr verkanteter Theoretiker geradewegs auf Subjekt oder gar Subjektphilosophie zu reimen vermag, profitiert in Frankreich von einer fruchtbaren Spannung zwischen Philosophie (Bergson, Sartre, Merleau-Ponty), Soziologie (Mauss, Lévi-Strauss) und Paläontologie (Leroi-Gourhan) der Körperlichkeit, ein Spannungsfeld, das von der Zone des Begehrens bis zum ausgefeilten Zeremoniell reicht, gestützt auf eine Tradition, die eher dazu neigt, die Sprache zu verleiblichen als den Leib zu versprachlichen. Analysen wie die von Foucault oder Bourdieu wären anders nicht denkbar. Der späte Merleau-Ponty hat aus dem Blickwinkel der Leiblichkeit eine Theorie der Institutionen entwickelt, die in einer symbolischen Zwischenwelt (intermonde) angesiedelt sind (1968; 1973, 74–77) und die dem Gedanken eines corpus politicum zu neuem Leben verhelfen können, so bei John O’Neill (1985). Diese Leiblichkeit hat durchaus mit der Ordnung der Dinge zu tun und nicht bloß mit Ausdrucksverhalten, Bewegungen und Hantierungen eines frei schaltenden Subjekts. Was den Versuch angeht, die phänomenologische Leibtheorie im Felde von Sozialität und Sozialisation fruchtbar zu machen, sei auf die jüngst erschienenen Monographien von Käte Meyer-Drawe (1984) und Herman Coenen (1985) verwiesen.
KAPITEL C: BEGRÜNDETE ODER BELIEBIGE ORDNUNG?
Zu C 4 Kosmos als »große Kette der Wesen«. – Arthur O. Lovejoy zeigt in seiner Monographie zu diesem Thema (dt. 1985), wie unter Popes vielzitiertem Motto eines chain of being die platonisch-aristotelisch angeregte Vision einer lückenlos verknüpften, hierarchisch gegliederten, alle Möglichkeiten aus sich entfaltenden und einem neidlos sich verströmenden Guten entstammenden Ordnungsfülle Jahrhunderte lang, bis in die Romantik hinein, Denken, Forschen und Politisieren in Atem hielt, unterbrochen nur durch die zunehmenden Blitzstrahlen eines autarken, indolenten Gegengottes, der in der Schöpfung seinem Willen freien Lauf läßt und, weltlich gesprochen, dem Zufall Raum gibt, so daß offenere Ordnungsformen um sich greifen. Zu C 5 Ordnung und Chaos. – Warnung vor dem praktischen Chaos: Hobbes, Leviathan, III, 36: »Rebellion ... reduce all order, government, and society, to the first Chaos of violence and civil war.«
Angesichts der zunehmenden Gefahr einer Unterminierung der umfassenden Weltordnung verhärtet sich bei den rationalistischen Ordnungsverfechtern die Ordnungsvorstellung bis zur Ausmerzung allen Zufalls. So lesen wir in Leibniz’ Theodizee (Gerhards VI, 386, dt. Üb.: Phil. Schriften, II/2, Darmstadt 1985, S. 313): »Hätte der Wille Gottes nicht das Prinzip des Besten zur Richtschnur, so wäre er entweder auf das Böse gerichtet, was das Schlimmste wäre, oder er wäre in gewisser Weise gegen das Gute und das Böse gleichgültig und vom Zufall geleitet: Ein Wille jedoch, der sich immer dem Zufall überließe, wäre für die Weltregierung kaum besser als das zufällige Zusammenwirken der Atome, ohne daß es irgendeine Gottheit gäbe. Und selbst wenn Gott sich dem Zufall nur in einigen Fällen und in bestimmter Weise überließe
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KAPITEL C
(...), so würde er ebenso unvollkommen sein wie der Gegenstand seiner Wahl; er würde dann kein volles Vertrauen verdienen; er würde in einem solchen Fall ohne Grund handeln, und die Weltregierung würde dann gewissen Kartenspielen gleichen, bei denen halb der Verstand und halb das Glück entscheidet.«
Zu C 7-8 Universalisierung. – Zu den verschiedenen universalpragmatischen, transzendentalpragmatischen, konstruktivistischen und utilitaristischen Spielarten der Universalisierung sei verwiesen auf R. Wimmer: Universalisierung in der Ethik (1980). In der Einleitung heißt es lapidar: Erst mit dem Begriff »der allgemeinen oder universalen Gültigkeit ... ist das eigentliche Feld der Ethik betreten«, und da auf diesem Feld in der Tat nicht viel zu erzeugen ist, verwundert es nicht, wenn am Ende für das »eigentliche Feld« nichts übrig bleibt als die kritische Beurteilung von Normen, die »in letzter Instanz am Argumentations- oder Transsubjektivitätsprinzip« hängt (360). Zu den Theorien von Apel und Habermas, die in dieser Phalanx einen wichtigen Platz behaupten, habe ich mich an anderer Stelle ausgiebig geäußert (SV Kap. II; NL Kap. 5 u. 6). Zu C 8 Hiatus zwischen Begehren und Handeln. – Ist dieser Hiatus durch bloße Gefühle, Appelle, Werte ... zu überbrücken? Solange etwas bloß ist, wartet es auf Ideen- und Normenkleider. Mitleid, ja, aber gibt es nicht falsches Mitleid und ist bloßes Leiden nicht zu wenig? Nehmen wir ein Beispiel. Wilhelm Kamlah, kein Normativist, sondern ein Ethiker, der seine Ethik anthropologisch unterbaut und auf eine ars vitae aus ist, geht in seiner Philosophischen Anthropologie (1972, 102-108) aus von einem solchen Hiatus und sucht ihn zu überbrücken durch einen Sprung ins Allgemeine: durch ein Beachten (ein bemerkenswerter Gedanke!), das universal und uneingeschränkt sein soll und bereits auf einem Vergleich beruht: »Beachte, daß die anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!«
Um zu erweisen, daß keine Aufforderung und erst recht kein Befehl erforderlich ist, um diesem Satz Geltung zu verschaffen, sondern die eigene Einsicht genügt, bietet er eine indikativische Ersatzformel an.
BEGRÜNDETE ODER BELIEBIGE ORDNUNG?
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»Es ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, daß seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demgemäß zu handeln.«
Das verschwundene Ausrufezeichen kommt durch die Hintertür wieder herein, wenn gegenüber dem ›böswilligen‹ Kallikles an die Lebenspraxis appelliert wird. »Wer nicht irgendwann in seinem Leben schon einmal eingesehen hat, daß er hier die Bedürfnisse anderer zu beachten und handelnd zu berücksichtigen hatte ...«
– dem ist keine Grundnorm beizubringen (vgl. dazu Wimmer 1980, 55 ff.). Wird hier nicht die zu erwartende Genealogie der Moral ersetzt durch eine Genealogie der Moralphilosophie? Kallikles, versteht sich, bleibt hierbei einfach sitzen, als moralisch Tauber, besser: Taubstummer. Also eine entschiedenere Ethik von unten? Sie wird im Hintertreffen bleiben, solange man sich damit begnügt, die Skala von oben und unten nur umzukehren, anstatt sie aus dem Lot zu bringen. In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf Werner Marx, der in seinen neueren Bemühungen von der Sterblichkeit und Verletzlichkeit des Menschen ausgeht, und vor allem auf Levinas, der mit Begriffen operiert wie Antlitz, Verlangen, Gastlichkeit oder Bürgschaft, und das auf einer Ebene, die man in Anlehnung an Husserl vornormativ nennen könnte. Zu C 9 Willkür. – Castoriadis weist wiederholt darauf hin, daß Variabilität der Weltordnung keineswegs pure Willkür und ein amorphes Chaos heraufbeschwört, da jede Organisation der Welt, auch die sprachliche, deren Organisierbarkeit – Kants »glücklichen Zufall« –, ja sogar ein anfängliches Organisiertsein voraussetzt (1984, 562; 1983, 111 f., 150). Allerdings sollte man dann nicht mit einer creatio ex nibilo liebäugeln (s. u. F 3). Spricht man in scholastischer Diktion von einem vorauszusetzenden ordinabile (Krings, in: Kuhn/Wiedmann 1962, 125), so kommt alles darauf an, wie man die im Suffix angezeigte Möglichkeit versteht, als auszufaltende oder als selektiv zu gestaltende Vorgabe. Zu den historischen Dimensionen einer großen Alternative von Begründetheit und Beliebigkeit vgl. das kritische Resümee bei Lovejoy (1985, Kap. X), ferner, bezogen auf repräsentative Denksysteme: J. Vuillemin, Nécessité ou contingence, Kap. XI, wo allerdings einer fragwürdigen Schematisierungslust gefrönt wird.
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KAPITEL C
Sprachfasern: Be-lieben, Will-kür, also eine Anspielung auf lieben, wählen, letzteres gilt auch für die arbitrarité (s. Saussure), die einen Bezug zum arbitrium unterhält. Selbst dem Geratewohl hängt noch ein Wunsch an.
KAPITEL D: ORDNUNG MIT ODER OHNE ORDNER?
Zu D 4 Tun und Leiden. – Nietzsche, Werke, III, 489: »Die Auslegung eines Geschehens als entweder Tun oder Leiden (– also jedes Tun ein Leiden) sagt: jede Veränderung, jedes Anderswerden setzt einen Urheber voraus und einen, an dem ›verändert‹ wird.«
Mit diesem Begriffspaar, dem »vielleicht dunkelsten Erbstück okzidentaler Philosophie« (Derrida 1987, 133), hat Husserl unaufhörlich gerungen (vgl. Yamaguchi 1982). Zu D 5 Eigenheit und Fremdheit. – Zur historischen Dimension dieser Problematik ist die folgenreiche stoische Lehre von der Oikeiosis, einer Aneignung der Welt durch Häuslichwerden, zu berücksichtigen (vgl. Forschner 1981, Kap. IX). Moderne Ausläufer dieser Problematik erörtere ich in meinem Aufsatz »Heimat in der Fremde« (NL, Kap. ro), wo ich der Zentrierung in einem (Ersatz-)Kosmos die Idee einer »Interregionalität« entgegensetze. Zu D 8 Dosierte Mitwirkung. – Bachtin spricht von einem »unterschiedlichen Grad der Präsenz des Autors und seiner letzten Sinninstanz in den verschiedenen Momenten einer Sprache« (1979, 205), und er ist dieser »Hybridisierung, Vermischung der Akzente, Verwischung der Grenze zwischen Autorrede und fremder Rede« (209) in seinen Romananalysen auf die Spur gegangen, etwa im Aufweis einer vielfachen Interferenz von direkter und indirekter Rede. Dabei schränkt Bachtin diese Bewegung »auf der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem« keineswegs ein auf die literarische Sprachkunst: Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort ... Die Sprache ist kein Neutrum, das rasch und ungehindert in das intentionale Eigentum des
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KAPITEL D
Sprechers übergeht; sie ist mit fremden Intentionen besetzt, ja überbesetzt« (185).
Unübersehbar ist die Korrespondenz zur Sprach- und Gesprächstheorie, die Merleau-Ponty mit wachsender Radikalität in seiner Prosa der Welt und in Das Sichtbare und das Unsichtbare ausgearbeitet hat. – Sollte, was dem Sprechen recht ist, dem Handeln nicht billig sein? Und wird ein solches Grenzgängertum der Sache nicht gerechter als eine Kehre, die auf eine Verkehrung der Rollen hinausläuft? Andersbeit des Ich/der Andern. – Dieser Abschnitt möchte deutlich machen, daß eine leiblich orientierte und radikalisierte Phänomenologie à la Plessner oder Merleau-Ponty durchaus in der Lage ist, die Pseudozentrierung einer »Subjekt- oder Bewußtseinsphilosophie« zu durchbrechen. Doch dabei zeigt sich, daß der Spalt im Ich, der die reflexiven Verdoppelungen hervortreibt, selber keinem Sündenfall der Reflexion entstammt, sondern einem Selbstentzug, der die Andersheit des Ich mit der des Andern verklammert und somit durch kein »Paradigma der Verständigung« wettzumachen ist. Eine Kommunikation, die selber selektiv und exklusiv ist, weil darin niemand völlig als er selbst auftritt (s. o. A 8-10; B 4-7), nötigt zu Diskursordnungen, durch die auch die »kommunikative Vernunft« ins Zwielicht gerückt wird. Ergänzend verweise ich auf meinen Aufsatz »Dialog und Diskurse« (1986), wo ich die These von der Verzahnung intrasubjektiver und intersubjektiver Andersheit mit Hinweisen auf die human-, sozial- und literaturtheoretischen Forschungen von G. H. Mead, L. S. Wygotski, D. Lagache, R. Spitz, D. Winnicott, J. Lacan und M. Bachtin zu erhärten suche.
KAPITEL E: ENTSTEHENDE UND BESTEHENDE ORDNUNG
Zu E 4 Maßwerk. – Zur Bezeichnung dessen, was hier mit einem Begriff aus der Architekturgeschichte anvisiert wird, spricht der späte MerleauPonty wiederholt von Achsen, Angeln, Dimensionen, Kraftlinien, von Gefüge, Gliederwerk oder auch – Heidegger folgend – von ›wesen‹ im verbalen Sinne, von einer Generalität also, die gleich dem Element auf halbem Weg liegt zwischen Individualität und Idealität (1986, 183 f.), die generativ auf anderes übergreift als Strahlung, Vibration, Wucherung, Promiskuität (153 u. ö.) und die in der unter kein Gesetz zu subsumierenden »Einzigkeit der Welt« ihr ›megaphysikalisches‹ Pendant hat (s. Kanitscheider 1984, 396 ff.). Jedes auftretende Etwas ist historisch und geographisch eingebunden in das ›Fleisch‹ (chair) der Welt und des Leibes, welch letzterer selber zu einem weltlichen Maßstab wird. So heißt es im Anschluß an Prousts Gedanken zum »kleinen Satz« der Vinteuil-Sonate: »Nur das unsichtbare und sozusagen schwache Sein ist zu dieser gedrängten Textur fähig. Es gibt eine strenge Idealität in jenen Erfahrungen, die Erfahrungen des Fleisches sind: die Momente der Sonate und die Fragmente des Lichtfeldes haften aneinander durch einen begriffslosen Zusammenhang, der von derselben Art ist wie der Zusammenhang zwischen den Teilen meines Leibes oder wie der zwischen meinem Leib und der Welt. Ist mein Leib Ding, ist er Idee? Er ist weder das eine noch das andere, er ist der Maßstab (le mesurant) der Dinge. Es gibt also eine Idealität, die dem Fleisch nicht fremd ist, sondern ihm seine Achsen, seine Tiefe und seine Dimensionen verleiht.« (1986, 198 f.)
Castoriadis greift den Gedanken einer derart inkarnierten, materialisierten Bedeutung auf, wenn er der produktiven Einbildungskraft die Schöpfung eines eidos zutraut, das mit platonisch-husserlschen Untertönen bezeichnet wird als der »unbegrenzt wiederholbare Typus seiner Exemplare«, sei es ein Werkzeug oder ein Wort (1984, 307, vgl. auch 1983, 203). Zu unserer eigenen Verwendung von ›Typus‹ und ›Eidos‹ siehe oben B 6. Derrida unterscheidet bereits im Hinblick auf Husserl
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KAPITEL E
sorglich zwischen Idealisation und Ideation und bezeichnet das idealisierende Verfahren der Geometrie ebenfalls als »Schöpfung einer Eidetik« (1987, 179). Die Radikalität dieser Fragestellung wird durch berechtigte Einwände gegen einen überzogenen Kreationsmus nicht hinfällig. Eine Kritik am »Produktionsparadigma«, die ausgeht von einem Zweitakt von Sinnschöpfung und empirischer Bewährung, von Horizonterschließung und Horizontfüllung (Habermas 1985, 372 f.), verfehlt den entscheidenden Punkt, daß nämlich die Erschaffung einer neuen typischen Gestalt ein prototypisches Dieses hervorbringt, das »fortan unabhängig von seinen empirischen Exemplaren ›ist‹« (Castoriadis 1983, 203, Hervorhebung B. W.), also nicht zuvor schon. Eine sinnliche Idee hat keine ›Profanisierung‹ zu befürchten, ihre ›Bewährung‹ hat schon begonnen, wenn sie auftritt. Zu E 5 Schlüsselereignisse. – Ein Ereignis, das mehr ist als ein empirisches event, als ein raum-zeitliches Vorkommnis, das von einem innerweltlichen Zustand zu einem anderen überleitet, wäre ganz und gar von der Schlüsselhaftigkeit aus zu denken. In ähnlichem Sinne spricht Foucault in seinem Werk über Die Ordnung der Dinge (273) beim Obergang von einer Episteme zur anderen von einem événement fondamental, einem Grundereignis also, das in keinem bestehenden Diskurs hinreichend Platz findet und insofern weder ein generelles Gesetz noch ein individuelles Faktum bedeutet. Später, in der Ordnung des Diskurses (40), fordert er eine »Philosophie des Ereignisses«, die einen »Materialismus des Unkörperlichen« anvisiert. Unüberhörbar sind die Anklänge an Heideggers seinsgeschichtliches Ereignis, nur daß die ganze Skala von Eigenheit, Aneignung und Zueignung (Identität und Differenz, 24 ff.) entfällt. Schlüsselwörter. – Merleau-Ponty, Prosa der Welt, 63: die Kraft der schöpferischen Sprache »steckt ganz in ihrer Gegenwart, in dem Maße, indem es ihr gelingt, die vorgeblichen Schlüsselwörter (mots clefs) so anzuordnen, daß sie mehr sagen, als sie je besagten...«
Vorgebliche Schlüsselwörter, weil sie ihre Schlüsselkraft nicht besitzen wie »erste Worte, deren Funktion es wäre, die Elemente des Seins selbst zu bezeichnen«. – Zur Bedeutungsbestimmung von »Schlüsselwör-
ENTSTEHENDE UND BESTEHENDE ORDNUNG
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tern« (key words) in der kulturanthropologischen Feldarbeit: E. E. Evans-Pritchard, Social Anthropology, S. 80. Zu E 6 Verfremdung, Verformung, Abweichung. – Zu den Literatur- und kunsttheoretischen Herkünften der Begriffe, die auf die aristotelische Kategorie des Fremdartigen, Ungewohnten (ξενιϰόν) zurückverweisen (Rhet. III, 2-3), vgl. A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, bzw. speziell zur Kategorie der Abweichung: Fricke 1981. Auch Ricœur greift auf die aristotelische Poetik und Rhetorik zurück, wenn er die innovative Kraft der Metapher erörtert (Die lebendige Metapher). Merleau-Ponty steht in der Tradition der russischen Formalisten, wenn er mit Malraux von einer déformation cohérente spricht (1984, 81; 1986, 319 u.ö.), und er folgt Saussures Lehre vom differentiellen Charakter der Zeichen, wenn er immer wieder von écart (= Abweichung, Abstand) spricht. Doch bleibt die Nähe zu einer gestalttheoretischen Erfahrungstheorie (Umgestaltung, Abweichung von einem Niveau, Abhebung von einem Hintergrund) gewahrt. Desgleichen gibt es Anklänge an die Verfremdungskunst der Surrealisten (1976, 192). Zur biologischen Herkunft der Kategorie der Anomalie als Abweichung, zur Ambivalenz anormaler Erscheinungen und zum Normalen als einem polemischen Begriff: G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, bes. 87 ff., 163 ff. Zu E 7 Altes und Neues. – Kant unterscheidet zwischen Verwunderung als einem »Affekt in der Vorstellung der Neuigkeit, welche die Erwartung übersteigt«, und einer Bewunderung als einer »Verwunderung, die beim Verlust der Neuigkeit nicht aufhört« und die dann auftritt, »wenn Ideen in ihrer Darstellung unabsichtlich und ohne Kunst zum ästhetischen Wohlgefallen zusammenstimmen« (KU B 122). Selbst wenn wir der puren Entgegensetzung von temporärer Abweichung und ideeller Stimmigkeit mißtrauen, bleibt die Frage, wodurch eine Verwunderung mehr ist als ein vorübergehender Affekt, der sich abnutzt wie eine Zeitungsmeldung. Maximale Information und Redundanz. – Bekanntlich gibt es eine Ästhetik, die künstlerischen Produktionen mit informationstheoretischen Mitteln beizukommen versucht. Der Gegensatz von Neuem und Altem würde sich damit dem Gegensatz von maximaler Information
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KAPITEL E
und Redundanz annähern. Nun wird ein Mozartsches Streichquartett, gemessen an dem zeitüblichen musikalischen Repertoire, höchst unwahrscheinliche Strukturmerkmale und Ereignisfolgen aufweisen, doch wäre dessen Rang damit nur dann erwiesen, wenn man eine informationstheoretische petitio principii beginge und Geistesblitze durch Bit-Mengen definierte. Was bedeutend ist, mag unwahrscheinlich sein, doch nicht alles, was unwahrscheinlich ist, ist bedeutend. Vgl. hierzu Monroe C. Beardsley, »Order and Disorder in Art«, in: Kuntz 1968. Voranfängliches. – Wenn der Anfang für den einzelnen und für uns alle immer schon gemacht ist und sich immer wieder macht, noch bevor wir uns darauf verstehen und besinnen, so geht in die Arbeit an der Tradition auch etwas ein von der »Arbeit am Mythos«. Was in der Frage nach einer Ent- oder Re-mythisierung oder auch nach der ästhetischen Rettung des mythischen Sinnpotentials allerdings übersprungen wird, ist die Frage, wodurch dieses zu einem Mythos taugt und jenes nicht; insofern ist Mythos ein Begriff zweiter Ordnung (Merleau-Ponty 1986, 242). Zu E 8 Selbigkeit und Konstanz. – Gegenüber dem Pochen auf demselben, das einmal so aussieht, andersmal so, sei erinnert an die gestalttheoretische Kritik an der Konstanzannahme (Gurwitsch 1974, Merleau-Ponty 1966), die uns die Aufgabe stellt, auch hier den Prozeß der »Konstantisierung« zu untersuchen (s. H. Hörmann, Psychologie der Sprache, 297 ff.). Daß es dabei nicht völlig willkürlich zugeht, ist zu erwarten und läßt sich belegen. Inkommensurabilität. – Den sachlichen Bezug der Theorien von Kuhn und Feyerabend zu phänomenologischen und gestalttheoretischen Vorgehensweisen habe ich an anderer Stelle erörtert (»Wider eine reine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie«, in: Phänomenologie und Marxismus 4). Die entscheidende Frage scheint mir, auf welcher Ebene man operiert. Daß es hier nicht um ein Alles oder Nichts, um eine schlichte Entgegensetzung von Relativität und Universalität gehen kann, zeigen zum Beispiel die psycho- und soziolinguistischen Befunde, die Hörmann (a.a.O., Kap. XV) in beeindruckender Fülle präsentiert. Sinn und Geltung. – Das »Janusgesicht«, das Habermas den Geltungsansprüchen zuschreibt (1985, 375), kennzeichnet nur die Skala zwi-
ENTSTEHENDE UND BESTEHENDE ORDNUNG
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schen ideal-universaler und faktisch-lokaler Geltung, es blickt also eigentlich nur in eine Richtung. »Der Sinn darf die Geltung nicht verzehren« (372). Wie vermeiden, daß die Geltung den Sinn verzehrt – daß sie Ansprüche zum Schweigen bringt, die weder universal noch bloß lokal oder provinziell sind? Zu E 9 Poietik und Technik von Erkennen und Handeln. – Den weiten Wortsinn von Poiesis finden wir in Platons Symposion (205 b-c), wo es heißt: »... was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung (ποίησις)«. Es ist bezeichnend, daß Aristoteles die Gesetzgebung, die im eminenten Sinne schafft, nicht zur politischen Tätigkeit zählt, sondern zur Herstellung; der Nomothet gleicht dem Architekten (Nik. Eth, VI, 8, 1141 b 25, dazu H. Arendt, 1981, 187f.). Die Ordnungsstiftung wird aus dem ordnungsorientierten und gesetzanwendenden Handeln (und Erkennen) gleichsam ausgelagert und einem politischen (und kosmischen) Demiurgen anvertraut. Erleichtert wird die Verkennung der Ordnungsleistung durch die zwischen ›Finden‹ und ›Erfinden‹ schillernde Bedeutung von εὑρίσϰειν im Griechischen, von invenire im Lateinischen. Varianten der Landschafts- und Gartenkunst. – Zur variablen Formung der Natur in Gestalt des englischen, französischen und japanischen Gartens vgl. Rudolf Arnheim: »Order and Complexity in Landscape Design« (in: Kuntz 1968). Ein signifikantes Merkmal liefert die verschiedenartige Einordnung der menschlichen Wohnung: im englischen Garten bleibt das Haus versteckt, der japanische Garten führt zum Haus, der französische Garten wird durch das Haus beherrscht. Landschaftsstil und Lebensstil greifen ineinander, und in beiden bekundet sich ein bestimmter Ordnungsstil. Für die Gegenwart prophezeit der Autor hybriden Medien wie Gartenkunst, Ballett, Foto und Film dann die glücklichsten Resultate, »when they frankly admit the contribution of the natural raw material by keeping the imposed order loose, open, partial« (157). Tychistische Kunst. – Zum Paradox einer Kunst, die nur Kunst bleibt, wenn sie nicht selber zum Zufall wird, sondern ihn einsetzt, vgl. Monroe C. Beardsley, a.a.O. Der Autor bezieht sich auf moderne Künstler wie J. Pollock, G. Matthieu und J. Cage und auf die Verfahrensweisen des Surrealismus.
KAPITEL F: DAS ORDENTLICHE UND DAS AUSSERORDENTLICHE
Zu F 2 Dritter. – Merleau-Ponty durchbricht die Fixierung auf den Andern mit dem Hinweis darauf, daß »die Beziehung zu irgendeinem Anderen immer schon vermittelt ist durch die Beziehung zu Dritten«, bis hin zur ödipalen Situation (1986, 113). Dies ist nicht zu verstehen als bloße Vervielfältigung der Beziehungsstruktur, sondern als Alterierung einer jeden Beziehung, was dazu führt, daß keine in sich abschließbar ist. Zu F 4 Lautkontakte. – Wie sehr Nähe und Ferne sich durchdringen, zeigt ein eindrucksvoller Versuch von Sapir. Dieser ließ 500 Versuchspersonen die Silben ›mal‹ und ›mil‹ wahlweise einem großen und einem kleinen Tisch zuordnen; 80 % entschieden sich für eine der beiden Zuordnungen, der Leser mag erraten, für welche (s. Hörmann 1970, Kapitel XII: Lautnachahmung und Lautsymbolik, S. 235 f.). Zu F 8 Das Erhabene und das Sublime. – Wird Kant nicht vorschnell in die moderne Kunst, speziell in abstrakten Expressionismus und Minimal Art hineingezogen, wenn man ihm eine »Inkommensurabilität von Denken und wirklicher Welt« attestiert? Daß die Idee nicht sichtbar gemacht werden kann, schließt nicht aus, daß sie gedacht wird, was dazu führt, daß die Vernunft vom Erhabenen keine Entregelung zu befürchten hat (vgl. dazu Lyotard, »Das Erhabene und die Avantgarde«, 1984, 154-158, ferner Le différend, Kant 4). Was Lyotard im Auge hat, setzt voraus, daß das Unsichtbare im Sichtbaren, das Unermeßliche im Ermeßlichen gegenwärtig ist, als Bildlosigkeit im Bild. Wäre dies dann noch ein »unendlich bloßes« Ereignis, ein reines »es geschieht«? Simultaneität des Inkompossiblen. – Merleau-Ponty operiert in seiner späten Hyperontologie mit dieser Idee, die das Leibnizsche Weltsystem
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KAPITEL F
auseinandersprengt. Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Das Zerspringen des Seins«, in Métraux/Waldenfels 1986. Überschuß. – Der Terminus ›Überschuß‹, dessen ökonomischer Beiklang nicht zu überhören ist (vgl. fr.: excés. excédent, aber auch surplus), begegnet uns in wechselnden Zusammenhängen, doch mit einer gemeinsamen Note: Was über eine Grenze hinausschießt, hält die Bewegung in Gang. Dazu einige Beispiele. Husserl spricht in seiner frühen Bedeutungstheorie von einem »Überschuß in der Bedeutung« eines Wortes gegenüber dem sinnlich Erscheinenden (Husserl XIX/2, 660), und Jacques Taminiaux schlägt von da aus eine Brücke zu Heideggers Kritik an der Souveränität eines Blicks, der alles Überschüssige planiert (Le regard et l’excédent, S. X, 166 ff.). Plessner sieht das »Rückgrat der Wirklichkeit« in einem »Überschußmoment substantialen Fürsichseins«, das durch den Gang der Wahrnehmungen nicht auszuschöpfen ist (Ges. Schriften, IX, 36). Merleau-Ponty faßt die Dynamik der Rede als wechselseitigen Überschuß (excès) von zu Sagendem und Gesagtem (1984, 28); ich selber habe in meiner Theorie offener Verhaltensstrukturen daran angeknüpft (SV 69, 90-94, 157 f.). Im linguistischen Ansatz von Lévi-Strauss wird daraus ein wechselseitiger Überschuß von Signifikat und Signifikant; es gehört zur intellektuellen Bedingung des Menschen, »daß die Welt nie Bedeutung genug hat und daß das Denken immer über zu viele Bezeichnungen für die Objekte verfügt« (Strukturale Anthropologie I, 202). Adorno beruft sich gegenüber der Allmacht eines Identitätsdenkens auf einen »Überschuß des Nichtidentischen« (Negative Dialektik, 182), der auch als »Überschuß übers Subjekt« zutage tritt (ebd., 366). Bei Levinas schließlich ist es der Andere in seinem Antlitz, der die Reichweite der Intentionalität übersteigt (excède): »excession de l’ici, comme lieu, et du maintenant, comme heure, excession de la contemporanéité et de la conscience – qui laisse une trace« (Autrement qu’être ..., 115). Excés als Überschuß und Ausschreitung. – Bei Bataille wird, in offener Wende gegen die klassische Ökonomie, aus dem Überschuß ein Energieüberschuß, der die Sphäre von Produktion und Konsumption überschreitet und somit nicht als Mehrwert zu nutzen, sondern nur im Überfluß zu verschwenden ist (Bataille 1975, vgl. im gleichen Band: G. Bergfleth, 323-325). Der immer noch Hegel und Kojève verpflichtete Gegenzug zu einem sich rundenden Ganzen, der mit allen Mitteln auf ein endgültig abgeschlossenes Handeln setzt (171), hat zur Folge, daß dieser Überschuß sich nur noch in maßloser Ausschreitung verausgaben
DAS ORDENTLICHE UND DAS AUSSERORDENTLICHE
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läßt. Für ein Selbstbewußtsein, das sich am Ende jedes Etwas versagt (233), wird es gleichgültig, wohin der Exzeß führt (s. u. F 9). Dies ist kein Grund, die Idee des Überschusses und der Überschreitung zu verfemen; doch statt einer Aufhebung empfiehlt sich eine Durchlöcherung der Ökonomie, in der Gabe und Verausgabung die Schwelle des Oikos vielfältig und immer wieder überschreiten, ohne sie ein für allemal hinter sich zu lassen. Ein welch vielfältiges semantisches und praktisches, übrigens bis zum Gift hinübergleitendes Potential bis heute in der Gabe steckt, ist in dem Grundtext von Marcel Mauss selber nachzulesen (s. Mauss 1978, Bd. II). Zu F 9 Überbewältigung des Leidens. – Die Folgen einer Überabschirmung gegen alles Pathische und die Ambivalenz von Heilung als Leidenslinderung und Leidenserzeugung habe ich an anderer Stelle unter dem Titel »Das überbewältigte Leiden« (1986) erörtert. Zu F 11 Ordnung aller Ordnungen. – Dazu J. K. Feibleman, »Disorder«: »Chaos is the sum of all orders, the matrix from which particular orders are derived. That it must remain a chaos and not become itself a kind of superorder is required by Gödel’s theorem. Chaos cannot therefore be defined as order in the sense of ›all orders‹, for if it contains all orders it cannot itself be an order. But it can be chaos, or disorder in the positive sense defined.« (In: Kuntz 1968, 10.)
Ähnlich P. Weiss, »Some Paradoxes Relating to Order«: »Disorder is an excess of order; it occurs when there are too many orders imposed upon a set of entities. Like the contradiction, something is both a cat and not a cat, it faces us not with nothing, but with too much.« (Ebd. 16 f.)
BILDVARIATIONEN ZUM THEMA ›ORDNUNG‹
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Abb. 1. Die vollständige Zähmung scheitert am Widerspenstigen (S. 18) (Francisco de Goya: Die Rache des Wolfes. 1824-28)
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Abb. 2. Verknüpfungsformen, die nicht jedes Und einem Also annähern (S. 19) (Kurt Schwitters: Das Undbild. 1919)
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Abb. 3. Seitenwege, denen die Zielangabe fehlt (S. 19) (Paul Klee: Hauptweg und Nebenwege. 1929)
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Abb. 4. Was jenseits der Schwelle auftaucht, ist nicht einfach draußen (S. 35) (René Magritte: Der Schlafwandler. 1927)
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Abb. 5. Attractio electiva (S. 64) (Yozo Hamaguchi: Siebzehn Kirschen. 1968)
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Abb. 6. Halb Natur (Monets Garten in Giverny. Fotografie um 1910)
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Abb. 7. – halb Kunst (S. 158) (Claude Monet: Gelbe und weiße Seerosen. 1914-17)
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Abb. 8. Polymorphismus des wilden Seins (S. 179) (Jean Dubuffet: Gartenboden. 1958)
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Abb. 9. Simultaneität des Inkompossiblen (S. 179) (Robert Delaunay: Der rote Eiffelturm. 1911)
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Abb. 10. Unmögliches möglich machende Metamorphosen (S. 179) (Maurits C. Escher: Tag und Nacht. 1938)
LITERATURVERZEICHNIS
Werkausgaben: Ältere Klassiker wie Platon, Aristoteles, Augustinus, Hobbes oder Hume werden nach den üblichen Seitenmarkierungen und Kapiteleinteilungen zitiert. Zitate aus Platon folgen mit wenigen Ausnahmen der Übersetzung von Schleiermacher, sonstige Übersetzungsnachweise finden sich im Text. Kant wird zitiert nach der sechsbändigen Ausgabe von W. Weischedel (Darmstadt 1963-1964), Abkürzungen: GMS = Grundlage der Metaphysik der Sitten; MS = Metaphysik der Sitten; KrV = Kritik der reinen Vernunft; KU = Kritik der Urteilskraft. – Nietzsche zitieren wir nach der dreibändigen Ausgabe von K. Schlechta (München 1973), Husserl nach den Husserliana (Den Haag 1950 ff.). Vereinzelt zitierte Werkausgaben älterer Autoren werden an Ort und Stelle gekennzeichnet. Das folgende Literaturverzeichnis beschränkt sich auf Titel, auf die im Text ausdrücklich Bezug genommen wird. Einzelliteratur: Adorno, Th. W., Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966. Arendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981. Bachtin, M., Rabelais and His World, transl. by H. Iswolsky, Cambridge/Mass. 1968. –, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übers. von A. Schramm, München 1971. –, Die Ästhetik des Wortes, hg. von R. Grübel, übers. von R. Grübel und S. Reese, Frankfurt/M. 1979. Barthes, R., Über mich selbst, übers. von J. Hoch, München 1978. Bataille, G., Das theoretische Werk, Bd. 1: Die Aufhebung der Ökonomie, mit einer Studie von G. Bergfleth, übers. von T. König und H. Abosch, München 1975. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, 2 Bde., Frankfurt/M. 1983. Berger, P. L., »Das Problem der mannigfaltigen Wirklichkeiten: Alfred Schütz und Robert Musil«, in: Grathoff/Waldenfels 1983.
Blankenburg, W., »Phänomenologie der Lebenswelt – Bezogenheit des Menschen und Psychopathologie«, in: Grathoff/Waldenfels 1983. Blumenberg, H., Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M. 1974. –, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981. Böhler, D., Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt/M. 1985. Borges, J. L., Sämtliche Erzählungen, übers. von K. A. Horst, München 1970. Bourdieu, P., Zur Soziologie der symbolischen Formen, übers. von W. Fietkau, Frankfurt/M. 1974. –, Entwurf einer Theorie der Praxis, übers. von C. Pialoux und B. Schwibs, Frankfurt/M. 1976. –, »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Kreckel, R. (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983. –, Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, übers. von B. Schwibs, Frankfurt/M. 1985. Bremer, D., Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik, Bonn 1976. Bühler, K., Sprachtheorie, Stuttgart 1965. Calvino, I., Die unsichtbaren Städte, übers. von H. Rieds, München 1977. Canguilhem, G., Das Normale und das Pathologische, übers. von M. Noll und R. Schubert, München 1977. Cassirer, E., Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910. Castoriadis, C., Durchs Labyrinth. Seele – Vernunft – Gesellschaft, übers. von H. Brühmann, Frankfurt/M 1983. –, Gesellschaft als imaginäre Institution, übers. von H. Brühmann, Frankfurt/M. 1984. Cavaillès, J., Sur la logique et la théorie de la science, Paris 1947. Coenen, H., Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang, München 1985. Derrida, J., Die Schrift und die Differenz, übers. von R. Gasché und U. Köppen, Frankfurt/M. 1972. –, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, übers. von R. Hentschel und A. Knop, München 1987. Deutsch, W./Jarvella, R.J., »Asymmetrien zwischen Sprachproduktion und Sprachverstehen«, in: Graumann, C.F./Herrmann, Th. (Hg.), Karl Bühlers Axiomatik, Frankfurt/M. 1984.
Ebbinghaus, J., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968. Ellul, J., La Technique ou l’enjeu du siécle, Paris 1954. Evans-Pritchard, E. E., Social Anthropology, London 1959. Feyerabend, P. K., Wider den Methodenzwang, Frankfurt/M. 1976. Forschner, M., Die stoische Ethik, Stuttgart 1981. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, übers. von U. Köppen, Frankfurt/M. 1971. –, Die Ordnung des Diskurses, übers. von W. Seitter, München 1974. –, Sexualität und Wahrheit, Bd. 2 u. 3, übers. von U. Raulff und W. Seitter, Frankfurt/M. 1986. Freud, S., Die Traumdeutung, Ges. Werke, Bd. II/III, Frankfurt/M. 2 1948. Fricke, H., Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981. Goffman, E., Stigma, übers. von F. Haug, Frankfurt/M. 1967. –, Das Individuum im öffentlichen Austausch, übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt/M. 1974. –, Rahmen-Analyse, übers. von H. Vetter, Frankfurt/M. 1977. Goldstein, K., Der Aufbau des Organismus, Den Haag 1934. Grathoff, R./Waldenfels, B. (Hg.), Sozialität und Intersubjektivität, München 1983. Gurwitsch, A., Studies in Phenomenology and Psychology, Evanston 1966. –, Das Bewußtseinsfeld, Berlin-New York 1975. Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 2 1985 Hansen-Löve, A. A., Der russische Formalismus, Wien 1978. Heidegger, M., Identität und Differenz, Pfullingen 31957. –, Vom Wesen des Grundes, G. A., Bd. 9. Wegmarken, Frankfurt/M. 1976. Heringer, H. J. (Hg.), Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, Frankfurt/M. 1974. Hörmann, H., Psychologie der Sprache, Berlin-Heidelberg-New York 1970. Hoffmann-Riem, Ch., Das adoptierte Kind, München 1984. Jacques, F., Über den Dialog, übers. v. S. M. Kledzik, Berlin-New York 1986. Jakobson, R., Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt/M. 31972.
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BILDVARIATIONEN ZUM THEMA ›ORDNUNG‹
–, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. von W. Raible, München 1974 (= 1974 a). –, Form und Sinn, München 1974 (= 1974 b). James, W., The Principles of Psychology, Vol. I and II, New York 1960. Kamlah, W., Philosophische Anthropologie, Mannheim-Wien-Zürich 1972. Kanitscheider, B., Kosmologie, Stuttgart 1984. Kiwitz, P., Lebenswelt und Lebenskunst, München 1986. Köhler, W., Werte und Tatsachen, übers. von M. Koffka, Berlin-Heidelberg-New York 1968. Krings, H., Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, Hamburg 21982. Kuhn, H., Das Sein und das Gute, München 1962. –, und Wiedmann, F. (Hg.), Das Problem der Ordnung, Meisenheim/ Glan 1962. Kuntz, P. G. (Hg.), The Concept of Order, Seattle-London 1968. Lacan, J., Ecrits, Paris 1966. – Schriften, Bd. II, übers. von Ch. Creusot und W. Fietkau, Olten-Freiburg 1975. –, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, übers. von N. Haas, Olten-Freiburg 1978. Landsberg, P. L., Die Erfahrung des Todes, Frankfurt/M. 1973. Langeveld, M. J., Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 3 1968. Leroi-Gourhan, A., Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. von M. Bischoff, Frankfurt/M. 21984. Levinas, E., Totalité et Infini, La Haye 41971. – Dt.: Totalität und Unendlichkeit, übers. von W N. Krewani, Freiburg/München 1987. –, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974. –, Die Zeit und der Andere, übers. von L. Wenzler, Hamburg 1984. Levi-Strauss, C., Strukturale Anthropologie, Bd. I, übers. von H. Naumann, Frankfurt/M. 1967. –, Das wilde Denken, übers. von H. Naumann, Frankfurt/M. 1968. Lewin, K., »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie«, in: Psychologische Forschung 7 (1926), S. 294-385. –, Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Bern-Stuttgart 1963. Lovejoy, A. O., Die große Kette der Wesen, übers. von D. Turck, Frankfurt/M. 1985. Lyotard, F.-J., »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Merkur 38 (1984) S. 151-164. –, Der Widerstreit, übers. v. J. Vogl, München 1987.
LITERATURVERZEICHNIS
241
Mauss, M., Soziologie und Anthropologie, 2. Bde., übers. von H. Ritter, E. Moldenhauer und A. Schmalfuss, Frankfurt-Berlin-Wien 1978. Maxwell, J. C., A Treatise on Electricity and Magnetism, Vol. I and II, New York 1954. Mead, G. H., Geist, Identität und Gesellschaft, übers, von U. Pacher, Frankfurt/M. 1973. Merleau-Ponty, M., Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von R. Boehm, Berlin 1966. –, Die Abenteuer der Dialektik, übers. von A. Schmidt und H. Schmitt, Frankfurt/M. 1968. –, Vorlesungen I., übers. von A. Métraux, Berlin-New York 1973. –, Die Struktur des Verhaltens, übers. von B. Waldenfels, Berlin-New York 1976. –, Die Prosa der Welt, übers. von R. Giuliani, München 1984. –, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von R. Giuliani und B. Waldenfels, München 1986. –, »Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss«, in: Métraux/Waldenfels 1986. Métraux, A./Waldenfels, B. (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986. Meyer-Drawe, K., Leiblichkeit und Sozialität, München 1984. O’Neill, J., Five Bodies, Ithaka – London 1985. Plessner, H., Ges. Schriften, Bd. IX: Schriften zur Philosophie, Frankfurt/ Main 1985. Politzer, G., Kritik der Grundlagen der Psychologie. Psychologie und Psychoanalyse, übers. von H. Füchtner, Frankfurt/M. 1978. Proust, M., A la recherche du temps perdu (Bibl. de la Pléiade), Paris 1954. – Dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. von E. Rechel-Mertens, Frankfurt/M. 1953-1957. Ricceur, P., Die Interpretation, übers. von E. Moldenhauer, Frankfurt/ Main 1969. –, Temps et récit, t. I, Paris 1983- – Dt.: Zeit und Erzählung, Bd. 1, übers. von R. Rochlitz, München 1987. –, Die lebendige Metapher, übers. von R. Rochlitz, München 1986. Sartre, J.-P., Das Sein und das Nichts, übers. von J. Streller, K. A. Ott und A. Wagner, Hamburg 1962. Scheler, M., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Ges. Werke, Bd. 2, Bern-München 51966.
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BILDVARIATIONEN ZUM THEMA ›ORDNUNG‹
Schütz, A., Das Problem der Relevanz, Frankfurt/M. 1971 –, Gesammelte Aufsätze I-III, Den Haag 1971/1972. Searle, J. R., Intentionality, Cambridge 1983. Sokolowski, R., Moral Action, Bloomington 1985. Taminiaux, J., Le regard et l’excédent, La Haye 1977. Theunissen, M., Der Andere, Berlin 1965. Tinland, F., La différence anthropologique, Paris 1977. Tricaud, F., »›Homo homini Deus‹, ›Homo homini Lupus‹: Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes«, in: Koselleck, R./Schur, R. (Hg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969. Veyne, P., Comment on écrit l’histoire, augmenté de »Foucault révolutionne l’histoire«, Paris 19711. Vološinov, V.N., Marxismus und Sprachphilosophie, übers. von R. Horlemann, Frankfurt-Wien-Berlin 1975. Vuillemin, J., Nécessilé ou contingence, Paris 1984. Waldenfels, B., Das Zwischenreich des Dialogs, Den Haag 1971 (= ZD). –, »Wider eine reine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie«, in: Waldenfels, B. Broekman, J.M./Pažanin, A., Phänomenologie und Marxismus, Bd. 4, Frankfurt/M. 1979. –, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980 (= SV). –, »Das umstrittene Ich. Ichloses und ichhaftes Bewußtsein bei A. Gurwitsch und A. Schütz«, in: Grathoff/Waldenfels 1983. –, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1985 (= NL). –, »Das überbewältigte Leiden«, in: Oelmüller, W. (Hg.), Religion und Philosophie, Bd. 3: Leiden, Paderborn 1986. –, »Das Zerspringen des Seins«, in: Métraux/Waldenfels 1986. –, »Dialog und Diskurse«, in: Intersoggettività Socialità Religione, Archivio di Filosofia LIV (1986), N.1-3. –, »Verstreute Vernunft. Zur Philosophie von Michel Foucault«, in: Studien zur neueren französischen Philosophie, Phänomenologische Forschungen 18, Freiburg-München 1986. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Bde., Tübingen 51976. –, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 31968. Wimmer, R., Universalisierung in der Ethik, Frankfurt/M. 1980. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1960. –, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. 1982.
LITERATURVERZEICHNIS
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Wolf, Ch., Kein Ort. Nirgends, Darmstadt-Neuwied 91985. Wright, G. H, von, Norm and Action, London 1963. –, »Handlungslogik«, in: Lenk, H. (Hg.), Normenlogik, Pullach 1974. Yamaguchi, I., Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, Den Haag-Boston-London 1982.
NAMENREGISTER
Adorno, Th. W. 15, 196, 222 Apel, K.-O. 210 Apollinaire, G. 179 Arendt, H. 205, 219 Ariès, Ph. 75 Aristoteles 37, 44 f., 47, 69, 79, 89-92, 95, 99, 101, 107, 113, 116 f., 125 f., 133f., 144, 172, 201, 207, 217, 219 Arnheim, R. 158, 219 Augustinus 23, 60, 91, 93, 192
Cavaillès, J. 120-122 Cicero 23 Coenen, H. 208
Bachtin, M. 179-181, 193, 195, 199, 213 f. Barthes, R. 126 Bataille, G., 180, 183, 222 f. Baudelaire, Ch. 170 Beardsley, M. C. 218 f. Benjamin, W. 11, 34, 58, 170, 196 Benn, G. 182 Berger, P. L. 147 Bergfleth, G. 222 Bergson, H. 203, 208 Binswanger, L. 207 Blanchot, M. 12 Blankenburg, W. 207 Blumenberg, H. 137, 191 Böhler, D. 198 f. Borges, J. L. 73, 93 Bourdieu, P. 58, 75 f., 79, 201, 205, 207 f. Bremer, D. 189 Bühler, K. 57, 193, 204
Ebbinghaus, J. 103
Cage, J. 219 Calvino, I. 32 f., 184 Canguilhem, G. 16, 72, 175 f., 206 f., 217 Cassirer, E. 12, 194 Castoriadis, C. 15, 196, 211, 215 f.
Delaunay, R. 179, 235 Derrida, J. 123, 179, 203, 213, 215 f. Descartes R. 114, 117, 121 Deutsch, W. 195 Dilthey, W. 60 Dostojewski, F. 195 Dubuffet, H. 234
Elias, N. 75 Eliot, T. S. 165 Ellul, J. 183 Escher, M. C. 179, 236 Euklid 121 Evans-Prichard, E. E. 217 Feibleman, J. K. 192, 223 Feyerabend, P. K. 206, 218 Forschner, M. 194, 213 Foucault, M. 10, 12, 14, 73, 75, 105, 111, 123, 147, 194, 201, 205-208, 216 Freud, S. 11, 34, 58, 81, 203 Fricke, H. 217 Gadamer, H.-G. 69 Gamm, G. 15 Garfinkel, H. 193 Gelhard, A. 11 f. Goethe, J. W. v. 48 Goffman, E. 12, 34, 58, 78, 146, 201 Goldstein, K. 12, 16, 49, 72-74, 196, 199, 203, 207 Goya, F. de 9, 227
Greene, J. C. 192 Gurwitsch, A. 12, 57, 59, 61 f., 64-66, 127, 193, 202 f., 218 Habermas, J. 206, 210, 216, 218 f. Hamaguchi, Y. 231 Hansen-Löve, A. A. 217 Hartshorne, Ch. 192 Hegel, G. W. F. 119, 222 Heidegger, M. 15, 60, 105, 198, 204, 215 f., 222 Hein, Ch. 9 Heringer, H. J. 136 Hobbes, Th. 17, 39, 97-99, 101, 107, 114, 189, 209 Hoffmann-Riem, Ch. 207 Homer 37, 194 Hörmann, H. 193, 218, 221 Hume, D. 40, 45, 93, 97, 101, 106 f., 116, 120 Husserl, E. 15, 24, 57, 59, 62 f., 65 f., 73, 87, 99, 111, 119, 122 f., 125, 131, 134, 136, 148, 174, 179, 189, 193, 195, 198, 201-203, 207, 211, 213, 215, 222 Jacques, F. 195, 200, 205 Jakobson, R. 64, 169, 193, 195, 198 James, W. 59, 193, 203 Jarvella, R. J. 195 Joyce, J. 73, 179 Kallikles 156, 211 Kamlah, W. 210 f. Kanitscheider, B. 215 Kant, I. 18, 25, 28 f., 39-41, 45, 47, 50, 58, 61 f., 65, 69, 72, 89, 97-103, 107, 116, 119-122, 124, 133-135, 137, 141, 143 f., 155, 173, 175, 179, 181, 191, 201, 211, 217, 221 Kiwitz, P. 170, 176 Klee, P. 9, 229 Kleist H. v. 12 Kohlberg, L. 79, 103 Köhler, W. 47, 57, 197 Kojève, A. 222
Krings, H. 191, 211 Kuhn, H. 191 Kuhn, Th. S. 218 Kuntz, P. G. 191 f. Lacan, J. 44, 183, 195, 214 Lagache, D. 214 Landsberg, P. L. 151 Langeveld, M. J. 198 Leibniz, G. W. 37, 47, 59, 63, 67, 203 f., 209, 221 Leroi-Gourhan, A. 29-32, 48, 66, 169 f., 178, 180, 208 Levinas, E. 12-14, 195, 211, 222 Lévi-Strauss, C. 145, 196, 208, 222 Lewin, K. 47, 57, 196 f., 202 Lichtenberg, G. Ch. 50 Locke, J. 18 Lovejoy, A. O. 204, 209, 211 Luhmann, N. 12, 15 Lyotard, F.-J. 169, 221 Magritte, R. 179, 230 Malraux, A. 146, 217 Marx, K. 198, 203 Marx, W. 211 Matthieu, G. 219 Mauss, M. 180, 196, 207 f., 223 Maxwell, J. C. 57, 202 Mead, G. H. 48, 143, 193, 214 Merleau-Ponty, M. 10, 15, 36, 44, 49, 57, 66, 73, 105, 123, 126 f., 141, 146, 164, 170 f., 178 f., 184, 193, 196, 198, 202, 204, 206-208, 214-218, 221 f. Meyer-Drawe, K. 198, 208 Minkowski, E. 207 Monet, C. 179, 232 f. Musil, R. 147 Newman, B. 179 Nietzsche, F. 10 f., 13, 50, 62, 92 f., 105, 141, 157, 203 f., 213 Novalis 147 O’Neill, J. 208
Panofsky, E. 207 Peirce, Ch. S. 192 Platon 17, 26-28, 37, 39 f., 61, 63, 81, 89-95, 101, 105, 107, 113 f., 116, 118 f., 132, 134, 152 f., 157, 172, 174 f., 181, 191, 209, 215, 219 Plautus 17 Plessner, H. 181, 214, 222 Plotin 175 Politzer, G. 58, 201 Pollock, J. 219 Pope, A. 209 Protagoras 105, 153 Proust, M. 36, 66, 75 f., 138 f., 145, 151, 158, 169, 215 Quine, W. V. O. 15 Ricœur, P. 194, 202 f., 217 Rimbaud, A. 170 Rousseau, J.-J. 25, 80, 101 Sapir, E. 221 Sartre, J.-P. 121, 208 Saussure, F. de 171, 193, 212, 217 Scheler, M. 198, 203 f. Schelling, F. W. J. 192 Schlegel, F. 157 Schütz, A. 12, 60, 66 f., 147, 193, 203 Schwitters, K. 228 Searle, J. R. 133, 135 Shakespeare, W. 17, 58 Sokolowski, R. 201 Sokrates 28, 77, 167
Spinoza 203 Spitz, R. 118, 214 Strauss, A. 193 Tacitus 148 Taminiaux, J. 222 Thales 181 Theunissen, M. 193 Thom, R. 32 Tinland, F. 192 f. Tricaud, F. 189 Ungaretti, G. 166 Valéry, P. 11 Vergil 181 Vermeer, J. 36 Veyne, P. 202 Vološinov, V. N. 179, 193, 199 f., 204 Vuillemin, J. 211 Watzlawick, P. 200 Weber, M. 79, 149, 203, 207 Weber, S. 204 Weiss, P. 192, 223 Whitehead, A. N. 192 Wimmer, R. 210 f. Winnicott, D. 214 Wittgenstein, L. 15, 65, 69, 99, 159 Wolf, Ch. 157 Woolf, V. 40 Wright, G. H. v. 191, 199 f., 207 Wygotski, L. S. 193, 214 Yamaguchi, I. 213
Titelauswahl Band 2 Ulf Matthiesen Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns 2. Aufl. 1985. 186 S. ISBN 978-3-7705-2188-3 Band 3 Maurice Merleau-Ponty Die Prosa der Welt Hrsg. von Claude Lefort. Einleitung zur dt. Ausg. von Bernhard Waldenfels. Aus dem Franz. von Regula Giuliani 2. Aufl. 1993. 168 S. ISBN 978-3-7705-2823-3 Band 4 Alfred Schütz, Aron Gurwitsch Briefwechsel 1939-1959 Hrsg. von Richard Grathoff. Mit einer Einleitung von Ludwig Landgrebe 1985. XXXX, 544 S. mit Frontispiz. ISBN 978-3-7705-2260-6 Band 5 Hermann Coenen Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang Schütz – Durkheim – Merleau-Ponty Phänomenologische Soziologie im Feld des zwischenleiblichen Verhaltens 1985. 332 S. ISBN 978-3-7705-2242-2 Band 7 Käte Meyer-Drawe Leiblichkeit und Sozialität Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität 2. Aufl. 1987. 301 S. ISBN 978-3-7705-2241-5 Band 8 Christa Hoffmann-Riem Das adoptierte Kind Familienleben mit doppelter Elternschaft 3. Aufl. 1989. 343 S. mit 36 Tab. ISBN 978-3-7705-2248-4
Band 13 Maurice Merleau-Ponty Das Sichtbare und das Unsichtbare Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg., mit Vorwort und Nachwort versehen von Claude Lefort. Aus dem Französischen von Regula Giuliani/Bernhard Waldenfels 1986. 391 S. ISBN 978-3-7705-2321-4 Band 15 Alexandre Métraux, Bernhard Waldenfels (Hrsg.) Leibhaftige Vernunft Spuren von Merleau-Pontys Denken 1986. 309 S. und Frontispiz. ISBN 978-3-7705-2315-3 Band 16 Wolfgang Eßbach Die Junghegelianer Soziologie einer Intellektuellengruppe 1988. 470 S. ISBN 978-3-7705-2434-1 Band 17 Jaques Derrida Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis“. Aus dem Franz. von Rüdiger Hentschel und Andreas Knop. Mit einem Vorw. von Rudolf Bernet 1987. 233 S. ISBN 978-3-7705-2424-2 Band 18/I Paul Ricoeur Zeit und Erzählung Band I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Franz. von Rainer Rochlitz 1988. 357 S. ISBN 978-3-7705-2467-9 Band 18/II Paul Ricoeur Zeit und Erzählung Band II: Zeit und literarische Erzählung. Aus dem Franz. von Rainer Rochlitz 1989. 286 S. ISBN 978-3-7705-2468-6 Band 18/III Paul Ricoeur Zeit und Erzählung Band III: Die erzählte Zeit. Aus dem Franz. von Andreas Knop 1991. 450 S. ISBN 978-3-7705-2608-6
Band 9 Peter Kiwitz Lebenswelt und Lebenskunst Perspektiven einer Kritischen Theorie des sozialen Lebens 1986. 230 S. ISBN 978-3-7705-2322-1
Band 20 Eckhard Lobsien Das literarische Feld Phänomenologie der Literaturwissenschaft 1988. 225 S. ISBN 978-3-7705-2485-3
Band 12 Paul Ricoeur Die lebendige Metapher (Vom Verfasser gekürzte Fassung). Aus dem Franz. von Rainer Rochlitz 1986. 325 S. ISBN 978-3-7705-2349-8
Band 21 Józef Tischner Das menschliche Drama Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas 1989. 276 S. ISBN 978-3-7705-2589-8
Band 22 John O’Neill Die fünf Körper Medikalisierte Gesellschaft und Vergesellschaftung des Leibes 1990. 172 S. ISBN 978-3-7705-2620-8
Band 32 Bernhard Waldenfels/Iris Därmann (Hrsg.) Der Anspruch des Anderen Perspektiven phänomenologischer Ethik 1998. 351 S. ISBN 978-3-7705-3254-4
Band 23 Jürgen Seewald Leib und Symbol Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung 2. Aufl. 2000. 560 S. ISBN 978-3-7705-2748-9
Band 33 László Tengelyi Der Zwitterbegriff der Lebensgeschichte 1997. 446 S. ISBN 978-3-7705-3248-3
Band 24 Burkhard Liebsch Spuren einer anderen Natur Piaget, Merleau-Ponty und die ontogenetischen Prozesse 1992. 434 S. ISBN 978-3-7705-2780-9 Band 25 Alexander Haardt Husserl in Rußland Phänomenologie der Sprache und Kunst bei Gustav Spet und Aleksej Losev 1993. 259 S. ISBN 978-3-7705-2807-3 Band 26 Paul Ricoeur Das Selbst als ein Anderer Aus dem Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff 1996. 443 S. ISBN 978-3-7705-2904-9 Band 27 Verena Olejniczak Subjektivität als Dialog Philosophische Dimension der Fiktion. Zur Modernität Ivy Compton-Burnetts 1993. 463 S. ISBN 978-3-7705-2906-3 Band 28 Maurice Merleau-Ponty Keime der Vernunft Vorlesungen an der Sorbonne 1949-1952. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels. Aus dem Franz. von Antje Kapust. Mit Anm. von Antje Kapust und Burkhard Liebsch 1994. 450 S. ISBN 978-3-7705-2927-8 Band 29 Käte Meyer-Drawe Menschen im Spiegel ihrer Maschinen 1996. 232 S. ISBN 978-3-7705-3087-8 Band 30 Burkhard Liebsch Geschichte im Zeichen des Abschieds 1997. 435 S. ISBN 978-3-7705-3128-8 Band 31 Ichiro Yamaguchi Ki als leibhaftige Vernunft Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit 1997. 248 S. ISBN 978-3-7705-3204-9
Band 34 Maurice Merleau-Ponty Sinn und Nicht-Sinn Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek 2000. 260 S. ISBN 978-3-7705-3379-4 Band 35 Maurice Merleau-Ponty Die Natur Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Dominique Séglard. Aus dem Französischen von Mira Köller 2000. 378 S. ISBN 978-3-7705-3339-8 Band 36 Thomas Rolf Normalität Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts 1999. 322 S. ISBN 978-3-7705-3391-6 Band 37 Regula Giuliani (Hrsg.) Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften 2000. 361 S. ISBN 978-3-7705-3478-4 Band 38 Ruben Zimmermann (Hrsg.) Bildersprache verstehen Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen. Mit einem Geleitwort von Hans-Georg Gadamer. Eingel. von Ruben Zimmermann 2000. 391 S. ISBN 978-3-7705-3492-0 Band 39 Thomas Keller Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse Personalistische Intellektuellen-debatten in der Zwischenkriegszeit 2000. 437 S. ISBN 978-3-7705-3504-0 Band 40 Helmuth Plessner Politik – Anthropologie – Philosophie Aufsätze und Vorträge. Hrsg. von Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing 2001, 355 S. ISBN 978-3-7705-3516-3
Band 41 Sabine Gürtler Elementare Ethik Alterität, Generativität und Geschlechterverhältnis bei Emmanuel Levinas 2001, 434 S. ISBN 978-3-7705-3541-5 Band 42 Martin W. Schnell Zugänge zur Gerechtigkeit Diesseits von Liberalismus und Kommunitarismus 2001, 293 S. ISBN 978-3-7705-3577-4 Band 43 Brigitte Jostes, Jürgen Trabant, Hrsg. Fremdes in fremden Sprachen 2001, 279 S. ISBN 978-3-7705-3545-3
Band 51 Antje Kapust Der Krieg und der Ausfall der Sprache 2004. 380 S. ISBN 978-3-7705-3986-4 Band 52 Ilka Quindeau Spur und Umschrift Die konstitutive Bedeutung von Erinnerung in der Psychoanalyse 2004. 238 S. ISBN 978-3-7705-3995-6 Band 53 Thomas Keller, Wolfgang Eßbach, Hrsg. Leben und Geschiche Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit 2005. 390 S. ISBN 978-3-7705-4021-1
Band 44 Jörg Michael Kastl Grenzen der Intelligenz Die soziologische Theorie und das Rätsel der Intentionalität 2001, 379 S. ISBN 978-3-7705-3564-4
Band 54 Thomas Bedorf, Andreas Cremonini, Hrsg. Verfehlte Begegnung Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen 2005, 261 Seiten ISBN 978-3-7705-4121-8
Band 45 Olaf Kaltenborn Das Künstliche Leben Die Grundlagen der Dritten Kultur 2001, 322 S. ISBN 978-3-7705-3562-0
Band 55 Jörn Ahrens Frühembryonale Menschen? Kulturanthropologische und ethische Effekte der Biowissenschaften 2008. 443 Seiten ISBN 978-3-7705-4450-9
Band 46 Birgit Griesecke Japan dicht beschreiben Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung 2001, 214 S. ISBN 978-3-7705-3610-8 Band 47 Mirjana Vrhunc Bild und Wirklichkeit Zur Philosophie Henri Bergsons 2002, 288 S. ISBN 978-3-7705-3644-3 Band 48 Gesa Lindemann Die Grenzen des Sozialen Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin 2002, 466 S. ISBN 978-3-7705-3667-2
Band 56 Jens Roselt Phänomenologie des Theaters 2008. 382 Seiten ISBN 978-3-7705-4615-6 Band 57 Silvia Stoller Existenz – Differenz – Konstruktion 2010. 494 S. ISBN 978-3-7705-4907-8 Band 58 Thomas Bedorf, Joachim Fischer, Gesa Lindemann Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie 2010. 318 S. ISBN 978-3-7705-5021-0
Band 49 Edmund Husserl Arbeit an den Phänomenen Ausgewählte Schriften. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Waldenfels 2003, 282 S. ISBN 978-3-7705-3761-7
Band 59 Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass, László Tengelyi Phänomenologie der Sinnereignisse 2011. 437 S. ISBN 978-3-7705-5198-9
Band 50 Paul Ricœur Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek 2004. 783 S. ISBN 978-3-7705-3706-8
Band 60 Marcel Mauss Handbuch der Ethnographie Hrsg. von Iris Därmann und Kirsten Mahlke 2013, 359 S. ISBN 978-3-7705-4013-6